Gotische Architektur am Mittelrhein: Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch 9783110578461, 9783110577198

The Middle Rhein has a high density of sophisticated church buildings and fortified castles from the Middle Ages. The Rh

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German Pages 371 [364] Year 2020

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Gotische Architektur am Mittelrhein: Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch
 9783110578461, 9783110577198

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Hauke Horn, Matthias Müller (Hrsg.)

Gotische Architektur am Mittelrhein

PHOENIX. MAINZER KUNSTWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK

herausgegeben von matthias müller, elisabeth oy-marra und gregor wedekind

band 5

Hauke Horn, Matthias Müller (Hrsg.)

Gotische Architektur am Mittelrhein Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch

Mit der freundlichen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

ISBN 978-3-11-057719-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057846-1 Library of Congress Control Number: 2020934246 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Wernerkapelle, Bacharach (Foto: Hauke Horn, 2015) Reihenlayout und Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Inhalt

XI Matthias Müller Vorwort

XIII

Ute Engel / Hauke Horn / Matthias Müller Einleitung

Gotikforschung zum Mittelrhein: Geschichte, Methoden und Perspektiven

3 Bruno Klein Warum Gotik?

23 Matthias Müller Der „Übergangsstil“ als dialektische Form. Revision eines kunsthistorischen Terminus am Beispiel der mittelrheinischen Sakralarchitektur um 1200

Regionale Konkurrenz und überregionaler Anspruch: Netzwerke und Transferprozesse in der Architektur und Ausstattung am Mittelrhein 41 Hauke Horn Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Zur politischen und sozialen Dimension mittelalterlicher Architektur im Mittelrheintal

103 Eduard Sebald Fluss – Land – Stadt – Burg – Zoll. Spätmittelalterliche Bau- und Territorialpolitik am Mittelrhein

117 Hauke Horn Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

129 Ute Engel Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300. Der gotische Mainzer Dom, die Liebfrauenkirche und der überregionale Kunsttransfer am Mittelrhein

153 Sascha Köhl Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück? Zur „Internationalität“ der Gotik um 1300

171 Marc Carel Schurr StraSSburg und der Mittelrhein 181 Karola Sperber Seitenschiff oder Kapellenbau? Die Frage nach Herkunft und Interpretation der asymmetrisch-zweischiffigen Franziskanerkirchen am Mittelrhein 201 Yves Gallet Mikroarchitektur und Kulturtransfer zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340, am Beispiel des Goldenen Altars zu Oberwesel

Sakralbauten am Mittelrhein: Aspekte der Transformation, Repräsentation und Innovation 211 Catharina Lathomus Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz 235 Maria Wenzel Leonardo am Mittelrhein? Der Glockenstuhl von St. Martin in Oberwesel 243 Hauke Horn St. Martin zu Bingen. Die Baugeschichte einer sukzessiv gewachsenen Kirche im Spannungsfeld von Stift und Stadt 261 Benedikt Ockenfels Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe. Zu Beteiligung und Repräsentation an Kirche und Pfarrturm 277 Britta Hedtke Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

Struktur und Verflechtung: Politische und funktionale Eliten in den Städten am Mittelrhein 295 Regina Schäfer Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger. Struktur und Verflechtung des Hoch- und Niederadels am Mittelrhein im 14. Jahrhundert 307 Raoul Hippchen / Heidrun Ochs Stadtadel – Patriziat – Funktionselite. Struktur und Verflechtung von Führungsgruppen mittelrheinischer Städte – Eine Skizze

315 Farbtafeln

347 Abbildungsnachweise

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt die Ergebnisse eines mehrjährigen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zwischen 2013 und 2018 geförderten Forschungsprojektes zur mittelalterlichen Sakralarchitektur am Mittelrhein sowie die Ergebnisse einer im Rahmen dieses Projektes am 25. und 26. November 2016 durchgeführten Tagung. Er ist damit Ergebnisband und Tagungsband in einem, wodurch die im Projekt erzielten wissenschaftlichen Erkenntnisse zugleich in der fachlichen Auseinandersetzung mit den projektrelevanten Forschungen der Kolleginnen und Kollegen präsentiert werden. Dafür ist den Beteiligten ein herzlicher Dank abzustatten. Der Dank gilt an erster Stelle der DFG und ihren Gutachtern sowie den Mitgliedern des Fachkollegiums, die durch ihr positives Votum und die damit verbundenen finanziellen Zusagen die systematische Erforschung der mittelalterlichen Sakralbauten in den Städten des Mittelrheingebietes überhaupt erst ermöglicht haben, gefolgt vom Dank an die verantwortlichen Projektmitarbeiter. Hier gebührt Ute Engel ein besonderer Dank, hat sie doch das Projekt in der langen und durchaus komplexen Geschichte seiner Entstehung zusammen mit dem Unterzeichnenden von Anfang an mitbetreut und konzeptionell mitgestaltet. In diesem Zusammenhang führte sie auch eigenverantwortlich das von der Stiftung Hoher Dom zu Mainz und dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz geförderte Forschungsprojekt über die ‚Gotisierungs-Kampagne‘ des Mainzer Doms durch („Der gotische Mainzer Dom. Der Ausbau der erzbischöflichen Kathedrale vom späten 13. bis zum 15. Jahrhundert“), dessen Ergebnisse – neben dem Aufsatz in vorliegendem Band – in einem separaten Band veröffentlicht werden. Eigentlich sollte Ute Engel auch die wissenschaftliche Durchführung des DFG-Projekts in wesentlichen Teilen verantworten, hätte es nicht das Schicksal oder die Vorsehung anders gewollt und für Ute Engel eine langfristige Beschäftigungsperspektive im Münchner Akademieprojekt „Corpus

der barocken Deckenmalerei in Deutschland“ bereit gehalten. So musste sie bereits kurze Zeit nach Projektbeginn wieder ausscheiden. Angesichts des damit verbundenen Verlustes an fachlicher Kompetenz hatte jedoch Fortuna ein Einsehen und schickte Hauke Horn als hochkompetenten, ebenbürtigen Nachfolger. Eben erst aus Braunschweig zurückgekehrt und dort an der TU – nach seiner kunsthistorischen Mainzer Promotion über die „Tradition des Ortes. Ein formbestimmendes Moment in der mittelalterlichen Sakralarchitektur“ – zusätzlich mit einer baugeschichtlichen Dissertation zum „Dr.-Ing.“ promoviert, konnte er nahtlos an die bereits geleisteten Vorarbeiten anknüpfen und bei den Leitfragen zusätzlich eigene inhaltliche Akzente setzen. Hauke Horn ist an dieser Stelle nicht nur für seine Bereitschaft zu danken, sich dem bereits begonnenen Projekt für einige Jahre sprichwörtlich zu ‚verschreiben‘, sondern auch in eigenständiger, sehr verantwortungsbewusster Weise das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Neben Hauke Horn, der als Postdoc die übergrei­ fenden Fragestellungen bearbeitete, konnte Karola Sperber für die Doktorandenstelle des Projekts gewonnen werden. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit dem Sakralbau und der Sakraltopographie in der erzbischöflichen Metropole Mainz mit einem besonderen Blick auf die Bettelordensarchitektur und ihre Rezeption in den Mainzer Pfarr- und Stiftskirchen (Arbeitstitel: „Städtischer Kirchenbau in Mainz um 1300 und die Herausforderung der Bettelorden. Formen der Innovation, Rezeption und Repräsentation in der Mainzer Stifts- und Pfarrkirchenarchitektur“). Die Ergebnisse dieses in der Endphase befindlichen Promotionsprojektes werden gesondert publiziert. Karola Sperber hat sich neben ihrer Dissertation intensiv um die wissenschaftliche Organisation des Projekts mit seinen verschiedenen Workshops und der großen ­Tagung im November 2016 gekümmert und bis zuletzt auch um die Fertigstellung des vorliegenden Bandes. Dafür sei ihr an dieser Stelle ein herzlicher Dank ausgesprochen.

X

Vorwort

Was aber wäre ein solches auch auf die Kenntnisse und Wissensbestände aus anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen angewiesenes Projekt ohne den fachlichen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen? Es wäre ohne Zweifel bedeutend ärmer! Daher sei hier ein großer Dank für die stets kollegiale und auch menschlich sehr sympathische Zusammenarbeit an die Kolleginnen und Kollegen von den Universitäten von Mainz und Frankfurt – unter den Frankfurtern besonders Martin Büchsel, Jochen Sander, Michaela Schedl und Berit Wagner – ausgesprochen. Denn nach der ursprünglichen Idee sollte das Projekt zur Sakralarchitektur am Mittelrhein Teil eines größeren Forschungsverbundes werden mit dem übergreifenden Thema „Das UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal als Palimpsest. Die dynamische Genese einer Kulturlandschaft und ihre Funktionalisierung und Ästhetisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart“. Um dieses ehrgeizige, auf eine längere Laufzeit ausgerichtete Unterfangen umsetzen und einen Forschergruppenantrag erarbeiten zu können, trafen sich zwischen Herbst 2009 und Frühjahr 2012 regelmäßig Mainzer und Frankfurter Kunsthistoriker, Historiker, Literaturwissenschaftler, Philosophen, Theologen, Humangeographen und Politikwissenschaftler. Dass dieses Großprojekt auch wissenschaftsorganisatorisch durch die Finanzierung einer Koordinationsstelle umgesetzt werden konnte, dafür ist der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit ihrer Förderlinie I und Anton Escher vom Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS) zu danken. Auch wenn das Gesamtvorhaben nach der Antragstellung – wie so viele Großprojekte – nicht die erhoffte Bewilligung erhielt, so hat der intensive, fachlich interdisziplinäre Austausch schließlich doch zu einer Reihe von erfolgreichen Einzelprojektanträgen geführt, darunter auch das in diesem Band behandelte Projekt zur

mittelalterlichen Sakralarchitektur. Diese war – obwohl in einer der bekanntesten und bedeutendsten, noch dazu als UNESCO-Welterbe ausgezeichneten Kulturlandschaften gelegen – weitgehend eine terra incognita, weshalb vielfach wissenschaftliche Grundlagenarbeit geleistet werden musste. Das führte am Ende auch zu einer Einschränkung des Untersuchungszeitraums auf das 13. und 14. Jahrhundert, womit aber sowohl architekturgeschichtlich als auch historisch-politisch ein für das Untersuchungs­ gebiet zentraler Zeitraum in den Blick genommen wurde. Die Ergebnisse des Projektes finden sich (mit Ausnahme der gesondert publizierten Dissertation von Karola Sperber) im vorliegenden Band, ergänzt um die Ergebnisse einer speziell für das Projekt durchgeführten Tagung unter Beteiligung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland. ­Ihnen sei dafür gedankt, dass sie – bis auf ganz wenige Ausnahmen – ihre mündlichen Beiträge zu Aufsätzen ausgearbeitet und für die Drucklegung in diesem Band zur Verfügung gestellt haben. Die Drucklegung selbst – an deren lektorierender Vorbereitung sich neben den Projektmitarbeitern auch dankenswerterweise Jennifer Konrad (Mainz/ Frankfurt) beteiligte – wurde durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss der DFG ermöglicht, während die Aufnahme in die Reihe „Phoenix – Mainzer kunstwissenschaftliche Bibliothek“ dem Einvernehmen der Reihenherausgeber zu verdanken ist. Für das gedruckte wie digitale Endprodukt zeichnet der De Gruyter-Verlag verantwortlich, dessen Mitarbeiterinnen Katja Richter, Anja Weisenseel und Arielle Thürmel in kompetenter, umsichtiger und geduldiger Weise die verlegerische Betreuung übernommen haben. Auch ihnen gebührt ein herzlicher Dank! Prof. Dr. Matthias Müller, Mainz, im März 2020

Ute Engel / Hauke Horn / Matthias Müller

Einleitung

Der „Mittelrhein“ als Gegenstand der kunsthistorischen Forschung: ein Rückblick Das in vorliegendem Band mit seinen wesentlichen Ergebnissen vorgestellte DFG-Projekt zur mittelalterlichen Sakralarchitektur des Mittelrheingebietes knüpft an eine Reihe von wissenschaftlichen Vorarbeiten an, die teilweise bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Schon damals zogen die während des Mittelalters am (definitorisch durchaus nicht einheitlich bestimmten) Mittelrhein entstandenen Bau- und Kunstwerke mit ihrem komplexen und heterogenen Beziehungsgefüge das Interesse der Kunstgeschichte und ihrer sich entwickelnden kunstgeographischen Methodik auf sich (zur Kunstgeographie s. Kaufmann 2004, Kurmann-Schwarz 2008, Engel 2009, Engel 2012). So würdigte Friedrich Back „das mittelrheinische Land“ als zugleich Kreuzungspunkt von Fluss- und Straßensystemen entlang des Rheins mit seinen schiffbaren Nebenflüssen (Main und Lahn, Nahe und Mosel), als Sitz der großen kirchlichen Metropoliten (der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier) und als „Brennpunkt der deutschen Politik“ (Back 1910). Die ältere kunstgeographische Forschung war dabei von dem Wunsch geleitet, den Mittelrhein als „Kunstlandschaft“ zwischen Niederund Oberrhein zu etablieren (besonders Zimmermann 1952, Schmitt 1953), wobei die Aufmerksamkeit häufig primär der Malerei und Plastik und nicht so sehr der Architektur galt (s. den Forschungsüberblick in Beck/Bredekamp 1976). Umstritten waren von Anfang an die Grenzen, die um diese „­mittelrheinische Kunstlandschaft“ zu ziehen seien. Darüber handelten erstmals ausführlich 1930 Grete Tiemann (Tiemann 1930) und 1968 Harald Keller (Keller 1968), letzterer einer der wichtigsten Protagonisten der Kunstlandschaftsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon 1969 jedoch zeugte ein Beiheft der Zeitschrift „Kunst in Hessen und am Mittelrhein“ von den ersten Bemühungen, das Konzept der Kunstlandschaft gerade anhand des Mittelrheins in Frage zu stellen (Der Mittelrhein als Kunstlandschaft 1969), wozu

Rainer Haussherr dort und mit weiteren, grundlegenden Aufsätzen entscheidend beitrug (Haussherr 1965, 1969, 1970). Diese grundlegende Kritik führte die bahnbrechende, von Herbert Beck und Horst Bredekamp konzipierte Ausstellung „Kunst um 1400 am Mittelrhein. Ein Teil der Wirklichkeit“ des Liebieghauses in Frankfurt am Main (Beck/Bredekamp 1976) fort, indem sie erstmals anstelle der Postulierung von vermeintlichen stilgeschichtlichen Konstanten die wandelbaren historischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen am Mittelrhein als Grundlage künstlerischen Schaffens in den Mittelpunkt stellte – allerdings wiederum konzentriert auf die Plastik aus der Zeit um 1400. Einen vergleichbaren sozialgeschichtlichen Ansatz vertrat Wolf ­Goeltzer mit seinen Untersuchungen zur Plastik des frühen 16. Jahrhunderts am Mittelrhein (Goeltzer 2001). Eine bedeutende, grundlegende Fortführung und Erweiterung dieser Ansätze liegt seit kurzem in dem Ergebnisband einer von den Frankfurter Kolleginnen und Kollegen veranstalteten Tagung zur Kunst zwischen 1400 und 1500 am Mittelrhein vor (Büchsel/Droste/Wagner 2019), während bereits in der Vorbereitungsphase des DFG-Projekts der Landschaftsbegriff auf einer interdisziplinär besetzten Konferenz in Mainz aus verschiedenen Perspektiven analysiert wurde (Felten/Müller/Ochs 2012). Die mittelalterliche Architektur am Mittelrhein wurde anfangs nur anhand von Detailfragen in Dissertationen der 1930er und 1940er Jahre untersucht. So behandelte Maria Geimer einige Bauten des Mittelrheins unter dem Aspekt der Nachfolge des Kölner Domchores (Geimer 1937), und Sophie Luise Eger untersuchte typologisch das gotische Archi­ tekturornament im Mittelrheingebiet (Eger 1940). Bereits R ­ udolf Offermann legte in seiner Frankfurter Dissertation über die Entwicklung des gotischen Fensters am Mittelrhein einen Katalog der wichtigsten Bauprojekte um 1300 vor (Offermann 1932). Aufgrund seines Materials begrenzte er das Untersuchungsgebiet im Norden mit Koblenz, im Süden mit Oppenheim und Worms; über Frankfurt

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Ute Engel / Hauke Horn / Matthias Müller

hinaus erweiterte er es nach Osten, im Westen reichte es bis nach Rheinhessen hinein. Mainz betrachtete er als „den Mittelpunkt, von dem die mittelrheinische Kunst nach allen Seiten hin ausstrahlt“ (Offermann 1932, S. 8). Mit der vermuteten Zentrumsbildung in Mainz formulierte Offermann eine der wichtigsten Thesen der Mittelrhein-Forschung, die bis heute nicht ausreichend verifiziert werden konnte (Sebald 2000). Prägend für die Erforschung der mittelrheinischen, mittelalterlichen Architektur waren schließlich zwei Publikationen von 1962: Die Dissertation von Hartmut Seeliger über die Stadtkirche in Fried­ berg, in der er erstmals eine „Mainzer Schule“ der nachklassischen Hochgotik um 1300 am Mittelrhein postulierte und dazu, ausgehend von den Langhauskapellen des Mainzer Doms und der dortigen Liebfrauenkirche, auch Friedberg und das Langhaus der Katharinenkirche von Oppenheim zählte (Seeliger 1962). Seeliger bezog ebenfalls die Genese der gotischen Hallenkirchen in Hessen und am Mittelrhein in seine Überlegungen mit ein. In demselben Jahr publizierte Friedhelm Wilhelm Fischer seine Habilitationsschrift über die spätgotische Kirchenbaukunst am Mittelrhein von 1410–1520, die er nach Schulen ordnete, in der aber erstmals auch politische Aspekte der historischen Territorialpolitik berücksichtigt wurden (Fischer 1962). Zwei nur teilweise publizierte Dissertationen von Manfred Fath und Ernst Coester beschäftigten sich schließlich mit z. T. weniger bekannten Bauten der frühen Gotik am Mittel­ rhein, die sie in Kurzmonographien vorstellten (Fath 1968/1970; Coester 1986). Damit lagen – wenn auch in sehr unterschiedlichem Umfang – stilgeschichtliche Überblickswerke für die mittelalterliche Sakralarchitektur der Hochund Spätgotik am Mittelrhein vor. Allerdings wurden weder die Gotik des mittleren 13. Jahrhunderts, noch die Zeit um 1300 in neuerer Zeit wieder Ziel von Untersuchungen. Nur die spätgotische Architektur thematisierte Ute Germund in ihrer Dissertation über den Zusammenhang von Konstruktion und Dekoration beim Bau von Gewölben, Portalen und Kleinarchitekturen (Germund 1997). Die spätmittelalterliche Bauplastik an Schlusssteinen und Konsolen behandelte eine weitere Dissertation von Bernhard Rösch, der allerdings den „Kunstraum“ Mittelrhein nach Franken hin erweiterte (Rösch 2004). Einen neuen

Weg schlug Andreas Peiter mit seinem Dissertationsprojekt über die sakralen Baudenkmäler des 14. bis 16. Jahrhunderts am Mittelrhein ein, das allerdings nicht abgeschlossen werden konnte: Er erfasste die Baumaßnahmen, gegliedert nach Bauaufgaben und Bautypen, in Statistiken und einer schematisierten Datenbank (Peiter 2008). Abgesehen von diesen architekturgeschichtlichen Werken, die das Baugeschehen am Mittelrhein in Überblicken zu erfassen versuchten, entstanden monographische Studien, so über die Katharinenkirche in Oppenheim (Schütz 1982), die Stiftskirche St. Maria in Wetzlar (Sebald 1990), die (abgerissene) Liebfrauenkirche in Mainz (Dengel-Wink 1990), die Liebfrauenkirche in Koblenz (Müller 2001) und St. Valentin in Kiedrich (Wels 2004); die Stadtkirche in Friedberg wurde außer in der Dissertation von Seeliger (Seeliger 1962), zudem in einem Tagungsband gewürdigt (Nußbaum 2010). Aus der Arbeit der Denkmalpflege gingen intensive Diskussionen um die Liebfrauenkirche in Oberwesel hervor (u. a. Dölling 2002; Heinzelmann 2008; Sebald 2009.b); Eduard Sebald legte bauhistorische Untersuchungen der Stiftskirche in St. Goar vor (Sebald 2008; Sebald 2009.a; Sebald 2012). Madern Gerthener und seine Bauten sind in der älteren Monographie von Ringshausen erfasst (Ringshausen 1968), die kürzlich in einer umfangreichen Neuauflage erneut publiziert wurde (Ringshausen 2015), sowie in etlichen Aufsätzen von Christian Freigang (u. a. Freigang 2009, Ders. 2010). Neuere, darüber hinausführende Aufsätze zu einzelnen Bauten gab es bis zum Beginn des in vorliegendem Band vorgestellten DFG-Projekts kaum (zu nennen sind hier Preuss 2008 zu Pfaffen-Schwabenheim; Kappel 2011 zu Iben, mit wichtigen Anregungen für die architekturgeschichtliche Stellung dieser mit dem sog. Naumburger Meister verbundenen Kapelle). Erst im Rahmen des vorliegenden Projekts entstanden verschiedene Aufsätze von Hauke Horn zu wichtigen Einzelobjekten, so Horn 2016 zur Martinsbasilika in Bingen, Horn 2018a, zur Burgkirche von Ober-Ingelheim, Horn 2017, zur Bedeutung des Rheins als Transfer- und Transportweg u. a. für die Wernerkapelle in Bacharach, sowie Horn 2018b, zu den Bezügen zwischen der Werner­ kapelle in B ­ acharach und der gotischen Architektur der Rheinlande (mit besonderem Augenmerk auf

Einleitung

den Kölner Dom). In den unmittelbaren Kontext des Projekts gehören auch die Aufsätze von Ute Engel zur gotischen Erweiterung des Mainzer Doms und zur Katha­rinenkirche in Oppenheim (Engel 2017a, 2017b, 2019). Einen wesentlichen Ausgangspunkt für die weitergehenden Forschungen des DFG-Projekts bildeten die für das Untersuchungsgebiet vorliegenden, aber nur zum Teil aktuellen Denkmaltopographien und Denkmalinventare, so die Inventare zu Bingen (Rauch 1934), Boppard (Ledebur 1988), Friedberg (Adamy 1895), Koblenz (Michel 1937), Oberwesel (Sebald 1997), Rheingau (Herchenröder 1965), St. Goar (Sebald 2012). Wichtig waren auch die entsprechenden Bände der Deutschen Inschriften (bes. Nikitsch 2004). Schließlich wurde die Sakralarchitektur des Mittel­rheins in jüngeren Arbeiten berücksichtigt, die sich dem Kulturtransfer zwischen Frankreich und dem Reich, insbesondere durch die Vermittlung Lothringens und des zuständigen Metropolitansitzes Trier, widmen (besonders Brachmann 1998, Ders. 2008, Schurr 2007, Ders. 2011). An diese Studien konnte das DFG-Projekt direkt anknüpfen und die Einbindung der mittelrheinischen Bauten in die von diesen beiden Autoren in unterschiedlicher Gewichtung thematisierten, die „Innovations- und Transferregion“ Lothringen (Brachmann) von West nach Ost überspannenden Netzwerke der Bauhütten, Handwerker und Auftraggeber vertiefen – sowohl hinsichtlich der Details baulicher, formaler Gestaltungen, als auch der aus dem Studium von Schriftquellen erschlossenen Verbindungen zwischen den am Bau beteiligten Personen, seien es Werkmeister, kirchliche Auftraggeber oder adelige Stifter. Für eine solche kunsthistorische Arbeitsweise, die gleichermaßen Baukonstruktion, Stilkritik und historische Quellenforschung mit einbezieht, waren daher auch die dem Mittelrhein gewidmeten Untersuchungen über Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein (Volk 1998) oder Städtebünde und Städtenetze am Mittelrhein (Kreutz 2005) von Bedeutung.

XIII

Das DFG-Projekt „Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch. Mittel­alter­liche Sakralarchitektur am Mittel­rhein“: Ziele und Ergebnisse  An die genannten Vorarbeiten anknüpfend hatte sich das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte und in vorliegendem Band in seinen Ergebnissen vorgestellte Projekt zum Ziel gesetzt, den Zusammenhang, der zwischen der architektonischen Formgebung der Kirchenbauten des Mittelrheingebiets und verschiedenen Kategorien historisch-räumlicher Verortungen und politischer Herrschaftssetzung besteht, genauer herauszuarbeiten. Diese Kategorien sind 1. die konkrete geographisch-topographische Situation, 2. das herrschaftliche Territorium und 3. die Zugehörigkeit zu einem der großen Bistümer. Als „symbolische Form“ (Ernst Cassirer) kann Architektur in diesem Kontext das Anspruchsniveau von Institutionen wie den Bistums- und Territorialherrschaften repräsentieren und in deren Sinne in eine spezifische, mehr oder weniger partikulare Öffentlichkeit hinein wirken. So war beispielsweise danach zu fragen, inwieweit an den verschiedenen Orten des Mittelrheins und in den verschiedenen Zeitschichten Bauformen und architektonische Stilmodi als prestige- und statusfördernde Faktoren in der Konkurrenz zwischen den großen geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier oder den weltlichen Landesherrschaften (Kurpfalz, Katzenelnbogen, Sponheim) ausgewählt wurden. Das Mittelrhein-Gebiet (einzugrenzen etwa zwischen Oppenheim im Süden und Koblenz im Norden) eignet sich für eine solche Untersuchung besonders gut, weil dort zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert nicht nur viel und qualitativ hochstehend gebaut wurde, sondern auch auf verhältnismäßig engem Raum eine besonders große Anzahl verschiedener städtischer Strukturen und Territorialmächte vertreten waren. Diese waren einerseits durch die Dynamik permanenter Konkurrenzen aufeinander bezogen, was regional zu häufig wechselnden Grenzverläufen

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Ute Engel / Hauke Horn / Matthias Müller

und Allianzen führte, andererseits durch die vielfältigen und weitreichenden Handelsbeziehungen entlang des Rheins überregional orientiert. Die als Stifter und Auftraggeber der zu untersuchenden Bauten relevanten Personengruppen gehörten also potentiell vielfältigen sowie wechselnden Netzwerken an, vertraten oftmals divergierende Absichten und standen zudem aus politischen, ökonomischen und kulturellen Gründen einem Transfer auswärtiger Ideen, Personen und Gütern mehr oder weniger offen gegenüber. Das Forschungsprojekt sollte daher die Auswirkungen dieser von Dynamik und Referenz gekennzeichneten, spezifischen historischen Situation am Mittelrhein im hohen Mittelalter für die formale und repräsentative Gestaltung der dort errichteten Bauwerke untersuchen.

Die zentralen Fragestellungen Bei der Untersuchung der Prozesse von Vernetzung und Transfer in der mittelrheinischen Architektur des Mittelalters standen zwei Fragestellungen im Mittelpunkt. Sie betrafen einerseits die Analyse und den Vergleich der formalen, stilistischen sowie konstruktiven Gestaltung der Bauwerke an den verschiedenen Orten und in den verschiedenen Zeitschichten, andererseits die mit der Errichtung, funktionalen Nutzung und zeichenhaften Instrumentalisierung der Bauten verbundenen Personengruppen: die Baumeister und Bauhandwerker sowie die Auftraggeber, Stifter und Nutzer mit ihren jeweils möglichen Interessen, Prägungen und Vernetzungen. Zwei zentrale Fragestellungen können auf diese Weise für die verschiedenen Zeitschichten formuliert werden: 1. Welche Rolle spielten an den etwa zeitgleichen Bauprojekten am Mittelrhein die potentiell zu ermittelnden regionalen oder überregionalen Vernetzungen von Bauleuten und Werkstätten bzw. die Transferprozesse architektonischer Motive, Formen oder Techniken innerhalb der Entwurfs- und Konstruktionsprozesse? 2. Welche Rolle nahmen die Auftraggeber, Stifter und Rezipienten bzw. Nutzer der Bauten aus Klerus, weltlichem Adel oder

stadtbürgerlichem Patriziat ein, die mit einer möglicherweise von ihnen beeinflussten Formen- und Stilwahl bestimmte institutionelle oder politische sowie dynastische Zugehörigkeiten ausdrücken oder Ansprüche zeichenhaft repräsentieren wollten?

Die drei Kategorien der räumlich-historischen Verortung Die erste Kategorie ist die konkrete geographisch-topographische Situation, in der ein Bauwerk innerhalb eines örtlichen Gefüges errichtet wurde, so seine Ausrichtung innerhalb der Stadt und, spezifisch für das hier vorgestellte Untersuchungsgebiet, auf das Fluss­ ufer des Rheins oder seiner Nebenflüsse. Diese Kategorie beinhaltet zudem die vor Ort zur Verfügung stehenden Baumaterialien oder die Anbindung des Bauplatzes an Verkehrswege und Infrastrukturen wie die Flüsse, auf denen wiederum Baumaterialien und Personen transportiert werden konnten. Die zweite Kategorie bezeichnet die historisch-politischen Territorien, denen der Ort, in dem ein mittelalterliches Bauwerk errichtet wurde, zugeordnet war. Diese Territorien waren am Mittelrhein höchst zersplittert und konkurrierten beständig miteinander. Sie umfassten sowohl geistliche als auch weltliche Herrschaften und freie Reichsstädte, darüber hinaus überregional agierende Mächte, darunter vier der sieben Kurfürsten (Kurmainz, Kurtrier, Kurköln und Kurpfalz), aber auch regional bedeutende, wenngleich durchaus einflussreiche Herrschaften wie die Grafen von Katzenelnbogen oder Sponheim. Die territorialen Zugehörigkeiten eines Ortes bzw. einer Stadt konnten über die Bauzeit eines Bauwerks hinweg auch wechseln, so im Fall der Katharinenkirche in Oppenheim, wo Chor und Querhaus errichtet wurden, während Oppenheim freie Reichsstadt war, das Langhaus entstand, nachdem das Erzstift Mainz den Ort übernommen hatte und der Westchor schließlich unter kurpfälzischer Herrschaft angefügt wurde. Die dritte, kirchenrechtliche Kategorie ergibt sich speziell für Sakralbauten, die einer Diözese mit ihren Verwaltungsstrukturen eingegliedert waren, wobei am Mittelrhein die beiden Erzbistümer Mainz und

Einleitung

Trier mit ihren Archidiakonaten dominierten. Hinzu kamen spezifische Patronatsrechte einzelner Bauten, wie an St. Peter in Bacharach, das dem Andreasstift in Köln zugeordnet war, während der Ort selbst unter kurpfälzischer Herrschaft stand, oder der Benediktinerkirche in Offenbach am Glan (zur Architektur Köhl 2015), die unter dem Patronat von St.-Vincent in Metz stand.

Ergebnisse Methodisch sollte das Projekt in einem ersten Schritt auf der objektnahen Untersuchung einzelner, für die jeweiligen Zeitschichten repräsentative Bauwerke mit den Mitteln der Bauforschung und Architektur­iko­no­ graphie basieren. In einem zweiten Schritt waren die dabei gewonnenen Ergebnisse mit der historischen Forschungsliteratur und den Schriftquellen in Bezug zu setzen, um Aufschluss über die künstlerischen wie politisch-sozialen Netzwerke der verschiedenen Personengruppen von Werkleuten und Auftraggebern sowie ihre Kommunikations- und Handlungsräume am Mittelrhein zu erhalten. Dabei stellte sich der Forschungsstand – wie bereits oben näher ausgeführt – zu unerwartet vielen mittelalterlichen Bauwerken des Mittelrheintals als ungenügend und / oder veraltet heraus. Dies hatte zur Konsequenz, dass die eigenen Untersuchungen an den Objekten einerseits mehr Raum in Anspruch nahmen, als ursprünglich veranschlagt, dadurch andererseits aber der Forschungsertrag wesentlich erweitert werden konnte. Diese zusätzlichen Ergebnisse flossen u. a. in drei publizierte Aufsätze ein, welche die Baugeschichte bzw. Architekturgeschichte von drei mittelrheinischen Sakralbauten grundsätzlich behandeln: St. Martin zu Bingen (Horn 2016), die Burgkirche in Ingelheim (Horn 2018a) und die Wernerkapelle zu Bacharach (Horn 2018b). Des Weiteren ist durch den ungenügenden Bearbeitungsstand einer der wichtigsten Kirchen, St. Peter in Bacharach, aus dem Projekt heraus neben der Dissertation von Karola Sperber („Städtischer Kirchenbau in Mainz um 1300 und die Herausforderung der Bettelorden. Formen der Innovation, Rezeption und Repräsentation in der Mainzer Stifts- und Pfarrkirchenarchitektur“) eine zusätzliche Dissertation von Mirko Monschauer zur

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monographischen Bearbeitung dieser Kirche angestoßen worden. Der architekturhistorische Forschungsstand der in der Architekturgeschichte bisher zu wenig beachteten Martinskirche in Bingen, die legendär als Gründung des heiligen Mainzer Erzbischofs Willigis gilt, wie auch der Burgkirche (ehemals St. Wigbert) in Ingelheim, die als Hauskirche und Grablege des Adelsgeschlechts der Herren von Ingelheim diente, basierte noch auf dem Kunstdenkmälerinventar von Christian Rauch 1934. Mit Hilfe der im Projekt gewonnenen neuen Ergebnisse konnte der Kenntnisstand nicht nur zur Baugeschichte der beiden Kirchen wesentlich erweitert werden, sondern auch die Beteiligung verschiedener sozialer Gruppen und Akteure – Stift, Bürgerschaft, Kirchherren – beim Bau der Kirche zu verschiedenen Zeitschichten benannt werden. Anhand der Wernerkapelle in Bacharach ließen sich über neue baugeschichtliche Erkenntnisse hinaus die Fragestellungen nach den Formentransfers einerseits und dem semantischen Gehalt der Formen andererseits eingehend diskutieren. Als spektakulärer Neufund ist dabei hervorzuheben, dass die Kapelle entgegen der früheren Annahme in der Literatur um 1300 mit einem Langhaus geplant wurde und in diesem Fall eine deutliche Ähnlichkeit zur Marburger Elisabethkirche aufgewiesen hätte, mit der sie auch die Dreikonchenanlage teilt. Bei der Voruntersuchung der Sakralbauten im Mittelrheintal stellte sich weiterhin heraus, dass der zeitliche Rahmen der Untersuchung angepasst werden musste. Um den hinsichtlich der Fragestellungen besonders relevanten Übergang von der sogenannten Spätromanik niederrheinischer Prägung zur von Frankreich ausgehenden Gotik fassen zu können, der auch methodengeschichtlich von Interesse ist (siehe hierzu den Beitrag von Matthias Müller in vorliegendem Band), war es notwendig, die Untersuchung bereits in der Zeit um 1200 beginnen zu lassen. Somit konnten zwei Schlüsselbauten im Mittelrheintal, nämlich St. Severus in Boppard und St. Peter in Bacharach, adäquat erfasst werden. Die Bauwerke der Schicht um 1300, von denen sich die Wernerkapelle in Bacharach ebenso wie die Kirchen in Oberwesel als besonders aussagekräftig erwiesen, schließen daran nahtlos an, so dass Wandlungen und Kontinuitäten in der mittelalterlichen Architektur

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Ute Engel / Hauke Horn / Matthias Müller

sowohl hinsichtlich der Bauformen und -techniken als auch der politischen und sozialen Dimensionen der Sakralbauten für das 13. und 14. Jahrhundert im Mittelrheintal konsistent dargelegt werden konnten. Innerhalb der untersuchten geographischen und zeitlichen Rahmung ließen sich die beiden zentralen Fragestellungen – erstens zu den Transferprozessen architektonischer Formen und Techniken sowie zweitens zur Rolle der Auftraggeber und Akteure des Kirchenbaus im Hinblick auf die Zeichenhaftigkeit der Architektur vor dem Hintergrund der drei Kategorien (geographisch-topographische Situation, historisch-politisches Territorium und kirchenrechtliche Verwaltungsstruktur) – eingehend behandeln und wesentliche Ergebnisse für deren Beantwortung gewinnen. Eine ebenso überraschende wie auch für künftige architekturikonologische und kulturhistorische Forschungen bedeutsame, aus dem Projekt hervorgegangene Erkenntnis ist es, dass die Architektursprache der Sakralbauten des 13. und 14. Jahrhunderts im Mittelrheintal – entgegen den Erwartungen – weder einem Diözesan- noch einem Herrschaftsstil zugeordnet, sondern stattdessen der in der Architekturforschung bisher wenig beachtete Kirchherr als maßgebliche Referenzebene identifiziert werden konnte. So ließen sich für die Stiftskirchen St. S­ everus zu Boppard und St. Peter zu Bacharach konkrete architektonische Bezüge zur Kirche des Martinsstifts in Worms bzw. des Andreasstifts in Köln, wo jeweils die Patronatsrechte an den mittelrheinischen Bauten lagen, aufzeigen. Die Transferprozesse hingen demzufolge mit den im Mittelalter nicht klar zu trennenden politischen und kirchlichen Verhältnissen in den Stiften zusammen, die enge institutionelle und personalen Verflechtungen zwischen Mutterstift und Filiation mit sich brachten. Die somit im Sinne einer politischen Architekturikonologie zu interpretierenden Transferprozesse von Bauformen werden in Boppard durch einen umfassenden Planwechsel um 1200 bestätigt, als die Bezüge zu Worms just dann zu Gunsten niederrheinischer Vorbilder in den Hintergrund traten, als die Reichsstadt Boppard ein wichtiger Stützpunkt der staufischen Könige wurde und der Einfluss des Wormser Martinsstifts schwand. Der politische Symbolcharakter von Sakralbauten ließ sich auch anhand von St. Peter und der Wernerkapelle in Bacharach nachvollziehen, die als

Zeichen der kölnischen Präsenz gegenüber der sich die Herrschaft über den Ort bemächtigenden Pfalzgrafen verstanden werden können, sowie anhand der Liebfrauenkirche in Oberwesel, wo die Indizien für eine politisch motivierte Baubeteiligung des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg, welcher in dieser Zeit die faktische Herrschaft über die ehemals freie Reichsstadt erlangte, sprechen. An der Wernerkapelle in Bacharach konnte zugleich gezeigt werden, wie sich die Veränderung der lokalen Machtverhältnisse auf die Architektur auswirkte. Der zunehmende Einfluss der Pfalzgrafen auf das Bacharacher Andreasstift führte in einer zweiten Bauphase ab ca. 1426 zu einer Vereinnahmung der Kapelle durch den Pfalzgrafen Ludwig III., die mit einem grundlegenden Planwechsel einherging. Anstelle des ursprünglich geplanten Langhauses kam es zur Errichtung eines Westbaus mit Empore, die wahrscheinlich als Sitz der Pfalzgrafen bei der Messe fungierte. Ungeachtet der politischen Konnotationen konnten die mittelrheinischen Kirchen auch als soziale Räume gefasst werden, in denen sich die Interessen von verschiedenen Gruppen überlagerten und zum Ausgleich gebracht wurden. In St. Martin zu Bingen sowie der Liebfrauenkirche und St. Martin zu Oberwesel waren die Schiffe der Kirche verschiedenen Gruppen funktional zugeordnet: Während sich das Gestühl der Stiftsherren im Hauptchor befand, wurde jeweils ein Seitenschiff als Pfarrkirche genutzt, was vor allem in Bingen aufgrund einer im 15. Jahrhundert im Bereich des Nordseitenschiffs errichteten Halle zum Ausdruck kommt, die mit ihren prachtvollen Formen zum älteren Bestand der vom Stift genutzten Gebäudeteile auffällig kontrastiert. Ebenso wurden Seitenschiffe von Adelsgeschlechtern als Grablegen genutzt, so in der Oberweseler Liebfrauenkirche, in St. Goar oder der eh. Wigbertskirche in Ingelheim. Angesichts der komplexen Überlagerung von Interessen beim Sakralbau wie auch der nachweislich überregionalen Netzwerke der den Kirchbau tragenden Akteure stimmte die ältere These von der Verbreitung der Gotik durch wandernde Bautrupps skeptisch. Im Rahmen des Projekts ließen sich demgegenüber zwei Transferwege für die Verbreitung einer neuen Architektur im Mittelrheintal nachweisen, die beide in einem überregionalen Kontext standen

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und von der Auftraggeberseite abhingen. Die Formen und Techniken der französisch geprägten Kathedralgotik kamen erstmals beim Bau der Wernerkapelle seit den 1280er Jahren im Mittelrheintal zur Geltung. Dies war jedoch nicht das Resultat wandernder Bautrupps, sondern ein gezielter Import von Architekturformen und -wissen aus Köln, wo der imposante Neubau der Kathedrale im Gange war. Als Ursache für diesen Importweg konnten die engen institutionellen Verbindungen des Bacharacher Petersstifts mit dem Kölner Andreasstift benannt werden. Der Import beschränkte sich jedoch nicht, und das ist eine wichtige Erkenntnis, auf nur einen Weg. Es ließ sich nachweisen, dass die Baustoffe für die Wernerkapelle aus der anderen Richtung geliefert wurden: Der Kalk für den Mörtel kam aus Bingen, der Rotsandstein stammt vom Main. Hier war die natürliche Fließrichtung des Rheins für die Importrichtung ursächlich. Auch an weiteren Beispielen ließ sich aufzeigen, das Baumaterial in der Hauptsache flussabwärts in das Mittel­ rheintal geliefert wurde. Der Bau der Wernerkapelle zeigt, dass bereits im 13. Jahrhundert Transferprozesse nicht eindimensional verliefen, sondern an verschiedene funktional differenzierte Wege geknüpft waren. Das künstlerische und technische Wissen kam aus Köln, architektonische Motive aus Marburg, Baumaterial vom Main. Mit ihrer feinen und filigranen Gotik blieb die Wernerkapelle im Mittelrheintal allerdings eine Ausnahme. Als maßgeblich stellte sich ein zweiter, bisher von der Forschung nicht gesehener Transferweg für die Gotik ins Mittelrheintal heraus. Als zur Mitte des 13. Jahrhunderts die Franziskaner nach Oberwesel kamen, brachten diese ihre asketische „Ordensgotik“ mit ins Tal, die mit der bis dahin geläufigen dekorationsfreudigen Architektursprache stark kontrastierte. Die wahrscheinlich schon in den 1260er Jahren begonnene Klosterkirche Hl. Kreuz, heute als Minoritenkirche geläufig, wurde zum Vorbild für den 1308 begonnenen Neubau der von einer monumentalen

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Schlichtheit gekennzeichneten Oberweseler Liebfrauenkirche. Selbst auffällige Merkmale wie die innenliegenden Strebepfeiler lassen sich auf den Bau der Minoritenkirche zurückführen. Die Adaption der reduzierten Ordensgotik geschah vor dem Hintergrund einer mit Etablierung der Franziskaner einsetzenden Konkurrenzsituation, welche die Position der alten in Oberwesel ansässigen Stifte gefährdete. Die reduzierte Gotik der Oberweseler Liebfrauenkirche wurde zum Vorbild weiterer Kirchen im Mittel­ rheintal, was sich vor allem an St. Martin, der zweiten großen Stiftskirche in Oberwesel, deutlich erkennen lässt. Bemerkenswerterweise blieb auch die gotische Quadertechnik auf den Bau der Werner­kapelle beschränkt. Die Oberweseler Kirchen und weitere ihnen folgende Bauwerke wurden stattdessen in Bruchsteinmauerwerk aus dem lokal verfügbaren Schieferstein ausgeführt. Lediglich die steinmetzmäßig zu bearbeitenden Werksteine, wie die Fensterlaibungen, wurden in importierten Natursteinsorten erstellt. Die Bautechnik und -organisation des 13. bis 15. Jahrhunderts im Mittelrheintal zeigt sich damit ebenso örtlich bedingt wie sie im überregionalen Austausch stand. Abschließend lässt sich im Hinblick auf die Fragestellungen festhalten, dass die Ergebnisse des Projekts deutlich eine entscheidende Rolle der Auftraggeberschaft erkennen lassen. Die lokalen, regionalen und überregionalen Netzwerke der Auftraggeber – und weniger der Werkstätten – bestimmten letztlich die Transferwege für Bauformen und -techniken. In diesem Zusammenhang wurde die Sakralarchitektur auch genutzt, um im geostrategisch bedeutsamen Mittelrheintal mit seinen vielfältigen Überlagerungen von Interessensphären und Herrschaftsstrukturen eine institutionelle oder politische Zugehörigkeit auszudrücken und damit verbundene Ansprüche architektonisch zum Ausdruck zu bringen. Eine überraschende und für die architekturikonologische Forschung wichtige neue Erkenntnis ist die Bedeutung des Kirchherrn als Referenz, der im

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Mittelrheintal mehr Gewicht zukam als der Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsterritorium oder einer Kirchenprovinz.

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Bruno Klein

Warum Gotik?

Die Gotik als das Fremde Warum Gotik? Das fragte sich schon vor über 400 Jahren der italienische Maler, Architekt und Kunstschriftsteller Giorgio Vasari. In der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner 1550 erschienenen Künstlerviten dachte er über die Gründe dafür nach, dass gotische Architektur in den vorangegangenen Jahrhunderten so verbreitet gewesen sei, und fand dafür eine ziemlich einfache Antwort: Nachdem zur Zeit der Barbaren im frühen Mittelalter die guten alten Architekten gestorben oder ermordet worden seien, hätten ihre Nachfolger bloß Bauten errichten können, die weder in ihrer Anordnung noch in ihren Maßen Anmut, Geist oder Sinn gehabt hätten: „non edificavano cosa che per ordine o per misura, avesse grazia, ne disegno, ne ragion’alcuna.“1 Diese ganze schlechte Baukunst, die von den barbarischen Architekten verschiedener barbarischer Völker errichtet worden sei, hieße zu seiner Zeit „tedesca“ also „deutsch“. Erst an anderer Stelle spricht Vasari von Gotik. Jene Bauten hätten zwar zur Zeit ihrer Errichtung als lobenswert gegolten, würden aber zu seiner Zeit, das heißt im 16. Jahrhundert, von, wie er sagt „uns Modernen“, für lächerlich gehalten. Seit die „Gotik“ – und speziell die gotische Architektur – als wiedererkennbarer Stil wahrgenommen wird, wird sie als etwas Besonderes angesehen; als etwas, das außerhalb des vermeintlich Normalen liegt, wie schon Vasari behauptete. Gotik gilt als kaum definierbare Fremdes, Irrationales und Irritierendes. Dieses Differenzgefühl scheint fast ausschließlich gegenüber diesem Stil ausgeprägt zu sein. Über die Romanik oder die diversen Klassizismen hat man diesbezüglich weder im Ansatz noch mit vergleichbarer Intensität nachgedacht – Barock bildet 1 Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’ tempi nostri: descritte in lingua toscana da Giorgio Vasari, pittore arentino – Con una sua utile et necessaria introduzione a le arti loro, 2 Bde, Florenz 1550, hier zitiert nach der Online-Ausgabe: https://it.wikisource. org/wiki/Le_vite_de%27_più_eccellenti_pittori,_scultori_e_­ architettori_(1550)/Proemio_delle_Vite [Zugriff: 27.9.2018].

diesbezüglich eine gewisse Ausnahme –, während umgekehrt die Entstehung des völlig artifiziellen, von einigen wenigen Humanisten und Künstlern vom Zaun gebrochenen Stils der Renaissance lange nicht unter Erklärungsdruck stand, weil seine Existenzrechtsbehauptung von vorneherein und quasi automatisch durch seine moralische und ästhetische Überlegenheit begründet und damit unhintergehbar zu sein schien. Tatsächlich ließe sich eine Geschichte von Kunststilen schreiben, die im Laufe der Zeit entweder als genetisch „wohlbegründet“ oder aber „problematisch“ erschienen sind. Das würde aber vom Thema dieses Beitrags zu weit wegführen. Doch soll die Problematik der unterschiedlichen Begründbarkeit von Stilen im Folgenden zumindest hintergründig mitschwingen, ebenso wie das Bewusstsein dafür, dass „Fremdheit“ von – und „Vertrautheit“ mit – gewissen Stilen kulturell und historisch determiniert sind und sich nicht durch nur scheinbar objektivierbare Stilphänomene begründen lassen. Zugleich lässt sich das irritierende Phänomen beobachten, dass es über jegliche einzelne Phase des Stilwandels oder Stilbruchs hinaus, in der immer der eine oder der andere Stil vorübergehend als fremd oder vertraut gilt, auch Beispiele der „longue durée“ zumindest in Hinblick auf das gibt, was als fremd empfunden wird. (Abb. 1) Die antike Architektur hat in Europa niemals als völlig fremd gegolten, sodass sie für auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Stile immer wieder fruchtbar gemacht werden konnte, wie die Abbildung in Le Corbusiers Manifest „Vers une architecture“ zeigt, bei der ein antiker Tempel aus Paestum und ein modernes Auto einander gegenübergestellt werden. (Abb. 2) Von Phänomenen der spätbarocken, sogenannten churrigueresken Architektur ließe sich dies kaum behaupten, auch wenn diese in den spanischen und portugiesischen Weltreichen zeitweise omnipräsent waren. (Abb. 3) Auf einer Skala, die von demjenigen reicht, was über die Jahrhunderte hinweg als vertraut gilt, bis hin zu dem, was eigentlich immer als fremd scheint, wäre

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Bruno Klein

1 Le Corbusier, Vers une architecture, Paris, 1923, S. 106, 107.

2 Taxco, Mexiko, Santa Prisca, Detail der Fassade, 1751–58.

3 Toledo, Kathedrale, “El Trasparente” von Narciso Tomé, 1729–1732.

4 Straßburg, Münster, Westfassade, 1275–1439.

Warum Gotik?

5 Köln, St. Gereon, 4.–13. Jahrhundert.

die Gotik jedenfalls eher in der Hälfte des zumeist als fremd Empfundenen zu verorten. In diesem Sinne waren die „Gotik“ oder auch die synonyme „maniera tedesca“ zunächst allgemeine Differenzbegriffe, und sie sind es über die Jahrhunderte hinweg teilweise selbst bis heute geblieben: Dabei gilt es zu trennen zwischen der Tatsache, dass Gotik als etwas generell wesensmäßig Andersartiges angesehen wird, und den möglichen Gründen für das, was diese Andersartigkeit denn jeweils konkret ausmachen soll. Denn hierfür gab es inhaltlich ganz unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Zuschreibungen, von denen eine kleine Auswahl hier kurz vorgestellt sei. Eine der ältesten Differenzzuschreibung an die Gotik ist diejenige, die sich u. a. auch bei Vasari findet, nämlich dass sie unantikisch, antiklassisch und irrational sei und daher nur negativ beurteilt werden könne. (Abb. 4) Positiv kann sie aber auch für das Authentische und Erhabene stehen, wie zum Beispiel bei Goethe in seinem berühmten Frühwerk „von Deutscher Baukunst“, in dessen Mittelpunkt das Straßburger Münster steht. Bleiben wir am Rhein und gehen nach Köln, so finden wir dort im Jahr 1830 den

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6 Köln, St. Aposteln, Kleeblattchor, um 1200.

28-jährigen französischen Dichter Ludovic Vitet, der bald danach im Zuge der Juli-Revolution der erste „Inspecteur général des monuments historiques“ werden sollte. Vitet beschreibt in romantischer Emphase das Ensemble der romanischen Kölner Kirchen als eine Ansammlung orientalischer Bauten: Kommen Sie an einem Sonnentag nach Köln und sehen Sie, sobald Sie sich den Stadtmauern nähern, über diese riesige Stadt die flachen Dächer und die eleganten Minarette leuchten. (…) Wo ist der Norden, wo Germanien? (Abb. 5) Stellen Sie sich vor St. Gereon, ist es dann nicht die Hagia Sophia, die Sie zu sehen glauben? (Abb. 6) Und diese Kirche der Heiligen Apostel, und St. Maria im Kapitol, (Abb. 7) ist es nicht Mohamed, den man dort verehren muss? Erwarten Sie nicht, dass der Muezzin von diesen kleinen Türmen die Stunde des Gebetes ausruft?2

2 Dieses und das folgende Zitat nach: Bruno Klein, „Rheinromantik und Kunstgeschichte – Ein französischer Bericht von 1830 über St. Kunibert in Köln“, in: Rheinische Heimatpflege, Neue Folge, Jg. 21, 1984, S. 84–88, hier S. 85–86.

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ein Wunderwerk angedeutet hat, offensichtlich in Kämpfen eingeführt und nie in Frieden geherrscht. Vitet bindet die Gotik rhetorisch geschickt in ein ganzes Bündel von Widersprüchlichkeiten ein: Die Romanik wird als fremde, orientalische, aber heimisch gewordene Architektur identifiziert; während die Gotik wiederum als zwar quasi genetisch Heimisches, aber doch eigentlich Fremdes unter Fremden gilt, sodass am Ende nichts unnatürlicher scheint als die Existenz gotischer Kirchenbauten in Köln. Dies macht für Vitet die Beantwortung der Frage „Warum Gotik?“ am Ende nur noch dringlicher. 7 Köln, St. Maria in Kapitol, 11. Jahrhundert.

Widersprüchliche Aneignungen der Gotik Diese Orientalismus-trunkene Passage stellt natürlich schon ihrerseits eine Verfremdung und pathetische Übersteigerung des Vorgefundenen dar. Umso effektvoller kann dem dann etwas noch Fremderes gegenübergestellt werden: (Abb. 8) Was ist das für eine große Masse, die sich über alle Häuser erhebt, gespickt mit einem Wald spitzer Türme und mit Klöppelei bedeckt? Feenhand scheint diese Stickarbeit ausgeschnitten und diese Spindeln geschliffen zu haben. Das ist das Wunderwerk, das ist der Dom, die berühmte Kathedrale! Ja, das ist der Norden, das ist Germanien: Schnee und Reif können auf diese Nadeln fallen; die Farbe dieser großen Hausteine lässt nicht von ewiger Sonne träumen, sie ist dunkel und streng wie das Klima. Und doch: Ist es nicht eigenartig, dass, wenn Sie in Köln sind, auf deutschem Boden, Sie nur ein einziges Beispiel dieser vollkommen deutschen, oder zumindest nordischen Architektur finden. Mit großer Mühe entdecken Sie in der Stadt hier und da einige kleine Spitztürme, einige spitzbogige Fenster: Das sind zaghafte Versuche, zum größten Teil unvollendet. Vor diesen zwölf romanischen Kirchen macht der Dom den Eindruck eines Fremdlings, aber er ist dennoch zu Hause, auf seinem Mutterboden. (…) … der orientalische Stil scheint sich in Köln eingerichtet und ohne Widerspruch und Anstrengung regiert zu haben; dagegen hat sich der deutsche Stil, obwohl er

Sah man zumindest bis in die Mitte des 19. Jahrhundert in der Gotik in Deutschland noch das eher Ungewöhnliche, so drehte sich die Meinung schon sehr bald ins genaue Gegenteil: Gotik galt als wesensmäßig deutsch, und so wurden zumindest auf deutscher Seite komplizierte Erklärungsmodelle entwickelt, wie und warum es zum Transfer gotischer Formen nach Deutschland gekommen war, obwohl diese ihren Ursprung ganz zweifellos in Frankreich hatten. Die französische Kunstgeschichte verhielt sich gegenüber diesem Problem weitgehend indifferent, weil sie die Gotik in Deutschland entweder ignorierte oder allenfalls für eine Abirrung der eigenen Architektur hielt. Der berühmte, von Émile Mâle nach der Beschießung der Kathedrale von Reims im Ersten Weltkrieg angeführte Streit um „L’art allemand et et l’art français “ und die deutsche Reaktion darauf haben diese Problematik fokussiert.3 Alles das ist bestens bekannt und erforscht und muss daher hier 3 Émile Mâle, L’ art allemand et l’art français du moyen âge, Paris 1917; Émile Mâle, Studien über die deutsche Kunst, hg. von Otto Grautoff mit Entgegnungen von Paul Clemen, Kurt Gerstenberg, Adolf Göze, Cornelius Gurlitt, Arthur Haseloff, Rudolf Kautzsch, H. A. Schmid, Josef Strzygowski, Géza Supka, Oskar Wulff, Leipzig 1917; Evonne Anita Levy, „The German art historians of World War I: Grautoff, Wichert, Weisbach and Brinckmann and the activities of the Zentralstelle für Auslandsdienst“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Jg. 74, 2011, S. 373–400; Michela Passini, La fabrique de l‘art national: le nationalisme et les origines de l‘histoire de l‘art en France et en Allemagne; 1870–1933, Paris 2012.

Warum Gotik?

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8 Anton Woensam, Stadtansicht von Köln, 1531 (Ausschnitt).

nicht weiter ausgeführt werden. Wichtig bleibt in diesem Zusammenhang lediglich die Feststellung, dass in diesem Streit abermals der seit dem 16. Jahrhundert offene oder unterschwellige Erklärungsbedarf zum Ausdruck kam, warum Gotik überhaupt existierte, und dass sich diese Problematik im 19. und frühen 20. Jahrhundert entlang des Rheins quasi auf ein französisch-deutsches Phänomen fokussierte. Daher gab es auch speziell für Deutschland oder das Deutsche Reich eine unendlich lange und extrem elaborierte Diskussion um den „Übergangsstil“, das heißt um die stilistische Erscheinungsform von zwischen dem Ende des 12. und der Mitte des 13. Jahrhunderts errichteten Bauten, die nicht mehr ganz „romanisch“ und noch nicht ganz „gotisch“ sind. Der „Übergangsstil“ ist ein spezifisch deutsches Phänomen, obwohl man sich fragen könnte, wie es denn in anderen Ländern am Beginn der Gotik gewesen war und ob es auch dort zu entsprechenden Phänomenen gekommen ist. Tatsächlich ist dies im Detail auch sehr gut untersucht,4 aber es wurde dabei in der Regel aus den jeweils individuellen Beobachtungen kein so allgemeines Phänomen wie ein „Übergangsstil“ abgeleitet. Und theoretisch sollte man umgekehrt ja auch für Frankreich „Übergangsstilphänomene“ identifizieren können: Denn die bis heute im Kern 4 Z. B.: Stefan Gasser, Die Kathedralen von Lausanne und Genf: früh- und hochgotische Architektur in der Westschweiz (1170– 1350), Berlin 2004 (Scrinium Friburgense, 17).

unwidersprochene Annahme, dass das, was Gotik heißt, seinen Ursprung in der Île-de-France und den unmittelbar benachbarten Regionen hatte, müsste ja eigentlich auch implizieren, dass es überall dort, wo diese neuartige Baukunst sich ausbreitete, zu Phänomenen von „Übergangsstil“ gekommen sei. Davon ist die Forschung aber weit entfernt: Übergangsstil ereignet sich für die Kunstgeschichte keineswegs überall gleichartig an den vermeintlichen Rändern der von der Île-de-France ausgehenden „gotischen“ Welle, sondern nur in einer spezifischen Region, nämlich in Deutschland und speziell in dessen Westen. Eine entsprechende Diskussion ist für andere Länder kaum geführt worden: Was für Italien zu sagen war, hatten schon Vasari und seine Zeitgenossen gesagt. Für England hatte am Beginn des 19. Jahrhunderts Thomas Rickman den bis heute geläufigen Begriff des „Early English“ eingeführt.5 Hingegen verhielt die in den Kernländern des Faches schon früh institutionell gefestigte Kunstgeschichte sich gegenüber Spanien geradezu kolonial, sodass das, was im 12. und 13. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel produziert 5 Thomas Rickman, An Attempt to Discriminate the Styles of English Architecture, from the Conquest to the Reformation. Preceded by a Sketch of the Grecian and Roman Orders, with notices of Nearly Five Hundred English Buildings, London 1817. Tatsächlich hat Rickman zwischen den einzelnen, speziellen Stilen gewidmeten Kapiteln immer auch Zwischenkapitel zur „transition“ eingefügt. „Übergang“ ist für ihn also ein allgemeines und keineswegs ein auf die Zeit der frühen Gotik beschränktes Phänomen.

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9 Molsheim, Elsass, ehem. Jesuitenkirche von Christoph Wamser, 1615–1618.

wurde, einhundert Jahre lang im Wesentlichen durch Ausländer von George Edmund Street zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts6 bis zu Elie Lambert in der Mitte des 20. Jahrhunderts definiert wurde.7 Die Schweiz wurde in diesem, aus nationalistischer Perspektive geprägten Bild entweder übersehen oder anderen, ihr benachbarten Kulturräumen zugeschlagen. Diese kurze Auflistung soll zeigen, dass es seit dem 19. Jahrhundert eigentlich nur entlang der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland zu einem Diskurs über den Ursprung und die Qualität der Gotik kommen konnte, der auf beiden Seiten wissenschaftlich auf Augenhöhe stattfand. Und so hängt die Art und Weise, wie die Ausbreitung und Entwicklung einer spezifischen Art von Architektur – nämlich der Gotik – untersucht und beurteilt wird, nicht mit der Entwicklung von Gotik während des Mittelalters selbst zusammen, sondern ist ein Resultat verschiedenartiger historisierender Rückprojektionen. Am Beispiel des Übergangsstils wird erneut deutlich, dass Gotik sehr stark in Diskursen von ethischen,

6 George Edmund Street, Some account of gothic architecture in Spain, London 1869. 7 Élie Lambert, L’art gothique en Espagne aux XIIe et XIIIe siècles, Paris 1931.

nationalen, stilistischen Differenzen usw. instrumentalisiert wurde. Ganz besonders wichtig ist dabei seit dem späten 15. Jahrhundert jener Differenzdiskurs, der sich auf die Unterschiede zwischen der Gotik und den anderen Stilen vor und nach ihr, oder regional gesehen auch parallel zu ihr, bezieht. An seinem Beginn ist er leicht verständlich, doch hat er sich immer weiter entwickelt, argumentativ ausdifferenziert und verselbständigt. Dabei ist erkennbar, dass es für den neuzeitlichen Architekturdiskurs geradezu unerlässlich ist, dass es gleichzeitig sowohl eine vermeintlich gute, nämlich zeitgenössische und ästhetischen Normen entsprechende Baukunst gibt, als auch eine schlechte, konservative und nicht regelhafte. Seitdem erfüllt Architektur in gotischen Formen die Funktion, die Alternative zur jeweils vorherrschenden aktuellen Baukunst zu sein. Immerhin: Die „Gotiker“ des Nachmittelalters lebten damit nicht schlecht: (Abb. 9) Sei es, dass im Zeitalter der Konfessionalisierung zahlreiche sogenannte nachgotische Kirchen errichtet wurden,8 sei es, dass die Neugotik vor allem im 19. Jahrhundert zu einem geradezu globalen Stil werden konnte, der dezidiert gegen die klassischen Normen gerichtet war. (Abb. 10) Und auch wenn die Neugotik mit dem beginnenden 20. Jahrhundert von den Propagandisten der Moderne als für beendet erklärt wurde, lebt sie noch immer fort. Nicht nur in der Wolkenkratzerstadt New York wird seit 1892 permanent an der gotischen Kathedrale Saint John the Devine gebaut (Abb. 11), sondern auch in Indien, Australien, Mexiko oder Südamerika entstehen bis heute gotische Kathedralen, die ganz offenbar nicht als wirklich antimodern konzipiert sind, sondern die eine Alternative innerhalb der Moderne visualisieren wollen. Dass Bauten wie das Leipziger „Paulinum“ (Abb. 12, 13), das an der Stelle der 1968 auf Druck der DDR-Führung gesprengten spätgotischen Kirche steht, geradezu „Gegenbauten“ sowohl zur DDR-Moderne wie zur Moderne der Nachwendezeit sind, steht außer Frage. All’ dies funktioniert aber nur, weil Gotik seit einem halben Jahrtausend als der architektonische Differenzstil schlechthin gilt. Im Zusammenhang mit den 8 Weiterhin grundlegend: Hermann Hipp, Studien zur ‘Nachgotik‘ des 16. und 17. Jahrhunderts in Deutschland, Böhmen, Österreich und der Schweiz, 3 Bde., Hannover 1979.

Warum Gotik?

10 Quito, Ecuador, Basílìca del Voto Nacional, 1892 (Grundsteinlegung) –1988 (Weihe).

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11 New York, Cathedral Church of Saint John the Divine, 1892 begonnen.

12 Leipzig, Paulinum, Aula und Universitätskirche, 2007–2017, anstelle der gotischen, 1968 gesprengten Universitätskirche St. Paul.

13 Leipzig, Universitätskirche St. Paul, Fotografie um 1900.

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erwähnten gotischen Bauten der letzten 500 Jahre wäre die Frage „Warum Gotik?“ also in dem Sinne zu beantworten, dass Gotik ein Antidot ist, das die „rationale“ Moderne zu ihrer Existenz benötigt. Die meisten der wirklich zahlreichen Gotikdeutungen – und natürlich auch diejenigen der Nach- und Neugotiker – bestehen im Kern aus Zuschreibungen der Moderne an die Gotik; woraus folgt: Gotik gibt es, weil die Moderne die Gotik braucht.

Gotik lokal, regional, global Eine nicht ganz von der Hand zu weisende Frage könnte lauten, ob es jenseits der genannten wissenschaftsgeschichtlichen Gründe überhaupt interessant ist, sich mit dem Thema des spätmittelalterlichen Formenwandels, speziell im Mittelrheingebiet und noch spezieller auf dem Gebiet der Architektur, unter dem Aspekt von „Gotikrezeption“ zu beschäftigen. Denn Formenwandel ist ein permanentes Phänomen, dessen Untersuchung ja geradezu eine „raison d’être“ der Kunstgeschichte ist. Warum sollte die Untersuchung des Phänomens der Einführung der Gotik in Deutschland diesbezüglich privilegiert werden? Gerade die Auseinandersetzung zwischen vermeintlichen Nationalstilen wie der „französischen Gotik“ und der „deutschen Romanik“ ist auf lange Sicht und vor allem global gesehen ein eher marginales Phänomen: Es ordnet sich heute quantitativ bestenfalls noch als eine Fußnote in den großen postkolonialen Diskurs ein, der sich um die Problematik der Auseinandersetzung zwischen lokalen, regionalen, internationalen und globalen Kunstphänomenen dreht. Umgekehrt wäre gerade deshalb aber auch zu fragen: Können die Fragestellungen, Methoden und Resultate zum Thema der Auseinandersetzung zwischen Romanik und Gotik nicht auch Anregungen für die aktuelle globale Forschung liefern; bzw. wie sind sie darin zu integrieren? Ist der Mittelrhein des 13. und 14. Jahrhunderts nicht eventuell eine Modellregion, um globale Phänomene der Gegenwart systematischer klären zu helfen? Das klingt zweifellos etwas abstrakt, klärt sich aber vielleicht durch die Analyse einiger regionaler Beispiele: Das Oberweseler Retabel (Taf. 35) aus dem frühen 14. Jahrhundert ist ein Monument, bei dem

die Reihung der Heiligen, um die es doch eigentlich gehen müsste, von der architektonischen Rahmung sowohl in den Dimensionen, als auch in der Ausdruckskraft übertroffen wird. Es findet sich hier einerseits die geradezu redundante figürliche Reihung der heiligen Figuren mit der Szene der Marienkrönung in der Mitte, doch eigentlich dominieren die geschnitzten, höchst variantenreichen Maßwerkrosen unter den gleichfalls auf unterschiedliche Weise geschmückten Wimpergen, welche alle zusammen zweigeschossige Doppellanzetten überfangen. Das alles erinnert an Fenster, und zwar sowohl an steinerne Maßwerkfenster, wie sie außen an Kirchen zu sehen sind, als auch an Fensterscheiben in Maßwerkrahmen, wie sie sich in Kirchen von innen aus präsentieren. Aber was der Betrachter sieht, ist keine echte Architektur; und es gibt auch keine wirklichen Fenster. Vielmehr handelt es sich um ein hölzernes, vergoldetes Altarretabel, das mit figürlichen und noch mehr architektonischen Formelementen aufwartet, und zwar nicht, um in einem Museum zu stehen und Kunsthistoriker zu erfreuen, sondern um das, was vor ihm geschieht, nämlich die Messfeier mit dem zentralen Akt der Transsubstantiation, zu rahmen, zu kommentieren und zu transzendieren. Dass zu diesem Ziel architektonische Formen in extremem Maße eingesetzt werden, zeigt an, dass in dieser Zeit offenbar die Möglichkeit bestand, die Ausdrucksformen verschiedener Kunstgattungen durchlässig zu machen mit dem Ziel und in dem Glauben, dadurch auf eine höhere Realität verweisen zu können. Der außergewöhnlich intensive Einsatz architektonischer Motive findet seine Begründung weniger darin, dass die Architektur damals so etwas wie eine Leitgattung gewesen wäre. Vielmehr waren die großen Kirchenbaustellen im 13. Jahrhundert in zunehmendem Maße diejenigen Orte geworden, an denen eine gemeinsame und beschleunigte Weiterentwicklung der verschiedenen künstlerischen Medien stattfand, bevor diese wenig später in konkurrierende Kunstgattungen aufgespaltet oder den einzelnen Gewerken durch Zunftordnungen strenge Grenzen gesetzt wurden. Es steht außer Frage, dass hierfür die Architekturzeichnung ein entscheidendes Medium war, das sich im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts vor allem an der Grenze zwischen der Francia und der Germania entwickelte. Zweifellos hat dieses Medium sowohl

Warum Gotik?

den regionalen Austausch beschleunigt als auch – auf den großen Kirchenbaustellen – denjenigen zwischen den verschiedenen Gewerken der Steinmetzen, Maler oder Goldschmiede. Aber die Leitmotive eines Retabels wie desjenigen von Oberwesel sind ja keine geschnitzten Architekturzeichnungen oder miniaturisierten Maßwerkfenster. Es sind vielmehr Formen aus eigenem Recht, zweifellos mit großer Affinität zu den genannten anderen Gattungen, aber doch nicht deren Imitate! Sie zeigen, dass über das Medium der Architekturzeichnung ganz eigenständige Ausdrucksformen entstehen konnten, die es so in keiner anderen Gattung gab: Die Filigranität der Maßwerke wäre zwar in gebauter Architektur vielleicht noch erreichbar gewesen, nicht aber das Zusammenspiel von beleuchteten und nicht wie in der Glasmalerei durchleuchteten Figuren und Architektur, nicht die Kombination von Plastizität von Architektur und Figuren, nicht die einheitliche Goldfassung, nicht die Ausbreitung eines mit einem Blick zu erfassenden symmetrischen Maßwerkrapports. Es gibt keine andere Formgelegenheit, in der sich alles dies so verbindet wie an einem Retabel, wofür dasjenige von Oberwesel repräsentativ ist. Das geschieht auch nicht zufällig an einem Altar: Denn gerade an diesem Ort hatte ein solches Retabel eine religiös-didaktische Funktion im Zusammenspiel mit dem Messopfer, das vor ihm zelebriert wurde.9 (Taf. 34, 36) Charakteristisch hierfür ist auch, dass sich das Oberweseler Retabel in einem Bau befindet, der sich überwiegend gerade nicht durch dekorativen Reichtum der Architektur auszeichnet, sondern bei dem vor allem Masse und Raum die ästhetischen Hauptrollen spielen. Erst zum Altarraum hin werden die Formen kleinteiliger, beginnend mit dem Lettner und kulminierend im Retabel. Es ist daher unbedingt von einer kalkuliert inszenierten Relation von Groß- und Kleinformen auszugehen. Helfen solche Beobachtungen aber bei der Beantwortung der Frage, warum sich die Beschäftigung mit der Gotik am Mittelrhein besonders lohnt? Es wäre zu einfach darauf mit dem Argument zu antworten, dass es im 14. Jahrhundert in dieser Region 9 Vgl. dazu insbesondere Heike Schlie, Bilder des Corpus Christi: sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch, Berlin 2002.

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eine ganz besondere, geradezu einmalige Konstellation gegeben habe, die zu einer Alleinstellung der regionalen Kunstproduktion führte. Dennoch kann man wohl ein paar spezifische strukturelle Grundmuster identifizieren: Zu diesen wäre zunächst eine besonders komplexe Überlagerung verschiedener kraftvoller Interessen zu zählen, wie es sie im 14. Jahrhundert am Mittelrhein zwischen Städten und Adel oder verschiedenen Institutionen gegeben hat.10 Dabei sind auch geografisch-topografische Faktoren nicht auszuschließen, nämlich dass die mittelrheinische Kulturlandschaft einerseits durch den Rhein als Nord-Süd-Verbindung, andererseits als Grenzregion im weiteren Sinne zwischen der Francia und der Germania geprägt war. Abstrakt ausgedrückt hieße dies heute, dass das Mittelrheingebiet im späten Mittelalter eine klassische „Kontaktregion“ sowohl im geografischen wie im sozialen Sinne war. Es scheint, dass es in diesem Gebiet – und zwar speziell im hohen und späten Mittelalter, also zur Zeit der Gotik – ein breites Bewusstsein von Grenzen, gepaart mit Ideen zu deren Überwindung gegeben hat. Damit ist nicht gemeint, dass damals in revolutionärem Schwang geografische oder soziale Grenzen in Frage gestellt wurden, weil das ja eine moderne Projektion wäre, sondern es ist eher daran zu denken, dass vor allem symbolische, dafür aber keineswegs weniger potente Mittel eingesetzt wurden, um an den Grenzen und über sie hinaus zu wirken. Und eben dies waren vor allem künstlerische Mittel: Das Hinübergleiten vom massiven Äußeren der Liebfrauenkirche in Oberwesel zu ihrer mit zunehmender Nähe zum Altar immer filigraner werdenden Ausstattung lässt sich als ein Indiz für kalkulierte Übergänge interpretieren. Ja man könnte in diesem Falle sogar noch weitergehen und fragen, ob die Dimensionen der Kirche nicht eigentlich durch ihr Verhältnis zu der sie umgebenden Landschaft bestimmt wurden? (Taf. 32) Zwar ist es in der Kunstgeschichte üblich, die spezifischen Formen eines mittelalterlichen Kunstwerks, speziell Bauwerks, aus der Auseinandersetzung mit anderen Bauwerken zu erklären, doch scheint es im Falle von Oberwesel vor allem wichtig gewesen zu sein, wie sich die Kirche zu der sie umgebenden Landschaft verhielt. Dieser Aspekt wird bei 10 Vgl. hierzu die einschlägigen Beiträge in diesem Band.

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14 Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 10525, Psalter Ludwig des Heiligen, ca. 1260–1270, fol. 39v, Bileam und die Eselin vor dem Engel.

15 St. Paul im Lavanttal, Benediktinerstift, Deckel eines Buchkastens aus St. Blasien, im Schwarzwald, um 1260/1270.

der kunsthistorischen Analyse von mittelalterlichen Bauten generell unterbewertet, wahrscheinlich deshalb, weil er kaum messbar und damit auch kaum objektivierbar ist. Denkt man aber daran, dass es umgekehrt Bescheidenheitsgebote in Hinblick auf die Inszenierung und Positionierung von Bauwerken in der Landschaft gab, insbesondere bei den Zisterziensern, dann ist wohl davon auszugehen, dass es zur Zeit der Gotik wirklich schon ein Bewusstsein für die landschaftliche Wirkung und Einbindung von Kirchen gab. Die Liebfrauenkirche von Oberwesel ist jedenfalls ein visuell kräftiges Monument im Rahmen der sie umgebenden Landschaft, welche sie auch akustisch durch das in ihrem gewaltigen Turm untergebrachten Geläut zu dominieren vermochte, das die Gläubigen in ihr Inneres hineinziehen sollte, wo die Artefakte mit zunehmender Nähe zum Altar immer subtiler und filigraner wurden. Die Blickrichtung ließe sich auch umkehren: Vom Altar aus, auf

dem die Transsubstantiation vollzogen wird, also die Umwandlung von Brot und Wein in den heiligen Körper und das Blut Christi, transformieren sich die Objekte mit zunehmender Distanz zum Sakralzentrum, um sich phänotypisch immer mehr mit der Welt zu verbinden. Ähnliches wäre in früheren Epochen des Mittel­ alters kaum denkbar gewesen, alleine schon deshalb, weil es noch an Bewusstsein dafür gefehlt hatte, wie wichtig Medien und Vermittlungswege waren. Es wäre beispielsweise für die ottonische Kunst nur schwer vorstellbar, dass es ein formal einheitliches Gestaltungskonzept von der Bibel auf dem Altar bis zur Gesamtgestalt einer Kirche gegeben hätte. Die Gestaltung eines Altarbuchs des 10. Jahrhunderts folgt ihren gattungsspezifischen Gestaltungsregeln, während solchen Bücher aus dem 13. und 14. Jahr­hundert die produktive Aus­ein­andersetzung mit anderen Kunstgattungen deutlich anzusehen ist (Abb. 14, 15).

Warum Gotik?

16 Saint-Denis, ehem. Abteikirche, Westfassade, ca. 1135–1140.

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17 Saint-Denis, ehem. Abteikirche, Chorumgang, 1141–1144.

Und anders als bei der Liebfrauenkirche in Oberwesel führt bei einem romanischen Bau kein formal durchgehendes Konzept vom Altar zur Landschaft. Solche Komplexität ist aber als eine spezifische Qualität von Kunst aus der Epoche der Gotik anzusehen, nämlich dass es zu dieser Zeit erstmalig in der Nachantike möglich war, die künstlerische Gestaltung der Dinge vom Detail bis ins Große durchzudenken und durchzugestalten, und zwar aufgrund einer einfachen, aus handwerklichem und organisatorischem Gebrauch heraus entstandenen Praxis. Gotische Kunst ließe sich als eine Kunst der Vernetzung und Durchdringung der verschiedenen einzelnen Kunstgattungen interpretieren. Hierbei gab es zeitlich und räumlich unterschiedliche Entwicklungen, weil nicht überall alles gleichzeitig möglich war. Und es gibt auch keineswegs so etwas wie eine zwangsläufige Verbindung oder gar Vereinheitlichung der Künste, sondern diese konnte anfangs sogar unsichtbar sein und sich allein auf konzeptueller Ebene vollziehen: (Abb. 16–18) Betrachtet man beispielsweise einige der unter Abt Suger von

18 Paris, Musée du Louvre, Adlervase des Abt Suger von St. Denis, vor 1147.

Saint-Denis im 12. Jahrhundert in Auftrag gegebenen Kunstwerke, so lässt sich auf den ersten Blick kaum erkennen, was z. B. seine Abteikirche und seine Adlervase miteinander zu tun haben könnten. Stilistisch gesehen sind sie tatsächlich völlig verschieden, und so käme auch niemand auf die Idee, die Adlervase als „typisch gotisch“ zu bezeichnen, was hingegen für die Architektur der Abteikirche gelten soll. Auf rhetorischen Ebene sind diese beiden Kunstwerke aber durchaus miteinander vergleichbar: Bei beiden wird nämlich bewusst ästhetisch Verschiedenartiges und aus differenten Epochen Stammendes zu einer neuen Komposition zusammengefügt: Bei der Abteikirche verbindet sich ein karolingisches Langhaus mit einer modernen Fassade und einem ebensolchen Umgangs­chor, während bei der Vase ein antikes Porphyrgefäß mit modernen Metallarbeiten kombiniert wird, um auf diese Weise ein liturgisch funktionales Gerät zu erhalten. In diesem Fall gibt es keine formale Angleichung der verschiedenartigen Elemente, daher ist vor allem die Kombinatorik als ein übergreifendes Konzept zu erkennen.

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20 Amiens, Kathedrale, rechtes Westportal mit Maria, nach 1220.

19 Reims, Kathedrale, Fenster des Chorobergadens, 2. Viertel 13. Jahrhundert.

22 Amiens, Kathedrale, linkes Westportal mit Bischof Firminus, nach 1220.

(Abb. 19) Nicht ganz einhundert Jahre später, im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts, werden in den Fenstern des Chorobergadens der erzbischöflichen Kathedrale von Reims die Suffraganbistümer als Zeichnungen von Kirchenfassaden dargestellt, wobei diese aber keineswegs naturgetreu wiedergegeben sind, sondern bloß einzelne charakteristische Elemente wie Portale, Fensterrosen oder Türme aufgreifen. Immerhin ist damit ein weiterer Schritt getan, gotische Architekturformen als Metaphern für Sakrales identifizierbar zu machen: Das vage Abbild einer zeitgenössischen Kirche kann zum Sinnbild für die Institution Kirche werden, woraus im Umkehrschluss folgt, dass die Mehrzahl der Kirchen jener Zeit nicht bloß als Gebäude verstanden werden sollten, die dem Gottesdienst einen Raum gaben, sondern dass sie auch selbst Sinnbilder der Ecclesia waren. Dieses Denken in Analogien führte auch dazu, dass das 13. Jahrhundert die Zeit der vermeintlichen

21 Amiens, Kathedrale, mittleres Westportal, sog. Beau Dieu, nach 1220.

Architekturmodelle ist, in der es überall architekturnahe Darstellungen von Objekten gibt, die die Kirche als solche repräsentieren sollen, ohne dass sie deshalb konkrete Kirchenbauten abgebildet hätten. (Abb. 20–22) Das, was heute als typisch gotische Formen identifizierbar ist, nämlich Spitzbögen mit Wimpergbekrönungen und Maßwerkfüllungen, wurde damals zu einer Metapher für die Kirche im Allgemeinen, sodass sich solche Figurationen sowohl über Darstellungen von lokalen Bischöfen finden lassen, die eine individuelle Ortskirche repräsentieren sollen, als auch über Maria, die als Inkarnation der „ecclesia universalis“ gilt. Und von hier aus ist es dann ein Leichtes, (Taf. 43) im reichen Maßwerkdekor z. B. des Langhauses der Katharinenkirche von Oppenheim eine Inszenierung zu erkennen, mit deren Hilfe dort die Idee von Kirche visualisiert werden sollte; auf ähnliche Weise wurde durch der Steigerung des dekorativen Reichtums der Oberweseler Liebfrauenkirche

Warum Gotik?

23 Mainz, Dom, 11.–13. Jahrhundert.

von außen nach innen die zum Altar hin zunehmende Sakralität inszeniert. In diesem Sinne lassen sich auch die Kapellen am Langhaus des Mainzer Doms interpretieren. (Abb. 23–25) Denn diese setzen ja die vorgegebene ältere Struktur des romanischen Mainzer Doms in ihren Dimensionen fort, wenn auch nicht in Form und Stil. Trotzdem integrieren sie sich in eine lang andauernde Baugeschichte und indizieren, dass der Dom ein Monument ist, das über die Jahrhunderte hinweg kontinuierlich und immer wieder neu an der Heilsschöpfung teilhatte. Besonders wichtig ist dabei, dass die gotische Architektur dieser Kapellen so flexibel ist, dass sie zwar einerseits Modernität visualisieren kann, andererseits aber auch hervorragend mit der vorhandenen historischen Struktur zu kommunizieren in der Lage ist: Beispielsweise, indem sie die Höhe der alten Seitenschiffe berücksichtigt oder auch die Fensterachsen und selbst die Dimensionen und den Rhythmus älterer Strebepfeiler, wie sie sich nebenan am spätromanischen Querhaus finden.11 11 Vgl. zu den Kapellen des Mainzer Doms den Beitrag von Ute Engel in diesem Band sowie: Ute Engel, „Ummanteln oder neu bauen? Die Rheinischen Kathedralen in Konkurrenz im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Capriccio & Architektur. Das Spiel mit der Baukunst, hg. von Stefan Bürger/Ludwig Kallweit, Berlin 2017, S. 91–99.

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24 Mainz, Dom, Detail der Langhaussüdseite mit angebauten Kapellen, ab 1279.

Vergessene Kommunikationsformen Es liegt nahe, dass sich die Anpassungsfähigkeit, die bei gotischer Architektur in Bezug auf die formale Anverwandlung an allgemein als sakral empfun­de­ne Bauformen festzustellen ist, in einen viel breiteren Diskurs der gesteigerten Kommunikations­fähig­keit, ja vielleicht sogar eines viel breiteren Kommunikationswillens integrierte. Phänomene, wie die durchaus differenzierte Anpassung der zu ihrer Zeit modernen Mainzer Domkapellen an die vorgegebene Baustruktur der Kathedrale, oder aber die Inszenierung von Sakralität mittels elaborierter Bauformen wie im Falle von Oberwesel oder Oppenheim, stehen insgesamt dafür, dass es zur Zeit der Gotik eine hoch entwickelte Reflexion über die Kunst und ihre Ausdrucksmöglichkeiten gegeben haben muss. Um solche Phänomene zu erfassen, sind herkömmliche Muster der Gotikrezeption, die, wie eingangs geschildert, von einem geradezu natürlichen „Überschwappen“ der Gotik von der Île-de-France bis in die entfernteren Regionen Europas ausgehen, deutlich zu unterkomplex. Sie berücksichtigen nämlich eigentlich keine künstlerischen Aspekte, sondern verbinden relativ primitive Entwicklungsmodelle – von West nach Ost, vom Zentrum zur Peripherie – mit einer zusätzlichen Fokussierung auf die

25 Mainz, Dom, Grundriss.

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Und zuletzt ist auch nicht zu verkennen, dass sich bei den Gläubigen selbst – im Zusammenspiel mit den bereits genannten, aber auch zahlreichen hier kaum auszuführenden Medien und Akteuren, wie z. B. Predigten oder Reisen – ein eigenes Bedürfnis nach der Verbildlichung von Sakralem und sakraler Räume herausgebildet haben dürfte. An einem bereits mehrfach erwähnten Beispiel aus der Mittelrheinregion lässt sich dies besonders gut zeigen: (Taf. 37–39) Die Liebfrauenkirche von Oberwesel besitzt eine der ungewöhnlichsten mittelalterlichen Bauinschriften – nicht wegen ihrer Wortwahl, sondern wegen ihres Anbringungsortes und des Mediums, in dem sie ausgeführt ist: Sie befindet sich nämlich in den Fenstern des Chorpolygons, und zwar in der Maßwerkbrücke, die diese Fenster mittig unterteilt. In den dortigen Dreipässen sind in zwei Registern übereinander die Worte zu lesen: + I[NC] HO[A]T[A FV]I·T· EC/CL[E]SI[A] S(AN)C(T)[E] MARIE · · AN(N)O [D(OMI)NI MC]CCo · · OCT· AVO · (mille trecen-

26 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Hochaltar und Maßwerkfenster des Chores, 1308–1331.

vermeintlich vorrangigen Interessen der Künstler. Das heißt beispielsweise, dass die Ideen und Formvorstellungen von Künstlern nur mit ihnen selbst wandern konnten, und vor allem, dass dieser Transfer nur den führenden Köpfen vorbehalten war. Dabei ließ sich in jüngerer Zeit aufzeigen, dass es nicht nur eine Wanderung von West nach Ost, sondern auch in die umgekehrte Richtung geben konnte und dass nicht bloß einzelne geniale Künstlerindividuen, sondern vor allen Dingen auch komplexere Gebilde wie Bauhütten an solchen Prozessen beteiligt waren. Auch waren künftige Prälaten, die damals ihre theologische Ausbildung in Paris absolvierten und später im Reich Domkanoniker oder gar Bischöfe wurden, an der Verbreitung der damals besonders in Paris bekannten Architekturvorstellungen beteiligt.12 12 Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa 1220–1340. Von Metz bis Wien, München/Berlin 2007

tesimo octavo) – „Begonnen wurde die Kirche der heiligen Maria im Jahre des Herrn 1308“.13 Zunächst wird damit bloß der Baubeginn datiert. Allerdings ist dieses Datum nicht ganz ohne Bedeutung, denn 1309, also ein Jahr nach Baubeginn, verlor Oberwesel seine Stellung als Freie Reichsstadt, da es von König Heinrich VII. an seinen Bruder, den Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg, verpfändet wurde. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die Inschrift, die ohne Wappen oder die Erwähnung von Stiftern auskommt, zum Ausdruck bringen sollte, dass die Kirche noch vor dem Ende der städtischen Unabhängigkeit begonnen wurde. Sabrina Müller, die Verfasserin des Bandes über die Oberweseler Inschriften, vermutet gar, dass sich die Inschrift speziell an Erzbischof

(Kunstwissenschaftliche Studien, 137); Dany Sandron, „Der Domchor zu Magdeburg und die französische Architektur der Gotik. Die Auswirkung der Bauherrnschaft des Erzbischofs Albrecht von Käfernburg“, in: Der Magdeburger Dom im europäischen Kontext, hg. von Wolfgang Schenkluhn/Andreas Waschbüsch, Regensburg 2012 (More romano, 2), S. 173–180. 13 Die Buchstaben sind heute teilweise modern ergänzt. Vgl.: Sabrina Müller, Die Inschriften der katholischen Pfarrkirche Unserer Lieben Frau in Oberwesel, Mainz 2008 (Inschriften Mittelrhein-Hunsrück, Heft 1, hg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz und dem Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V.), S. 8–11.

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27 Saint-Denis, ehem. Abteikirche, Kapelle in der Krypta, 1141–1144.

28 Saint-Denis, ehem. Abteikirche, Kapelle im Chor, 1141–1144.

­ alduin wandte. Denn da sie ja nicht aus der Zeit des B Baubeginns stammen kann, sondern viel mehr erst kurz vor der Fertigstellung der Kirche entstanden ist, könnte sie auf denjenigen bezogen gewesen sein, der die Kirche 1331 weihte und dabei am Hochaltar stand, von wo aus die Inschrift am besten sichtbar ist: Dies war Erzbischof Balduin! (Abb. 26) Ob man dieser sehr weitgehenden Interpretation nun folgt oder nicht: Die Inschrift beweist zunächst im Allgemeinen, dass die Fenster der Liebfrauenkirche von Oberwesel gelesen werden wollten, und darüber hinaus im Speziellen, dass hier eine reiche Maßwerksformation im ganz wörtlichen Sinne zu lesen war. (Taf. 34, 36) Sieht man die Fensterteile, in denen sich diese Inschrift befindet, im Zusammenhang mit dem Phänomen, dass in derselben Kirche vor dem Stiftschor ein fast ausschließlich aus Maßwerk bestehender Lettner steht und dahinter ein Hochaltarretabel, das wie kein anderes seiner Zeit geradezu in Maßwerk schwelgt, dann liegt es nahe anzunehmen, dass das Maßwerk in Oberwesel nicht bloß Dekor war, sondern dass es als sakral und sogar politisch bedeutsame Form fungieren sollte. Dies war aber nur möglich, wenn man über solche Formen auch sprach

und wenn die Akteure glaubten oder sich sogar sicher sein konnten, dass sie mittels solcher Formen zu kommunizieren vermochten. Die vor allem durch architektonische Elemente dominierten gotischen Formen waren also so etwas wie die Elemente einer Sprache, was durch ihre Verbindung mit einer Inschrift im Falle von Oberwesel in ungewöhnlich deutlicher Weise zum Ausdruck kommt. Diese Architektur war für die Zeitgenossen sprechend, so dass Auftraggeber und Baumeister sich mit ihrer Hilfe ausdrücken konnten. Dies trifft für den Fall der „Maßwerksprache“ von Oberwesel ebenso zu wie für die Mainzer Langhauskapellen, die der Kathedrale durch die subtile, rücksichtsvolle Kombination von älteren und neueren Elementen visuell eine Geschichte verliehen. Abermals ist der Fall Mainz in dieser Hinsicht besonders interessant, denn der Dom war zur Zeit des Kapellenanbaus schon seit rund dreihundert Jahren eine Baustelle, auf der immer wieder Altes und Neues klug miteinander kombiniert wurde. Doch erst mit dem Kapellenanbau wurde die Verbindung von Alt und Neu nicht nur bloß aus baupraktischen Gründen gesucht, sondern auch bewusst inszeniert. Es scheint,

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Bruno Klein

29 Köln, Dom, 1248–1880.

30 Straßburg, Münster, 12.–15. Jahrhundert.

als sei es erst in der Zeit der Gotik möglich geworden, sich mittels architektonischer Formen über so komplizierte Dinge wie zum Beispiel Geschichtlichkeit zu unterhalten bzw. diese architektonisch zu inszenieren. Zumal schon beim „Gründungsbau“ der Gotik, dem Chor der Abteikirche von Saint Denis, (Abb. 27, 28) in den 1140er Jahren über einer neuen, vermeintlich “romanischen“, jedenfalls in relativ altertümlichen Formen daherkommenden Krypta ein völlig anderer, aus heutiger Sicht modernerer Chor errichtet wurde: Beide gehören dabei unbedingt zusammen.14 14 Dethard von Winterfeld, „Gedanken zu Sugers Bau in St.-Denis“, in: Martin Gosebruch zu Ehren, Festschrift anlässlich seines 65. Geburtstages am 20. Juni 1984, hg. von Frank Neidhart Steigerwald, München 1984, S. 92–107; Wiederabdruck in: Meisterwerke mittelalterlicher Architektur: Beiträge und Biographie eines Bauforschers – Festgabe für Dethard von Winterfeld zum 65. Geburtstag, hg. von Ute Engel/Kai Kappel/Claudia Annette Meier, Passau 2003, S. 303–318; Bruno Klein, „Convenientia et cohaerentia antiqui et novi operis: ancien et nouveau au début de l‘architecture gothique“, in: Pierre, lumière, couleur. Melanges en honneur d’ Anne Prache, hg. von Fabienne Joubert/ Dany Sandron, Paris 1999, S. 19–32; Stephan Albrecht, Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis, München 2003 (Kunstwissenschaftliche Studien, 104).

Das Thema Alt und Neu wurde dann im 13. und 14. Jahrhundert an vielen Orten auf unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Arten inszeniert.15 Um abermals zwei rheinische Beispiele aus dieser Zeit zu nennen: (Abb. 29) In Köln entschied man sich beim Neubau des Doms zu einem radikalen Planwechsel gegenüber dem Vorgängerbau, wobei offenbar ein bis in die Details gehender Bauplan entworfen worden war, demzufolge der Dom zum damals modernsten Gebäude der Welt geworden wäre. Da sich der Dombau jedoch über Jahrhunderte hinzog, war er am Ende aber, da die ursprünglichen Pläne immer beachtet wurden, auf geradezu extreme Art konservativ. (Abb. 30) Umgekehrt entschloss man sich fast gleichzeitig in Straßburg dazu, die Kathedrale nicht in einem Zug, sondern sukzessive zu erneuern, was nicht nur die Option zur Inszenierung von Geschichtlichkeit durch bauliche Mittel erlaubte – die in Köln 15 Zuletzt und systematisch hierzu: Hauke Horn, Erinnerungen, geschrieben in Stein. Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur, Berlin/München 2017 (Kunstwissenschaftliche Studien, 192); ders, Die Tradition des Ortes. Ein formbestimmendes Moment der deutschen Sakralarchitektur des Mittelalters, Berlin 2015 (Kunstwissenschaftliche Studien, 171).

Warum Gotik?

völlig verweigert worden war – , sondern es ergab sich dabei auch die Möglichkeit, den Bau immer wieder moderner werden zu lassen, was in Köln ebenfalls nicht möglich war.16 Man kann diese beiden Beispiele unterschiedlich bewerten. Eigentlich ist es aber bloß wichtig darauf hinzuweisen, dass solche alternativen Optionen offenbar zur Zeit der Gotik überhaupt bestanden und dies bloß in einem relativ begrenzen Raum, für den man davon ausgehen muss, dass Auftraggeber wie Architekten recht gut wussten, was sich auf den jeweils anderen Baustellen ereignete. Die für sich durchaus individuellen Lösungen der Dombauten von Straßburg, Mainz und Köln sind nicht alleine auf der Basis von für den jeweiligen Ort isolierten Überlegungen entstanden, sondern unter Berücksichtigung dessen, was in den jeweils anderen wichtigen Städten damals geschah.17 Wenn das Beispiel von Oberwesel gezeigt hat, dass es damals die Möglichkeit zur Kommunikation mittels spezieller Formen, in diesem Falle von Maßwerk, gegeben hat, dann belegen Straßburg, Mainz und Köln, dass zur Zeit der Gotik noch andere, viel komplexere Möglichkeiten existierten, sich mit Hilfe von Architektur lokal und überregional positionieren. Gotische Architektur lässt sich deshalb als ein Medium verstehen, mit dessen Hilfe es in einer bestimmten historischen Situation möglich war, relativ komplizierte Sachverhalte und Positionen visuell auszudrücken. Dies war selbstverständlich in früheren wie in späteren Epochen auch möglich. Aber zur Zeit der Gotik war diese Ausdrucksmöglichkeit besonders subtil. Zum Beispiel ist die visuelle Inszenierung des Kontrastes zwischen Alt und Neu in der Zeit vor der Gotik relativ einfach und unreflektiert: Bei Bauten wie den Domen von Speyer und Worms, die eine lange und komplizierte Baugeschichte aus der Zeit der Romanik aufweisen, ist jedenfalls nicht erkennbar, dass dieses Thema dort baulich problematisiert und inszeniert worden sei. Auf der anderen Seite verschwinden in den Kirchen der Renaissance, auch

16 Bruno Klein, „Das Straßburger Münster als Objekt kommunaler Repräsentation“, in: Repräsentationen der vormodernen Stadt, hg. von Jörg Oberste, Regensburg 2008, S. 83–93. 17 Engel 2017 (wie Anm. 11).

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wenn sie so riesige Mengen von Überresten ihrer Vorgängerbauten erhalten wie zum Beispiel St. Peter in Rom, diese Spolien visuell völlig, weil sie unter dem ästhetischen Leitbegriff der Einheitlichkeit so perfekt integriert werden, dass keine Differenz zwischen den wiederverwendeten alten Teilen und den Neubauten, in denen sie sich finden, erkennbar ist.18 Bloß in der Gotik wird das Zusammenwirken von Alt und Neu oft und vor allem feinsinnig inszeniert.

Schrift und Bild – Reden und Schweigen Auf der Basis dieser Erkenntnis lässt sich zur Ausgangsfrage „Warum Gotik?“ zurückkehren, bzw. ist es möglich, eventuell Antworten bezüglich des Problems zu finden, warum die Gotik so oft als „fremd“ empfunden wurde. Nach dem bisher Dargelegten dürfte dies vor allem daran liegen, dass die komplexe Art und Weise, in der zur Zeit der Gotik mittels der Architektur kommuniziert wurde, späteren Epochen nicht mehr geläufig war. Dies vor allem seit der Renaissance, in der das erste Architekturkonzept entwickelt wurde, dessen Leitlinien von Anfang an schriftlich fixiert wurden. In diesem Zuge wurden die vorrangig visuellen architektonischen Kommunikationsmöglichkeiten der Gotik immer fremder. Gotik wurde zu etwas, was sich nicht mehr exakt beschreiben ließ und worüber nur noch in Metaphern, also Andersartigem, geredet werden konnte.19 Dabei war gotische Architektur, wie das Beispiel der Fenster von Oberwesel gezeigt hat, keineswegs schriftfeindlich. Und selbst die gedruckten, handilluminierten Gutenbergbibeln (Abb. 31) vom Ende der Epoche sind Monumente der souveränen Verbindung von Bild und Schrift. Es ist daher von einer langsamen, prozesshaften Entwicklung auszugehen, in deren Verlauf die 18 Lex Bosman, The power of tradition. Spolia in the architecture of St. Peter’s in the Vatican, Hilversum 2004. 19 Hubertus Günther, „Die ersten Schritte in die Neuzeit. Gedanken zum Beginn der Renaissance nördlich der Alpen“, in: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und in den Nachbargebieten um 1500, hg. von Norbert Nußbaum/Claudia Euskirchen/Hannah Müller, Köln 2003 ( Sigurd Greven-Kolloquium zur Renaissanceforschung, 1), S. 31–87. Stefan Bürger, Fremdsprache Spätgotik. Anleitungen zum Lesen von Architektur, Weimar 2017.

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Bruno Klein

32 Horace Walpole, The Castle of Otranto, 1765, Titelvignette.

31 Gutenberg-Bibel, 1452–1454, Anfang des Buches Genesis.

Schriftlichkeit im Zusammenhang mit der Architektur immer wichtiger wurde, bis schließlich der schriftliche Diskurs so sehr dominierte, dass er als der allein gültige galt und die differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten einer im Kern bildlichen Architektursprache und –diaktik so weit in den Hintergrund drängte, dass sie am Ende vergessen waren und unverständlich wurden. Auch die Wiederentdeckung der Gotik im 18. Jahrhundert hat daran kaum etwas geändert. Denn Gotik wurde damals keineswegs vertrauter, eher im Gegenteil, wie die Schauergeschichten der „Gothic Novels“ der Epoche zeigen: (Abb. 32) Auf der Titelvignette der Inkunabel der Gattung, Horace Walpoles „The Castle of Otranto“, sind in der ersten Auflage die Protagonisten Isabella und Theodore bei der Flucht aus der furchteinflößenden, ruinösen gotischen Burg von Otranto zu sehen, die am Ende der Geschichte bei Erdbeben und Donner einstürzen wird. Ganz offensichtlich haben Autor und Illustrator hier Schönheit und Bedrohlichkeit englischer gotischer

Klosterruinen zu ihren Zwecken aktiviert, bestehende Empfindungen gegenüber solchen Bauten zum Ausdruck gebracht und neuartige befeuert. Ab der zweiten Auflage von 1765 lautete der Untertitel des Werks dann nicht mehr einfach „a story“ sondern „a gothic story“und begründete damit die Literaturgattung der „Gothic Novels“.20 Es ist nur vordergründig paradox, dass damit ein Architekturbegriff in die Literaturterminologie eingeführt wurde, der von einem als geradezu „schriftlos“ empfundenen Stil abgeleitet wurde. Denn eigentlich war die vermeintliche Schriftlosigkeit der Gotik ja überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass sie sich begrifflich auf so vieles andere übertragen ließ, und dass „gothic“ im Englischen immer noch als Synonym für fremdartig und bizarr gelten kann.21 Die Anzahl der Beispiele 20 Zum literarischen Kontext: Terror and wonder. The Gothic imagination, hg. von Dale Townshend, London 2014. 21 Dieses Schicksal teilt die Gotik mit dem Begriff Barock. Markus Neuwirth: Barock. Kunstgeschichte eines Wortes, Innsbruck/ Wien/Bozen 2016.

Warum Gotik?

für die Produktion kryptischer Gotikvorstellungen ließe sich erheblich vermehren; erwähnt seien lediglich noch die Spekulationen um das vermeintliche gotische Bauhüttengeheimnis, mittels dessen der Gotik eine geradezu strategische Verweigerung von Verschriftlichung zugeschrieben wurde. Und so wurde die Gotik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf eine systematische Weise zu etwas Fremden, während sie zuvor, seit der auf Schriftlichkeit aufbauenden Renaissance-Kultur, zunächst bloß generisch fremd geworden war. Sie geriet auf diesem Weg am Ende zum „Fremden“ schlechthin, oder positiv ausgedrückt, zu dem, was durch die klassischen Regeln nicht erfassbar war und ihr daher die Möglichkeit eröffnete, zur Projektionsfläche von Irrationalitäten zu werden. Hier schließt sich ein Kreis und neue Forschungsperspektiven tun sich auf: Die Frage „warum Gotik?“ lässt sich nun immerhin in dem Sinne beantworten, dass Gotik, und speziell die gotische Architektur, im kulturhistorischen Diskurs exemplarisch für das Andere gestanden hat und noch immer steht, weil ihre innere Logik, ihre Art und Weise subtiler visueller Ausdruckmöglichkeiten vergessen und verkannt wurden. Daran hat auch der „Iconic Turn“ der letzten Jahrzehnte nichts grundsätzlich geändert, da er sich eher auf die Bilder denn die Bauwerke bezog. Arbeiten wie denjenigen von Hauke Horn22 zum Verhältnis von Alt und Neu in der mittelalterlichen 22 Horn (wie Anm. 15).

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Architektur, in denen eine architekturimmanente Semantik rekonstruiert wird, bilden hier die Ausnahme. Eine andere, meines Wissens bisher überhaupt noch nicht gestellte Frage müsste darauf abzielen, das Verständnis und die Erforschung der Gotik im Kontext der globalen Kunstgeschichte zu untersuchen. Denn es ist ja nicht zu übersehen, dass das vermeintliche Ende der Gotik mit der Entdeckung neuer Kontinente einherging, während die globale Ausbreitung der Neugotik seit dem 18. Jahrhundert an ihrem Beginn ein koloniales Phänomen war. Und welche Parallelen gibt es seit dem 19. Jahrhundert zwischen den Zuschreibungen an den Wesensgehalt der „fremden“ Gotik und denjenigen der „exotischen“ außereuropäischen Kulturen? Vermutlich würden bei genauerer Untersuchung zahlreiche ähnliche Denkmodelle zutage treten, eben weil die Gotik sich als das vermeintlich Andere sehr gut mit dem Exotischen in Beziehung setzen lässt. Erweitert man also die Frage „Warum Gotik?“ aus wissenschaftshistorischer und wissen­schafts­ sys­te­matischer Perspektive bloß ein wenig und fragt, „Warum lohnt sich die Beschäftigung mit der Gotik?“ oder „Warum soll man sich der Geschichte ihrer Bedeutung und Erforschung widmen?“, dann lautet eine Antwort, dass sich dadurch viel über fremd gewordene Ausdrucksmöglichkeiten und den Umgang damit lernen lassen kann. Dies ist nicht die schlechteste Antwort auf die Frage: „Warum Gotik?“.

Matthias Müller

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form Revision eines kunsthistorischen Terminus am Beispiel der mittelrheinischen Sakralarchitektur um 1200

Wer die Kirchen entlang des Rheins in den Städten des Mittelrheintals zwischen Bingen und Andernach in ihrer Außen- und Innengestaltung näher betrachtet, wird immer wieder vom Reichtum der Formen und der Gestaltungslösungen für die Außen- und Innenräume beeindruckt sein.1 Diese Gestaltung charakterisiert ein besonderes Oszillieren zwischen der Monumentalität und Schwere raumbegrenzender Elemente wie Wände, Emporen oder Pfeiler und der grazilen Leichtigkeit und Eleganz der diese Elemente strukturierenden und dekorierenden Formen wie Blendbögen, Säulchen, Dienste, Kapitelle oder Rippengewölbe. Von ihrem Grundcharakter her passen diese Merkmale – hier die schwergewichtige Monumentalität, dort die grazile Leichtigkeit – eigentlich nicht so recht zusammen, doch verhindert der geschickte und – wie im Folgenden noch näher aufzuzeigen sein wird – systematische Einsatz der Gestaltungsmittel deren konfrontatives, unharmonisches Aufeinanderprallen. Für stilgeschichtlich vorgebildete Betrachter entsteht dabei der Eindruck, als ob in der Architektur dieser Kirchenbauten eine Art Synthese aus den monumentalen, relativ wuchtigen Formen der Romanik und den grazil-leichten Formen der französischen Gotik verwirklicht werden sollte. Diese gestalterische Synthese wird in der Literatur bis heute gerne als „Übergangsstil“ apostrophiert – ein Begriff, der seine Entstehung der Kunstgeschichtsschreibung des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts verdankt und bei genauerem Hinsehen weniger das bezeichnete gestalterische Phänomen zu charakterisieren vermag, als vielmehr einem für die Deutung historischer Stile spezifischen geschichtlichen Denken Ausdruck verleiht. Ausgehend von der Begriffsprägung und ihrem historischen Kontext sowie anknüpfend an den derzeitigen Forschungsstand möchte der vorliegende 1 Für den lebendigen, fachlichen Austausch danke ich Hauke Horn (Mainz) und Sascha Köhl (Mainz).

Beitrag eine Revision des Begriffs „Übergangsstil“ vornehmen und weiterführende Ansätze einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Neubewertung der zwischen „Romanik“ und „Gotik“ oszillierenden Gestaltungslösungen entwickeln.

„Mehr zu dekorativem Spiel als zur Harmonie einer organischen Durchbildung“: der „Über­ gangsstil“ in der Deutung Wilhelm Lübkes Nicht erst Georg Dehio und Gustav von Bezold,2 wie immer wieder gerne vermerkt, sondern bereits Wilhelm Lübke (Abb. 1) ist es zu verdanken, dass sich in der Literatur zur spätromanischen deutschen Architektur um 1200 bis heute ein Begriff wiederfindet, der das auffällige Oszillieren vieler in dieser Zeit entstandener Kirchenbauten zwischen romanischen und gotischen Formen pointiert auf eine Formel zu bringen versucht. Lübke verwendete dafür in seinem 1860 erstmals publizierten „Grundriß der Kunstgeschichte“ im dritten Buch zur „Kunst des Mittelalters“3 den Begriff „Übergangsstil“, den er folgendermaßen charakterisiert: Die rastlos forttreibende Entwicklung, die wir als Merkmal mittelalterlicher Kunst bereits hervorhoben, brachte im romanischen Stil gegen den Ausgang seiner letzten Blüthezeit eine merkwürdige Bewegung hervor, die den strengen, reinen Charakter dieser Architektur allerdings trübte, mancherlei Beimischungen fremdartiger Formen aufnahm, aber gleichwohl am Grundprinzip romanischer Bauweise festhielt und sogar 2 Vgl. Georg Dehio/Gustav von Bezold, Die Kirchliche Baukunst des Abendlandes, Bd. 2, Stuttgart 1901, S. 257ff. 3 Wilhelm Lübke, Grundriß der Kunstgeschichte: Drittes Buch: Die Kunst des Mittelalters, Stuttgart 1860. Im Folgenden zitiert nach der 2. Auflage 1864.

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Matthias Müller

derselben die glänzendste, reichste, freieste Entfaltung gab, deren dieselbe fähig war. Man nennt diese Erscheinung, weil sie zeitlich zwischen den streng romanischen Styl und die Gothik gestellt ist, den Uebergangsstyl. Seine Herrschaft beschränkt sich aber auf den Zeitabschnitt von 1175—1250.4

1 Wilhelm Lübke in einer Aufnahme aus Zürich (zwischen 1859 und 1866).

Die Denkmäler des „Übergangsstils“, so resümiert Lübke, sind „manchmal aber auch mit phantastischen, bunten, willkürlichen Motiven schillernd und mehr zu dekorativem Spiel als zur Harmonie einer organischen Durchbildung sich erhebend.“5 Diese auffällige Hinwendung in der Baukunst um 1200 zu einem „schillernden“ architektonischen Ausdruck, der das tradierte strenge romanische System „mit phantastischen, bunten, willkürlichen Motiven“ aufweicht und von einem eher „dekorativen“ Gestaltungswillen als vom Willen zur „organischen Durchbildung“ bzw. Systematisierung zeugt, sieht Lübke in einem unmittelbaren kulturgeschichtlichen Zusammenhang stehen. Durch diesen wurde der „Übergangsstil“ – so Lübke – gewissermaßen zum Ausdrucksträger eines die mittelalterliche Gesellschaft fundamental verändernden kulturellen Wandels: Hervorgegangen war sie [d. i. die im Übergangsstil ausgeführte Bauweise, Anm. M. M.] aus dem gesteigerten Bedürfniss nach schöneren, reicheren, eleganteren Werken, nach Schmuck und Zierde des Daseins. Das äussere Leben war überall mehr und mehr dem strengen klösterlichen Bann entwachsen. Das Rittertum blühte, die Städte fingen an, sich in Kraft und Reichtum zu fühlen. Der Handel führte große Schätze und die Anschauung fremder Länder herbei; die Kreuzzüge machten auch die vornehmen Laien mit der glänzenden Kultur und Bauweise des Orients bekannt; man sah dort schlanke, heitre, farbenprächtige Werke, kecke, pikante Formen, kühne, malerisch wirkende Compositionen, und das alles musste auf den empfänglichen Sinn des damaligen Menschen einen tiefen Eindruck machen. Sofort sieht man nun orientalische Formen in die 4 Lübke 1864 (wie Anm. 3), S. 295. 5 Ebd., S. 300.

Architektur des Abendlandes eindringen, unter ihnen am meisten den Spitzbogen, die Kleeblattbögen […].6 In der dritten, 1865 erschienenen Auflage seiner „Geschichte der Architektur“7 wird Lübke diese kulturgeschichtliche Deutung des „Übergangsstils“ entscheidend zuspitzen und als Ausdruck des schwankenden, im Umbruch befindlichen Lebensgefühls der deutschen Stände um 1200 interpretieren. Unter diesen, so Lübke, erfuhr vor allem das städtische Bürgertum gegenüber dem geistlichen Stand eine politisch-kulturelle Stärkung mit größeren Freiheitsrechten und Entfaltungsmöglichkeiten. Für Lübke ist der „Übergangsstil“ damit in letzter Konsequenz der Stil des sich mehr und mehr von der Geistlichkeit emanzipierenden städtischen Bürgertums – eine Sichtweise, die nicht losgelöst von der bürgerlichen Freiheitsbewegung von 1848 und den Ereignissen um das Frankfurter Paulskirchenparlament bewertet werden kann und den „Übergangsstil“ in den Augen Lübkes in gewisser Weise zum ästhetischen Vorboten der Bürgerbewegungen des 19. Jahrhunderts werden ließ. Wegen dieses bemerkenswerten politischen Kontextes wird hier die betreffende Passage im vollen Wortlaut zitiert: Die alten romanischen Traditionen sind in ihren Grundlagen noch unangetastet: das Wesentliche der Raumtheilung, des Aufbaues, der Gesammtgliederung ist bewahrt. Aber durch den architektonischen Organismus zuckt ein neues, fremdartiges Leben, das zunächst an allen minder bedeutenden Punkten hervorbricht, dann immer weiter um sich greift und seine hastigen, wirksamen, unruhigen Formen immer kühner zu Tage bringt. Es sind zwei ganz verschiedene Richtungen, die sich auf gemeinsamen Gebiet begegnen. Der alte priesterliche Geist, als dessen Ausdruck wir den romanischen Styl kennen lernten, prägt dem Leben noch immer seine Gesetze auf; aber der Inhalt dieses Lebens ist

6 Ebd., S. 296. 7 Wilhelm Lübke, Geschichte der Architektur. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 3. stark vermehrte und verbesserte Auflage Leipzig 1865 (1. Auflage Leipzig 1855).

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

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ein ganz anderer geworden. Die Städte fühlen sich in ihrer Macht, und das Bürgerthum, wenn auch im Inneren keineswegs priesterfeindlich, hat doch die Formen des Daseins nach eignem Geiste umgeschaffen. Das subjective Gefühl der Laien bricht überall durch die Starrheit des allgemeinen Dogmas hervor, aber es bleibt doch wesentlich durch dasselbe gebunden, und so erhält die Bewegung einen gemischten Charakter. Dies entspricht gerade dem damaligen Zustande des deutschen Lebens, welche zu jener Zeit im Bürgerthume seine glänzendste Erscheinung sah. Nimmt man noch hinzu, dass auch die Baukunst eine freiere Stellung erlangt hatte, dass sie nicht mehr ausschliesslich in den Händen der Klostergeistlichkeit lag, sondern dass in jener Epoche weltliche Meister aller Orten hervortraten, und grosse Bauunternehmungen aus dem begeisterten Selbstgefühl der Städte entsprangen: so wird Entstehung und Wesen des Uebergangsstyles hinreichend veranschaulicht sein.8 Kaum einer wird den kulturgeschichtlichen Ableitungen des von Lübke sehr scharfsinnig beobachteten Stilphänomens heute noch unkommentiert zustimmen wollen,9 doch in einem Punkt hat sich Lübkes Charakterisierung tief in die architekturgeschichtliche Sichtweise der deutschen Kunstgeschichtsschreibung eingeprägt, so tief, dass sie bis heute – nicht zuletzt vermittelt über Georg Dehios Architekturbeschreibungen – die allgemeine Bewertung des beobachteten Stilphänomens bestimmt. Dieser Punkt betrifft den vermeintlichen Willen mehr „zu dekorativem Spiel als zur Harmonie einer organischen Durchbildung“,10 mit dem Lübke der um 1200 entstandenen romanisch-gotischen Baukunst die Fähigkeit zur klaren Systembildung und damit zur architektonischen Rationalität abspricht. Baukunst des „Übergangsstils“ ist für Lübke in erster Linie „dekorativ“ und „prächtig“ und entspricht so „dem gesteigerten Bedürfniss nach schöneren, reicheren, 8 Lübke 1865 (wie Anm. 7), S. 339–340. 9 Zur Bewertung von Lübkes Schriften zur Architekturgeschichte siehe zuletzt Petra Brouwer, „The pioneering architectural history books of Fergusson, Kugler, and Lübke“, in: The Getty Research Journal, Nr. 10, 2018, S. 105–120. 10 Lübke 1864 (wie Anm. 3), S. 300.

2 Limburg, Dom, Westfassade.

eleganteren Werken, nach Schmuck und Zierde des Daseins“. Es ist eine gewissermaßen verspielte, dem oberflächlichen Effekt gehorchende Architektur, der in letzter Konsequenz aber die Ernsthaftigkeit großer, strenger Architektursysteme fehlt, wie sie für Lübke vor allem in der Romanik und der frühen Gotik aber auch der frühen italienischen Renaissance vorhanden waren. Wir sollten daher gewappnet sein, wenn Lübke im Verlauf seiner territorien- und länderübergreifenden Darstellung des „Übergangsstils“ schließlich auch auf den „rheinischen Übergangsstil“ zu sprechen kommt und Bauten wie dem Limburger Dom (Abb. 2) bescheinigt, dass er „den rheinischen Uebergangsstyl in glanzvoller Weise vertritt“ und „der rheinische Styl hier seinen prunkvollsten Ausdruck“ gefunden habe.11 Dieses Kompliment müssen wir mit großer Vorsicht genießen! Denn gerade die den „Übergangsstil“ 11 Lübke 1864 (wie Anm. 3), S. 308.

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Matthias Müller

in den Augen Lübkes bestimmende phantasievolle Opulenz disqualifiziert diesen Stil gleichzeitig für Bauwerke von nationaler historischer Größe und Bedeutung und lässt ihn rangmäßig – um in der Terminologie des Theaters zu sprechen – eher im Fach der Komödie als der Tragödie spielen. Bauwerke, die auch stilistisch einen nationalen Rang dokumentieren, erkannte Lübke – und mit ihm auch die nachfolgenden Generationen – hingegen in den Domkirchen von Mainz, Speyer und Worms, auch wenn der Mainzer Dom (Taf. 25) mit seinem Westchor – was Lübke übersah – am Ende selbst ein Opfer des um 1200 auftretenden Hangs zur überbordenden, kleinteiligen architektonischen Prachtentfaltung werden sollte.

Mehr als nur „kühne, malerisch wirkende Compositionen“: Der „Übergangsstil“ in der modernen Kunstgeschichtsschreibung Auch wenn Kriterien wie nationale Größe oder heldenhafte Monumentalität in einer historisch-kritischen Kunstgeschichtsschreibung keine Maßstäbe mehr sein sollten, so hat sich die ambivalente Haltung der Kunstgeschichte gegenüber den ästhetischen Phänomenen des „Übergangsstils“ bis heute in wesentlichen Teilen gehalten. Selbst ein so nüchterner Architekturhistoriker wie Dethard von Winterfeld, dessen Blick sich fast ausschließlich von bauarchäologischen Fakten sowie der kühl-rationalen Beobachtung architektonischer Systeme leiten lässt und der auch für ein systematisches Verständnis heterogener Stilformen wichtige Erkenntnisse beigesteuert hat, ließ sich beispielsweise bei der Bewertung des Innenraums der Matthiaskapelle von Kobern dazu hinreißen, von den „wild bewegten Gestaltungsmöglichkeiten der niederrheinischen Spätromanik“ zu sprechen, die bei diesem Kirchenbau „in vollem Umfang“ ausgeschöpft worden seien.12 So muss konstatiert werden, dass nicht nur der von Wilhelm Lübke vor mehr als 150 Jahren in die Kunstgeschichtsschreibung eingeführte Begriff des „Übergangsstils“ weiterhin Verwendung findet, sondern auch das gestalterische Phänomen selbst nur in wenigen Ausnahmen eine 12 Dethard von Winterfeld, Romanik am Rhein, Stuttgart 2001, S. 97.

3 Bonn, Münster, Blick durch das Langhaus nach Osten.

genauere Beschreibung erfährt. Eine solche genaue Beschreibung lässt sich nicht so sehr von der Opulenz der Formen und der Prachtentfaltung beeindrucken: Vielmehr setzt sie sich zum Ziel, nach einer exakten Analyse der Formen zu einer nüchternen Würdigung der gestalterischen Leistung und ihrer konzeptionellen, ja vielleicht sogar programmatischen Intentionen zu gelangen. Zu den wenigen Ausnahmen, die sich dem Phänomen des „rheinischen Übergangsstils“ in dieser Weise genähert haben, gehört der mittlerweile bereits über 30 Jahre zurückliegende Versuch Norbert Nußbaums, die „Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik“ (so der Buchtitel) in ihrer Entstehungs- und Formgeschichte zu würdigen. Dabei setzt sich Nußbaum auch mit dem Begriff des „Übergangsstils“ auseinander, den er jedoch nur bis Georg Dehio und Gustav von Bezold zurückführt. Nußbaum hält den Begriff zur Beschreibung der rheinischen Kirchenarchitektur um 1200 – z. B. anhand des Bonner ­Münsters (Abb. 3) – für vollkommen untauglich:

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

„… denn hier geht kein Stil in den anderen über, keine Form wirkt, als sei sie im Begriff, aus dem eben noch Romanischen ins schon Gotische überzuwechseln. Es ist eine dialektisch angelegte, auf Kompromissen aufbauende Synthese zweier Stile…“.13 Zwanzig Jahre nach Nußbaum wandte sich Michael Overdick dem Desiderat einer nüchternen systematischen Analyse der rheinischen „Spätromanik“ zu und unternahm in seiner Dissertationsschrift14 den ersten konsequent durchgeführten Versuch einer Darlegung der „gestalterischen Gesetzmäßigkeiten“ der „spätromanischen Baukunst des Rheinlandes“; Ziel war der Nachweis einer rational durchreflektierten, systematisierten Anwendung der „spätromanischen“ Architekturelemente „im Sinne eines Architektursystems“.15 Weitere vier Jahre später, 2009, legte Willibald Sauerländer seine phänomenologische Analyse des „Übergangsstils“ vor, dessen Begrifflichkeit und Definition er – auch mit Blick auf die frühe Gotik in Frankreich – kritisch hinterfragte.16 Was bei der von Nußbaum aber auch der von Overdick und Sauerländer eingenommenen Betrachtungsweise noch fehlt, ist der Versuch, diese merkwürdige Synthese zweier Stile in einen kulturgeschichtlichen Kontext zu stellen und die in dem Phänomen sichtbar werdende gestalterische Auseinandersetzung mit zwei historischen Zeitebenen auch mit der konkreten politisch-religiösen Geschichte der hinter den Kirchenbauten stehenden Institutionen in Verbindung zu bringen. Dies leistet in ersten Ansätzen die unveröffentlichte Heidelberger Magisterarbeit von Sascha Köhl zur Prioratskirche von Offenbach am Glan (südöstlich von Bad Kreuznach gelegen), deren zentrale Ergebnisse sich in einem 2015 erschienenen Handbuchartikel für das Pfälzische Klosterlexikon nachlesen lassen.17

13 Norbert Nußbaum, Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Entwicklung und Bauformen, Köln 1985, S. 32. 14 Michael Overdick, Das Architektursystem der rheinischen Spätromanik, Worms 2005. 15 Overdick 2005 (wie Anm. 14), S. 15. 16 Willibald Sauerländer, „Entre le roman et le gothique. Style de transition ‚Alternativgotik‘ et ‚style‘ 1200“, in: Perspective – la revue de l’INHA, 4/2008, 2009, S. 756–761. 17 Siehe Art. „Offenbach am Glan, St. Maria“, in: Pfälzisches Klosterlexikon. Handbuch der pfälzischen Klöster, Stifte und Kommenden, Bd. 3, hrsg. von Jürgen Keddigkeit u. a., Kaiserslautern 2015 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, 26.3), S. 375–392.

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4 Offenbach am Glan, ehem. Prioratskirche von Südosten.

Der rheinische „Übergangsstil“ als Ergebnis eines systematischen Entwurfsdenkens: die ehem. Prioratskirche in Offenbach am Glan In seiner detaillierten bau- und formgeschichtlichen Analyse der Offenbacher Prioratskirche (Abb. 4), die in der allgemeinen Architekturgeschichte wenig Beachtung fand, jedoch alleine wegen ihrer Qualität von einiger Bedeutung ist, vermag Köhl – in Fortführung der grundlegenden Überlegungen Michael Overdicks18 – den „rheinischen Übergangsstil“ als Ergebnis eines systematischen Entwurfsdenkens herauszuarbeiten, bei dem die stilistisch disparaten Formen auf sehr logische Weise jeweils nur für bestimmte Bereiche der Architektur verwendet werden. Köhl gelingt der Nachweis dieser Systematik vor allem anhand der in Offenbach am Glan verwendeten Kapitellformen. Diese folgen in der östlichen, zwischen ca. 1210 und 1225 errichteten Dreiapsidenanlage 18 Overdick 2005 (wie Anm. 14).

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Matthias Müller

5 Offenbach am Glan, ehem. Prioratskirche, Blick nach Osten auf die Dreiapsidenanlage.

6 Offenbach am Glan, ehem. Prioratskirche, Blick in die Dreiapsidenanlage von Norden.

7 Offenbach am Glan, ehem. Prioratskirche: Kapitell in der Südapsis.

(Abb. 5, 6) verschiedenen Typen-Vorbildern, die sich auch stilistisch unterscheiden. Doch wie Köhl aufzeigen konnte, lassen sich diese Differenzen nicht für eine baugeschichtliche Datierung nutzen, da alle diese stilistisch verschiedenartig gestalteten Kapitelle aus ein und derselben Bauphase stammen, worauf auch hybride, ‚romanisierende‘ und ‚gotisierende‘ Elemente verbindende Kapitelle (Abb. 7) hindeuten. Die bautechnisch gleichzeitige Verwendung von stilistisch differierenden Kapitellformen führt in Offenbach am Glan nun aber nicht zu einer bunten Ansammlung disparater Formen, sondern vielmehr zu einer sehr überlegten, systematischen Anbringung, die einen reflektierten Umgang mit unterschiedlichen Stilformen (mit dem Ziel einer Systematisierung der Architektur) nahelegt. Denn wie Köhl verdeutlicht, werden die – hier hilfsweise so bezeichneten – ‚romanisierenden‘ Kapitelle nur an solchen Stellen in der Dreiapsidenanlage verwendet, die zugleich Raumtrennungen bzw. Raumübergänge markieren, beispielsweise den Übergang vom Querhaus in die seitlichen Apsiden (Abb. 8). Hier dienen die ‚romanisierenden‘, mit reichem skulpturalem, bildhaftem Schmuck versehenen Kapitelle den Apsisbögen als Auflager. Von der gestalterischen Wirkung her ist diese Verwendung durchaus logisch, stehen diese kompakt-geschlossenen Kapitelle doch eher für

8 Offenbach am Glan, ehem. Prioratskirche, Blick in die Südapsis.

sich und müssen – anders als Gewölbedienste – keine linear nach oben fortführende Struktur vorbereiten.19 Wo eine solche Struktur in Offenbach am Glan vorhanden ist, werden daher auch ausschließlich Kapitelle des zweiten, ‚gotischen‘ Typus eingesetzt: schlanke Kelchblattkapitelle, die durch ihre über den Kapitellkörper hinausweisenden Blätter eine Verbindung mit den weiter nach oben führenden Gewölberippen eingehen.

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form: der Chor des Magdeburger Doms Diese Hinweise sollen genügen, um den von Köhl herausgearbeiteten systematischen Umgang mit unterschiedlichen Stilformen, die doch alle zur gleichen Zeit in einem einzigen Bauwerk Verwendung fanden, aufzuzeigen und zu verdeutlichen, wie wenig wir über die Logik des dahinter stehenden Systems erfahren, wenn wir sie durch die von Wilhelm Lübke aufgesetzte Brille eines malerisch-phantasievollen „Übergangsstils“ betrachten. Dies gilt im Übrigen auch für alle anderen, über das Rheinland weit 19 Von daher findet dieser Kapitelltypus auch an den Säulchen, die die Fenstergewände der Apsiden schmücken, Verwendung.

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

hinausreichenden Beispiele des „Übergangsstils“, wo wir ein vergleichbares systematisches Denken im Umgang mit stilistisch und stilgeschichtlich heterogenen Formen vorfinden. Auf solche anderen, in der Forschung oftmals kontrovers diskutierten und interpretierten Beispiele hat zuletzt Hauke Horn in seiner wichtigen kunsthistorischen Dissertation über die „Tradition des Ortes als formbestimmendes Moment in der Sakralarchitektur des Mittelalters“20 sowie in seiner darauf aufbauenden ingenieurwissenschaftlich-baugeschichtlichen Dissertation21 hingewiesen und sie einer genauen Analyse unterzogen. Als herausragendes Beispiel sei hier nur der Magdeburger Domchor (Abb. 9) genannt, dessen heterogenes Erscheinungsbild im Bereich von Chorumgang und Emporengeschoss die ältere Forschung sogar zu der Annahme einer zeitlichen Zäsur und eines Planwechsels verleitete. Mittlerweile können wir davon ausgehen, dass es im Bauverlauf ab 1208 zwar kleinere planerische Änderungen gab, doch insgesamt nach einem einheitlichen Konzept gearbeitet wurde. Zu diesem gehörte offensichtlich auch die gestalterische Disparität zwischen dem romanisierenden Untergeschoss und dem gotisierenden Obergeschoss.22 In ihrem stilistischen Erscheinungsbild könnten beide Geschosse kaum gegensätzlicher sein, sehen wir einmal von der Gemeinsamkeit der Spitzbögen ab: hier ein schwer lastendes Untergeschoss, das von engen, kantig profilierten Arkaden mit gedrungen-wuchtigen Säulen und altertümlichen, teilweise mit Figurenschmuck ausgestatten Kelchblock-Kapitellen bestimmt wird, dort ein zumindest optisch filigraneres Obergeschoss, dessen Emporenöffnungen schlanke Rundstäbe und moderne Kelchknospen-Kapitelle rahmen. Und doch stammen beide stilistisch so unterschiedlichen Geschosse aus einem Planungszusammenhang und damit prinzipiell aus einer Zeit. Ihre stilistische Disparität ist auch nicht willkürlich, 20 Hauke Horn, Die Tradition des Ortes. Ein formbestimmendes Moment der deutschen Sakralarchitektur des Mittelalters, Berlin 2015 (Kunstwissenschaftliche Studien, 171). Diese Dissertation entstand unter der Betreuung des Verfassers am Institut für Kunstgeschichte der Universität Mainz. 21 Hauke Horn, Erinnerungen, geschrieben in Stein. Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur, Berlin 2017 (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 192). 22 Horn 2015 (wie Anm. 20), S. 125–128.

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9 Magdeburg, Dom, Blick in den Chor nach Osten.

sondern folgt – wie Horn darlegen konnte23 – ähnlich wie in Offenbach am Glan einem bestimmten systematischen Denken, das konsequent zwischen zwei Raumcharakteren unterscheidet: einem mauerhaft-kompakten, dunklen, kreuzgratgewölbten und damit kryptenartigen Untergeschoss und einem durch schlanke Rundstäbe und Kreuzrippengewölbe mit einer skelettartigen Gliederstruktur ausgestatteten, durchlichteten Emporengeschoss. Der Logik der unterschiedlichen Raumcharaktere entsprechend, werden für das aus kompakt-massiven Wandpfeilern und Kreuzgratgewölben zusammengesetzte, kryptenartige Untergeschoss romanisierende Wandvorlagen und Kapitelltypen verwendet, während bei der filigraneren, skelettartigen Pfeiler- und Gewölbestruktur des Obergeschosses gotische Profile und Kapitelltypen zum Einsatz kommen. Wie Horn im Weiteren unter Rückbezug auf erste tastende Ansätze eines kleinen Teils der älteren Forschung glaubhaft machen konnte, geht diese Zuordnung bestimmter 23 Horn 2015 (wie Anm. 20), S. 117–126.

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historischer Stilformen zu gewissen Raumbereichen im Magdeburger Domchor allerdings weit über eine architektonische Systematisierung hinaus und hat am Ende die Aufgabe, mit den stilistischen Differenzierungen auf die mit dem Domchor verbundene politische wie kultische Geschichte und ihre topographische Verortung zu verweisen.24 Erst diese inhaltliche, semantische Erklärung für die gleichzeitige Präsenz von ungleichzeitigen Stilformen eröffnet uns auch neue Perspektiven für ein genaueres, kulturhistorisches Verständnis des beobachteten Stilphänomens.

Die Evokation von zeitlich verschiedenen Raum- und Bauschichten: dialektische Gestaltungsprinzipien in der Kirchenarchitektur am Mittelrhein Beide Aspekte, die Systematisierung wie die Historisierung von Architektur mittels stilistisch und stilgeschichtlich disparaten Formen, lenken den Blick schließlich wieder auf die Pfarr- und Stiftskirchen der kleinen Städte des Mittelrheintals. Denn alle aus der Zeit des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts erhaltenen Kirchen können als herausragende Vertreter des von Lübke, Dehio und von Bezold postulierten „rheinischen Übergangsstils“ gelten. Verbindendes Grundmerkmal dieser zwischen Bingen und Andernach gelegenen Kirchen ist die Kombination eines romanisch wirkenden, von wuchtigen Arkadengeschossen bestimmten Raumkörpers mit einem verhältnismäßig filigranen, aus schlanken Diensten und Kreuzrippengewölben bestehenden Gliedergerüst, das in den massiven Raumkörper teilweise wie nachträglich eingestellt wirkt. Zu den Auffälligkeiten zahlreicher dieser Kirchen gehört darüber hinaus das Vorhandensein eines zumeist reich profilierten Emporengeschosses über den wuchtigen Arkaden, das zu diesen einen deutlichen Gegensatz bildet. Besonders anschaulich lässt sich diese Verbindung von zwei formal eigentlich unverbundenen raumbildenden Elementen an der gegen 1230, vermutlich aber bereits ein oder zwei Jahrzehnte früher entstandenen und patronatsrechtlich dem Kölner St. 24 Siehe hierzu das Resümee von Horn 2015 (wie Anm. 20), S. 136–143.

Andreasstift zugehörigen Peterskirche in Bacharach studieren.25 Hier setzt sich die Mittelschiffswand des kurzen, nur eineinhalb Doppeljoche tiefen Langhauses (Abb. 10) aus einem vierzonigen Wandaufriss mit rundbogigen Arkaden, Emporen, Blendtriforium und Obergadenfenstern zusammen, die allesamt in eine erkennbare massive Mauer eingeschnitten wurden und für den seit Lübke und Dehio immer wieder beschriebenen Effekt der „ausgehöhlten“ Wand sorgen. Dieser „ausgehöhlten“, wie ein römisches Aquädukt horizontal geschichteten massiven Wand, die vor allem im Bereich des schmucklosen Arkadengeschosses (Abb. 11) ins Auge fällt, wird in der Peterskirche von Bacharach nun ein filigran zergliedertes System aus vertikal nach oben führenden Dienststäben vorgeblendet, die ein gotisches Kreuzrippengewölbe tragen, das stilistisch – genauso wie die Dienste – in keiner Weise zum wuchtigen Erscheinungsbild des Arkadengeschosses passt. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, als habe man in einen ursprünglich romanischen Bau aus der Zeit um 1100 nachträglich ein gotisches Vorlagen-Gewölbesystem eingebaut. 25 Zur nach wie vor offenen exakten Datierung der bislang kunstund bauhistorisch nur unzureichend bearbeiteten Peters­kirche siehe zuletzt den Beitrag von Hauke Horn in diesem Band sowie Ders., „Baukultur am Mittelrhein. Beziehungen zwischen Fluss und Architektur im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Das Mittel­alter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte, hrsg. von Gerlinde Huber-Rebenich, Christian Rohr, ­Michael Stolz, Bd. 4: Wasser in der mittelalterlichen Kultur/Water in Medieval Culture, Berlin/Boston 2017, S. 163–178, hier: S. 168, Anm. 10. Aufgrund der dendrochronologisch früheren, nunmehr auf 1190 eingegrenzten Datierung des Baubeginns des Limburger Doms, der für Teile des Architekturkonzepts und der Kleinformen als Vorbild angesehen werden kann, plädiert Horn im Falle der Peterskirche von Bacharach für eine Datierung des Neubaus ins erste Drittel des 13. Jahrhunderts. Zur Spätdatierung siehe Hans Erich Kubach/Albert Verbeek, Roma­nische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmaler, Bd. 1, Berlin 1976, S. 69–72. Zur Neudatierung des Limburger Doms siehe Dethard von Winterfeld, „Der Dom zu Limburg. Eine architekturgeschicht­ liche Betrachtung“, in: Deutsche Königs­pfalzen, Beiträge zur ihrer historischen und archäologischen Erforschung, hrsg. von Caspar Ehlers/Helmut Flachen­ecker, Bd. 6: Geistliche Zentralorte zwischen Liturgie und Architektur, Gottes- und Herrscherlob: Limburg und Speyer, Göttingen 2005 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 11,6), S. 87–115, hier S. 88f. Zur Bacharacher Peterskirche siehe künftig auch die unter der Betreuung des Verfassers an der Universität Mainz entstehende Dissertation von Mirko Monschauer M. A., der die Peterskirche historisch wie kunsthistorisch umfassend aufarbeitet.

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

10 Bacharach, St. Peter, Mittelschiff nach Westen.

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11 Bacharach, St. Peter, südliches Arkadengeschoss des Mittelschiffs.

Dieser Eindruck wird noch zusätzlich verstärkt, indem zum einen die Position der Dienst-Schaftringe nicht auf die Kämpferzone des Arkaden- und Emporengeschosses, sondern auf die Halbsäulenvorlagen des östlichen Chorbogens abgestimmt wurde, wodurch die Schaft­ringe im Langhaus gegenüber den Kämpferhöhen der Erdgeschossarkaden und des Emporengeschosses verspringen (Abb. 12), und zum anderen im Doppeljoch die mittleren Dienste nicht bis auf den Boden geführt werden, sondern auf der Höhe des Emporengeschosses enden (vgl. Abb. 10), wodurch wiederum die Massivität des Arkadengeschosses betont wird. Das mit eingestellten Rundstäben und gotischen Kapitellen reich geschmückte Emporengeschoss erscheint schließlich wie nachträglich auf das massive Arkadengeschoss aufgesetzt, so als stamme es aus einer späteren Bauphase des Kirchengebäudes. Einen ähnlichen Eindruck von zwei stilistisch und zeitlich unabhängigen Raum- und Bauschichten gewinnen wir im um 1200 errichteten Langhaus der Severus-Kirche von Boppard (Taf. 13),26 wo das Spiel 26 In der Literatur wird seit Paul Ortwin Rave, „S. Severus zu Boppard. Die Baugeschichte einer rheinischen Pfarrkirche“, in:  Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Jg. 3/4, 1926/27, S. 22–48, hier:

12 Bacharach, St. Peter, Blick auf die nördliche Mittelschiffswand und die Wandvorlage des nordöstlichen Chorbogens.

mit einem von der romanischen Wand unabhängigen gotischen Gliedersystem aufgrund der fehlenden Schaftringe und des ausgeführten gebundenen Systems allerdings nicht ganz so expressiv betrieben wird. Dennoch ist es auch hier vorhanden und wird seit dem Einbau eines gegenüber der Ursprungsplanung veränderten Gewölbes zusätzlich durch ein fächerförmiges, sechzehnteiliges Rippengewölbe S. 39–42, von einer 1225 erfolgten Weihe des Langhauses ausgegangen, obwohl sich diese Annahme ausschließlich auf ein Testament des Ritters Simon von Schöneck stützt. Hauke Horn plädiert dagegen in seinem Beitrag in diesem Band für eine Bauzeit des Langhauses (allerdings noch ohne Mittelschiffsgewölbe) im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts und begründet dies u. a. mit seiner Datierung der Portale in die 1210er Jahre. Erst danach, so Horn, seien in einer zweiten, zusammen mit dem Neubau des Chors erfolgten Baukampagne zwischen ca. 1210 und 1230 die Mittelschiffsgewölbe eingezogen worden. Zum dringend revisionsbedürftigen Stand der Baugeschichte siehe darüber hinaus nach wie vor Alkmar Freiherr von Lede­ bur, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.1: Stadt Boppard, Bd. 1, München 1988, S. 195–269. Zur spätantiken Vorgeschichte der heutigen Kirche und ihres Umfeldes siehe Hans Eiden, „Die Ergebnisse der Ausgrabungen im spätrömischen Kastell Bobobrica (=Boppard) und im Vicus Cardena (=Karden)“, in: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Aktuelle Probleme aus historischer Sicht, hrsg. von ­Joachim Werner/Eugen Ewig, Sigmaringen 1979 (Vorträge und Forschungen, 25), S. 317–346.

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13 Andernach, Liebfrauenkirche, Mittelschiff nach Osten.

14 Koblenz, Liebfrauenkirche, Langhaus nach Osten.

ergänzt (Taf. 14), dessen hochartifizielle, geradezu spätgotisch-expressiv wirkende Form den für Bacharach beschriebenen Gegensatz zwischen der Massivität der Wand und der Filigranität des davorgestellten Gliedergerüstes in kaum noch steigerungsfähiger Weise überbietet. Dieses außergewöhnliche, mit der Langhausarchitektur kontrastierende Gewölbe wurde erst zwischen ca. 1210 und 1230 in einer zweiten Bauphase zusammen mit dem ähnlich exzeptionellen, reich mit Halb- und Viertelsäulchen und spitzbogigen Blendarkaturen geschmückten Chor ausgeführt.27 Ohne ein solches Fächergewölbe, sondern mit einem schlichteren, in der ursprünglichen Planung vorgesehenen Kreuzrippengewölbe ausgestattet, wirkt der beschriebene Kontrast zweier unterschiedlicher Stillagen in einem solchermaßen strukturierten Mittelschiff wesentlich schwächer, wie das Beispiel der ab ca. 1200 entstandenen Liebfrauenkirche in Andernach (Abb. 13) zeigt.28 Doch auch hier ist der Gegensatz prinzipiell vorhanden, wofür neben den Diensten auch die gotischen Profile der 27 Siehe hierzu den Beitrag von Hauke Horn in diesem Band. Zum Chor siehe auch die Analyse von Overdick 2005 (wie Anm. 14), S. 168–177. 28 Zur Andernacher Liebfrauenkirche und ihrem architektonischen System siehe Overdick (wie Anm. 14), S. 58–74. Speziell zur Baugeschichte siehe Karen Künstler-Brandstädter, Die Baugeschichte der Liebfrauenkirche in Andernach, Bonn 1994.

Kapitelle und der Gewölbebögen verantwortlich sind. Nur in einer Kirche fehlt diese Art der Zurschaustellung zweier Stillagen und Raumsysteme: Es ist die Koblenzer Liebfrauenkirche, deren Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts erbautes Langhaus (Abb. 14) ohne ein gotisches Gliedergerüst auskommt, da zunächst lediglich eine Flachdecke vorgesehen war.29 Nur anhand der Kämpferprofile des Arkadenund Emporengeschosses und der in die Wandpfeiler des Emporengeschosses eingestellten Säulchen mit ihren gotischen Basen und Kapitellen lässt sich bei genauerem Hinsehen erkennen, dass auch dieser Kirchenbau entgegen seinem altertümlichen Raumeindruck aus der Zeit um 1200 stammt.

29 Zur Architektur und historischen Bedeutung der Koblenzer Liebfrauenkirche siehe Michael Christian Müller, Die Koblenzer Liebfrauenkirche als Spiegel kultureller Identität. Mittel­alter­licher Kirchenbau zwischen Geschichtsbewusstsein und Gestaltungsanspruch, Worms 2001 (Manuskripte für Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft, Bd. 59). Siehe auch Ders., „Köln − Koblenz – Xanten. Die Koblenzer Liebfrauenkirche und die kölnisch-niederrheinische Sakralbaukunst um 1200“, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln e. V., Bd. 15, Köln 2000, S. 151–166. Einen zusammenfassenden Überblick bietet Manfred Böckling (unter Mitarbeit von Hermann Manderscheid), Die Liebfrauenkirche in Koblenz, Köln 2004 (Rheinische Kunststätten, Heft 327).

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

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Historische Zeitschichten wie in einem Schaukasten: die Neugestaltung der Mittel­ schiffs­wände von St. Aposteln in Köln um 1200 Suchen wir auf der rein formalen Ebene nach Vorbildern für diese Art der synthetisierenden Gestaltungsweise kirchlicher Innenräume um 1200, so müssen wir nur in das nicht allzu weit entfernte Köln blicken, das ja selbst gewissermaßen eine Hochburg des „rheinischen Übergangsstils“ bildet. Aus den möglichen Vergleichsbauten greife ich einen Kirchenbau heraus, der uns zugleich auch einen Hinweis auf eine über das formale Gestaltungsprinzip hinausweisende historische Sinnschicht der mit disparaten Stilmitteln operierenden Raumgestaltung zu bieten vermag. Es ist die Kirche St. Aposteln, deren salischer Gründungsbau noch aus dem 11. Jahrhundert stammt, der jedoch ab 1193 nach einem Brand vor allem im Chorund Langhausbereich einer umfassenden Modernisierung unterzogen wurde.30 Zu diesen Modernisierungsmaßnahmen gehörte nicht nur die Einwölbung des bis dahin flachgedeckten Langhauses, sondern auch die Neugestaltung der kompletten Hochschiffwand (Abb. 15), deren Kern aus der Salierzeit dabei erhalten blieb. Vor diese damals schon ca. 170 Jahre alte Mittelschiffswand, die aus einer Abfolge von schlichten, pfeilergestützten Rundbogenarkaden bestand, setzte man zwischen ca. 1200 und 1220 neben gotischen Gewölbediensten in Höhe des Arkadengeschosses eine Blendmauer. Deren segmenthafter31 und deutlich oberhalb der alten Rundbogenarkaden ansetzender Bogenverlauf lässt wie bei einem ‚Schaukasten‘ in einer hinteren, zweiten Schicht immer noch das alte Mauerwerk des salischen Gründungsbaus sichtbar werden.32 Oberhalb der Arkadenbögen

30 Siehe hierzu Michael Overdick, „Das Langhaus von St. Aposteln und die rheinische Rippenwölbung“, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln e. V., Bd. 14, Köln 1999, S. S. 41–52; siehe auch Overdick 2005 (wie Anm. 14), S. 139–143. Siehe auch Horn 2017 (wie Anm. 21), S. 85–87, der allerdings die Arbeit von Overdick nicht rezipiert. 31 Zur Entstehung dieser Bogenform aus dem offensichtlichen Willen heraus, die neuen Arkadenbögen den darunter sichtbar bleibenden älteren romanischen Arkaden nicht nur in der kantigen Profillosigkeit, sondern auch im Bogenradius anzugleichen, siehe Horn 2017 (wie Anm. 21), S. 87, Anm. 376. 32 Horn 2017 (wie Anm. 21) hat für dieses Verfahren den Begriff der „strukturellen Metamorphose“ entwickelt und in den

15 Köln, St. Aposteln, Blick nach Osten auf die nördliche Mittelschiffswand.

16 Köln, St. Aposteln, Blick von Südosten auf die nördliche Mittelschiffswand (rechts das östlichste Langhausjoch).

entstand durch das vorgeblendete stauferzeitliche Mauerwerk ein gesimsartiger Vorsprung, der nicht nur mit einem Rundbogenfries ausgezeichnet wurde, sondern darüber hinaus als Basis für ein Blendtriforium aus jeweils einer Doppelblendarkade je Joch dient. Ein Blick auf das östlichste Langhausjoch (Abb. 16), das von der Raumsystematik her noch zur östlich anschließenden Dreikonchenanlage gehört, macht deutlich, dass die Hochschiffwandgestaltung des Langhauses formal auf dieses östlichste Joch rekurriert und das Blendtriforium neben seinen offenkundigen zitathaften Anleihen an dem wenige Jahre älteren Blendtriforium der Kölner Andreaskirche33 auch die Paraphrase von romanischen Wandnischen darstellen soll. Zusammen mit den einfachen Gesimsprofilen, den Würfelkapitellen und den bandartigen Gurtbögen erweckt dieses östlichste Joch bis hin zu den Kleinformen den Eindruck, als ob es noch ein Rest des um 1030 begonnenen Gründungsbaus von St. Aposteln sei. Selbst Architekturkenner müssen sehr genau hinschauen, um anhand der Feinheiten der Profile zu erkennen, dass auch dieses Joch aus übergeordneten Kontext einer im Medium der Architektur sich artikulierenden Erinnerungskultur einzuordnen versucht. 33 Auf diesen Bezug zur Andreaskirche, von der auch das Motiv des Blendtriforiums entlehnt wurde, weist auch Overdick 2005 (wie Anm. 14), S. 141, hin.

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der Umbauphase von um 1200 stammt und damit – wenn überhaupt – nur unwesentlich älter als die anschließenden Langhausjoche ist. Damit wird aber deutlich, dass ein wesentliches Ziel der gesamten in St. Aposteln vorgenommenen Rauminszenierung mit Hilfe unterschiedlicher Stilmittel nicht nur eine Systematisierung der Innenraumarchitektur und deren Angleichung an die wenige Jahre zuvor erneuerte Langhausarchitektur der nicht weit entfernt gelegenen Kölner Andreaskirche war, sondern darüber hinaus in besonderer Weise die Altehrwürdigkeit und damit die historische Zeitstellung der auch kirchenpolitisch bedeutenden Kölner Apostelkirche sprichwörtlich zur Schau gestellt werden sollte.34 Dies erreichte man in einem vielschichtigen Verfahren, bei dem sowohl salierzeitliches Mauerwerk in situ erhalten blieb als auch ein komplettes Langhausjoch (wie auch die gesamte, räumlich daran anschließende, zeitlich aber wahrscheinlich vorausgehende Dreikonchenanlage35) im salischen Stil nachgebildet wurde und schließlich durch die Überblendung der salierzeitlichen Langhausarkaden mit einer stauferzeitlichen Mauerschicht, vor die man wiederum ein gotisches Gliedergerüst für ein gotisches Rippengewölbe stellte, dem Altbau eine erkennbar neue Schicht aus der Gegenwart des frühen 13. Jahrhunderts hinzugefügt wurde. Auf ganz ähnliche Weise werden diese historischen Zeitschichten auch in einer anderen Kölner Kirche, St. Gereon, 34 Diese ikonographische, zeichenhafte Sinnebene der auffälligen Wandgestaltung bleibt bei Overdick 2005 (wie Anm. 14), S. 141, unbeachtet, um stattdessen ausschließlich die grundsätzlich vollkommen richtig analysierte Systematik der Wandgestaltung als Ursache herauszustellen. Anders dafür Horn 2017 (wie Anm. 21), S. 86–87, der den Aspekt einer bewussten Inszenierung des „altertümlichen Charakter[s]“ explizit herausstellt, ohne allerdings eine inhaltliche, historische Begründung vorzunehmen. Eine solche könnte möglicherweise neben der Altehrwürdigkeit von St. Aposteln auch in der Konkurrenzsituation zwischen den Kölner Stiften St. Aposteln und St. Andreas zu suchen sein, zumal die Stiftskirche St. Andreas erst wenige Jahre vor St. Aposteln ein erneuertes Langhaus mit einer ähnlichen Grundstruktur erhalten hatte. Zur historischen Bedeutung des Kollegiatsstifts St. Aposteln siehe Annerose Berners, St. Aposteln in Köln. Untersuchungen zur Geschichte eines mittelalterlichen Kollegiatstifts bis ins 15. Jahrhundert, 2 Bde., Dissertation Bonn 2004. 35 Entgegen der älteren Literatur datiert Overdick 2005 (wie Anm. 14), S. 34, die Dreikonchenanlage von St. Aposteln auf „gegen 1180“.

inszeniert, wo sich aus dem noch aus dem Frühchristentum stammenden Zentralbau ein neuer gotischer Gliederbau erhebt und dem Ursprungsbau eine zweite architektonische wie zeitliche Schicht hinzufügt.36

Die dialektische Gestaltung der Kirchen am Mittelrhein im Kontext mittelalterlicher Erinnerungskultur Lassen sich aus solchen Beobachtungen Rückschlüsse für ein historisch-ikonographisches Verständnis des sehr ähnlichen Gestaltungsprinzips der Kirchen des Mittelrheingebietes ziehen? Im Prinzip ja, denn alle diese Kirchen verfügen über eine bedeutende, teilweise bis ins Frühchristentum zurückreichende Geschichte und damit über erinnerungswürdige Vorgängerbauten, die aber – anders als bei St. Aposteln in Köln – in den sichtbaren Teilen nur noch partiell oder überhaupt nicht mehr erhalten blieben. Dass bei den umfangreichen Neubaumaßnahmen dieser Kirchen in den Jahren um 1200 die von der Forschung in den letzten Jahren mehr und mehr in den Blick genommene „Erinnerungskultur“ tatsächlich eine Rolle spielte,37 beweisen die als Spolien aus dem

36 Zu diesem gestalterischen Verfahren, bei dem ältere, historische Bausubstanz und Bauelemente bewusst in einen neuen, ‚modernen‘ architektonischen Kontext eingebunden werden, siehe neben den genannten Dissertationen von Hauke Horn (wie Anm. 20 und 21), grundlegend die Habilitationsschrift von Stephan Albrecht, Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und St.-Denis, München/ Berlin 2003 (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 104), sowie den Aufsatz des Verfassers: Matthias Müller, „Steine als Reliquien. Zum Verhältnis von Form und Materie in der mittelalterlichen Kirchenarchitektur“, in: Werk und Rezeption. Architektur und ihre Ausstattung. Ernst Badstübner zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Tobias Kunz/Dirk Schumann, Berlin 2011 (Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 10), S. 23–51. 37 Zur Bedeutung dieser mittelalterlichen Erinnerungskultur für die architektonische Gestaltung im Bereich der Sakral­ architektur siehe grundlegend: Martin Büchsel, Die Geburt der Gotik. Abt Sugers Konzept für die Abteikirche St.-Denis, Freiburg 1997; Albrecht 2003 (wie Anm. 36); Müller 2011 (wie Anm. 36); ­Bruno Klein, „Restaurierung oder Reparatur, Denkmalpflege oder Fehlplanung? Der Wiederaufbau des Langhauses der Kathedrale von Le Mans in der Mitte des 12. Jahrhunderts“, in: Kunst und Architektur in Mitteldeutschland. Thomas Topfstedt zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Nadja Horsch/Zita Á. Pataki/­ Thomas Pöpper, Leipzig 2012, S. 14–21; Horn 2015 (wie Anm. 20); Horn 2017 (wie Anm. 21).

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

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17 Koblenz, St. Kastor, Untergeschoss der Westfassade.

18 Andernach, Liebfrauenkirche, Choranlage von Nordosten mit dem integrierten romanischen Nordostturm.

Vorgängerbau wiederverwendeten karolingischen Kapitelle in den Blendbögen der Westfassade von St. Kastor (Abb. 17) in Koblenz sowie der komplett in den Neubau integrierte romanische Nordostturm der Andernacher Liebfrauenkirche (Abb. 18), deren um 1100 errichteter Vorgängerbau bei einem Brand 1198 schwer beschädigt wurde. Von daher liegt es nahe, auch in dem beschriebenen, für die Kirchen am Mittelrhein charakteristischen zweischichtigen Wandaufrisssystem, bei dem durch die Verbindung eines von großen Wandflächen und dienstlosen Pfeilerarkaden bestimmten romanisierenden Mittelschiffsraum mit einem gotischen Dienst-Gewölbesystems zwei Schichten unterschiedlicher Architektursysteme sichtbar gemacht werden, den Willen zur Inszenierung von Geschichte bzw. Altehrwürdigkeit und damit die Wirksamkeit einer „Erinnerungskultur“ als eine mögliche Ursache anzunehmen. Anders als in Köln, wo die Rückbindung an die Vergangenheit bei den genannten Beispielen immer auch die

Einbeziehung von in situ erhaltener alter Bausubstanz umfasst, erfolgt die Präsenz der Vergangenheit in den meisten mittelrheinischen Kirchen allerdings über eine rein bildhafte Form, die auf das Unterpfand historischer Materialität verzichtet – ein Vorgang, der rheinabwärts z. B. bei St. Suitbert in Düsseldorf-Kaiserswerth (Abb. 19) beobachtet werden kann, wo um 1200 das salische Langhaus mit seiner Flachdecke in nur leicht veränderter Form quasi rekonstruiert wurde.38 38 Entgegen der von der älteren Forschung vertretenen Ansicht (vgl. Walter Sölter, Die Kirche St. Suitbertus in Kaiserswerth. Beitrag zur Baugeschichte, Diss. Berlin 1962) entstammen das altertümlich wirkende Langhaus und der ‚modern‘ erscheinende Chor von St. Suitbert nicht verschiedenen Bauzeiten oder Planungsphasen, sondern sind Teile eines übergreifenden, zeitgleich ausgeführten Gesamtkonzepts (siehe von Winterfeld 2001, wie Anm. 12, S. 145). Dies veranlasste bereits Dethard von Winterfeld zu der Annahme, dass es sich bei dieser divergenten Gestaltung „um die Inszenierung von Räumen mit unterschiedlicher liturgischer Bedeutung“ handelt, „wobei

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19 Düsseldorf-Kaiserswerth, St. Suitbert, Langhaus nach Osten.

Diese bildhafte, Historizität evozierende Form könnte bei den mittelrheinischen Kirchenbauten – im Unterschied zu St. Suitbert in Düsseldorf-Kaiserswerth – zunächst aber auch nur auf einer allgemeinen, zeichenhaften Ebene funktioniert haben, ohne dass die Vorgängerbauten tatsächlich über einen vergleichbaren Wandaufriss verfügt haben müssen. Doch auch dieser Fall ist denkbar. So belegt die Johanniskirche in Niederlahnstein (Abb. 20), dass die für die mittelrheinischen Kirchenbauten der Zeit um 1200 typischen Emporenlanghäuser über Rechteckpfeilerarkaden bereits in den 1130/1140er Jahren am Mittelrhein vorhanden waren,39 so dass die in den beim Langhaus offenbar bewusst an der überlieferten Gestalt festgehalten wurde“ (von Winterfeld 2001, wie Anm. 12, S. 145). Zu St. Suitbert siehe auch Nicola Senger, St. Suitbert in Kaiserswerth, Köln 1999 (69. Veröffentlichung der Abt. Architektur des kunsthistorischen Instituts der Universität Köln). 39 Zur Baugeschichte der Johanniskirche siehe zusammenfassend Alexander Thon/Udo Liessem, Johanniskirche Lahnstein, Regensburg 2017 (Kleine Kunstführer, Nr. 2863; zugl. Schriftenreihe des Förderkreises Johanniskirche Lahnstein e. V., Bd. 1).

20 Niederlahnstein, Johanniskirche, Mittelschiff nach Osten.

Neubauten auffällige altertümlich wirkende, romanisierende Schicht des Wandaufrisses (mit Rundbogenarkaden auf Rechteckpfeilern) zusammen mit den Emporen in bestimmten Fällen auf ihre eigenen Vorgängerbauten verweisen könnte und damit nicht nur in allgemeiner Weise das Bild eines altehrwürdigen, traditionsreichen Kirchengebäudes evoziert. Dass diese These nicht unbegründet ist, belegt die Stiftskirche von St. Goar (Taf. 20), schräg gegenüber dem imposanten Loreley-Felsen situiert. Mit ihrem Umbau aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt sie sehr schön, wie lange ein solches architektonisches Denken und Gestalten am Mittelrhein (und natürlich darüber hinaus) Aktualität besaß.40 Ihre Geschichte reicht bis ins 6. Jahrhundert zurück, als der Hl. Goar in der Nähe der heutigen Kirche eine kleine Anlage aus cella und ecclesiola gründete. Nach

40 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Hauke Horn („Zwischen Konkurrenz und Kooperation“) in vorliegendem Band (hier vor allem seine Ausführungen zur Integration der alten Krypta beim Chorneubau des 13. Jahrhunderts).

Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

21 St. Goar, Stiftskirche St. Goar, Mittelschiff nach Südosten..

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22 St. Goar, Stiftskirche St. Goar, Grundriss mit Einzeichnung der rekonstruierten romanischen Kirche (nach Eduard Sebald 2008).

765 ließ der Prümer Abt Assuer anstelle dieser ersten Anlage eine große Wallfahrtskirche über dem Grab des Hl. Goar errichten, die erst um 1138/1140 nach einem Brand durch einen romanischen Neubau ersetzt wurde.41 Dieser Neubau war – wie zuletzt Eduard Sebald überzeugend rekonstruierte42 – eine dreischiffige Emporenbasilika im gebundenen System über zwei quadratischen Mittelschiffs- und je vier quadratischen Seitenschiffsjochen, die bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts weitgehend unverändert stehen blieb. Am 26. April 1444 erfolgte dann mit der Grundsteinlegung zu einem komplett neuen Langhaus (Abb. 21) der wohl tiefgreifendste Umbau der traditionsreichen Wallfahrtskirche. Auftraggeber war Graf Philipp d. Ä. von Katzenelnbogen. Dass 41 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.3: Stadt St. Goar, bearb. von Eduard Sebald, Bd. 1, Berlin 2012 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, Bd. 10), S. 117–133 (Zeittafel), S. 133–147 (Baugeschichte und Datierung), S. 147– 213 (Baubeschreibung). 42 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises 2012 (wie Anm. 41), S. 135–138.

dieser und die Stiftsgeistlichkeit aber selbst in der Mitte des 15. Jahrhunderts noch großen Wert auf die Sichtbarkeit der traditionsreichen Vergangenheit der Grabeskirche des Hl. Goar legten, beweist ein Blick auf den Grund- und Aufriss der Kirche. So wurde das neue Langhaus nicht nur exakt in den Fundamenten des Altbaus errichtet, dessen Längen- und Breitenmaße es damit übernahm, sondern stehen die spätgotischen Pfeiler auch genau an der Stelle ihrer romanischen Vorgänger (Abb. 22). Selbst die Empore wurde wiederholt und damit in der Grunddisposition der abgebrochene romanische Kirchenbau sehr genau rekonstruiert.43 Zu diesen historisierenden Romanizismen gehören auch die für eine spätgotische Architektur auffallend schlichten, nur durch angeschrägte, abgefaste Leibungen profilierten Arkadenpfeiler und -bögen (vgl. Abb. 21). Erst die davor gestellten schlanken Runddienste und das mit ihnen verbundene Netzrippengewölbe, das sich über das 43 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises 2012 (wie Anm. 41), S. 138.

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Matthias Müller

gesamte Mittelschiff spannt und alle Jochgrenzen aufhebt, machen deutlich, dass wir in einem weitgehenden Neubau des 15. Jahrhunderts stehen, der aber in den Seitenschiffen wiederum sehr wahrscheinlich Mauerteile des Vorgängerbaus weiternutzt.44 Wie bewusst beim Um- bzw. Neubau in der Mitte des 15. Jahrhunderts Partien des Vorgängerbaus nicht nur materiell erhalten, sondern auch architektonisch pointiert herausgestellt wurden, zeigt die Behandlung des spätromanischen Ostportals im nördlichen Chorflankenturm: Dieses Portal (Abb. 23) wurde im Zuge der Neubaukampagne von 1444ff. durch ein spätgotisches Profilband neu eingefasst und damit mit einem neuen Rahmen versehen45 – wie es auch für alte, verehrungswürdige Kult- bzw. Andachtsbilder überliefert ist!46 So kann die Stiftskirche von St. Goar nicht nur als ein anschauliches Beispiel für das Weiterwirken von „Übergangsstilen“ bis in die beginnende Frühe Neuzeit gelten, sondern darüber hinaus für die Auffassung der sog. „Vormoderne“: dass die Erneuerung einer Kirche – rechts- und heilsgeschichtlich betrachtet – in letzter Konsequenz immer nur die verschönernde Wiederherstellung des ursprünglichen Gründungsbaus sein kann, der dadurch zwar äußerlich verändert, aber in seinem ideellen Wesenskern kein anderer wurde. Besonders eindrücklich hat dieses Denken – dass die kontinuierliche, tradierte historische Identität des Gründungsbaus selbst noch in seinem äußerlich stark veränderten Gewand bestehen bleibt – Abt Suger von St.-Denis in der Mitte des 12. Jahrhunderts formuliert, als er in der recht radikalen Erneuerung seiner berühmten Abteikirche immer noch das Weiterbestehen des merowingischen Dagobertsbaus erkennen wollte.47

44 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises 2012 (wie Anm. 41), S. 138, 142. 45 Ebd., S. 142. 46 Siehe hierzu Müller 2011 (wie Anm. 36), S. 50–51. Zum Vorgang und Verfahren siehe grundsätzlich Gerhard Wolf, Salus populi Romani. Die Geschichte römischer Kultbilder im Mittel­alter, Weinheim 1990, sowie (wenn auch bezogen auf die Frühe Neuzeit) Martin Warnke, „Italienische Bildtabernakel bis zum Frühbarock“, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 19, 1968, S. 61–102. 47 Siehe hierzu Büchsel 1997 (wie Anm. 37); Albrecht 2003 (wie Anm. 36); Müller 2011 (wie Anm. 36).

23 St. Goar, Stiftskirche St. Goar, Ostportal im nördlichen ­Chorflankenturm.

Hauke Horn

Zwischen Konkurrenz und Kooperation Zur politischen und sozialen Dimension mittelalterlicher Architektur im Mittelrheintal

Einleitung Geopolitische Ausgangslage

Der Rhein und seine Nebenflüsse bilden ein natürliches Wasserwegesystem, das zahlreiche Städte verbindet, darunter die mittelalterlichen Metropolen Köln, Mainz und Trier (Taf. 1–3). In Zeiten, in denen die Geschwindigkeit von Transportmitteln noch buchstäblich in Pferdestärken bemessen wurde, kann die Bedeutung des Rheins als Hauptverkehrsader, die den Handel in Mitteleuropa zum Pulsieren brachte, gar nicht überschätzt werden. Auf dem Weg von Mainz nach Köln muss der Strom, um das rheinische Schiefergebirge zu queren, einen natürlichen Flaschenhals passieren: das Mittelrheintal. In Höhe von Koblenz fließt die Mosel in den Rhein und bindet damit auch Trier an das λ-förmige Wasserwegesystem an. Ausgerechnet der Grenzbereich zwischen den Sitzen der drei mächtigen rheinischen Erzbischöfe war also von einer speziellen Topographie aus steilen Felsen und schroffen Erhebungen geprägt, die den Fluss verengten und damit eine effektive Kontrolle des Wasserweges ermöglichten. Die hieraus resultierende, herausragende geostrategische Bedeutung des Mittelrheintals im Mittelalter macht verständlich, warum zahlreiche Akteure um Herrschaft, Kontrolle und Einfluss im Mittelrheintal konkurrierten. Neben den drei geistlichen Kurfürsten etablierten sich auch mächtige weltliche Herrscher wie die Pfalzgrafen oder die Grafen von Katzenelnbogen nachhaltig am Mittelrhein. Es liegt auf der Hand, dass vor allem Burgen als architektonisches Mittel von Herrschaftssetzung fungierten und gerade im Mittelrheintal ist das offensichtlich.1 Die folgende Untersuchung geht hingegen der Frage nach der politischen und sozialen Dimension der Sakralbauten im Mittelrheintal nach.

1 S. hierzu den Beitrag von Eduard Sebald in diesem Band.

Forschungsgeschichte

In der älteren Literatur wurden Kunst und Architektur am Mittelrhein über stilgeschichtliche Betrachtungen hinaus vornehmlich unter dem Paradigma der „Kunstlandschaft“ verhandelt.2 Diesen kunstgeschichtlichen Ansatz stellte jedoch Reiner Haussherr in den späten 1960er Jahren gerade auch am Beispiel des Mittelrheins in Frage, indem er die nationalistische und auch nationalsozialistische Vereinnahmung der Kunstlandschaft besonders in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts offenlegte und für eine Entpolitisierung der Kunstlandschaftsforschung plädierte.3 Explizit am Beispiel des Mittelrheins setzten sich Herbert Beck und Horst Bredekamp kritisch mit dem Begriff der Kunstlandschaft auseinander und benannten die über die von Hausherr thematisierten ideologischen Probleme hinausgehenden gravierenden methodischen Mängel der Theorie.4 Kernpunkt der berechtigten Kritik war die seinerzeit noch verbreitete Ansicht von einer autonomen Kunst, die sich unabhängig von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und historischen Bedingungen entwickle. Dement2 Z. B. Otto Schmitt, „Mainz, Worms und die Pfalz. Versuch einer kunstgeographischen Abgrenzung von Mittel- und Oberrhein“, in: Wandlungen christlicher Kunst im Mittelalter, hg. v. Johannes Hempel, Baden-Baden 1953, S. 359–383; Walther Zimmermann, 1952, „Kunstgeographische Grenzen am Mittelrhein“, in: Rheinische Vierteljahresblätter, Jg. 17, S. 89–111. – Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der älteren Literatur zum Thema samt Angaben bei: Herbert Beck/Horst Bredekamp, „Die mittelrheinische Kunst um 1400“, in: Kunst um 1400 am Mittelrhein. Ein Teil der Wirklichkeit, Herbert Beck (Hg.), Kat. Ausst. Liebieghaus Museum alter Plastik 1975–1976, Frankfurt a. M. 1975, S. 30–109, hier S. 30–33. 3 Reiner Haussherr, „Kunstgeographie – Aufgaben, Grenzen, Möglichkeiten“, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 34, 1970, S. 158–171; Ders., „Kunstgeographie und Kunstlandschaft“, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein, Jg. 9, 1969, Beiheft, S. 38–44; Ders., „Überlegungen zum Stand der Kunstgeographie. Zwei Neuerscheinungen“, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 30, 1965, S. 352–372. 4 Beck/Bredekamp 1975 (wie Anm. 2).

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Hauke Horn

sprechend „waren die Bemühungen davon gezeichnet, die Geschichtlichkeit und die außerkünstlerischen Prägeformen der Kunstlandschaft zu negieren.“5 Dem setzten Beck und Bredekamp am Beispiel der mittelrheinischen Plastik um 1400 einen Ansatz entgegen, der Kunst vor dem Hintergrund der „politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Verfassung“6 der Landschaft als historisch bedingt auffasste. Für die mittelalterliche Architektur des Mittel­ rheins blieb eine vergleichbare Revision bisher allerdings aus. Zwar wurde der mittelrheinische Sakralbau der Romanik von Hans Erich Kubach und Albert Verbeek im vierbändigen Korpus „Romanische Baukunst an Rhein und Maas“7 umfassend katalogisiert und damit ein wichtiges Nachschlagewerk geschaffen, doch vertraten die Autoren im Sinne der älteren Forschung die Auffassung, dass historische und nicht-künstlerische Faktoren keinen Einfluss auf die von ihnen definierte Kunstlandschaft hätten.8 Die Einträge zu den Bauwerken beschränken sich daher neben der Darstellung der Baugeschichte auf formale Beschreibungen, die sich in der Regel in der Aufzählung von Einzelformen erschöpfen. Wenngleich die umfassende Katalogisierung der Bauwerke zweifelsohne zu würdigen ist, so bleibt die historische Kontextualisierung der Bauwerke ein dringendes Desiderat, wenn sich die Architekturgeschichte nicht auf Datierungsfragen beschränken, sondern zum interdisziplinären Diskurs der historischen Kulturwissenschaften beitragen möchte. Unabhängig vom Mittelrhein wurde in den letzten Jahrzehnten wieder kontrovers und über die Fachgrenzen der Kunstgeschichte hinaus methodisch und theoretisch über Kunstlandschaftsforschung und auch eine weiter gefasste Kunstgeographie diskutiert, wobei die Ansätze von einem eher traditionellen Verständnis über neue Perspektiven bis hin zur Ablehnung reichen.9 5 Ebd., S. 32. 6 Ebd., S. 34 7 Hans Erich Kubach/AlbertVerbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Bd. 4: Architekturgeschichte und Kunstlandschaft, Berlin 1989; Dies., Romanische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, 3 Bde., Berlin 1976 (Denkmäler deutscher Kunst). 8 Kubach/Verbeek 1989 (wie Anm. 7), S. 492, 499. 9 Landschaft(en). Begriffe – Formen – Implikationen, hg. von Franz J. Felten/Harald Müller/Heidrun Ochs, Wiesbaden

Fragestellung

Gingen ältere Abhandlungen davon aus, dass Formen einerseits einer natürlichen zeitlichen Entwicklung folgen (Stilgeschichte) und andererseits regional bedingt seien (Kunstlandschaft), nimmt diese Untersuchung eine kulturwissenschaftliche Perspektive ein, aus der Architektur als Medium und Ausdruck kultureller, sozialer und politischer Prozesse und Realitäten verstanden wird. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht folglich das Bauwerk selbst in seinem historischen Kontext. Hierbei darf die Analyse nicht auf die Formen beschränkt werden, sondern sie soll die Architektur möglichst ganzheitlich fassen, indem beispielsweise auch die Bautechnik oder die funktionalen Aspekte Berücksichtigung finden. Angesichts der Bedeutung des Rheins als Hauptverkehrsader stellt sich im Besonderen die auch grundsätzlich das Verständnis mittelalterlicher Architektur berührende Frage nach den Transferprozessen, die auf die Architektur des Mittelrheintals wirkten, und den ihnen zugrunde liegenden Netzwerken: Wie und woher gelangten Personen und Materialien, vor allem aber auch neue Techniken, Formen und Ideen an die Baustellen des Engtals? Welche Rolle spielten dabei regionale oder überregionale Netzwerke von Bauleuten und Werkstätten wie auch der Auftraggeberschaften, die sich aus dem Klerus, dem Adel und/oder dem stadtbürgerlichen Patriziat zusammensetzten? War die Architektur ein Resultat von Transferprozessen zwischen den Werkstätten? Oder dienten die Architekturformen der Auftraggeberschaft als Medium, um bestimmte institutionelle, politische oder dynastische Zugehörigkeiten und damit verbundene Ansprüche zu visualisieren und zu 2012 (Geschichtliche Landeskunde, 68), darin besonders der Aufsatz von Ute Engel, „Kunstlandschaft und Kunstgeschichte. Methodische Probleme und neuere Perspektiven“, S. 87­–114; Historische Landschaft – Kunstlandschaft? Der Oberrhein im späten Mittelalter, hg. von Peter Kurmann u. Thomas Zotz, Ostfildern 2008, darin besonders der Aufsatz von Brigitte Kurmann-Schwarz, „Zur Geschichte der Begriffe ‚Kunstlandschaft‘ und ‚Oberrhein‘ in der Kunstgeschichte“, S. 65–91; Time and Place. The Geohistory of Art, hg. v. Thomas DaCosta Kaufmann und Elizabeth Pilliod, Aldershot 2005; Thomas DaCosta Kaufmann, Toward a Geography of Art, Chicago 2004. – Einen guten Überblick zum Forschungsstand bis 2009 bietet: Ute Engel, „Kunstgeographie und Kunstlandschaft im internationalen Diskurs. Ein Literaturbericht“, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, Jg. 27, 2009, S. 109–120.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

festigen? Oder übten beide Gruppen – Auftraggeber und Ausführende – in einer noch zu bestimmenden Wechselwirkung einen relevanten Einfluss auf die Entwurfsprozesse und der daraus hervorgehenden Bauprojekte aus? Inwiefern waren die Kirchen mithin auch soziale Räume, in denen die Interessen verschiedener partizipierender Gruppen ausgeglichen wurden? Im Hinblick auf diese Fragestellungen wurde der zeitliche Schwerpunkt der Studie bewusst auf das 13. und 14. Jahrhundert gelegt, weil in jener Zeit eine signifikante Veränderung in der Architektur eintritt, die stilgeschichtlich als Übergang von der Romanik zur Gotik gesehen wird. Aufgrund der sichtbaren Neuerungen in der Bautechnik, den Formen und Dispositionen, drängen sich Fragen nach den Gründen des umfassenden Wandels auf, nach Zusammenhängen zwischen den architektonischen Veränderungen und gesellschaftlichen oder politischen Ereignissen sowie nach den Transferprozessen, welche den Neuerungen zugrunde lagen. Das Mittelrheintal eignet sich aufgrund seiner herausragenden geostrategischen Bedeutung in besonderer Weise als Untersuchungsraum. Dort konkurrierten unterschiedliche Akteure um Macht und Einfluss, vor allem über die Kontrolle des als natürliche Grenze wie auch als überregionaler Verkehrsweg bedeutsamen Stroms, waren andererseits aber auch durch ein komplexes Netz aus wirtschaftlichen, politischen und religiösen Interessen wie auch wechselseitigen Abhängigkeiten miteinander verbunden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich verschiedene Ordnungsstrukturen, Hierarchieebenen und Zuständigkeiten überlagerten. Die Stadt Bacharach zum Beispiel lag zwar in der Diözese des Trierer Erzbischofs, gehörte jedoch spätestens seit dem frühen 13. Jahrhundert de facto zum pfalzgräflichen Machtbereich, wohingegen de iure der Kölner Erzbischof Grundherr blieb und als solcher noch Rechte in Bacharach innehatte. Hinzu kamen die Interessen der Bürgerschaft, die in Städten wie Boppard oder Oberwesel bis in das 14. Jahrhundert hinein in freien Reichsstädten organisiert war, und – vor allem im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand von Bedeutung – die Stifte als primär die Kirchen tragenden Institutionen. Schließlich gelangten im 13. Jahrhundert mit den Bettelorden weitere institutionelle

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und überregional organisierte Akteure von außen in das Mittelrheintal, die vor allem in Konkurrenz zu den etablierten Stiften traten. Vor dem Hintergrund dieses engen und teilweise auch undurchsichtigen Geflechts aus Konkurrenzen und Kooperationen, das zudem von einem dynamischen Wandel geprägt war, soll die Sakralarchitektur im Mittelrheintal untersucht werden, um nicht zuletzt auch ihre politische und soziale Dimension besser verstehen zu können.

Traditionen des Ortes St. Goar

Zu den ältesten Kirchengründungen im Mittelrheintal gehört die ehemalige Stiftskirche St. Goar (Taf. 20). Der fränkische Priestermissionar Goar baute im zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts unweit der Loreley eine Mission auf, aus der Stift und Stadt hervorgingen.10 Der Ort war strategisch klug gewählt, denn auf halbem Weg zwischen Koblenz und Bingen gelegen bot er sich für eine Rast an, nachdem man die gefährliche Stelle am Loreley-Felsen umschifft hatte oder bevor man dies zu tun gedachte. Nicht von ungefähr rühmt die Legende den später heiliggesprochenen Goar für seine große Gastfreundschaft gegenüber den Rheinschiffern, weshalb er noch heute als Patron nicht nur der Schiffer sondern auch der Gastwirte verehrt wird. An der Grabstätte Goars, der in seiner Gründung beigesetzt wurde, konnten die Reisenden in späterer Zeit den mittlerweile als Heiligen verehrten Priester um Beistand bei der Passage bitten oder für die unbeschadete Durchfahrt danken. 782 belehnte Karl der Große die Abtei Prüm, deren Abt Assuer bereits nach 765 in Baumaßnahmen an der Kirche involviert war, mit den Patronatsrechten an St. Goar.11

10 Ferdinand Pauly, Das Erzbistum Trier. Bd. 2: Die Stifte St. ­Severus in Boppard, St. Goar in St. Goar, Liebfrauen in Oberwesel, St. Martin in Oberwesel, Berlin 1980 (Germania Sacra, Neue Folge, 14), S. 147–266, hier 147f; 159f; 166f; Franz-Josef Heyen, „St. Goar im frühen und hohen Mittelalter“, in: Kurtrierisches Jahrbuch, 1961, S. 87–106, hier S. 87–91. 11 Eduard Sebald, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.3: Stadt St. Goar, 2 Bde., Berlin 2012 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 10), S. 10.

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Hauke Horn

2 Darstellung des hl. Goar als Kirchengründer auf der Deckplatte seines Grabmals, 14. Jahrhundert, ehemals in der Stiftskirche St. Goar, heute in der kath. Pfarrkirche St. Goar. 1 St. Goar, Krypta der Stiftskirche, spätes 11./frühes 12 Jahrhundert.

Die Identität des mittelalterlichen Goarstifts basierte also auf der gewichtigen Tradition des Ortes,12 Gründung und zugleich Grabort eines Heiligen zu sein. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die heutige Kirche keinen zeitlich und formal einheitlichen Bau darstellt, sondern sich im Rahmen einer jahrhundertelangen Metamorphose sukzessiv 12 Zur Tradition des Ortes grundsätzlich: Hauke Horn, Die Tradition des Ortes. Ein formbestimmendes Moment in der deutschen Sakralarchitektur des Mittelalters, Berlin 2015 (Kunstwissenschaftliche Studien, 171); Matthias Müller, „Steine als Reliquien. Zum Verhältnis von Form und Materie in der mittelalterlichen Kirchenarchitektur“, in: Werk und Rezeption. Architektur und ihre Ausstattung, Festschrift für Ernst Badstübner, hg. v. Tobias Kunz u. Dirk Schumann, Berlin 2011. (Studien zur Backsteinarchitektur, 10); Stephan Albrecht: Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis, München 2003. (Kunstwissenschaftliche Studien, 104)

entwickelte, ähnlich dem Trierer Dom, der Mutterkirche des Bistums, dem St. Goar angehörte.13 Die Goarskirche zählt damit zu der nicht kleinen Gruppe von Sakralbauten, deren Gebäudeteile unterschiedlichen Zeitschichten entstammen und daher formal kontrastieren. Die Krypta als ältester Teil der Kirche stammt zwar nicht aus dem frühen Mittelalter, sondern den Formen nach aus dem späten 11. oder frühen 12. Jahrhundert (Abb. 1), aber vor der Folie des Chorbaus aus dem 13. Jahrhundert und dem neuen Langhaus des 15. Jahrhunderts zeugte die Krypta von der Altehrwürdigkeit der Stiftskirche.14 Analog zu vergleichbaren Sakralbauten kann dies als Verweis auf die identitätsstiftende Tradition 13 Ebd., S. 22–75. 14 Zur Datierung der Gebäudeteile: Sebald 2012 (wie Anm. 11), S. 133–147.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

des Ortes verstanden werden. So galt beispielsweise der noch heute erhaltene spätantike Quadratbau des Trierer Doms als Palast der heiligen Kaiserin Helena und wurde in mittelalterlichen Schriftquellen als sichtbarer Beweis für die konstitutive Tradition des Ortes angeführt, der zufolge die erste Bischofskirche aus der Domus Helenae hervorgegangen sei.15 In vielen Fällen erfolgte bei mittelalterlichen Baumaßnahmen eine Integration alter Krypten in den neuen Körper der Kirche und in einigen Fällen legen die Indizien nahe, dass diese Vorgehensweise bewusst Erinnerungen an eine Tradition des Ortes speichern sollte.16 Dass es sich oftmals um Gebäudeteile handelte, die gar nicht aus der Gründungszeit stammten, war hierbei nicht von Belang, zumal den mittelalterlichen Betrachtern die genaue Datierung der alten Gebäudeteile in der Regel nicht bekannt war. Entscheidend war, dass aufgrund des formalen Kontrasts erkennbar wurde, dass es sich um alten Bestand handelte, der dann ganz allgemein auf die Vergangenheit der Institution verweisen konnte. Die alte Krypta von St. Goar stand in einem offenkundigen Bezug zur Tradition des Ortes, denn im Mittelalter befand sich dort das Grabmal des heiligen Kirchengründers (Abb. 2).17 Das erklärt wohl auch die besondere Materialität der Kryptasäulen, deren monolithische Schäfte aus verschiedenen ungewöhnlichen Natursteinen wie Granit und Lahnmarmor bestehen, die sich in Farbe und Struktur von der übrigen Bausubstanz absetzen und den Raum nobilitieren (Taf. 22). Die für die Region und Zeit ungewöhnliche Verwendung unterschiedlicher kostbarer Gesteinssorten für Säulenschäfte erinnert an frühmittelalterliche Kirchen über Märtyrergräbern in Rom, wie S. Agnese fuori le mura oder den heutigen Chor von S. Lorenzo fuori le mura, was in Zusammenhang mit dem Grab Goars wohl als bewusst inszenierte Analogie angesehen werden darf. Es wäre gut denkbar, dass es sich bei den Schäften

15 Horn 2015 (wie Anm. 12), S. 22–75. 16 Hauke Horn, Erinnerungen, geschrieben in Stein. Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur, Berlin 2017 (Kunstwissenschaftliche Studien, 192), S. 34–37. 17 Die Grabplatte befindet sich seit dem 17. Jahrhundert in der katholischen Pfarrkirche St. Goar (Sebald 2012 (wie Anm. 11), S. 470–474).

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3 St. Goar, Chor des 13. Jahrhunderts über der Krypta des späten 11./ frühen 12 Jahrhunderts.

um (provinzialrömische) Spolien handelt, wenn nicht sogar Asservatien aus dem Vorgängerbau.18 Aus dieser Perspektive scheint es plausibel, dass die (eigentlich romanische) Krypta beim Chorumbau des 13. Jahrhunderts wie auch beim Langhausneubau des 15. Jahrhunderts als steinerner Erinnerungsort an den heiligen Goar und seine Gründung in der alten Form bewahrt wurde. Insofern verwundert es nicht, dass das Kryptengeschoss am Außenbau als älterer Gebäudeteil ablesbar blieb (Abb. 3). Den kleinen Rundbogenfenstern der Krypta stehen die hohen spitzbogigen Maßwerkfenster des gotischen Chores gegenüber. Auch der Bauschmuck des Kryptageschosses offenbart gegenüber dem Chorgeschoss die ältere Zeitschicht: Während die Lisenen der Krypta

18 Im Unterschied zu Spolien, die aus einem fremden Kontext stammen, handelt es sich bei Asservatien um die Wiederverwendung älterer Werkstücke desselben Gebäudes. Zum Begriff der Asservatie s. Horn 2017 (wie Anm. 16), S. 61–77.

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Hauke Horn

4 Bingen, St. Martin, Krypta, 3. Viertel 11. Jahrhundert.

mit einem kapitellähnlichen Gesimsvorsprung, der mit einem Zinnenfries geschmückt ist, betont werden, fallen die Lisenen am Chor demgegenüber schlicht aus. Allerdings werden am Chorgeschoss die Achsen der alten Lisenen und Fenster der Krypta aufgegriffen und die vorhandene Feldeinteilung übernommen. Auf diese Weise verklammerte der gotische Baumeister die beiden Geschosse strukturell und machte sie als Einheit erkennbar, wohingegen die Bauformen die Lesbarkeit der unterschiedlichen Zeitschichten gewährleisten. Wie wichtig die Reliquien des heiligen Goar in der Stiftskirche gewesen sind, zeigte sich zur Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Grafen von Katzenelnbogen die Herrschaft über Stadt und Stift usurpierten: Kurz nachdem die Katzenelnbogener 1245 mit dem Bau der Burg Rheinfels begannen,19 ließ der Trierer Erzbischof die Reliquien in seinen Herrschaftsbereich nach Karden überführen, von wo aus sie erst 1321 nach Verhandlungen zurück nach St. Goar gelangten.20 Über den im Mittelalter nie zu unterschätzenden religiösen Wert hinaus stellten die Reliquien aufgrund der damit verbundenen Wallfahrt 19 Datierung nach Sebald 2012 (wie Anm. 11), S. 572. 20 Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 170.

5 Bingen, St. Martin, Grundriss 1934 mit Eintragung der Krypta und Grabungsbefunden.

schließlich auch einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar.21 Hier zeigt sich zum einen, wie ein Territorialherr, in diesem Fall der Graf von Katzenelnbogen, die Macht über ein Stift anstrebte, um seine Herrschaft zu festigen. Es zeigt sich zum anderen, wie ein konkurrierender Herrscher, in diesem Fall der Trierer Fürstbischof, versuchte, die Position seines Kontrahenten zu schwächen, indem er der Stiftskirche kraft seines kirchlichen Amtes den wichtigsten ideellen und ökonomischen „Schatz“ entzog, auf dem die Wirtschaft von Stift und Ort basierte. Abschließend sei vermerkt, dass die Grafen von Katzenelnbogen 1444 den Grundstein für den Bau eines neuen, prächtigen Langhauses legten (Taf. 21).22 Angesichts der Tradition des Ortes verwundert es nicht, dass Chor und Krypta dabei in ihrer alten Form erhalten blieben und somit das bestehende Bild eines gewachsenen, altehrwürdigen Baus fortgeführt wurde. 21 Ebd., S. 215f. 22 Zur Inschrift: Susanne Kern, Die Inschriften der evangelischen Stiftskirche St. Goar, hg. v. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz und dem Institut für Geschichtliche Landeskunde Mainz, Mainz 2008 (Inschriften Mittel­rheinHunsrück, 6), S. 10f.; zum Bau des Langhauses: Sebald 2012 (wie Anm. 11), S. 141f.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

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St. Martin zu Bingen

Eine ähnlich gewachsene Gestalt wie St. Goar weist im Betrachtungsraum vor allem die Martinskirche in Bingen auf (Taf. 8). Bei dem ältesten Gebäudeteil, der sich dort erhalten hat, handelt es sich ebenfalls um die Krypta, die sich mit ihren Würfelkapitellen und ihrer Gewölbetechnik nach Vorbild des Speyerer Doms in das dritte Viertel des 11. Jahrhunderts datieren lässt (Abb. 4).23 Als es nach einem Großbrand in Bingen 1403 zu einem weitgehenden Neubau der Stiftskirche kam, wurde die Krypta in ihrer alten Form integriert. Ein statischer oder konstruktiver Nutzen lässt sich dabei nicht erkennen, denn im Unterschied zu St. Goar setzt der neue Chor nicht auf den Mauern der Krypta auf, sondern umhüllt diese. Das heißt, es wurden neben den alten Kryptamauern neue Fundamente für den Chor angelegt (Abb. 5). Von außen ist die romanische Krypta anders als in St. Goar daher nicht erkennbar. Unabhängig davon bewahrte man mit der Krypta des 11. Jahrhunderts ein Zeugnis für die Altehrwürdigkeit des Stifts. Es läge nahe, hier einen Bezug zur Gründung des Binger Martinsstifts herzustellen, welche der legendären Überlieferung zufolge durch den heiligen Mainzer Erzbischof Willigis erfolgte, so dass sich das Martinsstift wie das Goarsstift auf die Gründung durch einen Heiligen berufen konnte. Leider erlaubt es der derzeitige lückenhafte Forschungsstand jedoch nicht, diesen möglichen Zusammenhang eingehender zu prüfen.

St. Severus zu Boppard Die Frühzeit des Stifts und seine Verbindung mit dem Wormser Martinsstift

Die Kirche im Mittelrheintal, bei der bisher die älteste Tradition nachgewiesen werden konnte, ist St. Severus zu Boppard (Taf. 12).24 Archäologische Grabungen haben gezeigt, dass bereits in der Spätantike 23 Zur Baugeschichte der Binger Martinskirche s. den Beitrag von Hauke Horn in diesem Buch. 24 Grundlegend: Alkmar Freiherr von Ledebur, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.1: Stadt Boppard, Bd. 1, München 1988 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 8), S. 195–269; Paul Ortwin Rave, „S. Severus zu Boppard. Die Baugeschichte einer rheinischen Pfarrkirche“, in: Wallraf-Richartz Jahrbuch, Jg. 3/4, 1926/27, S. 22–48.

6 Boppard, St. Severus, Grundriss mit Eintragung des frühchristlichen Baus (schraffiert).

ein christlicher Kirchenbau an der Mauer des römischen Kastells errichtet wurde (Abb. 6).25 Welche Rolle die lange Tradition des Ortes beim sukzessiven Umbau der Kirche in der Stauferzeit spielte, ist nach derzeitigem Forschungsstand allerdings unklar. Die frühmittelalterliche Kirche war Petrus geweiht und ist schriftlich das erste Mal 975 bezeugt.26 Obwohl 25 Zu den archäologischen Befunden: Hans Eiden, „Die Ergebnisse der Ausgrabungen im spätrömischen Kastell Bobobrica (=Boppard) und im Vicus Cardena (=Karden)“, in: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Aktuelle Probleme aus historischer Sicht, hg. von Joachim Werner/Eugen Ewig, Sigmaringen 1979 (Vorträge und Forschungen, 25), S. 317–346; Ders.: „Militärbad und frühchristliche Kirche in Boppard am Rhein“, in: Ausgrabungen in Deutschland. Teil 2: Römische Kaiserzeit im freien Germanien, Frühmittelalter I, hg. vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum zu Mainz, Mainz 1975 (RGZM Monographien, 1), S. 80–98. Eberhard Nikitsch vertritt hingegen die Auffassung, dass die Kirche erst in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts gegründet wurde, weil der archäologisch nachgewiesene Ambo erst ab dieser Zeit gebräuchlich sei. Dieser Datierungsansatz ist jedoch problematisch, da der Ambo nachträglich eingebaut worden sein könnte, wie es z. B. Winfried Weber für die Kirchen des Trierer Domkomplexes nachgewiesen hat (Eberhard J. Nikitsch, „Neue, nicht nur epigraphische Überlegungen zu den frühchristlichen Inschriften aus Boppard“, in: Neue Forschungen zu den Anfängen des Christentums im Rheinland, hg. von Sebastian Ristow, Münster 2004 (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband, Kleine Reihe, 2), S. 209–224). 26 „ecclesiam quae constructa est in honore sancti Petri in quodam castello Bohbardo nominato“ (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata, ed. von Theodor Sickel, Bd. 2, Hannover 1888, Nr. 101, S. 115).

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Hauke Horn

angenommen werden kann, dass sich schon früh eine Klerikergemeinschaft in Boppard bildete, lässt sich ein Stift erst mit einer Urkunde aus dem Jahr 1000 belegen, als Otto III. das Bopparder Stift dem Wormser Bischof schenkte.27 Nach Ferdinand Pauly gingen die Rechte am Bopparder Petersstift wahrscheinlich im frühen 11. Jahrhundert an das Wormser Martinsstift über, wo sie dauerhaft verblieben.28 Hieraus ergaben sich enge Verbindungen zwischen Boppard und Worms: So war der Propst des Martinsstift in Personalunion auch Propst des Petersstift und verfügte über Rechte der Gerichtsbarkeit in Boppard und auch über die Einsetzung von Priestern.29

Zur Datierung von St. Severus

Es ist nichts darüber bekannt, wann und wie die Reliquien des Severus in das Bopparder Petersstift gelangten.30 Spätestens 1179 mussten sie gemäß der genannten Schriftquelle vorhanden gewesen sein. Die ältesten erhaltenen Gebäudeteile von St. Seve­ rus sind die beiden Chorflankentürme, deren Baubeginn von der Forschung, allerdings ohne nähere Begründung, in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts datiert wird.31 Damit fällt das Auftauchen der Severus­re­liquien in Boppard in einen Zeitraum, für den auch der Beginn des sukzessiven Umbaus der Severus­kirche angenommen wird. Es liegt durchaus 27 Hierzu grundlegend Ferdinand Pauly, Das Erzbistum Trier, Bd. 2: Die Stifte St. Severus in Boppard, St. Goar in St. Goar, Liebfrauen in Oberwesel, St. Martin in Oberwesel, Berlin 1980 (Germania Sacra, NF 14), S. 24f. – Gute Zusammenfassung des Forschungsstands: Otto Volk, „Boppard im Mittelalter“, in: Geschichte einer Stadt am Mittelrhein, hg. v. Heinz E. Mißling, Bd. 1: Von der Frühzeit bis zum Ende der kurfürstlichen Herrschaft, Boppard 1997, S. 61–409, hier S. 116–126. 28 Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 29. – Die ältere Literatur geht von einer Schenkung des Bopparder Stifts 991 direkt an das Wormser Martinsstift aus, doch handelt es sich bei der betreffenden Urkunde um eine Fälschung (Ebd., S. 25–29). 29 Ebd., S. 29, 32; Eugen Kranzbühler, Sankt Martin in Worms, Zur Geschichte des Stifts und seiner Kirche, Darmstadt 1929 (Wormatia, 1), S. 7. 30 Forschungsstand bei Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 22f. 31 von Ledebur 1988 (wie Anm. 24), S. 209; Hans Caspary, „Die ehemalige Stiftskirche St. Severus“, in: Boppard am Rhein. Ein Heimatbuch, Boppard 1977, S. 85–90, hier S. 86; Hans Erich Kubach/Albert Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, Bd. 1: A–K, Berlin 1976, S. 125–131, hier S. 126; Rave 1927 (wie Anm. 24), S. 31.

nahe, in der Ankunft der neuen Reliquien den Anlass für eine umfassende Erneuerung der alten Stiftskirche zu sehen. Inwieweit die Erneuerung der Severuskirche allerdings mit einem Neubau der Chorflankentürme begann, ist unklar. Da Teile der Gliederung am Nordturm gemäß bauforscherischem Befund nachträglich appliziert wurden und außerdem alte römische Ziegel im Erdgeschoss mitverwendet wurden,32 könnte zumindest der Nordturm im Kern auch älter sein. Bereits Paul Rave ging 1927 von einem Umbau älterer Türme aus, den er aufgrund des Baudekors in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts datierte.33 Anscheinend haben folgende Autoren die Datierung aufgegriffen, aber nicht auf einen Umbau, sondern einen Neubau der Türme bezogen. Es folgte ein Neubau des Langhauses (Abb. 7), den Paul Rave in das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts bis zu einer angeblichen Weihe 1225 ansetzte,34 wobei das Datum 1225 von der folgenden kunsthistorischen Literatur einmütig übernommen wurde.35 Es existiert für eine Weihe 1225 allerdings kein Beweis; die Annahme der Weihe in der Literatur basiert einzig auf dem überlieferten Testament des Ritters Simon von Schöneck,36 welches die älteste bekannte Urkunde darstellt, in dem Severus als alleiniger Patron des Bopparder Stifts erscheint, wohingegen vorher stets Petrus als Hauptpatron genannt wird. Daraus wird in der Literatur kühn abgeleitet, dass 1225 ein Patroziniumswechsel von Petrus zu Severus stattgefunden haben müsse und diese obendrein nur mit einer Neuweihe des Langhauses zusammenhängen könne. Diese weitreichenden Folgerungen lassen 32 Caspary 1977 (wie Anm. 31), S. 87. 33 Rave 1927 (wie Anm. 24), S. 25, 31f. – Rave nahm eine Entstehung der Türme im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts an, ohne dies allerdings zu begründen. Die These Raves, dass es sich bei den Türmen ehemals um Westtürme handelte, wurde indes durch die Grabungen von Hans Eiden widerlegt (Eiden 1979 und 1975 (wie Anm. 25)). 34 Rave 1927 (wie Anm. 24), S. 39–42. 35 Dethard von Winterfeld, Romanik am Rhein, Stuttgart 2001, S. 92; von Ledebur 1988 (wie Anm. 24), S. 205, 211; Caspary 1977 (wie Anm. 31), S. 87f; Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 31). 36 Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Territorien, bearb. von Leopold Eltester und Adam Goerz, Bd. 3: Vom Jahre 1212 bis 1260, Aalen 1974 (Neudruck der Ausgabe Koblenz 1874), Nr. 260.

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7 Boppard, St. Severus, Ansicht von Süden.

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8 Boppard, St. Severus, Chor.

sich jedoch nicht auf die genannte Schriftquelle stützen, zumal Severus bereits 1179 urkundlich als Compatron neben Petrus erscheint.37 Die Hypothese einer Langhausweihe 1225 muss folglich als zu spekulativ zurückgewiesen werden. Plausibel ist hingegen eine Bauzeit des Langhauses im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Dafür spricht auch die weiter unten vorgenommene Datierung der Portale in die 1210er Jahre. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass im Bereich des Obergadens und der Gewölbe ein deutlicher Schnitt zu erkennen ist, wie weiter unten dargelegt wird. Das Langhaus wurde demzufolge bis 1200 zunächst nur bis zum Fußpunkt der Gewölbe errichtet und dann vermutlich mit einem temporären Abschluss versehen.

Für die Datierung des Chores (Abb. 8), dem ein neuer Bauplan zugrunde liegt, gibt es hingegen einen stichhaltigen Anhaltspunkt. Das Stadtsiegel der freien Reichsstadt Boppard, auf dem die Severuskirche im Zentrum von einer Stadtmauer umringt abgebildet wird (Abb. 9),38 zeigt eine Darstellung des Chores, die der gebauten Kirche derart genau entspricht, dass davon ausgegangen werden muss, dass der Siegel­stecher tatsächlich eine annähernd realistische Abbildung anstrebte. Der polygonale Chorschluss mit Zwerggalerie und länglichen Rundbogenfenstern ist ebenso gut zu erkennen wie gebaute Details an den oberen beiden Chorturmgeschossen. Auch die ­Dächer entsprechen dem nachgewiesenen Zustand des 13. Jahrhunderts.39 Dies impliziert wiederum, dass der Stecher die gebaute Kirche vor der

37 Mittelrheinische Regesten oder chronologische Zusammenstellung des Quellenmaterials für die Geschichte der Territorien der beiden Regierungsbezirke Koblenz und Trier, bearb. von Adam Goerz, Bd. 2: 1152–1237, Aalen 1974 (Neudruck der Ausgabe Koblenz 1874), Nr. 436.

38 Grundlegend zum Siegel: Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, Neuss 1984 (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Jahrbuch 1984/1985), S. 198–203. 39 von Ledebur 1988 (wie Anm. 24), S. 211f; Caspary 1977 (wie Anm. 31), S. 87.

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Umbau der alten Peterskirche in Boppard gaben. Zunächst kommt es, nach der Literatur im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts, zum Bau oder Umbau der beiden Chorflankentürme, wobei möglicherweise ein älterer Kern in den Nordturm integriert wurde. Es folgt im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts der Bau des Langhauses ohne Obergaden und Wölbung. Nach einem neuen Plan wird ab den 1210er Jahren der Langchor errichtet, der um 1230 fertiggestellt ist. Den Abschluss bildet schließlich die Einwölbung des Mittelschiffs anscheinend in den 1230er Jahren. Weder für das Langhaus noch für den Chor ist ein Weihedatum überliefert. 9 Siegel der Stadt Boppard, vor 1237.

Herstellung des Siegels tatsächlich gesehen hatte, so dass das Siegel als terminus ante quem für die Datierung des Gebäudeteils herangezogen werden kann. Das Siegel lässt sich erstmals auf einer Urkunde von 1236 nachweisen,40 was die Forschung dazu veranlasste, die Fertigstellung des Chores kurz vor oder sogar in 1236 anzunehmen.41 Ferdinand Pauly vermutete daran anknüpfend, dass die Chorweihe 1237 stattgefunden haben müsse, weil in jenem Jahr der im Nekrolog vermerkte Tag der Kirchweihe (13. Dezember) auf einen Sonntag gefallen sei.42 Tatsächlich gibt die Urkunde von 1236 aber lediglich einen terminus ante quem für das Siegel, dessen Entstehungszeitpunkt Toni Diederich auf die Jahre 1228 bis 1236 eingrenzte.43 Zieht man dann noch die Möglichkeit in Betracht, dass der Chor auch schon einige Jahre bestanden haben könnte, bevor das Siegel gestochen wurde, so scheint um 1230 eine treffendere Datierung für den Chor zu sein und das von Pauly vorgeschlagene Weihedatum fragwürdig. Folglich lässt sich resümieren, dass die seit 1179 in Boppard nachgewiesenen Reliquien des Severus wahrscheinlich den Anlass für einen umfassenden 40 Diederich 1984 (wie Anm. 38), S. 200. 41 Z. B. von Ledebur 1988 (wie Anm. 24), S. 209; Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 31), S. 128. 42 Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 10. 43 Diederich 1984 (wie Anm. 38), S. 200.

Die Architektursprache der Severuskirche Parallelen zur niederrheinischen Architektur der späten Stauferzeit

Bei der stauferzeitlichen Severuskirche handelt es sich um eine prächtige Emporenbasilika mit zwei Chorflankentürmen sowie reichem, fantasievollem Bauschmuck und -formen wie Fächerfenstern, Kleeblattbögen und Kugelfriesen (Abb. 10), wobei sich eine Steigerung der dekorativen Formen hinsichtlich Quantität und Komplexität sowohl vom Langhaus zum Chor als auch, bei allen Gebäudeteilen, von unten nach oben beobachten lässt. Die Türme und Seitenschiffswände werden mittels Lisenen sowie Rundbogen- und Kleeblattfriesen gegliedert. Am Langhaus sitzen schlichte Rundbogenfenster, auf Höhe der Empore von einem Wulst gerahmt, in den Türmen rundbogige Zwillings- oder Drillingsfenster. Die Obergadenwand setzt sich demgegenüber mit aufwändigeren Formen ab. Dort finden sich Nischen mit Fächerfenstern in Kombination mit Blendarkaturen, die aus kleinen Säulen, Rundbögen und Stufenbögen bestehen. Während die Seitenschiffswände von einfachen Rundbögen auf Konsolen zur Traufe hin abgeschlossen werden, tritt am Obergaden ein konturierter Dreipassbogenfries an die entsprechende Stelle. Die Westfassade wird von einem rundbogigen Stufenportal und drei darüber befindlichen großen Rundfenstern dominiert.

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Besonders aufwändig gestaltete man den Langchor mit polygonalem 3/8-Schluss (Abb. 8).44 Über einem torhohen Sockel gliedern sich die Chorwände in zwei Geschosse, denen eine Zwerggalerie mit rundbogigen Arkaden folgt. Das untere Geschoss wirkt gegenüber dem oberen schlichter: Rundfenster (am Chorhals mit Schlüsselllochlaibungen) werden von flachen Pilastern und einem leicht spitzen Bogenfries gerahmt, wohingegen das Geschoss darüber hohe, schmale Rundbogenfenster aufweist, die in eine wandhohe, filigrane Blendarkatur mit dünnen, in der Mitte gewirtelten Säulen eingepasst sind (Abb. 10). Die alternierend spitzen und runden Blendbögen sind mit Kugeln verziert. Die Säulen weisen, wie auch die Säulchen der Zwerggalerie, überwiegend Knospenkapitelle auf, die formengeschichtlich in das frühe 13. Jahrhundert weisen. Im Inneren des Mittelschiffs spiegelt sich die Dichotomie des Äußeren wieder (Taf. 13). Die Arkadenzone wird von schlichten, untersetzten Rechteckpfeilern mit Kämpferplatten und einfach gestuften Rundbögen gebildet. Die Bögen der Empore korrespondieren mit den Arkaden, doch wurden Zwillingsbögen unter die großen Bögen eingefügt, die somit zu Blendbögen werden. Kleine Säulchen und Wülste bereichern die Emporenzone. Zwischen je zwei großen Bögen steigt eine Halbsäule vor einem Pilaster bis zur Gewölbezone auf. In der Gewölbezone ist allerdings der gleiche gestalterische Schnitt wie an der Außenwand zu beobachten. Prächtige sechzehnteilige Rippengewölbe, die mit ihren filigranen „Beinen“ an Spinnen erinnern, sorgen für einen einzigartigen Raumeindruck. Der Virtuosität der Gewölbe stehen die zwischen den Rippen eingepassten Obergadenfenster nicht nach, deren fächerförmige Bögen kunstvoll mit den Kappen verschliffen wurden. Die Gewölbe weisen keinen Bezug zur tragkonstruktiven Systematik der Geschosse auf, setzen sich jedoch zwischen den Türmen hindurch bis zum Triumphbogen fort. Entsprechend dem Außenbau ist der Chor zweigeschossig gegliedert. Die Oculi des unteren und schmalen Rundbogenfensters des oberen Geschosses werden jeweils von spitzbogigen Blendarkaturen 44 Hierzu auch: Michael Overdick, Das Architektursystem der rheinischen Spätromanik, Worms 2005, S. 168–177.

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10 Boppard, St. Severus, Fenster im oberen Chorgeschoss.

gerahmt. Zahlreiche Halb- und Viertelsäulen sowie Wülste sorgen für eine vielgliederige, schlanke Erscheinung. Das achtteilige Rippengewölbe des Chorhalses, das mit den Rippen der Polygonseiten verbunden wurde, wirkt wie eine Vorstufe der virtuosen Spinnengewölbe des Mittelschiffs. Das spricht dafür, dass die Wölbung des Langhauses nach dem Bau des Chores erfolgte. In der Literatur wurde spätestens seit der eingehenden Studie von Paul Rave 1927 einhellig akzeptiert,45 dass die Architektur von St. Severus die S ­pra­ che anspruchsvoller niederrheinischer Sakral­ bauten des frühen 13. Jahrhunderts aufgreift.46 D ­ ethard von Winterfeld bezeichnete St. Severus daher als „einen letzten Höhepunkt der

45 Rave 1927 (wie Anm. 24). 46 Z. B.: Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 31), S.128: „[…] steht der Chor am Ende der großartigen Abfolge von mehrgeschossig gegliederten Chören am Niederrhein.“

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11 Boppard, St. Severus, Portal am Südturm.

12 Boppard, St. Severus, Portal am südlichen Langhaus.

niederrheinischen ­Spätromanik“47 und Alkmar Freiherr von Ledebur schrieb den Chor deshalb „einem am Niederrhein ausgebildeten Meister“48 zu. Die Beziehungen zur Architektur des Niederrheins sind unstrittig und sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden. Sie bedürfen allerdings noch der Differenzierung, denn die Vergleiche beziehen sich zumeist auf den Chor. Am Langhaus allerdings liegen, wie im Folgenden gezeigt wird, die Referenzen hingegen am Oberrhein.

bauplastischen Gestaltung der Portale mit zahlreichen Bestien und Fratzen. Das Ostportal des Südturms (Abb. 11) wirkt von den Formen am ältesten, was auch zur Bauabfolge der Gebäudeteile passt. Zwei Säulchen mit freistehenden Schäften, Kapitellen mit stilisiertem Blattdekor (eins in Block-, eins in Korbform) und attischen Basen, die in das Fußgesims eingebunden sind, tragen einen Bogen mit dickem Eckwulst. Bemerkenswert sind die Knoten in den Rundstäben an den äußeren Ecken des Gewändes wie auch eine Widderkopfkonsole. Beim Bau des Chors wurde auf das bestehende Portal Rücksicht genommen, indem der breiter angelegte Chor an dieser Stelle unter Zuhilfenahme mehrerer Entlastungsbögen zurückgesetzt wird, um die Zugänglichkeit zu gewährleisten. Dies ist nicht nur ein klarer Beweis für die spätere Anlage des Chores, sondern auch ein bemerkenswerter Akt der Rücksichtnahme auf die ältere Portalanlage.

Die Portale an St. Severus

In einem Punkt unterscheidet sich die Formensprache von St. Severus von den vergleichbaren Kirchen am Niederrhein und anderen Kirchen am Mittelrhein signifikant, nämlich in der eigentümlich üppigen

47 von Winterfeld 2001 (wie Anm. 35), S. 92. 48 von Ledebur 1988 (wie Anm. 24), S. 211.

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13 Boppard, St. Severus, Westportal.

Das West- und Südportal des Langhauses (Abb. 12, 13) ähneln sich im Aufbau und Stil der Details so frappant, dass man von einer zeitnahen Entstehung und der selben Werkstatt ausgehen muss. Beide Portale verfügen über einen quasi identischen Kapitellfries mit deutlich ausgeprägten Körpern aus Kelchen und schmalen Blöcken. Der nahtlos über die Körper verlaufende Dekor aus dichten ornamentalisierten Stengeln und Blättern wirkt üppig, aber klar systematisiert.49 Beide Portale sind mehrfach gestuft, wobei nur ein freistehender, eine Säule definierender Schaft an jeder Seite eingestellt ist. Die inneren Stufen sind jeweils von einem die ganze Fläche füllenden Blattfries überzogen, der sich im Bogen fortsetzt und mit seiner systematischen, aber dennoch lebhaften Art stilistisch den Kapitellfriesen entspricht. Schließlich wurden die Portale noch mit zahlreichen fantasievollen Figuren und Bestien, Masken und Fratzen belebt. 49 Nicht nur dieser Kapitellfries weist die beiden Langhauspor­tale als formengeschichtlich jünger gegenüber dem Turmportal aus.

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14 Boppard, St. Severus, Kapitellfries am Westportal.

Das Westportal (Abb. 13) weist gegenüber seinem südlichen Pendant nicht nur eine zusätzliche Stufe auf, sondern auch mehr figurale Bauplastik. Es ist somit klar als das bedeutendere Portal ausgezeichnet. Auffällig sind die Löwen an den Säulenbasen, die saugenden Jungtiere am Fuß des Gewändefrieses und ein weiteres Löwenpaar auf den Kämpfern.50 Darüber hinaus befinden sich Fratzen oder Blattwerk an den Enden von Kehlen am Gewände und an den Archivolten (Abb. 14). Auch die inneren Kapitelle weisen statt des Blattfrieses Monster und Fratzen auf. Am etwas weniger aufwändigen Südportal beschränkt sich die figürliche Plastik auf Fratzen an den Enden von Kehlen der Gewände und Archi­volten. 50 Das Löwenpaar an der Basis unterscheidet sich durch eine größere Naturnähe wie auch seine ruhende Haltung von dem oberen Löwenpaar, das mehr verfremdet wurde und die Tiere stärker als Bestien erscheinen lässt. Während der Ausdruck des oberen Löwenpaars den übrigen Fratzen entspricht, wäre zu untersuchen, ob das untere Löwenpaar zu einem späteren Zeitpunkt ausgetauscht wurde.

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15 Worms, Dom, Bestien am Westchor.

17 Boppard, Stiftsbereich St. Severus, Zeichnung um 1750.

16 Worms, St. Martin, Ansicht von Süden.

18 Worms, Stiftsbereich St. Martin vor 1689, Zeichnung Peter und Johannes Friedrich Hamman 1692.

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Bezüge zur Bauplastik in Worms

Vergleichsmöglichkeiten für die Portale von St. ­Severus und ihre charakteristische Bauplastik bietet nicht der Niederrhein, sondern der Wormser Dom und dessen Umfeld. Am Westchor des Wormser Doms befindet sich eine ganze Galerie mit fantastischen Bestien (Abb. 15). Löwenfiguren finden sich am und im Dom auch an anderen Teilen wie dem Ostchor oder dem ehemaligen Südportal,51 ebenso Widder. Kehlen und Kanten im Ostchor enden in Köpfen und an der Innenseite des Nordportals mischen sich Masken in einen Blattfries. Dieser offenkundige Bezug zur Wormser Bauplastik ist umso bemerkenswerter, als die Patronatsrechte an St. Severus im hohen und späten Mittelalter, wie dargelegt, bei St. Martin in Worms lagen. Es liegt auf der Hand, dass diese Bauplastik, vermutlich auch die Steinmetzen, über das Wormser Martinsstift nach Boppard vermittelt wurden. Daran knüpft die Frage an, ob St. Severus mittels der Bauplastik nicht sogar direkt auf die Mutterkirche in Worms rekurriert, ob also konkrete Bezüge zur Martinskirche erkennbar sind. Beim Vergleich zwischen St. Severus und St. Martin (Abb. 16) überwiegen allerdings auf den ersten Blick die Unterschiede. Während St. Severus mit seinem reichen, dekorativen und verspieltem Einsatz von Architekturgliedern in vielerlei Hinsicht an die niederrheinische Architektur der späten Stauferzeit anschließt, bezieht sich St. Martin mit seiner vergleichsweise schlichten Gliederung aus profilierten Lisenen und Rundbogenfriesen eindeutig auf den stilprägenden Wormser Dom des 12. Jahrhunderts.52 Auf den zweiten Blick fallen jedoch auch Parallelen zwischen den beiden Stiftskirchen auf. Zunächst wäre hier die Portaltopographie zu nennen: Beide Kirchen verfügen neben einem großen Westportal über ein prägnantes Südportal, das sich ungefähr mittig in der Seitenschiffswand befindet. Dabei ist anzumerken, dass in beiden Fällen das Südportal nicht wie heute auf einen öffentlichen Platz führte, sondern 51 Skulpturen des alten Portals wurden bei der Anlage des gotischen Portals in einen Pfeiler der Annenkapelle versetzt. 52 Ferdinand von Quast nannte St. Martin gar „eine mit Verstand ausgearbeitete verjüngte Copie des Domes [zu Worms]“ (Ferdinand von Quast, Die romanischen Dome des Mittelrheins zu Mainz, Speyer, Worms, Berlin 1853, S. 49).

19 Worms, St. Martin, Südportal, Zeichnung 1887.

auf einen umschlossenen Stiftsbereich, auf dem sich auch der jeweilige Friedhof befand (Abb. 17, 18).53 Das Südportal der Wormser Martinskirche wurde zwar 1945 zerstört und bis auf das Tympanon nach altem Vorbild neu aufgebaut,54 doch ist es auf älteren Fotos und Zeichnungen im originalen Zustand 53 Die Situation am Wormser Martinsstift vor 1689 überliefert eine Zeichnung von Peter und Johann Friedrich Hamman, die sich heute in der British Library in London befindet (MS Add. 15709, Blatt 7). Zur Zeichnung siehe Fritz Reuter, Peter und Johann Friedrich Hamman. Handzeichnungen von Worms aus der Zeit vor und nach der Stadtzerstörung 1689 im „Pfälzischen Erbfolgekrieg“, Worms 1989, S. 96f. 54 Joachim Glatz, „St. Martin und seine Ausstattung“, in: St. Martin in Worms 996/1996. Festschrift zum 1000-Jahre-Jubiläum, hg. v. Fritz Reuter, Worms 1996 (Der Wormsgau, Beiheft 34), S. 71–157, hier S. 119.

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20 Worms, St. Martin, Südportal, Tympanon.

21 Worms, St. Martin, Westportal.

dokumentiert (Abb. 19). Die Parallelen zwischen den beiden Südportalen sind frappant (vgl. Abb. 12): In beiden Fällen handelt es sich um rundbogige Stufenportale mit vier Stufen, wobei nur in eine der Stufen eine Säule eingestellt ist, die einen Rundstab trägt. Beide Portale werden von einer Art Ädikula gerahmt, die aus der Flucht der Wand hervortritt. In beiden Fällen bilden die Kelchblockkapitelle einen – formal sehr ähnlichen – Fries aus Blättern und Stengeln mit zahlreichen Diamantierungen. Selbst die Profile der horizontalen Abschlussgesimse ähneln sich. In Worms ist es die Abfolge (von unten) steigender Karnies-Plättchen-Rundstab-Platte, in Boppard ist der Karnies in Rundstab-Plättchen-Kehle aufgelöst und der obere Rundstab wurde weggelassen.55 Am Wormser Portal fehlen allerdings die Kehlungen mit Masken und Blattwerk, so dass es insgesamt etwas schlichter wirkt. Ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Portalen liegt im Bogenfeld. Während dies in Boppard gemauert und wahrscheinlich bemalt gewesen ist, besteht das Tympanon in

Worms aus einer großen Steinplatte, die am Rand mit einer Ranke und in der Mitte mit einer Pflanze reliefiert ist (Abb. 20). Ein weiterer Unterschied liegt in der Fertigungstechnik der Säule. In Boppard wurde ein monolithischer Schaft vor das Gewände gestellt, in Worms ist der Schaft in Kompartimente unterteilt, die in einem Stück mit dem dahinterliegenden Werkstein gearbeitet worden sind. Die Westportale der beiden Kirchen unterscheiden sich hingegen deutlich. Während das Bopparder Portal, wie geschrieben, sehr nahe am Südportal von St. Severus liegt, kommen am Westportal von St. Martin jüngere Formen wie schlanke, gewirtelte Säulen mit Knospenkapitellen zum Einsatz (Abb. 21), die sich bei St. Severus am Chor finden (Abb. 10). Allerdings gibt es eine interessante Parallele: am inneren Gewände finden sich an beiden Westportalen Fratzen und Bestien statt der Kapitelle.

55 In beiden Kirchen entsprechen die Abschlussprofile der Südportale weitgehend den jeweiligen Kämpferprofilen an den Langhauspfeilern. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Rahmungen der Portale in beiden Fällen bereits bei der Errichtung der Langhäuser mit angelegt wurden.

Über die Portale hinaus lassen sich weitere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Stiftskirchen feststellen. Zunächst lassen sich Parallelen in den Grundrissdispositionen der beiden Kirchen erkennen (Abb. 22,

Strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen St. Severus und St. Martin

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Abb. 23). Beide Kirchen verzichten auf ein Querhaus und, was noch auffälliger ist, bei beiden Kirchen sind die Mittelschiffsjoche nicht wie zu jener Zeit üblich quadratisch, sondern längsrechteckig. Darüber hinaus erinnert die Gliederung der südlichen Seitenschiffswand von St. Severus strukturell an St. Martin in Worms (Abb. 7, 16). Hier wie dort wird die Wand mittels Lisenen bzw. Strebepeilern und Rundbogenfriesen in Felder unterteilt, in denen einfache Rundbogenfenster sitzen. Im Detail unterscheiden sich die Formen allerdings. In Worms wurden etwa die Rundbögen des Frieses profiliert und aus großen Quadern herausgearbeitet, wohingegen die unprofilierten, wohl gemauerten Rundbögen in Boppard auf plastisch gestalteten Konsolen aufsetzen.56 Am Obergaden weicht St. Severus hingegen von der Wormser Stiftskirche ab. Während in Worms die Formensprache der Seitenschiffswände konsequent am Obergaden fortgesetzt wird, griff man in Boppard kunstvoll die dekorativen Formen der niederrheinischen Architektur des frühen 13. Jahrhunderts auf: Fächerfenster, getreppte Bögen, Dreipassbogenfries, kleine Säulchen. Dieses Vokabular entspricht wiederum der Architektur des Chores von St. Severus. Strukturelle Ähnlichkeiten lassen sich auch im Innenraum der beiden Kirchen feststellen: Die Arkaden des Mittelschiffs bestehen jeweils aus breiten, einfachen Quadratpfeilern, die unprofilierte Rundbögen tragen (Taf. 13, Abb. 24). Die Pfeiler schließen nach oben lediglich mit Kämpferplatten ab, deren Profile ebenfalls Ähnlichkeiten aufweisen. Die Profile sind jeweils identisch mit den bereits beschriebenen Profilen der Südportale. Vor jedem zweiten Pfeiler befinden sich die Vorlagen des Gewölbes. Hier wie dort handelt es sich um Halbsäulen mit Pilastern, die bis zum Gewölbefußpunkt durchlaufen. Es handelt sich hierbei um das System der Dome zu Mainz und Worms, deren Mittelschiffe im Laufe des 12. Jahrhunderts errichtet wurden.57 Im oberen Teil der Kirchen 56 Die unregelmäßige Form der Bögen weist darauf hin, dass sie aus mehreren Steinen gemauert wurden. 57 Zum Mainzer Dom zuletzt: Dethard von Winterfeld, „Zur Baugeschichte des Mainzer Doms“, in: Der verschwundene Dom. Wahrnehmung und Wandel der Mainzer Kathedrale im Lauf der Jahrhunderte, Kat. Ausst. Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz 2011, hg. von Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2011, S. 44–97; Ders., „Willigis und die Folgen. Bemerkungen zur Baugeschichte des Mainzer Doms“, in: Basilica Nova

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22 Boppard, St. Severus, Grundriss.

23 Worms, St. Martin, Grundriss.

enden – wie am Außenbau – die Gemeinsamkeiten. Während in St. Martin das zur tragkonstruktiven Systematik passende Gewölbesystem folgt – Kreuzrippen, Gurt- und Schildbögen – kommt in St. Severus ein völlig anderes System zum Tragen, nämlich die außergewöhnlichen, virtuosen Spinnengewölbe mit ihren zahlreichen dünnen Rippen bzw. Beinchen (Taf. 14, Abb. 25), zwischen denen die fächerförmigen Obergadenfenster in einzigartiger Weise mit

Moguntina. 1000 Jahre Willigis-Dom St. Martin in Mainz, hg. von Felicitas Janson/Barbara Nichtweiß, Mainz 2010 (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz; 2009/10), S. 105–136.

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25 Worms, St. Martin, Mittelschiffsgewölbe. 24 Worms, St. Martin, Mittelschiffswand.

den Gewölbekappen verschliffen wurden. Die hohen dekorativen Qualitäten von Gewölben und Obergadenfenstern korrespondieren mit der Gestaltung des Obergadens am Außenbau. Nicht unerwähnt bleiben sollen die Emporen von St. Severus, die in Worms nicht vorhanden sind. Da ihre Öffnungen zwischen den Halbsäulen platziert sind, üben sie jedoch keinen Einfluss auf die tragkonstruktive Systematik aus. Es lässt sich somit festhalten, dass die Disposition und die unteren Partien der beiden Stiftskirchen sich deutlich ähneln und sie über die gleiche tragkonstruktive Systematik verfügen. Bei St. Martin werden Gliederung und Systematik am Obergaden und im Gewölbe konsequent fortgesetzt. Bei St. Severus bereiten die Vorlagen eine gleichartige Kreuzrippenwölbung wie bei St. Martin vor. In Boppard kommen diese allerdings nicht zur Ausführung, sondern ein gänzlich anderes System in einer abweichenden Formensprache. Daraus lässt sich zusammengenommen Folgendes schließen: Der Langhausbau von St. Boppard

folgt trotz der Konzeption als Emporenbasilika zunächst in gestalterischer und systematischer Hinsicht eng der übergeordneten Martinskirche in Worms, was von der Literatur bisher nicht gesehen wurde. In der Gewölbezone kommt es hingegen zu einem klaren Bruch. Dort werden ganz andere Formen verwandt, wie dies auch beim Chorbau der Fall ist. Das lässt darauf schließen, dass die Gewölbe in Boppard einer späteren Baukampagne entstammen. Es lässt sich somit resümieren, dass der Langhausbau von St. Severus auf Höhe des Obergadens und der Gewölbe zwar vom Niederrhein aus beeinflusst wurde, die unteren Teile jedoch Bezüge zu Worms aufweisen. Neben einem allgemeinen Transfer von Formen und wohl auch Steinmetzen, vor allem bei der Bauplastik der Portale, lassen sich auch unmittelbare Beziehungen zur Stiftskirche St. Martin in Worms erkennen. Über die deutliche Ähnlichkeit der Südportale hinaus finden sich strukturelle Parallelen in Grundriss, Aufriss der Seitenschiffswände und tragkonstruktiver Systematik. Es liegt auf der

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Hand, die engen institutionellen und personalen Verbindungen zwischen den beiden Kollegiatsstiften als Ursache für die Vermittlung wormsischer Formen nach Boppard zu nennen. Um diesen Austauschprozess zwischen St. Severus und St. Martin besser beurteilen zu können, muss zunächst die zeitliche Folge der Bauten geklärt werden.

Zum Forschungsstand der Datierung von St. Martin zu Worms

Die Martinskirche ist im Kern ein ottonischer Bau, der wohl zu Beginn des 11. Jahrhunderts errichtet wurde.58 In der Stauferzeit kam es zu einer strukturellen Metamorphose der Kirche,59 in deren Zug der Chor neuerrichtet und ein Gewölbe samt Vorlagensystem in das bestehende Langhaus eingebaut wurde.60 Der Zeitraum dieses Umbaus lässt sich jedoch nur schwer greifen. Joachim Glatz datierte ihn zuletzt „zwischen 1180/90 und 1220/30“61. Als Hauptargument für die Datierung des Umbaus nennt Glatz in Übereinstimmung mit der älteren Literatur die unzweifelhaften formalen Bezüge zum Wormser Dom.62 Der Wormser Dom wurde jedoch lange Zeit in Anlehnung an das von Rudolf Kautzsch 1938 gewobene Netz stilgeschichtlicher Argumente zu spät datiert.63 Während Kautzsch und folgende Autoren noch von einer Fertigstellung des Ostchors des Wormser Doms zur überlieferten Weihe 1181, einem Bau des Langhauses um 1100 und einer Datierung des Westchors um 1220/1230 ausgingen, konnte Dethard von Winterfeld auf Basis dendrochronologischer Untersuchungen nachweisen, dass der Wormser Dom deutlich früher umgebaut wurde.64 So ließ sich der Baubeginn auf 58 Glatz 1996 (wie Anm. 54), S. 79–81. 59 Eine strukturelle Metamorphose bezeichnet die (teils gravierende) architektonische Wandlung eines älteren Gebäudeoder Bauteils unter Bewahrung der alten Substanz (Horn 2017, wie Anm. 16, S. 83f ). 60 Glatz 1996 (wie Anm. 54), S. 83f. 61 Ebd., S. 104. 62 Glatz 1996 (wie Anm. 54), S. 83f. – Glatz erwähnt die Neudatierung des Doms, nimmt diese aber unverständlicherweise als Begründung, um an der alten Datierung von St. Martin festzuhalten. 63 Rudolf Kautzsch, Der Dom zu Worms, Berlin 1938 (Denkmäler Deutscher Kunst). 64 Dethard von Winterfeld, „Worms, Speyer, Mainz und der Beginn der Spätromanik am Oberrhein“, in: Baukunst des

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1125/1130 vorschieben und zeigen, dass zur Weihe 1181 auch das Langhaus, wenn nicht sogar der ganze Dom fertiggestellt war. Es verwundert, dass diese Neudatierung des Wormser Doms bisher keine Auswirkung auf die Datierung von St. Martin hatte, die doch stets an den Dom gekoppelt wurde. In Analogie zum Wormser Dom müsste man den Umbau der Martinskirche eigentlich ab der Mitte des 12. Jahrhunderts ansetzen und von einer Fertigstellung der Wölbung um 1200 ausgehen. Was die Literatur anscheinend bewog, an einer Spätdatierung von St. Martin festzuhalten, ist eine Inschrift auf dem Tympanon des Südportals (Abb. 20), die einen „HEIRIC DE ODh ADVOCA“ nennt,65 der schon von Ernst Wörner 1887 mit einem in einer (nichts mit dem Stift zu tun habenden) Urkunde von 1231 genannten Heinrich von Oppenheim gleichgesetzt wurde. Obgleich völlig ungewiss ist, ob es sich hier um dieselbe Person handelt, es noch nicht einmal gesichert ist, ob ODh als Oppenheim aufgelöst werden kann, hielt die Literatur bisher an dem Datum 1231 als Fixpunkt für den Langhausbau fest. Doch selbst wenn es sich um dieselbe Person handeln würde, so wäre 1231 nur ein Datum aus der Lebenszeit eines Mannes, dessen Schenkung Jahrzehnte früher hätte erfolgen können. Joachim Glatz datiert das Portal infolgedessen schon „kurz vor 1210/20“66. Ein überliefertes Weihedatum 1265 hingegen steht offenbar in keinem Bezug zum Bauverlauf.

Beziehungen zwischen dem Kreuzgangsportal des Doms zu Worms, dem Südportal von St. Martin zu Worms und dem Südportal von St. Severus zu Boppard

Einen wichtigen Anhaltspunkt für die Datierung und die Einordnung des Südportals von St. Martin, und damit indirekt auch des Südportals von St. Severus, liefert das Portal des ehemaligen Wormser Domkreuzgangs (Abb. 26). Auf dessen Tympanon befindet sich eine verschlungene, schirmartig sich ausbreitende Pflanze, deren Ähnlichkeiten mit der Pflanze auf dem Südportal von St. Martin (Abb. 20) Mittelalters in Europa. Hans Erich Kubach zum 75. Geburtstag, hg. von Franz J. Much, Stuttgart 1988, S. 213–250. 65 Zur Inschrift: Rüdiger Fuchs, Die Inschriften der Stadt Worms, Wiesbaden 1991 (Die Deutschen Inschriften, 29), S. 38. 66 Glatz 1996 (wie Anm. 54), S. 93.

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25 Worms, Portal am Domkreuzgang.

offensichtlich sind. Die Schirmform der Pflanze des Domkreuzgangs erklärt sich durch zwei Rundbögen auf dem Tympanon; sie füllt den Raum oberhalb der Bögen genau aus. An St. Martin befinden sich anstelle der Rundbögen Leerstellen; der Schirmform der Pflanze fehlt somit die gestalterische Notwendigkeit. Dies ist ein klarer Beleg dafür, dass das Tympanon des Domkreuzgangs als Vorbild für das Südportal von St. Martin (Abb. 19) diente und nicht umgekehrt. Auch die konstruktive Systematik des Domkreuzgangsportals wurde bei St. Martin übernommen. Die innere Stufe des Gewändes trägt jeweils das Tympanon und setzt ohne Basis auf der Schwelle auf. Daran schließt sich eine alternierende Abfolge von Pfeiler und Säule mit korrespondierendem Wulst in den Archivolten an. Während das Kreuzgangsportal fünf Stufen aufweist, zählt das Südportal an St. Martin nur drei. Die Merkwürdigkeit einer einzelnen eingestellten Säule am Südportal der Stiftskirche erklärt sich somit aus der genauen, jedoch verkürzten Übernahme der Gewändesystematik des Kreuzgangportals.

Weitere Parallelen zwischen den beiden Portalen bilden die Kapitellfriese mit den dichten und lebendigen, aber dennoch stilisierten und sich systematisch wiederholenden Ranken und Blättern. Auch die Basen sind hier wie dort gesimsartig zusammengefasst. Bedauerlicherweise ist auch die Datierung des Wormser Domkreuzgangs unklar. Walter Hotz ordnete den Kreuzgang bereits in die 1170er/1180er Jahre ein und das Portal in die 1170er Jahre.67 Rudolf Kautzsch datierte den Bau des Kreuzgangs hingegen zwischen 1190 und 1200.68 Fragt man nun nach der Reihenfolge zwischen den beiden Südportalen von St. Martin und St. ­Severus, liefern einige Unterschiede am Bopparder Portal Hinweise auf eine Antwort. Ein wichtiger Unterschied zu den Wormser Portalen ist, dass das Südportal von St. Severus keinen reliefierten Monolithen als Tympanon besitzt, sondern das Bogenfeld gemauert wurde. Die den Türsturz tragenden Innengewände verzichten deshalb auf ein Kapitell und sind nicht gestalterisch in die Stufen des Portals eingebunden. Dennoch übernimmt das Bopparder Portal bei der Gewändestufung exakt den Aufbau des Südportals von St. Martin mit vier Stufen, aber nur einer eingestellten Säule auf jeder Seite. Um der somit eigentlich überflüssigen erste Stufe wieder einen Sinn als optisch tragendes Element zu geben, fügte der Meister in Boppard einen zusätzlichen Viertelstab als innere Archivolte hinzu, die entgegen der konstruktiven Systematik des Portals nicht von einer Säule gestützt wird. Stattdessen greift der Stab mittels eines Palmettenreliefs die rahmenden Ranken des Südportaltympanons der Martinskirche auf und übersetzt jene in die neue tektonische Situation. Das Südportal von St. Severus zeigt folglich den Aufbau des Südportals von St. Martin, weist jedoch Differenzen auf, die der tektonischen Systematik widersprechen und sich als Modifikationen des Wormser Portals erklären lassen. Damit lässt sich eine eindeutige relative Chronologie der diskutierten Portale erstellen: Das Portal des Wormser Domkreuzganges ist das älteste, nach seinem Vorbild wurde das Südportal von St. Martin geschaffen, das wiederum als Vorbild für das Südportal von St. Severus diente. Das Westportal von St. 67 Walter Hotz, Der Dom zu Worms, Darmstadt 1981, S. 107. 68 Kautzsch 1938 (wie Anm. 63), S. 221.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Severus ist, wie oben geschildert, mit dem Südportal stilistisch weitgehend identisch und insofern zeitnah zum Südportal der Kirche entstanden. Das jüngste Portal stellt schließlich das Westportal von St. Martin in Worms dar (Abb. 21), das sich interessanterweise einer anderen, formengeschichtlich jüngeren Sprache bedient. Die im Gewände eingestellten schlanken, gewirtelten und freistehenden Säulen mit ihren Knospenkapitellen entsprechen den Säulen am Außenbau des Chores von St. ­Severus (Abb. 10). Die Basenformen sind quasi identisch: kräftiger, viertelstabförmiger unterer Torus, regulärer Trochilus mit eingesackter unterer, aber ausgeprägter oberer Scotia und verkümmerter oberer Torus.69 Anscheinend verlief der Formentransfer beim Bau des Westportals von St. Martin in die andere Richtung, nämlich von Boppard nach Worms. Dieser Bezug äußert sich auch in der Verwendung der Bestien auf den inneren Kapitellen des Wormser Westportals. Diese retrospektiven Motive, die an einem Portal dieser Zeitschicht mit Knospenkapitellen nicht mehr zu erwarten wären, erklären sich als Übernahme vom Westportal der Bopparder Severuskirche. Joachim Glatz datiert das Westportal von St. Martin „gegen 1230“ und Otto Böcher „um 1240“, beide im Vergleich mit dem Portal von St. Paul zu Worms.70 Berücksichtigt man allerdings die oben gegebene Datierung des Chors von St. Severus in Boppard, so scheint eine Datierung vor oder um 1230 für das Westportal von St. Martin treffend zu sein. Der Versuch einer Datierung der fünf behandelten Portale kann beim derzeitigen Forschungsstand nur auf Basis der relativen Chronologie der Portale im Zusammenhang mit dem Bauverlauf der Kirchen gemacht werden. Ausgangspunkt ist das Kreuzgangsportal des Wormser Doms, das mehrheitlich in das späte 12. Jahrhundert gesetzt wird. Das eng daran orientierte Südportal von St. Martin wäre dann bereits um 1200 zu erwarten. Diese Datierung würde auch gut mit einer Fertigstellung des Langhauses bereits um 1200 korrespondieren. Das Südportal von 69 Es handelt sich nicht um gotische Tellerbasen, wie Otto Böcher schreibt, sondern um ältere Formen (Otto Böcher, Die St.-Martins-Kirche zu Worms, Neuss 21976 (Rheinische Kunststätten, 131), S. 5.). 70 Glatz 1996 (wie Anm. 54), S. 98; Böcher 1976 (wie Anm. 69), S. 5.

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St. Severus, das sich wiederum eng an das Südportal der Wormser Martinskirche anlehnt, wäre dann in den 1210er Jahren entstanden, ebenso das sehr ähnliche Westportal von St. Severus. Das Westportal von St. Martin entstand hingegen erst später vor oder um 1230, parallel zum Chorbau der Severuskirche in Boppard. Die Datierung der Portale lässt sich mit den Bauzeiten der Kirchen in Bezug setzen. Eine Entstehung der Bopparder Portale setzt einen Bau des Langhauses im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts voraus, der um 1200 weitgehend abgeschlossen gewesen sein muss, aber wohl noch nicht gewölbt war. Da sich das Langhaus von St. Severus in Disposition und Aufriss der Seitenschiffswände auf die Martinskirche in Worms bezieht, muss jene früher im Bau gewesen sein, jedoch scheint man in Boppard schnell aufgeholt zu haben, wie die zeitnahe Entstehung der Südportale zeigt. Auch dies spricht für eine Erbauung des Langhauses der Martinskirche schon ab der Mitte bis ins späte 12. Jahrhundert. Der andersartige Obergaden von St. Severus weist hingegen keine Bezüge mehr zu St. Martin auf, sondern steht im Zusammenhang mit den kunstvollen Gewölben im Inneren. Der Bau des Chors von St. Severus schließt an das Langhaus an und fällt somit in das erste Drittel des 13. Jahrhunderts.

Der Formentransfer von Worms nach Boppard

Während die Bezüge von St. Severus zu niederrheinischen Bauten in der Literatur, wie erwähnt, bereits mehrfach untersucht und oft betont wurden, fanden Bezüge, die an den Oberrhein führen, bisher kaum Beachtung. Dies mag daran liegen, dass Beziehungen zum Oberrhein nicht in das Schema einer niederrheinischen Spätromanik passen, in das man St. Severus gerne einordnete. Im Lichte der vorangegangenen Untersuchung muss man das Bild von St. Severus nun jedoch differenzieren. Beim Bau des Langhauses von St. Severus im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts orientierte man sich zunächst an der Disposition und Gliederung von St. Martin in Worms, wo zu jener Zeit die Patronatsrechte an St. Severus lagen. Dabei führte man allerdings die Einzelformen im Detail anders aus als in Worms (z. B. unprofilierter Rundbogenfries auf Konsolen statt profilierter Fries

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ohne Konsolen). Es war demnach kein Baumeister der sogenannten Wormser Bauschule am Werk, sondern einer, der mit der Gestaltung der Wormser Kirchen zwar vertraut war, diese aber in seine andersartige Bauweise übersetzte. Die plastische Gestaltung des West- und Südportals von St. Boppard weist hingegen so starke Ähnlichkeiten zur Wormser Bauplastik auf, dass man davon ausgehen darf, dass dort tatsächlich Steinmetze aus Worms tätig waren. Mit der Architektur der Kirche waren anscheinend ein anderer Meister und wohl auch andere Werkleute betraut, als mit der Gestaltung der Portale. Die Paraphrase des Südportals von St. Martin belegt eindeutig, dass Bezüge zur Wormser Stiftskirche gewollt waren, jene vielleicht sogar vergegenwärtigt werden sollte. Die institutionellen Verbindungen und personalen Netzwerke zwischen den beiden Stiften waren offenbar der Grund für einen Austausch von Ideen, Formen und Personen.

Der Chorbau im sozialen und politischen Kontext Philipp von Schwaben als Förderer von St. Severus

Angesichts dessen, dass die beim Langhausbau erkennbaren Bezüge nach Worms aus den Verbindungen mit dem Martinsstift resultierten, verwundert es wiederum, dass man beim Bau des Chores und später der Langhausgewölbe eine neue Formensprache adaptierte, die in Worms keine Vorbilder hatte, sondern am Niederrhein ausgebildet wurde. Darüber hinaus fällt auf, dass die Architektur des Chores und der Gewölbe deutlich aufwändiger und damit kostenintensiver ausfiel. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass König Heinrich VI. 1190 den Bopparder Zoll vom Martinsstift für die Krone erwarb.71 Die Entscheidung für einen Chorbau nach einem neuen und auch teureren Plan begann demzufolge ausgerechnet in einer Zeit, als der ertragsreiche Bopparder Zoll nicht mehr in wormsischer Hand lag. Otto Volk stellte heraus, dass Boppard nach der Übernahme des wichtigen Rheinzolls zum Ende des 12. Jahrhunderts zu einem strategisch bedeutsamen Ort für die staufischen Könige wurde, welche häufiger dort weilten.72 Im älteren Nekrolog des Severusstifts 71 Volk 1997 (wie Anm. 27), S. 115f. 72 Ebd., S. 136.

wird der 1198 bis 1208 regierende König Philipp von Schwaben mit seiner Gemahlin Königin Maria als einziger deutscher Regent genannt, für den die Kanoniker des Stifts eine Memoria feierten.73 Eduard Trier vermutete, dass Philipp von Schwaben dem Stift das hölzerne Triumphkreuz schenkte, das sich noch heute in der Kirche befindet.74 Wäre es nicht auch naheliegend, dass das Königspaar den Bau der Kirche finanziell unterstützt hätte? Das würde einen Eintrag im Nekrolog des Stifts sicher noch mehr rechtfertigen. Eine Unterstützung des Chorbaus durch König Philipp von Schwaben würde auffallenderweise genau in die Zeit fallen, nämlich die 1210er Jahre, in der man gemäß vorangegangener Ausführungen mit dem Beginn der neuen Baukampagne rechnen müsste. Außerdem ließe sich in diesem Kontext die mit Abkehr von wormsischen Vorbildern und Hinwendung zur aufwändigen niederrheinischen Architektursprache des frühen 13. Jahrhunderts erklären. Die Referenzen nach Worms gerieten mit dem Auftreten des Königs in den Hintergrund, wohingegen gestiegene repräsentative Ansprüche eines königlich geförderten Baus die neue Planung angestoßen haben mögen.

Das neue Stadtsiegel im politischen Kontext

Für das Verständnis der sozialen und politischen Dimen­sionen des Chorbaus liefert das zwischen 1228 bis 1236 neue gestaltete Stadtsiegel (Abb. 09) wichtige Informationen.75 Es ist bemerkenswert, wenn auch nicht einzigartig, dass sich die Reichsstadt Boppard auf einem repräsentativen Hoheitszeichen mit einem Sakralbau im Zentrum darstellen ließ.76 Dieses hohe Maß an Identifikation, das die Kommune der Severus­kirche entgegenbrachte, legt nahe, dass die Bürgerschaft in nennenswertem Umfang am Umbau der Stiftskirche partizipierte. Die prachtvolle Architektur von St. Severus diente folglich auch der Repräsentation der Reichsstadt und ihrer Bürgerschaft. 73 Ebd., S. 137f. 74 Eduard Trier, „Das Triumphkreuz in St. Severus zu Boppard“, in: Wallraf-Richartz Jahrbuch, Jg. 30, 1968, S. 19–56, hier S. 50f. 75 Zum Siegel s. weiter vorne. 76 Hierzu grundlegend: Markus Späth, „Zeichen bürgerschaftlicher Repräsentation. Reichsstädtische Siegel und ihre künstlerischen Kontexte“, in: Reichszeichen, hg. von Helge Wittmann, Petersberg 2015 (Studien zur Reichsstadtgeschichte, 2), S. 137–166.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Zieht man die These von einer Förderung des Chorbaus durch König Philipp von Schwaben in die Überlegungen mit ein, so erschließt sich eine weitere Bedeutungsebene. Das Bild des königlich geförderten Bauwerks fungierte in diesem Kontext als Zeichen für die Reichsunmittelbarkeit und Königsnähe von Boppard. Diese Deutung unterstützt auch der mächtige Reichsadler auf dem First der Kirche, der das Bild des Stadtheiligen Bischof Severus noch an Größe übertrifft, und einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Kirche und Reich herstellt. Schließlich würde eine königliche Förderung des Chorbaus auch erklären, warum der Chor auf dem Siegel ungewöhnlich realitätsnah dargestellt wurde, während das Langhaus nur in vereinfachter Form zu erkennen ist. Schließlich lässt die Umschrift keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Dargestellten um

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Wohl im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts wird in Boppard mit einem sukzessiven Umbau der alten Peterskirche begonnen, der alle Gebäudeteile erfasst. Den Anlass für die umfassenden Baumaßnahmen gab vermutlich die Übernahme von Reliquien des heiligen Bischofs Severus, der im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts zum Hauptpatron der erneuerten Kirche erhoben wurde. Auf den Bau oder Umbau der unteren Turmgeschosse folgte ein Neubau des Langhauses, das in vielen Punkten der nur wenige Zeit zuvor umgebauten Martinskirche in Worms entspricht, wo die Patronatsrechte an St. Peter respektive St. Severus in Boppard lagen. Das Südportal von St. Severus gleicht dem Südportal von St. Martin so sehr, dass man von einer Paraphrase sprechen muss. Die fantasievolle Bauplastik mit Bestien und Fratzen entspricht den in Worms vor allem durch den Dombau verbreiteten Formen des letzten Drittels des 12. Jahrhunderts. Dies deutet darauf hin, dass Wormser Steinmetze wohl über das personale Netzwerk zwischen den beiden Stiften nach Boppard vermittelt wurden. Die architektonischen Elemente zeigen

zwar ebenfalls eine formale Ähnlichkeit mit Wormser Bauformen, doch unterscheiden sie sich im Detail. Dies lässt darauf schließen, dass ein anders geschulter Meister am Werk war, dem die Wormser Bauten allerdings bekannt waren. Der Bau am Langhaus bis zur Höhe des Obergadens zog sich bis um 1200 hin. Der Neubau des Chores folgte einer anderen, dekorationsfreudigen Architektursprache, die ihre Vorbilder am Niederrhein hat. In dieser Baukampagne entstanden auch die Gewölbe und die Obergadenzone des Langhauses, wo der gestalterische Schnitt außen wie innen deutlich erkennbar ist. Der Planwechsel fiel in eine Zeit, als nach der königlichen Übernahme des gewinnbringenden Rheinzolls vom Wormser Martinsstift zum Ende des 12. Jahrhunderts Boppard zu einem „zentralen Stützpunkt des Reiches“78 wurde, an dem sich vor allem die staufischen Könige oft und lange aufhielten. Damit entfaltete um 1200 ein dominanter politischer Akteur eine Präsenz in der Reichsstadt, die den Einfluss des Martinsstiftes minderte. Ein Eintrag im älteren Nekrolog des Severusstiftes deutet daraufhin, dass König Philipp von Schwaben und Königin Maria als Förderer der Severuskirche in Erscheinung traten. Da der anzunehmende Zeitraum des Planwechsels genau in die Regierungszeit Philipps (1298–1208) fällt, lässt sich annehmen, dass das Königspaar wesentliche Mittel zum Bau von Chor und Gewölben spendete. Das Auftreten des Königs erklärt, warum plötzlich die Wormser Referenzen nicht mehr von Belang waren. Stattdessen erbaute man die Kirche in den repräsentativen Formen, die am Niederrhein zu jener Zeit üblich waren. Dabei beschränkte sich der Baumeister, der zu den herausragenden Architekten seiner Zeit gezählt werden muss, in Boppard jedoch nicht auf eine Übernahme bestehender Formen, sondern zeigte eine hohe künstlerische Innovationsfreude, die in den außergewöhnlichen Spinnengewölben gipfelte. Die neue Architektursprache des Severuschors strahlte wiederum nach Worms zurück, wo das Westportal an St. Martin ein vergleichbares Formenvokabular aufweist. Identische Basenprofile sprechen dafür, dass abermals ein direkter Transfer

77 Übersetzung des Autors.

78 Volk 1997 (wie Anm. 27), S. 136.

„BOPARDIA LIBERUM ET SPETIALE OPIDUM ROMANI

handelt, also um „Boppard, freie und besondere Stadt des römischen Reiches“77.

­IMPERII“

Resümee

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Von St. Severus beeinflusste Bauwerke am Mittelrhein (Sinzig, Linz, Trechtingshausen)

27 Sinzig, St. Peter, Mittelschiffswand.

zwischen den beiden institutionell verbundenen Stiften stattfand, diesmal allerdings in umgekehrter Richtung von Boppard nach Worms. Die Reichsstadt Boppard stellte auf ihrem neuen Stadtsiegel die Reichsunmittelbarkeit deutlich heraus. Im Zentrum der Darstellung steht die neue Architektur der Severuskirche in ungewöhnlich realistischer Darstellung und in Kombination mit dem Reichsadler. Durch die königliche Förderung wurde das Bauwerk zu einem Monument der Bopparder Reichsnähe. Zugleich wird die Kirche als dem heiligen Severus geweiht ausgewiesen. An der Severuskirche überlagerten sich demzufolge die religiösen und die weltlichen Autoritäten, auf welche sich die Reichsstadt Boppard stützte. Sie war das Haus des Stadtheiligen Severus und zugleich Zeichen für die Reichsunmittelbarkeit der Stadt.

Die virtuose Architektursprache von St. Severus in Boppard blieb am Mittelrhein nicht ohne Wirkung. Eine Kirche, die zahlreiche Ähnlichkeiten mit St. Severus aufweist, ist St. Peter in Sinzig (Taf. 45), die in der Literatur in die 1220er/1230er Jahre datiert wird; eine Weihe wird für 1241 angenommen.79 Der polygonale Chor von St. Peter zeigt den gleichen mehrgeschossigen Aufbau wie St. Severus: zwei Chorgeschosse, das untere geschlossener und einfacher, das obere aufwändiger und durchfenstert, darüber eine Zwerggalerie und schließlich kleine Giebelchen, die auch für St. Severus rekonstruiert werden können und auf dem Bopparder Stadtsiegel zu sehen sind.80 Auch die Gestaltung zeigt Parallelen. Die Polygonfelder des Erdgeschosses werden jeweils mit Ecklisenen und Rundbogenfriesen gerahmt, in der Hauptachse sitzt je ein Oculus. Im Obergeschoss sitzen jeweils Rundbogenfenster, die von Blendbögen überfangen und Säulen flankiert werden. Die Sinziger Geschossgliederung wirkt wie eine vereinfachte Form der vielgliedrigen Bopparder Geschossteilung, entspricht jener aber in der tektonischen Systematik. Der Rollenfries, der die Traufe der Chorgiebelchen an St. Peter nachzeichnet, findet sich bei St. Severus an der Traufe des nördlichen Seitenschiffes. Es wäre daher gut denkbar, dass die ehemaligen Chorgiebel an St. Severus ebenso mit einem Rollenfries wie in Sinzig verziert waren. Nimmt man noch die kleinen Chortürme hinzu, dann wirkt die Chorpartie von St. Peter zu Sinzig fast schon wie eine Paraphrase des Chors von St. Severus zu Boppard. Auch beim Vergleich der Innenräume lassen sich viele Parallelen ziehen. St. Peter ist wie St. Severus 79 von Winterfeld 2001 (wie Anm. 35), S. 107; Anna Schunicht-Rawe, St. Peter in Sinzig. Ein Bauwerk der rheinischen Spätromanik, Köln 1995 (Veröffentlichungen der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität Köln, 54), S. 256–259. Hans Erich Kubach/Albert Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, Bd. 2, Berlin 1976 (Denkmäler deutscher Kunst), 1036–1040.; Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 17, Abt. I: Die Kunstdenkmäler des Kreises Ahrweiler, bearb. v. Albert Verbeek, Düsseldorf 1938, S. 603–619. 80 von Ledebur 1988 (wie Anm. 24), S. 212; Caspary 1977 (wie Anm. 31), S. 89.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

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28 Boppard, St. Severus, Chorgewölbe.

29 Linz, St. Martin, Blick zum Chor.

eine Emporenbasilika mit einer schlichten Arkadenzone aus Pfeilern mit Kämpferplatten und Rundbögen, die am Emporengeschoss als Blendbögen wiederholt werden (Abb. 27). Wie in Boppard befinden sich in Sinzig kleinere Bögen (in diesem Fall drei statt zwei) mit Säulchen unter den großen Blendbögen. Der Obergaden von St. Peter wird von großen Fächerfenstern dominiert, die allerdings nicht wie bei St. Severus mit dem Gewölbe verschliffen sind. Die tragkonstruktive Systematik von Pilastern mit vorgelagerten Halbsäulen, die bis zum Gewölbe durchlaufen, stellt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Kirchen dar. Schließlich sei auf die spinnenbeindünnen Rippen verwiesen, die unter der Vierungskuppel von St. Peter in Kombination mit einem Ring ein virtuoses Gewölbe nach Bopparder Muster bilden. Da verwundert es nicht, dass das Sinziger Chorgewölbe mit seinem achtteiligen Rippengewölbe im Chorhals, das sich mit den schirmartigen Rippen

im Polygon verbindet, quasi die Form des Chorgewölbes in Boppard übernimmt (Abb. 28). Schließlich gleicht auch der zweigeschossige Innenaufbau des Polygons mit seinen Blendarkaden und den Säulchen der Situation in der Severuskirche. Während St. Peter in Sinzig von der Forschung bisher hauptsächlich mit Kölner Sakralarchitektur zusammengebracht wurde,81 so belegen die zahlreichen hier aufgezeigten Parallelen, dass St. Severus in Boppard ein wichtiger Bezugspunkt gewesen sein muss. Wenngleich Bezüge zu Kölner Bauwerken nicht bestritten werden sollen, so muss doch der Einfluss der Bopparder Severuskirche stärker berücksichtigt werden.

81 Dethard von Winterfeld beispielsweise zählt St. Peter in Sinzig zu „den herausragenden Beispielen der Kölner Architektur“ (von Winterfeld 2001 (wie Anm. 35), S. 106).

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Gegenüber von Sinzig, auf der rechten Rheinseite, findet sich in Linz ein weiteres Spinnengewölbe im Chor der Pfarrkirche St. Martin (Abb. 29 ), der nach Kubach und Verbeek aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts stammt.82 Dort wurden die beiden Joche des polygonalen Chores mit einem neunteiligen Rippengewölbe einheitlich überfangen. Die schlanken, steil aufragenden Rippen wurden in diesem Fall mit einem breiten hängenden Schlussstein kombiniert, so dass die Rippen zunächst steil ansteigen, dann aber wieder kurvenförmig fallen, was die Assoziation mit einer Spinne verstärkt. Die Clemenskapelle in Trechtingshausen (Taf. 47) im Süden des Mittelrheintals weist hingegen ein Vierungsgewölbe auf (Taf. 48), das demjenigen von St. Peter in Sinzig gleicht (Abb. 27). Wie dort steigt über längsrechteckigem Grundriss ein achtteiliges Rippengewölbe mit horizontalem Ring empor. Die vier von den Vierungspfeilern ansteigenden Rippen laufen jeweils über die Pendentifs. Auch die Arkaden des Langhauses entsprechen mit ihren gedrungenen Pfeilern, Kämpferplatten und einfachen Rundbögen der Kirche in Sinzig. Das Profil der Kämpferplatten ist allerdings fast mit demjenigen in St. Severus zu Boppard identisch, wo die Arkadenform ergänzt mit einem Blendbogen ebenfalls vorherrscht. Dethard von Winterfeld datiert die Clemenskapelle in die 1220er/1230er.83 Während in der Literatur der Einfluss kölnischer Bauten bis ins südliche Mittelrheintal häufig betont wurde, fand der Austausch zwischen den mittel­ rheinischen Bauwerken selbst wenig Beachtung. Die Rezeption der Bopparder Severuskirche zeigt jedoch, dass auch die Bauten am Mittelrhein bekannt waren und stilbildend wirken konnten. Die nahezu identische Form der Vierungsgewölbe in Sinzig und Trechtingshausen belegt, dass sich der architektonische Austausch über das gesamte Mittelrheintal erstreckte. Es genügt folglich nicht, die mittelrheinischen Bauwerke aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in den Umkreis der unbestritten richtungsweisenden Kölner Sakralarchitektur zu verorten. Offenbar fand

82 Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 31), S. 674. 83 von Winterfeld 2001 (wie Anm. 35), S. 88. Kubach/Verbeek setzen den Kirchbau gröber in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts ((Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 31), S. 1082).

auch ein Austausch zwischen den mittelrheinischen Baustellen statt. St. Severus in Boppard nahm hierbei eine Schlüsselstellung ein.

St. Peter zu Bacharach Ein kreativer Umgang mit Gewölbeformen, allerdings von anderer Art, findet sich auch in der ehemaligen Stifts- und Pfarrkirche St. Peter zu Bacharach (Taf. 4–5), die von der Literatur in die 1230er/1240er datiert wird,84 aber vielleicht auch etwas früher angesetzt werden könnte.85 Während Bacharach kirchenrechtlich der Diözese Trier zugeordnet war, lag die Stadtherrschaft im späten Mittelalter de facto bei den Pfalzgrafen. De iure war der Kölner Erzbischof seit dem frühen Mittelalter Stadtherr über Bacharach und als solcher belehnte er zur Mitte des 12. Jahrhunderts den Pfalzgrafen mit der Vogtei.86 Die Pfalzgrafen, die in der Folge auf Burg Stahleck oberhalb der Stadt residierten, nutzten die Situation, um die faktische Macht über Bacharach sukzessiv zu übernehmen. Dennoch übte der Kölner Erzbischof auch 84 Z. B. von Winterfeld 2001 (wie Anm. 35), S. 90; Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 31), S. 69–72. 85 Die Datierung der kunsthistorisch noch wenig bearbeiteten Peterskirche in Bacharach ist wenig gesichert und stützt sich vornehmlich auf stilgeschichtliche Vergleiche. In der Literatur wurde meist eine späte Datierung des Neubaus um 1230/1240 vertreten, die sich offenbar am Neubau des Doms zu Limburg an der Lahn (eh. Stiftskirche) orientierte (So beispielsweise: Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 69–72). Mittlerweile konnte der Baubeginn des Limburger Doms allerdings aufgrund dendrochronologischer Untersuchungen in die Zeit um 1190 vordatiert werden (Dethard von Winterfeld, „Der Dom zu Limburg. Eine architekturgeschichtliche Betrachtung“, in: Deutsche Königspfalzen, Beiträge zur ihrer historischen und archäologischen Erforschung, hg. von Caspar Ehlers/Helmut Flachenecker, Bd. 6: Geistliche Zentralorte zwischen Liturgie und Architektur, Gottes- und Herrscherlob: Limburg und Speyer, Göttingen 2005 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 11,6), S. 87–115, hier S. 88f ). Das legt nahe, auch über eine etwas frühere Datierung der Peterskirche zu diskutieren, wofür auch andere Indizien sprächen. 86 Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 1: Mittelalter, 2. Aufl. Stuttgart 1999, S. 32, 55; Winfried Dotzauer, „Die Pfalzgrafen am Mittelrhein“, in: Zwischen Rhein und Mosel. Der Kreis St. Goar, hg. von Franz-Josef Heyen, Boppard 1966, S. 59–76, hier S. 62, 66f; Winfried Dotzauer, „Die Geschichte der Stadt Bacharach“, in: Zwischen Rhein und Mosel. Der Kreis St. Goar, hg. von Franz-Josef Heyen, Boppard 1966, S. 421–430, hier S. 422f.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

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30 Köln, St. Andreas, nördliche Mittelschiffswand.

31 Bacharach, St. Peter, nördliche Mittelschiffswand.

in späterer Zeit noch alte Rechte, wie die Gerichtsbarkeit, in Bacharach aus.87 Ein kölnischer Außenposten im pfälzischen Machtbereich blieb das Bacharacher Petersstift, dessen Patronatsrechte der Kölner Erzbischof im 11. Jahrhundert dem Kölner Andreasstift übertragen hatte.88 Das Andreasstift, das kirchenrechtlich dem Kölner Metropoliten unterstand, übte seither das Recht aus, den Bacharacher Pfarrer zu benennen.89 Dieser wurde immer aus den Klerikern der Stiftsgemeinschaft ausgewählt, so dass der Pfarrer von St. Peter stets auch Kanoniker des Kölner Andreasstifts war.90

Neben seinen geistlichen Aufgaben war er für die Organisation des Weinexports von Bacharach nach Köln verantwortlich, der anscheinend eine wichtige Einnahmequelle des Andreasstifts darstellte. Der grundlegende Neubau der Peterskirche im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts ereignete sich nun auffälligerweise in einer Zeit, als sich die Machtverhältnisse in Bacharach gravierend verschoben. Als die Pfalzgrafen de facto die Herrschaft über die Stadt übernahmen, versuchten auch die Bürger ihren Einflussbereich auf Kosten Kölns auszudehnen. Für 1220 berichten die Quellen über einen Streit zwischen den Bürgern der Stadt Bacharach und dem Andreasstift um die Besetzung der Pfarrstelle, der vom zuständigen Trierer Erzbischof allerdings zu Gunsten des Kölner Kirchherrn geschlichtet wurde.91

87 Ebd. 88 Friedrich Ludwig Wagner, „Das frühe Kirchenwesen in den Viertälern von Bacharach“, in: Bacharach und die Geschichte der Viertälerorte Bacharach, Steeg, Diebach und Manubach, hg. von ders., Bacharach 1996, S. 197–208, hier S. 198f. 89 Ebd., S. 200f. 90 Ebd.

91 Ebd.

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33 Köln, St. Andreas, hängender Schlussstein im Mittelschiff.

32 Bacharach, St. Peter, hängende Schlusssteine im südlichen Seitenschiff.

Der umfassende Neubau der Peterskirche folgt auf den ersten Blick der repräsentativen und von einem reichen und vielfältigen Dekor ge­kenn­zeich­ ne­ ten Architektursprache, die zum Anfang des 13. Jahrhunderts am Nieder- und Mittelrhein verbreitet war, und definiert damit das Anspruchs­niveau des Stifts gegenüber den anderen regionalen Akteuren. Während die Architektur im Ganzen somit nicht als allgemeine Referenz auf Köln missverstanden werden darf, so fällt hingegen auf, dass einige Details in Beziehung zur Mutterkirche St. Andreas stehen, die selbst nur wenige Jahrzehnte früher weitreichend umgebaut wurde.92 Deutlich erkennbar wird das beim Vergleich der Mittelschiffswände beider Stiftskirchen (Abb. 30, 31).93 In beiden Kirchen kontrastieren aufwändige Blendtriforien mit Säulchen und Wülsten 92 Zur Baugeschichte von St. Andreas: Barbara und Ulrich Kahle, „St. Andreas“, in: Köln: Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings, Köln 1984 (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, 1), S. 154–182. 93 Hierzu ausführlich Overdick 2005 (wie Anm. 44), S. 74–85.

samt einer einfachen, ungeschmückten Obergadenwand darüber, in der karge Rundbogenfenster sitzen. Auch die für die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts ungewöhnlichen hängenden Schlusssteine in den Seitenschiffen der Bacharacher Kirche (Abb. 32) lassen sich von der Kölner Mutterkirche herleiten: Dort finden sie sich in den Schnittpunkten der Kreuzrippen des Mittelschiffs wie auch der Gratgewölbe in den Seitenschiffen (Abb. 33). Vor dem skizzierten historischen Hintergrund erscheinen die architektonischen Bezüge zur Kölner Andreaskirche nicht allein aus den engen personellen Verflechtungen zwischen den beiden Stiften erklärbar, sondern lassen sich darüber hinaus auch als sichtbare Zeichensetzung des Kölner Anspruchs auf das Petersstift gegenüber dem Pfalzgrafen einerseits und der Bürgerschaft andererseits verstehen. Interessant hierbei ist, dass St. Peter nicht, wie man hätte vermuten können, in einem „Kölner Diözesanstil“ erbaut wurde, denn die dekorationsfreudige Architektursprache war am Mittelrhein auch in anderen

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Diözesen und Territorien ganz unabhängig von Köln gebräuchlich, etwa in Boppard oder Trechtingshausen. Vielmehr handelte es sich zu jener Zeit um eine hochrepräsentative Bauweise für Sakralbauten in der Region, die das Anspruchsniveau und Selbstverständnis des Bauherrn dokumentierte. Im Detail jedoch sind direkte Bezüge der Bacharacher Peterskirche zur Kölner Andreaskirche unverkennbar. Dabei handelte es sich nicht um Kopien, denn die Details der Bacharacher Kirche erscheinen nicht nur gröber ausgeführt, sondern sind auch formengeschichtlich jünger, was etwa in der Kapitellplastik gut zu erkennen ist: Während in Bacharach zahlreiche Knospenkapitelle verbaut wurden (Abb. 34), entsprechen die Kölner Kapitelle dem älteren Kelchblocktyp (Abb. 35). Beim Bau von St. Peter, der vielleicht 20 Jahre oder auch später nach St. Andreas begann, kannte man demzufolge den formalen Trend der letzten Jahrzehnte. Demzufolge griff man nicht aus Rückständigkeit, sondern absichtsvoll und mit moderaten Modifikationen auf charakteristische Gestaltungsmerkmale von St. Andreas zurück.

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34 Bacharach, St. Peter, Kapitelle im Mittelschiff auf Höhe der Empore.

Die Wernerkapelle zu Bacharach94 Einleitung

Eine ähnliche Beziehung zwischen Architektur und Kirchherrn wird offenbar, wenn man den kurz nach 1287 einsetzenden Neubau der benachbarten Werner­ kapelle historisch kontextualisiert. Bei der Ruine, die sich heute so malerisch auf einem Plateau über Bacharach erhebt (Taf. 6–7),95 handelt es sich um die Überreste eines kleinen, aber anspruchsvollen gotischen Bauwerks, das eine ältere St. Kunibertkapelle

94 Das vorliegende Kapitel über die Wernerkapelle zu Bacharach basiert auf einem im Münsterbaublatt der Straßburger Kathedrale veröffentlichten französischsprachigen Aufsatz des Autors, der für die Verwendung in diesem Kontext deutlich gekürzt und partiell überarbeitet wurde (Hauke Horn, „Liaisons rhénanes. Le dessin no. 6 de la cathédrale de Strasbourg et la chapelle de Werner à Bacharach dans le contexte du gothique rhénan“, in: Bulletin de la Cathédral de Strasbourg, Jg. 23, 2018, S. 85–97. 95 Die Kapelle wurde 1689 bei der Sprengung der Burg Stahleck durch französische Truppen ruiniert (Aloys Schmidt, „Zur Baugeschichte der Wernerkapelle in Bacharach“, in: Rheinische Vierteljahresblätter, Jg. 19, 1954, S. 69–89, hier S. 88).

35 Köln, St. Andreas, Kapitell im Mittelschiff.

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an gleicher Stelle ersetzte und dem Petersstift inkorporiert war. Als 1287 der wohl grausam zugerichtete Leichnam des Knaben Werner von Womrath in Bacharach aufgefunden wurde, beschuldigte der Mob die Juden in Oberwesel fälschlicher- und fatalerweise des Ritualmords an dem Jungen, was zu Pogromen am Mittelrhein führte. Seither wurde Werner vom Volk – ohne Kanonisation – als Märtyrer verehrt und als solcher in der alten Kunibertkapelle beigesetzt.96 Die bald darauf einsetzende Wallfahrt war vermutlich das ausschlaggebende Moment für einen prächtigen Neubau.97 Aufgelöst in eine feingliedrige Struktur aus Pfeilern und hohen Maßwerkfenstern strebt die Architektur der Wernerkapelle mit ihren filigranen Details in die Vertikale (Taf. 6–7) und kontrastiert deutlich mit ihrer nur wenige Jahrzehnte zuvor fertiggestellten Mutterkirche St. Peter, die noch der etablierten Bauweise am Mittelrhein zur ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts folgt (Taf. 4–5). Stattdessen orientiert sich die Konzeption der Wernerkapelle an der gotischen Architektur französischer Prägung, die seit Mitte des 13. Jahrhunderts durch die großen Kathedralbauprojekte in Köln und Straßburg zum architektonischen Maßstab im alten Reich erhoben wurde und auch beim Bau der Seitenkapellen des Mainzer Doms zum Ende des 13. Jahrhunderts Anwendung fand.98

96 Wichtige jüngere Publikationen zum Wernerkult: Matthias Schmandt, „Der Pfalzgraf, sein Pfarrer und der ‚gute Werner‘. Oder: Wie man zu Bacharach und Oberwesel ein antijüdisches Heiligtum erschuf (1287–1429)“, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 38, 2012, S. 7–38; Thomas Wetzstein, „Ad informationem apostolicae sedis“. Die Verehrung des Werner von Oberwesel und die Kultuntersuchung von 1426“, in: Wege zum Heil. Pilger und heilige Orte an Mosel und Rhein, hg. von Thomas Frank/Michael Matheus/Sabine Reichert, Stuttgart 2009, S. 97–134; Daniela Wolf, Ritualmordaffäre und Kultgenese. Der „Gute Werner von Oberwesel“, Bacharach 2002; Gerd Mentgen, „Die Ritulalmordaffäre um den „Guten Werner“ von Oberwesel und ihre Folgen“, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 21, 1995, S. 159–198. – Erst 1761 wurde Werner offiziell in den Heiligenkalender der Diözese Trier aufgenommen und 1963 wieder daraus gestrichen. 97 Einige Schriftquellen, die Aloys Schmidt vorgestellt hat, deuten zusammengenommen darauf hin, dass der Neubau zeitnah zur Beisetzung begonnen wurde (Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 74–77). 98 S. hierzu den Aufsatz von Ute Engel in diesem Band.

Forschungsstand zur Herkunft der Architektur

Infolgedessen wurde schon früh in der Forschung kontrovers diskutiert, wie und vor allem von wo die neuartige Formensprache und Bautechnik in das Mittelrheintal importiert wurde. Maria Geimer sprach sich bereits 1937 aufgrund von stilkritischen Vergleichen klar für den Kölner Dom als Vorbild der Wernerkapelle aus.99 Hartmut Seeliger, der 1962 eine von den seit 1279 im Bau befindlichen Mainzer Domkapellen ausgehende „Mainzer Bauschule“ postulierte,100 meinte hingegen, in der Wernerkapelle „die preziöse Mainzer Formensprache bis ins Detail hinein zu erkennen“.101 Bernhard Schütz pflichtete ihm 1982 bei und bezeichnete die Wernerkapelle als „beste Leistung der ‚Mainzer Bauschule‘ “102 neben der Liebfrauenkirche zu Mainz. Paul Crossley hat den älteren Forschungsstand zur Wernerkapelle schließlich in einem klugen und grundlegenden Aufsatz 2007 zusammengefasst und die älteren Meinungen diskutiert. Auf Basis einer gründlichen stilkritischen Analyse attestiert er der Kapelle zwar Beziehungen zur sogenannten „Mainzer Bauschule“, sieht jedoch, wie Maria Geimer, den Kölner Dom als Hauptreferenz an.103

Die Risszeichnung 6v im Straßburger Musée de l’Oeuvre Notre-Dame

Man hätte den Argumenten Paul Crossleys wohl wenig entgegenzusetzen, wenn nicht neuerdings eine mittelalterliche Planzeichnung im Straßburger Musée de l’Oeuvre Notre-Dame als Grundriss der

99 Maria Geimer, Der Kölner Domchor und die rheinische Hoch­ gotik, Bonn 1937 (Kunstgeschichtliche Forschungen des rhei­ ni­schen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz, 1), zur Wernerkapelle, S. 68–76. 100 Hartmut Seeliger, Die Stadtkirche in Friedberg in Hessen. Ein Beitrag zur Geschichte der gotischen Baukunst in Hessen und am Mittelrhein, Sonderabdruck aus dem Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, NF, Bd. 27, Heft 1/2, 1961/1962. 101 Ebd., S. 62. 102 Bernhard Schütz, Die Katharinenkirche in Oppenheim, Berlin 1982 (Beiträge zur Kunstgeschichte, 17), S. 257, Fußnote 370. 103 Paul Crossley, „The Wernerkapelle in Bacharach”, in: Mainz and the Middle Rhine Valley. Medieval Art, Architecture and Archaeology, hg. v. Ute Engel/Alexandra Gajewski, Leeds 2007 (The British Archaeological Association Conference Transactions, 30), S. 167–192, hier S. 179–185.

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36 Plan Nr. 6v im Musée de l’Œuvre Notre-Dame, Straßburg.

Bacharacher Wernerkapelle identifiziert worden wäre (Abb. 36). 2011 erschienen gleich zwei Aufsätze – einer von Yves Gallet, einer von Julian Hanschke – in denen eine entsprechende Identifizierung mit unterschiedlicher Beurteilung vorgestellt wird.104 Der Plan mit Inventarnummer 6v im Musée de l’Oeuvre Notre-Dame zeigt eine Zeichnung der Westfassade des Straßburger Münsters und auf der Rückseite einen Grundriss, dessen Übereinstimmungen mit der Disposition der Wernerkapelle in der Tat frappant sind 104 Yves Gallet, „A Medieval Ground Plan of the Wernerkapelle at Bacharach. Plan Number 6 verso in the Musée de l’Oeuvre Notre-Dame at Strasbourg”, in: Architecture, Liturgy and Identity. Liber amicorum Paul Crossley, hg. von Zoe Opacic/Achim Timmermann, Turnhout 2011, S. 147–155; Julian Hanschke, „Zwei mittelalterliche Baurisse der Wernerkapelle in Bacharach“, in: Insitu. Zeitschrift für Architekturgeschichte, III, 2011, S. 149–160.

37 Bacharach, Wernerkapelle, Grundriss, Bestand (schwarz) mit Rekonstruktion des Zustands vor der Demolierung im 17. Jahrhundert.

(Abb. 37). Ein signifikanter Unterschied ist hingegen ein auf der Zeichnung westlich angedeutetes Langhaus, denn an dieser Stelle schließt das realisierte Bauwerk mit einer Art Westbau ab. Außerdem fehlt in der Zeichnung der Haupteingang in der Nordkonche. Auf weitere Unterschiede im Detail weisen die beiden angeführten Autoren hin. Yves Gallet diskutiert den Plan kritisch und verweist auf eine Beobachtung von Roland Recht, welcher den Plan bereits 1989 entdeckte,105 aber noch nicht identifizieren konnte. Demzufolge besteht das Pergament, auf dem der Fassadenriss der Vorderseite gezeichnet wurde, aus zwei Stücken. Die Grundrisszeichnung auf der Rückseite erstreckt sich ebenfalls über beide Teile, woraus folgt, dass der Grundriss 105 Roland Recht (Hg.), Les batisseurs des cathédrales gothique, Straßburg 1989, S. 398f.

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nach dem Fassadenriss gezeichnet wurde. Da der Fassadenriss jedoch frühestens in die 1380er Jahre datiert wird,106muss die Grundrisszeichnung noch später entstanden sein, mithin 100 Jahre nach dem Baubeginn der Wernerkapelle. Der Grundriss auf dem Straßburger Plan 6 verso kann folglich keine originale Entwurfszeichnung sein. Er kann aber aufgrund der nicht unerheblichen Unterschiede auch keine Bauaufnahme eines bestehenden Gebäudes sein. Yves Gallet schlägt vor, dass es sich um eine Kopie eines älteren Plans handelt.107 Welche Beweggründe dazu geführt haben mögen, einen über hundert Jahre alten Plan, der in dieser Form nicht realisiert wurde, um 1400 in Straßburg zu kopieren, bleibt indes offen. Die Tatsache, dass der Grundrissplan sich im Besitz des Straßburger Musée de l’Oeuvre Notre-Dame befindet, kann nicht – wie bereits Yves Gallet ausführte – als Beweis dafür angeführt werden, dass der Entwurf der Wernerkapelle aus der Straßburger Münsterbauhütte stammt.108 Die Zeichnungen könnten in der gleichen Weise nach Straßburg gelangt sein, wie Pläne aus Straßburg, Köln oder Prag nach Bern, Freiburg, Nürnberg, Wien, etc. gelangten. Vielleicht kam die Straßburger Bauhütte im frühen 15. Jahrhundert in irgendeiner Weise mit älteren Plänen der Wernerkapelle in Kontakt und kopierte sie bei dieser Gelegenheit für das eigene Planarchiv, in dem sich schließlich auch Grundrisse aus Paris oder Orléans befinden.109Auf der anderen Hand kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass bereits die Entwurfszeichnungen in Straßburg entstanden. Aufgrund der komplizierten und letztlich nicht eindeutigen Indizienlage enthält sich Yves Gallet einer Zuschreibung der Bacharacher Wernerkapelle an eine bestimmte Bauhütte, wenngleich er leicht Richtung Straßburg tendiert. So weist Gallet darauf hin, dass die dreibahnigen Maßwerkfenster der Zeichnung in Straßburg geläufiger waren als in

Köln.110 Gleichwohl räumt er ein, dass die am Chor ausgeführten vierbahnigen Fenster wiederum nach Köln verweisen. Im Gegensatz dazu vertrat Julian Hanschke 2011 die Auffassung, dass die Zeichnungen beweisen würden, dass die Bacharacher Wernerkapelle von Bauleuten der Straßburger Hütte errichtet worden sei. Er ging sogar so weit, den Entwurf der Wernerkapelle dem legendären Erwin von Steinbach zuzuschreiben, der zur Zeit des Baubeginns kurz nach 1287 als Münsterbaumeister in Straßburg tätig war.111 Hanschke unterstützte seine Argumentation mit einer knappen stilkritischen Betrachtung der Südkonche der Wernerkapelle, an der er „dezidiert straßburgerisch[es]“ Formengut zu erkennen meint.112 Auf die einschlägige Literatur, die zu anderen Ergebnissen kommt, ging er leider nicht ein. Außerdem verwies Hanschke auf einen weiteren Plan, der sich heute in der Wiener Akademie der bildenden Künste befindet und Profilformen zeigt, die denjenigen in Bacharach entsprechen. Dass auf der Vorderseite des Plans ein ins frühe 15. Jahrhundert datierter Grundriss eines Treppenturms am Straßburger Münsterturm zu sehen ist, wertete Hanschke als Beweis dafür, dass auch der Weiterbau der Bacharacher Wernerkapelle im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts von der Straßburger Münsterbauhütte durchgeführt wurde und schrieb die Arbeiten dem seinerzeit tätigen Werkmeister Johannes Hültz zu.113 Offenbar nach Kenntnisnahme der Aufsätze von Recht und Gallet revidierte Hanschke bereits 2013 seine kurz zuvor publizierten Thesen, datierte den Straßburger Plan 6v stattdessen in die zweite Bauphase der Wernerkapelle nach 1429 und schrieb ihn ebenfalls, wie die Wiener Zeichnung, Hans Hültz zu.114 In Erwin Steinbach sieht er jedoch weiterhin den Entwurfsverfasser der Wernerkapelle.

106 Gallet 2011 (wie Anm. 104), S. 153f. 107 Ebd., S. 154. 108 Ebd. 109 Yves Gallet, „Le dessin n° 21 de l’Oeuvre Notre-Dame : un projet de chevet gothique pour la cathedrale des Strasbourg?“, in: Bulletin de las Société des Amis de la Cathédrale de Strasbourg, Jg. 29, 2010, S. 115–146; Otto Kletzl, „Ein Werkriss des Frauenhauses von Strassburg“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Jg. 11/12, 1938/1939.

110 Gallet 2011 (wie Anm. 104), S. 155. 111 Hanschke 2011 (wie Anm. 104), S. 157. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 154–156. 114 Johann Josef Böker/Anne-Christin Brehm/ Julian Hanschke/ Jean-Sébastien Sauvé, Architektur der Gotik. Rheinlande. Ein Bestandskatalog der mittelalterlichen Architekturzeichnungen mit einem Beitrag von Peter Völkle über die Zeichentechnik der Gotik, Salzburg 2013, S. 255–257.

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Vergleichende Formenanalyse

Welches Ergebnis bringt nun der formale Vergleich der Wernerkapelle mit den zeitgleichen Baukampagnen an den Kathedralen in Köln, Mainz und Straßburg? Bei einer ersten Betrachtung lässt sich feststellen, dass Ähnlichkeiten mit allen drei Bauwerken vorhanden sind, was die unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur erklärt. Das bedeutet aber auch, dass sich die Formen der Wernerkapelle nicht ausschließlich einer der genannten Kathedralen zuordnen lassen. Stattdessen zeigt sich hier, wie sehr sich im Reich, genauer am Rhein, die Formensprache in der gotischen Architektur zum Ende des 13. Jahrhunderts vereinheitlicht hat. Das wird umso deutlicher, wenn man sich die große Formenvarianz in der rheinischen Sakralarchitektur zu Beginn des Jahrhunderts vor Augen führt. Dem Baumeister der Bacharacher Wernerkapelle waren offensichtlich die aktuellen Entwicklungen in Köln, Mainz und Straßburg bekannt. Gleichwohl zeigt ein detaillierterer Formenver­ gleich, dass viele Details der Wernerkapelle Parallelen zum Kölner Dombau aufweisen. Nicht von ungefähr kommen daher die Studien, welche die Formen der Wernerkapelle am eingehendsten analysiert haben, nämlich Maria Geimer und vor allem Paul Crossley, zu dem Schluss, einen starken Kölner Einfluss anzunehmen.115 Dies sei an zwei Beispielen punktuell ergänzt und unterstrichen: In der Ostkonche der Bacharacher Kapelle sitzen vierbahnige Maßwerkfenster, deren Couronnements von Vierblättern im Bogenviereck bestimmt werden (Abb. 38). Die schmuckvollen, nicht allzu häufig anzutreffenden Lilien an den Bogenansätzen verraten höchsten bildhauerischen Anspruch. Außerdem ist in jedem Pass ein Kleeblattbogen in zweiter Ordnung eingeschrieben. Eine identische Couronnementfigur findet sich in einem vierbahnigen Turmfenster auf dem Kölner Domfassadenriss F (Abb. 39), der zuletzt von Marc Steinmann nachvollziehbar in das letzte Viertel des 13. Jahrhunderts datiert wurde.116 Auch der Aufbau der Lanzettbahnen in Bacharach ähnelt dem Fenster auf der Kölner Zeichnung, ohne diesem jedoch genau 115 Crossley 2007 (wie Anm. 103), S. 179; Geimer 1937 (wie Anm. 99), S. 68–76. 116 Marc Steinmann, Die Westfassade des Kölner Doms. Der mittel­ alterliche Fassadenplan F, Köln 2003 (Forschungen zum Kölner Dom, 1), S. 253–255.

38 Bacharach, Wernerkapelle, Maßwerkfenster.

39 Riss F des Kölner Doms, Detail für den Nordturm.

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40 Straßburg, Münster, Maßwerk im Bereich der Westportale.

41 Köln, Dom, Maßwerk am südlichen Chorobergaden.

zu entsprechen. Es wirkt, als hätte man den Kölner Entwurf für die schmaleren Bacharacher Fenster zusammengedrückt. Das könnte die ungewöhnliche vertikale Streckung der Vierblätter in den Couronnements der Lanzetten erklären, welche die Ostfenster der Wernerkapelle kennzeichnet: man passte einen Entwurf für ein Domfenster mittels leichter Variationen in den Couronnements der Lanzetten an die andersartigen Proportionen der Wernerkapelle an. Bei der zurückhaltenden Modernisierung der Bacharacher Peterskirche im 14. Jahrhundert, als man die alten Chorfenster durch größere ersetzte, wählte man kaum zufällig die gleiche Maßwerkfigur, also Vierblatt im Bogenviereck (Taf. 5).117

Die Figur des Dreistrahls im Couronnement der südlichen Maßwerkfenster der Wernerkapelle (Abb. 38) wird in der Literatur hingegen meist mit Straßburg in Verbindung gebracht, wo derartige Maßwerkfiguren bereits auf Höhe der Westportale an den Strebepfeilern realisiert wurden (Abb. 40). Allerdings finden sich Dreistrahle auch an den Wimpergen am Chorobergaden des Kölner Doms (Abb. 41), der zuletzt von Maren Lüpnitz aufgrund bauforscherischer Untersuchungen in das letzte Viertel des 13. Jahrhunderts datiert werden konnte.118 Die Bacharacher

117 Dem Vernehmen nach wären die gotischen Fenster bei der Renovierung in den 1990er Jahren beinahe aus einem falschen Verständnis für Denkmalpflege entfernt worden, weil man die gotischen Fenster als unpassend für einen romanischen Bau empfand, doch konnte dies von der

Landesdenkmalpflege glücklicherweise verhindert werden. Das zugrundeliegende Missverständnis, die Wertigkeit mittelalterlicher Bauwerke nach deren Stilreinheit zu beurteilen, ist methodengeschichtlich bedingt und führte vielerorts zu fragwürdigen Werturteilen über ein Gebäude oder gar falschen denkmalpflegerischen Entscheidungen (Hierzu eingehend: Horn 2017 (wie Anm. 16), besonders S. 140–158). 118 Zur Datierung des Kölner Domchors zuletzt Maren Lüpnitz, Die Chorobergeschosse des Kölner Doms. Beobachtungen zur

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Maßwerkfigur entspricht weder der Straßburger noch der Kölner Figur exakt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Kölner und den Straßburger Drei­strah­ len liegt in den Dreipässen, die wie Couronnements die Enden der Strahlen besetzen. Dieses in Straßburg fehlende Motiv trägt in Köln nicht unerheblich dazu bei, dass die Strahlen mit ihrer Maßwerkzeichnung wie Fenster aussehen. Die Couronnementfigur der dreibahnigen Südfenster der Bacharacher Wernerkapelle greift diese Gestaltung unverkennbar auf und wirkt wie eine leicht modifizierte und reduzierte Variante des Blendmaßwerks am Kölner Domchor, die wiederum den geringeren Dimensionen in Bacharach Rechnung trägt. Ferner werden in Bacharach die Dreipässe in den Zwickeln der Kölner Wimperge aufgegriffen und in Kreise eingeschrieben. Der Dreipass des unteren Zwickels wird beim Bacharacher Maßwerk vom Spitzbogen der Mittelbahn umschlossen. Dies scheint eine kluge Anpassung der Maßwerkfigur von einem Wimperg an ein Fenster zu sein. Der Chorobergaden des Kölner Doms wie auch der Fassadenriss F wurden – wie bereits dargelegt – in jüngerer Zeit in das letzte Viertel des 13. Jahrhunderts datiert. Damit liegen sie zeitlich dicht an der über Quellen erschlossenen ersten Bauperiode der Wernerkapelle in den 1290er Jahren und kämen als aktuelle Vorbilder in Frage.

Rotsandstein als Baumaterial

Hingegen weist das primäre Baumaterial der Wer­ ner­kapelle buchstäblich in eine andere Richtung. Der rote Sandstein, aus dem die Quader der Werner­ ka­pelle gehauen wurden, stammt gemäß petrographischer Untersuchung wohl aus einem Steinbruch in Miltenberg am Main,119 welcher dem Mainzer Erzstift gehörte. In großem Umfang fand der rote Sandstein beim Bau des Mainzer Doms wie auch später beim Bau des erzbischöflichen Schlosses Verwendung, so dass er heute als typisch für die Mainzer Baukunst gilt. Aus diesem Grund trug der auffällige mittelalterlichen Bauabfolge und Bautechnik, Köln 2011 (Forschungen zum Kölner Dom, 3), S. 272f. 119 Diana Holzwarth, Untersuchungen zur Bausteinverwitterung an der Wernerkapelle in Bacharach im Vergleich zu historischem Bruchsteinmaterial, unveröffentlichte Diplomarbeit, Mainz 1990.

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Miltenberger Rotsandstein sicher dazu bei, dass Teile der Literatur die Wernerkapelle mit einer Mainzer Werkstatt in Verbindung brachten.120 Tatsächlich stellt die Verwendung des roten Sandsteins beim Bau der Wernerkapelle im Mittelrheintal eine Besonderheit dar.121 Die Sakralbauten, die nur wenige Jahrzehnte vor oder nach der Kapelle errichtet worden sind, wie die Mutterkirche St. Peter in Bacharach oder die regional maßstabsetzende Liebfrauenkirche in Oberwesel,122 wurden aus dem vor Ort vorhandenen Gestein wie Schiefer und schieferiger Grauwacke gemauert. Der für die Wernerkapelle vorbildliche Kölner Dom wiederum wurde im Mittelalter vornehmlich aus Trachyt gebaut, den man am Drachenfels südlich von Bonn gewann. An anderer Stelle konnte der Autor aufzeigen, dass gestalterische und materialikonologische Gründe für die Verwendung des Miltenberger Sandsteins ausgeschlossen werden können, weil das Mauerwerk im Mittelalter verputzt und gestrichen war.123 Möglicherweise führten baukonstruktive Erwägungen zur Verwendung des Sandsteins. Die an der Wer­ner­ kapelle angewandte Quaderbauweise wäre in dem schiefrigen, vor Ort abbaubaren Bruchstein nicht realisierbar gewesen. Warum die Wahl auf den Miltenberger Rotsandstein und nicht etwa den in Köln verwandten Trachyt fiel, erklärt sich wiederum aus den natürlichen Gegebenheiten, die der Nutzung des Rheins als mitteleuropäischer Verkehrsader zugrunde liegen. Wie an anderer Stelle gezeigt, wurde Baumaterial in großen Mengen über den Rhein in das Engtal importiert, jedoch in der Hauptsache flußabwärts, die Kraft des Wassers nutzend.124

Der Trikonchos

Die beim Bau der Wernerkapelle wirksamen Transferprozesse beschränken sich nicht auf Baumaterial und -technik. In die Diskussion über die Herkunft 120 Z. B.: Crossley 2007 (wie Anm. 103), S. 179, Schütz 1982 (wie Anm. 102), S. 257, Fußnote 370; Seeliger 1962 (wie Anm. 100). 121 S. den Aufsatz des Autors zur mittelalterlichen Bautechnik am Mittelrhein in diesem Band. 122 Baubeginn 1308, s. weiter unten. 123 S. den Aufsatz des Autors zur mittelalterlichen Bautechnik am Mittelrhein in diesem Band. 124 Ebd.

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42 Marburg, Elisabethkirche, Grundriss (gestrichelt: Vorgängerbau).

des Entwurfes muss zwingend auch die spezielle Grundrissdisposition mit einbezogen werden (Abb. 37). Die signifikante Dreikonchenanlage erinnert an die 1235 begonnene Elisabethkirche in Marburg, die ebenfalls als Grabeskirche für eine Heilige konzipiert wurde (Abb. 42). Dabei machte es für viele Gläubige des 13. Jahrhunderts vermutlich keinen Unterschied, dass Elisabeth bereits wenige Jahre nach ihrem Tod 1231 offiziell heiliggesprochen wurde, wohingegen bei Werner die Kanonisierung ausblieb. Wie in Bacharach befindet sich das Heiligengrab in Marburg nicht in der Ostkonche beim Hauptaltar, sondern in einer seitlichen Konche, in diesem Fall der nördlichen. Das Grab der heiligen Elisabeth befand sich bereits vor 1235 an der heutigen Stelle, was bedeutet, dass die neue Kirche bemerkenswerterweise um das Grab herum konzipiert wurde.125 Auch dies 125 Damit erklärt sich auch, warum das Heiligengrab so auffällig von der Ausrichtung der Elisabethkirche abweicht. Vertiefend s. hierzu: Horn 2017 (wie Anm. 16), S. 162–164; Matthias Müller, Similitudo Mariae. Die bildhafte Ausgestaltung der Marburger Elisabethkirche zum locus sanctus der Marien- und Elisabethverehrung, in: Wege zum Heil. Pilger und heilige Orte an Mosel und Rhein, hg v. Thomas Frank/Michael Matheus/Sabine Reichert, Stuttgart 2009, S. 199 – 227, hier 208f.; Wolfgang Schenkluhn/Peter van Stipelen: Architektur als Zitat. Die Trierer Liebfrauenkirche in Marburg, in: Die

ist eine Parallele zur Bacharacher Wernerkapelle. Der Vorgängerbau kann zwar archäologisch nicht mehr erschlossen werden, weil die Fundamente direkt auf dem gewachsenen Felsen gegründet wurden,126 doch betonen mittelalterliche Schriftquellen, dass der gotische Neubau um das bestehende Wernergrab herum gebaut wurde.127 Eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den beiden Sakralbauten lässt sich selbst im Detail entdecken. Die Elisabethkirche weist in den Ecken zwischen den Konchen jeweils diagonal gestellte Strebepfeiler auf (Abb. 42). Diese statisch durchaus sinnvolle Maßnahme lässt sich in der gotischen Architektur nur an wenigen Bauwerken beobachten. Die Wernerkapelle ist eines davon (Abb. 37). Infolgedessen ähnelt das ondulierende Profil der östlichen Vierungspfeiler der Kapelle strukturell den Marburger Pendants.128 An den Vierungspfeilern der Bacharacher Kapelle lässt sich studieren, wie eine ältere Bauform an einem jüngeren Bauwerk adaptiert wird. Die tektonische Struktur lehnt sich eng ans Vorbild an, Details werden hingegen in zeitgenössischen Formen realisiert, wie man es ganz deutlich an der Kapitellplastik ablesen kann: Finden sich in Marburg noch Varianten der frühgotischen Knospenkapitelle, so ziert in Bacharach ein Fries aus realitätsnahem Laubwerk die Kapitellzone. Die Marburger Elisabethkirche ist 1283 nur wenige Jahre vor dem Baubeginn der Wernerkapelle geweiht worden. Bei der Suche nach einer adäquaten architektonischen Form für die Grabkapelle eines neuen Heiligen wurde man offenbar bei der gerade in Betrieb genommenen Marburger Kirche fündig, trachtete jedoch nicht danach, diese im Aufriss zu kopieren. Der Trikonchos wurde jedoch nicht erst mit der Marburger Elisabethkirche im Reich eingeführt, sondern war zu jenem Zeitpunkt bereits etabliert. Elisabethkirche. Architektur in der Geschichte, hg. v. Hans-Joachim Kunst, Kat. Ausst. 700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283–1983, Kat. 1, Marburg 1983, S. 19–53, hier S. 21–23. 126 Pia Heberer, „Die Wernerkapelle in Bacharach. Eine archäologische Untersuchung zum Abschluß der Instandsetzungsarbeiten von 1981–1996“, in: Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz, Jg. 47–51, 1992–1996 (erschienen 1999), S. 37–59, hier S. 43. 127 Horn 2017 (wie Anm. 16), S. 165. 128 Grundlegend zu ondulierenden Pfeiler: Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa 1220–1340. Von Metz bis Wien, München 2007, zur Elisabethkirche S. 36.

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43 Köln, St. Andreas, Grundriss.

Die bekannten Kölner Beispiele St. Maria im Kapitol, Groß-St. Martin und St. Aposteln zeigen, dass der Kleeblattchor geradezu als Spezialität des romanischen Kölner Kirchenbaus gelten kann. Auch die Ostpartie der Stiftskirche St. Andreas war im 13. Jahrhundert als Variante eines Trikonchos ausgebildet, bei dem die Konchen durch einen Hals von der Vierung abgesetzt wurden (Abb. 43),129 wie es auch in Bacharach bei der Ostkonche der Fall ist. Bei St. Andreas ist die Längsachse durch eine Verlängerung des Chors im 15. Jahrhundert weiter betont worden, doch lässt sich der Charakter der vormaligen Kleeblattanlage noch immer nachvollziehen. Diese sichtbare Parallele zum Grundriss der Köl­ner Andreaskirche korrespondiert auf bemer­ kens­werte Weise mit den bereits dargelegten engen historischen Verbindungen des Bacharacher Petersstifts, zu dem die Wernerkapelle gehörte, mit dem Kölner Andreasstift. Weiter oben wurde dargelegt, dass bereits beim Neubau von St. Peter in Bacharach im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts die Bezüge zur kölnischen Architektur dominierten und einige Details sogar direkt auf die Kölner Mutterkirche rekurrierten. 129 Kahle 1984 (wie Anm. 92).

Die historischen Beziehungen nach Köln

Als 1287 oder kurz danach der Neubau der Wernerkapelle beschlossen wurde, hatte sich an den engen Beziehungen des Bacharacher Petersstifts zum Kölner Andreasstift nichts geändert. Bereits das ursprüngliche Patrozinium der Wernerkapelle wies in Richtung Köln. Gemäß den Schriftquellen war die Kapelle nämlich im Mittelalter wie ihre Vorgängerin dem heiligen Kölner Bischof Kunibert geweiht.130 Erst nach der Heiligsprechung Werners im 18. Jahrhundert scheint die Bezeichnung „Wernerkapelle“ gebräuchlich worden zu sein. Historisch korrekt müsste man demnach eigentlich von einer Kunibertkapelle sprechen. Der Leichnam Werners ruhte den Quellen nach in der Südkonche der neuen Kapelle vor einem Altar, der neben dem hl. Kunibert auch dem hl. Andreas geweiht war, also dem Patron des Kölner Kirchherrn.131 Es spricht zusammengefasst vieles dafür, dass auch zum Ende des 13. Jahrhunderts wieder ein Kölner Baumeister bzw. ein Baumeister, der mit der Kölner Architektur bestens vertraut war, beauftragt

130 Noch 1428 sprechen die Zeugen im Heiligsprechungsverfahren von der „capella Sancti Cuniberti“ (Acta Sanctorum, Aprilis Tomus II, Antwerpen 1675, S. 717, 9; 720, 16; etc.). 131 Ebd., S. 715, 4.

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wurde. Die Ausgangslage hatte sich im Unterschied zum Bau der einige Jahrzehnte früher errichteten Mutterkirche St. Peter jedoch dahingehend geändert, dass sich seit der Grundsteinlegung zum Neubau des Kölner Doms 1248 ein grundlegender Wandel in der Kölner Baukunst vollzogen hatte und nunmehr die französische Kathedralgotik zum Leitbild für den Kölner Sakralbau geworden war. Angesichts der feinen und anspruchsvollen Architektur der Wernerkapelle, die sich von den im Mittelrheintal bis dato realisierten Bauten in mehrfacher Hinsicht deutlich absetzte, ist es wohl nicht allzu gewagt, einen Baumeister anzunehmen, der direkt von der Kölner Dombauhütte kam.

Die zweiphasige Baugeschichte

Warum sich der Entwurfsplan der Wernerkapelle heute im Straßburger Musée de l’Oeuvre Notre-Dame befindet, ist, wie bereits dargelegt, eine andere Frage. Unzweifelhaft ist indes, dass es sich um einen Entwurfsplan handelt, denn, neben Abweichungen im Detail, ist ein Langhaus dargestellt, das real nicht existiert. Stattdessen schließt das Gebäude nach Westen unorganisch mit einer Art Westbau samt Empore über rechteckigem Grundriss ab (Abb. 37). Bereits in der älteren Literatur wurde erkannt, dass der Westbau, der sich in den Details vom Kleeblattchor unterscheidet, aus einer zweiten Bauphase stammt. Dies unterstützt die Bautechnik: der Westbau wurde im Unterschied zum Trikonchos aus lokalem Bruchsteinmauerwerk errichtet. Nach Aloys Schmidt, der 1954 die Schriftquellen zur Baugeschichte der Wernerkapelle auswertete, schritt der Bau der Wernerkapelle kurz nach 1287 zunächst zügig voran, verlangsamte sich dann jedoch und kam im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts ganz zum Erliegen.132 Als Ursache für die Einstellung der Baukampagne wird in der schriftlichen Überlieferung eine Beschlagnahmung der Baukasse durch den Trierer Erzbischof angeführt.133 In der Einleitung der Ende der 1420er Jahre niedergeschriebenen Akten zum Heiligsprechungsprozess Werners heißt es, die Arbeiten seien wegen dieses Vorfalls um 120 Jahre zurückgeworfen 132 Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 74–76. 133 Ebd., S. 78–80.

worden.134 Das heißt, die Arbeiten wären in der ersten Dekade des 14. Jahrhunderts eingestellt worden. Bis dahin waren zweifelsohne die Süd- und die Ostkonche errichtet und eingedacht. Entgegen der Annahme Schmidts konnte Paul Crossley gute stilkritische Argumente dafür anführen, dass auch die nördliche Konche bereits im Rahmen der ersten Bauphase errichtet wurde.135 Diese Datierung konnte der Autor durch eine Untersuchung der baulichen Substanz bestätigen: Zwischen den östlichen und nördlichen Bauteilen lässt sich keine Baunaht feststellen, stattdessen setzt sich das Mauerwerk in Technik, Material und Form einheitlich fort. Dies deutet auf einen zügigen Bauverlauf hin, der relativ abrupt beendet wurde. Der bauliche Befund deckt sich also auffällig mit der schriftlichen Überlieferung, so dass nichts dagegen spricht, die zeitlichen Aussagen ernst zu nehmen. Die erste Bauphase der Wernerkapelle datiert folglich kurz nach 1287 bis in die erste Dekade des 14. Jahrhunderts, also hauptsächlich in die 1290er Jahre. Folglich stand die Kleeblattanlage Anfang des 14. Jahrhunderts weitgehend aufrecht. Die Einwölbung der Konchen erfolgte allerdings erst in den 1430er Jahren, wie Aloys Schmidt anhand der nur noch in Zeichnungen überlieferten Schlusssteine nachweisen konnte.136 Auch das Maßwerk im nordwestlichen Fenster der Ostkonche stammt gemäß seiner Figuration mit Fischblasen und Kielbogen eindeutig aus dem 15. Jahrhundert. Dieses Fenster war wohl der Grund dafür, dass die Nordkonche in der älteren Literatur fälschlich in die zweite Bauphase datiert wurde. Der Befund am Mauerwerk belegt jedoch, dass die Konche bereits in den 1290er Jahren errichtet wurde, das Fenster hingegen erst im frühen 15. Jahrhundert hinzukam. Die Wiederaufnahme der Baumaßnahmen in den 1420er Jahren geschah im Zusammenhang mit der Aufnahme eines neuen Verfahrens zur Heiligsprechung Werners, das letztlich jedoch scheiterte.137 134 Acta Sanctorum (wie Anm. 130), S. 718B: „Item quod hæc subtractio pecuniarum impediverit illius Sancti justam Canonizationem, & etiam illius ecclesiæ consummationem, per centum viginti annos & ultra usque ad nostra tempora“ 135 Crossley 2007 (wie Anm. 103), S. 172. 136 Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 80–84. 137 Erst 1761 wurde Werner offiziell in den Heiligenkalender der Diözese Trier aufgenommen, jedoch 1963 wieder daraus gestrichen.

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Die treibende Kraft hinter dem Verfahren und dem Weiterbau war der damalige Bacharacher Pfarrer Winand, der im benachbarten Dorf Steeg geboren wurde und eine beachtenswerte Karriere absolviert hatte: Bevor er – als Kanoniker des Kölner Andreasstifts wohlgemerkt – die Pfarrstelle in seiner Heimat antrat, wirkte er u. a. als Domherr in Passau, Generalvikar des Würzburger Bischofs, Professor an der Universität Würzburg, Sekretär von König Sigismund von Ungarn sowie Sekretär des päpstlichen Legaten und Kardinalbischofs Giordano Orsini, der das Verfahren und den Weiterbau der Kapelle persönlich unterstützte.138

Der ursprüngliche Langhausplan

Neben der erst jetzt vollzogenen Einwölbung, die man übrigens wie um 1290 geplant mit Kreuzrippen vollendete, wie die noch sichtbaren Gewölbeansätze verraten,139 konzentrierten sich die Baumaßnahmen um 1430 vor allem auf den westlichen Abschluss der Kapelle. Aloys Schmidt und folgende Autoren gingen davon aus, dass der nun errichtete Westbau dem ursprünglichen Plan entspräche.140 Die Untersuchungen am Objekt haben jedoch ergeben, dass der Westbau aus einer Planänderung resultiert und ursprünglich ein anderer Westabschluss geplant war. So lässt sich im heutigen, ruinösen Zustand nachvollziehen, dass die Dienste des südwestlichen Vierungspfeilers nach Westen hin abgearbeitet wurden, als man die Kreuzrippengewölbe unterhalb der Empore einzog (Abb. 44). Das beweist, dass eine Empore im ursprünglichen Plan nicht vorgesehen war. Das Gleiche gilt für die südwestliche Wand, denn sie stößt unmittelbar an eine Kehle des Vierungspfeilers an. Das heißt, der Vierungspfeiler sollte in dieser Höhe eigentlich frei stehen und hätte damit sein südöstliches Pendant gespiegelt. Folglich war westlich des südwestlichen Vierungspfeilers ein 138 Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 69–71. 139 Aloys Schmidt, der seine Baugeschichte allein auf die Schriftquellen stützt, ging fälschlicherweise von Netz- oder Sterngewölben aus, „da man in früheren Zeiten stets modern gebaut“ hätte (Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 86). Demgegenüber konnte der Autor aufzeigen, dass die bewusste Imitation alter Gewölbeformen ein geläufiges Phänomen in der mittelalterlichen Baukunst war (Horn 2017 (wie Anm. 16), S. 114–122). 140 Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 86f.

44 Bacharach, Wernerkapelle, abgearbeitete Dienste am südwestlichen Vierungspfeiler, darunter der später eingefügte Gewölbeansatz unterhalb der Westbauempore.

tiefes Maßwerkfenster analog zu den Konchen vorgesehen. Das entspräche ziemlich genau der Situation, die auf dem Straßburger Plan 6 verso dargestellt ist. Der Straßburger Grundriss liegt damit näher an einer Umsetzung, als es bisher bekannt war. Der bauforscherische Befund legt nahe, dass die erste Planung aus dem späten 13. Jahrhundert tatsächlich ein Langhaus nach Westen vorsah. Anscheinend gibt der Straßburger Plan diesen Entwurf wieder, dessen Realisation letztlich über die Vierung nicht hinauskam. Angesichts vorangegangener Ausführungen überrascht es nicht, dass der Grundriss der Wernerkapelle mit einem Langhaus noch mehr der Disposition der Marburger Elisabethkirche wie auch der Kölner Andreaskirche entsprochen hätte. Wie lang das Langhaus hätte werden s­ollte, lässt sich im Plan nicht erkennen. Zwar sind zwei Joche dargestellt, doch bleibt der westliche

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Abschluss – vielleicht mit Absicht – vage. Diese Unschärfe könnte mit der topographischen Situation zusammenhängen, denn westlich des heute stehenden Baus schiebt sich ein Felsvorsprung nach Norden, der für den Bau eines Langhauses hätte abgetragen werden müssen. Eine derart aufwändige Transformation der natürlichen Landschaft erscheint jedoch keineswegs unrealistisch, wenn man bedenkt, dass bereits für den Bau des Trikonchos ein beträchtlicher Teil des Felsens um die alte Kapelle herum abgetragen werden musste. Die archäologischen Grabungen unter Pia Heberer in den 1990er Jahren ergaben, dass das Felsplateau, auf dem sich die Wernerkapelle so malerisch über Bacharach erhebt, zum Ende des 13. Jahrhunderts künstlich angelegt wurde.141 Jedenfalls war der Aufwand für die Abtragung des Felsens nach Westen nicht der ausschlaggebende Grund für die Einstellung der Bauarbeiten nach 1300, denn die finanziellen Mittel waren schon vorher erschöpft, wie die nicht ausgeführten Gewölbe und Maßwerkfenster belegen.

Der Westbau im Kontext der pfalzgräflichen Förderung

Die Wiederaufnahme der Arbeiten 1426 geschah vor dem Hintergrund des (letztlich gescheiterten) Kanonisationsverfahrens für Werner, das der gelehrte Pfarrer Winand von Steeg initiierte.142 Nach einem neuen Plan verzichtete man auf den Bau des Langhauses, das im Rückblick vielleicht zu ambitioniert erschien, und errichtete stattdessen den Westbau mit der Empore. Die Funktion dieser Empore lässt sich nicht über Quellen belegen, doch erscheint es plausibel, diesen Gebäudeteil mit dem Pfalzgrafen Ludwig III. in Verbindung zu bringen, wie im Folgenden gezeigt wird. Die überlieferten Schriftquellen gewähren einen Einblick über die sukzessive Aneignung des Gebäudes durch den Pfalzgrafen, dessen Vorgänger seit der faktischen Übernahme der Stadtherrschaft im frühen 13. Jahrhundert kontinuierlich daran arbeiteten, den Kölner Einfluss weiter zurückzudrängen.143 So 141 Heberer 1999 (wie Anm. 126), S. 43. 142 S. weiter oben. 143 Matthias Schmandt wies darauf hin, dass der Pfalzgraf bereits bei der Etablierung des Werner-Kults Ende des 13. Jahrhunderts eine aktive Rolle spielte (Schmandt 2012 (wie Anm.

gelang es dem Pfalzgrafen Ludwig III. 1418 gegenüber dem Andreasstift durchzusetzen, dass kein Pfarrer in St. Peter ohne seine Zustimmung eingesetzt würde.144 Rund zehn Jahre später wird Ludwig III. in den Prozessakten ausdrücklich als Förderer der Wernerkapelle genannt.145 In einem der nur noch zeichnerisch überlieferten Gewölbeschlusssteine war denn auch das Wappen des pfälzischen Kurfürsten zu sehen, in anderen Jochen, gemäß der Quelle, das Wappen von Kurtrier, also des zuständigen Erzbischofs, sowie das Wappen von Kurköln, des ehemaligen Stadtherrn und Vorgesetzten des Kirchherrn St. Andreas.146 Der gestiegene Einfluss des Pfalzgrafen über die Wernerkapelle dokumentiert sich schließlich in der gravierenden Planänderung für den Memorialbau. Der Zweck des Westbaus, der anstelle des vorgesehenen Langhauses erbaut wurde, erschließt sich primär über die Empore im Inneren, die als Loge für den Pfalzgrafen Ludwig III. und seine Gemahlin Mathilde von Savoyen erklärt werden kann, welche gemäß den Quellen die Kapelle zu Füßen ihrer Burg Stahlleck häufig aufsuchten.147 Burg Stahleck oberhalb von Bacharach zählte seit dem 12. Jahrhundert zu den Residenzen der Pfalzgrafen (Abb. 45). Angesichts der Lage des (vermeintlichen) Märtyrergrabs zu Füßen der gräflichen Burg mag eine Vereinnahmung der Kapelle durch die Pfalzgrafen, die ohnehin nach dem Ausbau ihrer Macht in Bacharach strebten, nicht verwundern. Diese Situation erinnert an St. Goar, wo die Grafen von Katzenelnbogen nach dem Bau ihrer Burg Rheinfels danach strebten, die Stiftskirche St. Goar mit dem Grab des Heiligen ihrem Machtbereich einzuverleiben.148 Wie geschildert reagierte der Trierer Erzbischof, in dessen Diözese sowohl St. Goar als auch

96)). Angesichts der (insbesondere auch ökonomischen) Vorteile eines neuen Wallfahrtsorts im kurfürstlichen Einflussbereich, mag dies kaum überraschen: in mittelalterlichen Quellen wird die Zahl der Wallfahrer mit einigen tausend pro Jahr taxiert (Schmidt 1954 (wie Anm. 95, S. 85). 144 Friedrich Ludwig Wagner, „Das frühe Kirchenwesen in den Viertälern von Bacharach“, in: Bacharach und die Geschichte der Viertälerorte Bacharach, Steeg, Diebach und Manubach, hg. von dems., Bacharach 1996, S. 197–208, hier S. 201. 145 Acta Sanctorum (wie Anm. 130), S. 714E. 146 Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 80–84. 147 Ebd., S. 82. 148 S. oben.

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Resümee

45 Bacharach, Burg Stahleck oberhalb St. Peter und der Wernerkapelle.

Bacharach lagen, mit einer Translokation der Gebeine des heiligen Goar nach Karden. Auch in diesem Punkt lässt sich eine gewisse Parallele zur Überlieferung in Bacharach erkennen, wo der Bau der Kapelle im ersten Jahrhundert abrupt ins Stocken kam, weil der Trierer Erzbischof die Baukasse beschlagnahmt hätte. Das Beispiel der Bacharacher Wernerkapelle zeigt demnach auch, wie sich die politische und soziale Vereinnahmung von Gebäuden im Laufe der Geschichte verändern kann. Schließlich lassen die Prozessakten auch die Einbindung der Bacharacher Patrizier erahnen. Darin wird der Bacharacher Ratsherr Altmann Bettendorfer genannt, zugleich Oberkämmerer des Pfalzgrafen, welcher als Fabrikmeister der Wernerkapelle den Weiterbau betreute.149 149 Schmidt 1954 (wie Anm. 95), S. 84.

Der Neubau der Bacharacher Kapelle St. Kunibert, wo der als Märtyrer verehrte Knabe Werner nach seiner Ermordung beigesetzt wurde, begann bald nach 1287 und setzte in Form und Technik neue Maßstäbe im Mittelrheintal. Bereits 1293 konnte der Altar in der Südkonche, vor dem das Grabmal stand, eingeweiht werden. Der zunächst zügig voranschreitende Bau kommt allerdings in der ersten Dekade des 14. Jahrhunderts zum Erliegen. Zu jenem Zeitpunkt stand der Trikonchos weitgehend aufrecht; es fehlten noch die Gewölbe und teils die Maßwerkfenster. Nach Westen wurde der Bau über die Vierung hinaus nicht fortgeführt. Im Straßburger Museé de l’ouevre Notre Dame befindet sich eine Entwurfszeichnung für den Grundriss der Kapelle, bei der es sich allem Anschein nach um eine nach 1380 erstellte Kopie handelt. Der Plan deutet nach Westen ein Langhaus an, das nachweislich der baulichen Befunde anfangs tatsächlich geplant gewesen ist. Dieser Plan wurde bei der Wiederaufnahme der Bauarbeiten um 1426 verworfen und stattdessen ein Westbau mit Empore errichtet, der nach Indizienlage als Loge für den Pfalzgrafen Ludwig III. und seine Frau diente, welche den Weiterbau förderten. Über die viel diskutierte Herkunft des Baumeisters der Wernerkapelle sagt der Plan hingegen wenig aus. Die Formen und Techniken, in denen die Kapelle ausgeführt wurde, belegen, dass er mit den großen Kathedralbauhütten in Köln, Mainz und Straßburg vertraut gewesen sein muss. Gebaut wurde in der repräsentativsten und anspruchsvollsten Architektursprache der Zeit, der Kathedralgotik. Detaillierte Formenanalysen weisen jedoch in erster Linie den Kölner Dom als Vorbild aus. Das heißt jedoch nicht, dass ein explizit „Kölner Stil“ erkennbar wäre. Referenzen zum Kölner Dom finden sich eher im Detail und auch dann in Variation. Das auffällige Material, der rote Miltenberger Sandstein, der aus einem Steinbruch des Mainzer Erzstifts stammt, liefert ebenfalls keinen Hinweis auf die Herkunft der Architektur. Vielmehr scheinen bautechnische und transportökonomische Gründe für die Wahl des Steins entscheidend gewesen zu sein. Einige Details, vor allem aber das Grundrisskonzept mit dem Kleeblattchor, erinnern an die Grabeskirche der hl. Elisabeth in Marburg, die nur wenige

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Die Kirchen in Oberwesel Die Liebfrauenkirche Verzicht als Gestaltungsprinzip

46 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Grundriss.

Jahre vor dem Beginn der Bauarbeiten in Bacharach geweiht worden ist und wohl als architekturikonographisches Vorbild für einen um ein Heiligengrab errichteten Sakralbau diente. Eine architekturgeschichtliche Tradition haben Kleeblattanlagen wiederum in Köln, wo auch die Stiftskirche St. Andreas im 13. Jahrhundert über eine vergleichbare Grundrissdisposition verfügte. Dies ist insofern interessant, weil das Kölner Andreasstift die Patronats­rechte am Bacharacher Petersstift, zu dem die Wernerkapelle gehörte, besaß und der Bacharacher Pfarrer aus dem Kreis der Kölner Stiftsherrn bestimmt wurde. Diese engen historischen und personalen Verbindungen zwischen Köln und Bacharach legen zusammengenommen mit dem Grundriss in Kölner Tradition und die auf den Kölner Dom verweisenden Bauformen nahe, dass der Baumeister der Wernerkapelle aus einem Kölner Umfeld, vermutlich der Dombauhütte, rekrutiert wurde. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bacharacher Kapelle eine rein Kölnische Architektur wäre. Bezüge zur Marburger Elisabethkirche sind, wie dargelegt, nicht zu übersehen. Darüber hinaus zeigt sich beim Formenvergleich der Bacharacher Kapelle mit den großen Kathedralen am Rhein, wie sehr sich deren Architektursprache im Laufe des 13. Jahrhunderts angenähert hat, ein Beweis für den engen Austausch zwischen den Baustellen am Rhein.

Neben der Wernerkapelle gilt die seit 1308 neuerbaute Liebfrauenkirche in Oberwesel als herausragender gotischer Kirchenbau im Mittelrheintal (Taf. 32).150 Mit ihrer architektonischen Sprache schließt die Liebfrauenkirche aber nicht an das filigrane und elaborierte Formenvokabular der Wernerkapelle an, sondern zeichnet sich durch eine im Folgenden noch ikonologisch und historisch zu diskutierende monumentale Schlichtheit aus, die dennoch, oder gerade deshalb, eine repräsentative Wirkung erzielt. Diese Wirkung wird in erster Linie durch den weitgehenden Verzicht auf dekorative oder gliedernde Elemente an den Außenwänden der Basilika erzielt, womit die Liebfrauenkirche ästhetisch eine Art Gegenpol zur rund hundert Jahre älteren Severuskirche in Boppard darstellt. Die Wände des Mittelschiffs werden allein durch einen gleichmäßigen Rhythmus von Lanzettfenstern mit Maßwerk strukturiert, an den Seitenschiffen treten noch Portale hinzu. Auffällig ist, dass sogar die üblichen konstruktiven Elemente fehlen. Um diese Wirkung zu erzielen, verlegte man die für einen Gewölbebau obligatorischen Strebepfeiler eigens nach innen (Abb. 46).151 Auch der Innenraum ist im Vergleich zu anderen Bauwerken der Zeit von einer monumentalen Schlichtheit mit repräsentativer Wirkung gekennzeichnet (Taf. 34). Lediglich einfache, wuchtige Wandvorlagen – die innenliegenden Strebepfeiler – gliedern die Obergadenwand des Mittelschiffs. Der Dekor ist auf das Maßwerk der Fenster beschränkt. Die vierteiligen Kreuzrippengewölbe setzen erst auf Höhe des Obergadens an, wo sie auf Konsolen fußen. Auf ein Dienstsystem wurde im Langhaus komplett verzichtet. Nur im Chorpolygon laufen Dienste von Basen aus zum Gewölbe hoch, wo sie fließend in die 150 Grundlegend zur Baugeschichte von Liebfrauen: Eduard Sebald, „Die Liebfrauenkirche in Oberwesel. Ein Kirchenbau zwischen historischen Bauforschung und historischer Forschung“, in: architectura, Jg. 39, 2009, S. 159–170; Ders., Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Stadt Oberwesel, Bd. 1, Berlin 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9), S. 102–429. 151 S. auch den Beitrag des Autors zur Bautechnik am Mittel­ rhein in diesem Band.

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47 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Maßwerkfenster im südlichen Seitenschiff.

48 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Maßwerkfenster im südlichen Obergaden, Turmjoch.

Rippen überlaufen. Der Dienstapparat wurde demnach gestalterisch gezielt eingesetzt, um den vornehmsten Teil der Kirche hervorzuheben.

sich ein stehender Vierpass, der von zwei gedrehten Dreipassbögen gestützt wird (Abb. 48). Darunter wird das Motiv der drei Lanzettbahnen aufgegriffen, allerdings die seitlichen Bahnen zu Kielbögen gestaucht. Im östlichen und südöstlichen Chorfenster wird das Grundmuster aufgegriffen und um weitere Elemente und kunstvolle Figuren wie Dreistrahl und Segmentbögen bereichert sowie am nördlichen, wohl jüngsten Chorfenster mit Fischblasen variiert. Trotz des Verzichts auf Dekor und Gliederungen des Mauerwerks wird das Bauwerk folglich mittels der Maßwerkformen subtil hierarchisiert, von unten nach oben und von Westen nach Osten. Hierbei kommen mit den gestaffelten Lanzettbögen auch denkbar einfache Maßwerkformen zum Einsatz, die den Willen zur Schlichtheit selbst im Dekor erkennbar machen.

Das Maßwerk

Auch das Maßwerk, welches einem seriellen Muster folgt, fällt vergleichsweise zurückhaltend aus. Ganz evident ist das bei den Seitenschiffsfenstern, deren Maßwerk kein Couronnement aufweist, sondern lediglich aus drei schlichten, genasten Lanzettbahnen gebildet wird (Abb. 47). Allein im Bereich des südlichen Nebenchors tritt nach Süden ein einfacher Kreis, nach Osten ein Kreis mit stehendem Sechspass im Couronnement hinzu und markiert somit den liturgisch wichtigen Bereich. Die Obergaden des Mittelschiffs weisen im Sinne einer Steigerung eine kompliziertere Grundform auf: Im Couronnement befindet

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Der Grundriss

Die Kirche wurde mit basilikalem Querschnitt über drei Schiffen errichtet (Abb. 46). Ein Querhaus gibt es nicht, alle Schiffe gehen ohne bauliche Zäsur gleitend in einen Chorbereich über, der jeweils von einer polygonalen Apsis mit fünf Seiten eines Achtecks geschlossen wird. In den Seitenschiffen vervollständigt ein Joch, im Mittelschiff zwei Joche den Chorbereich. Separiert werden die Chöre von Wänden, die in der Flucht der Mittelschiffspfeiler stehen. Da sich der Hauptchor über den übrigen Baukörper hinaus nach Osten erstreckt, ist das Polygon von außen klar ablesbar. Die polygonalen Seitenchorschlüsse sind hingegen einer rechteckigen Außenkontur eingeschrieben und somit von außen nicht erkennbar. Diese Konzeption trägt zum reduzierten Erscheinungsbild des Außenbaus bei, dessen Ostansicht sich somit auf den Hauptchor konzentriert. An nur drei Mittelschiffsjoche schließt ein stattlicher Turm an, der von den beiden Seitenschiffen eingefasst wird. Auf diese Weise gelang es, den unteren Teil des Turms mit dem Langhaus zu verschleifen, was als weitere Maßnahme zur Reduzierung der äußeren Baugestalt verstanden werden kann. Oberhalb der Traufe entfaltet der Turm hingegen eine wuchtige Eigenpräsenz.

Die Minoritenkirche zu Oberwesel Die Minoritenkirche als Referenzbau für Liebfrauen

Sucht man nach Vorbildern für die schlichte Gestaltung des Kirchenbaus, so wird man weniger bei den rheinischen Kathedralen fündig, die den Bau der Wernerkapelle in Bacharach inspirierten, als vielmehr bei den Kirchen der Mönchsorden, vor allem der Bettelorden, die im 13. Jahrhundert nicht nur eine neue Form der Religiosität schafften, sondern ihrem Ansinnen auch mit einer asketischen Architektursprache sichtbaren Ausdruck verliehen.152 Die Franziskanerkirchen beispielsweise in Köln, Koblenz 152 Grundlegend zur Architektur der Bettelorden: Wolfgang Schenkluhn, Architektur der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa, Darmstadt 2000; Ders., Ordines studentes. Aspekte zur Kirchenarchitektur der Dominikaner und Franziskaner im 13. Jahrhundert, Berlin 1985; zur Ordensbaukunst allgemein: Günter Binding/Matthias Untermann, Kleine Kunstgeschichte der mittelalterlichen Ordensbaukunst in Deutschland, Darmstadt 1985.

oder Straßburg zeichneten sich durch eine einfache Konzeption und weitgehenden Verzicht auf Dekor aus. Auch die Disposition der Grundrisse weist Parallelen auf, etwa der Verzicht auf Querhäuser oder die in den Chor übergehenden Mittelschiffe (Abb. 49). Das beste Vergleichsbeispiel liegt jedoch viel näher: Der Überlieferung nach gründeten 1242 Mitglieder des lokal ansässigen Adelsgeschlechts von Schönburg ein Franziskanerkloster in Oberwesel (Taf. 40).153 Wann mit dem Bau der zugehörigen Klosterkirche Hl. Kreuz begonnen wurde, ist derzeit unklar. In der überschaubaren kunsthistorischen Literatur wird aus stilgeschichtlichen Gründen ein Baubeginn um 1280 vorgeschlagen.154 Es klingt jedoch recht unwahrscheinlich, dass die Franziskaner erst 40 Jahre nach Ankunft in Oberwesel mit dem Bau ihrer Kirche begonnen haben sollen. Tatsächlich entpuppt sich die stilgeschichtliche Datierung um 1280 bei einer Überprüfung der Argumente eher als grobe Einordnung mit vielen Fragezeichen.155 Es spricht nichts dagegen, dass mit einem Bau der Kirche bereits früher, spätestens in den 1260er Jahren begonnen wurde. In diesem Zusammenhang interessant, jedoch ebenso wenig belastbar, ist die Jahreszahl 1262, die im 153 Konrad Eubel, Geschichte der kölnischen Minoriten-Ordensprovinz, Köln 1906 (Veröffentlichungen des historischen Vereins für den Niederrhein, 1), S. 241. 154 Patrick Ostermann, „Ehem. Klosterkirche Hl. Kreuz“, in: Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Stadt Oberwesel, München 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9), S. 637–646, hier S. 638; Ernst Coester, „Die Franziskanerkirchen in Oberwesel und Münster/Westf. und ihre stilistische Verwandtschaft mit Kirchen des Lahngebietes. Ein Beitrag zur Bettelordensbaukunst im Rheinland“, in: Kunst und Kultur am Mittelrhein. Festschrift für Fritz Arens zum 70. Geburtstag, hg. von Joachim Glatz,/Norbert Suhr, Worms 1982, S. 33–39, hier: S. 38. 155 Ernst Coester datiert den Chor der Oberweseler Minoritenkirche in Abhängigkeit von der Prämonstratenserinnenkirche in Altenberg bei Wetzlar, die „ab etwa 1251“ errichtet wurde (Coester 1982 (wie Anm. 154), S. 36–38) und unzweifelhaft Parallelen aufweist. Allein die ähnliche Form einiger Strebepfeiler (ein Element, das sich naturgemäß nur bedingt für stilistische Vergleiche eignet) veranlasst Coester dazu, die Oberweseler Kirche in Nachfolge des Langhauses der Altenberger Ordenskirche zu sehen, dessen Datierung in „die siebziger bis achtziger Jahre des 13. Jahrhunderts“ er unkritisch aus einer ungedruckten Dissertation von 1959 übernimmt. Die Datierung der Minoritenkirche um 1280 resultiert schließlich aus Coesters willkürlicher Schätzung für die Dauer des Formentransfers von Altenberg nach Oberwesel – in seiner Argumentation zehn bis zwanzig Jahre.

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49 Grundrisse von Bettelordenskirchen.

Kreuzgang „an der Südwand des Ostflügels (offenbar nachträglich […] aufgemalt)“156 wurde. Ein sicheres Datum liefert erst eine Urkunde von 1305, in der eine Stiftung zu Ehren zweier Altäre in der Kirche genannt wird.157 Zu jenem Zeitpunkt muss die Kirche folglich bereits in Betrieb gewesen sein, doch kann eine Weihe auch viele Jahre zuvor erfolgt sein. In diesem Untersuchungsrahmen ist wesentlich, dass der Bau der Minoritenkirche in Oberwesel dem Neubau der Liebfrauenkirche quasi unmittelbar voranging. Heute ist diese Oberweseler Minoriten­kir­che nur noch als Ruine erhalten (Taf. 40). Zu­sam­men­ genommen mit überlieferten Planzeichnungen (Abb. 50) erlauben es die baulichen Relikte jedoch, ein hinreichend klares Bild der Minoritenkirche zu zeichnen, das zahlreiche Parallelen zur jüngeren Liebfrauenkirche erkennen lässt. Der zweischiffige Grundriss der Minoritenkirche ist so konzipiert, 156 Ostermann 1997 (wie Anm. 154), S. 633. 157 Ebd.

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50 Oberwesel, Minoritenkirche, Grundriss, Plan um 1800(?).

dass das Mittelschiff ohne bauliche Zäsur in den Chorbereich übergeht, der sich als Langchor an das Langhaus anschließt und von einem 5/8-Polygon geschlossen wird. Diese Kennzeichen treffen alle auch auf Liebfrauen zu. Auffällig im Vergleich der beiden Grundrisse sind die Ostabschlüsse der Seitenschiffe. Die komplizierte Disposition der Liebfrauenkirche, wo die Seitenschiffe in Apsiden enden, von außen jedoch nur ein gerader Wandabschluss erkennbar ist, ließe sich von der Minoritenkirche herleiten, wo das Seitenschiff unvermittelt mit einem geraden Schluss endet: Die Ostpartie von Liebfrauen greift das bescheidene Außenbild der Minoritenkirche auf, sucht aber im Innenraum einen repräsentativeren Abschluss. Auch prägende konstruktive und gestalterische Aspekte der Liebfrauenkirche wurden bereits in der Minoritenkirche vorgezeichnet. Beiden Kirchen gemeinsam ist der weitgehende Verzicht auf ein Gliederungssystem im Innenraum, der in einem Verzicht auf einen Dienstapparat gipfelt, so dass die Gewölbe

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51 Oberwesel, Minoritenkirche, Gewölbekonsole im Mittelschiff.

52 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Gewölbekonsole im südlichen Seitenschiff.

auf (formal unterschiedlichen) Konsolen fußen (Abb. 51, 52). Auffällig im Grundriss der Minoritenkirche sind außerdem die quadratischen Langhauspfeiler, die gegenüber der Hauptachse um 45° gedreht errichtet wurden, so dass die Ecken zueinander und in die Schiffe weisen. In der Liebfrauenkirche weisen die Ecken der Arkadenpfeiler ebenso aufeinander; zum Mittelschiff hin liegen jedoch die rechtwinklig zur Hauptachse orientierten Strebepfeiler vor den Arkadenpfeilern. Wohl im Bemühen um Synchronisation führte man die Arkadenpfeiler zu den Seitenschiffen hin ebenfalls parallel zu den Wänden aus. Die merkwürdige Form der Langhauspfeiler von Liebfrauen – ein Sechseck, das mit einem Rechteck verschliffen wurde, erklärt sich somit aus einer Übernahme eines Charakteristikums der Minoritenkirche, das allerdings an die Besonderheiten von Liebfrauen, nämlich die innenliegenden Strebepfeiler, angepasst werden musste. Im Resultat überlagern sich dort zwei Konstruktionsprinzipien, für deren Kombination Kompromisse eingegangen werden mussten.

Interessanterweise lassen sich auch die innenliegenden Strebepfeiler in Liebfrauen von der Minoritenkirche herleiten.158 Dort sind am Außenbau nur am Langchor Strebepfeiler vorhanden, wohingegen diese am Langhaus gänzlich fehlen (Abb. 50). Die asketisch wirkende Ansicht erzeugte der Baumeister der Minoritenkirche, indem er die Strebepfeiler des Seitenschiffs in den Innenraum legte, allerdings auf einen hohen durchlaufenden Sockel gestellt. Im Mittelschiff war eine vertikale Gliederung mittels Strebepfeilern, wohl aufgrund der beabsichtigten Nüchternheit, offenbar nicht gewünscht. Somit musste dort die Wandstärke beträchtlich erhöht werden, um den Gewölbeschub aufnehmen zu können. Im Grundriss ist deutlich erkennbar, dass die nördliche Außenwand dicker als die südliche auf Höhe der Strebepfeiler ausgeführt wurde. An der südlichen Außenwand des Chores sowie am Chorpolygon operierte 158 Zu innenliegenden Strebepfeilern s. auch den Beitrag des Autors zur Bautechnik am Mittelrhein in diesem Band.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

der Baumeister hingegen mit äußeren Strebepfeilern. Der Verzicht auf Strebepfeiler im Mittelschiff hatte die Konsequenz, dass die südliche Mittelschiffswand stärker ausgeführt werden musste, als die südliche Chorwand. Im Grundriss ist der Übergang zwischen den Wandstärken an der östlichen Arkade ablesbar, die sich zum Chor hin verschmälert. Der Baumeister von Liebfrauen griff die Idee einer Ansicht ohne Strebepfeiler auf und übertraf in der äußerst konsequenten Umsetzung das Vorbild. Das war schon deshalb kühn, weil die Liebfrauenkirche um einiges größer als die Minoritenkirche dimensioniert wurde und somit höhere Schubkräfte von den Gewölben abgetragen werden mussten. Gemeistert wurde die Aufgabe durch die bereits beschriebene Anlage von Strebepfeilern auch im Mittelschiff, sowie die Ausführung der Chorwände in erhöhter Mauerstärke, deren Dimension im Grundriss relativ zu den Seitenschiffswänden klar wird (Abb. 46). Auf diese Weise gelang es, in der Außenansicht gänzlich auf Strebepfeiler zu verzichten (Taf. 32).

Die Konkurrenz zwischen dem Franziskanerorden und den Oberweseler Stiften

Es lässt sich resümieren, dass der Bau der Liebfrauenkirche offensichtlich die naheliegende Minoritenkirche zum Vorbild nahm und diese zu übertreffen suchte, in der Größe, aber auch in der gestalterischen Konsequenz. Die architektonische Konkurrenz korreliert mit der historischen Konkurrenz, die zwischen den kirchlichen Institutionen entstand, seit die Franziskaner in den 1240er Jahren als neuer Akteur in Oberwesel in Erscheinung traten. Die anfängliche Schärfe des Konflikts verdeutlichen Schriftquellen von 1264/1266, denen zufolge der Bischof von Metz im Auftrag des Papstes den Pfarrern der beiden Oberweseler Kirchen Liebfrauen und St. Martin die Exkommunikation androhte, weil diese die Tätigkeit der Franziskaner vor Ort massiv behinderten.159 Demnach hätten die Oberweseler Kleriker ihren Gemeindemitgliedern untersagt, Predigten der Bettelmönche zu besuchen, ihnen Almosen oder Hilfe zukommen zu lassen oder bei den Franziskanern die Beichte abzulegen. 159 Eubel 1906 (wie Anm. 153), S. 241.

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Die beiden etablierten Stifte Liebfrauen und St. Martin sorgten sich offenbar um einen partiellen Verlust ihres Einflusses auf die Gemeinde und sahen ihre etablierte Stellung in Oberwesel gefährdet. Besonders beunruhigt haben musste die alten Oberweseler Stifte die zwischenzeitige Hinwendung der Herren von Schönburg zu den Franziskanern. Dieses in Oberwesel ansässige Adelsgeschlecht hatte die Patronatsrechte an St. Martin inne und stellte zahlreiche Kanoniker in beiden Oberweseler Stiften.160 Seit den 1240er Jahren förderten die Herren der Schönburg jedoch die Ansiedlung des Franziskanerordens vor Ort und nutzten die Oberweseler Minoritenkirche zwischenzeitig sogar als dynastische Grablege.161 Für die spätere Zeit ist hingegen eine Grablege der Schönburger auch für das nördliche Seitenschiff der Liebfrauenkirche nachgewiesen.162 Es spricht demnach viel dafür, dass das Auftreten der Franziskaner in Oberwesel den Ausschlag für einen Neubau der Liebfrauenkirche gab. Der Neubau wäre in diesem Zusammenhang nicht nur als Reaktion auf den neuen Akteur in Oberwesel, den Franziskanerorden, zu verstehen, sondern auch als Auseinandersetzung mit dessen theologischen und liturgischen Konzepten. Schließlich baute man zwar eine prächtigere Kirche als die Minoriten, doch adaptierte man offensichtlich deren architektonische Konzeption bis in bautechnische Details hinein. Das weist darauf hin, dass interne Abläufe in der Stiftskirche an Abläufe in der Minoritenkirche zumindest angeglichen wurden. Es erscheint darüber hinaus nachvollziehbar, dass das Liebfrauenstift als klerikale Gemeinschaft sich an der Architektur des konkurrierenden Bettelordens orientierte und nicht an der Architektur der Bacharacher Wernerkapelle, die als Grablege eines Heiligen konzipiert wurde. Wirkt die feine und filigrane Formensprache der Wernerkapelle für ein Heiligengrab und Wallfahrtsort angemessen, so entspricht die schlichte, aber doch repräsentative Architektur der Oberweseler Liebfrauenkirche den 160 Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 270f. (Grablege), 368–413 (Personallisten Liebfrauen), 450–453 (Patronatsrechte St. Martin), 484–508 (Personallisten St. Martin). 161 Eubel 1906 (wie Anm. 153), S. 245. 162 Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 270f. Das älteste erhaltene Grabmal entstand nach der Mitte des 14. Jahrhunderts, die meisten übrigen datieren in das 16. und 17. Jahrhundert.

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Anforderungen einer etablierten Stiftsgemeinschaft, die sich gegenüber einem neuen Bettelorden vor Ort behaupten muss.

Die Frage nach der Auftraggeberschaft von Liebfrauen

Damit ist der Anlass für einen Neubau der Liebfrauenkirche zwar hinreichend deutlich geworden, doch verwundert die Größe der Kirche sowie die Qualität ihrer Architektur und besonders auch ihrer kostbaren Ausstattung in Anbetracht der Tatsache, dass eigentlich St. Martin die für die Stadt zuständige Pfarrkirche war, wohingegen Liebfrauen außerhalb der Stadtmauern lag.163 Zudem wies Ferdinand Pauly darauf hin, dass das Martinsstift vom Rang her über dem Liebfrauenstift gestanden haben müsste.164 Auch will man den Kirchherren von Liebfrauen einen derart ambitionierten und kostspieligen Neubau kaum zutrauen; die Patronatsrechte und die damit verbundene Bauträgerschaft lagen bei den im Hunsrück ansässigen Ritterfamilien von Milewald und von Walebach, letztere wurden spätestens 1339 von den rechtsrheinischen Frey von Pfaffenau abgelöst.165 Die ortsansässigen Herren von Schönburg waren zwar u. a. über Kanonikate mit dem Liebfrauenstift verbunden, viel stärker aber engagierten sie sich im 13. und 14. Jahrhundert im Martinsstift, für dessen Kirche sie schließlich die Patronatsrechte innehatten, und, wie beschrieben, das von ihnen gegründete Minoritenkloster. Insofern ist in der Literatur schon länger vermutet worden, dass ein weiterer, potenter Akteur in den Neubau der Liebfrauenkirche involviert gewesen sein muss. Die historischen Hintergründe verweisen auf den Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg, einen der mächtigsten Reichsfürsten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, denn dieser übernahm 1309 de facto die Stadtherrschaft über die bis dato freien Reichsstädte Oberwesel und auch Boppard. Franz Ronig sah in der Oberweseler Liebfrauenkirche 163 Sebald 1997 (wie Anm. 150), S. 477; Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 283. Auch nachdem die Liebfrauenkirche im 15. Jahrhundert in die erweiterte Stadtummauerung mit einbezogen wird, bleibt die Bezeichnung extra muros bis ins 18. Jahrhundert hinein geläufig. 164 Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 283–287. 165 Ebd., S. 330–334.

infolgedessen sogar den „Höhepunkt des Balduinischen Kirchenbaus“166. Eine Beteiligung Balduins lässt sich jedoch nicht eindeutig nachweisen, mithin erst recht nicht der Umfang feststellen, und wurde deshalb in der Literatur kontrovers diskutiert. Während sich zuletzt Eduard Sebald, auch mit Blick auf neue dendrochronologische Untersuchungen, nachdrücklich für eine tragende Rolle Balduins aussprach,167 hat Eduard Nikitsch eine Beteiligung Balduins nicht bloß negiert, sondern den Bau der Liebfrauenkirche sogar als Zeichen der Bürgerschaft gegen den Trierer Erzbischof interpretiert.168 Welche Argumente lassen sich also für oder gegen eine Beteiligung Balduins anführen? Zunächst sei noch einmal auf die eingangs dargelegte Problematik verwiesen, dass der Neubau der Liebfrauenkirche in der ausgeführten beträchtlichen Dimension, Qualität und Ausstattung gerade in Relation zur Martinskirche erklärungsbedürftig und ohne Unterstützung von außen kaum vorstellbar ist. Der inschriftlich überlieferte Baubeginn 1308 liegt so auffallend nah an der Herrschaftsübernahme Balduins 1309, dass es auf der Hand liegt, die beiden Ereignisse in einen Zusammenhang zustellen.169 Balduin von Luxemburg wäre ein politisch schwergewichtiger Akteur, der über die Mittel und Möglichkeiten verfügte, den Bau der Liebfrauenkirche in der realisierten Größenordnung wie auch auf dem umgesetzten Anspruchsniveau zu fördern. 166 Franz Ronig, „Kunst unter Balduin von Luxemburg“, in: Balduin von Luxemburg, hg. v. Franz-Josef Heyen, Mainz 1985 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 53), S. 489–558, hier S. 498f. 167 Sebald 2009 (wie Anm. 150), S. 166f; Ders., „Die Kirche und ihre Erstausstattung. Kunsthistorische Zusammenhänge“, in: Die Liebfrauenkirche in Oberwesel, Worms 2002 (Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Forschungsberichte, 6), S. 9–28, hier S. 25f; Ders. 1997 (wie Anm. 150), S. 174–177; jeweils mit Hinweisen auf ältere Literatur, die eine Beteiligung Balduins favorisiert. 168 Eberhard J. Nikitsch, „Ein Kirchenbau zwischen Bischof und Stadtgemeinde. Zur Bauinschrift 1308“, in: Die Liebfrauenkirche in Oberwesel, Worms 2002 (Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Forschungsberichte, 6), S. 133–142; mit Hinweisen auf ältere Literatur, die einer Beteiligung Balduins skeptisch gegenübersteht. 169 Vielleicht ist es nur ein Zufall, doch fällt es auf, dass der Bau der Liebfrauenkirche recht genau dann einsetzte, als der Bau an der Bacharacher Wernerkapelle eingestellt wurde, weil der Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg die Baukasse beschlagnahmt hätte.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

1339 griff Balduin von Luxemburg nachweislich in die Belange des Oberweseler Liebfrauenstifts ein, indem er neue Statuten erließ, die dem Trierer Erzbischof u. a. durch die Ernennung des Dekans einen größeren Einfluss auf das Stift sicherten.170 Interessanterweise korrespondiert dieses Datum wiederum mit der Baugeschichte der Kirche. Eduard Sebald konnte mit Hilfe dendrochronologischer Daten nachweisen, dass der Neubau der Liebfrauenkirche um 1320 ins Stocken geriet und eine längere Pause folgte, in der die – mit dem Bauverlauf folglich nicht in Bezug stehende – Weihe 1331 erfolgte.171 „Frühstens in der zweiten Hälfte der 1330er Jahre“172 kam es zu einer Wiederaufnahme der Bauarbeiten in verstärktem Umfang. Auch die prachtvolle Ausstattung der Kirche erfolgte offenbar im Rahmen dieser Bauphase in den 1340er Jahren – also unmittelbar nach der Neuordnung des Stifts durch Balduin von Luxemburg.173 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Dekan und Kapitel des Liebfrauenstifts 1339 eine Memoria für Erzbischof Balduin stifteten.174 In der entsprechenden Urkunde heißt es, er habe der „­Kirche vielfältige Wohltaten erwiesen“ und „Schäden wiedergutgemacht“.175 Die Einrichtung einer Memoria, von Seiten des Konvents wohlgemerkt, erscheint kaum denkbar, ohne größere Zuwendungen von Seiten des Trierer Erzbischofs, auf welche die Urkunde ja offenbar auch Bezug nimmt. Die Einschätzung von Eberhard Nikitsch, „Balduin von Trier sei in Oberwesel lediglich seinen geistlichen Pflichten nachgekommen“176, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen. Schließlich sei noch auf darauf verwiesen, dass die Steuern des Liebfrauenstifts zu Zeiten des Erzbischofs Balduin mit lediglich 9 Pfund Silber veranschlagt wurden, wohingegen das Oberweseler Martinsstift 29 Pfund entrichten musste, vergleichbar mit St. Goar (30 Pfund).177 Zu Recht vermutete Eduard 170 171 172 173 174

Pauly 1980 (wie Anm. 10), S. 289f, 329. Sebald 2009 (wie Anm. 150), S. 160–164. Ebd., S. 162. Ebd., S.164. Sebald 2002 (wie Anm. 167), S. 25; Ders. 1997 (wie Anm. 150), S. 176f. 175 Ebd. 176 Nikitsch 2002 (wie Anm. 168), S. 136. 177 Sebald 2009 (wie Anm. 150), S. 167; Ders. 1997 (wie Anm. 150), S. 176.

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Sebald dahinter eine indirekte Finanzierung des Liebfrauenstifts durch den Trierer Erzbischof.178 Dass sich der Bau der Kirche nach dem Tod Balduins von Luxemburg 1354 erneut verzögert, spricht für sich.179 Auch wenn es sich nicht explizit belegen lässt, so weisen die Daten und Indizien, wenn man sie zueinander in Beziehung setzt, doch stark darauf hin, dass Erzbischof Balduin wesentliche Mittel für den Weiterbau der Kirche und ihre Ausstattung zur Verfügung stellte, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Neuordnung des Stifts 1339. Weniger klar erscheinen hingegen die Zusammenhänge zwischen dem Baubeginn der Liebfrauenkirche und der Machtübernahme Balduins in Oberwesel. Der Umstand, dass der Baubeginn 1308 gemäß den überlieferten Daten im Jahr vor Balduins Machtübernahme 1309 begonnen haben soll, veranlasste Eberhard Nikitsch zu der Annahme, in „Bau und Fertigstellung der Pfarr- und Stiftskirche einen bewußten Ausdruck städtischer Potenz zu sehen und die vermutlich anläßlich der Altarweihe angebrachte monumentale Bauinschrift als einen inhaltlich dezenten, aber unübersehbaren Hinweis der Stadtgemeinde und der Stiftsherren an den ungeliebten Stadtherrn zu verstehen, daß mit dem Bau dieser grandiosen Kirche bereits vor seiner Zeit begonnen worden war und daß Planung und Bau in einem reichsstädtischen Selbstbewusstsein wurzelten, …“180 Nikitsch verkennt dabei, dass die Baulast lediglich des Turms bei der Stadt lag, ansonsten aber von den Kirchherrn, den genannten Hunsrücker bzw. rheinischen Adelsgeschlechtern und dem Stift selbst getragen werden musste,181 so dass die – unter Balduins Herrschaft errichtete – Kirche sicher nicht als Ausdruck „reichsstädtischen Selbstbewusstseins“ interpretiert werden kann, zumal St. Martin die vornehmliche Pfarrkirche der Stadt gewesen ist. Zudem ignoriert Nikitsch die Frage, woher die Mittel für den großen und qualitätsvollen Kirchenbau sowie dessen kostbare Ausstattung stammten. Auch die Annahme, die Bauinschrift sei zur Weihe 1331 angebracht worden, lässt sich widerlegen. Nachweislich 178 Sebald 2009 (wie Anm. 150), S. 167; Ders. 1997 (wie Anm. 147), S. 176. 179 Sebald 1997 (wie Anm. 150), S. 177. 180 Nikitsch 2002 (wie Anm. 168), S. 138. 181 Sebald 1997 (wie Anm. 150), S. 171–174.

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der dendrochronologischen Datierungen können die Verglasungen erst um 1340/1350 eingebracht worden sein, weil der Chor zur Weihe gar nicht weit genug gediehen war.182 Die Inschrift entstand somit in der Zeit, kurz nachdem das Stift Balduin von Trier als Dank für seine „vielfältigen Wohltaten“ eine Memoria einrichtete.183 Vor diesem Hintergrund ist es wohl ausgeschlossen, dass die Bauinschrift gegen den „ungeliebten Stadtherrn“184 gerichtet war. Ganz im Gegenteil spricht das In-Erinnerung-Rufen des Baubeginns im Rahmen der wohl von Balduin kräftig geförderten Ausstattungskampagne für eine Beteiligung des Erzbischofs schon bei der Grundsteinlegung. Die Abweichung von einem Jahr, die überhaupt erst zu dieser Diskussion geführt hat, ließe sich so erklären, dass man 30–40 Jahre nach dem Baubeginn, als das Fenster mit der Bauinschrift erst angebracht wurde, entweder das Jahr der Grundsteinlegung oder des Beginns der Herrschaft Balduins nicht mehr genau wusste, zumal der in der Erzdiözese Trier seinerzeit übliche Annuntiationsstil,185 bei dem der Beginn des Kalenderjahres erst am 25. März ansetzt, für zusätzliche Verwirrung gesorgt haben mag. Möglich wäre aber auch, dass beide Jahreszahlen zuträfen. Die vielleicht nur kurz vor der Übernahme der Stadt erfolgte Grundsteinlegung ließe sich dann so erklären, dass Balduin den politischen Wechsel bereits im Vorfeld vorbereitete, indem er Teile der lokalen Elite mit großzügigen Zuwendungen für einen Neubau auf seine Seite zog. Das war beim Liebfrauenstift mit seinen Hunsrücker Kirchherrn sicherlich einfacher zu erreichen, als beim Martinsstift, wo die Patronats­ rechte bei den lokal ansässigen Schönburgern lag, welche mit Balduin als Stadtherren an Einfluss in Oberwesel verloren. Angesichts der gesteigerten Konkurrenzsituation, die wie geschildert, seit dem Auftreten der Franziskaner in Oberwesel unter den geistlichen Institutionen ohnehin herrschte, lässt sich gut vorstellen, dass das Liebfrauenstift in den neuen

182 183 184 185

Sebald 2009 (wie Anm. 150), S. 164. S. oben. Nikitsch 2002 (wie Anm. 168), S. 138. Josef Heinzelmann, „Liebfrauen in Oberwesel. Zum Doppeljubiläum von Stift und Kirche“, in: Rheinische Heimatpflege, Jg. 45, 2.2008, S. 122–132, hier S. 122.

Machtverhältnissen eine Chance sah, die eigene Stellung in Oberwesel zu verbessern. Mit dem Erlass der neuen Statuten 1339 vermehrte der Trierer Erzbischof seinen Einfluss auf das Liebfrauenstift und honorierte gleichzeitig erneut dessen Loyalität, wobei die Zuwendungen in Anbetracht der kostbaren Ausstattung diesmal beträchtlich höher ausgefallen sein müssen. Das Fehlen eines kurtrierischen Wappens oder anderer Hinweise auf Balduin in der Liebfrauenkirche mag Ausdruck einer klugen Diplomatie sein, sich in Anbetracht der nicht von jedermann willkommen geheißenen Übernahme der Stadtherrschaft nicht in den Vordergrund zu stellen. Jedenfalls kann das Fehlen nicht als Argument gegen Balduins Wirken angeführt werden, denn es finden sich aus jener Zeit auffälligerweise auch keine anderen Wappen in der Kirche, etwa der Stadt Oberwesel, oder Hinweise auf andere Stifter. Dass Balduin gewillt war, auch andere Mittel zu gebrauchen, um seine territorialen Interessen durchzusetzen, bewies er in Boppard. Die Widerspenstigkeit der dortigen Bürgerschaft brach er 1327 mit einer militärischen Unterwerfung der Stadt und festigte seine Stellung, indem er einen Bergfried am Rhein zur kurfürstlichen Burg ausbauen ließ. Damit setzte der Erzbischof zugleich ein unmissverständliches Zeichen der neuen Machtverhältnisse in der Stadt.186 Während Balduin von Luxemburg also in Boppard die ‚Peitsche‘ schwang, verteilte er in Oberwesel gezielt ‚Zuckerbrot‘. Mit der Förderung des Neubaus der Liebfrauenkirche versuchte der Trierer Erzbischof Balduin demzufolge Teile der Oberweseler Elite einzubinden und hierbei seiner Präsenz als neuem Stadtherrn einen subtilen architektonischen Ausdruck zu verschaffen.

St. Martin in Oberwesel

Das Oberweseler Martinsstift reagierte auf den ambitionierten Neubau der benachbarten Liebfrauenkirche mit einem Neubau der eigenen Stiftskirche (Taf. 41). Während die ältere Literatur noch von einem Beginn der Kampagne in der ersten Hälfte des 186 Lorenz Frank, „Die Burg in Boppard am Rhein, Neue Forschungsergebnisse zur Baugeschichte“, in: Burgen und Schlösser, Jg. 44, 2005, S. 226–235.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

13. Jahrhunderts ausging, datierte Eduard Sebald den Baubeginn aufgrund neuerer dendrochronologischer und bauforscherischer Befunde in die Zeit um 1350/1355.187 Unter hiesiger Fragestellung ist von besonderem Interesse, dass die neue Martinskirche frappante Ähnlichkeiten zur neuen Liebfrauenkirche aufweist. Bereits der Vergleich der Grundrisse (Abb. 46, Abb. 53) lässt deutliche Parallelen erkennen: Wie bei Liebfrauen handelt es sich bei St. Martin um eine querschiffslose Basilika, deren Schiffe ohne Zäsur in gleicher Breite in polygonale Chöre münden. Hauptund nördlicher Nebenchor werden von durchgehenden Wänden in Flucht der Mittelschiffsarkaden separiert. Das südliche Schiff wurde offenbar analog geplant, kam aber nicht zur Ausführung.188 Im Unterschied zu Liebfrauen verzichtete man bei St. Martin auf den baulich aufwändigen geraden Abschluss der Seitenchöre am Außenbau, stattdessen zeichnet sich der innere 5/8-Schluss auch außen ab. Der Westturm von St. Martin nimmt, wie derjenige von Liebfrauen, die Breite des Mittelschiffs auf und wird von zwei Seitenschiffsjochen eingefasst. Selbst die Jochanzahl in beiden Kirchen ist nahezu identisch: zwei Joche unter dem Westturm, drei im Mittelschiff und zwei Chorjoche vor der Apsis. Allein im Seitenschiff erlaubte man sich bei der Martinskirche die Anzahl der Joche gegenüber Liebfrauen um eines zu erhöhen. Damit liegen der Disposition der Stiftskirche St. Martin in Oberwesel zwar erkennbar Charakteristika von Bettelordenskirchen zugrunde, doch sind die Parallelen zur Liebfrauenkirche so signifikant, dass von einer direkten Bezugnahme ausgegangen werden muss. Diese Annahme verdichtet sich bei einem Blick auf die tragkonstruktive Systematik: Beim Bau der Martinskirche adaptierte man prinzipiell das System der innenliegenden Strebepfeiler in Verbindung mit polygonalen Stützen, wie es in der Liebfrauenkirche zum Tragen kam, variierte es aber in einigen Punkten. So orientierte man die Strebepfeiler des Mittelschiffs abweichend nach außen, so dass diese im Seitenschiff optisch wirksam sind. Dieses Tragsystem kam wenige Jahrzehnte später erneut 187 Sebald 1997 (wie Anm. 150), S. 441. 188 S. hierzu den Beitrag des Autors zur Bautechnik am Mittel­ rhein in diesem Band.

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53 Oberwesel, St. Martin, Grundriss.

beim Bau der Binger Martinskirche zur Ausführung (Abb. 54).189 Anders als dort und in der Oberweseler Liebfrauenkirche wurden die Arkadenpfeiler in St. Martin zu Oberwesel jedoch breiter dimensioniert als die Obergadenwände und setzen sich deshalb als trapezoide Wandvorlagen nach oben hin fort (Taf. 42). Durch diese vertikalen Elemente wird der ansonsten ungegliederte Wandaufriss des Mittelschiffs in Felder gegliedert, wie dies in der Liebfrauenkirche durch die Strebepfeiler geschieht. Konsequenterweise wird auch in St. Martin auf einen Dienstapparat verzichtet. Die Rippen der Gewölbe setzen auf Höhe der Obergadenfenster auf Konsolen auf, die teilweise die Hornkonsolen von Liebfrauen aufgreifen, teilweise aber auch als Fratzen gearbeitet oder mit gebeultem Laubwerk verziert sind, wie es für das 15. Jahrhundert typisch ist. Schließlich wurden in St. Martin auch Maßwerkformen von Liebfrauen übernommen. Die betont schlichten Bogenstaffeln der dortigen Seitenschiffe (Abb. 47) wurden in der Martinskirche für die Obergaden im Mittelschiff verwandt (Abb. 55). Das Maßwerk des Chorpolygons stellt demgegenüber zwar eine Steigerung dar, fällt jedoch mit einem Couronnement aus drei Kreisen mit eingestellten Dreipässen verglichen mit den kunstvollen Figurationen 189 S. hierzu den Beitrag des Autors zu St. Martin in Bingen in diesem Band.

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54 Bingen, St. Martin, Grundriss.

55 Oberwesel, St. Martin, Maßwerkfenster im südlichen Obergaden.

am Chor von Liebfrauen ebenfalls schlicht aus. Die jüngeren Westjoche verraten durch ihre völlig abweichenden Formen wie Fischblasen und überfassende Rundbögen ihre zeitlich spätere Entstehung. Die deutlichen Parallelen zur Liebfrauenkirche weisen darauf hin, dass das Martinsstift eine dem Nachbarstift ebenbürtige Kirche errichten wollte. Deren Bau setzte um 1350/1355 auffälligerweise in dem Zeitraum an, als sich die Arbeiten an der Liebfrauenkirche verlangsamten, jedoch soweit gediehen waren, dass die Größe und Qualität der Kirche und ihrer Ausstattung in großem Umfang sichtbar wurden.190 Dies unterstützt die in der Literatur geläufige These, dass Handwerker von Liebfrauen auch für den Bau der Martinskirche tätig wurden.191 Allerdings reicht eine Beteiligung von Handwerkern der Liebfrauen-Baustelle nicht aus, um die auffällige Übernahme von Formen zu erklären, weil der Bau von St.

Martin schließlich mit einer Verzögerung von rund 50 Jahren begann. Die zeitliche Differenz spricht vielmehr dafür, dass Liebfrauen gezielt als Referenz herangezogen wurde. Wenn etwa die einfachen Maßwerkformen, die in Liebfrauen in den Seitenschiffen zum Einsatz kamen, Jahrzehnte später im Obergaden von St. Martin Verwendung fanden, so entsteht der Eindruck, als habe man das Nachbarstift in der formalen Bescheidenheit zu übertreffen gesucht. Wappen in der Kirche weisen darauf hin, dass der Bau in erster Linie, wie üblich, von den Patronen der Kirche finanziert wurde, also den Herren von Schönburg zu Oberwesel.192 Finanzielle Unterstützung erhielten die Schönburger anscheinend, worauf ebenfalls Wappen in der Kirche hinweisen, vom Trierer Kurfürsten, dem Pfalzgrafen und der Stadt Oberwesel.193 Dennoch reichten die Mittel offensichtlich nicht aus, um die Kirche zu vollenden, wie

190 S. oben. 191 Z. B. Sebald 1997 (wie Anm. 150), S. 478.

192 Ebd., S. 474–477. 193 Ebd., S. 472.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

die unterbliebene Ausführung des südlichen Seitenschiffs beweist. Anders herum kann dies als weiterer Hinweis darauf gesehen werden, dass beim Bau der Liebfrauenkirche ein finanzstarker überregionaler Akteur beteiligt gewesen sein muss.

Resümee zu den Oberweseler Kirchen

Die etablierten Pfarreien St. Martin und Liebfrauen in Oberwesel bekamen zur Mitte des 13. Jahrhunderts Konkurrenz durch den Franziskanerorden, der ein Kloster in Oberwesel gründete. Das Gerangel um Befugnisse und Autorität ist historisch verbürgt. Der Bettelorden brachte jedoch nicht nur eine neue Form der Religiosität an den Mittelrhein, sondern auch eine neue Architektursprache. Mit dem Neubau der Minoritenkirche wohl spätestens in den 1260er Jahren, erhielt eine nüchterne Ordensgotik in Oberwesel Einzug, die sich durch Einfachheit und Verzicht auszeichnet, im Gegensatz zu der elaborierten Kathedralgotik, wie sie beim Bau der Wernerkapelle im benachbarten Bacharach seit den 1280er Jahren zum Tragen kommt. Die Prinzipien dieser Ordensgotik wurden beim Neubau der Pfarr- und Stiftskirche Liebfrauen ab 1308 adaptiert, wobei die Oberweseler Minoritenkirche in einigen Punkten wohl auch das direkte Vorbild bot, etwa bei den auf Eck gestellten Langhauspfeilern. Die Dimensionen, die Qualität der Architektur und der Ausstattung sowie die gestalterische Konsequenz des Entwurfs stellen das Vorbild der Minoritenkirche allerdings in den Schatten. Exemplarisch sei der Verzicht auf jegliche Strebepfeiler am Außenbau genannt, was durch ein technisch komplizierteres System innenliegender Strebepfeiler kompensiert wurde. Das Ergebnis ist ein Bauwerk von monumentaler Schlichtheit mit repräsentativer Wirkung. Größe und Anspruch der Oberweseler Liebfrauenkirche und ihrer Ausstattung setzen jedoch Möglichkeiten und Mittel voraus, welche man weder den Kirchherrn, das waren die Hunsrücker Ritterfamilien von Milewald und von Walebach, noch dem Liebfrauenstift selbst zutrauen möchte. Mit guten Gründen wurde deshalb in der Literatur eine maßgebliche Beteiligung des Trierer Erzbischofs und Kurfürsten ­Balduin von Luxemburg diskutiert, welcher just 1309 die faktische Stadtherrschaft über Oberwesel und

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Boppard erlangte. Auch wenn ein endgültiger Beweis aussteht, so weisen doch viele Indizien darauf hin, dass Balduin den Bau der Liebfrauenkirche unterstützte, um sich die Loyalität eines Teils der lokalen Elite zu sichern und zugleich ein subtiles Zeichen der neuen Machtverhältnisse zu setzen. Als sich die Bauarbeiten an der weit gediehenen Liebfrauenkirche nach dem Tod Balduins in den 1350er Jahren verlangsamten, begann man mit einem Neubau der Oberweseler Martinskirche, der maßgeblich von den Herren von Schönburg getragen wurde. Die architektonischen Parallelen zur Liebfrauenkirche sind so frappant, dass man in der Literatur davon ausging, dass teilweise die gleichen Handwerker auf beiden Baustellen tätig waren. Wenngleich diese Annahme durchaus zutreffen mag, so genügt sie nicht, die direkten Formenübernahmen zu erklären, etwa der Staffelbögen als Maßwerk, weil diese schließlich mit einer Verzögerung von rund 50 Jahren erfolgte. Offensichtlich orientierte man sich gezielt an der Architektur der Liebfrauenkirche und versuchte, ein repräsentativ ebenbürtiges Bauwerk zu schaffen. Das geplante, jedoch nicht realisierte Südseitenschiff zeigt jedoch, dass man die entsprechenden Mittel nicht aufzubringen vermochte.

Resümee Diözesanstil, Herrschaftsstil oder Kunstlandschaft?

In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfährt die architektonische Landschaft des Mittelrheintals einen dynamischen Wandel, als das Engtal geradezu von einer Welle prachtvoller Neubauten erfasst wird: Beispiele wie St. Peter in Sinzig, St. Severus in Boppard, St. Peter in Bacharach oder die Clemenskapelle in Trechtingshausen entstehen nicht nur zeitlich nah beieinander, sondern greifen auch auf ein gemeinsames architektonisches Vokabular zurück, das in der älteren Literatur mit dem unglücklichen Etikett „Übergangsstil“ versehen und kunstgeographisch als Teil einer niederrheinischen, von Köln ausgehenden Spätromanik angesehen wurde.194

194 Zur Problematik des „Übergangsstils“ siehe den Beitrag von Matthias Müller in diesem Band.

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Die formalen Beziehungen der Sakralbauten untereinander sind frappant und weisen auf einen engen Austausch zwischen den Baustellen hin. Exemplarisch sei auf die Vierungskuppeln in Sinzig und Trechtingshausen verwiesen, die – obwohl die beiden Bauten von den genannten Beispielen am weitesten auseinander entfernt liegen – mit ihren achtteiligen Gewölben, ihren spinnenbeindünnen Rippen und dem horizontal liegenden Druckring quasi identisch sind. Bezüglich der Frage nach einer politischen Dimension der Formensprache ist nun von Interesse, dass die genannten Beispiele zwar Parallelen zu Kölner Kirchenbauten aufzeigen, aber sich kirchenrechtlich im Gebiet der Diözesen Trier und Mainz befanden. Das bedeutet, dass eine Art Diözesanstil zumindest für diesen Zeitraum am Mittelrhein ausgeschlossen werden kann. Doch auch beim Blick auf die Herrschaftsstrukturen bleibt Köln großenteils außen vor. Während Boppard und Sinzig in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts noch reichsunmittelbare Orte waren, lag Trechtingshausen im Herrschaftsbereich des Mainzer Erzbischofs. Folglich lässt sich die Formensprache der Bauwerke ebenso keinem bestimmten Territorialherrn im Sinne einer Corporate Identity zuordnen. Diese Diskrepanz von architektonischer Herkunft und kirchenrechtlicher bzw. politischer Zugehörigkeit mögen dazu beigetragen haben, dass Hans Erich Kubach und Albert Verbeek die Auffassung vertraten, „daß es möglich ist, eine Kunstlandschaft als solche allein von der architektonischen Form her zu bestimmen, und zwar unabhängig von geographischen und historischen Voraussetzungen.“195 Dass jedoch auch die Theorie einer Kunstlandschaft die Architektur im Mittelrheintal nicht hinreichend erklären vermag, ergibt sich aus der klaren Zäsur, welche die Architektursprache im Mittelrheintal zum Ende des 13. Jahrhunderts hinaus erfuhr. Die Wernerkapelle in Bacharach kontrastiert mit ihren filigranen gotischen Formen ganz offensichtlich mit der dekorationsfreudigen Architektur ihrer nur wenige Jahrzehnte zuvor errichteten Mutterkirche St. Peter. Kubach und Verbeek beschränkten ihre Definition folglich auf den Zeitraum, bevor gotische Architektur

195 Kubach/Verbeek 1989 (wie Anm. 7), S. 492.

Einzug erhielt.196 Doch was sagt es über eine Kunstlandschaft aus, wenn diese abrupt nicht mehr nachzuvollziehen ist, obwohl es keine entsprechenden politischen oder gesellschaftlichen Veränderungen gab, sondern eher Kontinuitäten? Handelt es sich bei der zeitlichen Beschränkung der Kunstlandschaft nicht vielmehr um ein unzulässiges Mittel, um der Theorie Gültigkeit zu verleihen? Geht man hingegen davon aus, dass die Architektursprache nicht landschaftlich gebunden ist, sondern von Referenzen und Transferprozessen bestimmt wird, die je nach Bauaufgabe von in Größe und Wirkungskraft variierenden Netzwerken abhängig sind, so lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Veränderungen zwanglos erklären. Ein Wandel der Architektur erklärt sich dann über eine Änderung der Referenzen und Transferprozesse, wohingegen ein bestimmter Zeitraum mit konstanten Bezugsrahmen aufgrund gleichartiger Merkmale als vermeintlich einheitliche Kunstlandschaft erscheinen mag.

Traditionen des Ortes

Die ältesten Spuren christlichen Sakralbaus im bereits von den Römern besiedelten Mittelrheintal stammen aus der Spätantike. In Boppard konnte unter St. Severus ein frühchristlicher Kirchenbau an der römischen Kastellmauer archäologisch nachgewiesen werden; darüber hinaus wird an vielen Orten wie Oberwesel oder Bingen ein frühchristlicher oder frühmittelalterlicher Bau vermutet. Allerdings handelt es sich bei den meisten Kirchen des Mittel­ rheintals um Neubauten des 13. und 14. Jahrhunderts, so dass nur wenige bauliche Relikte von der älteren Zeit zeugen. Hinzu kommt der – angesichts der zu erwartenden Befunde – befremdliche Umstand, dass es bisher nur an wenigen mittelrheinischen Kirchen zu aussagekräftigen archäologischen Grabungen kam, so dass über zweifellos vorhanden gewesene Vorgängerbauten kaum etwas bekannt ist. In Anbetracht des unbefriedigenden Forschungsstands lassen sich die Traditionen des Ortes im Mittelrheintal trotz der langen Vergangenheit mit den architektonischen Zeugnissen kaum fassen.

196 Ebd., S. 464–468.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Eine Ausnahme bildet die ehemalige Stiftskirche St. Goar, die von dem Priestermissionar Goar im 6. Jahrhundert strategisch klug am schwierig zu umschiffenden Loreley-Felsen gegründet wurde. Nachdem Goar in seiner eigenen Gründung beigesetzt wurde, entstand eine Wallfahrt zum Grab des zum Heiligen erhobenen Missionars. Die Tradition des Ortes stützte sich in St. Goar also darauf, Gründung und Grabeskirche eines Heiligen zu sein. Architektonisch kommt dies in der gewachsenen Gestalt der Kirche zum Ausdruck, die sich aus Gebäudeteilen aus verschiedenen Jahrhunderten zusammensetzt und damit als materielles Zeugnis seiner Geschichte fungierte. Analog zu anderen Sakralbauten mit einer ähnlichen Tradition stellt die Krypta, in dem sich wahrscheinlich das Heiligengrab befand, den sichtbar ältesten Gebäudeteil dar. Auch in der Binger Martinskirche wurde eine alte Krypta planvoll in den Neubau integriert, ohne dass die dortige Tradition des Ortes allerdings zu greifen wäre. Die über das religiöse hinausgehende politische und ökonomische Bedeutung der Stiftskirche St. Goar zeigte sich zur Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Grafen von Katzenelnbogen die Herrschaft über Stadt und Stift sukzessiv usurpierten. So ließ der Trierer Erzbischof, in dessen Diözese St. Goar lag, die Reliquien des Goar, kurz nachdem die Katzenelnbogener 1245 mit dem Bau der Burg Rheinfels begannen, in seinen Herrschaftsbereich nach Karden überführen, von wo aus sie erst 1321 nach Verhandlungen zurück nach Goar gelangten.

St. Severus zu Boppard

Die formalen Bezüge der Severuskirche in Boppard zu niederrheinischen Vorbildern wurden in der Literatur schon früh herausgearbeitet und sind nicht in Abrede zu stellen. Nicht gesehen wurde bisher, dass es darüber hinaus auch einen Austausch mit dem Wormser Raum gegeben hat. Beim Bau des Langhauses im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts orientierte man sich zunächst bis zur Höhe des Obergadens erkennbar an der Disposition, Gliederung und Tragstruktur der Kirche des Wormser Martinsstifts, wo im hohen Mittelalter die Patronatsrechte an St. Severus lagen. Die Detailformen von St. Martin wurden jedoch nicht kopiert, sondern in eine andersartige

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Bauweise übersetzt. Folglich muss nicht zwingend ein Baumeister aus Worms tätig gewesen sein, wohl aber ein Baumeister, dem die Architektur von St. Martin bekannt war. Frappante Bezüge nach Worms weisen darüber hinaus das Süd- und Westportal der Severuskirche auf. Die Bauplastik der beiden Bopparder Portale zeigt so deutliche Parallelen zu Wormser Bauplastik, dass in diesem Fall auch ein Transfer von in Worms tätigen Bildhauern nach Boppard naheliegt. Für die plastische Gestaltung der Portale war offensichtlich ein anderer Trupp zuständig als für die architektonischen Detailformen. Über die Detailformen hinaus rekurriert das Südportal von St. Severus auch im Aufbau so deutlich auf das Südportal von St. Martin, dass von einer bewussten Paraphrase ausgegangen werden muss. Die Analyse des Langhauses von St. Severus in Boppard offenbart damit den überraschenden Befund, dass die Architektur und explizit die Bauplastik der Portale auf den Kirchherrn verweist, nämlich das Martinsstift in Worms. Der Transfer von Handwerkern und Formen aus Worms erklärt sich mit den engen institutionellen und personalen Verflechtungen – der Propst des Martinsstifts war in Personalunion auch Propst des Severusstifts. Im hiesigen Untersuchungskontext ist jedoch auch die deutliche Zäsur interessant, die im Bereich des Obergadens und des Chors von St. Severus sichtbar wird: Dort löste man sich vom Wormser Bezugssystem und griff stattdessen auf Vorbilder vom Niederrhein zurück. Besonders deutlich wird dies im Mittelschiff, wo das virtuose Gewölbe mit den spinnenbeinartigen Rippen ohne Zusammenhang auf das vorgezeichnete System des unteren Geschosses aufgesetzt wurde. Diese Abkehr von Wormser Bezügen korrespondiert zeitlich auffälligerweise mit einer Verschiebung der politischen Verhältnisse in Boppard. Nachdem das Wormser Martinsstift 1190 den Bopparder Rheinzoll an die Krone veräußerte, wurde Boppard zu einem wichtigen Stützpunkt der staufischen Könige. Die Indizien sprechen dafür, dass König Philipp von Schwaben den Umbau der Bopparder Severuskirche in seiner Regierungszeit 1198– 1208 unterstützte. Anscheinend führte die königliche Förderung zu einem gestiegenen Anspruch an die repräsentative Gestaltung, so dass eine virtuosere und

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prächtigere Architektursprache, die gerade am Niederrhein aktuell war, zur Anwendung kam. Die alten Netzwerke und damit verbundenen Transferprozesse verloren damit an Bedeutung, während neue etabliert worden sein müssen. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt, dass die neue Architektursprache als eine Art Königsstil direkt auf die Krone verweisen würde. Der Neubau der Bopparder Severuskirche lässt sich noch mit einer weiteren Gruppe in Beziehung setzen, nämlich der Bürgerschaft der freien Reichsstadt. Die bemerkenswert realistische Abbildung des Bauwerks auf dem Bopparder Stadtsiegel von ca. 1230 verdeutlicht, dass sich die Kommune in besonderem Maß mit der Kirche und ihrer prachtvollen Architektur identifizierte. Die Abbildung geht einher mit einer textlichen und ikonografischen Darstellung der Reichsunmittelbarkeit Boppards auf dem Siegel. In diesem Zusammenhang scheint auch das Bild der Severuskirche – mit dem Reichsadler auf dem First – als repräsentatives Zeichen der freien Reichsstadt verstanden worden zu sein. Diese reichsstädtische Konnotation der Kirche unterstützt die These einer Förderung des Baus durch König Philipp. Angesichts der hohen Identifikation mit dem Kirchenbau läge es zudem nahe, dass zumindest Teile der Bürgerschaft auch am Umbau der Kirche partizipierten.

Die Rezeption von St. Severus im Mittelrheintal

Die virtuose Architektur der Bopparder Severuskirche strahlte auf andere Bauten des Mittelrheintals aus. Beim Bau von St. Peter in Sinzig, St. Martin in Linz oder der Clemenskapelle in Trechtingshausen wurden Formen der dekorationsfreudigen zweiten Bauphase von St. Severus in unterschiedlichem Umfang rezipiert. Während in der älteren Literatur die Herkunft der Formen in der Regel auf einen verallgemeinerten niederrheinischen bzw. Kölner Wirkungskreis bezogen wurde, so lässt sich hier ein konkretes mittelrheinisches Vorbild benennen. Damit zeigt sich nicht unerwartet, dass auch ein Austausch innerhalb des Mittelrheintals stattfand. Es wäre vielleicht ein lohnenswerter Ansatz für weitere Forschungen, zu untersuchen, inwieweit das Anspruchsniveau mit der Distanz seiner Referenzen zusammenhängt. Während beim Neubau des Kölner Doms internationale Maßstäbe angesetzt wurden, scheint es nahezuliegen,

dass man sich bei einem Bau wie St. Peter in Linz an Vorbildern der Region orientierte. Dass die Architektur von St. Severus auch in der Clemenskapelle am südlichen Rand des Engtals noch aufgegriffen wurde, ist ein Hinweis darauf, dass die Architektursprache keiner bestimmten Diözese oder einem bestimmten Herrscher zugeordnet werden kann. Während Boppard als freie Reichsstadt in der Diözese Trier lag, befand sich Trechtingshausen im kurmainzischen Herrschafts- und Diözesangebiet. Vielmehr scheint St. Severus regional einen neuen Maßstab für repräsentative Architektur definiert zu haben, der nachfolgenden Bauten zugrunde gelegt wurde.

St. Peter zu Bacharach

Ein Bau, der St. Severus in Dekorationsfreude und -vielfalt kaum nachsteht, ist die womöglich im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts neu errichtete Stiftskirche St. Peter in Bacharach. Die Ähnlichkeit der Architektursprache und der tektonischen Strukturen rechtfertigen es, beide Bauwerke einer formengeschichtlichen Gruppe zu zuordnen, die je nach zugrundeliegendem Modell unter anderem als Übergangsstil oder niederrheinische Spätromanik bezeichnet wurde. Bei einem differenzierten Vergleich der Formen von St. Severus und St. Peter zeigt sich allerdings, dass nur wenige konkrete Ähnlichkeiten bestehen. Die etwas ältere Severuskirche im nicht weit entfernten Boppard mag beim Neubau von St. Peter in Bacharach allgemein als Maßstab gegolten haben, doch ein Formentransfer fand offenbar nicht statt. Dagegen lassen sich an der Peterskirche konkrete Bezüge zur Kirche des Stifts St. Andreas in Köln feststellen, das die Patronatsrechte an Bacharach innehatte. Die Beziehungen lassen sich in extraordinären Details wie den spätgotisch anmutenden hängenden Schlusssteinen greifen, aber auch in einer Adaption des Wandaufrisses im Mittelschiff. Die Detailformen der Peterskirche, wie etwa die Kapitelle, sind formengeschichtlich jünger als in St. Andreas und im Stil gröber ausgeführt. Der Baumeister in Bacharach war folglich mit aktuellen Trends vertraut und griff nicht aus Rückständigkeit, sondern absichtsvoll und mit moderaten Modifikationen auf charakteristische Merkmale der Kölner Andreaskirche zurück. Hier fand offensichtlich ein direkter Formentransfer statt. Dieser Transfer lässt sich, wie

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

es sich bereits beim Langhaus und den Portalen von St. Severus in Boppard feststellen ließ, mit den engen personalen und institutionellen Verflechtungen zwischen den beiden Stiften erklären. So war der Pfarrer von St. Peter stets auch Kanoniker am Andreasstift. Bacharacher Beziehungen nach Köln bestanden über die Verbindung der beiden Stifte hinaus auch politisch. Die Grundherrschaft über den Ort lag im hohen Mittelalter beim Kölner Erzbischof, dem das Andreasstift wiederum kirchenrechtlich unterstand. Der Neubau der Peterskirche in Bacharach erfolgte just in einer Zeit, als die ursprünglich als Vögte eingesetzten Pfalzgrafen spätestens im frühen 13. Jahrhundert faktisch die Herrschaft über Bacharach übernahmen und auch die Bacharacher Bürger die neuen Machtverhältnisse nutzen wollten, um ihren Einfluss auf das Stift zu mehren. Der Neubau von St. Peter kann in diesem historischen Kontext auch als Zeichen der Kölner Präsenz und Ansprüche in Bacharach verstanden werden. Dies drückt sich jedoch nicht über einen „Kölner Diözesanstil“ aus, sondern über die Umsetzung einer in der Region verbreiteten repräsentativen Bauweise, die jedoch mittels Paraphrasen auf den Kirchherrn St. Andreas nach Köln weist.

Die Wernerkapelle zu Bacharach

Als kurz nach 1287 in Bacharach der Neubau der zum Petersstift gehörenden Kapelle St. Kunibert, die erst neuzeitlich als Wernerkapelle bekannt ist, begonnen wurde, hatte sich an den Verbindungen zum Andreasstift in Köln nichts geändert. So wundert es nicht, dass abermals ein mit der Kölner Architektur vertrauter Baumeister beauftragt wurde, welcher aktuelle gotische Formen und Techniken des im Bau befindlichen Kölner Doms aufgriff und in die kleineren Dimensionen der Bauaufgabe übersetzte. Eine Verbindung zur Kölner Baukunst schafft auch der Kleeblattchor der Wernerkapelle. Diese zentralisierende Grundrissfigur weist in Köln eine Tradition auf und kam nicht zuletzt auch an St. Andreas zur Anwendung. Der Chor der Elisabethkirche in Marburg, die selbst Bezüge zur Kölner Architektur aufweist,197 wurde ebenso als Trikonchos errichtet. 197 S. hierzu etwa Matthias Müller, Der zweitürmige Westbau der Elisabethkirche. Die Vollendung der Grabeskirche einer

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Da auch bautechnische Details mit der Marburger Kirche übereinstimmen, scheint die kurz vor dem Baubeginn in Bacharach geweihte Elisabethkirche ein direktes Vorbild für die Kapelle gewesen zu sein, zumal in beiden Fällen der Sakralbau über einem Heiligengrab errichtet wurde. Ein überraschendes Ergebnis der Untersuchungen ist, dass in Bacharach zunächst ein Langhaus geplant war, das jedoch nach Einstellung der Arbeiten zu Beginn des 14. Jahrhunderts nicht mehr zur Ausführung kam. Es spricht somit vieles für einen Transfer von Ideen, Techniken und Personen aus Köln respektive Marburg nach Bacharach. Die wissenschaftliche Kontroverse, die unter Fachleuten über die Herkunft der Formen geführt wurde, belegt hingegen, wie sehr sich die Formensprache in der gotischen Baukunst zum Ende des 13. Jahrhunderts (nicht nur) am Rhein gegenüber der großen Formenvielfalt zu Beginn des Jahrhunderts vereinheitlicht hatte. Noch weniger als St. Peter kann die Formensprache der Wernerkapelle insofern im Sinne eines politisch konnotierten erzbischöflichen Kölner Stils in Anspruch genommen werden, sondern nur implizit über die Transferprozesse, die den Zeitgenossen allerdings bewusst gewesen sein sollten, auf den bestehenden Kölner Einfluss verweisen. Anhand der Wernerkapelle lässt sich allerdings auch aufzeigen, dass architektonische Transferprozesse nicht auf eine Richtung verengt werden können. Die roten Quader aus Miltenberger Sandstein, aus denen die Wernerkapelle im Unterschied zu den in der Regel aus Bruchsteinmauerwerk bestehenden Sakralbauten im Mittelrheintal erbaut wurde, stammen aus einem Steinbruch am Main und wurden von Süden her über den Rhein importiert. Diese am Mittelrhein auch in anderen Fällen nachweisbare Transferrichtung für Baumaterial erklärt sich aus der Fließrichtung des Stroms und den daraus resultierenden Transportbedingungen.198 Das Beispiel der Wernerkapelle zeigt jedoch auch, wie ein Bauwerk im Laufe der Zeit von anderen Parteien vereinnahmt werden kann. In der zweiten „königlichen Frau“, Baugeschichte – Vorbilder – Bedeutung, Marburg 1997 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 60), S. 120–127, 194–198. 198 S. hierzu auch den Aufsatz des Autors zur Bautechnik im Mittelrheintal.

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Bauphase, die in den 1420er Jahren im Rahmen eines Verfahrens zur Heiligsprechung Werners begann, trat neben dem gelehrten Pfarrer und Kanoniker des Andreasstifts, Winand von Steeg, der Pfalzgraf Ludwig III. als maßgeblicher Förderer des Weiterbaus auf. Bezeichnenderweise wird der ursprüngliche Langhausplan aufgegeben und die Kapelle stattdessen mit einer Art Westbau geschlossen, dessen Empore dem Pfalzgrafen als Loge gedient haben mag. Andererseits zeigt die Wernerkapelle jedoch auch, dass verschiedene Akteure beim Kirchenbau zusammenfanden. Neben dem Trierer Erzbischof, in dessen Diözese die Kapelle lag, und dem Kölner Erzbischof, dem ehemaligen Stadtherrn und Vorgesetzten des Andreasstifts, kann auch die Teilhabe des Bacharacher Ratsherrn Altmann Bettendorfer, der wiederum als Oberkämmerer im Dienste des Pfalzgrafen stand, am Bau belegt werden.

Die Kirchen zu Oberwesel

Noch vor der Wernerkapelle erhielt vielleicht schon in den 1260er Jahren eine andere Form der Gotik Einzug ins Mittelrheintal. Im Zuge der wahrscheinlich schon 1242 erfolgten Gründung eines Franziskanerklosters in Oberwesel brachten die Ordensbrüder eine ihren religiösen Auffassungen entsprechende asketische Bauweise mit ins Engtal. Der Kontrast zwischen der schlichten Ordensgotik der Oberweseler Minoritenkirche und den in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gebauten dekorationsfreudigen Kirchen wie St. Severus in Boppard oder St. Peter in Bacharach fiel krass aus, krasser noch als es beim Bau der Wernerkapelle in den Formen der rheinischen Kathedralgotik rund 20 Jahre später der Fall war. Während die Wernerkapelle keine Nachfolger im Mittelrheintal fand, wirkte die Oberweseler Minoritenkirche hingegen vorbildlich auf den Neubau der Liebfrauenkirche in Oberwesel ab 1308, die wiederum zur neuen regionalen Referenz für den Kirchenbau im Mittelrheintal wurde. Insofern zeichnet sich die Liebfrauenkirche durch eine betonte Schlichtheit aus, die aufgrund ihrer Monumentalität und gestalterischen Konsequenz aber dennoch eine repräsentative Wirkung entfaltet. Der Neubau der Liebfrauenkirche erfolgte vor dem Hintergrund einer Konkurrenz zwischen dem neu in Oberwesel

agierenden Bettelorden und den etablierten kirchlichen Institutionen, die ihre althergebrachte Stellung in der Stadt gefährdet sahen. Das Liebfrauenstift trat dieser Konkurrenz sichtbar entgegen, indem die Architektur der Minoritenkirche beim Bau der neuen Stiftskirche einerseits adaptiert, andererseits aber auch übertroffen wurde. Die Größe und Qualität der Liebfrauenkirche in Oberwesel und vor allem auch ihrer kostbaren Ausstattung sprechen dafür, dass ein potenter Akteur in den Neubau involviert gewesen sein muss. Die Indizien deuten alle darauf hin, dass dies der Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg gewesen ist, der 1309 de facto die Herrschaft über die bis dato freie Reichsstadt Oberwesel übernahm. Die Förderung des Neubaus durch den Fürstbischof könnte als politische Maßnahme erklärt werden, um sich die Loyalität von Teilen der lokalen Elite im Kontext der Herrschaftsübernahme in Oberwesel zu sichern und damit indirekt auch ein subtiles Zeichen der neuen Machtverhältnisse zu setzen. Das Martinsstift in Oberwesel reagierte zur Mitte des 14. Jahrhunderts mit einem Neubau seiner Kirche, dessen Patronatsrechte beim lokal ansässigen Rittergeschlecht von Schönburg lagen. Die auffälligen Parallelen zur neuen Liebfrauenkirche zeigen an, dass man sich um die Errichtung eines ebenbürtigen Kirchenbaus bemühte. Hierfür griff man wahrscheinlich auch auf Handwerker zurück, die bereits an der Liebfrauenkirche arbeiteten. Obgleich die Schönburger – wie im Mittelalter üblich – finanzielle Unterstützung von anderen Parteien erhielten (Trierer Erzbischof, Pfalzgraf, Stadt Oberwesel) reichten die Mittel nicht aus, um die Martinskirche zu vollenden. Das geplante Südseitenschiff kam nicht zur Ausführung.

Synthese der Ergebnisse Der Kirchherr als Referenz

Für die Sakralbauten des 13. und 14. Jahrhunderts im Mittelrheintal ließ sich feststellen, dass die jeweils verwandte Architektursprache weder einem Diözesannoch einem Herrschaftsstil zugeordnet werden kann. Ähnliche Architekturformen waren über die Grenzen von Diözesen oder Territorien hinaus gebräuchlich und es fand nachweislich ein übergreifender

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Austausch von Formen statt. Allerdings konnte auch gezeigt werden, dass eine politisch und historisch entkontextualisierte Kunstlandschaftstheorie nur im Rahmen eingeschränkter Parameter Gültigkeit beanspruchen kann und auch dann die architektonischen Prozesse und Zusammenhänge nicht hinreichend zu erklären vermag. Ein überraschendes Ergebnis der Untersuchungen ist, dass manche Bauwerke architektonische Beziehungen zu ihrem Kirchherrn aufweisen. So konnten an St. Severus in Boppard konkrete Bezüge zur Wormser Martinskirche und bei St. Peter in Bacharach konkrete Bezüge zu St. Andreas in Köln nachgewiesen werden, wo jeweils die Patronatsrechte lagen. Aufgrund der engen institutionellen und personalen Verflechtungen der Stifte, bei denen Führungsämter teils in Personalunion bekleidet wurden, liegt es auf der Hand, dass ein Austausch zwischen den Stiften stattfand. Adaptiert wurden strukturelle Gliederungen und konkrete Details, die den Kirchherrn bzw. dessen Kirche auf diese Weise vor Ort vergegenwärtigten. Die gegenüber den Referenzbauten in Worms und Köln formengeschichtlich jüngeren Details in Boppard und Bacharach beweisen, dass man mit aktuellen architektonischen Trends vertraut war. Die Adaption der älteren Formen erfolgte deshalb nicht aus Rückständigkeit, sondern war ein Akt planvoller Bezugnahme. Mit den Inhabern der Patronatsrechte konnte eine Referenzebene benannt werden, die in der Architekturgeschichtsforschung bisher kaum gesehen wurde und Potential für künftige Forschungen birgt.

Politische Kontexte

Darüber hinaus ließen sich viele sakrale Bauten in einen historischen und politischen Kontext einbetten. Hierbei zeigte sich jedoch, dass es kein allgemeingültiges Erklärungsmuster gibt, sondern die jeweiligen Baukampagnen stets vor ihrem speziellen Hintergrund gesehen werden müssen. Der politische Zeichencharakter der Bauwerke, so lässt sich resümieren, resultiert nicht aus der Verwendung eines bestimmten institutions- oder personengebundenen Stils, sondern äußert sich in erster Linie allgemein über das architektonische Anspruchsniveau. Konkrete Bezüge auf andere Referenzbauten erfolgen auf

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der Detailebene oder strukturell in Form von Zitaten oder Paraphrasen. Beispielsweise lässt sich die zweite Bauphase an St. Severus in Boppard, die mit einer klaren architektonischen Zäsur und einer Änderung der Transferprozesse einherging, mit einer Förderung durch König Philipp von Schwaben erklären, die wiederum mit dem Aufstieg der Reichsstadt zu einem wichtigen Stützpunkt der staufischen Könige um 1200 zusammenhing. Die implizite königliche Konnotation der Kirche machte St. Severus wiederum zu einem Symbol der freien Reichsstadt in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Während in Boppard der Kirchherr St. Martin durch die neuen politischen Verhältnisse an Bedeutung verlor, wird beim Neubau von St. Peter in Bacharach im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zum Kölner Stift St. Andreas gerade aufgrund einer Verschiebung der Machtverhältnisse im Ort hervorgehoben. Vor dem Hintergrund der pfalzgräflichen Usurpation Bacharachs ist der Neubau der Peterskirche ein Zeichen der kölnischen Präsenz im Ort, auch gegenüber der Bürgerschaft. Der politische Hintergrund beim 1308 begonnenen Bau der Liebfrauenkirche in Oberwesel bleibt hingegen nicht ohne Grund schleierhaft. Vieles spricht dafür, dass der Trierer Erzbischof Balduin von Trier den Neubau förderte, um im Zuge seiner Machtübernahme in Oberwesel Teile der lokalen Elite an sich zu binden. Angesichts der politischen Spannungen hielt er sich dabei diplomatisch im Hintergrund, was das auffällige Fehlen von Hinweisen auf Stifter in der so kostbar ausgestatteten Kirche erklären könnte. Die politische Vereinnahmung von Bauwerken zeigt schließlich die Wernerkapelle in Bacharach. Standen bei der ersten Bauphase ca. 1287 bis 1310 die Verbindungen nach Köln im Vordergrund, die auf der Verbindung des übergeordneten Petersstifts mit dem Andreasstift in Köln basierte, so tritt bei der zweiten Bauphase ab ca. 1426 Pfalzgraf Ludwig III. als Förderer der Kapelle auf. Architektonisch drückt sich dies in einer Aufgabe des ursprünglichen Langhausplans aus, an dessen Stelle eine Art Westbau verwirklicht wurde, der dem Pfalzgrafen als Loge gedient haben mag.

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Kirchen als soziale Räume

Trotz der gezeigten politischen Konnotationen und Vereinnahmungen waren die Sakralbauten keine Gebäude, die ausschließlich einer Partei zugeordnet werden könnten, sondern immer auch ein sozialer Raum, in dem sich die Interessen von verschiedenen Gruppen überlagerten und zum Ausgleich gebracht wurden. Bei St. Martin in Bingen sowie der Liebfrauenkirche und St. Martin in Oberwesel waren die Schiffe der Kirche verschiedenen Gruppen funktional zugeordnet: Während sich das Gestühl der Stiftsherren im Hauptchor befand, wurde jeweils ein Seitenschiff als Pfarrkirche genutzt. Sehr deutlich kommt diese funktionale Teilung an der Martinskirche in Bingen zum Ausdruck, wo unter reger Beteiligung der Bürgerschaft im Bereich des als Pfarrkirche genutzten Nordseitenschiffs eine prächtige, zweischiffige Halle errichtet wurde, die in einer neuen Formensprache mit dem Rest der Kirche kontrastierte.199 Das Nordseitenschiff der Oberweseler Liebfrauenkirche wurde zudem von den Herren von Schönburg im späten Mittelalter als Grablege genutzt, ebenso das Nordseitenschiff von St. Goar von den hessischen Landgrafen, den Erben der Katzenelnbogener Herrschaft. Darüber hinaus konnte die Beteiligung verschiedener Parteien, die politisch durchaus gegensätzliche Ziele vertraten, an den Bauwerken dokumentiert werden. So wurden die Schönburger als Patronatsherren beim Neubau von St. Martin in Oberwesel vom Trierer Erzbischof, dem Pfalzgrafen und der Stadt Oberwesel unterstützt. Bei der zweiten Bauphase der Wernerkapelle engagierten sich neben dem Pfalzgrafen auch der Erzbischof von Trier, in dessen Diözese die Kapelle lag, und der Erzbischof von Köln als ehemaliger Stadtherr und Vorgesetzter des Kirchherrn St. Andreas. Aber auch ein Ratsherr der Stadt Bacharach war wesentlich an der Fertigstellung der Kapelle beteiligt.

Transferwege

Angesichts der oft komplexen Netzwerke und der mitunter komplizierten Überlagerung von Interessensphären liegt es nahe, dass auch die 199 S. hierzu den Aufsatz des Autors zu St. Martin zu Bingen in diesem Band.

architektonischen Transferprozesse nicht mit einfachen Mustern hinreichend erklärt werden können. Beim Neubau der Stiftskirchen St. Severus in Boppard und St. Peter in Bacharach konnte die Bedeutung der institutionellen und personalen Netzwerke zwischen den Stiften für architektonische Prozesse nachgewiesen werden. Im Fall von St. Severus erfolgten Transfers deshalb zunächst – entgegen der bisherigen Meinung von einer ausschließlich von Köln geprägten Kunstlandschaft – von Worms aus. Zugleich zeigt die Bopparder Kirche, dass sich die Transferwege im Zusammenhang mit politischen Veränderungen und dem damit einhergehenden Wechsel der Akteure ändern können. Mit dem Planwechsel in Boppard ging nicht nur ein Wechsel der Importrichtung einher, der nun tatsächlich vom Niederrhein aus erfolgte, sondern es erfolgte auch eine Umkehrung der Transferwege zwischen Severus- und Martinsstift. Die neuen Formen am Chor von St. Severus wurden offenbar nach Worms vermittelt. Neben die überregionalen institutionellen und personalen Netzwerke treten lokale und regionale Beziehungen. So definierten St. Severus in Boppard und ein Jahrhundert später Liebfrauen in Oberwesel das Referenzniveau, an dem sich nachfolgende Bauwerke im Mittelrheintal orientierten. Die Länge der architektonischen Transferwege scheint somit in Relation zum Anspruchsniveau des Bauwerks zu stehen. Während man sich beim Bau kleinerer Kirchen wie St. Anna in Steeg an den Vorbildern der Region orientierte (in diesem Fall Liebfrauen in Oberwesel), so ist ihre Architektur selbst, aber auch die von anspruchsvolleren Bauwerken wie St. Peter in Bacharach oder der zugehörigen Wernerkapelle von Transferprozessen bestimmt worden, die über das Tal hinausgingen. Der im 13. Jahrhundert erfolgte grundlegende Wandel der Architektur im Reich von der sogenannten Spätromanik zur französisch geprägten Gotik ermöglicht nähere Aussagen zu den Transferprozessen ins Mittelrheintal. So lässt sich aufzeigen, dass die in der älteren Literatur gehegte Vorstellung, die Gotik sei mittels wandernder Bautrupps verbreitet worden, zumindest für das Mittelrheintal keine Geltung beanspruchen kann. Stattdessen hat sich gezeigt, dass die neuen Formen auf zwei unterschiedlichen Wegen in das Tal gelangten, die jeweils aus den Netzwerken der Auftraggeber resultierten.

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Als zur Mitte des 13. Jahrhunderts die Franziskaner nach Oberwesel kamen, brachten diese ihre asketische „Ordensgotik“ mit ins Tal, die mit der bis dahin geläufigen dekorationsfreudigen Architektursprache stark kontrastierte. Die neuen Formen wurden also von einem neuen lokalen Akteur eingeführt, der über eigene, überregionale Netzwerke verfügte. Inwiefern der Architekturimport in das Mittelrheintal über Oberwesel hinaus von den Bettelorden forciert wurde, konnte aufgrund des disparaten Forschungsstands zu den Bettelordenskirchen am Mittelrhein nicht weiter untersucht werden und wäre ein vielversprechender Ansatz für weiterführende Forschungen. Beim Bau der Wernerkapelle in Bacharach gelangten hingegen die Formen und Techniken der rheinischen „Kathedralgotik“ mit ihren feinen und filigranen Details in das Mittelrheintal. Der Baumeister, und mit ihm das technische und künstlerische Wissen, kamen anscheinend aus Köln. Ursächlich waren die engen Verbindungen des Bacharacher Petersstift mit dem Kölner Andreasstift, die bereits den Bau der Peterskirche bestimmten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Transferprozesse auf Köln beschränkten. Das Baumaterial wurde aus entgegengesetzter Richtung rheinabwärts importiert. Auch war der Horizont des Baumeisters nicht auf Köln beschränkt. Neben der anzunehmenden Kenntnis der anderen Großbaustellen am Rhein muss er auch mit der Marburger Elisabethkirche gut vertraut gewesen sein. Wenn man also feststellt, dass die Architektur der Wernerkapelle von Transfers aus Köln bestimmt wird, so beinhaltet das keine Ausschließlichkeit. Die Weitläufigkeit der Beziehungen und Netzwerke gilt schließlich auch für

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die Auftraggeber. Bereits im 13. Jahrhundert wurden Innovationen und Materialien gezielt von außerhalb in das Tal importiert. Ein eindrückliches Beispiel für einen Bauherren, der nachweislich über internationale Kontakte verfügte und an verschiedenen Orten im Reich in gehobenen Positionen tätig war, bietet der Bacharacher Pfarrer Winand von Steeg, welcher die Fertigstellung der Wernerkapelle im 15. Jahrhundert maßgeblich vorantrieb. Die Vorstellung, neue Formen hätten sich über wandernde Trupps eher zufällig von Ort zu Ort verbreitet, erscheint in diesem Licht naiv.

Schlussresümee

Die Sakralbauten des 13. und 14. Jahrhunderts im Mittelrheintal wurden in einem geostrategisch wichtigen Gebiet errichtet, in dem sich Herrschaftsstrukturen und Interessensphären auf engem Raum überlagerten. Der Kirchenbau diente in diesem Spannungsfeld von Konkurrenzen, aber auch Kooperationen, mitunter der politischen Zeichensetzung, ohne dass jedoch ein parteigebundener Stil erkennbar wäre. Die politische Konnotation der Architektur erschließt sich vielmehr über das Anspruchsniveau und die allgemeine Referenzebene. Im Detail sind jedoch konkrete Bezüge in Form von Zitaten oder Paraphrasen sichtbar, die zum Beispiel auf den Kirchherrn rekurrieren und Aufschluss über die Transferprozesse geben. Diese Transferprozesse stehen wiederum im Bezug zu den Netzwerken vor allem der Auftraggeber und konnten ihrerseits politisch bestimmt werden. Die Sakralbauten erweisen sich damit als aussagekräftige materielle Relikte der mittelalterlichen Kulturgeschichte des Mittelrheintals.

Eduard Sebald

Fluss – Land – Stadt – Burg – Zoll Spätmittelalterliche Bau- und Territorialpolitik am Mittelrhein

Um das Mündungsgebiet der Lahn in den Rhein sind die Burgen Stolzenfels, Lahneck und die Marksburg versammelt. Dendrochronologisch fundierte Bauuntersuchungen zeigten, dass verschiedene Bauteile offenbar in enger Abfolge zu Bauten der anderen Burgen entstanden.1 Stolzenfels wurde ab 1244 (d) vom Trierer Erzbischof Arnold II. gegenüber der Lahnmündung gegründet und hatte zunächst militärisch-strategische Funktionen (Taf. 16).2 Diesen Schluss legt der Umstand nahe, dass die älteste Burg lediglich aus einem fünfeckigen Bergfried und einer Mauer um den Turm bestand. 1335–38 (d) fügte Erzbischof Balduin von Luxemburg den repräsentativen, dreigeschossigen Saalbau an der Rheinseite an. Der Ausbau stand wohl im Kontext der Errichtung eines Trierer Amtssitzes und der Verlagerung des Koblenzer Rheinzolls nach Kapellen Stolzenfels in den Jahren 1328/31, sodass auch die zugehörige Zollstelle in dieser Zeit erbaut wurde. Unter Erzbischof Kuno von Falkenstein folgten 1381–83 (d) u. a. der Wohnturm neben dem Saalbau und der innere Torbau zwischen Wohnturm und Bergfried. Burg Lahneck gegenüber Stolzenfels ist das älteste Zeugnis des Engagements der Mainzer Erzbischöfe am Rhein (Abb. 1). Der wegen des breiten Rheintals zurückversetzte Bau beherrscht auch das Lahntal. Palas und Bergfried wurden zwischen 1232–35 (d) 1 Eduard Sebald, „herlikeit hüben wie drüben. Spätmittelalterliche Bau- und Territorialpolitik am oberen Mittelrhein“, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 40, 2014, S. 83–157, bes. S. 94, 100, 108–110; zuletzt: Lorenz Frank, „Konkurrenz über den Rhein. Marksburg, Lahneck, Stolzenfels und ihr Entstehungszusammenhang“, Vortrag, gehalten am 25. Nov. 2016 im Landesmuseum, Mainz, im Rahmen der Tagung „Gotische Architektur am Mittelrhein – Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch“. 2 Lorenz Frank, „Der südliche Teil von Schloss Stolzenfels bei Koblenz. Erste Ergebnisse der bauhistorischen Untersuchungen“, in: Baudenkmäler in Rheinland-Pfalz, Jg. 59, 2004, S. 140– 144; Sebald 2014 (wie Anm. 1), S. 94; Doris Fischer, Stolzenfels, Regensburg 2014 (Edition Burgen Schlösser Altertümer, Führungsheft 4), S. 6.

unter Erzbischof Siegfried III. von Eppstein errichtet. 1245 (d) folgte die Burgkapelle.3 Bemerkenswert ist, dass der Bruder Siegfrieds, Gerhard III. von Eppstein, zeitgleich die Marksburg über dem nahen Braubach errichtete. Die Marksburg wurde als Höhenburg mit viergeschossigem, quadratischem Bergfried, Palas an der Nordseite und einer Ringmauer zwischen 1231–39 (d) anstelle eines (hölzernen?) Vorgängers der Zeit um 1200 begonnen (Taf. 15).4 Der gotische Ausbau erfolgte ab dem dritten Viertel des 14. Jahrhundert unter den Grafen zu Katzenelnbogen: Zunächst wurde der romanische Palas um 1355 (d) und 1368 (d) umgebaut, dazu die Ringmauer aufgestockt. 1372 (d) entstand an der rheinseitigen Südspitze der fünfgeschossige Kapellenturm, der möglicherweise im ersten Obergeschoss die Kapelle beherbergte. Unmittelbar auf den Kapellenturm folgte der Bau des gotischen Palas, wofür die Westteile des romanischen Palas und ein Abschnitt der alten Ringmauer abgetragen werden mussten. Vergleicht man die Daten der drei benachbarten Burgen fällt die zeitliche Nähe einzelner Bauabschnitte auf. Die romanischen Gründungsbauten der Lahneck und der Marksburg wurden im Laufe der 1230er Jahre errichtet. Im gegenüberliegenden trierischen Stolzenfels entstand ab 1244 ein Bergfried, der mit jenem der gegenüberliegenden Lahneck vergleichbar ist. Möglicherweise provozierte die kleine 3 Lorenz Frank, Oberlahnstein, Burg Lahneck, Baudokumentation, Mainz 2006, in: Generaldirektion Kulturelles Erbe (=GDKE), Landesdenkmalpflege Mainz, Archiv des Referats Bauforschung; Sebald 2014 (wie Anm. 1), S. 100; Doris ­Fischer, „Eine Burg voller Überraschungen. Burg Lahneck über Lahnstein“, in: Baudenkmäler in Rheinland-Pfalz, Jg. 58, 2003, S. 17–19. 4 Zur Marksburg: Lorenz Frank, „Marksburg – Baugeschichte einer Höhenburg im Oberen Mittelrheintal“, in, Marksburg. Geschichte und bauliche Entwicklung, hg. von Lorenz Frank/Jens Friedhoff, Braubach 2008, S. 32–58, hieraus sämtliche Daten; Sebald 2014 (wie Anm. 1), S. 108–110.

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1 Lahnstein, Burg Lahneck und Schloss Stolzenfels, Foto nach 1938.

2 Lahnstein, aquarellierte Federzeichnung, 1730.

Anlage selbst wiederum eine Mainzer Reaktion, denn auf Lahneck wurde 1245 die Burgkapelle, ein Statussymbol, errichtet. Auch die Ausbauten von Stolzenfels und der Marksburg im 14. Jahrhundert weisen chronologische Überschneidungen auf. Nachdem man 1335–38

auf Stolzenfels den Saalbau der Rheinseite errichtet hatte, wurde der romanische Palas der Marksburg ab 1355 umgebaut. 1372 folgten auf der Marksburg der Kapellenturm und der rheinseitige gotische Palas. Auf Stolzenfels entstanden zwischen 1381 und 1383 ein Wohnturm neben dem Saalbau und der innere Torbau zwischen Wohnturm und Bergfried. Der Torbau besaß einen Erker, wahrscheinlich ein Kapellenerker. Bezüge zum Kapellenturm der Marksburg sind anzunehmen. Hinzu kommt, dass wir aus Urkunden von 1386 und 1390 von einem geplanten Umbau der Kapelle auf Lahneck erfahren, der nicht ausgeführt wurde. Die geografische und zeitliche Nähe der Um- und Ausbauten legt die These nahe, dass sie in baulicher Konkurrenz zueinander entstanden bzw. auf Aktivitäten an anderen Anlagen auf dem gegenüberliegenden oder dem eigenen Ufer reagierten. Im Folgenden soll an drei weiteren signifikanten Beispielen untersucht werden, ob im Gebiet des Welterbes Oberes Mittelrheintal, d. h. zwischen Bingen/Rüdesheim im Süden und Koblenz im Norden, ähnliche Phänomene zu beobachten sind. Dabei soll der Blick neben Burgen auch auf Stadtmauern und Zollstellen gerichtet werden. Da auch Stadtprivilegien meist aus strategischen Gründen vergeben wurden, müssen sie ebenfalls in die Betrachtung einbezogen werden. Als These kann vorweggestellt werden, dass sich in den teils rasch aufeinanderfolgenden Baumaßnahmen und Privilegien nicht nur bauliche Reaktionen spiegeln, sondern auch politische bzw. territorialpolitische Ereignisse bzw. Prozesse. Die Burgen Lahneck und Stolzenfels erheben sich über Lahnstein – dem heutigen Oberlahnstein – und Kapellen-Stolzenfels. Lahnstein war seit dem 10. Jahrhundert in Mainzer Besitz und erhielt 1324 Stadtrechte (Abb. 2). Als nördlichste Exklave des Erzbistums am Mittelrhein hatte es einen hohen strategischen Wert für die Erzbischöfe, grenzte es doch unmittelbar an Trierer Territorien in Niederlahnstein und Koblenz auf der anderen Lahn- und Kapellen-Stolzenfels auf der anderen Rheinseite. Die besondere Bedeutung für Mainz schlug sich im Stadtbild nieder. Die Stadtmauer wurde wahrscheinlich nach der Stadtrechtsvergabe im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts begonnen und war vermutlich schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts weitgehend vollendet, sie wurde im Folgenden nur durch

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einzelne Baumaßnahmen/Bauten verstärkt.5 Die fast klappsymmetrische Rechteckanlage besaß als einzige des oberen Mittelrheins einen umlaufenden Wassergraben mit Zwingern vor den vier Toren. Resultierte die opulente Form primär aus den örtlichen Gegebenheiten, d. h. der breiten Landzunge, auf der die Stadt liegt und die einen Wassergraben erforderlich machte, so schlug sich die besondere Wertschätzung darin nieder, dass sich die Bau- und Landesherren an der Lahnsteiner Mauer durch Reliefs, Inschriften etc. mehrfach verewigten, was im Bearbeitungsgebiet singulär ist. Zudem wurde seit Anfang des 14. Jahrhunderts Zoll in Lahnstein erhoben.6 Die Zollstelle stand an der Südwestecke der Rheinseite und war in die Stadtmauer integriert. Lahnstein ist somit ein prominentes Beispiel für den Zusammenhang von Zoll und Stadtmauerbau, darüber hinaus für die Position der Zollstelle direkt am Fluss und in Stadtmauerecklage – beides Topoi, die sich am Mittelrhein und anderen Flüssen wiederholen.7 Im Mittelrheintal standen Zollstellen meist direkt unter der Burg des jeweiligen Landes- bzw. Zollherren und waren auch mit den Amtskellereien, den Verwaltungssitzen der Landesherrschaft, baulich verbunden oder gar identisch. Häufig hießen deshalb Stadtmauerecktürme, die in die Amtskellereien/Zollstellen integriert waren, Zollturm, wie u. a. in Lahnstein, Kaub, St. Goar und Bacharach.8 Dass die Lahnsteiner Zollstelle, vom 5 Zu mittelrheinischen Stadtmauern: Eduard Sebald, „eyniche porten, turnen, muren, graben oder vestenunge. Beobachtungen zu Stadtmauern im Oberen Mittelrheintal“, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 33, 2007, S. 23–117; zu Lahnstein s. S. 56–61. 6 1273 wird Burg Lahnstein (später Martinsburg) erstmals erwähnt, es gibt derzeit keine Erkenntnisse über eventuell zuzuordnende Bauteile. 1298 wurde ein Teil des Bopparder Zolls nach Lahnstein verlegt, hierzu u. a.: Otto Volk, Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1998 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 63), S. 533. 7 Zu Zollstellen am Mittelrhein u. a.: Eduard Sebald, „Der Pfalzgrafenstein und die Kauber Zollstelle im Kontext der Zoll- und Territorialpolitik der Pfalzgrafen bei Rhein“, in: Burgen und Schlösser, Jg. 47, 2006, S. 123–135. 8 Rüsthölzer des Zollturms der Martinsburg datieren unter Vorbehalt in den Winter 1380/81 (freundlicher Hinweis von Jutta Hundhausen, s. hierzu: Gutachten Jahrringlabor Jutta Hofmann, Nürtingen 2016, in: GDKE, Landesdenkmalpflege Mainz, Dendro-Archiv der Bauforschung). Der Turm, der zugleich Eckturm der Martinsburg und der Stadtmauer sowie

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Schema abweichend, weit entfernt von Burg Lahneck stand, der Burg des Landes- und Zollherren, geht wiederum auf die Breite der Landzunge zurück. Die Zollstelle wurde im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts ausgebaut. So weist der Kernbau der später sog. Martinsburg, die die Zollstelle beherbergte, signifikante Gemeinsamkeiten u. a. mit dem Kernbau der ebenfalls Mainzer Burg Rheinstein auf, der dendrochronologisch in die Zeit um 1330 datiert.9 Er wird, wie der Rheinsteiner, von runden Ecktürmen flankiert, die in ein polygonales Obergeschoss übergehen. Vergleichbar sind auch die Türme der Mainzer Burg Ehrenfels auf der Rüdesheimer Seite. Die Verwandtschaft der Formen legt den Schluss nahe, dass die Zollstelle/Martinsburg und die Lahnsteiner Stadtmauer gleichzeitig nach 1324 begonnen wurden. Bis um 1500 wurde sie von verschiedenen Mainzer Erzbischöfen, die durch Wappen etc. benannt sind, zu einer Randhausanlage mit umlaufendem, heute verfülltem Wassergraben ausgebaut, sodass sie typlogisch einem Kastell mit längsrechteckigem Innenhof glich. Der Name Martinsburg erinnert sowohl an den Diözesanpatron als auch den Mainzer Stammsitz. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass Lahnstein nicht nur einen hohen strategischen Wert besaß, sondern auch einen hohen fiskalischen: Um 1400 erreichten die Einnahmen des Lahnsteiner Zolls die Höhe der Steuern von insgesamt 30 Städten des Mainzer Bistums.10 Insofern war Burg Lahnstein nach dem Mainzer Stammsitz der wichtigste Sitz innerhalb der Diözese, der Lahnsteiner Stadthalter hatte einen hohen Rang im Kurstaat inne. Burg Stolzenfels gegenüber war wohl in erster Linie ein Zeichen territorialer Präsenz der Trierer Erzbischöfe an ihrer rheinischen Südflanke gegenüber Turm der Zollanlage war, entstand folglich zeitgleich mit Bauten auf Burg Stolzenfels und der Marksburg. Offenbar war auch er Teil des hier untersuchten Beziehungsgeflechts unterschiedlicher Baumaßnahmen. 9 Elke Hamacher, „Burg Rheinstein: ‚Freie Schöpfung der Romantik‘ oder ‚nur theilweis ergänzt‘? Bauhistorische Untersuchungen an der Südfassade, in: Die Denkmalpflege, Jg. 61, 2003, S. 43–49. Wie in Kaub (s. u.), wo der Zoll bereits ab ca. 1310 erhoben wird, die Zollstelle aber erst ca. 15 Jahre später errichtet wurde, wird auch in Lahnstein zunächst eine einfache – provisorische – Zollstelle bestanden haben. 10 Anja Ostrowsky, „Das Mittelalter am Mittelrhein“, in: Stadt und Burg, Ausstellungskatalog, Regensburg 2008, S. 11–25, bes. S. 17.

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3 Ansicht von Braubach (rechts), Rhens (links), Stolzenfels (im Hintergrund links) und Lahnstein (im Hintergrund rechts), Kupferstich von Wilhelm Scheffern, gen. Dilich, 1605.

dem Mainzer Lahnstein und dem Kölner Territorium um die Stadt Rhens im Süden. Im gleichen Kontext dürfte auch das Koblenzer Stadtrecht gestanden haben, das der Ort Kapellen-Stolzenfels bereits 1275 erhielt. Da er nie die Kriterien einer Stadt erfüllte, wie sie Max Weber schon 1914 postulierte11, gilt er, wie viele andere Städte des Mittelrheintals, als Minderstadt. Territorialpolitische Hintergründe dürften bei der Verleihung des Privilegs ausschlaggebend gewesen sein. Eine wesentlich stärkere Reaktion auf die Mainzer Anwesenheit auf dem gegenüberliegenden Ufer 11 Max Weber, „Die Stadt“ (1913/14), in: Max-Weber-Gesamtausgabe, Abt. I: Schriften und Reden, Bd. 22: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass Teilband 5: Die Stadt, hg. von Nippel, Winfried, Tübingen 2000, S. 1–102 (Nachwort, S. 103–122), bes. S. 11, 17 u. 110.

zeichnet sich im 14. Jahrhundert ab. 1324 – also just in jenem Jahr, als Lahnstein Stadtrechte erhielt – wurde ‚Capellin‘ erstmals als ‚oppidum‘ bezeichnet. 1328/31 verlegte Erzbischof Balduin von Luxemburg den um 1250/55 mit dem Bau der Koblenzer Stadtmauer eingeführten Rheinzoll von Koblenz nach Kapellen-Stolzenfels. 1347 wurden zwei Stolzenfelser Burgmannen mit dem ‚nuwe Zollhaus zu Capelle‘ belehnt.12 Mit dem Zollhaus entstand vermutlich die nicht mehr erhaltene Ortsbefestigung zu Füßen der Burg. In älteren Ansichten ist im Süden ein massiver Viereckturm abgebildet, daran schlossen sich nach Norden die Mauer und ein kleinerer Turm an, der mehrfach erwähnte ‚niederste Thurm‘. Der Schluss liegt nahe, dass der Bau der Zollstelle, der Ortsbefestigung und der Ausbau der Burg Stolzenfels gemeinsam 12 Zuletzt: Sebald 2007 (wie Anm. 5), S. 41–43.

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4 St. Goar, Stadtansicht, Aquarell von Wilhelm Scheffern, gen. Dilich, um 1607/08.

entstanden sind. Die Bauten und die Verlegung des Zolls sind ohne die Anwesenheit und die Aktivitäten der Mainzer Erzbischöfe im gegenüberliegenden Lahnstein wenig plausibel. Das bauliche und territoriale „Gegeneinander“ im Raum Kapellen-Stolzenfels, Lahnstein, Braubach und Rhens illustriert eine Ansicht Braubachs von Wilhelm Scheffer, gen. Dilich, von 1605 (Abb. 3). Noch deutlicher wird das Phänomen in drei Karten des Mittelrheintals am Ende des 15. Jahrhunderts, in denen Städte/Minderstädte (Taf. 1), Burgen (Taf. 2, Höhen- und Niederungsburgen) sowie Stadtmauern und Zollstellen (Taf. 3) kartiert sind.13 Das bauliche Agieren und Reagieren über den Fluss wurde als „ ‚herlikeit‘ hüben wie drüben“ beschrieben.14 Hintergrund ist der Umstand, dass die zu einer Burg gehörenden Güter in mittelalterlichen Urkunden als ‚herlikeit‘ bezeichnet werden, worin sich die Herrschaft bzw. der Herrschaftsanspruch über das zugehörige Land widerspiegelt. Durch die enge Bindung von Wehrbau und zugehörigem Land, die auch darin zum Ausdruck kam, dass Letzteres meist den Namen 13 Als Grundlage diente die Karte „Territorialverhältnisse am Ende des 15. Jahrhunderts“, in: Das Rheintal von Bingen und Rüdesheim bis Koblenz, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, 2 Bde., Mainz 2002, Bd. I, S. 90. Im Vergleich zum 13. und 14. Jahrhundert hatten sich zwischenzeitlich zwei Positionen verändert: Nach dem Aussterben der Grafen zu Katzenelnbogen gingen deren Gebiete 1478 durch Heirat an das Haus Hessen über. Das kölnische Rhens gelangte 1445 in Katzenelnbogener, später in hessische Hände. 14 S. hierzu: Sebald 2014 (wie Anm. 1).

der Burg trug, gingen von Burgen „regelrechte Kolonisierungsunternehmungen“15 aus. In St. Goar und den gegenüberliegenden Orten St. Goarshausen und Wellmich können ähnliche Vorgänge beobachtet werden. Die Zelle des Hl. Goar ging 765 durch eine Schenkung Pippins in den Besitz des Reichsklosters Prüm über (Abb. 4).16 Das Stift entwickelte sich zu einem der drei Hauptsitze der Abtei. Vögte des Stifts waren zunächst die Grafen von Arnstein, seit 1187/90 die Grafen von Katzenelnbogen. Im 13. Jahrhundert begann eine Phase der Auseinandersetzungen um die Stadtherrschaft zwischen ihnen und dem alten Lehnsherrn. Die Besitzverhältnisse waren frühestens um 1300 bzw. spätestens im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts zugunsten der Katzenelnbogener geklärt. Zwar ist kein Stadtprivileg oder Vergleichbares überliefert, doch legt der Umstand, dass verschiedene städtische Institutionen und Gebäude kurz darauf massiv urkundlich fassbar sind, den Schluss nahe, dass der Stadtwerdungsprozess erst jetzt abgeschlossen war, dass also die neuen Stadtherren tätig geworden waren. Hintergrund der „Übernahme“ war sicherlich der 1219 erwähnte St. Goarer Zoll, mit dem 15 Werner Meyer, „Burg und Herrschaft – Beherrschter Raum und Herrschaftsanspruch“, in: Die Burg, hg. von Gerd Ulrich Großmann/Hans Ottomeyer, Ausstellungskatalog, 3 Bde., Dresden 2010, Bd. III, S. 16–25. 16 Zu St. Goar: Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.3: Ehem. Kreis St. Goar, Stadt St. Goar, 2 Bde., bearb. von Eduard Sebald, München 2012 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 10).

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5 St. Goarshausen, Stadtansicht mit Stadtmauer und Burg Neukatzenelnbogen, Foto von 1937/38.

die Katzenelnbogener innerhalb zweier Generationen in höchste Reichskreise aufstiegen, der andererseits die Finanzierung des nun folgenden Bauprogramms garantierte. Mit dem Ausbau sollte der neue Haupt­ ort der Niedergrafschaft aufgewertet werden. Die mittelalterliche Stadtbefestigung, von der nur drei Türme und ein kurzer bergseitiger Mauerzug erhalten geblieben sind, datiert ins zweite Viertel des 14. Jahrhunderts. An der Nordostecke stand der erstmals 1448 nachgewiesene ‚zolletorn‘, der mit dem 1368 erwähnten, direkt danebenstehenden Zollhaus eine Einheit bildete. Charakteristisch war der am Südturm außen umlaufende Wehrgang – ein Motiv, dass am Saalbau der in nächster Nähe und vom gleichen Bauherrn errichteten Burg Reichenberg dendrochronologisch in die Zeit um 1326/29 datiert ist. Auch die sog. Neustadt unterhalb der Burg Rheinfels – keine Stadterweiterung, wie allgemein angenommen, sondern die zur Burg gehörige Burgmannsiedlung – wurde bewehrt. Im gleichen Zeitraum wurde Burg Rheinfels repräsentativ ausgebaut: vor allem an der Schauseite,

der Rheinseite (Taf. 19 Frontturmburg, um 1245, [dunkelblau], Uhrturm 1303 (d), Schildmauer und Frauenbau, um 1330/50 [hellblau]). St. Goar hatte allerdings einen entscheidenden Nachteil: Aus Sicht der Katzenelnbogener Stammlande im Taunus gesehen, lag es auf der „falschen“ Rheinseite.17 Insofern galt es zunächst die Lücke zu den Stammlanden zu schließen: Bereits 1278 ging St. Goarshausen durch Heirat an Katzenelnbogen. 1324 erhielt es Stadtrechte (Abb. 5), blieb aber Minderstadt. Der Bau der Stadtmauer und der Burg Neukatzenelnbogen schlossen sich unmittelbar daran an, beide waren um 1350 vollendet.18 Der Zusammenhang der Baumaßnahmen in beiden Orten offenbart 17 Erst 1367 sollten Burg und Stadt durch den Erwerb der Vogtei Pfalzfeld ein Hinterland im Westen erhalten. 18 Kurt Frein/Eduard Sebald, „Die Burgen Rheinfels und Neukatzenelnbogen im 17. Jahrhundert. Synergie oder nur Schicksalsgemeinschaft?“, in: Burg, Stadt, Kriegsführung im 17. Jahrhundert (Akten der 7. wissenschaftlichen Tagung in Oberfell an der Mosel), hg. von Olaf Wagener, Petersberg 2020 (erscheint demnächst).

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6 Wellmich, Ansicht mit Stadtmauer und Deuernburg (Burg Maus), Foto von Eduard Sebald, 2007.

sich u. a. an der Stadtmauer, deren runder Nordturm in Höhe des runden Südturms der St. Goarer Mauer steht. 1358 suchten die Katzenelnbogener gar einen eigenen Zoll in St. Goarshausen zu etablieren – d. h. einen zweiten Zoll an der Engstelle. Dies wurde freilich nach heftigen Protesten der umliegenden Landesund Zollherren kurz darauf untersagt. Burg Neukatzenelnbogen wird gemeinhin als Flankenburg von Burg Rheinfels angesehen, was aus militärischer Sicht falsch ist. In der recht beengten Burg, die noch dazu ungünstig auf einem vorgelagerten Sporn steht – mithin von oben angegriffen werden konnte –, konnten Steinkatapulte, sog. Pliden, nicht aufgestellt werden. Auch war die Reichweite der damaligen Wurfgeschosse zu gering, sodass Rheinfels nicht bestrichen werden konnte. Nur die Stadt St. Goar war erreichbar, was widersinnig gewesen wäre. Dies sollte sich erst in der Neuzeit mit Kanonen ändern – übrigens zum Nachteil von Rheinfels und St. Goar. Mit anderen Worten: Burg Katz war ein reines Territorialzeichen, mit der der Zusammenhang mit den Stammlanden und der nahen Burg

Reichenberg hergestellt wurde. Und es wurde – was noch wichtiger ist – eine Rheinquerung hergestellt. Da beide Rheinufer in gleicher Hand lagen, wurden sie auch optisch miteinander verbunden, wie es an der Engstelle des Rheins an der legendären Loreley nahe lag. Auch dieser Topos wiederholt sich, u. a. in Kaub und in Ehrenfels/Bingen. Wie reagierten die angrenzenden Territorialherren auf die massive Bautätigkeit? Das nahe Wellmich lag in Trierer Hand (Abb. 6). Es erhielt 1356 Stadtrechte, blieb ebenfalls Minderstadt. Burg Peterseck (auch Deuernburg und Burg Maus genannt) wurde im gleichen Jahr erbaut, wie dendrochronologisch datierte Rüsthölzer bezeugen. Die zeitgleich errichtete Stadtmauer, die mit der Burg im Verband stand, „verschloss“ das Seitental zum Rhein hin und unterband ein weiteres Vordringen der Katzenelnbogener vom Taunus an den Rhein. Stadtrecht und Baumaßnahmen reflektieren die Aktivitäten der Katzenelnbogener in St. Goar und St. Goarshausen. In einer Urkunde Karls IV. von 1356 ist eine zweite Burg erwähnt, Burg Petersberg. Der Text legt

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7 Kaub, Pfalzgrafenstein, Amtskellerei und Burg Gutenfels (rechts), im Hintergrund Oberwesel, Foto von Heinz Straeter, 2000.

die Vermutung nahe, dass sie auf dem gegenüberliegenden Ufer, d. h. auf dem St. Goarer Ufer, entstehen sollte. Nach Protesten wurde der Bau aufgegeben, im heutigen St. Goarer Stadtteil Fellen fanden sich keine Reste. Dies liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Katzenelnbogener 1367 die Vogtei Pfalzfeld erwarben, was die Versorgung einer Trierer Burg in diesem Areal unterband. Wie in St. Goar/St. Goarshausen schlugen sich in Burg Petersberg flussübergreifende Aspekte nieder, Trier wollte sozusagen mit einer eigenen Rheinquerung auf die Katzenelnbogener antworten. Und auch der Bau der pfälzischen Burg Herzogenstein steht möglicherweise im Kontext der Katzenelnbogener Baumaßnahmen. Die Reste des 1359 unter Pfalzgraf Rupprecht d. Ä. begonnenen Baus erheben sich über dem Urbachtal, exakt an der Nordgrenze der Pfalzgrafschaft (Taf. 2).19 Die Burg sicherte primär das rechtsrheinische Terrain gegen 19 Reinhard Friedrich, „Herzogenstein – begonnener aber nicht vollendeter Bau einer Burg im 14. Jahrhundert im Mittelrheintal“, in: Castrum bene, Jg. 9, 2006, S. 87–98.

die angrenzende Grafschaft Katzenelnbogen. Gleichzeitig war sie auch gegen das gegenüberliegende trierische Oberwesel gerichtet. Es folgten Proteste der Stadt und ihres Landesherrn und eventuell Auseinandersetzungen um den Bauplatz. Nach Vermittlung Kaiser Karls IV. musste der Burgenbau 1360/61 eingestellt werden. Das dritte Beispiel baulicher Konkurrenz über den Fluss sind die Städte Oberwesel und Kaub (Abb. 7). Oberwesel lag zunächst in Händen der Magdeburger Bischöfe, worauf eine nicht mehr existente Mauritiuskapelle hinweist, war ab 1166 reichsfrei (in die reichsfreie Zeit fiel der Baubeginn der Stadtmauer ab den 1230er Jahren) und ging 1309/12 in den Besitz des Trierer Erzbischofs Balduin über, als Dank seines Bruders Heinrich für dessen Hilfe bei der Wahl zum deutschen König.20 Die Baugeschichte der

20 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Ehem. Kreis St. Goar, Stadt Oberwesel, 2 Bde., bearb. von Eduard Sebald, München 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz 9).

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Oberweseler Liebfrauenkirche und ein eventueller Einfluss Balduins waren lange umstritten. Dendrochronologische Untersuchungen dreier Kragbalken der Seitenschiffe und diverser Rüsthölzer belegen aber, dass der Bau des Chores zwischen ca. 1320 und 1335/40, eher 1340, in Höhe der Obergadenfenster ruhte (Taf. 33).21 Nach der Wiederaufnahme der Bauarbeiten war man um 1350 bis in Höhe des Kranzgesimses gelangt. Somit steht die Chorweihe von 1331 vollkommen isoliert, der Chor war nicht fertig. Zudem fällt das Datum 1331 als Datierungshilfe der berühmten Ausstattung des Chores aus. Die Datierung des Goldaltars (Taf. 35) in die Zeit nach 1342 bzw. um 1350 konnte die jüngst vorgenommene Dendrodatierung des im Landesmuseum Mainz aufbewahrten Kruzifix des unteren Registers und der Maria der Verherrlichung des Oberen Registers erhärten.22 Hierzu passt vielleicht die hypothetische Datierung des Sakramentshauses neben dem Goldaltar. Zwar muss die Deutung der Wappen ohne restauratorische Untersuchung nach wie vor offenbleiben, doch ist eine Zuschreibung an Karl IV. derzeit am realistischsten. Karl wurde 1346 mit Unterstützung seines Großonkels Balduin in Rhens zum König gewählt. Insofern ist es möglich, dass Karl das Sakramentshaus in der nahe gelegenen Kirche des Oheims gestiftet hat, vermutlich als Dank für dessen Engagement bei der Königswahl. Durch die Neudatierung der Bauphasen wird ein Engagement des Trierer Erzbischofs an der Liebfrauenkirche wahrscheinlicher. Der Beginn der zweiten Bauphase, d. h. der Beginn der Vollendung des Kirchenbaus, fällt in jene Zeit, in der er die Statuten des Liebfrauenstifts 1339 änderte. Als Dank wurde ihm im gleichen Jahr eine Memorie gestiftet. Zwar ist keine direkte Stiftung zugunsten des Kirchenbaus überliefert, doch spricht die signifikante Übereinstimmung der Daten für die These, der Bischof habe

nicht nur für die prächtige Ausstattung des Hochchors gestiftet,23 sondern auch für die Vollendung der Kirche maßgeblich unterstützt.24 Auch die Tatsache, dass das Liebfrauenstift im Steuerverzeichnis des Trierer Sprengels aus der Zeit Balduins mit neun Pfund Silber jährlich veranlagt wurde, also wesentlich geringer als das Martinsstift in Oberwesel und das Stift in St. Goar, spricht für die These, dass die Zuwendungen Balduins auch auf den Weiterbau der Kirchen zu beziehen sind. Balduin war von 1328 bis 1336 Administrator des Erzbistums Mainz und zwischen 1331 und 1337 mit Unterbrechungen auch Administrator der Bistümer Worms und Speyer, suchte also seine Herrschaft am Rhein über Oberwesel hinaus nach Süden auszudehnen. Nach einem Urteil der päpstlichen Kurie in Avignon im Jahr 1336 musste er seinen Anspruch auf Mainz aufgeben. Zwar forderte ihn das Mainzer Domkapitel, das ihn in der Zeit des Schismas unterstützt hatte, erst im Oktober 1338 auf, Mitra und andere Bischofsinsignien zurückzugeben, de facto musste er sich aber nach 1336 auf das Erzbistum Trier beschränken. In diesem Kontext eröffnete der Weiterbau der Liebfrauenkirche zusammen mit der Stiftung der Chorausstattung die Möglichkeit, im erst 1309 erworbenen Oberwesel baulich, d. h. sichtbar, Fuß zu fassen und die südliche Grenze des Erzbistums Trier am Rhein mit einem prächtigen Zeichen zu konsolidieren. Territorialpolitisch motivierte Stiftungen von Sakralbauten und Ausstattungsstücken sind charakteristisch für Balduin, wie die Stiftungen für St. Clemens in Mayen, St. Wendalinus in St. Wendel, St. Georg in Niederwerth, für das Marienstift in Kyllburg und für die Schiffenberger Madonna bezeugen. Mit Oberwesel vergleichbar sind der Chor von St. Wendalinus in St. Wendel und die Schiffenberger Madonna, die an exponierter Stelle in gerade erworbenen Gebieten bewusst „gesetzt“ wurden.

21 Eduard Sebald, „Die Oberweseler Liebfrauenkirche – ein Kirchenbau zwischen historischer Bauforschung und historischer Forschung“, in: architectura, Jg. 39, 2009, S. 159–170. 22 Der Kruzifix des unteren Registers und die Maria der Verherrlichung des oberen Registers datieren nach 1342, hierzu: Gutachten des Jahrringlabors Jutta Hofmann, Nürtingen 2017 und 2018 (Maria mit Vorbehalt), in: GDKE, Landesmuseum Mainz, Archiv, s. hierzu: Eduard Sebald, „Neues zur Datierung des Oberweseler Goldaltars“, in: Mainzer Zeitschrift, Jg. 113, 2018 , S. 1-4.

23 Zuletzt: Verena Kessel, Erzbischof Balduin von Trier (1285– 1354). Kunst, Herrschaft und Spiritualität im Mittelalter, Tier 2012 (daraus auch das Folgende). 24 Sebald 1997 (wie Anm. 20), Bd. I, S. 171–177. Die jüngst vermutete Stiftungstätigkeit der Katzenelnbogener in Oberwesel, ist durch die dendrochronologischen Neudatierungen hinfällig, s. hierzu: Winfried Monschauer, Die ehemalige Stiftskirche Unserer Lieben Frau zu Oberwesel. Neue Aspekte zur Bauherrenund Stifterfrage, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 42, 2016, S. 29–48.

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8 Kaub, Pfalzgrafenstein, Foto von Heinz Straeter, 2001.

Aber nicht nur Bau und Ausstattung der Liebfrauenkirche selbst sprechen für die Aktivitäten Balduins in Oberwesel, sondern auch signifikante Zeichen „von außen“, d. h. von den Pfalzgrafen, den direkten Nachbarn. Die Pfalzgrafen hatten Burg cube (ab 1504 Gutenfels), den gleichnamigen Ort zu deren Füßen und die zugehörigen rechtsrheinischen Gebiete 1277/91 käuflich erworben. Im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts starteten die neuen Stadtherren ein aufwendiges Ausbauprogramm. Zunächst erhielt Kaub 1324 Stadtrechte, obwohl es bereits 1257 als ‚stedechin‘ bezeichnet wurde. Der Pfalzgrafenstein (Abb. 8), auf der Insel Falkenau inmitten des Rheins aufragend, wurde in zwei Bauphasen errichtet: 1327 (d) entstand der fünfeckige Turm. Darauf saß ein ‚Trumper‘, dessen Signal die nahenden Zolleinnahmen freudig „begrüßte“. Vom Turm wurde folglich nur der Verkehr auf dem Rhein kontrolliert, kein Zoll eingenommen. Dies geschah von Beginn an an der Kauber Zollstelle, die sich an Land in der Amtskellerei unterhalb der Burg Gutenfels befand, auch dies

ein Beispiel des bekannten Schemas. Um den Wachtturm, der oft fälschlich als Bergfried bezeichnet wird, wurde um 1340 (d) eine befestigte Ringmauer gezogen. Da ein Wachtturm nicht unbedingt einer Mauer bedarf, war die Errichtung der Mauer offenbar mit einer Erweiterung/Änderung der Funktion der Anlage verbunden: Sie diente fortan nicht mehr nur als Teil der Zollstelle, sondern auch als Grenzfeste. Die Funktionserweiterung reflektiert zwei Tatsachen: Zum einen steht der Pfalzgrafenstein exakt auf der Grenze zum Gebiet von Oberwesel. Zum anderen zeigt die neue Baugeschichte der Liebfrauenkirche, dass deren Bau zeitgleich mit den pfälzischen Aktivitäten wieder aufgenommen wurde. Es ist sicher kein Zufall, dass der in Sichtweite aufragende Pfalzgrafenstein exakt zur gleichen Zeit mit einer Ringmauer bewehrt und umfunktioniert wurde. Vielleicht sahen dies auch die Zeitgenossen so, wie der Begriff ‚Pfallentz­ grafenstein‘ nahelegt, der erstmals 1339 genutzt wurde und als „Fels des Pfalzgrafen“ übersetzt werden kann.

Fluss – Land – Stadt – Burg – Zoll

Auch die Burg ‚cube‘, die älteste Burg auf rechtsrheinischer Seite (Abb. 9), wurde damals ausgebaut. Die Namensgleichheit mit dem darunterliegenden Ort indiziert deren enge Verbindung, ein gutes Beispiel für ‚herlikeit‘. Die Burg von um 1222 (d) gilt als eines der schönsten Beispiele staufischen Burgenbaus am Rhein. Die Anlage wurde unter Pfalzgraf Rudolf II. zwischen 1338 und 1341 (d) mit einer Ringmauer verstärkt – also parallel zur Ringmauer des in rund 300 m Luftlinie entfernten Pfalzgrafensteins und höchst wahrscheinlich vom gleichen Bautrupp. Und wie u. a. in St. Goar und Oberlahnstein wurde dabei die Zollstelle mit der 1275 erwähnten ‚mur‘ als Eckpunkt in die, nach 1324 errichtete Stadtmauer integriert und der Zollturm 1336 (d) umgebaut.25 Aus der Perspektive von „Hüben wie drüben“ legen die massiven Baumaßnahmen die Vermutung nahe, dass die Pfalzgrafen auf die Präsenz des Trierer Kirchenfürsten im faktisch vis-à-vis liegenden Oberwesel reagierten. Die Anwesenheit des in territorialpolitischer Hinsicht „eher robusten“ Balduin werden die Pfalzgrafen sicher als Bedrohung empfunden haben. Stadtprivileg und Baumaßnahmen sollten demnach den frisch erworbenen rechtsrheinischen Besitz schützen. Möglicherweise wurden auch zollpolitische Interessen berührt: Zwar war der Kauber Zoll bereits ab 1257 erhoben worden, konnte aber von den Vorbesitzern nicht durchgesetzt werden. Nun, d. h. kurz vor 1310, wurde er von den Pfalzgrafen endgültig etabliert. Es ist durchaus möglich, dass dies mit dem Besitzwechsel auf dem gegenüberliegenden Ufer zusammenhängt. Neben den drei prominenten Beispielen baulichen Reagierens aufeinander existieren noch eine Reihe kleinerer Beispiele, u. a. die Ortsbefestigungen von Niederheimbach und Lorchhausen. Erstere steht exakt an der Nordgrenze des Mainzer Gebietes zur Pfalzgrafschaft (Abb. 10), der heute kanalisierte Heimbach bildete zugleich die Grenze und den zur Anlage gehörenden Wassergraben. Die Mauer hatte offenbar mehrere Funktionen: Sie war Orts- und Burgbefestigung, kann auch als Grenzbefestigung

25 Lorenz Frank, „Bauen am Rhein. Die Baugeschichte der Burg, der Zollbauten und der Stadtmauer in Kaub“, in: Bericht über die 46. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung, Stuttgart 2012, S. 47–53.

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9 Kaub, Stadtansicht mit Stadtmauer, Burg Gutenfels und Amtskellerei, Foto von Heinz Straeter, 2001.

angesehen werden. Die Ortsbefestigung von Lorchhausen (Abb. 11), eines auch heute noch sehr kleinen Ortes, ist ohne das gegenüberliegende Bacharach kaum plausibel erklärbar. Wer sollte geschützt werden? Und wer finanzierte die Mauer? Insofern ist sie wohl eher als nördlicher Eckpfeiler des Rheingauer Besitzes der Mainzer Erzbischöfe gegenüber dem Hauptort der Pfalzgrafschaft zu deuten, auch dies ein markantes Beispiel für „ ‚herlikeit‘ hüben wie drüben“. Das Modell ‚herlikeit‘ deutet bauliche Aktionen als Reflex vornehmlich territorialpolitischer Interessen/Prozesse. Beschrieben wurde ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen Stadtprivilegien und dem Bau von Burgen, Stadtmauern und Zollstellen, das meist variabel und/oder konzertiert eingesetzt wurde bzw. auf Veränderungen reagierte. Auch Sakralbauten und ihre Ausstattung konnten darin einbezogen sein. Vier Faktoren waren maßgebend:

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Eduard Sebald

1. Geschichte

Die Landschaft muss eine lange Tradition mit entsprechend aufgeladener Bedeutung besitzen. Das Rheintal, besonders das Mittelrheintal, war seit der Antike eine politisch wie kulturell hoch bedeutende Kulturlandschaft. Es war eine der Kernlandschaften des Heiligen Römischen Reichs. Zunächst unterstand es den Herrschern als Kron- und Fiskalgut. In einem Jahrhunderte währenden Prozess gingen unterschiedlich große Gebiete in andere Hände über – beginnend mit der Pippinischen Schenkung der Zelle des Hl. Goar an das Reichskloster Prüm und endend mit der Verpfändung der ehemals freien Reichsstädte Oberwesel und Boppard an den Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg. Fortan hielt das Reich nur noch geringen Besitz am Mittelrhein. Die hohe Bedeutung des Flusstals und das Bedürfnis, hier präsent zu sein, spiegelt sich in seiner territorialen Zersplitterung, was u. a. zu Phänomen, wie den Brückenköpfen26, führte.

2. Topografie

10 Niederheimbach, Heimburg und Ortsbefestigung, Foto von Eduard Sebald, 2007.

Neben den historischen und politischen Entwicklungslinien ist der Rhein noch heute eine der Hauptverkehrsadern Europas, er war besonders im Spätmittelalter eine Transferregion zwischen Nord und Süd. Das mittelrheinische Engtal bot den hier ansässigen Territorialherren die naturräumlichen Voraussetzungen für eine Partizipation an den Verkehrsströmen mittels Zöllen. Burgen ragten häufig auf Felsspornen ins Tal „hinein“, bildeten faktisch optische Barrieren. Zu nennen sind hier u. a. die Burgen Ehrenfels und Rheinstein sowie Rolandseck am Ein- und Ausgang des Mittelrheintals. Gleiches gilt für Zollstellen, wie

26 St. Goar ist hierfür ein signifikantes Beispiel: Unter der Reichsabtei Prüm war es zunächst Brückenkopf des weit entfernten Eigners. Nachdem Prüm verdrängt worden war, wurde es unter den Grafen von Katzenelnbogen zum Zentrum der gleichnamigen Niedergrafschaft und entsprechend ausgebaut. Nachdem die Katzenelnbogener Grafen in der männlichen Linie ausgestorben waren, fiel die Niedergrafschaft 1479 durch Heirat an die Landgrafen von Hessen. St. Goar wurde wieder zum Brückenkopf des in Marburg residierenden Geschlechts. Der massive Ausbau der Burg Rheinfels zur Festung im 17. und 18. Jahrhundert erklärt sich auch durch die Stellung der Landgrafen als eines der bedeutendsten evangelischen Geschlechter im Deutschen Reich.

Fluss – Land – Stadt – Burg – Zoll

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11 Lorchhausen, Ortsansicht mir Ortsbefestigung, im Hintergrund Bacharach, Stich, 19. Jahrhundert.

der Zollstelle unter der Burg bei Ehrenfels, aber auch für Sakralbauten, wie die Liebfrauenkirche in Oberwesel und die Ev. Stiftskirche in St. Goar.

3. Der zeichenhafte Charakter der Bauwerke

Burgen wurden als Landmarken gesetzt, worauf schon Martin Warnke hinwies.27 Gleiches gilt für Sakralbauten. Dass optisch-territoriale Präsenz auch für Stadtmauern und Zollstellen relevant war, ist evident. So konnten an drei Zollstellen/Amtskellereien weithin sichtbare Wappen der Zollherren nachgewiesen werden, in Boppard ist es erhalten.28 27 Martin Warnke, Politische Landschaften. Zur Kunstgeschichte der Natur, München 1992, bes. S. 47–62. 28 Wappen sind am St. Goarer Zollhaus nachgewiesen und hingen wahrscheinlich auch am Binger Mäuseturm, der zur Mainzer Zollstelle unterhalb der Burg Ehrenfels gehörte. Das Wappen Triers am Turm der Bopparder Burg (= Zollstelle) ist am Zollhaus aufgemalt, so dass es weithin sichtbar war, hierzu: Lorenz Frank, „Die Burg in Boppard am Rhein – Neue Forschungsergebnisse zur Baugeschichte“, in: Burgen und Schlösser, Jg. 46, 2005, S. 226–235.

4. Ein gewachsenes Interesse an „parzellenscharfer“ Grenzdefinition, das sich unserem heutigen Verständnis von Grenze annähert.

Der Hintergrund, vor dem die Entwicklung ablief, wurde bereits skizziert: eine der Hauptursachen der Zersplitterung dürfte die am Mittelrhein im 13. Jahrhundert immer weiter zurückgedrängte bzw. stark eingeschränkte Zentralgewalt gewesen sein. Gleichzeitig musste sich mit der allmählichen territorialen Verdichtung zwangsläufig ein Interesse an exakter definierten Grenzen ausbilden. In diesem Prozess zwischen zeichenhafter Markierung der Territorien und Grenzziehung spielten Burgen, Stadtmauern und Zollstellen sowie offenbar auch Sakralbauten als Landmarken und Kolonisationsstätten eine „herausgeho­bene“ Rolle, was im Begriff der ‚herlikeit‘ verdichtet ist.29 29 Die Untersuchung konzentrierte sich auf das obere Mittel­ rhein­tal, sie gilt auch für dessen untere Hälfte. Stichprobenartige Überprüfungen zeigten, dass sie darüber hinaus auch auf andere Flusslandschaften anwendbar ist: auf die Mosel, die Lahn, den Niederrhein und außerhalb Deutschlands auf die Wachau und die Dordogne.

Hauke Horn

Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

Gotisches Bruchsteinmauerwerk Die Quadertechnik ist ein Charakteristikum gotischer Architektur – so steht es in den Fachbüchern und das ist in vielen Fällen auch richtig. Der Blick auf die Bauwerke des Mittelrheintals lehrt jedoch, dass die Quadertechnik kein notwendiges Element gotischer Konstruktion darstellt. Die meisten Kirchen und auch Burgen im Mittelrheintal wurden stattdessen in der althergebrachten Bruchsteintechnik gemauert. Offen zu sehen ist das heute in Oberwesel an der Minoritenkirche aus dem 13. Jahrhundert (Taf. 40) sowie der Liebfrauenkirche (Abb. 1) und St. Martin (Abb. 2) aus dem 14. und 15. Jahrhundert wie auch an der Martinskirche in Wellmich (Abb. 3) oder der ehemaligen Pfarrkirche St. Barbara in Braubach. Die meisten Kirchen verbergen ihr Bruchsteinmauerwerk heute allerdings unter einer Putzschicht mit farbiger Fassung. An der Oberweseler Liebfrauenkirche wird sogar ein regelmäßiges Quadermauerwerk mit weißem Strich auf rotem Grund imitiert (Taf. 32). Hierbei handelt es sich zwar um einen Anstrich aus den 1970er Jahren, der jedoch dem Befund des 14. Jahrhunderts folgt.1 Der Grund für die Ausführung in Bruchsteinmauerwerk liegt im Material. Die Mauern wurden aus Schiefer oder schiefriger Grauwacke errichtet, die vor Ort reichlich vorhanden waren und noch immer sind. Dieses Steinmaterial lässt sich aufgrund seiner mineralogischen Eigenschaften schlichtweg nicht in präzise Quader schlagen, sondern nur in teils scheibenartige Bruchsteine spalten. Steinarbeiten, bei denen das Material bildhauerisch geformt werden sollte, wie vor 1 Reinhold Elenz, „Die Architekturfassungen“, in: Die Liebfrauenkirche in Oberwesel, Worms 2002 (Forschungsberichte zur Denkmalpflege, 6), S. 29–31; Eduard Sebald, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Stadt Oberwesel, Bd. 1, Berlin 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9), S. 126.

allem das feine Maßwerk, mussten folglich aus anderen Steinsorten, vornehmlich Kalk- oder Sandstein, ausgeführt werden, die extra in das Mittelrheintal importiert werden mussten. An der Liebfrauenkirche in Oberwesel beispielsweise lässt sich trotz der Putzschicht erkennen, dass die stark gekehlten Gewände aus großen, steinmetzmäßig bearbeiteten Steinquadern bestehen. Die etwas ältere Minoritenkirche in Oberwesel besitzt hingegen Gewände aus kleinformatigen Tuffsteinen, die vermutlich aus der Eifel stammen, und nur mit einer einfachen Fase versehen sind (Abb. 4).2 In Wellmich hingegen sind sogar die Gewände aus dem lokalen Bruchstein gearbeitet worden – eine Profilierung fehlt entsprechend (Abb. 5). Die Nutzung von Quaderwerk war demnach konstruktiv nicht zwingend, sondern hing mit dem gestalterischen Anspruch zusammen: Kalk- und Sandsteinquader ermöglichten eine bildhauerische Bearbeitung, etwa in Form von Profilierungen im Gewändebereich.

Ein Quaderbau als Ausnahme: Die Wernerkapelle Ein Bauwerk weicht nicht nur in seiner Formensprache, sondern auch in der Bautechnik deutlich vom regionalen Umfeld ab. Die kurz nach 1287 begonnene Wernerkapelle in Bacharach wurde aus großen, sorgfältig geschlagenen Quadern aus rotem Sandstein gefertigt (Taf. 6–7).3 Es handelt sich allerdings nicht 2 Zur Datierung der Minoritenkirche in Oberwesel s. den Aufsatz des Verfassers zur sozialen und politischen Dimension der Sakralbauten im Mittelrheintal in diesem Band. 3 Zur Wernerkapelle jüngst: Hauke Horn, „Liaisons rhénanes: le dessin no. 6 de la cathédrale de Strasbourg et la chapelle de Werner à Bacharach dans le contexte du gothique rhénan“, erscheint in: Bulletin de la Cathédrale de Strasbourg. S. auch den Beitrag „Zwischen Konkurrenz und Kooperation“ des Autors in diesem Band.

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Hauke Horn

1 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Strebepfeiler am Westturm.

2 Oberwesel, Sankt Martin.

4 Oberwesel, Minoritenkirche, Gewände der Chorfenster.

5 Wellmich, Sankt Martin, Chorfenster.

3 Wellmich, Sankt Martin.

6 Bacharach, Wernerkapelle, Mauerschalen.

Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

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um Vollquaderwerk, sondern um ein Mauerwerk aus zwei äußeren Quaderschalen, deren Zwischenraum mit Bruchstein und Mörtel ausgefüllt wurde, wie es bei zahlreichen mittelalterlichen Kirchen beobachtet werden kann (Abb. 6).4 Oberhalb der Gewölbe verzichtete man ganz auf die Quaderschale, dort ist ein Bruchsteinmauerwerk ausgeführt worden, dem auch lokale Steine beigemischt wurden. Die roten Sandsteinquader weisen fast alle Zangenlöcher auf. Zudem lassen sich an den profilierten Werksteinen, etwa den Fenstergewänden, zahlreiche Steinmetzzeichen erkennen. Hinsichtlich der Versatztechnik des Quadermauerwerks fällt auf, dass die Schichthöhen der Wandflächen nicht mit den Quaderhöhen der Dienstbündel korrespondieren, wie es anderenorts üblich ist. Deshalb mussten einige der Quader zu den Dienstbündeln hin ausgeklinkt werden, an anderen Stellen wurden hingegen klaffende Fugen mit Bruchstücken aufgefüllt (Abb. 7). Diese sogenannte Stapeltechnik trat laut Dieter Kimpel in Frankreich erstmalig beim Bau der Kathedrale von Reims nach 1210 auf und wurde bereits nach wenigen Jahrzehnten vom sogenannten Lagerfugenplan abgelöst.5 Damit wäre bei der Wernerkapelle zum Ende des 13. Jahrhunderts eine Versatztechnik zum Tragen gekommen, die, wenn Kimpels Aussage korrekt ist, beim Bau französischer Kathedralen vor allem in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zum Einsatz kam. Das kann allerdings nicht als architektonische Rückständigkeit interpretiert werden, denn die verwandten Formen, wie etwa die Maßwerkfigur des Dreistrahls beweisen, dass der Baumeister sehr wohl auf der Höhe seiner Zeit war. Der rote Sandstein der Wernerkapelle stammt gemäß petrografischer Untersuchung wahrscheinlich aus Miltenberg am Main.6 Der dortige Steinbruch

war im Besitz des Mainzer Erzstifts und lieferte Baumaterial für den Dom, wo seit den 1280er Jahren der große Anbau der gotischen Seitenschiffskapellen im Gang war. In späteren Jahrhunderten wurde u. a. auch das kurfürstliche Schloss am Rhein aus dem Milten­ berger Stein gebaut, so dass der rote Sandstein heute als Markenzeichen Mainzer Baukunst gilt. Insofern trug der markante Rotsandstein sicher nicht unerheblich dazu bei, dass Teile der Literatur die Wernerkapelle als Werk einer Mainzer Werkstatt ansehen.7 Die architektonischen Formen der Kapelle, vor allem aber historische Zusammenhänge, weisen hingegen auf Beziehungen zu Köln hin.8 Die Werner­kapelle,

4 An der Innenseite sind die Quader nicht flächig gearbeitet und zum Teil auch von unterschiedlicher Tiefe, so dass sie sich mit dem Mörtelguss verzahnen. 5 Dieter Kimpel, „Die Entfaltung der gotischen Baubetriebe. Ihre sozio-ökonomischen Grundlagen und ihre ästhetisch-künstlerischen Auswirkungen“, in: Architektur des Mittelalters: Funktion und Gestalt, hg. von Friedrich Möbius/Ernst Schubert, Weimar 1984, S. 246–­­281, hier S. 266­–268. 6 Diana Holzwarth, Untersuchungen zur Bausteinverwitterung an der Wernerkapelle in Bacharach im Vergleich zu historischem Bruchsteinmaterial, unveröffentlichte Diplomarbeit Mainz 1990.

7 Z. B.: Bernhard Schütz, Die Katharinenkirche in Oppenheim, Berlin, 1982 (Beiträge zur Kunstgeschichte, 17), S. 257, Anm. 370; Hartmut Seeliger, Die Stadtkirche in Friedberg in Hessen. Ein Beitrag zur Geschichte der gotischen Baukunst in Hessen und am Mittelrhein, Sonderabdruck aus dem Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, NF, 27, Nr. 1/2, 1961/1962. 8 Hauke Horn (wie Anm. 3); Ders., „Baukultur am Mittel­rhein. Beziehungen zwischen Fluss und Architektur im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Wasser in der mittelalterlichen Kultur. Gebrauch – Wahrnehmung – Symbolik, hg. von Gerlinde Huber-Rebenich/Christian Rohr/Michael Stolz, Berlin 2017 (Das

7 Bacharach, Wernerkapelle, Mauerwerk der Südkonche.

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8 Blick auf Bacharach von Norden, Zeichnung von Friedrich Eisenlohr, 1820er Jahre, Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruhe.

die im Mittelalter dem heiligen Kölner Bischof Kunibert geweiht war und in den Quellen folglich als Kunibertskapelle genannt wird, gehörte zum Bacharacher Petersstift, das wiederum dem Kölner Stift St. Andreas inkorporiert war. Doch selbst wenn die Handwerker aus Mainz gekommen wären, erklärt das nicht, warum die Wernerkapelle nicht aus dem lokalen Stein erbaut wurde, wie es zwei Dekaden später beim Bau der Oberweseler Liebfrauenkirche wieder getan wurde.

Mittelalter. Beihefte, 4), S. 163­–178, hier S. 172­–175; Paul Crossley, „The Wernerkapelle in Bacharach“, in: Mainz and the Middle Rhine Valley. Medieval Art, Architecture and Archaeology, hg. v. Ute Engel/Alexandra Gajewski, Leeds 2007 (The British Archaeological Association Conference Transactions, 30), S. 179–185; Maria Geimer, Der Kölner Domchor und die rheinische Hochgotik, Bonn 1937 (Kunstgeschichtliche Forschungen des rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz, 1), S. 68–76.

Gestalterische und materialikonologische Gründe für die Verwendung des roten Sandsteins, können ausgeschlossen werden, weil die Wernerkapelle im Mittelalter anscheinend verputzt gewesen ist. Hierauf weisen Reste hin, die bei der Restaurierung in den 1990er Jahren oberhalb der Chorfenster gefunden wurden.9 Die Farbe des Anstrichs ist leider nicht festgestellt worden, aber es wurden Spuren einer Vergoldung gefunden, die auf eine kostbare ornamentale Verzierung hinweisen. Die steinsichtige Ruine ist wahrscheinlich ein Konstrukt der Rheinromantik des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich scheint eine Zeichnung von Friedrich Eisenlohr die Kapelle in den 1820er Jahren noch mit einer großflächig verputzten Fassade zu zeigen (Abb. 8). Auf einer Zeichnung, die Paul 9 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Peter Keber, der als Vorsitzender des Bauvereins Wernerkapelle in die Arbeiten eingebunden war.

Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

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9 Bacharach, Wernerkapelle, Ansicht von Norden, Zeichnung 1901.

Clemen 1901 nach einer umfangreicheren Restaurierungskampagne publizierte, ist die Wernerkapelle hingegen komplett steinsichtig dargestellt (Abb. 9). Ein möglicher Erklärungsansatz für die Anwendung der Quadertechnik wären statische Erwägungen des Baumeisters. Die großflächige Auflösung der Wand in Maßwerkfenster und ein skelettartiges Pfeilersystem, welches die Gotik französischer Prägung mit sich brachte, stellte den Baumeister vor neue statische Herausforderungen. Es wäre gut denkbar, dass der Baumeister die lokalen Bruchsteine für nicht geeignet hielt, um die feingliedrige gotische Architektur umzusetzen und stattdessen ein solides Quadermauerwerk, wie es an den großen Kathedralbaustellen in Köln und Straßburg zum Einsatz kam, für statisch unabdingbar hielt. Eine Beschreibung der Wernerkapelle aus dem frühen 15. Jahrhundert weist darauf hin, dass die Quadertechnik allgemein als hochwertig angesehen wurde: „una nova capella, immo ecclesia pretiosissima, sectis & quadratis lapidibus“10. Das 10 Acta Sanctorum, Aprilis Tomus II, Antwerpen 1675, S. 117, 10.

änderte allerdings nichts daran, dass beim Anbau des kleinen Westbaus um 1430 wieder auf den lokalen, schieferigen Bruchstein zurückgegriffen wurde.

Import von Baumaterial Es stellt sich allerdings die Frage, warum ausgerechnet der Rotsandstein aus Miltenberg zum Einsatz kam und nicht etwa Trachyt vom Drachenfels, aus dem der Kölner Dom errichtet wurde. Eine Antwort liefert die geografische Lage Bacharachs am Rhein. Stromabwärts konnten die Steine mit Hilfe der Strömung relativ leicht flussabwärts nach Bacharach geschifft werden. Hätte man auf den zum Bau des Kölner Doms verwendeten Drachenfelser Trachyt zurückgreifen wollen, so wäre nicht nur der Weg länger und mit mehr Zollstationen gespickt gewesen, sondern die Schiffe hätten vor allen Dingen mühsam getreidelt, also mit Hilfe von Pferden oder Knechten

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10 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Grundriss.

den Fluss aufwärts gezogen werden müssen.11 Auch der Kalk für den Mörtel der Wernerkapelle wurde flussabwärts nach Bacharach geliefert. Laut einer mineralogischen Analyse stammt er aus dem Binger Raum.12 Angesichts der großen Baustellen in Mainz, wo am Dom die Seitenschiffskapellen angebaut wurden und die benachbarte Liebfrauenkirche neu errichtet wurde,13 darf man aus logistischen Gründen ferner davon ausgehen, dass dort ein großes Lager an Miltenberger Sandstein bestand. Die Quader hätten dann nur den Weg von Mainz aus rheinabwärts verschifft werden müssen. Die Verwendung der oben beschriebenen, älteren Stapeltechnik beim Bau der Wernerkapelle ließe sich gut mit einem Erwerb der Steine in Mainz zusammenbringen. Die Quader wurden nicht für die Wernerkapelle vorfabriziert, sondern fertig gekauft, so dass sie den Gegebenheiten 11 Otto Volk, Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1998 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 63), S. 487–­607, hier S.  443­–450. 12 Pia Heberer, „Die Wernerkapelle in Bacharach. Eine archäologische Untersuchung zum Abschluß der Instandsetzungsarbeiten von 1981–1996“, in: Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz, 47­–51, 1992­–1996 (erschienen 1999), S. 37­–59, hier S. 43. 13 S. hierzu den Beitrag von Ute Engel in diesem Band.

vor Ort angepasst werden mussten. Die Stapeltechnik machte diese Vorgehensweise möglich. Ab dem 14. Jahrhundert dokumentieren die Schriftquellen regelmäßig den Import von Baumaterial flussabwärts in das Mittelrheintal. So wurde gemäß einer Urkunde dem Zimmermann Arnold Kern 1338 für eine Lieferung Holz vom Oberrhein, die für den Bau des Pfalzgrafensteins bei Kaub bestimmt war, Zollfreiheit gewährt.14 Otto Volk führte aus, dass am Mittelrhein im Spätmittelalter große Mengen an Holz eingeführt wurden, wobei der Mainzer Holzmarkt den Dreh- und Angelpunkt des rheinischen Holzhandels bildete.15 Eine Urkunde von 1488, die den Bürgern von Bingen die freie Einfuhr von Holz aus dem Schwarzwald gewährt,16 verdeutlicht die Entfernungen, die für die Beschaffung von Holz buchstäblich in Kauf genommen wurden. Die nahen Wälder des Hunsrücks und Taunus` erbrachten offenbar nicht genug Ertrag, um den Bedarf an Holz im Mittelrheintal zu decken. Auch anderes Baumaterial wurde flussabwärts über den Rhein angeliefert: Aus den Passierscheinen des Ehrenfelser Zollschreibers Dithmar um 1340 geht hervor, dass zum Bau des Pfalzgrafensteins 11.000 Backsteine aus Speyer nach Kaub geschifft wurden, außerdem Kalk und 60 Kragsteine, womit wohl steinmetzmäßig bearbeitete Natursteine gemeint sein dürften.17

Innenliegende Strebepfeiler Roter Sandstein wurde auch für den ab 1308 erfolgten Bau der Oberweseler Liebfrauenkirche importiert. Genutzt wurde er für die bildhauerisch geformten Werksteine, während das Mauerwerk, wie zuvor erwähnt, aus lokalem Bruchstein besteht. Auch sonst unterscheidet sich die Liebfrauenkirche deutlich von der zwanzig Jahre älteren Wernerkapelle. Die Oberweseler Basilika folgt nicht dem preziösen, filigranen 14 Volk 1998 (wie Anm. 11), S. 374, 731. 15 Ebd., S. 731­–734. 16 Regesta Bingiensia, hg. von Anton Joseph Weidenbach, Bingen 1853, Nr. 543. 17 Stefan Grathoff, Mainzer Erzbischofsburgen. Erwerb und Funktion von Burgherrschaft am Beispiel der Mainzer Erzbischöfe im Hoch- und Spätmittelalter, Stuttgart 2005 (Geschichtliche Landeskunde, 58), S. 71 Anm. 267.

Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

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11 Bacharach-Steeg, Hauptschiff.

12 Bacharach-Steeg, Pfeiler mit Bogenansatz.

Stil der Bacharacher Kapelle, sondern einer zwar repräsentativen, aber schlichten und reduzierten Architektursprache.18 Gotische Schmuckformen finden sich lediglich in den Maßwerkfenstern und an den Portalen, ansonsten wird auf eine Gliederung des Mauerwerks vollständig verzichtet. Der Außenbau – und das ist eine Besonderheit von Liebfrauen – weist nicht einmal Strebepfeiler auf (Taf. 32). Diese statisch notwendigen Tragelemente wurden bei der Liebfrauenkirche in den Innenraum verlegt (Taf. 34, Abb. 10). Statisch ist das nicht problematisch, es ist vielmehr eine Entscheidung, die die Gestaltung des Außenbaus und Innenraums berührt. Dieses Tragsystem wird im Prinzip von mehreren Bauwerken im Mittelrheintal übernommen. Bei St. Anna in Bacharach-Steeg wurden die Strebepfeiler wie in der Oberweseler Liebfrauenkirche gänzlich in den Innenraum verlegt, ragen allerdings weiter in den Raum hinein und wirken deshalb wie raumteilende Wände (Abb. 11). Darüber hinaus wurden Details der Liebfrauenkirche getreu übernommen, etwa die charakteristischen Arkaden, an denen die spornförmigen Wände in einen einfachen Gurtbogen übergehen, so dass am Gurtansatz zwei ‚Pendentifs‘ entstehen (Abb. 12, vgl. Abb. 13). Es ist offensichtlich, dass Liebfrauen in Oberwesel ein direktes Vorbild für

St. Anna in Steeg gewesen ist und es erscheint denkbar, dass Handwerker von der Oberweseler Baustelle in Steeg tätig waren. Bei St. Martin in Lorch wurde das nördliche Seitenschiff mit innenliegenden Strebpfeilern gebaut, wobei die Grundrisse der Mittelschiffspfeiler mit ihren signifikanten Spornen denen von Liebfrauen entsprechen (Abb. 14). Auch das Detail der Pendentifs an den Gurtansätzen der Arkaden wurde entsprechend übernommen. Der Chor von St. Martin aus dem späten 13. Jahrhundert wurde hingegen in der üblichen Bauweise mit äußeren Strebepfeilern errichtet und auch die etwas jüngere südliche Mittelschiffswand weist außenliegende Strebepfeiler auf, die sich im Übrigen formal von denen des Chores unterscheiden.19 Das System der Oberweseler Liebfrauenkirche wurde offenbar im Bauverlauf adaptiert. Bei den Martinskirchen in Oberwesel und in Bingen modifizierte man das System, indem die Strebepfeiler der Mittelschiffswände nicht zum Mittelschiff, sondern zu den Seitenschiffen hin ausgeführt wurden (Abb. 15, Abb. 16). Auf diese Weise erzielte man

18 S. hierzu auch den entsprechenden Beitrag des Autors in diesem Band.

13 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Pfeiler mit Bogenansatz.

19 Nach aktuellem Forschungsstand datiert der Chor Ende des 13. Jahrhunderts, das Mittelschiff wurde nach 1304 begonnen und das nördliche Seitenschiff in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts errichtet. (Kulturdenkmäler in Hessen, Rheingau-Taunus-Kreis I, Bd. 2: Lorch, Oestrich-Winkel, Rüdesheim, Walluf, bearb. von Dagmar Söder, Darmstadt 2014 (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland), S. 632–­635).

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15 Oberwesel, St. Martin, Grundriss.

14 Lorch, St. Martin, Grundriss. 16 Bingen, St. Martin, Grundriss vor Umbau 1885.

17 Mainz, ehemalige Liebfrauenkirche, Grundriss.

Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

zwar eine fließendere Raumwirkung im Mittelschiff, dies hatte aber zur Folge, dass die Strebepfeiler die Seitenschiffsdächer durchstoßen. Bei St. Martin in Oberwesel hallt der Rhythmus der Strebepfeiler im Mittelschiff noch in Form von trapezförmigen Wandvorlagen nach, die aus den Pfeilern hervorgehen (Taf. 42). In der Binger Martinskirche wurde auf eine vertikale Gliederung der Mittelschiffswand schließlich ganz verzichtet (Taf. 10). Die Oberweseler Liebfrauenkirche war also nicht nur vom gestalterischen Ansatz, sondern auch von der Tragstruktur her richtungsweisend für nachfolgende Bauten im Mittelrheintal. Das Prinzip innenliegender Strebepfeiler wurde jedoch nicht erst in Oberwesel entwickelt. Bereits die seit 1285 im Bau befindliche und 1311 geweihte Mainzer Liebfrauenkirche verfügte über innenliegende Strebepfeiler (Abb. 17).20 In Mainz allerdings sind den Strebepfeilern reich profilierte Dienstbündel vorgelegt gewesen, auf die man in Oberwesel verzichtete. Ein noch näher liegendes und wahrscheinlich direktes Vorbild bietet die Mino­ ritenkirche in Oberwesel, wo die Strebepfeiler des südlichen Seitenschiffs nach innen gelegt wurden, allerdings auf einem hohen Sockel stehen.21 Dass die Austauschprozesse nicht auf das Mittelrheingebiet beschränkt blieben, zeigt der Blick rhein­ aufwärts nach Straßburg. Auch das Langhaus von St. Thomas, das ins späte 13./frühe 14. Jahrhundert datiert wird,22 wurde mit innenliegenden Strebepfeilern konzipiert, allerdings nur an der zu einem Platz orientierten Nordseite (Abb. 18). Dort zeichnen sich die Pfeiler als dünne Lisenen ab und gliedern auf diese Weise grafisch die Schauseite zum Stadtraum. 20 Zur Mainzer Liebfrauenkirche: Beate Dengel-Wink, Die ehemalige Liebfrauenkirche in Mainz. Ein Beitrag zur Baukunst und Skulptur der Hochgotik am Mittelrhein und in Hessen, Mainz 1990 (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz). 21 S. hierzu auch den Aufsatz des Verfassers zur sozialen und politischen Dimension der Sakralbauten im Mittelrheintal in diesem Band. 22 Zur Baugeschichte: Marc Carel Schurr, „La reconstruction de l’église Saint-Thomas dans la première moitié du XIIIe siècle“, in: Strasbourg 1200–1230. La révolution gothique, hg. von Cécile Dupeux/ Jean Wirth, Kat. Ausst. Strasbourg 2015/2016, Straßburg 2015, S. 136–140; Sabine Bengel, Das Straßburger Münster. Seine Ostteile und die Querhauswerkstatt, Petersberg 2011 (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, 84), S. 121f.; Suzanne Braun, Églises de Strasbourg, Strasbourg 2002, S. 80–­85.

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18 Straßburg, Sankt Thomas, von Norden.

Bauverlauf nach Schiffen Im Fall der Martinskirchen in Oberwesel und Bingen lässt sich aufzeigen, dass die Konstruktionsweise mit durchlaufenden Strebepfeilern an den Mittelschiffswänden im Zusammenhang mit der Organisation des Bauverlaufs steht. Während bei zahlreichen mittelalterlichen Kirchen die Langhäuser in der ganzen Breite sukzessiv von Osten nach Westen errichtet wurden, baute man bei den Martinskirchen in Oberwesel und Bingen die Schiffe zeitlich versetzt. Dieses Verfahren scheint auch bei St. Martin in Lorch angewandt worden zu sein. Bei St. Martin in Oberwesel handelt es sich heute um eine zweischiffige Kirche, deren Südseitenschiff nach derzeitigem Forschungsstand nie realisiert wurde (Abb. 15). Dass ein Südseitenschiff jedoch geplant war, beweisen die vermauerten, aber gut erkennbaren Arkadenbögen an der südlichen Außenwand (Taf. 41). Bei St. Martin in Bingen wurde aufgrund der durchlaufenden Strebepfeiler an den Mittelschiffswänden (Abb. 16) bisher angenommen, dass der umfassende Wiederaufbau der Kirche nach verheerendem Stadtbrand von 1403 zunächst als einschiffige Saalkirche

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Hauke Horn

erfolgen sollte.23 Befunde in der Kirche legen jedoch nahe, dass das südliche Seitenschiff parallel zum Mittelschiff errichtet wurde: So zeigt der Schlussstein der südlichen Nebenapsis das Wappen des Mainzer Erzbischofs Johann II. von Nassau, der als Restaurator der Binger Martinskirche den Wiederaufbau initiiert hatte. Der Tod des Metropoliten 1419 liefert folglich einen terminus ante quem für die Errichtung des Bauteils. Außerdem entsprechen die aufwändigen Kopfkonsolen im Südseitenschiff den Konsolen im Chorbereich, der wahrscheinlich 1416 geweiht wurde, wohingegen im westlichen Mittelschiff ein Stilwechsel hin zu einfacheren Bildwerken zu beobachten ist. Die bauplastische Ausstattung in Chor und Seitenschiff erfolgte demnach in zeitlicher Nähe, während die Obergadenzone offenkundig später ausgestattet wurde. Das Nordseitenschiff wurde hingegen zunächst nicht mitgebaut, genauso wie es bei St. Martin in Oberwesel mit dem Südseitenschiff der Fall gewesen ist. Die Vorteile dieses Verfahrens sind offensichtlich: Aufgrund der durchlaufenden Strebepfeiler an den Mittelschiffswänden kann der Gewölbeschub im Mittelschiff auch ohne die Unterstützung der Seitenschiffe abgeleitet werden. Damit wurde es möglich, die Ressourcen und finanziellen Mittel zunächst auf die Fertigstellung des Mittelschiffs (und in diesem Fall eines weiteren Seitenschiffs) zu konzentrieren, den Gebäudeteil schneller fertigzustellen und damit den Regelbetrieb früher zu gewährleisten. Die Martins­kirche in Oberwesel verdeutlicht heute, dass es sich um eine kluge Vorgehensweise gehandelt hat. Wenn dort die Mittel für die Errichtung des Südseitenschiffs offensichtlich nicht mehr vorhanden waren, hätte ein Bau des Langhauses in voller Länge wohl nicht vollendet werden können. Trotz der Konzentration der Mittel auf ein oder zwei Schiffe nahmen die Arbeiten in Oberwesel und Bingen Jahrzehnte in Anspruch, wie Veränderungen der Struktur oder der Bauformen anzeigen.24 Diese Veränderungen belegen auch, dass die Schiffe selbst wie üblich von Osten nach Westen gebaut wurden. 23 Zur Martinskirche in Bingen s. den Beitrag des Autors in diesem Buch. 24 Ebd.; Zur Liebfrauenkirche von Oberwesel zuletzt: Eduard Sebald, „Die Liebfrauenkirche in Oberwesel. Ein Kirchenbau zwischen historischen Bauforschung und historischer Forschung“, in: architectura, 39/2009, S. 159–­170.

Im Unterschied zu Oberwesel startete man in Bingen nach neuestem Forschungsstand spätestens in den 1460er/1470er Jahren mit dem Bau des fehlenden Nordseitenschiffs.25 Im Abstand von demnach 40–50 Jahren nach der Chorweihe entschied man sich nicht nur, den Gebäudeteil in einer ganz anderen, seinerzeit aktuellen Architektursprache zu realisieren, sondern auch, diesen gleich zweischiffig zu errichten. Der formale Kontrast zum Bestand fiel so stark aus, dass die ein eigenständiges Bauwerk suggerierende Bezeichnung „Barbarabau“ für die Nordseitenschiffe gebräuchlich wurde. Die offenkundig ausreichend zur Verfügung stehenden Mittel und die erkennbare Absicht, repräsentativ zu bauen, lassen sich aus der Nutzung erklären, denn im Barbarabau stand der Pfarraltar für die Binger Bürgerschaft, die sich deshalb in besonderer Weise mit dem Gebäudeteil identifiziert haben mag.

Resümee Hinsichtlich der Bautechnik und -organisation des 13. bis 15. Jahrhunderts im Mittelrheintal lässt sich somit Folgendes resümieren: Die Mauerwerkstechnik der gotischen Sakralbauten im Mittelrheintal weicht mit Ausnahme der Wernerkapelle in Bacharach von der gotischen Quadertechnik ab. Ursächlich ist die Nutzung der lokal verfügbaren Steine, Schiefer und Grauwacke, die sich nur bruchsteinhaft bearbeiten lassen. Wenn Material importiert wurde, wie dies für Holz und Ziegel in den Quellen nachweisbar ist, so war der Rhein der Haupttransportweg. Der Import von Baumaterialien erfolgte natürlicherweise in Fließrichtung des Stroms. Hingegen war der Import von technischem Wissen nicht an die Strömung gebunden. Das Beispiel der Wernerkapelle zeigt, dass der Baumeister über fundierte Kenntnisse der architektonischen Entwicklungen in Straßburg und Köln verfügte. Richtungsweisend wurde jedoch die architektonisch ganz anders konzipierte Liebfrauenkirche in Oberwesel, wo wieder auf die tradierte Bruchsteinbauweise zurückgegriffen wurde. Dort wurde das vermutlich 25 Zur Martinskirche in Bingen s. den Beitrag des Autors in diesem Buch, s. dort auch Abb. 13.

Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

von der Mainzer Liebfrauenkirche prominent gemachte Tragsystem mit innenliegenden Strebepfeilern umgesetzt, dass dann beispielhaft auf nachfolgende Bauwerke im Mittelrheintal wirkte. Bei den Martinskirchen in Oberwesel und Bingen lässt sich schließlich nachvollziehen, dass die Tragstruktur mit

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innenliegenden Strebepfeilern es ermöglichte, die Schiffe mit den Bauabschnitten zu verknüpfen. Die Bautechnik und -organisation des 13. bis 15. Jahrhunderts im Mittel­rheintal zeigt sich also ebenso örtlich bedingt wie sie im überregionalen Austausch stand.

Ute Engel

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300 Der gotische Mainzer Dom, die Liebfrauenkirche und der überregionale Kunsttransfer am Mittelrhein

Aurea Moguntia um 1300 Mainz erlebte in den Jahrzehnten vor und nach 1300 einen regelrechten Bauboom. Er spiegelte die Bedeutung der Stadt als kirchliches und politisches Zentrum wider, Sitz des Reichserzkanzlers und mächtigsten Erzbischofs im Heiligen Römischen Reich,1 ebenso wie den kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung der städtischen Bürgerschaft nach dem Erlangen des Freiheitsprivilegs von 1244 sowie der Gründung des Rheinischen Bunds 1254.2 Das vielfältige Baugeschehen umfasste zahlreiche Kirchen und Klöster und gipfelte im städtischen Bereich in den Neubauten des Rathauses, des Heiliggeistspitals und des Mainzer Kaufhauses auf dem Brand.3 Führend unter den kirchlichen Bauvorhaben war der Ausbau des doppelchörigen Mainzer Doms und seiner Kirchenfamilie mit den Langhauskapellen der Kathedrale, dem Neubau der Liebfrauenkirche im Osten sowie dem Umbau der Johanneskirche – des Alten Doms – im Westen. Die neue Mainzer Architektur um 1300 nahm dabei dynamisch Anregungen aus den verschiedensten Architekturströmungen dieser Zeit auf und wurde selbst prägend für Innovationen.4 1 Ernst-Dieter Hehl, „Goldenes Mainz und Heiliger Stuhl. Die Stadt und ihre Erzbischöfe im Mittelalter“, in: Geschichte der Stadt Mainz, hg. von Franz Dumont/Ferdinand Scherf/Friedrich Schütz, Mainz 1998, S. 839–858; Joachim Glatz, „Romanik und Gotik in Mainz“, in: ebd., S. 1059–1095. 2 Ludwig Falck, Mainz in seiner Blütezeit als Freie Stadt (1244– 1328), Düsseldorf 1973 (Geschichte der Stadt Mainz, 3); ders.: „Die Freie Stadt in ihrer Blütezeit“, in: Dumont/Scherf/Schütz 1998 (wie Anm. 1), S. 143–170. 3 Glatz 1998 (wie Anm. 1), S. 1081f.; Falck 1998 (wie Anm. 2), S. 155–159; Andreas Puth: „’Our and the Empire’s free city on the Rhine‘: Visualizing the Empire in the Mainz Kaufhaus Reliefs”, in: Mainz and the Middle Rhine Valley. Medieval Art, Architecture and Archaeology, hg. von Ute Engel/Alexandra Gajewski, Leeds 2007, S. 89–123 (British Archaeological Association Conference Transactions, 30). 4 Vgl. Ute Engel: „Virtuosentum. Hängemaßwerk, Luftrippen und Tugendmänner als Import-/Exportgut der Gotik in Mainz

Obwohl in Mainz kein überragender, neuer Monumentalbau wie der Kölner Dom oder das Straßburger Münster entstand, erwies sich die Stadt gerade durch die Vielfalt der Bauunternehmungen um 1300 als ein gleichberechtigt zu bewertendes Zentrum der Architekturgeschichte am Mittelrhein und darüber hinaus.5 Während die Neubauten der Mainzer Pfarr-, Stifts- und Klosterkirchen in dem laufenden Dissertationsvorhaben von Karola Sperber untersucht werden,6 konnte die Verfasserin im Rahmen des Forschungsprojekts „Der gotische Mainzer Dom. Der Ausbau der erzbischöflichen Kathedrale vom späten 13. bis zum 15. Jahrhundert“,7 des anschließenden DFG-Projekts „Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch. Mittelalterliche Sakralarchitektur am

und am Mittelrhein im 14. und 15. Jahrhundert“, in: Kunsttransfer und Formgenese in der Kunst am Mittelrhein. 1400–1500, hg. von Martin Büchsel/Hilja Droste/Berit Wagner, Berlin 2019, S. 87–113 (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, 20). 5 Vgl. Ute Engel, „Ummanteln oder neu Bauen? Die rheinischen Kathedralen in Konkurrenz im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Capriccio & Architektur. Das Spiel mit der Baukunst. Festschrift für Bruno Klein, hg. von Stefan Bürger/Ludwig Kallweit, Berlin/ München 2017, S. 91–99. 6 Karola Sperber, Städtischer Kirchenbau in Mainz um 1300 und die Herausforderung der Bettelorden. Formen der Innovation, Rezeption und Repräsentation in der Mainzer Stifts- und Pfarrkirchenarchitektur, Dissertationsprojekt, Universität Mainz; s. a. den Beitrag von K. Sperber in diesem Band. In St. Johannis findet seit 2013 ein umfangreiches Grabungs- und Bauforschungsprojekt unter der Leitung von Guido Faccani statt, s. https://ska-johannis-mainz.ekhn.de/startseite/aktuell. html [Zugriff: 16.3.2019]. 7 Gefördert 2011–2012 von der Stiftung Hoher Dom zu Mainz sowie dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Universität Mainz unter der Leitung der Verfasserin. Dieses Projekt wiederum baute auf einem Forschungsprojekt von Dethard von Winterfeld (Universität Mainz) und Emil Hädler (Hochschule Mainz) auf, das diese 2001–2005 am Ostbau des Mainzer Doms durchführten, abgeschlossen mit der Publikation Emil Hädler/Dethard von Winterfeld, Dom Rekonstruktionen, Mainz 2010 (Werkstattbericht aus der Fachhochschule Mainz, Forum Sonderausgabe, 1).

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der Langhauskapellen und der Liebfrauenkirche neueste architektonische Tendenzen nicht nur von Oberund Niederrhein, sondern auch von Frankreich bis Böhmen verarbeiteten, ermöglicht durch die einzigartige geografische Lage von Mainz am Kreuzungspunkt diverser Wasserwege und Handelsstraßen von Süd und Nord, West und Ost.11 So präsentierte sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts die zentrale Kirchenfamilie der Aurea Moguntia, des Heiligen Stuhls von Mainz,12 mit neuen Fassaden und Türmen zur Front des Rheins und des gegenüber einmündenden Mains sowie zur städtischen Öffentlichkeit hin als altehrwürdig und modern zugleich (Abb. 1).

Die Langhauskapellen des Doms und Liebfrauen in Mainz, ihre Stifter und Förderer

1 Mainz, Stadtansicht von Matthäus Merian, 1633, Ausschnitt mit Dom und Liebfrauen.

Mittelrhein (ca. 1220–1350)“8 sowie des BMBF-Projekts „Mittelalterliche Portale als Orte der Transformation“9 Forschungen vor allem zu den Langhauskapellen des Mainzer Doms sowie der Mainzer Liebfrauenkirche anstellen, deren Ergebnisse hier zusammenfassend vorgestellt werden.10 Es zeigte sich, dass die eng miteinander verbundenen Bauvorhaben 8 Gefördert 2013–2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Mainz unter der Leitung von Matthias Müller, s. a. die Beiträge von M. Müller, H. Horn und K. Sperber in diesem Band. 9 Gefördert 2014–2018 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung an der Universität Bamberg unter der Leitung von Stephan Albrecht; vgl. Ute Engel: „Klerus und Könige. Die Portale der Liebfrauenkirche in Mainz und ihr Bildprogramm“, in: Die Archäologie des mittelalterlichen Portals, hg. von Stephan Albrecht/Ute Engel, Petersberg, in Bearbeitung. 10 Vgl. Ute Engel: Gotik und Romanik. Die Langhauskapellen des Mainzer Doms und die Architektur um 1300, Regensburg, in Bearbeitung (Neue Forschungen zum Mainzer Dom) sowie die anderen genannten Publikationen der Verfasserin.

Am Mainzer Dom war 1239 mit den großen Feierlichkeiten zur Domweihe eine über 100 Jahre dauernde Bauzeit zu Ende gegangen, angefangen um 1100 mit dem Neubau des von Kaiser Heinrich IV. geförderten Ostchores und abgeschlossen mit dem monumentalen Trikonchos des Westchores und wohl auch des zugehörigen Westlettners (Abb. 2).13 Die Feierlichkeiten der Weihe leitete Erzbischof Siegfried III. von Eppstein (1230–1249),14 der damals auf der Höhe seiner Macht stand und nach seinem Tod mit dem ersten der drei bekannten, sog. Krönungsgrabstei11 Vgl. Engel 2019 (wie Anm. 4) sowie den Beitrag von H. Horn in diesem Band. 12 Siehe Rolf Decot: „Der Martinsdom in Mainz. Zeuge einer wechselvollen Geschichte“, in: Der verschwundene Dom. Wahrnehmung und Wandel der Mainzer Kathedrale im Lauf der Jahrhunderte, hg. von Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2001, S. 22–43. 13 Zur Baugeschichte des Mainzer Doms s. Fritz Arens, Der Dom zu Mainz, Darmstadt 1982 (und spätere Auflagen); Dethard von Winterfeld, „Zur Baugeschichte des Mainzer Doms“, in: Kotzur 2011 (wie Anm. 12), S. 44–97; zum Westlettner s. Gerhard Lutz, „The Choir-Screen at Mainz and the Master of Naumburg“, in: Engel/Gajewski 2007 (wie Anm. 3), S. 53–67; Diana Ecker, „Der Westlettner des ‚Naumburger Meisters‘. Ein neuer Rekonstruktionsvorschlag für ein rätselhaftes Bauwerk“, in: Kotzur 2011 (wie Anm. 12), S. 168–207. 14 Friedhelm Jürgensmeier, „Pro und Contra: Die Stellung der Erzbischöfe (1160–1249) im Reichsgeschehen“, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 1.1: Christliche Antike und Mittelalter, hg. v. Friedhelm Jürgensmeier, Würzburg 2000, S. 332–346, zu Siegfried III. s. S. 342–346 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 6).

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

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ne geehrt wurde.15 Aufgestellt war das Grabmal im Ostchor des Doms, wo auch zahlreiche der anderen Mainzer Erzbischöfe bestattet waren.16 1259 wurde der Neffe Siegfrieds III., Werner von Eppstein, zum Mainzer Erzbischof ernannt (1259– 1284).17 Trotz seiner langen und erfolgreichen Regierung ist für Werner von Eppstein kein Grabmal im Mainzer Dom überliefert. Man kann nur vermuten, dass auch er im Ostchor bestattet wurde. Es war Werner, der 1278 zusammen mit dem Domkapitel einen Aufruf an die Bischöfe des Reichs richtete, Ablässe zugunsten einer baulichen Verbesserung der Mainzer Kathedrale zu erlassen. Konkret werden Dächer, Kreuzgang, Refektorium, Dormitorium sowie Türme genannt.18 Schon 1279 ist der Baubeginn der ersten Langhauskapelle im Osten auf der Nordseite überliefert, St. Viktor, deren Altar 1284 geweiht wurde.19 Diese Schriftquellen sind aufschlussreich,20 zeigen 15 Verena Kessel, „Sepulkralpolitik. Die Krönungsgrabsteine im Mainzer Dom und die Auseinandersetzung um die Führungspositionen im Reich“, in: Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im Alten Reich, hg. von Peter Claus Hartmann, Stuttgart 1997, S. 9–34 (Geschichtliche Landeskunde, 45); s. a. Rüdiger Fuchs/Britta Hedtke/Susanne Kern: Die Inschriften des Mainzer Doms und des Dom- und Diözesanmuseums von 800 bis 1350, Wiesbaden 2010, Nr. 6, S. 33–38; Decot 2011 (wie Anm. 12), S. 27–30. 16 Stefan Heinz/Barbara Rothbrust/Wolfgang Schmid, Die Grabdenkmäler der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz, Trier 2004, S. 153–206, hier S. 193f., 207f. 17 Falck 1973 (wie Anm. 2), S. 105–115; Paul-Joachim Heinig: „Die Mainzer Kirche am Ende des Hochmittelalters (1249–1305)“, in: Jürgensmeier 2000 (wie Anm. 14), S. 347–415; zu Werner von Eppstein S. 364–377; zur Familie Eppstein s. Regina Schäfer: Die Herren von Eppstein. Herrschaftsausübung, Verwaltung und Besitz eines Hochadelsgeschlechts im Spätmittelalter, Wiesbaden 2000. 18 „[…] circa tectum ambitum refectorium dormitorium ac etiam in turribus et aliis quam pluribus“, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Heinrich II., 742–1288, hg. von Johann Friedrich Böhmer/Cornelius Will, Bd. 2, Innsbruck 1886, Reprint Aalen 1966, S. 404, Nr. 462, 463. 19 „Altare […] discimus ex tabella ibidem apenda: Anno Domino MCCLXXIX […] inchoata fuit fabrica Capellarum huius ecclesie […] Et hoc altare […] consecratum […] Anno […] MCCLXXXIV […]“, Codex Diplomaticus sive Anedoctorum, res Moguntinas […], hg. von Valentin Ferdinand von Gudenus, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1747, S. 776. 20 Schriftquellen zum Bau der Langhauskapellen des Mainzer Doms sind an diversen Stellen erhalten, oft in Abschriften des 18. Jahrhundert Erstmals wurden die Quellen zusammengestellt in Franz J. A. Falk, Die Kunstthätigkeit in Mainz von Willigises Zeit bis zu Schlusse des Mittelalters in Regestenform aus

2 Mainz, Dom, Grundriss, 1819.

sie doch, dass die Neubaumaßnahmen um den romanischen Kernbau des Doms herum von Anfang an außer dem Anbau von Kapellen auch den Kreuzgang, die Stiftsgebäude und die Türme miteinplanten.21 Tatsächlich ersetzten die Langhauskapellen auf der Südseite den Nordflügel des vorherigen Domkreuzgangs und verwendeten auch dessen Abbruchmaterial.22 Der Bischof also initiierte das Bauvorhaben, und Erzbischof Werner von Eppstein führte damit die Tradition seiner Familie als Förderer des Dombaus fort. gedruckten und ungedruckten Quellen, Mainz 1869, S. 20–24; Friedrich Schneider, Der Dom zu Mainz. Geschichte und Beschreibung des Baues und seiner Wiederherstellung, Berlin 1886, S. 32–35; Rudolf Kautzsch/Ernst Neeb, Der Dom zu Mainz, Darmstadt 1919 (Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, Bd. 2: Die kirchlichen Kunstdenkmäler der Stadt Mainz, T. 1), S. 20f. verzeichnen nur die wichtigsten Quellen zur Baugeschichte. Ausführlicher werden die Schriftquellen behandelt in Engel: Gotik und Romanik (wie Anm. 10). 21 Die Bauten der Stiftsgebäude des Mainzer Doms sind Thema der Dissertation von Britta Hedtke; s. a. den Beitrag von B. Hedtke in diesem Band. 22 Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 123f.; Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 62.

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Ute Engel

3 Mainz, Lageplan des Doms um 1790.

Doch als diejenigen, die die Pfründen – die Messen an den Altären – für die einzelnen Kapellen stifteten und dadurch den Bau eigentlich finanzierten, traten gerade nicht die Mainzer Erzbischöfe auf. Bis auf eine Ausnahme – die letzte Kapelle, die Allerheiligenkapelle ganz im Osten der Südseite (s. u.) – sind uns ausschließlich Domdekane und Mitglieder des Domkapitels als Stifter der Kapellen überliefert. Der Anbau der Kapellen diente folglich nicht nur der Schaffung einer repräsentativen und modernisierenden Außenfassade des Mainzer Doms. Vielmehr entstand mit den Kapellenreihen eine große Anzahl neuer Räume für Altäre und hochwertige Grabmalplätze, die so vorher nicht vorhanden waren. Aus den Belegen für Stiftungen, Altarweihen und Bestattungen

können wir den Fortschritt im Bau der jeweils sieben Kapellen auf der Nord- und Südseite schrittweise nachvollziehen:23 Wie wir bereits hörten, wurde 1279 die östlichste Kapelle der Nordseite, St. Viktor, begonnen und ihr Altar, gestiftet von Domscholaster Ludwig, 1284 geweiht.24 Ebenfalls 1279 ist eine Altarweihe in St. Nazarius überliefert, der dritten Kapelle von Osten auf der Nordseite, was dafür spricht, dass die ersten drei Kapellen zusammen konzipiert wurden. In der dazwischen liegenden zweiten Kapelle von Osten, St. Barbara, wurde 1280 eine Pfründe von Domscholaster Adelwolf vom oder zum Turm (de Turri) dotiert. Diese Kapelle diente wohl der Memoria der gesamten Familie zum Turm, eines einflussreichen Patriziergeschlechts in Mainz, das seit 1238 die weltlichen Kämmerer der Stadt stellte.25 Das im Mainzer Dom- und Diözesanmuseum erhaltene, figürliche Grabmal des Stadtkämmerers Arnold zum Turm (1238–1266), Onkel des Domscholasters Adelwolf, war ursprünglich in der Barbarakapelle aufgestellt.26 Nach den Überlieferungen für die ersten drei Kapellen der Nordseite 1279–1284 tritt eine Unterbrechung ein. Sie dürfte verursacht worden sein durch ein Ereignis in unmittelbarer Nähe des Doms: 1285 brannte die im Osten direkt vor dem Dom liegende und mit diesem durch ein Atrium verbundene Stiftskirche Liebfrauen ab und musste, wie ein Brief des Dekans Conrad und des Kapitels von Liebfrauen betont, vom Fundament aus neu aufgebaut werden

23 Zu Recht weist Christian Freigang, „Chapeles latérales privées. Origines, fonctions, financement: le cas de Notre-Dame de Paris“, in: Art, Cérémonial et Liturgie au Moyen Âge, hg. von Nicolas Bock u. a., Rom 2002, S. 527–544, hier S. 528f. am Beispiel der Kapellen von Notre-Dame in Paris auf die Schwierigkeit hin, dass eine Kapellen- bzw. Altar- oder Messstiftung nicht identisch mit dem Kapellenbau sein müsse. In Kombination mit anderen Baunachrichten lassen sich die Stiftungen im Fall der Mainzer Domkapellen jedoch zu Datierungszwecken miteinbeziehen. 24 Die folgenden Quellenangaben nach Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 33, mit Belegen in den Anmerkungen, S. XXIIf. Zu den Nordkapellen des Mainzer Doms s. ebd., S. 120–122; Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 59f., 138–141. 25 Falck 1973 (wie Anm. 2), S. 96f., 159f. 26 Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nr. PS 00 100, s. Dommuseum Mainz. Führer durch die Sammlung, hg. von Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2008, Nr. 42, S. 40.

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

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4 Mainz, Liebfrauenkirche, Ansicht von Osten vor der Zerstörung, Caspar Schneider, 1793.

(Abb. 3).27 Gestützt durch zahlreiche Ablässe und Stiftungen, die auf diesen Bittbrief hin sehr schnell zwischen 1285–1299 zugunsten des Wiederaufbaus erfolgten – nicht nur aus Mainz und Umgebung, sondern europaweit bis hin zum Papst –, konnte ein Neubau der Liebfrauenkirche tatsächlich „opere sumptuoso“ umgesetzt werden.28 Auch der Dom27 „Cum nuper ecclesia nostra predicta casu miserabile et inopinato cum quibusdam ornamentis, organis, libris, ymaginibus sanctorum, altaribus et aliis bonis ipsius ecclesie ignis incendio sit destructa, ita, quod muros, parietes, testudines ac turrim ipsius ecclesie, que iam minantur ruinam, quasi a fundamentis suis nouis oporteat edificiis restaurari ac nos iam dictam ecclesiam b. Mariae edificare et reparare intendamus opere sumptuoso […]“, Urkunde ausgestellt in Mainz am 1.6.1285, Stadtarchiv Mainz, zit. nach Hessische Urkunden. Aus dem Großherzoglich Hessischen Haus- und Staatsarchiv, hg. von Ludwig Baur, Bd. 2, Darmstadt 1862, S. 378f., Nr. 395. 28 Siehe Baur 1862 (wie Anm. 27), S. 379, Anm. sowie die zahlreichen Quellen in: Die Urkunden des Stadtarchivs Mainz, Regesten, hg. von Richard Dertsch, 1. Teil (bis 1329), Mainz 1962

probst sowie die Erzbischöfe von Mainz gehörten zu den Unterstützern.29 Die neu errichtete Liebfrauenkirche, die 1311 von Erzbischof Peter von Aspelt geweiht wurde,30 war ein ungewöhnlicher, reich dekorierter Bau (Abb. 4). Unglücklicherweise wurde er nach Zerstörungen während der Revolutionskriege 1793 unter der französischen Besatzung von Mainz 1803–1807 vollständig

(Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 20.1); größtenteils ausgewertet bei Beate Dengel-Wink, Die ehemalige Liebfrauenkirche in Mainz. Ein Beitrag zur Baukunst und Skulptur der Hochgotik am Mittelrhein und in Hessen, Mainz 1990, S. 20–23. 29 Dertsch 1962 (wie Anm. 28), Nr. 273, S. 100, Nr. 294, S. 107; Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289–1396, 1. Abt., Bd. 1: 1289–1353, hg. von Ernst Vogt, Leipzig 1913, S. 105, Nr. 603, S. 118f., Nr. 668f., S. 121, Nr. 682, S. 127, Nr. 711, S. 151, Nr. 829f., S. 153, Nr. 838f. 30 Baur (wie Anm. 27), Bd. 5, Darmstadt 1873, Nr. 222, S. 196; s. Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 22f.

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abgetragen.31 Dieser Verlust eines der bedeutendsten Bauten der Gotik am Mittelrhein wird nur teilweise dadurch kompensiert, dass es aus der Zeit um 1800 eine Reihe von Plänen und detaillierten Ansichten des Gebäudes in seinem teilzerstörten Zustand gibt.32 So wissen wir, dass die Kirche, errichtet auf den Fundamenten ihrer Vorgängerbauten, als Halle auf fast quadratischem Grundriss und drei mal drei Jochen mit vier Stützen erbaut wurde. Als Fassade wurde ihre zum Rheinufer weisende Ostseite gestaltet, mit hohen Maßwerkfenstern, einer großen, Wimperg-geschmückten Portalanlage im südöstlichen und einem hohen Turm über dem nordöstlichen Joch. Das mittlere Chorjoch ragte mit einer dreiseitig polygonalen Apsis auf einem rechteckigen Unterbau nach Osten, die sich in eine kleine Apside öffnete, das sog. Chörlein, das mit Maßwerk-verzierten Wimpergen an allen Polygonseiten geschmückt war.33 Da östlich das Gelände abfiel, war die Kirche dort aufgesockelt, und eine große Treppenanlage führte vom Ostportal neben der Apsis zum Rhein hinunter. Deswegen wurde die Kirche auch S. Maria ad gradus, Marien zu den Staffeln oder Mariengreden genannt.34 Die nördliche Seitenfassade des kompakten, hoch aufragenden Baus wurde über einem horizontalen Abschlussgesims mit durchbrochener Brüstung von drei großen Giebeln mit Blendmaßwerk bekrönt.35 Aufgrund von stilistischen Übereinstimmungen zwischen dem Neubau der Liebfrauenkirche und den Domkapellen vermuteten schon H. Seeliger und B. Dengel-Wink einen engen Zusammenhang zwischen

31 Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 27–29. 32 Das überlieferte Material ist zusammengetragen und für die Rekonstruktion des Bauwerks analysiert worden von Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), bes. S. 30–83; s. a. Engel: Klerus und Könige (wie Anm. 9). 33 Zur Mainzer Liebfrauenkirche s. Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa, 1220–1340. Von Metz bis Wien, München/Berlin 2007, S. 251–253; Engel 2019 (wie Anm. 4), S. 96f. sowie die Beiträge von M. C. Schurr und S. Köhl in diesem Band. 34 Vgl. die Anlage einer ähnlichen Kirche vor dem Chor des Kölner Doms, s. Christian Freigang, „Die Trierer Liebfrauenkirche als Domannexkirche“, in: Liebfrauen in Trier. Architektur und Ausstattung von der Gotik bis zur Gegenwart, hg. von Andreas Tacke, Petersberg 2016, S. 81–91. 35 Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 95f., 112–115 mit Rekonstruktionszeichnungen von Robert Schmitz 1956.

den beiden Bauunternehmungen.36 Wahrscheinlich war die Unterbrechung im Bau der nördlichen Domkapellen nach 1285 dem Abzug der Dom-Werkleute an die Baustelle von Liebfrauen geschuldet. Dennoch war die Baupause nur kurz, da schon 1291 ein Kaplan am Altar in der vierten Kapelle von Osten, St. Magnus, erwähnt wird und in demselben Jahr die Altarweihe in St. Lambert, der fünften Kapelle von Osten, belegt ist.37 In St. Peter und Paul, der siebten und letzten Kapelle von Osten, wurde 1290 der Altar von Domdekan Gebhard gestiftet, der 1293 auch dort bestattet wurde. Trotz der Kürze der Unterbrechung vollzog sich nach 1285 an den Mainzer Nordkapellen eine Neukonzeption der architektonischen Gestaltung, die sich an Unterschieden in den Profilen der Fenstermaßwerke zwischen der dritten und vierten Kapelle von Osten sowie im Inneren auch an den Wand- und Pfeilervorlagen zeigt.38 Die schmalen Profile, die in den Fenstergewänden der ersten bis dritten Kapelle von Osten eine weite Kehle flankieren , werden nun, von der vierten bis siebten Kapelle, ersetzt durch einen Wechsel von rund- und birnstabförmigen Bündeln vermehrter Profile zwischen tiefen Kehlen. Wichtig ist die Beobachtung, dass im Inneren der Kapellen dieser Wechsel bereits an der Westseite der dritten Kapelle von Osten beginnt. Diese Kapelle (St. Nazarius) war also im Bau liegengeblieben, als die Bauleute 1285 nach Liebfrauen abwanderten, und wurde erst mit dem Neustart wenige Jahre später, nun nach dem neuen Design, vollendet.39 Die markanten Dienstbündel der Kapellen aus der zweiten Bauphase der Nordseite weisen Übereinstimmungen insbesondere mit dem Gewände des Ostportals der 36 Hartmut Seeliger, „Die Stadtkirche in Friedberg in Hessen. Ein Beitrag zur Geschichte der gotischen Baukunst in Hessen und am Mittelrhein“, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N. S., Jg. 27, 1962/1967, S. 1–118, hier S. 46; Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 134–136, 151–162. 37 Die Quellenangaben nach Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 33f., mit Belegen in den Anmerkungen, S. XXIIf. 38 Zu den Mainzer Langhauskapellen s. a. Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 137–144; Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 247–251; das Äußere der Nordkapellen wird behandelt in Elmar Altwasser/Birgit Kita/Jörg Walter, Gotik am Mainzer Dom. Die Kapellenanbauten der Nordseite, Regensburg 2018 (Neue Forschungen zum Mainzer Dom, 1). 39 Genauer zu den Profilen und Baubefunden s. Engel: Gotik und Romanik (wie Anm. 10).

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Liebfrauenkirche auf. So lässt sich schlussfolgern, dass die Bauhütten von Liebfrauen und den Domkapellen tatsächlich in einem intensiven Austausch miteinander arbeiteten oder sogar in einer Hütte vereint waren. Personell gab es ebenso enge Verflechtungen zwischen dem Stiftskapitel von Liebfrauen und dem Domklerus: So waren die Pröpste von Liebfrauen seit dem frühen 12. Jahrhundert Räte des Mainzer Erzbischofs und hielten sich ständig in seiner Umgebung auf. Mehrere der Pröbste wurden in ihrer späteren Laufbahn Erzbischöfe von Mainz, darunter Werner von Eppstein, der bereits ab 1248 gleichzeitig Probst von Liebfrauen sowie des Domstifts war, bevor er 1259–1284 das Amt des Mainzer Erzbischofs innehatte und in dieser Funktion den Bau der Domkapellen beginnen ließ.40 Nach der kurzen Amtszeit des Heinrich von Isny (1284–1288) kam 1289 mit Gerhard II. von Eppstein (1289–1305) der insgesamt fünfte Erzbischof aus diesem Adelsgeschlecht auf den Mainzer Erzbischofsstuhl.41 Er war ein Vetter des Werner von Eppstein und, ähnlich wie dieser, seit 1251 ein langjähriges Mitglied des Mainzer Domkapitels. Werner und Gerhard waren wiederum beide Neffen Siegfrieds III. von Eppstein. Wie sein Onkel, war Gerhard ebenfalls als „Königsmacher“ auf höchster Ebene in der Reichspolitik aktiv. So erhielt auch er nach seinem Tod 1305 ein figürliches Grabmal im Ostchor, dem wohl zweiten in der Reihe der Mainzer Krönungsgrabsteine, von dem allerdings nur noch der höchst qualitätvolle Kopf erhalten ist.42 Wie seine Vorgänger, trat Gerhard II. von Eppstein schon im Jahr seines Amtsbeginns 1289 als Förderer des Dombaus auf. 1293 rief er eine Kollekte zugunsten des Dombaus aus, in der erneut das Bauprogramm von Dächern, Kreuzgang, Refektorium, Dormitorium und Türmen genannt wird. Zeitgleich gründete der Erzbischof auch eine Domchorbruderschaft zur Förderung der Domfabrik („fraternitas

40 Margarete Dörr, Das Mariengredenstift zu Mainz (Geschichte, Recht und Besitz), MS, Diss. phil. Mainz 1953, S. 11, 14–17. 41 Zu Gerhard II. von Eppstein s. Heinig 2000 (wie Anm. 17), S. 387–415. 42 Mainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum, Inv.-Nr. PS 00173, s. Kotzur 2008 (wie Anm. 26), Nr. 45, S. 42f.; s. a. Kessel 1997 (wie Anm. 15), S. 15f.

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chori maioris ecclesie“), der er auch selbst beitrat.43 Vor 1293, nach Fertigstellung der Nordkapellen, scheint das Bauvorhaben folglich ins Stocken geraten zu sein. Grund dafür war offenbar das Marktportal aus der Zeit um 1200. Man plante, die Nordkapellen weiter nach Westen fortzusetzen;die Ansätze der Wandvorlagen und Bogenansätze dafür sind bis heute vorhanden. Doch hätte das bedeutet, das Marktportal entweder zu überbauen oder zu verlegen.44 Vermutlich war man sich nicht einig, was zu tun sei und stoppte vorerst den Kapellenbau auf der Nordseite. Die Marienkapelle jenseits des Marktportals wurde schließlich erst um 1495 errichtet.45 Mit den neuen Fördermitteln aus der Kollekte und der Domchorbruderschaft Gerhards von Eppstein von 1293 dürfte um 1295 der Bau der Südkapellen begonnen worden sein, diesmal von West nach Ost und, was die Detailgestaltung angeht, erneut mit einem neuen, diesmal radikal vereinfachten Design für Pfeiler und Gewände. 1301 wurde in der zweiten Kapelle von Westen, St. Andreas, Domkanoniker Werner von Lewenstein begraben.46 Vor 1308 stiftete in der ersten Kapelle von Westen, St. Michael, Domscholaster Embricho von Schöneck, ab 1308 Bischof von Worms, eine Seelenmesse für sich und seinen 1291 verstorbenen Bruder Simon, der 1267–1283 Domdekan von Mainz war, dann bis zu seinem Tod ebenfalls Bischof von Worms.47 Die dritte Kapelle von Westen auf der Südseite, St. Laurentius, wurde 1306 geweiht. In der sechsten Kapelle von Westen, St. Dionysius und Thomas, stiftete Domkantor Eberhard vom Stein (de Lapide) einen Altar, der 1316 konsekriert wurde. Die letzte Kapelle der Südseite im Osten, Allerheiligen, ist die einzige, die von einem Erzbischof als seine Grablege ausgewählt wurde. So erwähnt Peter von Aspelt (1306–1320) die Kapelle in seinem Testament 43 Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 29), Nr. 220, S. 36, Nr. 303, S. 52f., Nr. 354, S. 62. 44 Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 33; Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 141. Genauer zu den Planungen um das Marktportal s. Engel: Gotik und Romanik (wie Anm. 10). 45 Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 144–146; Altwasser/ Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38), S. 69–72, 97–99. 46 Die Quellenangaben nach Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 34f., mit Belegen in den Anmerkungen, S. XXIIIf. Zu den Südkapellen des Mainzer Doms s. ebd., S. 122–124; Kautzsch/ Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 62–64, 141–144. 47 Fuchs/Hedtke/Kern 2010 (wie Anm. 15), Nr. 18, S. 81–85.

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5 Mainz, Dom, Langhaus, Querschnitt, 1819.

6 Mainz, Dom, Aufriss der Nordseite, 1819.

von 1319 als im Bau befindlich, und dort wurde nach seinem Tod 1320 mit seiner Grabtumba der dritte der Mainzer Krönungsgrabsteine aufgestellt.48 Um 1320 waren die gesamten Kapellenanbauten am Langhaus des Mainzer Doms vollendet. Der Bau der Mainzer Domkapellen war technisch ein höchst anspruchsvolles Unternehmen. Die Langhausanbauten erreichen die volle Höhe der romanischen Seitenschiffe (Abb. 5). Sie wurden nicht, wie das in den meisten vergleichbaren Fällen üblich ist, zwischen die Strebepfeiler des Altbaus wie in Taschen gesetzt. Stattdessen erhielten die Kapellen, weit nach außen gesetzt, eine eigene, neue Fundamentierung. Das war durch die Lage des Doms in der Nähe des Rheins technisch riskant. Die Sicherungsaktionen an den aufgrund einer Veränderung des Grundwasserniveaus abgesunkenen Fundamenten des Doms 1924–1926 erbrachten dazu wichtige 48 Kessel 1997 (wie Anm. 15), S. 16–21; Fuchs/Hedtke/Kern 2010 (wie Anm. 15), Nr. 7, S. 39–46; Ute Engel, „Schaufassade und Durchlichtung. Architektur und Glas unter Erzbischof Peter von Aspelt und seinen Nachfolgern in Mainz und Oppenheim“, in: Im Rahmen bleiben. Glasmalerei in der Architektur des 13. Jahrhunderts, hg. von Ute Bednarz/Leonhard Helten/Guido Siebert, Berlin 2017, S. 161–177. Zu Peter von Aspelt s. a. unten.

Erkenntnisse: Die Fundamentierung unter den Nordund den Südkapellen ist unterschiedlich. Im Norden wurde die Außenwand der Kapellen auf ein durchgehendes Steinfundament gesetzt, das auf Holzpfählen ruhte – eine Technik, die schon im romanischen Dom angewandt worden war. Im Süden dagegen wurden einzelne Pfeilerfundamente errichtet, die durch Spannmauern verbunden waren, wahrscheinlich unter Einbeziehung der älteren Kreuzgangfundamente.49 Nach außen öffnen sich die Kapellen durch sehr große Maßwerkfenster, die über einer Sockelmauer die volle Breite und Höhe der Wandflächen ausfüllen (Abb. 6). Wegen der durch den Anschluss an den älteren, romanischen Ostbau größeren Breite der beiden östlichen Kapellen auf der Nordseite (St. Viktor und St. Barbara) sowie der östlichsten Kapelle auf der Südseite (Allerheiligen) sind die Fenstermaßwerke dort achtbahnig (Abb. 7); in den restlichen Fenstern vierbahnig. Jedes Fenster war ursprünglich von einem hoch aufragenden Wimperg zwischen Fialen 49 Aloys Strempel, Die Rettung des Mainzer Doms, Mainz 1928, S. 31–35. Die erste Sicherung der Domfundamente unter dem Ostbau fand 1909–1916 statt und musste wegen der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs abgebrochen werden, ebd., S. 23–28.

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bekrönt. Auf der Nordseite wurden diese Wimperge nach dem Brand und anschließenden Einsturz des westlichen Vierungsturms des Doms 1767 abgetragen und anschließend nicht wieder aufgebaut.50 Sie sind durch zwei ältere Ansichten des Doms von um 1700 und 1767 überliefert, die auch zeigen, dass die Flächen der Wimperge – wie an der Liebfrauenkirche – mit Blendmaßwerk verziert waren und dahinter jeweils quergestellte Dächer sich an das Pultdach des Nordseitenschiffs anschlossen.51 Im Baubefund lassen sich Ansatzspuren der Wimperge an einigen der Kapellen noch nachvollziehen, insbesondere in den beiden östlichen, breiteren Kapellen der Nordseite.52 Auf der Südseite wurden die Wimperge 1793 zerstört, als die gesamten Dächer des Doms und des Kreuzgangs beim Bombardement der von den Franzosen besetzten Stadt durch die deutschen Belagerungstruppen in Brand gerieten.53 Dennoch sind dort die Ansätze der Wimperge deutlich besser erhalten; an den beiden östlichsten Kapellen einschließlich des Blendmaßwerks (Abb. 8), das für die westlichste Kapelle durch einen Aufriss von Bernhard Hundeshagen von 1819 belegt ist.54 In der Südostecke der östlichsten, der Allerheiligenkapelle, ist, eingemauert in den später angesetzten östlichen Kreuzgangflügel, der einzige Rest einer der ebenfalls mit Blendarkaturen besetzten Fialen erhalten. Aufgrund der Befunde und der historischen Ansichten haben bereits R. Kautzsch und E. Neeb 1919 eine Teilrekonstruktion der Südseite vorgelegt, sowie jüngst T. Janz 2018 eine Rekonstruktionszeichnung der gesamten Nordfassade der Kapellen.55 50 Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 47f.; Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 62. 51 Nikolaus Person, Ansicht des Mainzer Doms von Norden, Kupferstich, um 1700–1710, Mainz, Landesmuseum, GDKE, Graphische Sammlung, GS 1991/497, abgebildet in Engel 2017 (wie Anm. 5), Abb. 3, S. 94. Anonym, Dombrand am 22. Mai 1767 vom Höfchen aus gesehen, Öl/Leinwand, letztes Drittel 18. Jahrhundert, Mainz, Dom- und Diözesanmuseum, Inv.-Nr. M 06196, abgebildet in Kotzur 2011 (wie Anm. 12), Kat.-Nr. 13, S. 428. Siehe a. Altwasser/Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38), S. 77–79, Abb. 7, 8. 52 Altwasser/Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38), S. 54–59, 75. 53 Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 63; Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 64. 54 Bernhard Hundeshagen, Das Domgebaeude zu Mayntz 1819, hg. v. Alois Strempel, Darmstadt 1943, Taf. 20. 55 Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), Abb. 31, S. 63; Rekonstruktionsvorschlag von Tobias Janz auf Falttafel in: Altwasser/

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7 Mainz, Dom, Langhaus, Nordseite, östliche Kapellen St. Viktor und St. Barbara.

Die Außenwände der Kapellen sind mit dem bestehenden romanischen Langhaus nur durch hohe Bögen verbunden (Abb. 9). Die romanischen Außenmauern der Seitenschiffe wurden zwischen den Wandvorlagen herausgebrochen. Kunstvoll wurden diese Wandvorlagen an ihren Außenseiten mit gotischen Profilen ergänzt, sodass hohe, schlanke Freipfeiler entstanden sind. Zu den Seitenschiffen hin bestehen diese aus dem halbrunden Dienst und dessen rechteckiger Rücklage aus der romanischen Epoche, zum Inneren der Kapellen hin aus den neuen, feingliedrigen Halbpfeilern. Deren Profile spiegeln sich exakt in den Wandpfeilern, die die Kapellen Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38). Zur Diskussion der Befunde und Rekonstruktionen s. Engel: Gotik und Romanik (wie Anm. 10).

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8 Mainz, Dom, Langhaus, Südseite, Kapellen.

voneinander an der neuen Außenwand trennen. Diese Wandpfeiler wiederum gehen in die Gewände der großen Maßwerkfenster über, die die gesamte Wandfläche füllen. So ergeben sich insbesondere in den Mainzer Kapellen der Nordseite aus der zweiten Bauphase nach 1285 dichte Profilfolgen zwischen tief verschatteten Kehlen, die trotz ihrer Feingliedrigkeit weit plastisch in den Raum ragen. Diese Pfeilermassive sind stringent im Hinblick auf die Profilierungen der Gesamtarchitektur in den Kapellen mit ihren Gewölben ausdifferenziert.56 Untereinander öffnen sich die Kapellen in hohen Gurtbögen, die wiederum die gleiche Höhe wie die Scheidbögen zu den Seitenschiffen haben. Auf diese Weise entsteht der Eindruck – mitsamt dem Mittelschiff – eines durch die hohen Maßwerkfenster der Kapellen hell erleuchteten, fünfschiffigen Langhauses, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Ursprünglich waren alle Kapellen voneinander durch niedrige Sockelmauern getrennt, die die Höhe der Sockelmauern unter den Fenstern in der Außenwand 56 Detailgrundrisse der Profile in Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), Abb. 67–70, 72, S. 139–143; Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 326f.; vgl. die Beiträge von M. C. Schurr und S. Köhl in diesem Band und s. u.

aufnahmen. Diese Trennwände sind heute nur noch zwischen jeder zweiten Kapelle vorhanden, z. T. erhöht, weil in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts große, barocke Altäre davor gesetzt wurden. Die restlichen Trennwände wurden nach der französischen Besatzungszeit 1825–1828 herausgerissen.57 Die Spuren dieser Trennwände sind jedoch noch erkennbar. Sie sind zudem in den historischen Plänen des Doms überliefert, mitsamt den Altarpatrozinien, da an jeder Trennwand ein Altar vor der Ostseite stand (Abb. 2).58 Mittelalterliche, steinerne Altarretabel mit reichem Blendmaßwerk und mittleren Wimpergen haben sich aus den Südkapellen St. Michael (erste Kapelle von Westen) und Allerheiligen (erste Kapelle von Osten) erhalten. Das Retabel aus St. Michael trägt noch seine malerische Ausgestaltung, die für das Retabel aus Allerheiligen nur überliefert ist. Ein weiteres, später abgebrochenes Steinretabel war in St. Johannes d. T. (dritte Kapelle von Osten) vorhanden (Abb. 5).59 Zudem war ein Teil der Kapellen der Nordseite nicht nur durch eine niedrige Sockelmauer voneinander getrennt, sondern es erhob sich auch auf der Sockelmauer ein freistehendes, durchbrochenes Maßwerkgitter, das dem Fenstermaßwerk der Außenseiten spiegelbildlich entsprach (Abb. 10). Wie dem Baubefund zu entnehmen ist, entstanden diese offenen Maßwerkschranken jedoch erst in der zweiten Bauphase, zusammen mit den Neuerungen in den Profilfolgen, die nach der Unterbrechung durch den

57 Winfried Wilhelmy, „Gegenstände, welche verschwinden müssen. Die Seitenaltäre der nach-tridentinischen Ära“, in: Kotzur 2011 (wie Anm. 12), S. 282–299. 58 So auf einem Grundriss aus Gudenus 1747 (wie Anm. 19), Abb. in Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 4; s. den schematischen Plan ebd., Abb. 59, S. 117. 59 Die beiden Altarretabel aus St. Michael und Allerheiligen befinden sich im Dom- und Diözesanmuseum, Inv.-Nr. PS 00106, M 00130, Kotzur 2008 (wie Anm. 26), Nr. 49, 50, S. 45–49; Fuchs/Hedtke/Kern 2010 (wie Anm. 15), Nr. 18, S. 81–85; s. Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 123 (mit Abb.) und Anm. S. LVIII; Winfried Wilhelmy, „Rheinschiene versus Bistumsgrenze. Die Innenausstattung der Seitenkapellen des Mainzer Doms um 1300“, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein, Jg. 36/37, 1996/1997, S. 73–86. Den Altar in St. Johannes überliefert ein Querschnitt von B. Hundeshagen von 1819; vgl. dessen Grundriss mit den Schnittlinien, Hundeshagen 1819/1943 (wie Anm. 54), Taf. 2, 10.

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9 Mainz, Dom Langhaus, Inneres, Nordseitenschiff mit nördlichen Kapellen.

10 Mainz, Dom, Langhaus, Inneres, Nordkapellen St. Bonifatius und SS. Peter und Paul.

Brand von Liebfrauen 1285 eingeführt wurden.60 Das erste dieser Maßwerkgitter ist noch heute fragmentarisch zwischen der dritten und vierten Kapelle von Osten, St. Nazarius und St. Magnus, erhalten und dort auch durch einen Querschnitt des Doms von B. Hundeshagen von 1819 überliefert (Abb. 5). Nach dem noch gut sichtbaren Ausbruch des Couronnements wurden die Maßwerkpfosten des ursprünglich freistehenden Gitters in intelligenter Weise zum Abstützen des frühbarocken Altars verwendet, der bis heute auf der Ostseite in der Kapelle St. Magnus aufgestellt ist. Man sieht hier auch den zusätzlichen, technischen Nutzen dieser offenen Maßwerkgitter, der nicht nur ein ästhetischer gewesen sein dürfte: Die Pfosten sind verbunden, wie die Fenstermaßwerke, mit metallenen Querstreben, die die hohen Seitenkapellen zusätzlich stabilisierten. Die Maßwerkschranke zwi-

schen der fünften und sechsten Kapelle auf der Nordseite, zwischen St. Lambert und St. Bonifatius, ist dagegen im 19. Jahrhundert rekonstruiert worden.61

60 Genauer zu den Baubefunden s. Engel: Gotik und Romanik (wie Anm. 10).

Mainz und die Rheinschiene Seit F. Schneider 1886 wurde die Architektur der Mainzer Langhauskapellen sowie der Liebfrauenkirche vor allem unter dem Aspekt des Austauschs bzw. der Konkurrenz mit den beiden großen, beherrschenden Bauhütten entlang des Rheins, des Kölner Doms und des Straßburger Münsters, betrachtet.62 H. ­Seeliger war in seiner Dissertation über die Stadtkirche in Friedberg der erste, der 1962 die Eigenstän61 Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 20), S. 141. 62 Schneider 1886 (wie Anm. 20), S. 119f.; eine Zusammenfassung des Forschungsstands zu den Domkapellen liefern Altwasser/Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38), S. 36–46. Zu Liebfrauen s. Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 116f., 133–158.

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11 Köln, Dom, Obergaden von Süden.

digkeit der Mainzer Bauunternehmungen um 1300 herausarbeitete und sogar von einer „Mainzer Schule“ sprach.63 D. von Winterfeld schließlich würdigte 2011 die Domkapellen als „Spitzenleistungen der deutschen Gotik“.64 Tatsächlich lassen sich für die Domkapellen sowie die Liebfrauenkirche vielfältige Bezüge zu den zeitgleichen Kölner und Straßburger Kathedralbauten aufzeigen.65 Das gilt einerseits für das mit einem hohen Wimperg mit durchbrochenem Maßwerk bekrönte Figurenportal der Liebfrauenkirche, das mit den seitlichen Portalen der 1277 begonnen Westfassade des Straßburger Münsters zu vergleichen ist 63 Seeliger 1962/67 (wie Anm. 36), S. 40–44 zu den Mainzer Nordkapellen, S. 44–47 zur Liebfrauenkirche, S. 62f. zur „Mainzer Schule“. 64 Winterfeld 2011 (wie Anm. 13), S. 82–85 zu den Domkapellen, hier S. 84. 65 Vgl. Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 247–253; Engel 2007 (wie Anm. 48); Altwasser/Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38), S. 87–94.

(Taf. 46).66 An den Domkapellen verweisen die mit Blendmaßwerk verzierten Wimperge über den großen, vierbahnigen Maßwerkfenstern andererseits auf den Obergaden des Kölner Domchors, der ca. 1270–1285 errichtet wurde (Abb. 11).67 Das gleiche gilt für die stehenden, ungerahmten Vierpässe im Couronnement der zwei östlichen Fenster der Mainzer Nordkapellen, deren eingeschriebene Dreipässe in Lilien enden.68 Diese Mainzer Fenster weisen aber

66 Seeliger 1962/1967 (wie Anm. 36), S. 46f.; Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 140–152; Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 252f.; zur Straßburger Westfassade s. ebd., S. 209–219; Jean-Sébastian Sauvé, Notre-Dame de Strasbourg. Les façades gothique, Korb 2012 (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 10). 67 Zum Kölner Domchor Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 79–87; Maren Lüpnitz, Die Chorobergeschosse des Kölner Domes. Beobachtungen zur mittelalterlichen Bauabfolge und Bautechnik, Köln 2011, hier S. 247–249 zur Datierung. 68 Zu den Kölner Fenstermaßwerken s. Leonhard Helten, Mittelalterliches Maßwerk. Entstehung – Syntax – Topologie, Berlin 2006, S. 161–211.

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auch Übereinstimmungen mit den frühen Entwürfen der Straßburger Westfassade auf: den Rissen A und A1.69 In Straßburg finden sich ebenfalls Vergleichsbeispiele für die ungewöhnlichen achtbahnigen Fenster der östlichen Mainzer Kapellen, in den teils vorgeblendeten Maßwerken an den Nord- und Südseiten des Straßburger Westfassadenkomplexes (Abb. 12). Da diese Fenster sich unterhalb der Baldachine auf den Eckstrebepfeilern der Fassade befinden, in die nach 1291 Reiterstatuen aufgestellt wurden, dürften sie zwischen ca. 1280 und 1290 entstanden sein, also etwa gleichzeitig zu den achtbahnigen Fenstern der Mainzer Nordkapellen.70 Mit dem auf dem Kölner Riss F für die Westfassade des Kölner Doms entworfenen, vierbahnigen Fenster mit insgesamt drei stehenden, gerahmten Vierpässen scheinen wiederum die Couronnements der vierbahnigen Fenster der Mainzer Domkapellen übereinzustimmen.71 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieser Fenstertyp in Köln erst nach 1360 im Bau ausgeführt wurde.72 Betrachtet man die Mainzer Fenster genauer, so zeigen sich deutliche Unterschiede zu Köln: Die Passformen sind in Mainz nicht rund, sondern zugespitzt, und die Profilierungen sind scharfkantiger. In die Zwickel der oberen Vierpässe sind zudem kleine Dreiblätter gesetzt, deren Enden sogar leicht geschweift sind. Dabei handelt es sich in Mainz um ein frühes Auftreten solcher geschweiften Formen in den 1280er Jahren, wofür es

69 Engel 2017 (wie Anm. 5), S. 94f. Zu den Straßburger Fassadenrissen s. Sauvé 2012 (wie Anm. 66), S. 102–108; Hans Josef Böker, Architektur der Gotik – Rheinlande, Salzburg 2013, S. 159– 164, der Riss A auf nach ca. 1250 und vor 1275 datiert, Riss A 1 dagegen auf 1277 und ihn bereits Erwin von Steinbach zuweist. Die Diskussion über die Straßburger Fassadenplanungen kann hier nicht weiter verfolgt werden, hingewiesen sei auf die angekündigte Monografie von M. C. Schurr sowie den Aufsatz dess. in diesem Band. 70 Die Daten zur Baugeschichte der Straßburger Westfassade sind zusammengefasst in Böker 2013 (wie Anm. 69), S. 145– 149, hier S. 147 zu den Reiterstatuen. 1280 werden noch Arbeiten an den Fundamenten der Fassade erwähnt, s. ebd. 71 Zu diesem Kölner “Standardfenster” s. Helten 2006 (wie Anm. 68), S. 188f.; zum Riss F s. Marc Steinmann, Die Westfassade des Kölner Domes. Der mittelalterliche Fassadenplan F, Köln 2003; Böker 2013 (wie Anm. 69), S. 335–353. 72 Steinmann 2003 (wie Anm. 71), S. 56; Helten 2006 (wie Anm. 68), S. 177.

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12 Straßburg, Münster, Westfassade, Fenster der Südseite.

in dieser Zeit Vergleichbares nur in Straßburg gibt.73 Das Fenster der fünften Kapelle von Osten auf der Nordseite der Mainzer Langhauskapellen variiert schließlich das Motiv eines stehenden, gerahmten Fünfpasses mit Vierpässen in den unteren Doppellanzetten. Damit bildet es eine Variation aus einem Maßwerkmotiv der Obergadenfenster des Kölner Domchors (Fünfpässe in den unteren Lanzetten) und den Okuli mit Vierpässen aus dem Couronnement der Kölner „Standardfenster“. Dieser Fenstertyp wurde in den Mainzer Südkapellen ab ca. 1295 dann durchgehend verwendet. Der Entwerfer der Mainzer Domkapellen spielte also souverän mit den verschiedenen architektonischen Möglichkeiten, die ihm die großen Kathedralbauhütten entlang des Rheins boten. Dabei ist zu

73 Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 248; vgl. den Beitrag von M. C. Schurr in diesem Band, der die Genese der „Zwickelblase“ in Straßburger Bauprojekten schon ab der Mitte des 13. Jahrhunderts erläutert.

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betonen, dass sich die Unternehmungen in Köln und Straßburg ab den 1270er Jahren gleichzeitig im Bau befanden und auch wechselseitig beeinflussten.74 Die Mainzer Kapellen, spätestens 1278 in Planung und im ersten Abschnitt 1279–1284 im Bau, operierten folglich mit Vorlagen, die selbst gerade erst im Entstehen waren oder sich sogar noch in Planung befanden. So lässt sich aufgrund der Eigenständigkeit der Mainzer Kapellenarchitektur durchaus die Überlegung anstellen, ob nicht auch aus der Mainzer Hütte Anregungen für die anderen Kathedralvorhaben hervorgegangen sein könnten. Das wäre insbesondere im Hinblick auf den Kölner Riss F mit seiner umstrittenen Datierung zu diskutieren.75

Mainz und der Westen

13 Mainz, Liebfrauen­kirche, Ostportal vor der Zerstörung.

Trotz dieser durchaus schlüssigen Einbettung der Mainzer Gotik um 1300 in das Baugeschehen entlang der Rheinschiene, wird man dem innovativen Potential der Mainzer Domkapellen und der Liebfrauenkirche nicht ausreichend gerecht, wenn sie nur als Bestandteil eines Wechselspiels zwischen den großen Bauhütten von Straßburg im Süden und Köln im Norden betrachtet werden. Schon K. Niehr stellte 2001 die These auf, dass das Portal von Liebfrauen aus einer „eigenständige[n] Beziehung zum Westen“ hervorgegangen sei, aus einer vermutlich direkten Rezeption der bahnbrechenden Querhausfassaden von Notre-Dame in Paris aus den 1250er Jahren.76

74 Helten 2006 (wie Anm. 68), S. 215–224; Marc Carel Schurr, “The West Facade of Strasbourg Cathedral and its Impact on Gothic Architecture in Central Europe”, in: The Year 1300 and the Creation of a New European Architecture, hg. von Alexandra Gajewski/Zoë Opačić, Turnhout 2007, S. 79–88. 75 Auf diese neu entfachte Diskussion um die Frühdatierung des Risses F auf um 1280–1285 (Steinmann 2003) oder die Spätdatierung auf um 1370 (Böker 2013) kann hier nicht weiter eingegangen werden. 76 Klaus Niehr, „Vorüberlegungen zu einer Geschichte des Figurenportals in Deutschland vom 13. bis zum 15. Jahrhundert“, in: Das Westportal der Heiliggeistkirche in Landshut. Ein Symposium zur Geschichte und Farbigkeit des spätgotischen Figurenportals, hg. von Erwin Emmerling/Detlef Knipping/Franz Niehoff, München 2001, S. 160–196, hier S. 163–167 (Arbeitshefte des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, 106).

Innerhalb der reichen und vielfältigen Nachfolge des in Paris entwickelten Typus, des mit einem durchbrochenen Wimperg bekrönten Portals,77 sticht das Ostportal der Mainzer Liebfrauenkirche insofern hervor, als es einen besonders steilen und fast vollständig mit durchbrochenem Maßwerk gefüllten Wimperg aufwies (Abb. 13).78 Zudem enthielt dieser Wimperg eine Besonderheit: In die à jour gearbeiteten Passfiguren waren Skulpturen eingestellt, die teilweise sogar zu Szenen gruppiert waren, so wie ein Gnadenstuhl innerhalb des zentralen Achtpasses. Niehr wies darauf hin, dass für diese Besonderheit nur ein Vergleichsbeispiel in Frage kommt: die Querhausportale der Kathedrale von Rouen, wo es es frappierenderweise am Portail des Libraires im Norden ebenfalls einen mit einem Gnadenstuhl gefüllten Vielpass gibt (Abb. 14).79 Die Querhausportale der Kathedrale von Rouen wurden 1281–ca. 1300 (Portail des Libraires im Norden) bzw. ca. 1300–1302 (Portail de la Calende im Süden) an das ältere Querhaus der Kathedrale angebaut.80 Wie M. Schlicht argumentiert, entstand mit ihnen eine neue Qualität, ein neues Raffinement der von Paris ausgehenden Rayonnant-Architektur, das die Querhausfassaden von Rouen selbst zu führenden Referenzwerken machte.81 Ob die Idee, zweischichtig gearbeitete Maßwerkokuli mit figürlichen Reliefs oder 77 Zu den Pariser Querhausfassaden s. Dieter Kimpel/Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich. 1130–1270, München 1985, S. 410–421, die die Nordquerhausfassade ab ca. 1245 datieren und Jean de Chelles zuweisen, die Südquerhausfassade ab 1258 Pierre de Montreuil; s. jetzt die Forschungen von Stephan Albrecht, Stefan Breitling und Rainer Drewello aus dem BMBF-Projekt „Mittelalterliche Portale als Orte der Transformation“, Universität Bamberg (wie Anm. 9), Publikation in Bearbeitung. 78 Zum Liebfrauenportal s. Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 96–101; Engel: Klerus und Könige (wie Anm. 9). 79 Niehr 2001 (wie Anm. 76), S. 165, wo zudem auf die mit Reliefs gefüllten Blendmaßwerke an den Strebepfeilern zu Seiten des südlichen Westportals der Stiftskirche von Mantes hingewiesen wird, einem Nachfolgewerk des Nordquerhausportals von Rouen um 1295–1305. 80 Hartmut Krohm, „Die Skulptur der Querhausfassaden an der Kathedrale von Rouen“, in: Aachener Kunstblätter, Jg. 40, 1971, S. 40–153, hier S. 40, 51f.; Markus Schlicht, Un chantier majeur de la fin du Moyen Âge. La cathédrale de Rouen vers 1300. Portail des Libraires, portail de la Calende, chapelle de la Vierge, Caen 2005 (Mémoire de la Socié té des Antiquaires de Normandie, 61), S. 30f., 80f., 122f.; Lindy Grant, Architecture and Society in Normandy, 1120–1270, London/New Haven 2005, S. 210f. 81 Schlicht 2005 (wie Anm. 80), S. 80f.

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

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14 Rouen, Kathedrale, nördliches Querhausportal, Portail des Libraires.

sogar, in durchbrochenen Wimpergen, mit freistehenden Figuren zu füllen, von den Querhäusern in Rouen ausging und von dort in der Mainzer Liebfrauenkirche rezipiert wurde oder doch ein gemeinsames Vorbild im Kunstzentrum Paris hatte, ist angesichts des Verlustes vieler Pariser Bauten aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts schwer zu prüfen.82 Immerhin ist aus dem 1289 von Margerite de Provence gegründeten Couvent des Cordeliers in Paris das Fragment eines Portalwimpergs erhalten, in dem in einen Dreipass ein Relief eingefügt ist, das wohl die vor dem Hl. Ludwig IX. kniende Blanche de France zeigt.83

Ein anderes heute verschwundenes Bauwerk in Paris könnte darüber hinaus eine Anregung für das ungewöhnlich reich geschmückte Chörlein an der Ostfassade der Liebfrauenkirche gegeben haben: der dreigeschossige Schatzkammer-Bau, der neben der Ste.-Chapelle errichtet wurde und, in Wiederholung der Kapellen-Architektur en miniature, mit einer schmalen, polygonal gebrochenen Apside schloss, deren Joch-füllende Maßwerkfenster im Obergeschoss zwischen Fialen-bekrönten Strebepfeilern mit hohen Wimpergen über jedem Fenster bekrönt waren, wie in Liebfrauen mit Blendmaßwerk besetzt.84

82 Robert Branner, St. Louis and the Court Style in Gothic Architecture, London 1966; Paris. Ville rayonnante, Ausst.-Kat. Paris 2010, hg. von Meredith Cohen/Xavier Decot, Paris 2010; Meredith Cohen, The Sainte-Chapelle and the Construction of Sacral Monarchy, Cambridge 2015, S. 41f. 83 Paris, Musée Carnavalet, s. L’Art au temps des rois maudits. Philippe le Bel et ses fils, 1285–1328, Ausst.-Kat. Paris 1998, hg. v.

Marie-Claude Bianchini, Paris 1998, Nr. 50, S. 100f., wo das Wimpergfragment ca. 1300–1320 datiert wird. 84 Zu diesem Trésor de Chartres neben der Ste.-Chapelle, der gleichzeitig mit ihr erbaut, aber in der Französischen Revolution abgerissen wurde, s. Branner 1965 (wie Anm. 82), S. 16, 74, Abb. 71; Cohen 2015 (wie Anm. 82), S. 83, 138f.

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15 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Langhaus, südliche Kapellen.

Es scheint also wichtig, den von Schmoll gen. Eisenwerth schon 1966 für die Mainzer Skulptur des 13. und frühen 14. Jahrhunderts untersuchten Aspekt „Mainz und der Westen“ auch für die Architektur verstärkt in die Betrachtung miteinzubeziehen.85 Wie Schmoll für die Skulptur darlegt, dürfte auch für die Architektur des Mittelrheins das zwischen Frankreich und dem Reich gelegene Lothringen mit seinem Zentrum Metz eine wichtige Transferregion darstellen, wie bereits M. C. Schurr und C. Brachmann mehrfach herausgearbeitet haben.86 Dennoch gibt es, das ist mit K. Niehr zu betonen, auch die Möglichkeit direkter Bezüge zwischen der Mainzer Gotik und Frankreich. Das gilt schon für die grundsätzliche Anlage der Mainzer Domkapellen: Das Langhaus der Kathedrale von Paris gilt als das früheste Beispiel für den nachträglichen Anbau einer vollständigen Reihe von 85 Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, „Mainz und der Westen“, in: Mainz und der Mittelrhein in der europäischen Kunstgeschichte. Festschrift Wolfgang Fritz Volbach, hg. von Friedrich Gerke, Wiesbaden 1966, S. 289–314; vgl. den Aufsatz von S. Köhl in diesem Band. 86 Schurr 2007 (wie Anm. 33), zu Mainz und Metz S. 248f., 253; Christoph Brachmann, Um 1300. Vorparlerische Architektur im Elsaß, in Lothringen und Südwestdeutschland, Korb 2008 (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 1).

Seitenkapellen, die zwischen die Strebepfeiler eines älteren Langhauses eingesetzt wurden. Begonnen ca. 1225 auf der Nordseite, entstanden die Pariser Kapellen – wie in Mainz handelt es sich um je sieben Kapellen auf der Nord- und Südseite des Langhauses – in drei Etappen bis in die 1250er Jahre, als die an die Kapellen anschließenden Querhausfassaden gebaut wurden. Der Baubeginn der Südfassade ist durch die Inschrift 1258 datiert, anschließend folgten bis in das frühe 14. Jahrhundert die Chorkapellen.87 Paris setzte einen Maßstab, dem bald darauf zahlreiche Kapellenanbauten folgen sollten: Die Kapellen öffnen sich in der vollen Höhe der älteren Seitenschiffe und werden durch wandfüllende Maßwerkfenster belichtet, die – und das ist auch für die Mainzer Kapellen wichtig – außen durch Wimperge mit aufgeblendeter Maßwerkzier hervorgehoben werden. An Notre-Dame in Paris sind diese Wimperge auf der Nordseite seit dem 18. Jahrhundert zerstört, auf der Südseite von Viollet-le-Duc rekonstruiert worden (Abb. 15).88 Betrachtet man die Kapellen von Notre-Dame zusammen mit der Ste.-Chapelle und der o. g. Schatzkammer, so wird deutlich, dass die Kombination eines Maßwerkfensters mit bekrönendem, auch mit Blendmaßwerk verziertem Wimperg in der Pariser Architektur der Mitte des 13. Jahrhunderts entwickelt wurde und sich von dort schnell in Frankreich und, vermittelt über die Champagne und Lothringen, auch im Reich verbreitete, u. z. sowohl an Seitenschiffs-, als auch Obergadenfenstern.89 Schon in den 1250/1260er Jahren wurden in der Nachfolge von Paris Seitenkapellen an das Langhaus der Kathedrale von Rouen angebaut, deren Wimperge sich mit einer Maßwerkbrüstung verschneiden und im oberen Teil durchbrochen waren.90 Damit

87 Zu den Pariser Kapellen s. Dieter Kimpel, Die Querhausarme von Notre-Dame zu Paris und ihre Skulpturen, Diss. phil. Bonn 1971; Kimpel/Suckale 1985 (wie Anm. 77), S. 343–345; Freigang 2002 (wie Anm. 23); Schlicht 2005 (wie Anm. 80), S. 69–76; vgl. den Aufsatz von S. Köhl in diesem Band. 88 Branner 1965 (wie Anm. 82), S. 69f.; Kimpel 1971 (wie Anm. 87), S. 31–33, 37–39. 89 Branner 1965 (wie Anm. 82), S. 23f.; dies im Gegensatz zu Altwasser/Kita/Walter 2018 (wie Anm. 38), S. 88–90. 90 Die Datierung der Langhauskapellen der Kathedrale von Rouen schwankt zwischen den späten 1240er und den 1260er Jahren, Grant 2005 (wie Anm. 80), S. 207; Schlicht 2005 (wie Anm. 80), S. 59–61.

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

gehören die Langhauskapellen von Rouen, mit den Kathedralen von Evreux und Sées, zu den frühesten Bauunternehmungen im von Paris ausgehenden Style rayonnante, mit denen die normannische Kirche sich ab den 1240/1250er Jahren enger an das kapetingische Frankreich anschloss.91 Seit der Eroberung der Normandie durch Philipp Augustus war das Herzogtum an die französische Krone gefallen, doch erst mit dem Vertrag von Paris 1259 gab der englische König Heinrich III. seinen Anspruch auf das frühere anglo-normannische Territorium endgültig auf.92 Auch durch Baupolitik wurde folglich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Einbindung der Normandie in die Krondomäne betrieben – ähnlich wie dies in Südfrankreich nach Beendigung der Albigenserkriege geschah.93 Diese politischen Zusammenhänge unterstreichen die Bedeutung und auch die überregionale Anziehungskraft der großen Bauvorhaben in der Normandie unter französischer Herrschaft, zu denen ebenfalls die oben bereits angesprochenen Querhausfassaden der prominenten erzbischöflichen Kathedrale von Rouen, die zudem mit Paris durch die Seine verbunden war, gehören. Auch ein anderes normannisches Bauprojekt könnte Anregungen für die Mainzer Gotik des späten 13. Jahrhunderts geboten haben. An der Kathedrale von Coutances wurden, ähnlich wie in Paris und Rouen, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Kapellen an das Langhaus angebaut. Die ersten dieser Kapellen wurden auf der Nordseite schon unter Bischof Jean d’Essey (1251–1274) gestiftet.94 Außen wurden die Kapellen nicht von Wimpergen überfangen, aber die Fenstermaßwerke variieren von Joch zu Joch. Detailformen des Inneren sprechen dafür, dass die Südkapellen nach den Nordkapellen folgten. Im Inneren entfaltet sich eine reiche Architektur in den Kapellen, 91 Zur Rezeption der Rayonnant-Architektur der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert in der Normandie s. Grant 2005 (wie Anm. 80), S. 205–233; Yves Gallet, La cathédrale d’Évreux et l’architecture gothique rayonnante XIIIe–XIVe siècles, Besançon 2014, S. 277–331. 92 Grant 2005 (wie Anm. 80), S. 9f., 233f. 93 Vgl. Christian Freigang, Imitare ecclesias nobiles. Die Kathedralen von Narbonne, Toulouse und Rodez und die nordfranzösische Rayonnantgotik im Languedoc, Worms 1992. 94 Grant 2005 (wie Anm. 80), S. 216f.; Gallet 2014 (wie Anm. 91), S. 258. Ich danke Markus Hörsch für das Anfertigen von Fotografien der Kapellen von Coutances.

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16 Coutances, Kathedrale, Langhaus, Inneres, nördliche Kapellen.

die durch Trennmauern in der Höhe der Sockelmauern der Außenseiten untereinander verbunden sind. Diese Sockel sind mit Blendarkaden belegt, in die steinerne Altarretabel integriert sind, ebenso wie Piscinen. Über den angeschrägten Trennmauern sind die Kapellen zueinander mit durchbrochenen Maßwerkschranken geöffnet, die die Fenstermaßwerke variieren – nur ohne Verglasung (Abb. 16). Genau dieses Element der offenen Maßwerkgitter haben die Kapellen von Coutances mit denjenigen auf der Nordseite des Mainzer Langhauses aus der zweiten Phase von ca. 1285–1290 gemeinsam, sogar auch in Kombination mit steinernen Altarretabeln an den Trennmauern, die in Mainz allerdings nur von den Südkapellen überliefert sind, wo wiederum die Maßwerkschranken fehlen. Hinzu kommt in Coutances eine ungewöhnlich feine Abstufung von Profilen zwischen tiefen Kehlen, die durchweg stringent auf die Gesamtarchitektur der Kapellen bezogen ist – wiederum ähnlich, wie dies in den Mainzer

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Nordkapellen festgestellt werden und generell als Merkmal einer das französische Rayonnant auszeichnenden, visuellen Logik gelten kann.95 Damit sind die Langhauskapellen in Coutances gleich in mehrfacher Hinsicht mit den Mainzer Kapellen verbunden. Maßwerk als offene Schranken ohne Verglasung einzusetzen, wurde offenbar erstmals in Paris ab ca. 1230 erprobt, also zeitgleich zu den Langhauskapellen von Notre-Dame. In dieser Zeit wurde an den Zentralbau der Templerkirche ein großer rechteckiger, zweigeschossiger Narthex angebaut, der sich im Erdgeschoss ebenerdig mit zweiteiligen, offenen Maßwerkgittern zwischen den Strebepfeilern öffnete.96 Diese Idee offener, unverglaster Maßwerkfenster zwischen Räumen, die damit zugleich optisch getrennt wie auch miteinander verbunden waren, wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten von den Architekten des Rayonnant durchgespielt. In Coutances handelt es sich um das – neben Mainz – einzige Beispiel einer Vergitterung zwischen einer Längsreihe von Kapellen. Dabei konnte in der Normandie auf einer ältere Tradition der dortigen frühgotischen Architektur um 1200 zurückgegriffen werden, wo bereits mit den Formen offener Doppellanzettfenster Kapellenräume von Umgängen und Seitenschiffen abgetrennt wurden, z. B. in den Chören der Kathedralen von Bayeux und Rouen.97 In St.-Urbain in Troyes, dessen Ostteile zwischen 1261–1266 entstanden, wurde mit je einem offenen Maßwerkfenster der Hauptchor in die angrenzenden Nebenchöre geöffnet und zugleich ein Zugang geschaffen, durch den der ursprüngliche Lettner von einer Treppenspindel in der Mauerstärke im Winkel zwischen Haupt- und Nebenchor erreichbar war.98 In vergleichbarer, noch aufwendigerer Weise wurde in der Kathedrale von Carcassonne die Architektur des Chores um ein Joch in das angrenzende östliche Schiff des Querhauses fortgesetzt. Über einer

Sockelwand mit Blendarkatur öffnen sich dort Fenster mit dem Chor identischem Maßwerk, nur dass diese ohne Glas als Schranke zu den angrenzenden Kapellen geöffnet sind. Durch diese scheibenartigen Maßwerkgitter entstehen am Querhaus von Carcassonne mehrere nach Osten gerichtete Kapellen parallel zu einander. C. Freigang datiert diese Querarme von den 1290er Jahren bis ca. 1320, womit sie eher nach als vor der Mainzer Lösung entstanden sein dürften.99 Innerhalb der Varianten solcher Maßwerkgitter, die Räume zugleich gegeneinander abschranken wie öffnen, stellen die Mainzer Langhauskapellen das östlichste Beispiel dar. Es gibt auch Gemeinsamkeiten mit dem Harfenmaßwerk an der Straßburger Westfassade (Taf. 46).100 Aber dort handelt es sich, anders als in Mainz und den o. g. französischen Beispielen, um einen vor eine geschlossene Rückwand oder vor ein dahinter liegendes Fenster gehängten Maßwerkschleier. So besteht auch in dieser Hinsicht die Möglichkeit einer direkten Verbindung von Mainz nach Westen, über die Rheinschiene hinaus. Auffällig ist, dass sowohl im Fall des Ostportals von Liebfrauen, als auch der nördlichen Kapellen des Doms in ihrer zweiten Bauphase mit den Maßwerkgittern die Verbindungen zu den großen Baukampagnen in der Normandie weisen, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu den führenden in ganz Frankreich gehörten, vielleicht vermittelt über Paris. So lässt sich die These aufstellen, dass für den Neubau von Liebfrauen, für den nach der Brandkatastrophe von 1285 reichlich Spendengelder auch aus überregionalen Quellen flossen, ein Baumeister nach Mainz geholt werden konnte, der eine Schulung an den großen Bauhütten in Frankreich mitbrachte und wahrscheinlich auch die Normandie kannte. Er wäre dann ebenso verantwortlich für die Neuerungen, mit denen die Mainzer Nordkapellen in der zweiten Phase, nach der Bauunterbrechung von 1285, ausgezeichnet wurden.

95 Vgl. Michael T. Davis, “The Visual Logic of French Rayonnant Architecture”, in: Gajewski/Opačić 2007 (wie Anm. 74), S. 17–28. 96 Branner 1965 (wie Anm. 82), S. 72, Abb. 81; Cohen 2015 (wie Anm. 82), S. 47. 97 Branner 1965 (wie Anm. 82), S. 109, Anm. 45; Grant 2005 (wie Anm. 80), S. 216. 98 Davis 2007 (wie Anm. 95), S. 22–24.

99 Freigang 1992 (wie Anm. 93), S. 330–343. 100 Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 248f., der auch auf das (unausgeführte) Projekt eines „réseau dédoublé“ für den Obergaden der Kathedrale von Metz verweist, s. ebd., S. 215f.; vgl. den Beitrag von S. Köhl in diesem Band.

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

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Mainz und Böhmen Die Mainzer Domkapellen unterscheiden sich auf der Nord- und der Südseite durch einen signifikanten Formenwechsel. Auf der Nordseite sind alle Bogenund Fensterprofile in eine komplexe und dichte Folge von feinen Rund- und zugespitzten Profilen zwischen tiefen Kehlen aufgelöst, die an die Kunst der Steinmetze höchste technische Ansprüche stellten. Auf der Südseite ist dies ganz anders. Dort bestehen sämtliche Bögen nur noch aus großen Kehlen, die in scharfen Graten aneinanderstoßen (Abb. 17). Diese Formen sind zudem so verschliffen, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Diensten, Gurten und Gewölberippen. Es gibt sozusagen nur noch Negativformen, sogar die Kapitelle sind weggelassen. Dieser Wechsel bedeutet eine vollkommen neue Ästhetik, eine neue baukünstlerische Handschrift. Der Zusammenhang des gotischen Dienst- und Bogensystems mit seiner Herkunft aus der seit der Antike gültigen Struktur von tragender Säule und lastendem Sturz oder Bogen ist aufgegeben. Die Mainzer Südkapellen, begonnen ca. 1295–1300, stehen damit am Anfang dessen, was in der Forschung wechselweise als „Reduktionsgotik“ oder neuartige „struktive Klarheit“ bezeichnet worden ist.101 C. Brachmann fasst diese Richtung anschaulich zusammen: „Maxime ist absolute Reduktion im Allgemeinen bei höchstem Raffinement im Detail.“102 Solche reduzierten, gratigen, prismatischen Pfeiler- und Bogenformen wie in Mainz traten um 1300 vor allem in einer Gruppe von Zisterzienserklöstern auf: zu nennen sind die ab 1297 im Bau befindliche Zisterzienserkirche des am Bodensee gelegenen Salem im Bistum Konstanz, also in der Erzdiözese Mainz,103 aber auch eine Gruppe von Zisterzienserbauten aus Böhmen. Das Königreich Böhmen war ab dem Ende des 13. Jahrhunderts eine aufstrebende Macht, die sich schon unter den letzten Přzemysliden 101 Werner Gross, Abendländische Architektur um 1300, Stuttgart 1948, bes. S. 38–68; Christian Freigang, „Changes in Vaulting, Changes in Drawing. On the Visual Appearance of Gothic Architecture around the Year 1300“, in: Gajewski/Opačić 2007 (wie Anm. 74), S. 67–78; Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 228; vgl. die Beiträge von M. C. Schurr und S. Köhl in diesem Band. 102 Brachmann 2008 (wie Anm. 86), S. 53. 103 Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 228–233.

17 Mainz, Dom, Langhaus, Inneres, südliche Kapellen.

Wenzel II. (1283–1305) und Wenzel III. (1305–1306) sowie den anschließenden Luxemburgern eng an Frankreich orientierte. Nach den Auseinandersetzungen um die Nachfolge des ermordeten Wenzel III. setzte sich Johann von Luxemburg, verheiratet mit Elisabeth, Tochter Wenzels II., ab Ende 1310 als neuer König von Böhmen durch (reg. 1310–1346).104 Die wichtigsten Bauunternehmungen um 1300 in

104 Regnum Bohemiae et Sacrum Romanum Imperium, hg. von Jan Royt, Prag 2005; Künstlerische Wechselwirkungen in Mitteleuropa, hg. von Jiří Fajt/Markus Hörsch, Ostfildern 2006; Jiři Kuthan, Splendor et Gloria Regni Bohemiae. Kunstwerke als Herrschaftszeichen und Symbole der Staatsidentität, Prag 2007; Kunst als Herrschaftsinstrument. Böhmen und das Heilige Römische Reich unter den Luxemburgern, hg. von Jiří Fajt/Andrea Langer, Berlin/München 2009; Prague and Bohemia. Medieval Art, Architecture und Cultural Exchange in Central Europe, hg. von Zoë Opačić, Leeds 2009.

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Böhmen waren die zahlreichen Ordensgründungen, die oft direkt von den Herrschern gestiftet wurden.105 Hierunter ragten besonders die großen Zisterzienserabteien heraus: das 1263 von Ottokar II. gegründete und nach Zerstörungen 1276 erneuerte Goldenkron (Zlatá Koruna), das 1292 von Wenzel II. gestiftete Königsaal/Aula Regia (Zbraslav) sowie dessen bereits 1142 als erstes Zisterzienserkloster in Böhmen eingerichtetes Mutterkloster Sedletz (Sedlec). Die jeweiligen Kirchen waren sämtlich zwischen ca. 1290 und 1320 im Bau und zeigen deutliche stilistische Bezüge untereinander.106 Sie alle weisen eine auffällige und sicher bewusst gewählte, konsequente Reduzierung der Bauformen auf prismatische, scharfgratig profilierte Elemente und Flächen auf, wobei auf Kapitelle und andere Dekorformen verzichtet wurde, sodass Bögen und Arkaden ununterbrochen ineinander übergingen. Diese durch ihre königlichen Stifter hochrangigen böhmischen Bauten bilden eine der bedeutendsten Gruppen der „Reduktionsgotik“ als einer neuen, in ihrer Abkehr von der früheren Komplexität der französisch bestimmten Rayonnant-Architektur geradezu revolutionär zu nennenden Richtung, die sich bezeichnenderweise etwa zeitgleich ab der Wende zum 14. Jarhundert auch in den Mittelregionen Lothringen, Elsass bzw. Südwestdeutschland und Burgund entfaltete.107 Unter den frühen böhmischen 105 Markus Hörsch, „Zur Architektur unter König Johann dem Blinden“, in: Fajt/Langer (wie Anm. 104), S. 67–88. Ich danke Markus Hörsch für unseren Austausch über die böhmische Gotik auf einer Reise nach Tschechien im Frühjahr 2018. 106 Die Zisterzienserkirche von Goldenkron entstand in mehreren Bauabschnitten ab ca. 1290. Die Kirche von Sedletz wurde um 1290 von Abt Heidenreich begonnen und vor dessen Tod 1320 vollendet. Königsaal ist vollständig zerstört und nur durch wenige Grabungen und Quellen überliefert. Die Grundsteinlegung der Kirche nahm Wenzel II. 1297 am Tag nach seiner Krönung vor. Jiři Kuthan, Die mittelalterlicher Baukunst der Zisterzienser in Böhmen und Mähren, Berlin/München 1982; Klára Benešovská, „Architecture at the Crossroads. Three Examples from Bohemia circa 1300”, in: Gajewski/ Opačić 2007 (wie Anm. 74), S. 151–162; Sedlec. Historie, architektura a umělecká tvorba seleckého kláštera ve středoevropském kontextu kolem roku 1300 a 1700/Sedletz. Geschichte, Architektur und Kunstschaffen im Sedletzer Kloster im mitteleuropäischen Kontext um die Jahre 1300 und 1700, hg. von Radka Lomičková, Prag 2009; Kateřina Charvátová, Dějiny cisterckého řádu v Čechách, 1142–1420, 3 Bde., Prag 2013–2014. 107 Roland Recht, L’ Alsace gothique de 1300 à 1365, Colmar 1974; Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 226–247; Alexandra Gajewski,

Bauten ist besonders das Langhaus der Zisterzienserkirche von Goldenkron mit seinen rein aus Kehlen, Graten und prismatischen Flächen zusammengefügten Arkaden den Mainzer Südkapellen vergleichbar (Abb. 18). Abgesehen von der Möglichkeit eines erneuten Austauschs um 1300 zwischen den Mainzer und den oberrheinischen Bauhütten um das Zentrum Straßburg,108 – stellt sich die Frage, ob es eine Verbindung zwischen den weit entfernten böhmischen Bauvorhaben und der Kathedrale in Mainz am Mittelrhein gegeben haben kann? Erstaunlicherweise ist dies, historisch begründet, sogar auf verschiedenen Wegen möglich: Die Äbte der böhmischen Zisterzienserklöster spielten als Berater der böhmischen Könige eine große politische Rolle und waren viel auf diplomatischen Missionen im Reich unterwegs.109 Darüber hinaus kam gerade der Erzdiözese Mainz eine Brückenfunktion zu Böhmen und dem Osten des Reiches zu: Die Diözese Prag gehörte von ihrer Gründung 973/976 bis 1344 zum Erzbistum Mainz, als sie der Papst auf die Bitte von Kaiser Karl IV. hin zu einem eigenständigen Erzbistum erklärte.110 Mit diesem kirchlichen Zusammenhang verbunden war das Recht der Erzbischöfe von Mainz, die böhmischen Könige in Prag zu krönen. In dieser Hinsicht waren besonders die Eppsteiner Erzbischöfe aktiv: So krönte Siegfried II. 1228 Wenzel I. im Prager Dom, Werner von Eppstein 1261 Ottokar II. von Böhmen und Gerhard II. von Eppstein 1297 Wenzel II. erneut im Prager Dom111 – also genau zu der Zeit, als am Mainzer „Saint-Bénigne at Dijon around 1300. ‚La province qui s’endort‘?”, in: Gajewski/Opačić 2007 (wie Anm. 74), S. 39–52; Brachmann 2008 (wie Anm. 86); s. a. die Beiträge von S. Köhl und M. C. Schurr in diesem Band. 108 Auch an der Straßburger Westfassade wurde bereits in den Zonen über den Portalen und im darüber liegenden Rosengeschoss mit reduzierten Bauformen ohne Kapitelle experimentiert; Schurr 2007 (wie Anm. 33), S. 226f. weist auf dieses Phänomen auch im 1291 geweihten Chor der Dominikanerkirche in Colmar hin und damit auf die Bedeutung der Bettelordensarchitektur; vgl. den Beitrag von M. C. Schurr in diesem Band. 109 Kuthan 1982 (wie Anm. 106), S. 21; Kuthan 2007 (wie Anm. 104). 110 Augustinus Kurt Huber, „Die Metropole Mainz und die böhmischen Länder“, in: Archiv für die Kirchengeschichte von Böhmen, Mähren, Schlesien, Jg. 3, 1973, S. 24–57. 111 Huber 1973 (wie Anm. 110), S. 46f.; Falck 1973 (wie Anm. 2), S. 144.

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

Dom die Südkapellen geplant oder begonnen wurden. Könnte es sein, dass der Mainzer Erzbischof aus Prag auch Informationen über die aktuellen böhmischen Bauvorhaben, evtl. sogar Werkleute mitbrachte? Unter Gerhards Nachfolger Peter von Aspelt (1306–1320), einem engen Parteigänger der böhmischen Könige sowie der Luxemburger, der 1297–1306 gleichzeitig Bischof von Basel und böhmischer Kanzler war, wurden die Beziehungen zwischen Mainz und Böhmen noch intensiviert.112 Auch nach seinem Wechsel 1306 auf den Thron des Mainzer Erzbischofs rissen Peters Kontakte nach Böhmen nicht ab. Zusammen mit den Zisterzienser-Äbten Konrad von Königsaal und Peter von Sedletz war Peter von Aspelt maßgeblich an der Übergabe der böhmischen Krone an Johann von Luxemburg 1310 beteiligt. Anfang 1311 krönte Peter von Aspelt schließlich Johann zum böhmischen König in Prag. 1313 hielt sich der Mainzer Erzbischof länger in Böhmen auf, als Johann ihm die Regentschaft dort übergab. Diese engen personellen Netzwerke zwischen Mainz und Böhmen zeigten im frühen 14. Jahrhundert auch quellenkundlich nachweisbare, künstlerische Folgen: 1314 wurde ein Meister Heinrich, Steinmetz aus Böhmen, als Baumeister an der Mainzer Liebfrauenkirche eingestellt. Der erhaltene Vertrag zwischen Dekan und Kapitel des Liebfrauenstifts mit Meister Heinrich vom 19. September 1314 ist erhalten und aufschlussreich. Die Anrede „discretus Vir Magister Heinricus Lapicida de Boemia“ macht deutlich, dass es sich um einen angesehenen Baumeister handelte, dessen Fleiß und Umsicht („sua industria et circumspectione“), Kunst und Erfahrung („iuxta artis suae experientiam“) in der Urkunde gerühmt werden.113 Meister Heinrich wurde die Leitung der 112 Zu Peter von Aspelt s. Heinig 2000 (wie Anm. 17), S. 438– 452; David Kirt, Peter von Aspelt (1240/45–1320). Ein spätmittelalterlicher Kirchenfürst zwischen Luxemburg, Böhmen und dem Reich, Luxemburg 2013; Engel 2007 (wie Anm. 48). 113 „[…] ijdem Decanus et Capitulum[…] fabricam Ecclesiae suae praedictae eidem Magistro Heinrico, de sua industria et circumspectione specialiter confidentes commiserunt et praesentibus committunt ad tempora vitae ipsius regendam, disponendam et iuxta artis suae experientiam provide gubernandam […]“. Die Urkunde ist erhalten in einer handschriftlichen Abschrift des Jesuiten Johannes Gamans aus dem 17. Jahrhundert, Fragmenta P. Jo. Gamans, Bd. 5: Materia ad ecclesias urbis Moguntinae collegiatas pertinens Hellwich, Würzburg, Universitätsbibliothek, M.ch.q.95–5, S. 631

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18 Goldenkron (Zlatá Koruna), Zisterzienser­kirche, Langhaus.

Bauhütte für die Zeit seines Lebens gegen eine jährlich festgesetzte Entlohnung anvertraut und zugleich geregelt, dass er nicht an anderen Bauten arbeiten durfte („nec de aliqua alia fabrica seu structura“), ohne die Zustimmung des Kapitels von Liebfrauen einzuholen. Bei der Mainzer Urkunde handelt es sich also um einen der wenigen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts erhaltenen Verträge mit Bau- bzw. Werkmeistern.114 Ähnlich wie die bekanntere, 1253 datierte Vereinbarung des Kapitels der Kathedrale (363r), http://vb.uni-wuerzburg.de/ub/mchq955/pages/ mchq955/631.html [Zugriff: 16.3.2019]; s. a. Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 23f., die auch eine deutsche Übersetzung gibt, ebd., S. 24f. 114 Vgl. Günther Binding, Baubetrieb im Mittelalter, Darmstadt 1993, S. 238–242; Werkmeister der Spätgotik. Position und Rolle der Architekten im Bauwesen des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von Stefan Bürger/Bruno Klein, in Zusammenarbeit mit Katja Schröck, Darmstadt 2009. In beiden Titeln findet der Mainzer Vertrag keine Erwähnung.

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von Meaux mit Meister Gautier de Varinfroy, der übrigens aus der Bauhütte der normannischen Kathedrale von Evreux kam, belegt auch der Mainzer Vertrag den neuen Status des Baumeisters als primär entwerfendem Architekten, der auf mehreren Baustellen gleichzeitig tätig sein konnte und nicht mehr ständig in einer Bauhütte anwesend sein musste.115 Dies macht die Urkunde aus Mainz von 1314 dadurch deutlich, dass Meister Heinrich eine zusätzliche Bezahlung für diejenigen Tage zugesagt wurde, an denen er persönlich in der Bauhütte von Liebfrauen arbeitete – mit der Begründung, dass er auf diese Weise den Bau mit größerem Eifer betreibe und ihm lebhafter verpflichtet bleibe (“Ut igitur Magister Heinricus praedictae fabricae diligentius insistat et eo ferventius adhaereat […]“).116 Als Meister Heinrich von Böhmen 1314 seinen Vertrag unterzeichnete, fand er allerdings den Baukörper der bereits 1311 von Peter von Aspelt geweihten Liebfrauenkirche wohl weitgehend fertig vor. Deshalb wird vermutet, dass Meister Heinrich nach Mainz geholt wurde, um den Turm und vielleicht auch die Stiftsbauten von Liebfrauen zu errichten.117 Doch es lassen sich möglicherweise weitere, archivalische Spuren von ihm in Mainz finden: In einer Mainzer Urkunde ist 1294 ein Meister „Heinricus Lapicida“ belegt, der ein Haus besaß, das neben der Hofstatt des Zimmermann-Meisters Cunradus von Landau lag.118 Könnte es sein, dass dieser Meister Heinrich identisch ist mit demjenigen aus Böhmen, er also schon früher an Liebfrauen (und dem Dom?) arbeitete und 1314 einen Vertrag als Leiter der Bauhütte auf Lebenszeit erhielt? 1332 schließlich sagte „Meister Heinrich der Steinmetze zu Unser Frauen“ in einer Auseinandersetzung zwischen dem Rat der Stadt Mainz und den Zünften, die während des Bistumsstreits um die Besetzung des erzbischöflichen Stuhls 115 Vgl. Peter Kurmann/Dethard von Winterfeld, „Gautier en Varinfroy, ein ‚Denkmalpfleger‘ im 13. Jahrhundert“, in: Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag, hg. Ludwig Grisebach/Kurt Renger, Frankfurt a. M. 1977, S. 101–159. 116 Zit. nach Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 24f., s. a. Anm. 113. 117 Dengel-Wink 1990 (wie Anm. 28), S. 23, 191–194. 118 Dertsch 1962 (wie Anm. 28), Nr. 326, S. 118. Das Haus des Zimmermans wurde an Meister Rudulffus, einen Maler, verpachtet. Diese Meister wohnten also offenbar alle nah beieinander.

1328 ausgebrochen war, als eine Art Sprecher der im Kreuzgang des Doms versammelten Steinmetzzunft aus.119 Da in dieser Quelle Meister Heinrich eindeutig der Liebfrauenkirche zugewiesen wird, ist es gut möglich, dass Meister Heinrich aus Böhmen tatsächlich das Amt des Werkmeisters von Liebfrauen auf Lebenszeit wahrnahm, wie im Vertrag von 1314 vereinbart. Wenn es sich in den drei Quellen von 1294, 1314 und 1332 tatsächlich um denselben Steinmetzmeister Heinrich handelte und nicht um mehrere Personen gleichen Namens – was ebenso möglich sein könnte –, dann wäre Meister Heinrich von Böhmen für längere Zeit in Mainz ansässig gewesen und Zeuge, vielleicht der Gestalter der innovativen Architektur der Mainzer Südkapellen und Liebfrauens sowie einiger der anderen zahlreichen Bauvorhaben, die in jener wirtschaftlichen Blütezeit der Stadt errichtet wurden.120 Sicher zeugt die Urkunde von 1314 von den intensiven Kontakten zwischen Mainz und Böhmen um 1300 und belegt, dass der Transfer von Bauleuten und Kunsthandwerkern zu dieser Zeit nicht nur von West nach Ost, sondern auch in der umgekehrten Richtung funktionierte.

Fazit Zwischen ca. 1280 und 1320 zeugen die Mainzer Domkapellen und die mit dem Dom verbundene Stiftskirche von Liebfrauen von den hoch gesteckten Ansprüchen ihrer Auftraggeber, den Erzbischöfen, Dekanen und ihrer Kapitel. Die am Mainzer Dom und der Liebfrauenkirche um 1300 angesiedelte Bauhütte erweist sich als höchst innovativ, obwohl 119 Die Urkunden des Stadtarchivs Mainz, Regesten, hg. von Richard Dertsch, 2. Teil (1330–1364), Mainz 1963 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 20.2), Nr. 885, S. 29. Zu den politischen Auseinandersetzungen in Mainz während des Bistumsstreits von 1328–1332 s. Heinig 2000 (wie Anm. 17), S. 464f.; Michael Matheus, „Vom Bistumsstreit zur Mainzer Stiftsfehde. Zur Geschichte der Stadt Mainz 1328–1459“, in: Dumont/Scherf/Schütz 1998 (wie Anm. 1), S. 171–204, hier S. 171–174. 120 Allerdings ist 1302 auch ein Cunradus, Fabrikmeister von Mariengreden, belegt, bei dem es sich aber eher um den Bauverwalter von Liebfrauen handeln dürfte. Er trat in dieser Urkunde als Zeuge zusammen auf mit einem nicht weiter bezeichneten Meister Bertoldus der Steinmetz (lapicida), Dertsch 1962 (wie Anm. 28), Nr. 373, S. 134.

Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

sie eigentlich „nur“ den romanischen Kernbau der altehrwürdigen Kathedrale mit neuen, nach außen gelagerten Bauteilen ummantelte und den in der Fläche nicht sehr großen Bau der Liebfrauenkirche auf den Fundamenten ihres Vorgängerbaus vor dem Ostchor des Doms erneuerte. Im Ergebnis stellte sich die Kirchenfamilie des Doms nach diesen Baumaßnahmen und den bald darauf, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, folgenden Ausbauten der Türme des Doms, jedoch als höchst modern nach außen dar, insbesondere in ihrer Fassadenbildung zum Rhein hin: umringt von großen, prachtvollen Maßwerkfenstern, bekrönt von steilen Wimpergen und Fialen, die Apsiden von Liebfrauen und dem Ostchor des Doms flankiert von hoch aufragenden Türmen. So wird die Domgruppe im Zentrum aller historischen Stadtansichten von Mainz stolz präsentiert (Abb. 1) – bis zu den Verwüstungen bei der ersten Bombardierung der Stadt 1793. Um 1300, so zeigte sich, gab es in Mainz und am Mittelrhein einen lebhaften künstlerischen Austausch, der neben Ober- und Niederrhein auch weit geografisch ausgreifende, überregionale Perspektiven bis nach Frankreich und in die Normandie im

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Westen oder Böhmen im Osten miteinschloss. Mainz stand ganz offenbar im Zentrum dieses Austauschs, auch und gerade wegen seiner verkehrstechnisch so günstigen Lage am Kreuzungspunkt wichtiger Handelsstraßen und Flussläufe von Süd nach Nord, West und Ost. Entscheidend ist, dass dieser Kunsttransfer nicht isoliert als „Formangelegenheit“ betrachtet wird, sondern an seine Träger gebunden, also an die Produzenten, hier Baumeister und Werkleute, sowie an Auftraggeber und Nutzer. Diese waren in verschiedene personelle Netzwerke integriert, die Verbindungen herstellten und Kommunikationsräume bildeten. Solche Netzwerke von Bauleuten, Künstlern oder Handwerkern, Familien, Adeligen, Orden, Kirchenleuten oder politischen Funktionsträgern konnten vielfältig sein, sie überschnitten sich und variierten mit der Zeit. Es waren solche personellen Vernetzungen, die den künstlerischen Austausch erst möglich machten, regional wie überregional, auch wenn wir heute aufgrund der oft schlechten Quellenlage die historischen Belege dafür mühsam aufspüren oder, wenn sie nicht ausreichend sind, mit Hypothesen zum formalen Befund arbeiten müssen.

Sascha Köhl

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück? Zur „Internationalität“ der Gotik um 1300

Ein „internationales“1 Phänomen war die Gotik bekanntlich bereits lange vor der Epoche der „Internationalen Gotik“ um 1400. Die in der Île-de-France entwickelten Formen und Techniken der Rayonnantgotik hatten schon 100 Jahre zuvor weite Verbreitung in Europa gefunden, sodass Dehio den Siegeszug dieses „Universalstils“ um 1300 zum Abschluss gekommen sah.2 Ein für die Architektur ebenso wie für die Bildkünste bedeutendes Zeugnis hierfür ist der Chor der Esslinger Pfarrkirche St. Dionys mit seinen reichen Beständen bauzeitlicher Glasmalerei (Taf. 18). Es handelt sich um ein anspruchsvolles, in seiner Formensprache hochmodernes Bauwerk, das gleichsam auf Augenhöhe mit den wegweisenden Bauprojekten jenseits des Rheins entstand und damit die Intensität der künstlerischen Beziehungen in Europa um 1300 eindrucksvoll belegt. Wie modern dieses Bauwerk mit seinen spornförmigen Strebepfeilern am Außenbau und dem ohne Unterbrechung zum Gewölbe aufsteigenden feingliedrigen Dienstsystem im Inneren zu seiner Zeit war, zeigt sich daran, dass man noch bis vor wenigen Jahren geglaubt hatte, den Bau ins mittlere 14. Jahrhundert datieren zu müssen. Dagegen konnte Marc Carel Schurr durch präzise Einordnung des Formenrepertoires, zudem gestützt auf die Ergebnisse der dendrochronologischen Analyse, zeigen, dass die Dionyskirche zweifelsfrei ein Werk des späten 13. Jahrhunderts ist.3 1 Der Begriff des „Internationalen“ ist für das Mittelalter bekanntlich nur eingeschränkt tauglich. Seine Verwendung in diesem Zusammenhang erklärt sich aus der Bezugnahme auf den keineswegs unumstrittenen, aber etablierten Epochenbegriff der „Internationalen Gotik“. 2 Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 2, Berlin/Leipzig 1921, S. 14. 3 Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa 1220–1340. Von Metz bis Wien, München 2007 (Kunstwissenschaftliche Studien, 137), S. 264–266. Eine Spätdatierung des Chorbaus ins 14. Jahrhundert vertritt Peter Anstett, Die Stadtkirche St. Dionysius in Esslingen am Neckar, Archäologie und Baugeschichte, Bd. 2: Die Baugeschichte von der Spätromanik zur Neuzeit, Stuttgart 1995 (Forschungen und Berichte der

Aber selbst in einem solch qualitätvollen architektonischen Rahmen wie dem Chor der Esslinger Stadtkirche findet sich bei genauer Betrachtung so manches weniger gelungene bauliche Detail. Als solches darf die Piscina auf der Südseite des Chorpolygons bezeichnet werden (Abb. 1). Es handelt sich um ein etwas schiefes, im Ganzen arg missglücktes, aber gerade deshalb sehr instruktives Gebilde, bei dem man nicht so recht weiß, ob die prinzipiell zukunftsweisende Annäherung an eine Kielbogenform eher der Freude am Formexperiment oder dem Mangel an Formbeherrschung entsprang.4 Unbeholfen wirkt auch, wie ein wulstförmiger Bogen mit Sockel und Basis in das reich profilierte Nischengewände eingepasst – oder besser: reingezwängt – wurde. Es ist offenbar der Versuch, zwei unterschiedliche Architekturmotive miteinander zu verbinden: eine gotische Arkade mit einer spätromanischen Wandnische. Dabei kann die Verwendung der im Kontext der nordfranzösischen Gotik ungewöhnlich reich und kräftig profilierten Nischenform als Weiterführen oder auch Wiederaufgreifen eines regionalen Motivs der Romanik verstanden werden. Darauf deutet vor allem die Gestaltung des unteren Gewändebereichs hin (Abb. 2), wo der Viertelkreisbogen mit Kerbrelief an einen zwischen rechtwinkliger Laibung und Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg, 13/2), S. 136. Vor Schurr hat bereits Markus Hörsch, gestützt auf die dendrochronologischen Untersuchungen von Bernd Becker, Hans-Jürgen Bleyer und Burkhard Lohrum, für eine Frühdatierung plädiert und auf wichtige stilistische Bezüge verwiesen: Markus Hörsch, „Die Esslinger Sakralbauten. Zum Stand ihrer bau- und architekturgeschichtlichen Erforschung“, in: Stadt-Findung. Geschichte – Archäologie – Bauforschung in Esslingen, hg. vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, Bamberg 2001, S. 157–204, hier S. 186. 4 Ich danke Marlene Kleiner (Köln) für die Aufnahmen dieser Piscina. Kielbogenartige Formen finden sich in Frankreich (Portalvorbauten von St. Urbain in Troyes, 1270er Jahre) ebenso wie am Oberrheingebiet seit dem fortgeschrittenen 13. Jahrhundert, so auch am Grabmal der Königin Anna von Habsburg (†1281) im Basler Münster.

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Sascha Köhl

1 Esslingen, Pfarrkirche St. Dionys, Piscina im Chor.

2 Esslingen, Pfarrkirche St. Dionys, Piscina im Chor, Detail.

profiliertem Gewände vermittelnden Hornauslauf erinnert (Abb. 3) – und damit an ein in der südwestdeutschen Spätromanik weit verbreitetes Motiv, das sich auch an den frühgotischen Turmfenstern der Esslinger Stadtkirche findet.5 Die Esslinger Piscina, so unscheinbar sie auch sein mag, führt uns daher zu Fragen von weitreichender Bedeutung für die gotische Architektur. Denn aus der Beobachtung, dass sich selbst in einem mustergültigen Beispiel der gotischen Gliederbauweise wie dem Esslinger Chorbau Elemente romanischer Wandreliefgestaltung wiederfinden, lässt sich die Frage ableiten, inwieweit auch im „Universalstil“ der Zeit um 1300 noch ältere, regionale Gestaltungsprinzipien weitergeführt wurden6 – wenngleich sie zumeist 5 Hornausläufe sind an zahlreichen Bauten des 12. und frühen 13. Jahrhunderts am Oberrhein verbreitet, so auch an den Portalgewänden von Eisenturm und Christophskirche in Mainz. 6 Dabei geht es im Folgenden weniger um das „Warum“ als um das „Wie“ des Aufgreifens lokaler oder traditioneller Elemente in der gotischen Architektur; der Fokus richtet sich auf die Entwurfspraxis. Der Frage zur Bedeutung von Traditionsbezügen in der mittelalterlichen Architektur haben sich in der jüngeren Vergangenheit mehrere Studien gewidmet, so Stephan Albrecht, Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis, München/Berlin 2003 (Kunstwissenschaftliche Studien, 104) sowie Matthias Müller (neben zahlreichen Untersuchungen zu Traditionsbezügen in der Profanarchitektur), „Steine als Reliquien. Zum Verhältnis von Form und Materie in der mittelalterlichen Kirchenarchitektur“, in: Werk und Rezeption. Architektur und ihre Ausstattung.

3 Mainz, Eisenturm, Detail des Torgewändes mit Hornauslauf.

souveräner, harmonischer, mithin unauffälliger als bei der Esslinger Piscina mit dem neuen Formenrepertoire verbunden wurden.7 Entscheidend ist, so eine These dieses Beitrags, dass daraus nicht nur eine mehr oder weniger interessante Regionalvariante der europäischen Rayonnantgotik entstehen konnte. Vielmehr eröffnete sich aus dem Zusammentreffen verschiedener Gestaltungsprinzipien gleichsam synthetisch neue Wege architektonischer Gestaltung. Sie führten zu einem variablen und vielfältigen Gestaltungsrepertoire, das kaum mit dem von Dehio evozierten Bild eines doktrinären „Universalstils“ vereinbar scheint.8 Ernst Badstübner zum 80. Geburtstag, hg. von Tobias Kunz/ Dirk Schumann, Berlin 2011 (Studien zur Backsteinarchitektur, 10), S. 23–51. Daran anschließend hat Hauke Horn zwei umfassende Untersuchungen zu diesem Themenkomplex vorgelegt: Hauke Horn, Die Tradition des Ortes. Ein formbestimmendes Moment der deutschen Sakralarchitektur des Mittelalters, Berlin 2015 (Kunstwissenschaftliche Studien, 171); ders., Erinnerungen, geschrieben in Stein. Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur, Berlin 2017 (Kunstwissenschaftliche Studien, 192). 7 Nicht zu beantworten ist die Frage, wer letztlich für die Gestalt der Esslinger Piscina verantwortlich zeichnet, ob es der leitende Werkmeister war oder ein untergeordneter Steinmetz, dem die Formenfindung dieses Details überlassen wurde; für die folgende Argumentation ist diese Frage von nachrangiger Bedeutung. 8 Norbert Nußbaum hat mehrfach auf die große Bandbreite architektonischer Ausdrucksmöglichkeiten in der Zeit um 1300 hingewiesen, etwa anhand des Vergleichs zweier elsässischer

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

4 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Aufnahme des 19. Jahrhunderts.

Notre-Dame: von Innovation zu Kanonisierung Bevor die Rezeptionsprozesse gotischer Architektur in der Peripherie – namentlich im Rheingebiet – in den Blick genommen werden, soll der Fokus zunächst auf das stilprägende Zentrum dieser Epoche gerichtet werden: auf Paris. Im 13. Jahrhundert stieg die Stadt als Residenz- und Universitätsstadt nicht nur zum politischen und intellektuellen Mittelpunkt, sondern auch zur in nahezu allen Gattungen führenden Kunstmetropole des nördlichen Europas auf. In Paris wiederum war noch in der Mitte des 13. Jahrhunderts, fast 100 Jahre nach Baubeginn, die Kathedrale Bauten: der überreichen Straßburger Münsterwestfassade und der «Bettelordensscheune» der Colmarer Dominikanerkirche. Die fundamental unterschiedlichen Gestaltungskonzepte dieser Kirchen entsprechen verschiedenartigen Bauaufgaben. Im folgenden Beitrag geht es gerade auch um die formale Vielfalt bei Bauten von gleicher Funktion und ähnlichem Anspruchsniveau. S. Norbert Nußbaum, „Hybrid design strategies around 1300. Indications of a ’post-classical‘ Gothic architecture?”, in: The year 1300 and the creation of a new European architecture, hg. von Alexandra Gajewski/Zoë Opačić, Turnhout 2007 (Architectura Medii Aevi, 1), S. 143–150.

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5 Paris, Kathedrale Notre-Dame, nördliche Langhauskapellen.

Notre-Dame das größte und vornehmste, vor allem aber das für die Entwicklung der Architektur wegweisende Bauprojekt; und sie war es vielleicht mehr als je zuvor (Abb. 4). Denn in dieser dynamischen Phase der Architekturgeschichte hob sich Notre-Dame gegenüber anderen zeitgenössischen Bauprojekten dadurch hervor, dass architektonische Entwicklungen dort nicht nur mitvollzogen, sondern entscheidend vorangetrieben wurden. Diese Sonderstellung von Notre-Dame liegt in den speziellen Bauaufgaben begründet. Denn der Neubau der Kathedrale war schon weitgehend abgeschlossen, als man in den 1220er Jahren die vollständige Ummantelung des fünfschiffigen Kernbaus in Angriff nahm:9 Zwischen den Strebepfeilern wurden 9 Für die Baugeschichte von Notre-Dame sind nach wie vor die Arbeiten von Marcel Aubert grundlegend: ders., La Cathédrale Notre Dame de Paris. Notice historique et archéologique, Paris 1909; ders., Notre-Dame de Paris. Sa place dans l’histoire de l’architecture du 12e au 14e siècle, Paris 1920. Für die älteren Baukampagnen außerdem: Caroline Bruzelius, „The Construction of Notre-Dame in Paris“, in: The Art Bulletin, Jg. 69, 1987, S. 540–569. Für die jüngeren Baumaßnahmen der Kapellen und Querhausfassaden Henry Kraus, „New Documents for

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Sascha Köhl

6 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Südquerhausfassade im Zustand vor der Restaurierung und partiellen Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts, Émile Leconte, 1841.

Seitenkapellen eingezogen, zunächst am Langhaus (Abb. 5), in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch am Chor; und zwischen den Kapellenreihen errichtete man die beiden neuen Querhausfassaden um 1250/60. Damit unterschieden sich die Aufgaben und Herausforderungen für die Architekten von ­Notre-Dame wesentlich von denen, die viele Kollegen an anderen Großbaustellen zu bewältigen hatten, die große Gebäudepartien, etwa ein Langhaus, über Jahrzehnte hinweg nach einem einmal fixierten und allenfalls leicht zu modifizierenden Schema errichteten. Notre-Dame‘s Early Chapels“, in: Gazette des Beaux-Arts, Jg. 111, 1969, S. 121–134; ders., „Plan of the Early Chapels of Notre-Dame de Paris“, in: Gazette des Beaux-Arts, Jg. 112, 1970, S. 271; Dieter Kimpel, Die Querhausarme von Notre-Dame zu Paris und ihre Skulpturen, Bonn 1971. Einen jüngeren knappen Überblick über die Baugeschichte mit ergänzenden Hinweisen gibt Dany Sandron in verschiedenen Beträgen in: Notre-Dame de Paris, hg. von André Vingt-Trois, Straßburg 2012 (La grâce d’une cathédrale, 6).

Bei Notre-Dame in Paris hingegen ermöglichten gerade die Kleinteiligkeit und relative Eigenständigkeit der zu realisierenden Bauteile – der abgetrennten Kapellenräume ebenso wie der einzelnen Querhausfassaden – gestalterisches Experimentieren. Freilich waren den schöpferischen Freiheiten auch hier Grenzen gesetzt, galt es doch ein bestimmtes Maß an formaler Kohärenz zu bewahren.10 Aber innerhalb eines gegebenen Rahmens waren doch stets formale Abweichungen und Neuerungen möglich, sodass sich die Kapellen im Ergebnis als immer neue Variationen über das immer gleiche Thema präsentieren; und die Südquerhausfassade stellt als modernisierende, in Teilen auch korrigierende Interpretation des kurz zuvor errichteten nördlichen Pendants ohnehin ein Paradebeispiel einer vor Ort vollzogenen baukünstlerischen Aemulatio dar.11 Es ist diese südliche Querhausfassade, die als Schlüsselwerk der fortgeschrittenen Rayonnantgotik gelten darf (Abb. 6):12 Eine weitgehend flächig konzipierte, über Wände und Öffnungen hinweg maßwerkgegliederte Fassade, die sich durch neue Einzelformen und -motive, vor allem aber durch ein in dieser Konsequenz neuartiges Aufeinander-Abstimmen und In-Bezug-Setzen der einzelnen Architekturglieder, mithin durch ein Höchstmaß an formaler Kohärenz, auszeichnet. Die große, europaweite Resonanz dieser Fassadengestaltung ist hinlänglich bekannt. Für die Entwicklung der Rayonnantarchitektur aber dürften die Kapellenreihen an Langhaus und Chor ähnlich wegweisend gewesen sein, schließlich wurde dort das Leitthema des gotischen Kirchenbaus schlechthin verhandelt: die Gestaltung der Travée. Hierfür wurden zahlreiche, auf andere Kirchenbauten übertragbare Gliederungssysteme und Einzelformen entwickelt. Variationen gibt es von Kapelle zu Kapelle, worauf von außen schon die abwechslungsreichen Maßwerkfenster hinweisen. Im Inneren lässt sich der Prozess ständiger Weiterentwicklung etwa an den verschiedenen Varianten 10 Christian Freigang, „Chapelles latérales privées. Origines, fonctions, financement: Le cas de Notre-Dame de Paris“, in: Art, cérémonial et liturgie au Moyen Âge, hg. von Nicolas Bock u. a., Rom 2002, S. 525–544. 11 Kimpel 1971 (wie Anm. 9). 12 Werner Gross, Die abendländische Architektur um 1300, Stuttgart 1948, S. 30.

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

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8 7 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Dienstbündel am Eingangsbogen einer südlichen Chorkapelle.

der zunehmend verfeinerten, geschärften und einander angeglichenen Profile von Wandvorlagen und Rippengewölbe nachvollziehen (Abb. 7). Eine folgenreiche Schöpfung in den Kapellen der 1240er Jahre war das „expandierende“, über die Sockelwand bis auf den Boden hinabgeführte Fensterstabwerk, das als übergreifendes, Wände und Öffnungen gleichermaßen vorgelegtes Gliederungssystem wirkt (Abb. 8). Im Ergebnis präsentieren die Kapellen eine große Bandbreite von Formen und Formenkombinationen der fortgeschrittenen Rayonnantgotik, die zwar nicht alle an ­Notre-Dame erfunden worden sein müssen, hier aber an prominentem Ort frühzeitig erprobt wurden. Dabei lässt sich an den Kapellen und den Querhausfassaden von Notre-Dame jener entscheidende Entwicklungsschritt nachvollziehen, der die Rayonnant­architektur einerseits vollendet und andererseits neue Wege zu ihrer Weiterentwicklung

Paris, Kathedrale Notre-Dame, nördliche Langhauskapelle.

eröffnet hat. Dieser Gedanke einer gleichermaßen perfektionierten wie entwicklungsfähigen Architektur mag zunächst paradox erscheinen. Doch bestand der entscheidende Schritt zu einer „vollendeten“ Rayonnant­archi­tek­tur eben nicht in der Bereicherung des Formenschatzes durch dieses oder jenes Element, sondern in der durchgreifenden Systematisierung der Formgebung. Dadurch entstand eine Architektur, die sich zwar nicht vollständig, doch in wesentlichen Teilen mittels zweidimensionaler geometrischer Figurationen in Grund- und Aufriss erfassen und generieren lässt, etwa in Maßwerkfiguren oder Pfeilerprofilen; eine Architektur, die sich angesichts ihrer Gliederfülle den Anschein ungekannter Komplexität geben mag, aber bei genauer Betrachtung von einer neuen Konsistenz des Gestaltungskonzepts und der Entwurfspraxis geprägt ist; eine Architektur schließlich, der, gerade weil sie weniger auf einem begrenzten Repertoire von Motiven als auf einer Methodik

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erneuert.13 Ein nur vermeintlich oberflächliches, diese Grundhaltung bezeugendes Detail ist das an vielen Kirchen zu beobachtende Festhalten an der Säulenform mit Kapitell, Basis und Sockel für Dienste, Gewändeprofile und Maßwerkstäbe. Es kann an dieser Stelle nicht auf die vielstimmige und thesenreiche Ursachenforschung für dieses Phänomen eingegangen werden. Es genügt hier festzuhalten, dass in und um Paris das Entwicklungspotenzial des Rayonnant seit dem späten 13. Jahrhundert offenbar gezielt nicht ausgeschöpft wurde.14

Von Notre-Dame zu Liebfrauen: Medien und Methoden des Transfers

9 Straßburg, Münster, Westfassade.

prinzipiell grenzenloser geometrischer Operationen beruht, das Potenzial ständiger Weiterentwicklung inhärent ist. Freilich scheinen dieser These, dass die derart „perfektionierte“ Rayonnantarchitektur die eigene Weiterentwicklung geradezu provoziert, ausgerechnet die Kapellen von Notre-Dame selbst zu widersprechen. Denn bei den jüngeren, nach der Mitte des 13. Jahrhunderts errichteten Chorkapellen scheint eine Stagnation des Erfindungseifers einzusetzen. Ähnliches lässt sich zur gleichen Zeit an vielen anderen Kirchen der Île-de-France beobachten; die Sakralbaukunst rund um Paris zeugt von einer zunehmend konservativen Haltung. Der an den Großbauten des mittleren 13. Jahrhunderts etablierte Formenkanon wurde variiert und verfeinert, aber nicht grundlegend

Die Weiterentwicklung der Rayonnantgotik fand um und nach 1300 weniger im Zentrum als in der Peripherie statt, etwa in den Randgebieten Frankreichs. Insbesondere die Kathedralen des Languedoc, zum Beispiel in Narbonne oder Carcassonne, zählen zu jenen innovativen Bauprojekten des fortgeschrittenen 13. Jahrhunderts, die einerseits den Anschluss an die nordfranzösische Rayonnantarchitektur suchten, andererseits diese ganz neu interpretierten.15 Zu dieser produktiven „Peripherie“ der gotischen Baukultur darf auch das Rheingebiet gezählt werden – wobei hier die wichtigsten Baustellen, vor allem jene in den Bischofsstädten, schon bald selbst zu Architekturzentren von europäischem Rang aufsteigen sollten. Unter diesen kommt Straßburg im Hinblick auf die Rezeption und Interpretation der französischen

13 Grundlegend zur Architektur dieser Epoche nach wie vor Lisa Schürenberg, Die kirchliche Baukunst in Frankreich zwischen 1270 und 1380, Berlin 1934; ferner Peter Kurmann, „Architektur der Spätgotik in Frankreich und den Niederlanden“, in: Die Kunst der Gotik. Architektur, Skulptur, Malerei, hg. von Rolf Toman, Köln 1998, S. 156–187. Jüngst mit dem Fokus auf der Kathedrale von Évreux auch Yves Gallet, La cathédrale d‘Évreux et l‘architecture gothique rayonnante, XIIIe–XIVe siècles, Besançon 2014, bes. S. 307–331. Speziell zu den jüngeren Kapellen von Notre-Dame Michael Davis, „Splendor and peril. The Cathedral of Paris, 1290–1350“, in: The Art Bulletin, Jg. 80, 1998, S. 34–66, hier S. 51–58. 14 Robert Branner, St. Louis and the court style in gothic architecture, London 1965, S. 137. 15 Christian Freigang, Imitare ecclesias nobiles. Die Kathedralen von Narbonne, Toulouse und Rodez und die nordfranzösische Rayonnantgotik im Languedoc, Worms 1992.

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

Gotik eine Sonderrolle zu. Denn im Gegensatz etwa zu Köln lassen sich am vielteiligen und heterogenen Baukomplex des Münsters, an seinen verschiedenen Bauteilen vom Querhaus über das Langhaus bis zur Westfassade, die aufeinanderfolgenden Stufen dieses Aneignungsprozesses besonders deutlich nachvollziehen; und spätestens mit den Westfassadenplanungen in den 1270er Jahren wurde die Münsterbaustelle selbst zu einem europaweit herausragenden Kreativ­zen­trum (Abb.  9).16 Hier zeigt sich – und zwar an den Planzeichnungen mehr noch als am Baubestand – der entscheidende Schritt von der Adaption zur Weiterentwicklung der Rayonnantarchitektur. Während die um 1240/50 festgelegte Gestaltung des Straßburger Langhauses, trotz einer bei Transferprozessen immer gegebenen schöpferischen Redaktion, noch vergleichsweise eng an die Modelle der kronländischen Gotik anknüpft (besonders an die Architektur der Abteikirche Saint-Denis)17, zeugt die auch als Bauaufgabe gänzlich neudefinierte Westfassade mit den zugehörigen Rissen von einer deutlich selbständigeren Entwurfshaltung. Die schöpferischen Möglichkeiten, die die Pariser Rayonnantarchitektur bereithielt, wurden in Straßburg in ungekanntem Maße ausgeschöpft. Wie aber wurden diese in Straßburg weiterentwickelten Formen des Rayonnant überhaupt von den französischen an die rheinischen Baustellen vermittelt? Die Antwort scheint naheliegend: durch das Medium der Zeichnung.18 Es dürfte schließlich kein Zufall sein, dass die ältesten in Straßburg (und ganz Europa) überlieferten Baurisse in präziser Orthogonalprojektion und maßstäblicher Verkleinerung bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind (Abb. 10).19 Das ließe darauf hindeuten, dass die 16 Zur Straßburger Münsterwestfassade zuletzt (mit teilweise umstrittenen Datierungen) Jean-Sébastien Sauvé, Notre-Dame de Strasbourg. Les façades gothiques, Korb 2012 (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 10) sowie Marc Carel Schurr, „The West Façade of Strasbourg Cathedral and its Impact on Gothic Architecture in Central Europe”, in: The Year 1300 (wie Anm. 8), S. 79–88. 17 Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 88–97. 18 Johann Josef Böker, Architektur der Gotik. Rheinlande, Salzburg 2013, S. 8. 19 Ebd., S. 144–198; Robert Bork, The geometry of creation. Architectural drawing and the dynamics of Gothic design, Farnham 2011, S. 55–97; Roland Recht, Le dessin d’architecture. Origine et fonctions, Paris 1995, S. 21–55; Robert Branner, „Villard de

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europaweite Verbreitung der Rayonnantgotik eng mit dem Aufkommen des Mediums der Architekturzeichnung verknüpft gewesen sein könnte, zumal die Gestaltung der Pariser und Straßburger Fassaden wesentlich durch die Verwendung grafischer Projektionsverfahren als Entwurfsgrundlage geprägt scheint.20 Auch lassen die bei den frühen Straßburger Rissen offensichtlichen zahlreichen Anleihen an die Pariser Rayonnantarchitektur auf eine Funktion der Pläne als Transfermedien schließen. Allerdings wird man die Bedeutung solcher Risse für die Transferprozesse nicht überbewerten dürfen, man sollte sie zumindest differenziert bewerten. Denn es ist kaum allein dem Überlieferungszufall geschuldet, dass solche Risse aus der Zeit vor und um 1300 nur an wenigen Orten erhalten und überwiegend für außergewöhnliche Projekte entstanden sind, in erster Linie für Fassaden und Türme. Gerade die berühmten Kölner und Straßburger Risse sind in ihrer aufwändigen Gestalt und zum Teil auch repräsentativen Funktion exzeptionelle Werke, die zwar vom hohen Entwicklungsstand der Architekturzeichnung zeugen, aber unsere Vorstellung von der Funktion der Zeichnung auf und zwischen den Baustellen verfälschen.21 Sie täuschen besonders darüber hinweg, in welchem Maße die Entwurfspraxis um 1300 von modularem Denken geprägt war, d. h. von den Einzelelementen und ihrer strukturellen Verknüpfung ausging. Grundlage gotischen Entwerfens war nicht die Großprojektion des gesamten Bauwerks, sondern die Detailzeichnung einzelner Elemente (etwa der Pfeilerprofile) und deren Verknüpfung in den überschaubaren und wiederholbaren Einheiten der Travée (Abb. 11).22 Honnecourt, Reims and the origin of Gothic architectural”, in: Gazette des beaux-arts, Jg. 61, 1963, S. 129–146. 20 Dieter Kimpel, „Ökonomie, Technik und Form in der hochgotischen Architektur“, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, hg. von Karl Clausberg u. a., Gießen 1981, S. 103–126, hier S. 120–122. 21 Zur vermutlich primär repräsentativen Funktion des monumentalen Kölner Risses F Marc Steinmann, Die Westfassade des Kölner Domes. Der mittelalterliche Fassadenplan F, Köln 2003 (Forschungen zum Kölner Dom, 1), S. 201–203; zum komplexen Verhältnis von Planzeichnung und Bauausführung Matthias Untermann, Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Darmstadt 2009, S. 16–19. 22 Vgl. hierzu auch die nach wie vor grundlegende Untersuchung von Oertel zur Rolle der Zeichnung in der Monumentalmalerei,

10 Riss B des Straßburger Münsters, um 1275/80, ­Pergament, 275  × 69 cm, Musée de l’Œuvre ­Notre-Dame Straßburg.

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11 Zeichnung mit Vorlagenprofilen und Gewandfigur, rheinisch, um 1300 (?), seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verschollen.

Sascha Köhl

Vor allem aber verfälschen die großen Baurisse von Straßburg und Köln unsere Vorstellung von der Bedeutung des Mediums für die Transferprozesse. Zwar war die neue Rolle der Zeichnung in der Entwurfspraxis zweifellos eine Voraussetzung für die weite Verbreitung der Rayonnantgotik, doch bedeutet dies nicht zwingend, dass plötzlich Unmengen von Entwürfen, Vorlagen oder Skizzen auf teurem Pergament (oder sperrigen Tafeln) zwischen den Bauhütten zirkulierten. Denn mindestens genauso wichtig für die Intensivierung der Transferprozesse wie das Medium der Zeichnung war die Praxis der Zeichnung.23 Die Grundlage für die Weiterentwicklung zeichnerischer Praktiken bildeten die beschriebenen, im Laufe des 13. Jahrhunderts forcierten Systematisierungsprozesse, genauer: das systematische Erfassen vermeintlich komplexer architektonischer Strukturen mittels konsistenter zeichnerisch-geometrischer Methoden. Daraus resultierten vergleichsweise leicht erlern- und memorierbare Entwurfstechniken, die einerseits Formentransfers auch ohne Zuhilfenahme gezeichneter Vorlagen ermöglichten, andererseits vielfältigste Formvariationen auch bei größter formaler Annäherung begünstigten.24 Diese Entwicklung der Zeichen-Techniken war selbstverständlich eng verwoben mit der Entwicklung der Zeichnungs-Medien. Und sehr wahrscheinlich wurden Pergamentrisse oder andere zweidimensionale Medien wie Wachs- und Holztafeln oder Schablonen mit wichtigen Überlegungen zum architektonischen Entwurfsprozess: Robert Oertel, „Wandmalerei und Zeichnung in Italien. Die Anfänge der Entwurfszeichnung und ihre monumentalen Vorstufen“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Jg. 5, 1940, S. 217–314, bes. S. 259–262. 23 Hierzu auch der voraussichtlich 2020 in dem vom Netzwerk Architekturwissenschaft herausgegebenen Tagungsband „Artefakte des Entwerfens“ erscheinenden Aufsatz des Autors zu Medien und Methoden des gotischen Architekturentwurfs. 24 Zum Memorierungs- und Kommunikationspotenzial gotischer Entwurfstechniken Norbert Nußbaum, „Planen ohne Wörter. Zur Kommunikation in gotischen Bauhütten“, in: Bautechnik des Historismus. Von den Theorien über gotische Konstruktionen bis zu den Baustellen des 19. Jahrhunderts, hg. von Uta Hassler/ Christoph Rauhut/Santiago Huerta, München 2012, S. 280– 291. Vgl. auch Katja Schröck, „Zur Formulierung von Konstruktionsvorgaben und ihrer Umsetzung auf der mittelalterlichen Baustelle. Oder: War die Nutzung von Schablonen zwingend?“, in: Traces of making. Entwurfsprinzipien von spätgotischen Gewölben, hg. von ders. und David Wendland, Petersberg 2014, S. 39–47.

auch für den Formentransfer verwendet.25 Aber, so ist festzuhalten, mindestens genauso bedeutend, weil dem Medien-Wandel vorausgehend, dürfte der Methoden-Wandel des Entwerfens gewesen sein. Zeichnerische Praktiken wurden zum universalen Kommunikationsmittel, das den Austausch zwischen Hütten begünstigte und das Lesen, Verstehen und Umsetzen gezeichneter Entwürfe, auch der Schablonen, überhaupt erst ermöglichte.26 Auf dieser Basis entwickelte sich die fortgeschrittene Rayonnantgotik zu jenem „Universalstil“, der nicht nur räumliche Distanzen, sondern auch Gattungsgrenzen und Maßstabsunterschiede zu überwinden vermochte.27 Niemals zuvor waren die Beziehungen zwischen den verschiedenen Kunstgattungen so eng wie in den Jahren um 1300.

25 Die Verwendung identischer Profilschablonen an zwei Kathedralbaustellen konnte C. Freigang für Rodez und Narbonne nachweisen: Freigang 1992 (wie Anm. 15), S. 186. 26 In seinem grundlegenden einleitenden Beitrag zur gotischen Kunst in Deutschland charakterisiert Bruno Klein den „Medienwandel“ als zentrales Merkmal der Entwicklung von Bauund Bildkünsten im 13. Jahrhundert: ders., „Internationaler Austausch und beschleunigte Kommunikation – Gotik in Deutschland“, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 3: Gotik, hg. von dems., München 2007, S. 9–33. Zur Rolle geometrischer Operationen als Entwurfs- und vor allem Transfermethode hat insbesondere Norbert Nußbaum mehrere Beiträge verfasst, so Nußbaum 2012 (wie Anm. 24) sowie ders., „Unikat oder Serie? Zur Strategie gotischer Bauproduktion“, in: Traces of making (wie Anm. 24), S. 49–55. Zur Mobilität der am Bau beteiligten Personen im Mittelalter Matthias Müller, „Als Werkmeister Spiskin mit den Stiftsdamen von Sainte-Waudru auf Reisen ging. Zum Phänomen des internationalen Austauschs von Architekturformen und Bautechnologie im Mittelalter“, in: Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hg. von Irene Erfen/Karl-Heinz Spieß, Stuttgart 1997, S. 147–164. 27 Klein 2007 (wie Anm. 26), S. 16–21; Paul Crossley, „The Wer­ ner­kapelle in Bacharach“, in: Mainz and the Middle Rhine Valley. Medieval art, architecture and archaeology, hg. von Ute Engel/ Alexandra Gajewski, Leeds 2007 (The British Archaeological Association. Conference transactions, 30), S. 167–192, hier S. 183; mit weiterführenden Überlegungen Christian Freigang, „Bildlichkeit und Gattungstranszendenz in der Architektur um 1300“, in: Altenberg 1259 und die Baukultur im 13. Jahrhundert, hg. von Norbert Nußbaum/Sabine Lepsky, Regensburg 2010 (Veröffentlichungen des Altenberger Dom-Vereins, 10), S. 377–396.

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

Liebfrauen: zwischen Universalstil und Stilpluralismus Die Angleichung der Entwurfsmethoden führte nicht zwangsläufig zur Homogenisierung der Bauformen. Vielmehr bewirkten gerade die Annäherung der Entwurfspraktiken und die daraus resultierende Intensivierung der Kommunikation vielerorts eine Beschleunigung der Innovationen: Kommensurabilität fördert den Wettbewerb. Davon ausgenommen war Paris mit der Île-de-France, da sich dort an den vornehmsten Bauten noch vor 1300 ein Formenkanon gefestigt hatte. Aber je weiter man sich von Paris entfernte, desto freier war man, abseits des Kanons nach neuen Formen zu suchen. Man könnte auch sagen: Desto mehr war man gezwungen, nach Neuem zu suchen oder Altes neu zu interpretieren, weil die verbindlichen, kanonbildenden Modelle vor Ort fehlten. Dies gilt insbesondere für die Rheinlande. Zwar entstanden gerade hier aufsehenerregende, an vielen Orten rezipierte Großbauten. Doch waren die territorial- und kirchenpolitischen Verhältnisse ebenso wie die baumateriellen und -technischen Voraussetzungen am Rhein insgesamt zu vielgestaltig, als dass sich ein einziges, weithin anerkanntes Modell oder ein fest umrissener Formenkanon hätte festigen können. Zudem behaupteten sich neben den beiden baukulturellen „Hegemonen“ der Hütten von Köln und Straßburg weitere Architekturzentren, in denen man sich mit verschiedenartigen Bauaufgaben befasste. Zu den wichtigsten dieser Zentren ist, worauf Ute Engel jüngst wieder aufmerksam gemacht hat, zweifellos die Mainzer Dombauhütte zu zählen.28 Die seit 28 Ute Engel, „Ummanteln oder neu Bauen? Die rheinischen Kathedralen in Konkurrenz im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Capriccio & Architektur. Das Spiel mit der Baukunst. Festschrift für Bruno Klein, hg. von Stefan Bürger/Ludwig Kallweit, Berlin/ München 2017, S. 91–99; s. auch ihren Beitrag in diesem Band. Als erster hatte Seeliger die Bedeutung der Mainzer Kapellen hervorgehoben: Hartmut Seeliger, Die Stadtkirche in Friedberg in Hessen. Ein Beitrag zur Geschichte der gotischen Baukunst in Hessen und am Mittelrhein, Darmstadt 1962 (Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, N. F., 27, Jg. 1961/62, H. 1/2), S. 40–51; ihm folgten in dieser Einschätzung Beate Dengel-Wink, Die ehemalige Liebfrauenkirche in Mainz. Ein Beitrag zur Baukunst und Skulptur der Hochgotik am Mittelrhein und in Hessen, Mainz 1990 (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz, Jg. 1990) sowie jüngst Marc Carel Schurr in Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 247–251.

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1279 errichteten Langhauskapellen wurden von der Forschung lange Zeit nicht in angemessener Weise gewürdigt und berücksichtigt (Abb. 7–10 im Beitrag von Ute Engel).29 Dabei dürften sie zumindest für das Reichsgebiet eine den etwas älteren Pendants von Notre-Dame entsprechende architekturgeschichtliche Stellung für die Jahrzehnte vor und nach 1300 beanspruchen. Denn während man in Straßburg mit der Westfassade ein in vielfacher Hinsicht außergewöhnliches Bauprojekt in Angriff nahm und in Köln einen Großbau konsequent nach einem im Wesentlichen bereits festgelegten Plan hochzog, widmete man sich in Mainz ab 1279, wie zuvor in Paris, der Gestaltung der Travée als der Kernzelle des gotischen Kirchenbaus. Schritt für Schritt, erst an den nördlichen, dann an den südlichen Kapellen, erprobte man neue Wege der architektonischen Gliederung und suchte nach neuen Formen und Formkombinationen für die Hauptelemente gotischer Architektur, für Pfeiler und Wandvorlage, für Fenstergestaltung und Jochwölbung. Im Ergebnis lässt sich an den nördlichen Mainzer Kapellen eine konsequente, an den südlichen Kapellen gar eine radikale Weiterentwicklung der Gestaltungspraxis der Rayonanntgotik nachvollziehen (Abb. 11 im Beitrag von Marc Schurr).30 Deutlicher als andere Bauten lassen sie den Prozess des systematischen Zerlegens des Bauwerks in zweidimensionale Figurationen sowie die damit verbundenen Tendenzen zu verstärkter Korrelation (1), Abstraktion (2) sowie Skalierbarkeit und Variabilität (3) der architektonischen Formen fassbar werden. Kennzeichnend für die Architektur dieser Kapellenreihe ist demnach, erstens, wie etwa die kontinuierlich in die Gewölberippen und Gurtbögen weiterlaufenden Profile der Wandvorlagen veranschaulichen, die zunehmend enge Korrelation der verschiedenen Elemente des Baus, der unteren mit den oberen, der tragenden mit den lastenden, der Details mit dem Ganzen. Daraus folgt, zweitens, das Aufgehen vormals autonomer Einzelformen, vor allem der Säulen, in übergreifenden Strukturen wie auch das Verschleifen zuvor additiv gebildeter Säulenbündel zu einer Folge abstrakter

29 Exemplarisch sei Dehios knappe Einschätzung zitiert: „Die Ergänzungsbauten am Dom gereichten demselben nicht zum Vorteil.“ Dehio 1921 (wie Anm. 2), S. 39. 30 Prägnant analysiert von Seeliger 1962 (wie Anm. 28), S. 47–51.

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Formen und Gegenformen, von Wülsten, Kehlen und Graten. Eine solcherart abstrakt generierte Architektur führt, drittens, auch zu einer freieren Verwendung und gesteigerten Skalierbarkeit der einzelnen Formen. Beispiele hierfür sind die sich über Wandflächen und -öffnungen aller Größen gleichermaßen ausbreitenden Maßwerkmotive ebenso wie die in der Form sich angleichenden, nur in der Größe angepassten Profilierungen vertikaler Elemente wie Pfeiler und Vorlagen, Maßwerkstäbe und Blendarkaden.31 Wenngleich all diese Tendenzen schon an älteren Bauten, insbesondere der französischen Gotik, zumindest in Ansätzen vorbereitet sind, erreichen sie an den Südkapellen des Mainzer Doms zweifelsohne einen neuen, kaum noch zu übertreffenden Höhepunkt. Abgesehen von der Weiterentwicklung gotischer Gliederungssysteme bietet die Mainzer Kapellenreihe auch hinsichtlich der Raumkonzeption eine bemerkenswerte Neuinterpretation des Pariser Modells – vor allem dank der gleichermaßen raumtrennenden wie -verbindenden Maßwerkschleier zwischen den Kapellen.32 Diese zielen auf eine ambivalente, weil zwischen Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit der einzelnen Kapellen unentschiedene Raumwirkung; zudem erzeugen sie ein raffiniertes Spiel mit geschichteten Maßwerkebenen. Und gerade darin erweist sich die Mainzer Dombauhütte als Architekturzentrum auf der Höhe der Zeit. Bekanntlich war die Schichtung der Maßwerkebenen ein von St. Urbain in Troyes inspiriertes Leitthema der Straßburger Westfassade,33 das um 1285 jedoch, als man in Mainz nach einer Planänderung diese neue Form der Kapellentrennung konzipierte, in Straßburg ebenfalls erst realisiert wurde.34 Es ist dies ein weiteres Beispiel dafür, dass die Straßburger Hütte am Ende des

13. Jahrhunderts zwar unbestritten ein Kreativzentrum, eine führende europäische „Planschmiede“35, war. Doch wurden viele der in Straßburg diskutierten und gezeichneten Ideen nicht allein an dem nur langsam in die Höhe wachsenden Westmassiv des Münsters, sondern zur gleichen Zeit, manchmal sogar schon etwas früher, in kleineren, überschaubaren Bauvorhaben im weiteren regionalen Umkreis erstmals umgesetzt – und zugleich weitergedacht. Einer der erstaunlichsten, gestalterisch konsequentesten dieser Pionierbauten ist die Stiftskirche im elsässischen Niederhaslach (s. auch den Beitrag von M. C. Schurr).36 Bahnbrechend war hier insbesondere die Gestaltung des Langhauses mit seinen völlig glatten, übereckgestellten Rechteckpfeilern, in die die Arkadenprofile unvermittelt einschneiden und aus denen die ohne Unterbrechung des Linienflusses ins Gewölbe aufsteigenden Birnstabbündel hervorwachsen. Die durch scharfe Grate und Kanten akzentuierte lineare Wirkung, überhaupt die zeichnerische Schärfe und Präzision dieser Architektur hat Marc Carel Schurr sehr genau analysiert. Nur ein Aspekt sei hier ergänzt: Denn für die Wirkung dieser Architektur ist es entscheidend, dass sie gerade nicht vollständig in einer massenauflösenden Linearität aufgeht. Das liegt nicht zuletzt an den ungewöhnlichen, spornartig in die Schiffe ragenden und so den Raum wesentlich strukturierenden Pfeilern und Wandvorlagen.37 Diese stellen gleichsam die Rohform eines nicht weiter ausgearbeiteten gotischen Bündelpfeilers dar. Sie verweisen damit auf die Materialität und den Entstehungsprozess der Architektur,38 vor allem aber schaffen sie in ihrer elementaren Gestalt einen wirkungsvollen Kontrast zu den aus ihnen erwachsenden filigranen Strukturen.

31 Wichtige Beobachtungen und weiterführende Überlegungen zur neuartig freien, bisher geltende Normen teilweise missachtenden Verwendung von Formen und Profilen bei Bruno Klein, „Die Kirche von Mussy-sur-Seine. Methodische Überlegungen zur französischen Architektur um 1300“, in: Architektur und Monumentalskulptur des 12.–14. Jahrhunderts. Produktion und Rezeption. Festschrift für Peter Kurmann zum 65. Geburtstag, hg. von Stephan Gasser, Bern u. a. 2005, S. 183–205. 32 Hierzu der Beitrag von Ute Engel in diesem Band. 33 Hierzu jüngst Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 209–220. 34 Hierzu demnächst das in der Reihe „Neue Forschungen zum Mainzer Dom“ erscheinende Buch „Gotik und Romanik. Die Langhauskapellen des Mainzer Doms um 1300“ von Ute Engel.

35 Klein 2007 (wie Anm. 26), S. 17. 36 Vor allem Peter Kurmann und Marc-Carel Schurr haben jüngst in mehreren Beiträgen die außerordentliche architekturgeschichtliche Bedeutung dieser Kirche herausgearbeitet: Peter Kurmann, „Niederhaslach, la nef de l’église Saint-Florent. ’Nec plus ultra’ du modernisme autour de 1300“, in: Congrès Archéologique de France, 162/ 2004: Strasbourg et Basse-Alsace, Paris 2006, S. 79–89; Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 233–235 sowie der Beitrag von dems. in diesem Band. 37 Schon Roland Recht hat die raumstrukturierende Wirkung der Pfeiler beschrieben: Roland Recht, L‘Alsace gothique de 1300 à 1365. Étude d’architecture religieuse, Colmar 1974, S. 155–168. 38 Nußbaum 2012 (wie Anm. 24), S. 280f.

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

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13 Worms, Dom, Langhaus nördliche Mittelschiffswand. 12 Niederhaslach, Stiftskirche, südliches Seitenschiff.

Die Obergadengliederung scheint geradezu aus den unteren Steinmassen geschält zu sein. Da zudem die tief sitzenden Fenster mit ihren gekehlten Gewänden, besonders im Seitenschiff (Abb. 12), die beträchtliche Stärke der Mauer vor Augen führen, bleibt bei diesem Bau stets eine Spannung zwischen der Massenwirkung mächtiger Mauern und der Akzentuierung linearer Strukturen gewahrt. Es scheint daher, als hätten die Architekten in Niederhaslach nicht nur den Anschluss an die aktuelle Baukunst gesucht. Vielmehr setzten sie sich zugleich mit traditionellen Themen der oberrheinisch-romanischen Architektur auseinander, namentlich mit Mauermassenästhetik und Wandreliefgestaltung (Abb. 13), und interpretierten diese mit zeitgemäßen Mitteln neu. Weitgehend verlorengegangen ist dabei freilich die durch zahlreiche Wulstprofile generierte plastische Qualität der Wandmodellierung, wie sie die meisten spätromanischen Kirchenbauten zwischen Straßburg und Worms kennzeichnet.39 An ihre Stelle treten konkave Formen, meist weite Kehlen, die durch ihre Lichtschattenwirkung sowohl die Mauern

39 Zur spätromanischen Architektur am Oberrhein knapp zusammenfassend Dethard von Winterfeld, Die Kaiserdome Speyer, Mainz, Worms und ihr romanisches Umland, Würzburg 1993, S. 21.

in ihrer Tiefe betonen als auch die Kanten der Profile scharf nachzeichnen. Ein solches Herausschälen der Gliederstrukturen aus ungegliederten Mauermassen wäre zu dieser Zeit in der Pariser Architektur, wo gleichsam papierdünne Wände zwischen das Gliedergerüst gespannt sind, kaum denkbar. So könnte in Niederhaslach gerade die Beschäftigung mit der Tradition neue Wege der architektonischen Gestaltung eröffnet haben.40 Hier zeigt sich einmal mehr, dass auch in den wegweisenden Bauten der Rayonnantgotik Altes und Neues, Lokales und „Universales“ eine fruchtbare Verbindung eingehen konnten; eine Verbindung, um die sich auch der eingangs erwähnte Esslinger Steinmetz der Piscina so sehr bemüht hatte. Deutlich souveräner als er agierten eine Generation nach ihm seine Kollegen, die am Chor der benachbarten Frauenkirche arbeiteten – einem Bauwerk von, wie Schurr aufgezeigt hat, straßburgisch-oberrheinischer Prägung.41 Vor allem die Sediliennische dieses Chors ist ein Werk, bei dem die Niederhaslacher 40 Zur bewussten Auseinandersetzung mit örtlichen Bauformen und -traditionen in der Gotik schon der wegweisende Aufsatz von Peter Kurmann/Dethard Winterfeld, „Gautier de Varinfroy. Ein ‚Denkmalpfleger‘ des 13. Jahrhunderts, in: Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag, hg. von Lucius Grisebach/ Konrad Renger, Frankfurt am Main 1977, S. 101–159. 41 Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 266–268.

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14 Esslingen, Frauenkirche, Sediliennische im Chor.

15 Bacharach, Wernerkapelle, südöstlicher Vierungspfeiler.

Themen erneut verhandelt werden: das Herausschälen filigraner Strukturen aus elementaren Formen, verbunden mit einem tiefen und reichen, zugleich sehr scharf gezeichneten Wandrelief (Abb. 14). Eine Repräsentantin ihrer Zeit ist die Niederhaslacher Kirche auch deshalb, weil viele der originellsten Bauwerke, die um 1300 zwischen Seine und Rhein errichtet wurden, Kirchen von höchstens mittlerer Größenordnung sind. Zu den eindrucksvollsten Beispielen solcher Kirchen, in denen neue architektonische Ideen in einem überschaubaren baulichen und zeitlichen Rahmen konsequent umgesetzt werden konnten, gehören: in der Champagne die Stiftskirchen in Troyes (St. Urbain)42 und in Mussy-sur-Seine43, im Burgund die Klosterkirche St. Germain in Auxerre44 42 Zu St. Urbain in Troyes zuletzt Christine Onnen, Saint-Urbain in Troyes. Idee und Gestalt einer päpstlichen Stiftung, Kiel 2004 (Kieler kunsthistorische Studien, N. F., 4). 43 Zuletzt Klein 2005 (wie Anm. 31) sowie Isnard, „Le cas d’utilisation de modèle architecturale vers 1300 en Champagne. L’exemple des collégiales de Saint-Urbain de Troyes et SaintPierre-aux-Liens de Mussy-sur-Seine“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Jg. 73, 2010, S. 19–40. 44 Zuletzt, mit teilweise unterschiedlichen Datierungen, ­Alexandra Gajewski, „Saint-Germain d’Auxerre. Une abbatiale ­rayonnante des années 1300“, in: Bulletin de la société des fouilles archéologiques et des monuments historique de l’Yonne, Jg. 26/27, 2009/2010, S. 42–65, sowie Alain Villes, „L’abbatiale gothique de Saint-Germain d’Auxerre. Première partie: campagnes de travaux et chronologie“, in: Bulletin de la société des

16 Salem, Zisterzienserkirche, nordöstlicher Vierungspfeiler.

und die Prioratskirche St. ­Thibault-en-Auxois45, in Lothringen die Stiftskirche in Munster-en-Lorraine und die Antoniterkirche in Pont-à-Mousson46 sowie im Elsass neben Niederhaslach etwa die kleine Pfarrkirche in Domfessel. Jede dieser Kirchen hat einen ausgesprochen individuellen Charakter, jede steht für einen anderen Ansatz, die jeweiligen Vorgaben des Bauprojekts mit den konzeptionellen und gestalterischen Mitteln der Rayonnan­tarchitektur zu erfassen. Im Ganzen offenbaren diese Bauten ein außerordentlich breites, ganz und gar nicht doktrinär verengtes Formenspektrum. Dies lässt sich auf mindestens zwei Ursachen zurückführen: Erstens brach sich außerhalb der Île-de-France der einheitliche Typen- und Formenapparat des R ­ ayonnant an der Vielfalt lokaler Faktoren, an örtlichen Bautraditionen und Materialbedingungen ebenso wie an den Anforderungen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Palette an Bauaufgaben und den Ansprüchen einer beständig fouilles archéologiques et des monuments historique de l’Yonne, Jg. 28, 2011, S. 3–50. 45 Christian Freigang/Peter Kurmann, „L’église de l’ancien prieuré de Saint-Thibault-en-Auxois. Sa chronologie, ses restaurations, sa place dans l’architecture gothique, in: Congrès archéologique de la France, Jg. 145, 1987, S. 271–290. 46 Christoph Brachmann, Um 1300. Vorparlerische Architektur im Elsaß, in Lothringen und Südwestdeutschland, Korb 2008 (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1), S. 47–75 sowie S. 119–135.

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

wachsenden Gruppe von Auftraggebern.47 Eine zweite, gleichsam innere Ursache für die Formenvielfalt der Rayonnantgotik ist, dass ihre Verbreitung primär auf der Aneignung grundlegender Entwurfsprinzipien und -techniken beruhte, mit deren Hilfe das in der Île-de-France etablierte Motiv- und Formenrepertoire transferiert, aber auch variiert, abstrahiert und uminterpretiert werden konnte. Den Architekten boten sich daher große Freiräume und sogar neue Themen der Gestaltung. So erweist sich die besondere Qualität der Rayonnantarchitektur in Europa gerade in jenem Spannungsfeld, das durch ihr Potenzial als „Universalstil“ (Dehio)48 und die Realität des „Stilpluralismus“ (Nußbaum)49 abgesteckt wird. Kaum irgendwo zeigt sich der Stilpluralismus um 1300 ausgeprägter als am Mittelrhein. Die Vielfalt der Architektur entspricht der Komplexität der Voraussetzungen. In den kleinen, aber bedeutenden Städten überlagerten sich in einmaliger Dichte unterschiedliche kirchliche Zuständigkeiten und politische Interessenssphären.50 Das Ergebnis war ein kaum mehr überschaubares Geflecht konkurrierender Ansprüche und entgegengesetzter Orientierungen, die auf die verschiedenen Bauprojekte wirkten. Noch komplexer wird die Situation durch die geologische Grenze, die im Süden das Gebiet berührt und die das (mittel-)rheinische Schiefergebirge von den oberrheinischen Gebieten, in denen vor allem Sandstein gebrochen wurde, trennt. Die Verwendung unterschiedlicher Baumaterialien dies- und jenseits dieser – freilich keineswegs hermetischen – Grenze hatte schon in der Romanik über die Bautechnik

47 Hierzu schon Norbert Nußbaum, Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik, Darmstadt ²1994, S. 116; Peter Kurmann, „Spätgotische Tendenzen in der europäischen Architektur um 1300“, in: Europäische Kunst um 1300. Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Bd. 6, hg. von Gerhard Schmidt, Wien/Köln/Graz 1986, S. 11–18. 48 Dehio 1921 (wie Anm. 2), S. 14. 49 So die Überschrift des Kapitels zur Architektur der ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts in Norbert Nußbaum, Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik, Darmstadt 21994, S. 117. 50 S. hierzu den einleitenden Beitrag der Herausgeber. Am Mittelrhein trafen nicht nur fünf mächtige politische Akteure (Mainz, Köln, Trier, Pfalz, Katzenellenbogen) aufeinander, es verliefen auch die Grenzen von Diözesen sowie von Bettelordensprovinzen durch das Gebiet. Zu Letzterem der Beitrag von Karola Sperber in diesem Band.

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hinaus die gesamte Baukultur wesentlich geprägt.51 Dementsprechend sollte diese Grenze auch in der Epoche der Gotik nicht nur für Materialität und Bautechniken, sondern auch für das Verständnis von örtlichen Bautraditionen wirksam bleiben. Die Formenvielfalt gotischer Architektur am Mittelrhein zeigt sich nirgends deutlicher als am Beispiel der in geringer zeitlicher und räumlicher Distanz voneinander errichteten, in Größe und Aufwand miteinander vergleichbaren Bauten der Wernerkapelle in Bacharach und der Liebfrauenkirche in Oberwesel (s. Taf. 32–39).52 Die um 1290 begonnene Wernerkapelle sucht in ihrer reichen, feingliedrigen Gestalt den Anschluss an die Architektur der anspruchsvollsten Bauprojekte am Rhein.53 Vorbildliches oder Vergleichbares findet sich vor allem in Köln; für manche prägnante Formbildungen, etwa die stark ondulierende Gewände- und Vorlagenprofilierung mit feinsten Diensten zwischen weiten Kehlen (Abb. 15), wird man aber eher an rheinaufwärts gelegenen Bauten fündig, für die Fenstergewände etwa an den nördlichen Langhauskapellen des Mainzer Domes, für den Vierungspfeiler in der Zisterzienserkirche Salem (Abb. 16).54 Das Maßwerk der Wernerkapelle wiederum entstammt, wie Hauke Horn in diesem

51 Dethard von Winterfeld, Romanik am Rhein, Darmstadt 2001, S. 19. 52 Da Hauke Horn die beiden Bauten in seinen Beiträgen in diesem Band ausführlich vergleicht, seien an dieser Stelle nur wenige, für diesen Zusammenhang wesentliche Aspekte behandelt. 53 Zur Wernerkapelle zuletzt Crossley 2007 (wie Anm. 27) sowie Pia Heberer, „Die Wernerkapelle in Bacharach. Eine archäologische Untersuchung zum Abschluss der Instandsetzungsarbeiten von 1981–1996“, in: Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz, Jg. 47–51, 1992–1996, S. 37–59. Jüngst erschienen ist eine Studie von Horn zum Verhältnis der Wernerkapelle zu einem Riss der Straßburger Münsterbauhütte: Hauke Horn, „Liaisons rhénanes: Le dessin no. 6 de la cathédrale de Strasbourg et la chapelle de Werner à Bacharach dans le contexte du gothique rhénan“, in: Bulletin de la Cathédrale de Strasbourg , Jg. 23, 2018, 85–97. 54 Auf die ähnlichen Gewändeprofile in Bacharach und Mainz verwies, anschließend an Beobachtungen von Seeliger 1962 (wie Anm. 28), Crossley 2007 (wie Anm. 27), S. 179. Den scheinbar noch nicht erkannten engen Parallelen der Vierungspfeilerprofile in Bacharach und im Salemer Münster (Baubeginn kurz vor 1300) muss freilich keine direkte Bezugnahme zugrunde liegen, wohl aber ein auf wenigstens indirekten Beziehungen beruhendes gemeinsames Interesse an bestimmten Formbildungen und -effekten. Zur Datierung von Salem s. Jürgen Michler, „Dendrochronologische Datierung des Salemer Münsters“, in: Kunstchronik, Jg. 38, 1985, S. 225–228.

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Sascha Köhl

17 Köln, Chor der Stiftskirche St. Severin.

Band hervorhebt, größtenteils dem Motivrepertoire der Kölner Dombauhütte.55 In dieselbe Richtung weist auch die Bautechnik, trotz der Verwendung von Mainsandsteinquadern (vgl. Abb. 7 im Beitrag von Horn, Bautechnik): Das von Zangenlöchern übersäte, einst wohl vollständig verputzte Mauerwerk ist recht sorglos, dazu ohne Lagenbezug in das rahmende „Skelett“ der Wandvorlagen und Strebepfeiler gesetzt, womit es konstruktiv eher den Bruchstein- und Tuffziegelbauten des Mittel- und Niederrheins (Abb. 17) als den sorgfältig gemauerten Großquaderbauten des Oberrheins gleicht.56 Auch die nur wenig später 55 Hierzu Hauke Horn in seinem Beitrag in diesem Band, damit an die Ergebnisse Crossleys anschließend: Crossley 2007 (wie Anm. 27), S. 182. 56 Zur Bautechnik der Romanik an Ober- und Niederrhein von Winterfeld 2001 (wie Anm. 51), S. 20f. Zur Bautechnik der Gotik an Mittel- und Niederrhein, wo der Trachytquaderbau des Kölner Domchors bautechnisch eine „Ausnahmeerscheinung“ (S. 180) darstellte, s. Sabine Lepsky/Norbert Nußbaum, Gotische Konstruktion und Baupraxis an der Zisterzienserkirche Altenberg, Bd. 1: Die Choranlage, Bergisch Gladbach 2005, S. 178–185.

18 Köln, Chor der Stiftskirche St. Severin.

(um 1308) begonnene, nochmals individuellere und im Ganzen vorbildlose Liebfrauenkirche in Oberwesel offenbart im Einzelnen vornehmlich Bezüge zur mittel- bis niederrheinischen Baukultur.57 Das Die vor allem in der Spätgotik üblichen Zangenlöcher auf den Sichtflächen der Steine erscheinen zumindest im oberrheinischen Kontext, wo man lange großen Wert auf hochwertiges, teilweise sichtbar belassenes Mauerwerk legte, relativ frühzeitig. Am Bau des Salemer Münsters findet man sie an den jüngeren, nach 1300 entstandenen Bauteilen, an den beiden um/nach 1300 entstandenen Chorbauten in Esslingen hingegen gar nicht. Bemerkenswerterweise ist einer der Bauten, an denen Zangenlöcher auf Sichtflächen besonders frühzeitig in großer Häufung anzutreffen sind, der Mainzer Dom, und zwar schon an den jüngeren Teilen des Westquerhauses (frühes 13. Jahrhundert), dann auch bei den gotischen Langhauskapellen. Inwieweit dies ein Charakteristikum der Mainzer Dombaustelle darstellt und ob damit die im Formalen zweifellos vorhandenen Bezüge zwischen Bacharach und Mainz auch in der Bautechnik bestehen, bedarf jedoch weiterer eingehender Untersuchungen. Zum Salemer Befund s. Michler 1985 (wie Anm. 54). 57 Selbstverständlich gibt es auch Bezüge zwischen Oberwesel und rheinabwärts gelegenen Kirchen, vor allem in Mainz. Das gilt etwa für die eingezogenen Strebepfeiler an den vermutlich

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

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19 Ansicht der Mainzer Liebfrauenkirche von Nordosten, Georg Melchior Kraus, 1793 (Städel Frankfurt).

20 Das Innere der zerstörten Mainzer Liebfrauenkirche, aquarellierte Federzeichnung von Georg Schneider, 1794 (Landesmuseum Mainz).

gilt insbesondere für die Konstruktion des verputzten Schieferbruchsteinbaus; zudem erweist sich die charakteristische Gestaltung des Chorpolygons mit eingezogenen Strebepfeilern und innerem Laufgang als Neuinterpretation eines im 13. Jahrhundert58 an Mittel- und Niederrhein verbreiteten Typus, wie er z. B. in St. Severin in Köln (1230er Jahre; Abb. 17, 18) und – als vereinfachte Variante ohne Laufgang – auch im nahen St. Goar (um 1250) erhalten ist.59

Damit überwiegen in beiden Fällen, in Bacharach wie in Oberwesel, Bezugnahmen zu rheinabwärts gelegenen Bauten – und doch sind zwei völlig unterschiedliche, ja gegensätzliche Bauwerke entstanden. Sie zeugen von einer Eigenständigkeit des Entwurfs und einer Vielschichtigkeit der Bezüge, die weder in einfachen kunstlandschaftlichen Kategorien noch in Zuordnungen zu einzelnen Bauhütten (z. B. Köln oder Straßburg) zu erfassen sind. Ein Bau, der diese Vielschichtigkeit nochmals steigerte, auch weil er die in Oberwesel und Bacharach fassbaren Gegensätze gleichsam in sich vereinte, war die bald nach 1285 errichtete Liebfrauenkirche in Mainz (Abb. 19). Ihre zum Rhein und zum Platz hin gewandte Ostseite war überaus reich gestaltet, mit großen, die Wandflächen zwischen den Strebepfeilern weitgehend auflösenden Maßwerkfenstern, mit einem opulent geschmückten Figurenportal und mit einem „Straßburger“ Maßwerkschleier am Turm. Im Gegensatz dazu erscheint das kompakte Langhaus mit Einsatzkapellen zwischen eingezogenen

älteren Bauten des Langhauses von Liebfrauen oder des Chorpolygons von St. Emmeran, beide in Mainz. Zu Oberwesel Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Stadt Oberwesel, Bd. 1, bearb. von Eduard Sebald, München/Berlin 1997; Eduard Sebald, „Die Liebfrauenkirche in Oberwesel. Ein Kirchenbau zwischen historischer Bauforschung und historischer Forschung“, in: Architectura, Jg. 39, 2009, S. 159–170. 58 Es handelt sich überwiegend um Bauten, die der rheinischen „Spätromanik“ zugeordnet werden. Zur Problematik dieser Stilbegriffe, auch zum sog. „Übergangsstil“ der Beitrag von Matthias Müller in diesem Band. 59 Zu St. Goar Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.3: Stadt St. Goar, Bd. 1, bearb. von Eduard Sebald, München/Berlin 2012.

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21 Ostportal der Mainzer Liebfrauenkirche, aquarellierte Federzeichnung, Anfang 19. Jahrhundert (Landesmuseum Mainz).

22 Nordquerhausportal der Kathedrale von Rouen, Detail einer Bauaufnahme im Zustand vor den Restaurierungen des 19. Jahrhunderts.

Strebepfeilern in seiner klaren Gestalt und kubischen Geschlossenheit wie ein Vorläufer von Oberwesel. Einen erneuten Kontrapunkt zu diesem herben, kantigen Äußeren des Langhauses setzte schließlich das Innere der Hallenkirche, das vor allem durch den Linienfluss der reich gebildeten, weich ondulierenden Pfeiler und Vorlagen geprägt war, die denen der Wernerkapelle und der benachbarten Domkapellen glichen (Abb. 20). Freilich blieb das Geflecht architektonischer Bezüge bei der Liebfrauenkirche nicht auf das Rheinland beschränkt. Ein besonders prägnanter Beleg für die Modernität des Baus, auch im westeuropäischen Kontext, war der mit Maßwerkmotiven durchbrochene, dazu durch figürliche Skulpturen gleichsam

historisierte Portalwimperg (Abb. 21). Ein etwa gleichzeitiges, vermutlich nur wenig älteres Beispiel eines solchen Wimpergs bekrönt auch das nach 1281 entstandene Nordquerhausportal der Kathedrale von Rouen („Portail des Libraires“; Abb. 22),60 wobei sich 60 Die Gemeinsamkeiten zwischen Mainz und Rouen hat schon Niehr erkannt und ausführlich analysiert: Klaus Niehr, „Vorüberlegungen zu einer Geschichte des Figurenportals in Deutschland vom 13. bis zum 15. Jahrhundert“, in: Das Westportal der Heiliggeistkirche in Landshut, hg. von Erwin Emmerling u. a., München 2001 (Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Arbeitsheft, 106), S. 161–196; figürlich dekorierte Wimperge gab es zwar schon früher (z. B. in Reims), entscheidend ist, dass die Skulpturen in Mainz und Rouen in die Maßwerkfiguren einbeschrieben sind. Zum Rouennaiser Portal Markus Schlicht, La cathédrale de Rouen vers 1300. Portail des Libraires, portail de

Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

die Gemeinsamkeiten nicht nur an der allgemeinen Konzeption, sondern auch an konkreten Motiven festmachen lassen, etwa an der einem Pass einbeschriebenen Gnadenstuhl-Darstellung. Angesichts solcher Parallelen erscheint es nicht abwegig, zumindest die Möglichkeit eines direkten oder indirekten, sei es auf Wanderung der Künstler, auf Verwendung gezeichneter Vorlagen oder auf anderen Kommunikationsformen beruhenden Austauschs zu erwägen. In jedem Fall zeugt dieses Beispiel von der neuen, hier beschriebenen Intensität der künstlerischen Beziehungen im Europa des Rayonnant. Und wie kaum eine zweite offenbart die Liebfrauenkirche in ihrer Komplexität im Ganzen wie in ihrer Modernität im Detail beide Seiten der Gotik um 1300: die pluralistische wie auch die universale.

…und zurück? Es bleibt eine Frage offen, die im Titel dieses Beitrags gestellt wird: Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück? Eine Antwort hierauf zu geben, fällt schon aufgrund des Mangels an Untersuchungen schwer, der aus der einseitigen Fokussierung der Forschung auf die West-Ost-Route der Gotikrezeption resultiert. Diese Lücke kann auch dieser Beitrag nicht schließen. Die Beantwortung der Frage wird aber auch durch die Besonderheit der Baukultur jener Jahre erschwert: Eben weil die Architektur um 1300 von einer neuen Intensität der Kommunikation geprägt war, lässt sich oft nicht mit Sicherheit bestimmen, an welchem Bau welche Form erstmals auftrat. Und gerade weil die neuen Entwurfsmethoden und -prinzipien derart weit verbreitet waren, muss häufig offen bleiben, ob eine Formenähnlichkeit an zwei Bauten aus einem direkten Kontakt oder aus jeweils eigenständigem, aber ähnlich konsequentem Weiterdenken entsprechender Herausforderungen resultierte. Letzteres wäre etwa im Fall der „historisierten“ Wimperge von Mainz (Liebfrauen) und Rouen zumindest nicht auszuschließen, noch weniger bei den raumtrennenden Maßwerkschleiern, die etwa gleichzeitig an den la Calende, chapelle de la Vierge. Un chantier majeur de la fin du Moyen Âge, Caen 2005 (Mémoires de la Société des Antiquaires de Normandie, 41); zur Datierung des Portals ebd., S. 30f.

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23 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Chorumgangskapellen, Dienstbündel und Kapitellzone an einem Kapelleneingangsbogen.

24 Paris, Kathedrale Notre-Dame, Chor­um­ gangs­kapellen, Detail des Sockelbereichs an einem Kapelleneingangsbogen.

Langhauskapellen des Mainzer Domes und an den Querhauskapellen der Kathedrale von Carcassonne errichtet wurden.61 Es kommt ein drittes Problem hinzu: der Forschungsstand zur Architektur um 1300 in Frankreich, insbesondere in der Île-de-France.62 Die wenigen der Baukunst dieser Jahre gewidmeten Studien charakterisieren sie zumeist als Traditionshüterin der Gotik des 13. Jahrhunderts. Das ist sicher ein wichtiger Punkt, doch kann eine solche Fokussierung auf die traditionelle Erscheinung im Großen die zuweilen virtuose Experimentierfreude im Detail übersehen lassen. Ein Beispiel hierfür sind ausgerechnet jene scheinbar so konventionellen Chorumgangskapellen von Notre-Dame, die auch hier als Zeugnisse des „stagnierenden Erfindungseifers“ beschrieben wurden. Bei genauerem Blick zeigt sich jedoch, dass der Architekt der Kapellen auf eine in dieser Prägnanz zuvor unbekannte Kontrastwirkung zwischen plastischer Monumentalität und grafischer Finesse zielte, etwa durch das Gegenüber besonders stämmiger Runddienste und umso zerbrechlicher wirkender Maßwerkstäbe. Vor allem aber inszeniert er an den Pfeilern und Vorlagen eine übertriebene und 61 Hierzu auch der Beitrag von Ute Engel in diesem Band. 62 Die rühmliche Ausnahme bleibt Schürenberg 1934 (wie Anm. 13); in jüngerer Zeit hat insbesondere Yves Gallet mehrere Studien zu einzelnen Bauten dieser Zeit vorgelegt, etwa Gallet 2014 (wie Anm. 13).

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dadurch die Systematik geradezu konterkarierende oder zumindest spielerisch hinterfragende Prinzipientreue der architektonischen Gliederung. So wird der begleitende Wulst der Diagonalrippen im Pfeilerprofil durch einen sehr schmalen, sich gleichsam in die Profilfolge quetschenden Dienst vorbereitet (Abb. 23), was prinzipiell im Sinne der Korrelation zwischen oberen und unteren Gliedern „korrekt“ ist, aber eine Verunklärung und Verkomplizierung der Pfeilerbildung bewirkt, die ältere Architektengenerationen noch zu vermeiden suchten. Dasselbe gilt für die systematisch strenge, den jeweiligen Stärken der Dienste entsprechende Abstufung der Größen von Basen und Sockeln, die so minimal ist, dass sie überaus komplexe Verbindungen und Verschneidungen der Basenformen zur Folge hat – und zugleich so subtil, dass sie bis heute kaum wahrgenommen worden ist (Abb. 24). An diesen Beispielen zeigt sich eine freie, spielerische bis kritische Handhabung angestammter Formen und Systeme, wie sie gleichzeitig,

teilweise auch schon etwas früher, an den genannten Bauten der Peripherie zwischen Troyes und Niederhaslach erprobt wurde – und später im 14. Jahrhundert bekanntlich zu einem Leitthema der Architektur werden sollte. Ob jedoch diese gemeinsamen Interessen an bestimmten Themen architektonischer Gestaltung, die in sehr unterschiedlicher Weise konkrete Formen annehmen konnten, auch mit einem Austausch zwischen den Beteiligten verbunden war, entzieht sich unserer Kenntnis. Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Formenrepertoire der gotischen Architektur im Reichsgebiet scheint zumindest in Paris ohnehin erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Flamboyantgotik, stattgefunden zu haben. Aber damit sind wir in einer anderen Epoche angelangt, in einer Zeit nochmals veränderter „Internationaler Beziehungen“ im Bereich der Bau- und Bildkünste. Und dies wäre auch das Thema eines anderen Beitrags.

Marc Carel Schurr

StraSSburg und der Mittelrhein

Schon rein geografisch fällt die Unterscheidung, oder vielmehr die Abgrenzung des Oberrheins vom Mittelrhein schwer, und ähnlich sieht es auch für die Kunstund Kulturlandschaften aus. Sie sind nicht klar voneinander geschieden, sondern sie gehen ineinander über.1 Dazu kommt, dass die künstlerischen Zentren durch politische, kirchliche und wirtschaftliche Beziehungen aufs engste miteinander verknüpft waren. Dies drückte sich nicht zuletzt in der künstlerischen Gestaltung der bedeutendsten Bauwerke der Gotik an Ober- und Mittelrhein aus, die im Zentrum der folgenden Betrachtung stehen sollen. In den beiden wichtigsten Kunstmetropolen, den Bischofsstädten Straßburg und Mainz, trat die Gotik früh in Erscheinung. Beim Bau des Straßburger Münsters kam es zwischen etwa 1220 und 1230 zu einem radikalen Stilwechsel, welcher der Intervention der berühmten Südquerhauswerkstatt zuzuschreiben ist (Abb. 1).2 Die oberen Partien des Südquerhauses und 1 Zum Begriff der Kunstlandschaft vgl. Simone Hespers, Kunstlandschaft. Eine terminologische und methodologische Untersuchung zu einem kunstwissenschaftlichen Raumkonzept, Stuttgart 2007; Historische Landschaft – Kunstlandschaft? Der Oberrhein im späten Mittelalter, hg. von Peter Kurmann/Thomas Zotz, Ostfildern 2008 (Vorträge und Forschungen, 68); Ute Engel, „Kunstlandschaft und Kunstgeschichte. Methodische Probleme und neuere Perspektiven“, in: Landschaft(en). Begriffe – Formen – Implikationen, hg. von Franz J. Felten/Harald Müller/Heidrun Ochs, Wiesbaden 2012 (Geschichtliche Landeskunde, 68), S. 87–114; Ute Engel, „Kunstgeographie und Kunstlandschaft im internationalen Diskurs“, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, Jg. 27, 2009, S. 109–120. Zum Mittelrhein als Kulturlandschaft vgl. Otto Schmitt, „Mainz, Worms und die Pfalz. Versuch einer kunstgeographischen Abgrenzung von Mittel- und Oberrhein“, in: Wandlungen christlicher Kunst im Mittelalter, hg. von J. Hempel, Baden-Baden 1953, S. 359–383; Friedhelm Wilhelm Fischer, Die spätgotische Kirchenbaukunst am Mittelrhein 1410–1520, Heidelberg 1962; Marc Carel Schurr, „Die stilgeschichtliche Verortung der spätgotischen Architektur des Mittelrheins - ein Problem der Kunstgeographie?“, in Kunsttransfer und Formgenese in der Kunst am Mittelrhein 1400–1500, hg. von Martin Büchsel/Hilja Droste/Berit Wagner, Berlin 2019 (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, 20), S. 49–60. 2 Jean-Philippe Meyer/Brigitte Kurmann-Schwarz, La cathédrale de Strasbourg: chœur et transept, Strasbourg 2010; ­Sabine Bengel, Das Straßburger Münster. Seine Ostteile und die

insbesondere der Skulpturenschmuck von Südportal und Engelspfeiler stellen sich in einem vollkommen ausgeprägten, gotischen Stil dar, der insbesondere von burgundischen Einflüssen geprägt ist. Wir finden dieselbe burgundische Stilströmung etwa zur selben Zeit auch andernorts am Oberrhein, beispielsweise in Rufach, Schlettstadt und Freiburg im Breisgau.3 In Mainz, dem Sitz des Straßburger Metropoliten, ist der Übergang zur Gotik im Bereich der Architektur und der baugebundenen Skulptur schwerer fassbar. Als Schlüsselwerk ist wohl der nach herrschender Forschungsmeinung zwischen etwa 1230 und 1239, vielleicht aber auch erst gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts errichtete Westlettner im Dom zu betrachten.4 Mit seinem außergewöhnlich qualitätvollen, den Werken des sogenannten «Naumburger Meisters» eng verwandten Skulpturenschmuck tritt hier eine zweite, primär von der Champagne und Lothringen ausgehende gotische Stilströmung in den Vordergrund, die am Oberrhein zunächst wenig bis gar keine direkten Spuren hinterlassen hat.5 Im Bereich der mittelrheinischen Architektur finden wir Südquerhauswerkstatt, Petersberg 2011; Strasbourg 1200–1230. La révolution gothique, hg. von Cécile Dupeux/Jean Wirth, Ausstellungskatalog, Musées de la Ville de Strasbourg, Strasbourg 2015; sowie demnächst den Artikel von Ilona Dudzinski im Bulletin de la cathédrale de Strasbourg, 33. 3 Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa 1220–1340. Von Metz bis Wien, München/Berlin 2007 (Kunstwissenschaftliche Studien, 137), S. 50–58 und S. 91–92; ders., „La Cathédrale de Lausanne et l’architecture gothique du Saint Empire“, in: La cathédrale Notre-Dame de Lausanne, hg. von Peter Kurmann, Lausanne 2012, S. 121–125. 4 Diana Ecker, „Auf den Spuren des Naumburger Meisters in Mainz. Überlegungen zur Rekonstruktion des Westlettners und der Chorschranken“, in: Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen, Ausstellungskatalog, hg. von Hartmut Krohm/Holger Kunde, Bd. 1, Petersberg 2011 (Schriftenreihe der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, 4), S. 582–595. 5 Einen Überblick über die Forschungsgeschichte und den derzeitigen Forschungsstand zum «Naumburger Meister» bietet das von Hartmut Krohm und Holger Kunde herausgegebene Werk, bestehend aus dem zweibändigen Ausstellungskatalog und dem dazugehörigen Kolloquiumsband (wie Anm. 4).

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Marc Carel Schurr

1 Strassburg, Münster. Südliches Querhausportal.

2 Oppenheim, Katharinenkirche. Blick aus dem Langhaus nach Osten.

3 Strassburg, Münster. Inneres des Langhauses.

4 Mainz, St. Stephan. Inneres vor der Zerstörung im zweiten Weltkrieg.

5 Strassburg, St. Thomas. Inneres des Langhauses.

Straßburg und der Mittelrhein

das vielleicht gelungenste Beispiel dieser lothringischen Stilströmung in Oppenheim (Abb. 2), wo die ab etwa 1260 errichteten Ostteile die ondulierenden Wandvorlagen und komplexen Pfeilerquerschnitte von St-Vincent in Metz übernehmen.6 Lothringische Einflüsse machten sich am Oberrhein zunächst nur sporadisch bemerkbar, beispielsweise beim Bau des Straßburger Langhauses (Abb. 3), welches ab etwa 1240 die entwickelte Rayonnant-Gotik der ehemaligen Abteikirche von Saint-Denis an die bereits errichteten, im Stil der rheinischen Spätromanik gehaltenen Ostteile des Münsters adaptierte.7 Dabei erinnern gewisse Formen des aus naturalistischem Laubwerk bestehenden Kapitellschmucks an Gegenstücke in Toul oder in Metz. Auch begegnet man in Metz und in Straßburg einem für diese Periode sehr ungewöhnlichen Stilelement welches spätgotische Gestaltungsweisen vorwegzunehmen scheint. Dabei handelt es sich um das Weglassen der Kämpferplatten über den Kapitellen der Maßwerke, welches als Vorstufe zum völligen Verschwinden der Kapitelle in der Spätgotik betrachtet werden kann. In Mainz hingegen findet sich im Bereich der Architektur um 1250 nichts der filigranen Glasarchitektur der Langhäuser in Straßburg und Metz vergleichbar Fortschrittliches. Nur am 1248 begonnenen Kölner Domchor lassen sich ähnliche Formtendenzen beobachten.8 Scheint also die Aufnahme der Gotik an Oberund Mittelrhein zunächst weitgehend unabhängig voneinander erfolgt zu sein und nur punktuell auf gemeinsame Quellen im Westen zu verweisen, werden die Interferenzen zwischen beiden Regionen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stärker. In Mainz griff man beim wohl zwischen 1250 und 1260 begonnenen Neubau der Pfarr- und Stiftskirche St. Stephan auf das Vorbild der Marburger Elisabethkirche zurück und entschied sich für eine dreischiffige Hallenkirche mit monumentalen, kantonierten Pfeilern, die zweireihige Blattkapitelle tragen (Abb. 4).9 6 Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 151–155. 7 Hans Reinhardt, La cathédrale de Strasbourg, Paris 1972; Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 88–97 8 Ebd., S. 79–84. 9 Julius Baum, „Drei Mainzer Hallenkirchen“, in: Festschrift für Friedrich Schneider, Freiburg i. Br. 1906, S. 353–371; Fritz Arens, Aus der Geschichte der St. Stephanskirche zu Mainz, Mainz 1958;

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Wie in Marburg ergab sich durch das Konzept der gleichen Gewölbehöhe bei unterschiedlicher Breite von Mittel- und Seitenschiffen eine etwas unschöne Stelzung der Gurtbogen in den Seitenschiffen. Dieses Problem wurde vom Baumeister der Straßburger Thomaskirche systematisch angegangen, als er in den 1260er Jahren ein neues Langhaus zu errichten begann (Abb. 5).10 Anders als in Mainz, wollte er die Kapitelle der Wandvorlagen in den Seitenschiffen auf die geometrisch korrekte Höhe setzen, was wiederum einen Versprung der Kapitellhöhen zwischen Mittel- und Seitenschiffen zur Folge hatte. Damit schied nun der kantonierte Pfeiler Marburger Prägung, bei dem die Kapitelle sämtlicher Dienste mit dem des Pfeilerkerns zu einem horizontal durchlaufenden Fries zusammengefasst waren, als praktikable Lösung aus (Abb. 4). Der in Straßburg offenbar erwünschte Versprung der Kapitellhöhen war nur dann ästhetisch und konstruktiv befriedigend zu realisieren, wenn man den Pfeiler aus einzelnen Diensten zusammensetzte, die ihre Eigenständigkeit behielten und somit individuelle Kapitelle tragen durften. Dies hat der Straßburger Meister durch die Verwendung von Bündelpfeilern im Langhaus der Thomaskirche anstelle der in Mainz und Marburg vorhandenen kantonierten Pfeiler erreicht (Abb. 4, 5). Beide Bauhütten, diejenige von St. Thomas in Straßburg und diejenige von St. Stephan in Mainz, verbindet aber eine gemeinsame Strategie der künstlerischen Distanzierung von ihrer jeweiligen Bischofskirche. Hier wie da handelte es sich um altehrwürdige, prestigeträchtige Stiftskapitel, die zwar von der Mutterkirche abhängig waren, zugleich aber, nicht zuletzt auch im sozialen Gefüge der Stadt, mit ihr konkurrierten.11 In beiden Fällen wollte man offensichtlich den beeindruckenden Neubauten der Bischofskirchen – in Straßburg war das Querhaus des Münsters vollendet und das Langhaus im Bau, in Helmut Mathy, Tausend Jahre St. Stephan in Mainz. Ein Kapitel deutscher Reichs- und Kirchengeschichte, Mainz 1990 (Aurea moguntia, 4). 10 Roland Recht, L’Alsace gothique de 1300 à 1365, Colmar 1974; Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 190–193. 11 Arens 1958 (wie Anm. 9); Charles Schmidt, Histoire du Chapitre de Saint-Thomas de Strasbourg pendant le Moyen Âge suivie d’un recueil de chartes, Strasbourg 1860; Marc Carel Schurr, „La reconstruction de l’église Saint-Thomas dans la première moitié du ­XIIIe siècle“, in: Strasbourg 1200–1230 (wie Anm. 2), S. 136–145.

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Marc Carel Schurr

6 Strassburg, St. Thomas. Fenstermasswerk im Chor.

7 Strassburg, St. Thomas. Fenstermasswerk im Chor.

Mainz hatte man just die Weihe des Doms gefeiert – eine moderne, gotische Architektur entgegensetzen. In Mainz griff man dafür auf das Marburger Vorbild zurück, das gerade begonnen hatte, zwischen Lahn und Rhein Schule zu machen. Für die Straßburger hatte der neu in Mode gekommene Bautyp der Hallenkirche zusätzlich den Reiz, zwar genauso modern wie das im Bau befindliche Langhaus der Bischofskirche zu wirken, ästhetisch jedoch erkennbar anders zu sein. Der Bau musste in der öffentlichen Wahrnehmung also nicht als künstlerisch abhängig erscheinen, sondern konnte als gleichberechtigtes Gegenstück erkannt werden. Dies dürfte ziemlich genau der angestrebten politischen Positionierung des Thomasstifts entsprochen haben, welches sich als Gründung des heiligen Bischofs Florentius und Hüter der Grab­ stätte von Bischof Adeloch dem Domkapitel als nahezu gleichrangig empfinden konnte. Dass das Kapitel von St. Thomas im Gegensatz zum hochadligen Domkapitel dem Stadtbürgertum offenstand, dürfte dem Konkurrenzverhältnis angesichts der Spannungen zwischen Stadt und Bischof während der Zeit des Langhausbaus zusätzliche Brisanz verliehen haben.12 12 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Bischof und Bürgerschaft vgl. André Vetulani, Le grand chapitre de Strasbourg: des origines à la fin du XIIIe siècle, Strasbourg 1927; Peter Wiek,

8 Strassburg, St. Thomas. Südliches Seitenschiff mit Blick in das angefügte zweite Seitenschiff.

Schon früh wurde in Straßburg Innovation als ein Qualitätsmerkmal der Architektur verstanden, wie man am Beispiel des ungewöhnlichen und in die Spätgotik vorausweisenden Maßwerkmotivs der Fischblase sehen kann. Es tritt in Straßburg bereits um 1220/30 in den Rosenfenstern des südlichen Querhausarmes des Münsters und der Westfassade von St. Thomas auf und wird kurz darauf beim Neubau von Chor und Querhaus der Thomaskirche in die Couronnements der normalen Fenstermaßwerke übernommen (Abb. 6). Es handelt sich hierbei um mit die ersten Fischblasencouronnements überhaupt, die später zu Schöpfungen wie dem großen Maßwerkfenster der nördlichen Querhausfront der ehemaligen Zisterzienserkirche in Salem am Bodensee führen sollten (Abb. 7). Diese für ihre Entstehungszeit ausgesprochen moderne Gestaltung zeugt von der Innovationsfreude der Straßburger Architekten wie von der Offenheit der Bauherren für neuartige, extravagante Lösungen, was beides auch bei der Verwendung von Bündelpfeilern mit springenden Kapitellhöhen im Hallenlanghaus von St. Thomas

„Das Straßburger Münster. Untersuchungen über die Mitwirkung des Stadtbürgertums am Bau bischöflicher Kathedralkirchen im Spätmittelalter“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 107 (NF 68), 1959, S. 40–111, insbes. S. 47–50.

Straßburg und der Mittelrhein

9 Salem, ehem. Zisterzienserkirche. Inneres des Chores.

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10 Niederhaslach, St. Florentius. Inneres des Langhauses.

zum Ausdruck kam. An der nördlichen Pfeilerreihe hat die Bauhütte von St. Thomas zudem die Kapitelle optisch entwertet, indem sie auf den üblichen Laubschmuck verzichtet und lediglich nackte Kelchkapitelle versetzt hat (Abb. 5). Damit war ein erster Schritt hin zum völligen Verzicht auf Kapitelle getan, der um 1330 bei der Erweiterung der Langhaushalle durch ein zweites Seitenschiff im Süden erfolgte (Abb. 8)13. Hier haben wir es anstelle von runden Diensten nun sogar mit birnstabförmigen Profilsträngen zu tun, welche sich, ohne jede optische Unterbrechung durch Kapitelle, von der Pfeilerbasis in elegantem Schwung bis zum Schlussstein erstrecken. Damit steht die Langhauserweiterung von St. Thomas in der stilistischen Nachfolge einer ganzen Gruppe innovativer Bauwerke im Gebiet von Oberrhein und Bodensee, welche man durchaus als Avantgarde der Architektur um 1300 bezeichnen darf (Abb. 9).14 All diese Bauten sind gekennzeichnet durch elegante Birnstabdienste, welche die Rippenprofile der Gewölbe nahtlos fortsetzen, sowie durch die Tendenz zur Aufgabe des Kapitells als traditionellem Bestandteil des Gliederapparats. Es geriet nun 13 Recht 1974 (wie Anm. 10), S. 169–179. 14 Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 220–237.

11 Mainz, Dom. Gewölbe und Wandvorlagen der südlichen Kapellenreihe.

zunehmend in Konflikt mit einer neuen Ästhetik, die ganz auf die flüssige Linienführung der flächig und zeichnerisch aufgefassten Wandaufrisse abzielte. Die frühesten Beispiele dieser innovativen, im Kern bereits die Spätgotik vorbereitenden Stilströmung sind die ehemaligen Zisterzienserkirchen in Kappel am Albis und in Salem.15 Die beiden Bauten sind nicht nur geprägt von der zeichnerisch-scharfgratigen Artikulation des Gliederapparats, sondern sie präsentieren in ihren mannigfaltigen Fenstermaßwerken Fischblasenmotive, die ebenfalls als Vorstufen für die Flamboyant-Maßwerke der Spätgotik zu gelten haben (Abb. 7, 9). Die vielleicht schönste, zumindest aber konsequenteste Verwirklichung des Formideals der Avantgarde um 1300 bietet das Langhaus der Florentiuskirche in Niederhaslach (Abb. 10), das vor 1316 wohl durch einen Sohn des Straßburger Münster­baumeisters Erwin begonnen wurde.16 Dort 15 Ebd., S. 220–237; Peter Kurmann/Brigitte Kurmann-Schwarz, „Architektur und Glasmalerei um 1300: die Wende zur Moderne im Langhaus der Zisterzienserkirche von Kappel bei Zürich“, in: „Luft unter die Flügel…“. Festschrift für Hiltrud Westermann-Angerhausen, hg. von Andrea von Hülsen-Esch/Dagmar Täube, Hildesheim 2010, S. 136–152. 16 Louis-Adolphe Spach, L’église de Niederhaslach: Époque de sa construction, fixée d’après des documents authentiques, Strasbourg 1842; Recht 1974 (wie Anm. 10), S. 155–168; Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 233–236.

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Marc Carel Schurr

12 Mainz, Dom. Gewölbe und Wandvorlagen der nördlichen Kapellenreihe.

bietet sich dem Betrachter ein raffiniert-spannungsvolles Wechselspiel von Einfachheit und Komplexität der Formen. Es manifestiert sich in der Reduktion des Triforiums zu einem blinden Mauerstreifen im unteren Bereich des Fensters genauso, wie in der Kämpferzone der Mittelschiffspfeiler, wo sich ein reich profiliertes Bündel von Birnstabdiensten aus dem zu einem diagonalgestellten, schlichten rhombischen Prisma umgeformten Pfeiler schält. Nahtlos und ohne jegliche Störung durch Kapitelle gehen hier die gratig geschärften Dienste in die Rippen der Gewölbezone über und verleihen vor dem Hintergrund der wie ein straff gespanntes Pergament erscheinenden Wandfläche dem Innenraum der Florentiuskirche eine nahezu grafische Anmutung. Im Mainzer Dom finden wir eine eng verwandte Auffassung in Gestalt des Gliedersystems der zwischen 1300 und 1319 der Südseite des Langhauses

angefügten Kapellenreihe (Abb. 11).17 Auch hier sind die Wandvorlagen und Pfeiler gratig geschärft und laufen ohne dazwischengeschaltete Kapitelle bis in die Gewölbe durch. Allerdings hat die Mainzer Hütte negative Profile bevorzugt und die Wandvorlagen und Rippen aus Hohlkehlen gebildet, während die oberrheinisch-schwäbischen Bauten durchgehend Birnstäbe mit einer Kombination aus konkaven und konvexen Oberflächen aufweisen.18 Die ästhetische Zielrichtung ist zwar erkennbar dieselbe, die verwendeten Mittel sind aber nicht identisch. Der Vergleich der südlichen Kapellenreihe des Mainzer Domes mit der nur wenige Jahrzehnte älteren nördlichen Reihe verdeutlicht den Unterschied in der ästhetischen Auffassung (Abb. 12). Auf der Nordseite hat man ab Ende der 1270er Jahre die ondulierenden Wandvorlagen Oppenheimer Prägung aufgegriffen und komplexe Dienstbündel kreiert, die durch das lebhafte Wechselspiel zwischen tief verschatteten Kehlen und plastisch hervortretenden Rundstäben beindrucken. Diese ungeheuer reich profilierten, weit in den Raum hineinragenden Wandvorlagen werden von prachtvollen Laubwerkfriesen bekrönt, zu welchen die ­Kapitelle zusammengeschlossen sind. Die klassischen Prinzipien der Tektonik, das Tragen und Lasten, sind hier in vollkommener Schönheit zum Ausdruck gebracht und verleihen den gotischen Anräumen des romanischen Langhauses einen feierlichen Duktus.

17 Beate Dengel-Wink, Die ehemalige Liebfrauenkirche in Mainz. Ein Beitrag zur Baukunst und Skulptur der Hochgotik am Mittelrhein und in Hessen, Mainz 1990 (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz, 1990), S. 160–161; Fritz Arens, Der Dom zu Mainz, neu bearbeitet von Günther Binding, Darmstadt 1998, S. 63– 67; Ute Engel, „Ummanteln oder neu Bauen? Die rheinischen Kathedralen in Konkurrenz im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Capriccio & Architektur. Das Spiel mit der Baukunst. Festschrift für Bruno Klein, hg. von Stefan Bürger/Ludwig Kallweit, Berlin/München 2017, S. 91–99; Ute Engel, „Schaufassade und Durchlichtung. Architektur und Glas unter Erzbischof Peter von Aspelt und seinen Nachfolgern in Mainz und Oppenheim“, in: Im Rahmen bleiben. Glasmalerei in der Architektur des 13. Jahrhunderts, hg. von Ute Bednarz/Leonhard Helten/Guido Siebert, Berlin 2017, S. 161–177 ; Elmar Altwasser/Birgit Kita/Jörg Walter, Gotik am Mainzer Dom. Die Kapellenbauten der Nordseite, Regensburg 2018 (Neue Forschungen zum Mainzer Dom, 1). 18 Vergleichbar wären allenfalls die Pfeiler in den Westjochen des Mittelschiffs von St. Mauritius in Sulz (Soultz) im Elsass. Sie sind etwa zwischen 1320 und 1350 entstanden und weisen ebenfalls scharfe Grate auf, die von flachen, konkaven Kehlen flankiert werden, siehe dazu Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 236.

Straßburg und der Mittelrhein

Ganz anders hingegen präsentiert sich die südliche Kapellenreihe mit ihrer nüchternen Eleganz (Abb. 11), wo die Klarheit der Linien die strukturelle Ordnung unterstreicht und die pompöse Wuchtigkeit ihrer Pendants auf der Nordseite schlagartig altmodisch aussehen lässt. Kein Zweifel, dass hier künstlerische Anregungen vom Oberrhein auf fruchtbaren Boden gefallen sind (Abb. 10, 11). Hier wie dort ist die neue Architektur von zeichnerischer Leichtigkeit und struktureller Klarheit geprägt. Profilreichtum und Dekor sind auf nur wenige Bereiche konzentriert, wo dann der Bauschmuck umso effektvoller in Szene gesetzt wird. Schöne Beispiele für eine derartige Konzentration von Schmuckformen auf wenige spezifische Orte sind die erfindungs- und variantenreichen Fenstermaßwerke in der ansonsten ganz schlicht gehaltenen Kirche des Zisterzienserklosters in Salem, oder aber die prachtvollen Schlusssteine in den just beschriebenen Mainzer Südkapellen. Ganz besonders beeindruckend sind die originellen Schlusssteine in den beiden östlichen Kapellen auf der Südseite des Mainzer Domes (Taf. 26, 27).19 In der ganz am Schluss gelegenen Grabkapelle Erzbischof Peter von Aspelts20, der Allerheiligenkapelle, finden wir anstelle eines klassischen, mit Laubwerk oder figürlichem Schmuck versehenen Schlusssteins, eine Art Hängemaßwerk. Es setzt sich aus frei in den Raum ragenden Kleeblattbögen zusammen, die durch an hängende Schlusssteine erinnernde Blüten miteinander verbunden sind (Taf. 26). Auch in der nach Westen hin sich anschließenden, St. Dionysius und Thomas geweihten Kapelle treten Architekturelemente an die Stelle des üblichen Dekors. Der Schlussstein ist in dieser Kapelle zu einer Art schwebendem 19 An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei Ute Engel für den Hinweis auf diese Schlusssteine bedanken; vgl. dazu auch Engel 2017a und b (wie Anm. 17) sowie Ute Engel, „Virtuosentum, Hängemasswerk, Luftrippen und Tugendmänner als Import-/Exportgut der Gotik in Mainz und am Mittelrhein im 14. und 15. Jahrhundert“, in: Büchsel/Droste/Wagner 2019 (wie Anm.1), S. 87–113. 20 Zur Grablege Peter von Aspelts vgl. Rüdiger Fuchs/Britta Hedtke/Susanne Kern, „Tumbenplatte Peter von Aspelts“, in: Deutsche Inschriften Online (DIO ), 1, Mainz, SN1, Nr. 39, http://www. inschriften.net, http://nbn-resolving.de/­urn:nbn:de:0238di002mz00k0003900 [Zugriff: 15.01.2018]; Engel 2017a und b (wie Anm. 17). Zu Peter von Aspelt vgl. David Kirt, Peter von Aspelt (1240/45–1320). Ein spätmittelalterlicher Kirchenfürst zwischen Luxemburg, Böhmen und dem Reich, Luxemburg 2013.

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13 Strassburg, Münster. Digitale Rekonstruktion der ursprünglichen Gewölbe der Katharinen­ kapelle (Stéphane Potier, Inventive Studio/FOND).

Tabernakel umgestaltet, dessen Seitenflächen in Maßwerke aufgelöst sind und dessen Kanten mit Nasen und Blüten verziert sind (Taf. 27). Dieses außergewöhnliche, architektonisch inspirierte Dekor weckt sofort Assoziationen mit den ursprünglichen, spätestens 1349 vollendeten Gewölben in der Katharinenkapelle des Straßburger Münsters (Abb. 13).21 Hier hat die Bauhütte unter der Leitung Meister Gerlachs vielleicht zum ersten Mal auf dem 21 Roland Recht, „L’architecture de la chapelle Sainte-Catherine au XIVe siècle“, in: Bulletin de la Société des amis de la cathédrale de Strasbourg, Jg. 9, 1970, S. 95–101; ders., „La chapelle Saint-Venceslas et la sacristie de la cathédrale de Prague et leur origine strasbourgeoise“, in: Actes du XXIIe Congrès International d’Histoire de l’Art (Budapest 1969), Bd. 1, Budapest 1972, S. 521–526; ders. 1974 (wie Anm. 10), S. 54–69; Sabine Bengel/Stéphane Potier/Clément Kelhetter, „Chronique du chantier“, in: Bâtisseurs de cathédrales. Strasbourg, mille ans de chantiers, Strasbourg 2014, S. 47–52, hier S. 50; Marc Carel Schurr, „La chapelle Sainte-Catherine de la cathédrale de Strasbourg et sa place dans l’histoire de l’art“, in: La pensée du regard, études d’histoire de l’art du Moyen Âge offertes à Christian Heck, hg. von Pascale Charron/Marc Gil/Ambre Vilain, Turnhout 2016, S. 281–290.

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Marc Carel Schurr

14 Freiburg, Münster. Luftrippen im Glockengeschoss des Westturmes.

15 Strassburg, Münster. Wandarkatur in der Katharinenkapelle.

europäischen Kontinent ein Sternengewölbe mit freien Luftrippen und hängendem Schlussstein geschaffen. Das ursprüngliche Gewölbe ist heute leider nicht mehr vorhanden, da es 1542 eingestürzt ist und vier Jahre später von Bernhard Nonnenmacher durch ein neues, als Schlingrippengewölbe aber vollkommen anders figuriertes Gewölbe ersetzt wurde. Eine gute Vorstellung von der ursprünglichen Wirkung vermitteln die heute noch erhaltenen, zweifellos von Straßburg inspirierten Gewölbe in der Sakristei des Prager Veitsdomes oder die digitale Rekonstruktion von Stéphane Potier (Inventive Studio) und der Straßburger Münsterbauhütte (Fondation de l’­Oeuvre ­Notre-Dame, Abb. 13). Das Gewölbe der Katharinenkapelle gehört gerade mit seinen filigranen Luftrippen zu den bemerkenswertesten Schöpfungen der Straßburger Münsterbauhütte. Es fällt schwer, direkte Vorbilder dafür anzuführen. Christopher Wilson und Yves Gallet haben auf das Sakristeigewölbe von St-Urbain in Troyes hingewiesen, das ebenfalls einen hängenden Schlussstein, aber keine freien Luftrippen enthält.22 Dasselbe gilt für das durch Klára Benešovská in die Diskussion eingebrachte Gewölbe im portail des Champeaux des Papstpalastes in Avignon, das

zudem nicht eindeutig vor dem Straßburger Gewölbe datiert werden kann.23 Direkte Vorbilder lassen sich also kaum benennen, sodass sich die Frage stellt, ob das Gewölbe der Katharinenkapelle nicht eine Straßburger Eigenentwicklung ist, die verschiedene rheinländische Inspirationsquellen miteinander verbindet. Luftrippen finden sich nämlich auch an der Decke des Glockengeschosses des Freiburger Münsterturmes24 oder der von oberrheinischen Einflüssen geprägten Tonsur des Magdeburger Domes (Abb. 14).25 Vielleicht hat in Straßburg aber auch die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Zimmermann den entscheidenden kreativen Impuls geliefert. Immerhin musste ja der Zimmermann zunächst ein Lehrgerüst für das gesamte Rippengefüge herstellen, was eine enge Kooperation mit dem Baumeister verlangte und fast automatisch zu einer holzgestützten Konstruktion mit freien Rippen führen musste. Schließlich wurden zuerst die Rippenstücke versetzt, bevor man darangehen konnte, die Gewölbekappen

22 Christopher Wilson, „Why Did Peter Parler Come to England?“, in: Architecture, Liturgy and Identity. Liber amicorum Paul Crossley, hg. von Zoë Opačić/Achim Timmermann, Turnhout 2011 (Studies in Gothic Art, 1), S. 103; Yves Gallet, „Matthieu d’Arras et l’Alsace. Les relations architecturales entre Strasbourg et Prague avant Peter Parler“, in: Bulletin de la cathédrale de Strasbourg, Jg. 30, 2012, S. 33–38.

23 Klára Benešovská, „Petr Parléř versus Matyáš z Arrasu v pražské katedrále sv. Víta“, in: Ars, Jg. 1–3, 1996, S. 107; Dominique Vingtain, Avignon. Le Palais des Papes, Saint-Léger-Vauban 1998 (Le ciel et la pierre, 2), S. 230–231. 24 Dieter Morsch, Die Portalhalle im Freiburger Münsterturm, Münster 2001 (Studien zur Kunst am Oberrhein, 1), S. 43–51; Thomas Flum, „Zur Baugeschichte des Freiburger Münster­ turms“, in: Umění, Jg. 49, 2001, S. 256–261. 25 Ernst Schubert, Der Magdeburger Dom, Wien 1975; Schurr 2007 (wie Anm. 3), S. 241–243; Marc Steinmann, „Der Magdeburger Dom und die Westfassaden der Kathedralen in Straßburg und Köln“, in: Der Magdeburger Dom im europäischen Kontext, hg. von Wolfgang Schenkluhn/Andreas Waschbüsch, Regensburg 2012 (More romano, 2), S. 229–242.

Straßburg und der Mittelrhein

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zu mauern. Und entspricht nicht der hängende Schlussstein in Form und Funktion den im Dachtragwerk häufig eingesetzten Hängesäulen? Bei einem anderen, ähnlich komplexen Bauteil des Straßburger Münsters darf eine kongeniale Zusammenarbeit zwischen Architekt und Zimmermann als erwiesen gelten. Es handelt sich dabei um den ebenso filigranen wie komplexen Helm des großen Turmes der Westfassade, wo die Wappenschilder sowohl des Architekten Hans Hültz, als auch des Zimmermanns Michel Rippel an repräsentativer Stelle gut sichtbar und demonstrativ gleichberechtigt nebeneinander angebracht sind. Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich bei dem Straßburger Turmhelm eigentlich um eine reine Steinkonstruktion ohne jegliches Dachwerk handelt. Der Beitrag Meister Rippels kann also nicht aus der Errichtung eines Dachstuhls bestanden haben, sondern dürfte tatsächlich im Bereich der Konstruktion von Bauund Lehrgerüsten, vielleicht auch von Modellen oder sogar bei der Planung zu suchen sein.26 Dass bei der Formfindung für die Gewölbe der Straßburger Katharinenkapelle auch die Mainzer Kapellen mit ihren originellen Schlusssteinen anregend gewirkt haben, ist mehr als wahrscheinlich, zumal auch in der Wandverkleidung der Katharinenkapelle Anklänge an die frei hängende Maßwerkarkatur im Gewölbe der zweiten Mainzer Südkapelle spürbar werden (Taf. 26, Abb. 15). Hier wie dort findet sich dasselbe Motiv aus aneinandergeketteten, hängen

den Kleeblattbögen, die von laubbesetzten Knäufen in der Art hängender Schlusssteine getrennt werden. Verbindungen zwischen den beiden Bauwerken in Mainz und Straßburg gibt es aber nicht nur im künstlerischen Bereich, sondern auch auf Ebene der Auftraggeber. So war der Bauherr der Katharinenkapelle der Straßburger Bischof Berthold von Buchegg, dessen Bruder Matthias den Mainzer Erzstuhl inne hatte.27 Matthias von Buchegg, der ältere der beiden Brüder, hatte 1321 die Nachfolge Peter von Aspelts angetreten und starb im Jahre 1328. Sein heute nicht weit von der Grabkapelle Peter von Aspelts im Mainzer Dom angebrachtes Epitaph räumt der heiligen Katharina einen bevorzugten Platz ein.28 Offensichtlich erhofften sich beide Brüder, Matthias und Berthold, eine besonders wirksame Fürsprache durch die heilige Katharina, denn auch Berthold stiftete die Kapelle, die er als seinen Begräbnisort ausersehen hatte, der Heiligen aus Alexandria. Der Bau wurde auf sein Geheiß im südlichen Winkel zwischen Lang- und Querhaus des Straßburger Münsters errichtet, an derselben Stelle also, an der sich in Mainz die Grabkapelle Peter von Aspelts befand. Die Straßburger Katharinenkapelle kann somit als ein Zeugnis der engen Verbundenheit der beiden Bistümer Straßburg und Mainz gelten, aber auch des Konkurrenzverhältnisses zwischen zwei benachbarten Kunstzentren, welches die schöpferischen Kräfte immer wieder von neuem zu künstlerischen Höchstleistungen antrieb.

26 Auch in seiner Konstruktion weist der Straßburger Turmhelm durchaus Analogien zu Prinzipien des Zimmerwerks auf, wie kürzlich Christian Kayser dargelegt hat. Vgl. Christian Kayser, „La tour nord de la cathédrale de Strasbourg : Histoire de la construction et contexte“, in: Bulletin de la Cathédrale de Strasbourg, 33, 2018, S. 47–84.

27 Louis[-Adolphe] Spach, „Berthold von Buchegg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, Leipzig 1875, S. 529–531; Edward Leupold, Berthold von Buchegg, Bischof von Straßburg. Ein Beitrag zur Geschichte des Elsass und des Reiches im 14. Jahrhundert, Straßburg 1882; Waltraud Hörsch, „Berthold von Buchegg“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bern 2011, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D12537.php [Zugriff: 15.01.2018]. 28 Rüdiger Fuchs/Britta Hedtke/ Susanne Kern: „Tumbenplatte des Erzbischofs Matthias von Bucheck“, in: Deutsche Inschriften Online (DIO,) 1, Mainz, SN1, Nr. 39, http://www.inschriften.net, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0238-di002mz00k0003800 [Zugriff: 15.01.2018].

Karola Sperber

Seitenschiff oder Kapellenanbau? Die Frage nach Herkunft und Interpretation der asymmetrisch-zweischiffigen Franziskanerkirchen am Mittelrhein

Anfang des 13. Jahrhunderts hatten sich in Folge des Urbanisierungsprozesses und der damit verbundenen sozialen Spannungen in den Städten zunächst in Südfrankreich und Unteritalien die Bettelorden der Dominikaner (1215) und Franziskaner (1217) gebildet. Diese neuen Orden waren in erster Linie eine Armutsbewegung, die sich im Gegensatz zu älteren mönchischen Bewegungen, wie der Benediktiner, Zisterzienser oder Prämonstratenser, innerhalb des städtischen Gefüges niederließen. Mit der Wahl des städtischen Lebensraumes und der damit verbundenen Übernahme seelsorgerischer Tätigkeiten erschlossen sie den bis dahin für das klösterliche Leben kaum berücksichtigen Raum der Städte.1 Etwa um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurden auch die Orden der Karmeliter sowie der Augustiner-Eremiten durch päpstliche Bullen als Bettelorden anerkannt. Und noch im Gründungsjahrhundert erhielten die neuen Orden reichlich Zuspruch, sodass beispielsweise allein bis um 1300 die Orden der Dominikaner und Franziskaner im deutschsprachigen Raum in insgesamt 232 Städten 293 Konvente gründen konnten.2 1

Wolfgang Schenkluhn, Architektur der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa, Darmstadt 2000, hier S. 15–37; Thomas Berger, Die Bettelorden in der Erzdiözese Mainz und in den Diözesen Speyer und Worms im 13. Jahrhundert – Ausbreitung, Förderung und Funktion, Mainz 1994, zugl. Diss. Univ. Mainz 1991 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 69), hier S. 13, 29; Norbert Hecker, Bettelorden und Bürgertum. Konflikt und Kooperation in deutschen Städten des Spätmittelalters, Frankfurt/Main u. a. 1981 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 8: Theologie, 146), hier S. 49, 51f., 68, 120, 142f.; Günther Binding/Matthias Untermann, Kleine Kunstgeschichte der mittelalterlichen Ordensbaukunst in Deutschland, Darmstadt 32001, hier S. 329. Zur Entstehung und Etablierung der Bettelorden siehe bspw. Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012. 2 Otto Graf, Klassifizierungsprobleme der Bettelordensarchitektur. Computergestützte Analysen zur Architektur der Dominikaner und Franziskaner, Diss. masch. Univ. Stuttgart 1995, hier S. 69, 220.

Die Fülle an Bettelordensbauten brachte unterschiedliche Raumkonzepte hervor. So finden sich einerseits einfache Saalkirchen wie anderseits auch aufwändigere Basiliken oder Hallenkirchen. Zweischiffige Kirchenanlagen stellen in der Bettelordensarchitektur dabei eher ein Randphänomen dar. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass am Mittelrhein – zwischen Koblenz und Andernach – gleich vier von ehemals fünf Konventen diesen Bautyp verwirklicht haben: so die heutige Kirchenruine der Franziskaner in Oberwesel (Abb. 1), der nicht mehr existente franziskanische Konvent in Koblenz (Abb. 2) sowie die noch gut erhaltenen Bauten der Franziskaner in Andernach (Abb. 3) und Karmeliter in Boppard (Abb. 4). Der heute untergegangene Bau der Dominikaner in Koblenz stellte hingegen einst eine dreischiffige Basilika dar. Während die zweischiffigen Langhäuser der Franziskaner allesamt im ausgehenden 13. bzw. beginnenden 14. Jahrhundert entstanden sind, wurde das Seitenschiff der Karmeliterkirche in Boppard erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts angefügt.3 Und so urteilte bereits die ältere Forschung, dass die zweischiffig-asymmetrische Bauform eine u. a. „in den Rheinlanden […] verbreitete und bettelordenstypische Raumform“4 sei, die „im 13. Jahrhundert in den deutschsprachigen Provinzen mit Recht als ein franziskanisches Phänomen angesprochen werden“5 kann. Da sie aber aufgrund ihres geringen Vorkommens zugleich auch ein Randphänomen darstellte, 3 Zur Karmeliterkirche in Boppard siehe einführend: Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege, Bd. 8: Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises. Teil 2: Ehemaliger Kreis St. Goar, 1. Stadt Boppard, München/Berlin 1988, S. 391–394; Franz Jäger, Die Karmeliterkirche zu Boppard und ihre Architektur, Trier 1938. 4 Elisabeth Kugel, Rund um Liebfrauen – die Sakralarchitektur Triers im 13./14. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bettelordenskirchen, Trier 2008, zugl. Diss. Univ. Trier 2008, hier S. 143. 5 Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 132.

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2 Koblenz, Minoritenkloster, Grundriss vor dem Umbau 1805 aufgenommen.

1 Oberwesel, Minoritenkirche, Grundriss des 19. Jahrhunderts.

3 Andernach, Franziskanerkloster (heute ev. Pfarrkirche), Grundriss.

4 Boppard, Karmeliterkirche, Grundriss.

Seitenschiff oder Kapellenanbau?

fand die Form des asymmetrisch-zweischiffigen Kirchenraums bis heute in der Forschung nur wenig Beachtung. Die bislang eher peripher vorgenommenen Erklärungsansätze sind insgesamt unbefriedigend und reichen von der Bewertung als randständige oder provisorische Kompromissbauten bis hin zur Auffassung von einer Idealform, deren Herkunft bzw. Intention im profanen Hospitalbau bzw. Predigtauftrag der Bettelorden zu suchen sei. Diese Ansätze werden im Folgenden zunächst vorgestellt, um in einem nachfolgenden Schritt einen weiteren, möglicherweise näherliegenden Erklärungsversuch zur Diskussion zu stellen.

Zweischiffige Kirchenanlagen – Randphänomen, Provisorium oder Idealform? Im 19. Jahrhundert wurde die zweischiffige Raumform noch als unfertig und unproportioniert empfunden.6 Selbst 1980 urteilt Edgar Lehman noch, der asymmetrisch-zweischiffigen Kirchenanlage liege der typische dreischiffige Typus zugrunde, dem nur aus irgendeinem Sachverhalt heraus ein zweites Seitenschiff fehle.7 1984 führt Ernst Badstübner am Beispiel von Angermünde diesen Gedanken weiter und konstatiert, dass die Asymmetrie keine Ablehnung einer traditionellen Bauform bedeute, sondern sie signalisiere „mit dem schmaleren, also untergeordneten Seitenschiff, dem das Pendant lediglich aus Gründen des Platzmangels fehlt, den Wunsch zur kanonischen Bauform der dreischiffigen Basilika.“8 Zuvor, 1954, hält Joachim Fait, der auf den Studien von Richard Krautheimer (1925) und Werner Gross (1933) aufbaut, den Typus der zweischiffigen Kirchen für äußerst selten und sieht in ihm eine rein provisorische Erweiterung, die auf Planänderungen 6 Vergl. hierzu die Zusammenfassung bei Roland Pieper, Die ­Kirchen der Bettelorden in Westfalen. Baukunst im Spannungsfeld zwischen Landespolitik, Stadt und Orden im 13. und frühen 14. Jahrhundert, Werl 1993, zugl. Diss. Univ. Münster 1990, hier S. 212. 7 Edgar Lehmann, Zum Problem der zweischiffigen Kirchen des 13./14. Jahrhunderts im Ostseegebiet, Berlin 1980, hier S. 31. 8 Ernst Badstübner, „Klosterbaukunst und Landesherrschaft. Zur Interpretation der Baugestalt märkischer Klosterkirchen“, in: Architektur des Mittelalters. Funktion und Gestalt, hg. von Friedrich Möbius/Ernst Schubert, Weimar 1984, S. 184–239, hier S. 232.

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zurückgehe bzw. auf das Bedürfnis nach Reduktionsbestrebungen sowie der Tendenz zur Profanisierung, die den Mendikantenkirchen im Allgemeinen anhafte. Alles in allem würde, so Gross, den zweischiffigen Anlagen aufgrund ihrer Asymmetrie ein architektonisches Harmonieverständnis fehlen.9 Auch Günther Binding und Matthias Untermann weisen vierzig Jahre später, 1985, vor allem auf die Seltenheit dieses Typus‘ hin, ohne aber dafür einen Erklärungsansatz zu liefern.10 1993 stilisiert Roland Pieper, ausgehend von der zentralen Bedeutung der Predigt für die Genese der Bettelordensarchitektur und der daraus resultierenden Stellung der Kanzel mittig im Raum, den zweischiffig-asymmetrischen Kirchenraum zum Idealtypus einer Bettelordenskirche, denn er wäre für die Messfeiern, Predigten und Bestattungen gleichermaßen geeignet.11 Bis heute interpretiert die überwiegende Forschungsliteratur die Architektur der Bettelordenskirchen vornehmlich mit Blick auf die Predigtaufgabe, die den Bettelorden zukam, und die daraus resultierende Suche nach dem idealen Predigtraum. Sie ordnet dabei die Langhaustypen bereits vorhandenen, stilgeschichtlichen und typologischen Modellen unter, d. h., es wird immer wieder der Versuch unternommen, eine Entwicklung vom Saal über die Basilika hin zur Halle, dem vermeintlich idealen, da alle Raumbereiche zusammenfassendenden bzw. „vereinheitlichenden“ Predigtraum, aufzuzeigen. Dabei wird zugleich demonstriert, dass die Langhauskonzeption unter funktionalen Gesichtspunkten vom Hausbau oder den zweischiffigen Profansälen der

9 Joachim Fait, Die norddeutsche Bettelordensbaukunst zwischen Elbe und Oder, Diss. masch. Univ. Greifswald 1954, hier S. 80, 88f., 91; vergl. hierzu auch Richard Krautheimer, Die Kirchen der Bettelorden in Deutschland, Köln 1925 (Deutsche Beiträge zur Kunstwissenschaft, 2) und Werner Gross, Abendländische Architektur um 1300, Stuttgart 1948. 10 Günther Binding/Matthias Untermann, Kleine Kunstgeschichte der mittelalterlichen Ordensbaukunst in Deutschland, Darmstadt 1985, hier S. 346f.; siehe ebenfalls Günther Binding, „Die Franziskaner-Baukunst im deutschen Sprachgebiet“, in: 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters, Ausst. Kat. Krems 1982 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, 122), S. 431–460, hier S. 435 sowie Günther Binding, „Die mittelalterliche Ordensbaukunst der Franziskaner im deutschen Sprachraum“, in: Franziskanische Studien, Jg. 67, 1985 (1986), S. 287–316, hier S. 298. 11 Pieper 1993 (wie Anm. 6), S. 208–223.

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Klosterarchitektur, wie Refektorien oder Kapitelsälen, abzuleiten sei. In allen Fällen kommt der Predigt als angeblich formenbestimmendem Moment dabei eine besondere Bedeutung zu. So betonte bereits ­Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert, dass die Zweischiffigkeit bei der einstigen Dominikanerkirche in Paris nur gewählt wurde, weil sie sich für die Predigerkirchen besonders gut eignete.12 Zweischiffige Konzepte lassen sich aber generell nur schwer in diese entwicklungsgeschichtlichen Modelle einfügen. Dies liegt vor allem daran, dass sie in keiner Hinsicht „typenrein“ sind.13 Hier setzte Wolfgang Schenkluhn 1985 mit seiner wegweisenden Dissertation und 2000 mit seinem grundlegenden Werk zur europäischen Bettelordensarchitektur an und unternahm u. a. den Versuch, die Zweischiffigkeit vom Hospitalbau abzuleiten.14

Die Adaption des zweischiffigen Hospitalbaus in der Bettelordenskirchenarchitektur als Ausdruck der caritativen Mildtätigkeit Als Initialbau für die Entstehung der zweischiffigen Bettelordenskirchen betrachtet Wolfgang Schenk­ luhn die Dominikanerkirche St.-Jacques in Paris, die als eine Modifikation des zweischiffigen H ­ ospitaltyps zu verstehen sei.15 Über die Pariser Niederlassung an sich sind wir durch Schriftquellen gut informiert. Hinsichtlich der Kirche und des Klosters selbst lassen sich jedoch nur wenige Aussagen treffen, da die Gebäude infolge der Französischen Revolution abgerissen wurden. Dennoch unterzieht Schenkluhn die Pariser Dominikanerkirche anhand der überlieferten Baudokumente einer Analyse und unternimmt den Versuch einer Rekonstruktion, denn ihm ­zufolge kann ohne die Kenntnis von St.-Jacques die Mendikantenarchitektur des 13. Jahrhunderts in Europa nicht verstanden werden.16 12 Richard Kurt Donin, Die Bettelordenskirchen in Österreich, Baden bei Wien 1935, hier S. 150. 13 Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 132. 14 Wolfgang Schenkluhn, Ordines Studentes. Aspekte zur Kirchenarchitektur der Dominikaner und Franziskaner im 13. Jahrhundert, Berlin 1985, zugl. Diss. Univ. Marburg 1983; Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1). 15 Ebd., S. 29. 16 Schenkluhn 1985 (wie Anm. 14), S. 55; Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 31.

Bei St.-Jacques (Abb. 5) handelte es sich ehemals um einen längsrechteckigen Raum, der durch eine Arkadenreihe in zwei ungleichgroße Schiffe unterteilt war. Nach Osten hin schloss die Kirche flach und parallel zur Rue St.-Jacques ab. Die Kirche war zwar im Ganzen ungewölbt, nach Norden und Süden lud sie dennoch mit zwei gewölbten Jochen querschiffartig aus. Ob sich diese Annexe auch nach außen querschiffartig zeigten oder nicht, ist anhand der überlieferten Ansichten nicht mehr festzustellen. Der Hauptaltar stand einst an der Ostwand der breiteren Südschiffswand, davor erstreckte sich vom dritten bis zum sechsten Joch der Mönchschor. Dieser grenzte sich als Einbau vom westlichen Teil des Hauptschiffs und dem schmäleren Nordseitenschiff ab. Das siebte Joch von Osten war als Durchgang zum Kloster konzipiert, davor standen einst der Lettner und vor diesem zwei Altäre. Die sechs westlichen Joche und eventuell das Nordschiff bildeten den Laienraum. Die überlieferten Dokumente legen für den Kern der Gesamtanlage eine Datierung auf 1256 nahe.17 Es stellt sich nun die Frage, was einen mittelalterlichen Hospitalbau überhaupt kennzeichnet. Ein solcher Hospitalbau ist meist ein holzgedeckter Raum, der in zwei, drei oder mehr Schiffe unterteilt ist. Der Altarplatz des Hospitals befindet sich dabei am Ende eines der Schiffe als eingekapselter bzw. ausgegrenzter Raumbereich. Auch eine Zweiteilung in einen gewölbten Chorbereich und einen ungewölbten, anschließenden Hospitalsaal war – so Schenkluhn – eine gängige Form.18 Besonders in Paris findet sich eine Vielzahl solcher Hospize, darunter eines der ältesten, größten und bedeutendsten Hospitäler des Abendlandes: das Hôtel-Dieu bei Notre-Dame auf der Île de la Cité. Auch die Kirche St.-Jacques liegt im Areal eines ehemaligen Hospitalgeländes. Wolfgang Schenkluhn folgert daher, die Dominikaner hätten aller Wahrscheinlichkeit nach das 1218 übernommene und 1221 übereignete Hospitalgebäude als Kirche genutzt. Zwar ist die Baugeschichte noch nicht zweifelsfrei geklärt und eine Datierung der Kirche in die Übernahmezeit nicht

17 Schenkluhn 1985 (wie Anm. 14), S. 59f.; Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 29–31. 18 Ebd., S. 30; ausführlich siehe auch Schenkluhn 1985 (wie Anm. 14), S. 62–68.

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gesichert, aber gleichwohl wäre eine Umwandlung des Hospitalbaus in eine Kirche möglich gewesen, da es sich bei Hospitälern um Profanbauten mit Sakralfunktion handelt. Sollte St.-Jacques aber keine Übernahme, sondern ein früher Neubau sein, käme dem Hospitalcharakter der Kirchenarchitektur eine noch größere Bedeutung zu, nämlich als bewusste Übernahme bzw. Wahl dieses Typus‘ für eine Bettelordenskirche. Die Motive für diese Übernahme bzw. Wahl des Hospitalbautyps waren nach Schenkluhn vor allem in der Symbolkraft der Hospitäler selbst begründet. Denn in ihnen verkörperte sich ganz allgemein gesehen das Prinzip der christlichen Nächstenliebe: Von der allgemeinen Bedeutung: ›Aufnahmeort aller Hilfsbedürftigen‹ oder ›Ort der Mildtätigkeit‹ (Caritas) bis hin zu konkreten Sinneinheiten wie: ›Hospital‹ gleich ›Ort des Sterbens‹ – Mendikantenkirche gleich ›Ort der Bestattung und des Seelengedächtnisses‹, konnten sich karitatives Anliegen mit der Aneignung eines Hospitalcharakters für den Zeitgenossen anschaulich und vieldeutig zum Ausdruck bringen.19 Der Bautypus von St.-Jacques wird in der Folge mehrfach in Frankreich rezipiert, so z. B. in der Dominikanerkirche in Toulouse (Abb. 6)20. Doch auch in Österreich findet sich eine Vielzahl an Mendikantenklöstern, die in der Tradition von St.-Jacques stehen; z. B. die Dominikanerkirche in Imbach (Abb. 7) oder die Minoritenkirche in Enns.21 Alle diese zweischiffigen Kirchenanlagen weisen jedoch einen symmetrisch-zweischiffigen Grundriss auf, sprich eine mittlere Stützenreihe teilt das Langhaus in zwei gleichgroße Schiffe. Damit ist aber ein wesentlicher Unterschied zu den in diesem Beitrag näher untersuchten zweischiffigen Bettelordenskirchen am Mittelrhein benannt: Denn diese Kirchen weisen asymmetrische Anlagen auf, die über ein übergeordnetes Haupt- und ein untergeordnetes Seitenschiff verfügen. Abgesehen von der Zweischiffigkeit besitzen die 19 Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 30f., 54f.; Schenkluhn 1985 (wie Anm. 14), S. 62–68; zitiert nach ebd., S. 67. 20 Zu Toulouse siehe ausführlich ebd., S. 72–76; siehe ebenfalls Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 54. 21 Zu den zweischiffigen Mendikantenkirchen Österreichs siehe insbesondere Donin 1935 (wie Anm. 12), S. 150–208.

5 Paris, Dominikanerkirche St.-Jacques, Grundriss.

6 Toulouse, Dominikaner­kirche, Grundriss.

7 Imbach (Österreich), Dominikanerkirche, Grundriss.

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mittel­rheinischen Bettelordenskirchen daher keine Gemeinsamkeiten mit dem von Schenkluhn thematisierten Bettelordenskirchentypus. Von daher ist es auch zweifelhaft, ob für die asymmetrisch-zweischiffigen Bettelordenskirchen am Mittelrhein eine Ableitung vom zweischiffigen Hospitaltypus in Frage kommt.

Die asymmetrisch-zweischiffige Bettelordens­ kirche – ein erweiterter Einraum? Bereits Felix Scheerer verwies 1910 in seiner Dissertation darauf, dass eine Saalkirche durch den Anbau eines zweiten Schiffs vergrößert werden konnte, wenn der Platz für die Gemeinde nicht mehr ausreichte.22 Diesem Ansatz schließt sich 1935 Richard Kurt Donin an, der in der Mehrzahl der zweischiffigen Mendikantenkirchen Deutschlands einen um ein Seitenschiff erweiterten Einraum sieht.23 1989 folgte schließlich auch Friedrich Möbius dieser Auffassung, indem er von einer „Saalkirche mit Seitenraum“ spricht, da das Seitenschiff zumeist schmäler und kürzer ausgeführt ist als das Hauptschiff. Nach Möbius habe sich die Zweischiffigkeit ebenfalls aufgrund des praktischen Bedürfnisses nach mehr Platz, welchen die stetig wachsenden Gemeinden erforderten, entwickelt. Da die Mendikanten auf Spenden angewiesen waren und die Südseite der Kirche bereits durch den Kreuzgang belegt war, konnte, so Möbius, aufgrund von Geldmangel nur ein Schiff gebaut werden. Die Finanz­kraft jener Konvente sei schlichtweg nicht stark genug gewesen, um einen Abriss des Kreuzganges sowie in weniger Entfernung einen symmetrischen, dreischiffigen Neubau zu finanzieren. Darüber hinaus müsse noch bedacht werden, so Möbius, dass die Bettelorden erst das umliegende Bauland erwerben mussten und dieser Vorgang mitunter einige Jahre dauern konnte bzw. unter Umständen sogar nie zustande kam. Der eingeschränkte Bauplatz und vor allem der Geldmangel in Verbindung mit dem 22 Felix Scheerer, Kirchen und Klöster der Franziskaner und Dominikaner in Thüringen. Ein Beitrag zur Kenntnis der Ordensbauweise, Jena 1910 (Beiträge zur Kunstgeschichte Thüringens, 2), hier S. 34f., 43f. 23 Donin 1935 (wie Anm. 12), S. 151f.; ausführlich zu den zweischiffigen Hallenkirchen siehe ebd., S. 150–208.

Bedürfnis nach mehr Raum für die Gemeinde habe folglich die asymmetrisch-zweischiffigen Kirchen als eine Art Kompromiss entstehen lassen.24 Diese Theorie konnte Otto Graf schließlich in seiner 1995 erschienen Dissertation bekräftigen. Graf ermittelte, dass 44 von ca. 300 der bis um 1300 erbauten Bettelordenskirchen im deutschsprachigen Raum einen asymmetrisch-zweischiffigen Grundriss aufweisen. Während 13 davon genuin zweischiffig sind, ist der Rest durch Um- bzw. Anbaumaßnahmen an einer ursprünglichen Saalkirche entstanden. Bei den wenigsten Kirchen handelt es sich demnach um einen zweischiffigen Gründungsbau. Die Mehrheit der zweischiffigen Kirchen weist dabei einen Hallenbzw. Staffelhallenquerschnitt auf,25 was durchaus für die Theorie des erweiterten Einraums sprechen würde. Denn durch die hallenartige Öffnung zum Hauptschiff bilden Seiten- wie Hauptschiff im Aufriss eine stärkere Einheit. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Bettelorden besonderer Beliebtheit erfreuten und zahlreiche Spenden, Begünstigungen sowie Zuwendungen insbesondere seitens der Bürgerschaft erhielten, waren sie allerdings faktisch oft nicht so arm, wie es ihnen zumeist unterstellt wird. Es bleibt somit fraglich, ob die Asymmetrie der Kirchen allein auf einen Geldmangel zurückzuführen ist. Denn selbst bei einer Beschränkung des Bauplatzes wäre bei ausreichender Finanzkraft zumindest mit symmetrischen Lösungen, wie sie überwiegend bei den zweischiffigen Bettelordenskirchen in Frankreich oder Österreich anzutreffen sind, zu rechnen. Oder anders gesagt: Der Erklärungsansatz des „erweiterten Einraums“ erklärt nicht die Tatsache, wieso beispielsweise in Andernach am Rhein (Abb. 3) das Seitenschiff ausgerechnet zwischen Hauptschiff und Kreuzgang (und damit an einer Stelle, die doch eigentlich schon durch den Kreuzgang besetzt bzw. eingeschränkt war) eingefügt wurde. Und was den angeblich geringeren Bauaufwand betrifft, konnte Achim Todenhöfer an der Franziskanerkirche in Salzwedel nachweisen, dass der asymmetrische Aufbau keine konstruktive Vereinfachung mit sich

24 Geschichte der deutschen Kunst. 1200–1350, hg. von Friedrich Möbius, Leipzig 1989. 25 Graf 1995 (wie Anm. 2), S. 195f.

Seitenschiff oder Kapellenanbau?

brachte, „sondern besondere Anforderungen an die kräfteneutrale Konstruktion des Dachwerks“26 stellte.

Die asymmetrisch-zweischiffigen Hallenkirchen – eine regional bedingte Besonderheit? Wie eingangs erläutert, weisen vier von fünf Bettel­ ordenskirchen des Mittelrheintals einen asymme­ trisch-zweischiffigen Grundriss auf. Angesichts dieser auffälligen Häufung ist daher durchaus zu fragen, ob es sich hier nicht um eine regionale Besonderheit innerhalb der Bettelordensarchitektur handeln könnte. Ein Blick auf Otto Grafs Statistiken zeigt, dass lediglich zwölf der 44 asymmetrisch-zweischiffigen Kirchen im deutschsprachigen Raum auf Bauten der Dominikaner entfallen, der überwiegende Teil hingegen auf Bauten der Franziskaner. Somit könnte die Zweischiffigkeit in den deutschen Provinzen als ein franziskanisches Phänomen angesprochen werden. Eine ordensspezifische franziskanische Ausprägung ist diese Raumform jedoch nicht. Denn nur 32 der etwa 200 franziskanischen Bauten, die bis um 1300 im deutschsprachigen Raum entstanden sind, weisen einen zweischiffigen Grundriss auf.27 Daher wies bereits Wolfgang Schenkluhn darauf hin, dass die Frage, inwieweit es provinzabhängige Baugruppen oder gar eine provinz- oder kustodienbestimmte Bautenhierarchie gegeben hat, bislang noch kaum erforscht wurde.28 Der Orden der Franziskaner war in Provinzen eingeteilt, die wiederrum in einzelne Verwaltungseinheiten, die sogenannten Kustodien, unterteilt waren. Bereits zum Zeitpunkt der ersten franziskanischen Missionierung Deutschlands wurde 1221 die Provinz Teutonia errichtet. Diese umfasste zunächst den kompletten deutschsprachigen Raum. 1230 erfolgte die Teilung der Provinz Teutonia in eine sächsische und eine rheinische Provinz. Neun Jahre später wurde eine erneute Teilung der franziskanischen Provinzen vorgenommen. Die rheinische Provinz spaltete 26 Achim Todenhöfer, Kirchen der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Sachsen-Anhalt, Berlin 2010, zugl. Diss. Univ. Halle (Saale) 2006, hier S. 126. 27 Vergl. hierzu die Statistik bei Graf 1995 (wie Anm. 2), S. 69, 195f. 28 Schenkluhn 2000 (wie Anm. 1), S. 103.

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sich in eine niederdeutsche bzw. kölnische und eine oberdeutsche bzw. straßburgische Provinz, während die sächsische Provinz in die Provinzen Dacia (Dänemark) und Bohemia (Böhmen) aufgeteilt wurde. Das heutige Mittelrheintal war dabei Teil der niederdeutschen, sprich kölnischen Provinz. Diese umfasste das westliche Ruhrgebiet, das Rheinland, die Eifel, den Hunsrück und das Saarland bis hin zur Pfalz. Die kölnische Verwaltungseinheit, mit Hauptsitz in Köln, war dabei in sieben Kustodien unterteilt, darunter die Kustodie Trier, welche Trier, Koblenz, Oberwesel, Andernach, Limburg a. d. Lahn, Wetzlar, Luxemburg und Merl a. d. Mosel umfasste.29 Die zweischiffigen Anlagen des Mittelrheingebietes befinden sich somit allesamt in der Kustodie Trier. Die Bischofsstadt Trier war nicht nur Hauptsitz der Kustodie, sondern von hier erfolgten höchstwahrscheinlich auch einige Neugründungen, so vermutlich in Koblenz, Oberwesel und Andernach.30 Eine nähere Betrachtung der Baugeschichte des trierischen Franziskanerkonvents verstärkt die Annahme, dass auf dem Gebiet der Kirchenarchitektur des Franziskanerordens durchaus ein Formentransfer von Trier an den Mittelrhein stattfand. Denn wenn auch die Trierer Franziskanerkirche heute als eine einheitlich wirkende dreischiffige Anlage in Erscheinung tritt (Abb. 8, 9), so gehörte sie doch einst zur Gruppe der asymmetrisch-zweischiffigen Hallenkirchen, bevor sie im 18. Jahrhundert durch den Anbau eines zweiten Seitenschiffs den barocken Symmetriebestrebungen angepasst wurde. Wann die Franziskaner nach Trier kamen ist nicht sicher bezeugt. Bauurkunden für das 13. bis 15. Jahrhundert scheinen ebenfalls zu fehlen. Laut der Stadtchronik von Brouwer und Masen aus dem 17. Jahrhundert, sollen sie bereits 1223 in der Stadt angekommen sein.31 Dieses Datum ist in der ­Forschung 29 Zur kölnischen Minoritenprovinz siehe vor allem Konrad Eubel, Geschichte der kölnischen Minoriten-Ordensprovinz, Köln 1906 (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 1). 30 Winfried Monschauer, Das Minoritenkloster in Oberwesel. Geschichte eines außergewöhnlichen Denkmals, Oberwesel 2013, hier S. 8. 31 Winfried Weber, „Neue Erkenntnisse über die Baugeschichte der Trierer Dreifaltigkeitskirche“, in: Kontinuität und Wandel. 750 Jahre Kirche des Bischöflichen Priesterseminars in Trier. Eine Festschrift aus Anlaß der feierlichen Wiedereröffnung 1993, hg. von Michael Embach, Trier 1994, S. 171–185, hier S. 171.

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8 Trier, Franziskanerkirche (heute Jesuitenkirche), Blick nach Osten.

9 Trier, Franziskanerkirche (heute Jesuitenkirche), Grundriss.

jedoch stark umstritten, zumal sich für das Jahr 1223 eine Trierer Niederlassung innerhalb der Kustodie für den rheinischen Raum noch nicht nachweisen lässt. Die Gesta Trevirorum gibt für die Ankunft der Brüder die Zeit Erzbischofs Theoderich von Wied (1212– 1242) an. Die Chronik von Jordan von Giano erwähnt einen trierischen Konvent zu dieser Zeit nicht. Es wird jedoch berichtet, dass Johannes von Piano 1228 in Metz eine Niederlassung gegründet und sich von dort der Orden in Lothringen ausgebreitet habe. Es kann daher vermutet werden, dass die Franziskaner um 1228 oder kurz danach in Trier ankamen. Einen ersten sicheren Beleg für die Existenz gibt erst das Testament Theoderichs von Wied vom 5. September 1238 an, in dem u. a. die Franziskaner mit Legaten bedacht werden. Die Lage des Klosters zwischen Weberbach, Engelgasse und Neustraße bezeugt schließlich eine Urkunde von 1240, sodass zu diesem Zeitpunkt sicher mit einer Klosteranlage zu rechnen ist. Wer den Franziskanern wiederum das Gelände schenkte, ist unbekannt. Angesichts der Größe des Areals muss jedenfalls von einer vermögenden Person ausgegangen werden. Mit dem Bau einer ersten Kirche kann daher spätestens in den 1230er Jahren gerechnet werden.32 Grabungen Anfang der 1990er Jahre konnten schließlich die Baugeschichte der heutigen Kirche weitgehend klären. So bauten die Franziskaner zunächst zwischen 1228 und 1238 eine Saalkirche mit vierjochigem Langchor und 7/12-Schluss (Abb. 10). Das Kirchenschiff hatte höchstwahrscheinlich einen offenen Dachstuhl oder eine flache Holzdecke, wie Reste eines Triumphbogens, die sich im Dachraum

32 Weber 1994 (wie Anm. 31), S. 171; Wolfgang Seibrich, „Das Kloster der Franziskaner in Trier bis zum Jahre 1570“, in: Kontinuität und Wandel. 750 Jahre Kirche des Bischöflichen Priesterseminars in Trier. Eine Festschrift aus Anlaß der feierlichen Wiedereröffnung 1993, hg. von Michael Embach, Trier 1994, S. 123–170, hier S. 124–130; Sabine Reichert, Die Kathedrale der Bürger. Zum Verhältnis von mittelalterlicher Stadt und Bischofskirche in Trier und Osnabrück, Münster 2014 (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, 22), hier S. 42; Hans-Jürgen Schmidt, Bettelorden in Trier. Wirksamkeit und Umfeld im hohen und späten Mittelalter, Trier 1986, zugl. Diss. Univ. Trier 1984/1985 (Trierer Historische Forschungen, 10), hier S. 32f.; Die Kirchlichen Denkmäler der Stadt Trier. Mit Ausnahme des Domes, bearb. von Hermann Bunjes/Nikolaus Irisch/Gottfried Kentenich/Friedrich Kutzbach/Hanns Lückger, Bd. 3, Düsseldorf 1981 [1938] (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 13), hier S. 49–52.

Seitenschiff oder Kapellenanbau?

oberhalb des Chorgewölbes erhalten haben, aufzeigen. Ende des 13. Jahrhunderts erfolgte ein Umbau zur asymmetrisch-zweischiffigen Hallenkirche (Bau IIb). In einer ersten Umbauphase (Bau IIa) wurden Innenpfeiler entlang der Südwand errichtet, auch die Westwand erhielt zwei nach innen verlegte Pfeiler. Die Nordwand wurde hingegen auf Höhe der beiden östlichen Joche ausgebrochen (Abb. 11). Vermutlich war hier zunächst die Anfügung eines zweijochigen, kapellenartigen Anbaus geplant. Inwieweit diese Planungsphase fertigstellt wurde, bleibt jedoch unklar. Noch in dieselbe Bauperiode fällt schließlich der Entschluss, die Kirche in eine asymmetrische, zweischiffige Hallenkirche zu verwandeln (Bau IIb). Die alte Nordwand wurde dafür komplett niedergelegt und die neuerrichtete Außenwand des Nordseitenschiffs erhielt außen Strebepfeiler; an der Innenseite wurden analog zu diesen schlanke Dienste hochgeführt. Die innenliegende Stützenreihe der Südwand blieb hingegen erhalten, sodass hier wandhohe Nischen im Innenraum in Erscheinung getreten sein dürften (Abb. 12). Durch die stilistische Analyse der Schlusssteine lässt sich diese Bauphase in die Zeit um 1320 datieren. Erst im Zeitalter des Barock wurden zwischen 1739 und 1745 das südliche Seitenschiff sowie die Nebenchöre angefügt (Abb. 9).33 Es sei hier auf die Leistung der Baumeister verwiesen, die das Südschiff derart in gotischen Formen anzupassen wussten, dass noch heute die Kirche in ihrem Innern wie aus einem Guss erbaut aussieht. Erst dem erfahrenen und geschulten Betrachter fallen die leichten Abwandlungen in den Profilen der Gurte und Rippen auf. Mit Blick auf die asymmetrisch-zweischiffigen Bettelordenskirchen am Mittelrhein ist es also durchaus möglich, dass die Trierer Franziskanerkirche vorbildlich gewirkt hat und somit ein Formentransfer von Trier an den Mittelrhein stattgefunden haben könnte. Dieser Frage wird im Folgenden weiter nachgegangen. Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Intention der Auftraggeber bei der Wahl des asymmetrisch-zweischiffigen Kirchenraums. 33 Zu den Grabungsergebnissen sowie der daraus resultierenden Bauabfolge und stilistischer Datierung siehe Weber 1994 (wie Anm. 31), hier vor allem S. 175–179, S. 180f.; vergl. auch die zum Teil durch Weber 1994 revidierten Darlegungen bei Denkmäler der Stadt Trier: 1981 [1938] (wie Anm. 32).

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10 Trier, Franziskanerkirche (heute Jesuitenkirche), Bau I, ca. 1228–1238.

11 Trier, Franziskanerkirche (heute Jesuitenkirche), Bau IIa.

12 Trier, Franziskanerkirche (heute Jesuitenkirche), Bau IIb.

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Das vermeintliche Seitenschiff als Kapellenanbau? Ein entscheidender Schwachpunkt der oben dargelegten Forschungsansätze ist, dass sie den zweischiffigen Kirchenbau überwiegend vom Grundriss her begreifen. Eigentümlichkeiten am Bau selbst finden selten bis keine Beachtung. Genauso wenig werden die Bauten in einen (räumlich-)historischen Kontext gestellt. Um die asymmetrisch-zweischiffigen Bettelordenskirchen des Mittelrheingebietes verstehen zu können, bedarf es daher zunächst einer genauen Analyse der Bauten. Der Konvent der Franziskaner in Oberwesel liegt in der ehemaligen Kernstadt unweit des Marktplatzes. Heute als Ruine mit einem Wohnhauseinbau im Seitenschiff überkommen (Abb. 13), weisen die noch aufrechtstehenden Mauern sowie ein aus dem 19. Jahrhundert erhaltener Grundriss (Abb. 1) mit Angabe der Gewölbe die Kirche als kreuzrippengewölbte, zweischiffige Halle aus. Das Hauptschiff von fünf queroblongen Travéen geht nahtlos in einen dreijochigen, gleichbreiten Langchor mit 5/8-Schluss über. Das südlich angebrachte Seitenschiff mit fünf leicht unterquadratischen Jochen schließt gerade ab. Die Joche von Haupt- und Seitenschiff weisen dabei ein Verhältnis von 2:3 auf und somit dürfte das Innere des Langhauses fast wie ein symmetrischer, zweischiffiger Raum gewirkt haben. Noch heute zeigt sich, dass die Gewölbe des Langchors auf hochsitzenden Konsolen angebracht waren (Abb. 14), die Gewölbekonstruktion im Langhaus ist hingegen unbekannt. Nach dem erhaltenen Grundriss bestand die Stützenreihe aus quadratischen Pfeilern, die um 45 Grad um ihre eigene Achse gedreht in Diagonalsicht zwischen den Schiffen vermittelten. Die Scheidbögen waren nach Ausweis des Grundrisses stark profiliert und wiesen die gleiche Breite wie die Pfeiler auf. Am Außenbau zeigt sich, dass die Strebepfeiler des Seitenschiffs im unteren Bereich nicht frei stehen, sondern über einem mit Pultdach versehenen Wandsockel, der bis zu den Fensterbänken hinaufreicht, emporwachsen. Im Innern entstand hierdurch, zurückgesetzt von den Fenstern, eine ausreichende Tiefe, die (fensterhohe) Nischen ausbildete.34 Diese 34 Nach den Darlegungen in Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreise, bearb. von Eduard Sebald, Teil 2.2: Ehemaliger

Konstruktionsweise hatte zur Folge, dass im Unterschied zu den glatt ausgeführten Chormauern mit relativ geringer Stärke die Süd- sowie Westmauer des Seitenschiffs im unteren Bereich etwa doppelt so stark ausgeführt wurde. Wann die Minderbrüder nach Oberwesel kamen und zu welchem Zeitpunkt sie mit der Realisierung eines Kirchenbaus begannen, ist nicht überliefert. Nach Eubel, der sich auf die 1692 veröffentliche Georaphia provinciae Coloniensis des Franziskanermönchs P. Albert Vitting aus Düsseldorf bezieht, kamen die ersten Minderbrüder 1242 nach Oberwesel. Einen festen Anhaltspunkt gibt es hierfür jedoch nicht. 1246 werden Brüder des Oberweseler Konvents als Urkundenzeugen genannt.35 1264 drohte Bischof Philipp von Metz im Auftrag von Papst Urban IV. den Pfarrern von St. Martin sowie Liebfrauen die Exkommunikation an, sollten sie weiterhin gegen die seelsorgerischen Tätigkeiten der Franziskanermönche Widerstand leisten. Hieraus wird häufig gefolgert, dass die Minoriten noch keinen festen Konvent besaßen und gezwungen waren, für ihre Messfeiern auf die Kirchen des Pfarrklerus auszuweichen. Anhand stilistischer Vergleiche, allen voran mit dem Chorbau der Prämonstratenserklosterkirche in Altenberg bei Wetzlar, erfolgt in der Regel eine Datierung des Baubeginns in die 1270er oder 1280er Jahre. Nach Patrick Ostermann ist der Bau der Kirche in zwei Etappen erfolgt.36 Zunächst war wohl eine einfache Saalkirche geplant, bevor man sich entschloss, diese um ein Seitenschiff zu erweitern. Hinweise darauf liefert eine vertikal ausgezackte Baufuge

Kreis St. Goar. Stadt Oberwesel, Mainz 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9), S. 656 sind heute die beiden östlichen Nischen im Haus „Im Kloster 2“, das einst in das Seitenschiff eingebaut wurde, noch erhalten. Die beiden westlichen seien zugesetzt. Der Verfasserin selbst war aufgrund der fehlenden Zugänglichkeit eine Überprüfung nicht möglich. 35 Eubel 1906 (wie Anm. 29), S. 241; Monschauer 2013 (wie Anm. 30), S. 8; Kunstdenkmäler Rhein-Hunsrück-Kreis. Stadt Oberwesel 1997 (wie Anm. 34), S. 633. 36 Zur Datierung siehe vor allem: Kunstdenkmäler Rhein-Hunsrück-Kreis. Stadt Oberwesel 1997 (wie Anm. 34), S. 637f., 647– 648 sowie Ernst Coester, „Die Franziskanerkirche in Oberwesel und Münster/Westf. und ihre stilistische Verwandtschaft mit Kirchen des Lahngebietes. Ein Beitrag zu Bettelordensbaukunst im Rheinland“, in: Kunst und Kultur am Mittelrhein. Festschrift für Fritz Arens zum 70. Geburtstag, hg. von Joachim Glatz/Norbert Suhr, Worms 1982, S. 33–39, hier S. 38f.

Seitenschiff oder Kapellenanbau?

13 Oberwesel, Minoritenkirche, Ansicht von oben.

in der Ostwand des Seitenschiffs unterhalb des Wasserschlaggesims. Denn diese entspricht an der Stelle ihres weitesten Abstandes zur Chorlängswand exakt dem Maß der Chorstrebepfeiler, sodass es sich hier vermutlich um den Rest eines Strebepfeilers handeln könnte, der bei einem einschiffigen Bau konstruktiv notwendig gewesen wäre. 1305 besaß die Kirche bereits zwei Altäre, sodass mit einer Fertigstellung des Chores zu diesem Zeitpunkt gerechnet werden kann. Das Langhaus wurde vermutlich noch gegen Ende des 13. Jahrhunderts begonnen und im ersten oder zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts fertiggestellt.37 Die um ein Langhausjoch längere Franziskanerkirche in Andernach weist ganz ähnliche Gestaltungsprinzipien auf (Abb. 3). Der heute noch gut erhaltene Bau geht auf einen Neubau des 14. Jahrhunderts zurück. Charakteristisch sind auch hier die nach innen gezogenen Strebepfeiler, die im Innern fensterhohe Nischen ausbilden (Abb. 15), die auf Konsolen ruhende Gewölbe der Seitenschiffsjoche (Abb. 16) sowie die auf quadratischem Grundriss diagonal 37 Kunstdenkmäler Rhein-Hunsrück-Kreis. Stadt Oberwesel 1997 (wie Anm. 34), S. 637f., 647–648.

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14 Oberwesel, Minoritenkirche, Langchor, Nordseite, Gewölbekonsole zwischen 1. und 2. Chorjoch von Westen.

gestellten Freipfeiler (Abb. 17). Über den heute nicht mehr existierenden Franziskanerkonvent in Koblenz lassen sich nur noch geringe Aussagen treffen. Ein aus dem Jahr 1805 überlieferter Grundriss (Abb. 2) weist die Kirche ebenfalls als kreuzrippengewölbte Hallenkirche mit fünfjochigem Langhaus und einem in gleicher Breite des Hauptschiffs anschließenden dreijochigen Langchors mit 5/8 Schluss aus. Ob im Innern, wie bei den Franziskanerkirchen in Oberwesel und Andernach, ebenfalls Nischen im Seitenschiff vorhanden waren, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Auffällig an den Bauten in Andernach und Oberwesel sind somit einerseits die nach innen gezogenen Strebepfeiler, die im Innern der Seitenschiffe nischenartige Kompartimente ausbilden sowie andererseits die starke Scheidung von Haupt- und Seitenschiff durch die Verwendung kräftiger Scheidbögen, während zeitgleich das konstruktive System der Gewölbe etwa in Höhe der Fenstersohlbänke auf Konsolen endet. Im Folgenden wird nun der Versuch unternommen, diese Bauform – basierend auf den dargelegten „Sonderheiten“ – im Sinne eines an das Langhaus angefügten Kapellenbaus zu werten. Eine

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15 Andernach, Minoritenkirche (heute ev. Pfarr­ kirche), Südseitenschiff, 5. Joch von Westen.

16 Andernach, Minoritenkirche (heute ev. Pfarrkirche), Südseitenschiff, 1. Joch von Osten, Blick ins Gewölbe.

solche Deutung würde helfen, die vermeintlichen Seitenschiffe der asymmetrischen-zweischiffigen Bettelordenskirchen in Bezug zu einer Praxis zu setzen, bei der ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert Kathedral- und Pfarrkirchen systematisch durch den Anbau von Einsatzkapellen an die Seitenschiffe erweitert wurden.38 Diese sog. Einsatzkapellen konnten einerseits als selbstständige, vereinzelte Anbauten, etwa im Auftrag eines bestimmten künftigen Besitzers, realisiert oder anderseits durch Aufbrechen der gesamten Seitenschiffsaußenwände mit anschließender Errichtung einer kompletten Reihe von Einsatzkapellen (die dann noch im Rohbau oder nach ihrer Fertigstellung verkauft wurden) konzipiert werden. Entsprechend unterscheidet sich demnach auch der Wortlaut in den Schriftquellen: Während Besitzer von separaten, vereinzelten Kapellenanbauten als deren Erbauer genannt werden, heißt es bei Besitzern von quasi seriell und auf Vorrat angebauten Einsatzkapellen, 38 Antje Grewolls, Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter. Architektur und Funktion, Kiel 1999, zugl. Diss. Uni Kiel 1997.

sie hätten ihre Kapelle gekauft bzw. in Auftrag gegeben. Während die Errichtung von separaten, privaten Kapellen von den jeweiligen Besitzern und somit unabhängig von der Finanzierung des Kirchenbaus bezahlt wurde, floss das Kaufgeld der seriell bzw. auf Vorrat errichteten Einsatzkapellen in die Kirchenfabrik und somit in die Finanzierung des gesamten Kirchenbaus.39 Diese Kapellen waren – quasi als Serienausstattung – bereits mit einem Altar und allen zur Messe dienenden Utensilien ausgestattet. Der Besitz eines Altars oder einer Kapelle, womöglich einschließlich eines Grabdenkmals oder Epitaphs, wurde immer mehr zu einer Frage des Prestiges. Um genügend Platz zu haben, wurden daher an Langhaus, Querschiff oder Chor Seitenkapellen angebaut. Auch der Hauptkirchenraum wurde mit Altären bestückt „[…] wobei nicht selten alle Stützglieder und jede verfügbare Wandfläche – so klein sie auch sein mochte – genutzt wurden.“ Die Aufstellung der Seitenaltäre unterlag dabei keiner festen Regel. Häufig waren die Pfeiler der Arkadenbögen zwischen Hauptund Seitenschiff Standort für die Aufstellung, wie 39 Ebd., hier insbesondere S. 67–71.

Seitenschiff oder Kapellenanbau?

17 Andernach, Minoritenkirche (heute ev. Pfarrkirche), Blick aus dem Südseitenschiff nach Nordosten ins Hauptschiff.

dies z. B. in St. Viktor in Xanten noch nachvollzogen werden kann. In einigen Kirchen, so beispielsweise in der Pfarrkirche St. Petri in Soest oder der Nikolaikirche in Stralsund, sind auf den Pfeilern noch heute gemalte Retabel vorhanden. Nur selten stand ein Altar frei im Kirchenschiff, ohne dass das Retabel von einem Pfeiler oder einer Wand gestützt wurde. Dabei wurde das Prinzip der Ostung bei den Altären eingehalten.40 Tobias Kunz stellte 2012 fest, dass in vielen Städten gerade die Mendikantenkirchen zu den am reichsten mit (Altar-) Bildwerken ausgestatteten Gottes­häusern gehörten. „Paradoxerweise lagen die Ursachen für diese Bilderflut, die im grellen Kontrast 40 Justin E. A. Kroesen, Seitenaltäre in mittelalterlichen Kirchen. Standort – Raum – Liturgie, Regensburg 2010, hier S. 11f., 24–28, 45, 51, 70; zitiert nach ebd., S. 12.

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zu dem in den Statuten der Generalkapitel von Narbonne (1260) und Paris (1992) festgelegten Verzicht auf aufwendige Ausstattungen steht, letztlich im Selbstverständnis des Ordens, dem Armutsideal, begründet.“ Denn man war auf die Unterstützung des Adels, Bürgertums und der Zünfte angewiesen.41 Darüber hinaus war es neben der Predigt und der Seelsorge im Vollzug der Alltagsfrömmigkeit gerade die Totenmemoria, die speziell die Franziskaner in den Städten unentbehrlich machte.42 Mit dem Bettelmönch hatten der Hl. Franziskus und der Hl. Dominikus einen neuen Typ des religiösen Menschen geschaffen, der nicht in Einsamkeit und Absonderung von der Welt lebte, sondern auf den Straßen umherzog und die Menschen zur Nachfolge Christi aufrief sowie dessen Lehre predigte.43 Mit diesem Ansatz generierten die Mendikanten einen beeindruckenden Zulauf. Immer mehr Bürger strömten in ihre Kirchen, um ihre Messen zu hören und immer mehr Bürger verspürten das Bedürfnis, in den Kirchen der Mendikanten nicht nur bestattet zu werden, sondern von ihnen auch die Seelmesse gelesen zu bekommen.44 Insbesondere bei den zweischiffigen Kirchen der Franziskaner kann in der Regel eine großzügige Förderung des örtlichen Adels festgestellt werden, die in diesem Maße bei anderen Kirchenbaukonzeptionen so nicht nachweisbar ist. In den meisten Fällen der zweischiffigen Franziskanerkirchen lässt sich dabei sogar eine von adeligen Stiftern als Erbgrablege genutzte Verwendung der 41 Tobias Kunz, „Zur mittelalterlichen Ausstattung von Franziskanerkirchen im deutschsprachigen Raum“, in: Franziskus – Licht aus Assisi. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum und im Franziskanerkloster Paderborn, hg. von Christoph Stiegemann/Bernd Schmies/Heinz-Dieter Heimann, München 2011, S. 154–161, hier S. 154; zitiert nach ebd. 42 Barbara Welzel, „Mittelalterliche Altarretabel aus Franziskanerkirchen der Provinz Saxonia und benachbarter Provinzen“, in: Kunst. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Roland Pieper, Paderborn u. a. 2012 (Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz von der Gründung bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, 5), S. 367–384, hier S. 368. 43 Binding/Untermann 2001 (wie Anm. 1), S. 329. 44 Siehe hierzu die Studien von Jaques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984 und Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 1980, die in den 1980er Jahren die Veränderungen in der Gesellschaft des 13. Jahrhunderts untersuchten die sich gegenüber dem Sterben und dem Tod vollzogen hatte. Sie erkannten dabei die wichtige Rolle, die den Mendikanten im Begräbniswesen zukam.

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18 Siegburg-Seligenthal, Franziskanerkirche (heute Pfarrkirche), Grundriss.

Kirchen feststellen.45 Basierend auf dieser Erkenntnis warf Otto Graf 1995 am Beispiel der Franziskanerkirche in Seligenthal die Frage auf, ob es sich bei den zweischiffigen Bauten möglicherweise um eine Errichtung von Erbgrablegen handeln könnte.46 Die Antoniuskirche in Seligenthal (Abb. 18) gilt als die älteste noch erhaltene Franziskanerkirche auf deutschsprachigem Boden. Im Jahr 1231 wurde der Konvent durch Graf Heinrich von Sayn und seiner Frau Mechthild von Landsberg gegründet. Laut eines Ablassbriefes von Papst Innozenz IV. befand sich die Kirche 1247 noch im Bau. Im Gegensatz zu den mittelrheinischen Bauten handelt es sich in Seligenthal nicht um eine kreuzrippengewölbte Hallenkirche, sondern um einen in Teilen gewölbten, zweischiffigen Bau mit basilikalem Querschnitt. Gewölbt sind ausschließlich die beiden östlichen ­Joche des Hauptschiffs, die drei Joche des nördlichen Seitenschiffs sowie die östlich vorgelagerte Kapelle mit erkerartiger Altarnische. Die westlichen Teile des Hauptschiffs sind flachgedeckt. Das Seitenschiff wird durch Arkaden vom Hauptschiff abgetrennt und erscheint somit als selbstständiges Raumkompartiment. Die jeweiligen Joche des Seitenschiffs werden wiederum durch eckige Pfeilervorlagen der Gurtbögen noch einmal voneinander getrennt, wodurch der Raum des Seitenschiffs in der Längsachse eine entsprechende Unterteilung erfährt. Quellenkundlich hat sich für 1250 ein Bestattungsrecht für die um 1255 fertiggestellte 45 Graf 1995 (wie Anm. 2), S. 216. 46 Ebd., S. 197–199.

Kirche erhalten. So wählte der Landadel neben seiner eigentlichen Erbgrablege auch den Franziskanerkonvent als Begräbnisstätte.47 Graf schließt daraus, dass bereits bei der Konzeption der Kirche die spätere Nutzung als Begräbnisstätte eine Rolle gespielt haben müsste. Darauf deutet auch die architektonische Auszeichnung des Seitenschiffes durch Gewölbe hin: So sind die selbstständigen Raumkompartimente der Seitenschiffsjoche aufgrund ihrer Wölbung gegenüber dem flachgedeckten Langhaus eindeutig in einen Bezug zum ebenfalls gewölbten Chor zu setzen. Diese Angleichung wäre, so Graf, aber nur dann schlüssig, wenn die Joche des Seitenschiffs auch eine ähnliche Funktion wie der Chor gehabt hätten und dies sei eigentlich nur dann gegeben, wenn an den Seitenschiffswänden oder wenigstens an den Pfeilern des Hauptschiffs Altäre aufgestellt gewesen waren. Die so durch das Seitenschiff entstandenen besonders herausgehobenen Nebenräume hätten dann, als Privatkapellen genutzt werden können, in denen die Stifter möglicherweise auch eine Grablege besaßen. Diesem Beispiel folgten nach Ansicht von Graf schließlich weitere Kirchen der Franziskaner.48 Blicken wir von Seligenthal erneut auf die Franziskanerkirche in Trier, dann lassen sich für die hier durch einen späteren Umbau hergestellte Zweischiffigkeit durchaus ähnliche Intentionen vermuten: Urkundliche Nachrichten über den Bauherren der Umbaukampagne gibt es zwar keine, aber dennoch lassen sich im Innern des Baues Anhaltspunkte finden. So ist in den Schlusssteinen des Nordseitenschiffs das Wappen von Luxemburg und von Böhmen zu sehen. Elisabeth Adams folgert daraus, dass König Johann der Blinde als Bauherr in Frage kommen könnte, der darüber hinaus nachweislich gerade in den 1320er Jahren häufig in Trier war. Also exakt zu jener Zeit, in die die Baukampagne datiert wird. König Johann war ein Neffe des damals amtierenden Erzbischofs Balduin von Trier und Sohn Kaiser Heinrichs VII. 47 Zu Seligenthal siehe ebd., S. 197f.; Hermann Josef Roggendorf, Siegburg-Seligenthal, Neuss 1980 (Rheinische Kunststätten, 221); Matthias Untermann/Leonie Silberer, „Architektur franziskanischer Kirchen und Klosterbauten“, in: Franziskus – Licht aus Assisi. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum und im Franziskanerkloster Paderborn, hg. von Christoph Stiegemann/Bernd Schmies/Heinz-Dieter Heimann, München 2011, S. 140–147, hier S. 140. 48 Graf 1995 (wie Anm. 2), S. 198f.

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19 Andernach, Minoritenkirche (heute ev. Pfarrkirche), Gewölbe des Haupt- und Südseitenschiffs.

Seine hohe Verschuldung bei seinem Onkel Balduin sowie einige Gebietsverluste veranlassten Johann vermutlich dazu, so Adams, seinen Ruf in der Stadt Trier aufwerten zu wollen. Mit dem Anbau des Seitenschiffs wollte er demnach „eine monumentale Kapelle, die erste luxemburgische Memorialstätte in Trier“ gründen. Verstärkt wird diese Theorie durch die Tatsache, dass dieser vierjochige Andachtsraum einen eigenen Zugang im zweiten Joch von Osten besitzt.49 Auch die Franziskanerkirche in Andernach passt in das für die Seligenthaler Franziskanerkirche zu rekonstruierende Nutzungskonzept des Seitenschiffs als separater familiärer Kapellenraum. Die Andernacher Kirche wurde zwischen 1240 und 1244 von den Grafen von Virneburg gestiftet, die sich hier unter anderem auch eine Grablege gesichert hatten. Wie oben dargelegt, geht der heutige Bau auf einen Umbau, der

49 Elisabeth Adams, „Die Franziskanerkirche in Trier als Memorialstätte König Johanns des Blinden“, in: Jahrbuch für westfälische Landesgeschichte, Jg. 32, 2006, S. 75–90, hier insb. S. 75f.; zitiert nach ebd. S. 75.

vermutlich gegen Ende des 14. Jahrhunderts begonnen wurde, zurück. Auf den Gewölbeschlusssteinen und Gewölbefeldern befinden sich Wappen der Kölner Erzbischöfe des 14. und 15. Jahrhundert. Daneben lassen sich auch Wappen von Stifterfamilien ausfindig machen, deren Angehörige nach Ausweis der überlieferten Quellen hier bestattet liegen (Abb. 19). Beigesetzt sind bspw. Mitglieder der Familie von Landskron, Eich, Witzelbach, Hausmann, Braunsberg, Lahnstein, Hardevust sowie seit dem 17. Jahrhundert auch zahlreiche Andernacher Bürger.50 Die Kirche stellt demnach eine im Mittelalter und der frühen Neuzeit beliebte Grablege des Adels und der bürgerlichen Führungsschicht Andernachs dar. Schließlich gibt es auch für die Franziskanerkirche in Oberwesel Anhaltspunkte, die dort eine Grablege oder sogar Erbgrablege der ortsansässigen Adelsfamilie vermuten lassen. Laut Überlieferung soll der Franziskanerkonvent von den Grafen von Schönburg gegründet worden sein, die angeblich – neben 50 Siehe hierzu vor allem Helmut Weinand, Kirchen und Kapellen in Andernach, Andernach 2015, S. 200f.

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weiteren Grablegen in den Oberweseler Stifts- bzw. Pfarrkirchen Liebfrauen und St. Martin – auch hier eine Grablege besaßen. Nach einer Quelle des 17. Jahrhunderts sollen sich in den Couronnements der Chorfenster sogar die Wappen der Schönburger befunden haben.51 Es liegen also auch für Oberwesel genügend Gründe vor, im Sinne von Graf und Adam, eine Errichtung und Inszenierung von dynastischen Grablegen und der damit zusammenhängenden Memorie in der Franziskanerkirche zu vermuten. Daraus kann nun geschlussfolgert werden, dass das nördliche Seitenschiff der Oberweseler Franziskanerkirche als eine übergroße Stifterkapelle fungieren sollte. Für eine zweifelsfreie Verifizierung dieser anzunehmenden Funktion der Seitenschiffe als exklusive dynastische Begräbniskapellen fehlen jedoch bei allen drei Kirchen, abgesehen von den Wappen, eindeutige Hinweise. Weder urkundliche noch sonstige materielle Quellen wie beispielsweise der Einbau von monumentalen Grabdenkmälern können angeführt werden. Es fällt somit schwer, im Sinne von Graf und Adams zweifelsfrei von einer Inszenierung adeliger Memoria zu sprechen oder gar das gesamte Seitenschiff als singulären Kapellenbau für den ortsansässigen Adel zu werten. Für Trier mag dies vielleicht noch für Bau IIa zutreffen, als nur ein kapellenartiger Anbau geplant wurde und nicht gleich ein komplettes Seitenschiff. Für Bau IIb erscheint diese Theorie aber nicht mehr recht passend zu sein. Zwar vermag die Deutung der Seitenschiffe als Kapellenbauten weiterhin zu überzeugen, doch zeichnet sich anhand der Befunde ab, dass die Nutzung nicht nur exklusiv auf eine einzelne Familie beschränkt war, sondern weit darüber hinausging und offensichtlich mehrere (Stifter-) Familien umfasste. So ergaben die Ausgrabungen in Trier u. a. auch Ausbesserungen am Estrich sowie den Fund von zahlreichen wiederverwendeten römischen Sarkophagen, gemauerten Gräbern sowie Stein- und Holzsärgen. Daraus kann geschlossen werden, dass die Trierer Franziskanerkirche nicht nur exklusiv, sondern allgemein als Bestattungsort sehr beliebt war.52 Auch in der Andernacher Franziskanerkirche verweisen die in den Gewölben angebrachten Wappen auf eine Vielzahl von Stiftern, die, 51 Monschauer 2013 (wie Anm. 30), S. 25. 52 Kugel 2008 (wie Anm. 4), S. 147.

wie quellenkundlich erwiesen, nicht selten auch ihre letzte Ruhestätte in der Kirche fanden. Und so stellt sich auch hier die Frage, ob im Seitenschiff nicht durch Altarstellen eine Vielzahl an Teilräumen für die Andacht und Memoria mehrerer Stifterfamilien eingerichtet war. Um die Frage, inwiefern die Memoria der Stifterfamilien womöglich für die Bauform des einzelnen Seitenschiffs verantwortlich war, differenziert und umfassend beantworten zu können, bedarf es daher weiterer Forschung. Bereits Wolfgang Schenkluhn verwies 1985 in seiner Dissertation auf den bislang noch weitgehend unberücksichtigten Einfluss des Begräbniswesens auf die Architektur der Mendikantenkirchen: Das Bestattungswesen war eine der vorzüglichsten Aufgaben der Mendikanten und machte ihre Kirchen zum Ort des Gedächtnisses, zugespitzt gesagt, zu einer ‚Sphäre des Todes‘. Man denke an die sogenannten ‚avelli‘, Grabnischen, die viele italienische Mendikantenkirchen umziehen und sie nach außen als Grablegeort ausweisen. Inwieweit diese Aufgabe die Kirchenkonzeption beeinflußt hat, ist noch völlig unerforscht.53 Abschließend sei nochmals auf die Art und Weise eingegangen, wie das Seitenschiff der besprochenen Kirchen an das Hauptschiff angebunden wurde. Denn auch daraus lassen sich Rückschlüsse auf ein Verständnis dieser Seitenschiffsräume als separate Räume und damit evtl. auch als Kapellenräume ziehen. Wie bereits erwähnt, handelt bzw. handelte es sich bei den zweischiffigen Kirchen in Andernach, Oberwesel und Koblenz um Hallenkirchen, also jener Langhausform, die insbesondere in der älteren Forschungsliteratur immer wieder und durchaus nicht frei von einer idealisierenden bzw. ideologisierenden Sichtweise als Idealtypus eines „Einheitsraumes“ bewertet wurde.54 Ein Blick in die Gewölbekonstruktion 53 Schenkluhn 1985 (wie Anm. 14), S. 32. 54 Bei der Bewertung von Hallenlanghäusern kristallisiert sich in der Forschung häufig eine Fixierung auf die Gerstenberg’sche „Hallenideologie” heraus, siehe hierzu: Kurt Gerstenberg, Deutsche Sondergotik. Eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im späten Mittelalter, Darmstadt 1969. Zur Kritik an Gerstenbergs Definition und Deutung des „Einheitsraums“ siehe vor allem Robert Suckale, „Stilgeschichte zu

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20 Andernach, Minoritenkirche (heute ev. Pfarrkirche), Blick von Nordwesten in den Kirchenraum.

der Franziskanerkirche von Andernach zeigt jedoch eine strikte Trennung von Haupt- und Seitenschiff durch die Verwendung kräftiger Scheidbögen in voller Stärke der Freipfeiler (vgl. Abb. 3, 16, 19), womit das von Gerstenberg postulierte Ideal des „Einheitsraum“ nicht mehr gegeben ist, sondern in Wirklichkeit zwei getrennte Räume ausgewiesen werden. Dem Grundriss des 19. Jahrhunderts zufolge wies, wie bereits dargelegt, auch die Oberweseler Franziskanerkirche ursprünglich das gleiche raumtrennende System auf (Abb. 1). Über die heute nicht mehr existente zweischiffige Kirche in Koblenz können diesbezüglich keine Aussagen getroffen werden. Fest steht jedoch, dass zumindest das Haupt- und Seitenschiff der Kirchen in Andernach und Oberwesel keinen Einheits-, sondern separate Teilräume bilden. Dafür werden die Joche ein und desselben Schiffs stärker zu einer Raumeinheit verbunden, die Schiffe

Beginn des 21. Jahrhunderts. Probleme und Möglichkeiten“, in: Stilfragen zur Kunst des Mittelalters. Eine Einführung, hg. von Bruno Klein u. a., Berlin 2006, S. 271–281 sowie Ders., „Die Unbrauchbarkeit der gängigen Stilbegriffe und Entwicklungsvorstellungen. Am Beispiel der französischen gotischen Architektur des 12. und 13. Jahrhunderts (1989)“, in: Robert Suckale: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. von Peter Schmidt/Gregor Wedekind, München 2008, S. 287–316; siehe auch Hans-Joachim Kunst, „Zur Ideologie der deutschen Hallenkirche als Einheitsraum“, in: architectura. Zeitschrift für Geschichte der Architektur, Jg. 1, 1971, S. 38–53.

21 Andernach, Minoritenkirche (heute ev. Pfarrkirche), Außenansicht von Süden.

selbst hingegen deutlich voneinander abgesetzt. Die Scheidbögen lassen sich somit im Sinne des durch Hans-Joachim Kunst eingeführten Interpretationsansatzes des „Scheidbogen-Gurtbogen-Systems“ als eine in der Gewölbesystematik ablesbare, imaginäre Mittelschiffswand verstehen.55 Im Gegensatz zu Oberwesel ist in Andernach das ursprüngliche Raumgefühl noch erfahrbar. In der Längssicht ist eindeutig erkennbar, dass das Seitenschiff, trotz gleicher Höhe zum Hauptschiff, durch die breiten Scheidbögen abgetrennt wirkt. Zwar werden die einzelnen Joche nicht durch stark profilierte Gurtbögen voneinander geschieden, es lassen sich aber dennoch einzelne Raumkompartimente in den Seitenschiffsjochen wahrnehmen – sprich jedes Joch bildet einen für sich eigenständigen Raum. Der Dienstapparat wird nämlich nicht wie im Chor und Hauptschiff (Abb. 20) bis auf den Boden herabgeführt, sondern endet im Seitenschiff knapp unter den Fenstersohlbänken. Die einzelnen Gewölbeansätze ruhen hier auf Konsolen und wirken so wie eingehängte Baldachine (Abb. 16). Dieser Eindruck wird noch einmal durch die nach innen gezogenen Strebepfeiler verstärkt. Denn zwischen diesen raumtrennenden Elementen sind unter Blendarkaden Nischen errichtet, die in ihrer Form an Altarciborien erinnern und mit den gegenüberliegenden Arkaden 55 Siehe hierzu ausführlich ebd.

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22 Mainz, Dom, Kapellen des Südseitenschiffs von außen.

23 Mainz, Dom, Ansicht der Nordseite nach 1767.

korrespondieren. Bedenkt man nun noch, dass einst in jedem Joch ein Altar gestanden haben könnte, wäre hierdurch die Wirkung des Seitenschiffs als ein Raum, der sich gewissermaßen aus einzelnen Kapellen zusammensetzt, zusätzlich betont worden. Die Eigenständigkeit der einzelnen Seitenschiffsjoche bestätigt sich dann auch am Außenbau. So hat jedes Joch ein eigenes Satteldach (Abb. 21). Die Satteldächer schneiden dabei scharf in den Dachraum des Hauptschiffs ein und enden weit unterhalb der Firsthöhe, sodass von außen betrachtet die innere Struktur von zwei gleich hohen Schiffen nicht in Erscheinung tritt. Dass bei Hallenkirchen durchaus andere Dachformen möglich sind, zeigen etwa die zeitlich etwas früher entstandenen Hallenkirchen von St. Stephan oder St. Quintin in der nahegelegenen Bischofsstadt Mainz, die entweder unter einem gemeinsamen Dach (St. Quintin) untergebracht sind oder pro Joch ein eigenständiges, bis zur Firsthöhe reichendes Walmdach (St. Stephan) aufweisen. In die Giebel der Seitenschiffsdächer in Andernach sind zusätzlich Okuli eingefügt, wodurch die einzelnen Zwickel wie reduzierte Wimperge erscheinen, denen lediglich der gotische Schmuck aus filigranem Maßwerk, Fialen und Krabben fehlt. In der Fernsicht ist hierdurch eine schlichte, mit den franziskanischen Baustatuten konforme Schaufront entstanden. Durch diesen architektonischen Kunstgriff wird schließlich der Eindruck von Einsatzkapellen erneut

verstärkt, ähnlich jenem Konzept, wie es beispielweise ab 1275 am Mainzer Dom verwirklicht wurde (Abb. 22, 23). Ob die Franziskanerkirche in Oberwesel im Seitenschiff ebenfalls auf Konsolen ruhende, jedes Einzeljoch betonende Gewölbe aufwies und auf diese Weise zusammen mit den Nischen das Seitenschiff in kapellenartige Teilräume verwandelte, kann zwar nicht mehr bestätigt, jedoch mit aller gebotenen Vorsicht angenommen werden, da der Chor diese Konstruktionsweise aufweist. Auch über die Gestaltung der Dachformen sind nur Mutmaßungen möglich. Eine 1812 von F. Frisch auf Grundlage von Christian Georg Schütz angefertigte Stadtansicht Oberwesels (Abb. 24) zeigt, dass auch in Oberwesel mit Satteldächern über den einzelnen Seitenschiffsjochen zu rechnen ist. Auch hier wurde vorrausichtlich eine Schaufront ausgebildet, die sich dem Betrachter, der rheinaufwärts die Stadt passierte, zeigte. Die am Außenbau eigenständig wirkenden Joche in Verbindung mit den innenliegenden Nischen können somit wie ein architektonisches Zitat von echten, in Wirklichkeit aufgrund des durchgehenden Seitenschiffsraums so aber nicht vorhandenen Einsatzkapellen verstanden werden – eine Gestaltung, die in ihrer Reduktionsbestrebung letztlich immer noch dem Armutsgebot der Bettelorden Rechnung trug. Inwieweit für die Bauform des einzelnen Seitenschiffs und seiner besonderen (Kapellen-) Funktion

Seitenschiff oder Kapellenanbau?

199

letztlich die Trierer Franziskanerkirche als Vorbild diente – immerhin gehörten die Konvente in Andernach und Oberwesel, wie dargelegt, zur Kustodie Trier und wurden voraussichtlich ebenfalls von dort aus gegründet – kann nicht eindeutig beantwortet werden. So ist eine exakte Datierung der einzelnen Bauten aufgrund fehlender schriftlicher Quellen schwierig und eine eindeutige Chronologie der Kirchenbauten daher nicht möglich. Während die Zweischiffigkeit der Franziskanerkirchen in Andernach und Trier auf Um- bzw. Neubauten zurückgeht, ist die Zweischiffigkeit der Kirche in Oberwesel höchstwahrscheinlich das Ergebnis eines Planwechsels im Bauverlauf. Ob dieser aber nun durch Trier oder aber durch Andernach angestoßen wurde, kann nach derzeitigem Forschungsstand nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden. Die Beantwortung dieser Frage bildet somit ein weiteres Desiderat im Rahmen der genauen Untersuchung des Phänomens der asymmetrisch-zweischiffigen Bettelordenskirchen am Mittelrhein, für deren vereinzeltes Seitenschiff zumindest die Bezüge zur Form und Funktion von Stifterkapellen im vorliegenden Beitrag aufgezeigt werden konnten. 24 Oberwesel, Stadtansicht von 1812.

Yves Gallet

Mikroarchitektur und Kulturtransfer zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340, am Beispiel des Goldenen Altars zu Oberwesel

Einleitend möchte ich daran erinnern, dass die Rayonnantgotik, als sie gegen Mitte des 13. Jahrhunderts im Rheintal erscheint, französische Vorbilder aufgreift und nachahmt. Bekannterweise liegen diese Vorbilder etwa für Straßburg in Paris und der Champagne, während Köln hauptsächlich auf pikardische Bauten zurückzuführen ist. Die spätere Entwicklung des Rayonnantstils zwischen Straßburg und Köln wird hingegen in der Regel als eine autonome Fortentwicklung gesehen: die Bauhütten der Kathedralen von Straßburg, Köln, Mainz usw. hätten die Ideen und das Formenrepertoire, die sie in den 1240er Jahren rezipierten, eigenständig weiter entwickelt, aber nunmehr ohne direkte Kontakte zu den Bauten Nordfrankreichs.1 Es gibt hingegen Gründe, die dafürsprechen, dass es Kontakte zwischen den Kathedralbaustellen Nordfrankreichs mit den deutschen Bauhütten zumindest noch bis in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts gab. Möglicherweise handelte es sich dabei nicht mehr um direkte, sondern wohl eher um indirekte Kontakte, die durch Bauzeichnungen vermittelt wurden. Dies legt zumindest der mit der Nummer 21 versehene Riss des Musée de l’Œuvre Notre-Dame in Straßburg nahe, der auf dem Recto den Grundriss des Chors von Notre-Dame de Paris in den 1320er Jahren zeigt und auf dem Verso den Grundriss des Chors der Kathedrale von

Zuerst möchte ich mich bei Prof. Dr. Matthias Müller und Dr. Dr. Hauke Horn, Organisatoren der Tagung Gotische Architektur am Mittelrhein. Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch (Mainz, Nov. 2016), für die Einladung bedanken. Ich nutze auch die Gelegenheit, um ein herzliches Dankeschön an alle Kollegen zu richten, die ihre Gedanken über das Thema der Gotikrezeption am Mittelrhein mitgeteilt haben. Ein weiterer Dank gilt meinem Kollegen Markus Schlicht in Bordeaux für die Hilfe bei der Übersetzung dieses Vortrags aus dem Französischen. 1 Siehe z. B. Norbert Nussbaum, Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik, Darmstadt 1994.

Orléans.2 Orléans wurde 1287 begonnen und der Bau wurde wie der Pariser Chor im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts vollendet. Allerdings sind die Belege derartiger Kontakte zwischen dem Rheinland und Nordfrankreich selten. Um die Existenz solcher Kontakte zu untermauern, müssen wir daher andere Werke befragen. Diese Werke, die in anderen Techniken sowie Materialien ausgeführt wurden, können uns mehr über den künstlerischen Austausch dieser Zeit im Rheintal sagen. Dies ist das Ziel meines Beitrags, der sich auf die nähere Untersuchung eines Beispiels aus dem Bereich der Mikroarchitektur stützt: den Goldaltar der Liebfrauenkirche in Oberwesel (Taf. 35). Dieses beeindruckende, vergoldete und polychrome Holzretabel steht heute in der Apsis der Liebfrauenkirche, auf dem Hochaltar. Die Kirche ist in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden. Der Baubeginn ist auf 1308 datiert und die Chorweihe ist für 1331 urkundlich belegt. Das Langhaus und der Westturm sind später erbaut worden. Der Altarschrein wurde dort erbaut. Vielleicht war er bei der Chorweihe 1331 noch nicht fertiggestellt, entgegen der Ansicht Verena Kessels3 ist er wahrscheinlich um 1340/1350 entstanden, wie Eduard Sebald vorgeschlagen hat.4

2 Yves Gallet, „Le dessin 21 de l’œuvre Notre-Dame: un projet de chevet pour la cathédrale de Strasbourg?“, in: Bulletin de la cathédrale de Strasbourg, Bd. 29, 2010, S. 115–146. 3 Verena Kessel, „The High Gothic Liturgical Furnishings of the Church of Our Lady (Liebfrauenkirche) in Oberwesel“, in: Mainz and the Middle Rhine Valley. Medieval Art, Architecture and Archaeology, hg. von Alexandra Gajewski/Ute Engel (The British Archaeological Association Conference Transactions, 30), Leeds 2007, S. 193–203; dies., Erzbischof Balduin von Trier (1285–1354). Kunst, Herrschaft und Spiritualität im Mittelalter, Kliomedia 2012, S. 299, 331–332. 4 Eduard Sebald, „Die Liebfrauenkirche in Oberwesel – ein Kirchenbau zwischen historischer Bauforschung und historischer Forschung“, in: Architectura. Zeitschrift für Geschichte der Baukunst/Journal of the History of Architecture, 39, 2009, S. 159–170.

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Yves Gallet

Das Retabel misst eine Höhe von 2,45 m und bei offenen Flügeln eine Breite von 6,60 m. Die Grundstruktur weist ein kompliziertes inhaltliches Programm auf, das in zwei Registern aufgebaut ist. Insgesamt sind im unteren Geschoss 28 Arkaden angebracht, davon vierzehn im Mittelschrein und jeweils sieben auf den Flügeln. Unter jeder Arkade steht eine Statuette. Auf dem linken Seitenflügel sind zwei Engeln, Adam und Eva, Abraham, Aaron und Melchizedek (ante legem / vor dem Gesetz) zu sehen. Der rechte Flügel zeigt ebenfalls zwei Engel sowie drei Propheten, Moses und die Heilige Anna (sub lege / unter dem Gesetz). Auf dem Mittelteil (sub gratia / unter der Gnade) sind rechts die Kindheitsgeschichte (Johannes der Täufer, die Verkündigung Mariä, die Heilige Drei Könige, Jungfrau mit Kind) und links die Passionsgeschichte (Christus am Ölberg, Verspottung, Geißelung, Kreuztragung, Kreuzigung, Kreuzabnahme und Grablegung) dargestellt. Oben erscheinen in plastischer Form sieben Bischöfe auf dem linken Flügel und sieben Heilige auf dem rechten Flügel. Im Mittelschrein umgeben die zwölf Apostel eine Marienkrönung, die die Mittelarkade einnimmt. Uns werden im Folgenden vor allem die dreizehn Rosen in den Tympana der Arkaden beschäftigen. Es ließe sich viel über die Wahl von Rayonnantrosen zum Schmuck dieses “Himmelsregisters” und damit über die anagogische Symbolik dieser Zierformen sagen. Im Rahmen meines Beitrags möchte ich mich aber auf die Analyse der geometrischen Komposition dieser Rosen beschränken, die jeweils verschiedene Muster zeigen.5 Die Identifizierung ihrer Modelle ist lange Zeit in der Forschung zum Oberweseler Retabel vernachlässigt worden. Tatsächlich aber ist dieser Aspekt nicht unwichtig. Meistens nämlich ist die Maßwerkzeichnung der Rosen nicht nur eine pure Erfindung, sondern greift auch tatsächlich in der Architektur existierende Kompositionen auf. Dies wirft die Frage nach der “culture artistique” – das heißt den

Kenntnissen der Künstler auf dem Gebiet der Kunst – auf, die dieses Retabel ausgeführt haben. Drei der Rosenkompositionen erinnern an Bauten des Rheintals, und zwar an die Katharinenkirche in Oppenheim und den Kölner Dom. Die Rose Nr. 10 (Abb. 1) mit ihren fünf großen Blütenblättern greift die Zeichnung der Rose auf, die in Oppenheim ins letzte Langhausjoch des südlichen Seitenschiffs eingesetzt wurde (Abb. 2).6 Die Rosen Nr. 3 und 4 des Mittelschreins (Abb. 3) erinnern mit ihrem Dreistrahlmotiv an eine andere Oppenheimer Rose: sie befindet sich im ersten Joch des südlichen Seitenschiffs (Taf. 44). Das gleiche Motiv tritt auch am Kölner Dom auf, und zwar im Wimperg des Petersportals, das in den Südturm der Westfassade führt. Die Rose Nr. 5 (Abb. 4) und ihr symmetrisches Pendant, die Rose Nr. 6, im Randbereich des Mittelschreins, zeigen ein “Windmühlenflügel”-Motiv mit sechs sich überkreuzenden Doppellanzetten, die um einen zentralen Sechspass gruppiert sind. Dieses Motiv ist mehrmals im Rheintal aufgegriffen worden, etwa zur gleichen Zeit wie das Oberweseler Retabel. Es lässt sich z. B. im Elsass bei den Architekturbaldachinen der Glasfenster der ehemaligen Dominikanerkirche in Straßburg oder bei Sankt Martin in Colmar in den beiden vor 1350 entstandenen Rosen, die in die Chormauern eingelassen sind, finden: die nördliche Rose des ersten Jochs (Abb. 5) und die Blendrose mit aufgemaltem Maßwerk, die ihr gegenüberliegt. Frühere Beispiele lassen sich allerdings in Frankreich ausmachen, so etwa die kleine Rose, die ins Hauptfenster der Südquerhausfassade der Kathedrale von Meaux eingelassen ist; laut Peter Kurmann handelt es sich hierbei um das früheste erhaltene Beispiel dieses Motivs.7 Die Rose Nr. 7 (Abb. 6) und ihr symmetrisches Gegenüber, die Nr. 8, das heißt die direkt an den Mittelschrein grenzenden Rosen der Seitenflügel, sind exakte Imitationen der Südquerhausrose der Pariser Kathedrale, die bekanntlich von Pierre de Montreuil

5 Den Richtlinien des Corpus Vitrearum entsprechend werden die Rosen von der Achsenrose versehen. Auf der Nordseite werden sie von rechts nach links mit ungeraden Nummern (1, 3, 5 usw.) und auf der Südseite von links nach rechts mit geraden Nummern (2, 4, 6 usw.) versehen. Die Rose im Zentrum des Retabels wird mit „0“ bezeichnet.

6 Bernhard Schütz, Die Katharinenkirche in Oppenheim, Berlin/ New York 1982 (Beiträge zur Kunstgeschichte, 17), S. 212; Uwe Gast, Die Mittelalterlichen Glasmalereien in Oppenheim, Rheinund Süd Hessen, Berlin 2011 (CVMA Deutschland Bd. III–1), S. 312 und S. 328. 7 Peter Kurmann, La cathédrale Saint-Étienne de Meaux. Étude architecturale, Paris/Genf 1971, S. 131.

Mikroarchitektur und Kulturtransfer zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340, am Beispiel des Goldenen Altars zu Oberwesel

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1 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar, Rose Nr. 10.

2 Oppenheim, Katharinenkirche, Langhaus, Rose im letzten Joch des südlichen Seitenschiffs.

3 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar, Rose Nr. 3.

4 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar, Rose Nr. 5.

5 Colmar (Frankreich), Sankt Martin, Rose des ersten Jochs an der Nordwand des Chors.

6 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar, Rose Nr. 7.

7 Paris (Frankreich), Kathedrale Notre-Dame, Rose des Südquerhauses.

8 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar, Rose Nr. 9.

9 Rouen (Frankreich), Kathedrale Notre-Dame, Rose des Südquerhauses.

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Yves Gallet

entworfen wurde (Abb. 7), beziehungsweise von einer ihrer zahlreichen Imitationen. Der einzige Unterschied besteht in der Zahl der Lanzetten der Rose: zwölf in Paris, zehn in Oberwesel. Die Rose Nr. 9 (Abb. 8) im Zentrum des linken Flügels ist ebenfalls eine Variation eines französischen Motivs. Genauer gesagt stammt es aus der Normandie. Diese Rose besteht aus zehn abwechselnd zentrifugalen und zentripetalen Blütenblättern. Fast hat man den Eindruck, der Architekt hätte eine Rose in mehrere Einzelteile zerlegt und anschließend die Blütenblätter ohne organische Logik neu kombiniert. Das früheste Vergleichsbeispiel stammt von der Südquerhausfassade der Kathedrale von Rouen, dem sogenannten Portail de la Calende, aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts (Abb. 9).8 Ansonsten gibt es nur wenig Vergleichbares. Häufig wird die Westrose der Lorenzkirche in Nürnberg erwähnt, obwohl sie deutlich später entstanden ist. Die entsprechende Rose in Oberwesel ist also umso interessanter. Der hauptsächliche Unterschied zwischen den Beispielen in Rouen und Oberwesel besteht in der Zahl der Lanzetten: zweimal sechs Doppellanzetten in Rouen, nur zweimal fünf Doppellanzetten in Oberwesel. Die Bevorzugung von Kompositionen mit fünf Symmetrieachsen ist in Oberwesel häufig. Sie zeichnet auch die Rose im Zentrum des Retabels aus, auf die ich nun näher eingehen werde. Diese Rose (Abb. 10) ist wohl die interessanteste Figuration, sowohl aufgrund ihrer zentralen Position als auch aufgrund ihrer geometrischen Zeichnung. Konstruiert ist sie um ein zentral stehendes Fünfblatt mit mehrfach genasten Pässen. Aus diesem Kern entwickeln sich fünf lange Lanzettpaare mit parallelen Schenkeln. Zwischen den Lanzettpaaren mit gerade geführten Schenkeln erscheinen jeweils zwei Lanzetten mit radial gestellten Schenkeln. Diese Einteilung in fünfzehn Lanzetten sowie die Abfolge von einer Lanzette mit parallelen Schenkeln und zwei Lanzetten mit radialen Schenkeln haben ein präzises Vorbild: die Nordquerhausrose der Kathedrale von Amiens, die aus der Zeit um 1320 stammt (Abb. 11). Die Ähnlichkeiten treten noch deutlicher in den 8 Markus Schlicht, Un chantier majeur de la fin du Moyen Âge. La cathédrale de Rouen vers 1300, Caen 2005 (Mémoires de la Société des Antiquaires de Normandie, Bd. XLI).

Details und den Sekundärformen der Rose zutage. Die zentrifugalen Lanzetten umschließen nämlich einen kleinen Strahl, über dem zwei größere Strahle und schließlich ein Vierpass erscheinen. Genau diese Elemente finden wir, wenn auch vereinfacht und mit vereinheitlichten Proportionen, in den beiden Blattkränzen der Oberweseler Rose wieder. Bemerkenswert erscheint vor allem, dass die Lanzetten mit geraden Schenkeln im unteren Bereich ein Dreieck mit einem gestreckten Dreiblatt enthalten. Wenn man in ­Amiens das zentrale Fünfeck genauer betrachtet, findet man auch den mehrfach genasten Fünfpass der Oberweseler Rose wieder. Der hauptsächliche Unterschied zwischen den beiden Rosen besteht darin, dass die Komposition von Oberwesel gegenüber derjenigen in Amiens auf dem Kopf steht; trotzdem sind die geometrischen Muster der beiden Rosen fast deckungsgleich. Wichtig ist es nun, festzuhalten, dass sämtliche Vorbilder der Oberweseler Rosen erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind. Das heißt also sie entstanden zu einem Zeitpunkt der nach dem als gemeinhin angenommenem Ende der Rezeption französisch, hochgotischer Formen liegt. Daraus ist zu schließen, dass Beziehungen zu französischen Bauten noch wesentlich länger bestanden haben und zwar mindestens bis in das erste Drittel des 14. Jahrhunderts hinein. Aber welcher Art waren diese Kontakte und Beziehungen? Wie wurde die Kenntnis nicht regionaler Modelle, sondern weit entfernt liegender Bauten in Paris, in der Pikardie (Amiens) oder in der Normandie (Rouen) vermittelt? Wie ist andererseits die Verkleinerung von den monumentalen Rosen der Kathedralfassaden zu den Mikroarchitektur-Rosen des Oberweseler Retabels bewerkstelligt worden? Man könnte sich vorstellen, dass der Auftraggeber, der Entwerfer und/oder die mit der Ausführung des Retabels beauftragten Künstler die Kathedrale von Amiens besichtigt haben und dass der ein oder andere von ihnen die brillante Komposition der Nordrose besonders bewundert hat. Man müsste dann aber unterstellen, dass diese Personen auch die Kathedralen von Paris und Rouen, zudem SaintOuen in Rouen und noch weitere Bauwerke aus eigener Erfahrung kannten. Natürlich lässt sich dies nicht völlig ausschließen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass

Mikroarchitektur und Kulturtransfer zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340, am Beispiel des Goldenen Altars zu Oberwesel

10 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar, Rose Nr. 0.

11 Amiens (Frankreich), Kathedrale Notre-Dame, Rose des Nordquerhauses.

die Künstler über Modelle verfügten: entweder Architekturmodelle, Werke der Mikroarchitektur, oder aber Musterbücher, vielleicht auch Baurisse. Die Hypothese dreidimensionaler Modelle scheint kaum mehr als eine theoretische Möglichkeit zu sein, denn kein einziges dieser Modelle hat sich aus der Zeit vor der Spätgotik erhalten. Falls solche Modelle dennoch existiert haben sollten, wie Peter Kurmann dies für die Kathedralen von Sens und Bamberg unterstellt,9 handelte es sich wohl stets um Gesamtmodelle eines Baus und nicht um Modelle von Bauteilen oder Bauelementen. Leichter vorstellen lässt sich die Existenz von Mikroarchitekturen als Vermittlungsglieder. Paul Crossley hat bereits versucht, dies anhand der

Wernerkapelle in Bacharach darzulegen.10 Er verglich den Dreikonchen-Grundriss Bacharachs mit dem Chorschluss auf einem der Baldachine des Apostelzyklus im Kölner Dom. Doch außer der Tatsache, dass die Genese der Wernerkapelle sicher auf anderem Wege zustande kam,11 ist festzuhalten, dass kein einziger Sockel, kein einziger Baldachin, kein einziger Reliquienschrein (außer dem von SainteGertrude in Nivelles) und kein einziger Flügelaltar aus der Zeit vor der Entstehung des Oberweseler Goldaltars (z. B. Cismar und Doberan)12 eine große Rayonnantrose hinreichend detailliert wiedergibt, um ihrerseits als Vorbild für die Künstler in Ober­ wesel dienen zu können.

9 Peter Kurmann, „Mikroarchitektur im 13. Jahrhundert: Zur Frage nach Architekturmodellen zur Zeit der Hochgotik“, in: Mikroarchitektur im Mittelalter. Ein gattungsübergreifendes Phänomen zwischen Realität und Imagination (Beiträge der gleichnamigen Tagung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26. bis 29. Oktober 2005), hg. von Christine Kratzke/Uwe Albrecht, Leipzig 2008, S. 83–97; Bernd Röder, „Kleinarchitekturen als Schlüssel zum Verständnis gebauter Architektur. Der Marienbaldachin des Bamberger Domes, die Baldachine am Nordquerhaus der Reimser Kathedrale und die Bamberger Westtürme“, in: ebd., S. 99–108.

10 Paul Crossley, „The Wernerkapelle in Bacharach“, in: Mainz and the Middle Rhine Valley (wie Anm. 4), S. 167–192. 11 Yves Gallet, „A Medieval Ground Plan of the Wernerkapelle at Bacharach: Plan Number 6 verso in the Musée de l’Œuvre Notre-Dame at Strasbourg“, in: Architecture, Liturgy and Identity. Liber amicorum Paul Crossley, hg. von Zoë Opačić/Achim Timmermann, Turnhout/Brepols 2011 (Studies in Gothic Art, I), S. 147–156. 12 Donald L. Ehresmann, „Some Observations on the Role of Liturgy in the Early Winged Altarpiece“, in: The Art Bulletin, Jg. 64, 1982, S. 359–369; ders., „The Iconographic Program of the Doberan Altarpiece“, in: Cistercian Studies Series, Jg. 89, 1987, S. 178–197; ders., „The Iconography of the Cismar Altarpiece and the Role of Relics in an Early Winged Altarpiece“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Jg. 64, 2001, S. 1–36.

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Yves Gallet

12 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Rose des Südportals.

13 Mainzer Dom, Maßwerkformen im westlichen Flügel des Kreuzgangs.

Musterbücher erscheinen damit verglichen wahrscheinlicher. Zum einen, weil wir wissen, dass solche Musterbücher tatsächlich existiert haben, zum anderen sind darin auch tatsächlich Rosen abgebildet worden. Diese Hypothese schließt natürlich nicht die direkte Kenntnis französischer Bauten aus. Die in Oberwesel tätigen Künstler hätten also, wie Villard de Honnecourt dies in Chartres und Lausanne tat, die sie interessierenden Architekturdetails vor Ort zeichnen können. Am überzeugendsten erscheint allerdings die Möglichkeit, dass die Oberweseler Künstler nicht über mehr oder minder genaue, vor Ort ausgeführte Skizzen verfügten, sondern über präzise Bauzeichnungen. Denn alle charakteristischen Motive der französischen Rosen, selbst bis ins Detail hinein, lassen sich in Oberwesel nachweisen. Da nur eine Architekturzeichnung eine derart genaue Kopie ermöglicht, ebenso wie die Maßstabsreduzierung bis hin zur Miniaturisierung, liegt ein solcher Schluss nahe – nämlich die Existenz präziser Architekturzeichnungen. Genauer gesagt handelte es sich wohl um eine Sammlung französischer und deutscher Rayonnantrosen aus dem Zeitraum von 1300 bis 1330. Bemerkenswert ist nunmehr, dass das durchlichtete Tympanon des Südportals der Liebfrauenkirche mit einer Rose versehen ist, deren Komposition mit abwechselnd zentrifugalen und zentripetalen

Lanzetten an die Roueneser Südquerhausrose erinnert, wenn auch die Details nicht übereinstimmen (Abb. 12). Dies ist ein zusätzliches Argument, um die Existenz derartiger Architekturzeichnungen zu postulieren. Tympanon und Goldaltar illustrieren zugleich die Durchlässigkeit von Mikro- und Makroarchitektur. Meinen Beitrag möchte ich mit der Frage nach der Kunstlandschaft beenden. Wenn es tatsächlich Architekturzeichungen waren, die von Frankreich ins Rheintal gelangten, und nicht die Künstler selbst, muss man sich fragen, wo die Oberweseler Holzschnitzer diese Zeichnungen hätten konsultieren und kopieren können. Hier sind wohl vor allem die großen Bauhütten der weiteren Umgebung – sprich Köln, Straßburg, Mainz und Trier – in Betracht zu ziehen. Köln und Straßburg scheinen auf den ersten Blick die wahrscheinlichsten Kandidaten zu sein. Dies vor allem aufgrund ihrer herausragenden Rolle, die sie für die Kunstproduktion im Rheingebiet gespielt haben, aber auch aufgrund ihrer berühmten Sammlungen von Baurissen.13 Und, wie dies 13 Siehe die neueste von Hans Böker herausgegebene Edition: Johann Josef Böker/Anne-Christine Brehm/Julian Hanschke/ Jean-Sébastien Sauvé, Architektur der Gotik, Bd. 3: Rheinlande, Salzburg 2013.

Mikroarchitektur und Kulturtransfer zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340, am Beispiel des Goldenen Altars zu Oberwesel

Winfried Wilhelmy, Hans Peter Hilger, Christa Schulze-Senger und Eduard Sebald unterstrichen haben, waren in Köln mehrere Werkstätten für Altarretabel ansässig, wie jenes der Klarissen in Köln oder dasjenige, das sich in der Zisterzienserabtei Marienstatt befindet.14 Beide Retabel sind zwar später entstanden als die Oberweseler, doch sind sie hinsichtlich ihrer Gesamtstruktur und ihres Dekors sehr ähnlich – jedoch ohne die Rosen, was ein Unterschied von großer Bedeutung ist. Für Straßburg, lässt sich ein Einfluss der Stadt bis ins mittlere Rheintal und die Gegend um Oberwesel nachweisen, wie dies etwa die Katharinenkirche in Oppenheim, aber auch die Wernerkapelle in Bacharach belegen. Eine Planhälfte der Bacharachkapelle konnte bekanntermaßen unter den Baurissen der Straßburger Hütte nachgewiesen werden.15 Mainz und Trier könnten ebenfalls in Frage kommen. Mainz vor allem, weil die Stadt ein dynamisches künstlerisches Zentrum war, das die neuere Forschung zu rehabilitieren begonnen hat, aber auch, weil Oberwesel dem dortigen Erzbistum unterstand.16 Im Kreuzgang vom Mainzer Dom sind die Formen des Oberweseler Retabels noch später benutzt worden (Abb. 13). Auch Trier kann nicht ausgeschlossen werden. Wenn auch die Stadt weniger bekannt ist für ihr künstlerisches Schaffen im 14. Jahrhundert, so war sie doch ein wichtiges Zentrum auf institutionellem, religiösem und politischem Gebiet. 1309, ein Jahr nach Baubeginn der Liebfrauenkirche, wurde Oberwesel dem Erzbistum Trier unterstellt. Damals hatte der berühmte Balduin von Luxemburg (1307–1354) den erzbischöflichen Stuhl in Trier inne; er war zugleich 1320 und noch einmal 1328 zum 14 Winfried Wilhelmy, „Der Marienstätter Altar“, in: Hochgotischer Dialog. Die Skulpturen der Hochaltäre von Marienstatt und Oberwesel im Vergleich (Begleitbuch zur Ausstellung im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Mainz), Worms 1993, S. 11–48; Hans Peter Hilger, „Der Clarenaltar im Dom zu Köln“, in: Kölner Domblatt, Jg. 43, 1978, S. 11–22; Christa Schulze-Senger, „Der Clarenaltar im Dom zu Köln. Bemerken über Konzeption, technischen Aufbau, Gestaltung und gegenwärtige Restaurierung eines Kölner Gross-Altars“, in: ebd., S. 23–36. Siehe auch Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2: Ehemaliger Kreis St. Goar, 2: Stadt Oberwesel, bearb. von Eduard Sebald, München/Berlin 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9), Bd. I, S. 224ff. 15 Siehe Anm. 12. 16 Crossley (wie Anm. 11), S. 178–185.

Administrator von Mainz gewählt worden und übte dieses Amt von 1328 bis 1336/1337 aus.17 Wie bereits erwähnt, hat er die Liebfrauenkirche 1331 geweiht und wird allgemein als Stifter oder Auftraggeber des Retabels betrachtet. Der Oberweseler Goldaltar wirft also ein neues Licht auf den “Kunsttransfer” zwischen Frankreich und dem Reich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Rosen des oberen Registers belegen die genaue Kenntnis der Rayonnantrosen Nordfrankreichs, und dies zumindest bis in die Jahre 1330–1340. Wo und wie konnten die in Oberwesel tätigen Künstler die nötigen Kenntnisse für die Ausführung der Zierformen des Altars erlangen? Ohne die Hypothese eines direkten Kontakts mit den französischen Bauten ausschließen zu wollen, glaube ich davon ausgehen zu können, dass die Kenntnis der Vorbilder durch grafische Medien erworben wurde, genauer gesagt durch Architekturzeichnungen. Diese konnten in der einen oder anderen großen Bauhütte des Rheinlands konsultiert werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich allerdings nicht sagen, welche der Bauhütten die Künstler des Oberweseler Altars tatsächlich aufgesucht haben. Bekanntlich gibt es solche Plansammlungen noch heute in Straßburg und Köln. Der Oberweseler Fall lässt vermuten, dass diese Sammlungen im Mittelalter umfangreicher waren und dass es dort neben Grundrissen, Planhälften und Fassadenaufrissen auch Architekturdetails herausragender Bauten gegeben hat. Schon Villard de Honnecourt hatte bereits die Rosen von Chartres und Lausanne gezeichnet. Dies muss auch für die großen gotischen Rosen um 1300 der Fall gewesen sein, vielleicht weil deren Entwerfer um die Wende zum 14. Jahrhundert die ausschließlich strahlenförmigen Kompositionen aufgaben. Die neuen geometrischen Muster und ihr komplexer Steinschnitt machten diese Rosen gerade zu jenen Bravourstücken, die wir noch heute bewundern.

17 Kessel (wie Anm. 4), 2012, S. 311–342. Siehe auch das Kapitel „Balduin als Auftraggeber“.

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Catharina Lathomus

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

Einleitung und Forschungsstand Einleitung

langjährigen Grabungsarbeiten, welche v. a. neue Erkenntnisse zu den karolingischen Vorgängerbauten brachten.

Die ehemalige Stifts- und heutige Pfarrkirche St. Kastor am Deutschen Eck gilt als ältestes erhaltenes Kirchenbauwerk der Stadt Koblenz und als eines der Hauptwerke der Romanik am Mittelrhein.1 Aufgrund des umfassend erhaltenen Baubestands sowie Teile der Ausstattung ist die Kirche von großer (kunst)historischer Bedeutung. Umso mehr erstaunt es, dass die Talstation der für die Koblenzer Bundesgartenschau 2011 erbauten Seilbahn noch immer unweit von der Chorfassade von St. Kastor steht, die Sicht auf diese beschränkt und nun eventuell sogar noch bis in das Jahr 2031 Bestand haben soll.2 Insgesamt zeigt sich aber auch die unzureichende Würdigung dieses bedeutenden Baudenkmals auf, welches eine reiche Baugeschichte von der karolingischen Zeit bis in das Spätmittelalter aufweist und trotzdem seit den 1930er Jahren nur in zwei nennenswerten Monographien gewürdigt wurde. Die erste hiervon verfasste Fritz Michel bereits 19373, die zweite erschien unter der Regie von Günther Stanzl 19984 als Ergebnis der

Über die Gründung der ehemaligen Stiftskirche St. Kastor außerhalb der Stadtmauern von „Confluentes“ im 9. Jahrhundert berichtet die Vita Hludowici des Bischofs Thegan.5 Die Quellen des Hoch- und Spätmittelalters beschäftigen sich vorrangig mit dem Stiftsleben. So ist das Memorienbuch6 von St. Kastor überliefert, eine große Zahl von Urkunden (aus den Jahren 875–1500)7 und Rechnungen8 sowie die „Compositio“9, welche das Stiftsleben ab dem 12. Jahrhundert wiedergibt. Weitere Archivalien finden sich u. a. im Pfarrarchiv von St. Kastor, im Landeshauptarchiv (LHA) Koblenz, sowie in der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (GDKE). Kunsthistorische Monographien über St. Kastor entstanden vorwiegend in der 2. Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hervorzuheben ist dieje-

1 Der vorliegende Aufsatz fasst stark verkürzt die Ergebnisse meiner im Wintersemester 2012/13 beim Kunsthistorischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereichten Magisterarbeit zusammen. Die Arbeit kann in der Bibliothek der GDKE, Abt. Landesdenkmalpflege in Mainz eingesehen werden. 2 Ursprünglich sollte die Seilbahn 2013 abgebaut werden, jedoch wurde die Genehmigung mehrere Male durch die UNESCO verlängert. https://www.swr.de/swraktuell/rp/koblenz/politiker-setzen-sich-fuer-die-verlaengerung-der-laufzeit-der-koblenzer-seilbahn-ein/-/id=1642/did=21419912/ nid=1642/1fqebwd/index.html [Zugriff: 29.04.2018]. 3 Fritz Michel, „Ehemalige Stiftskirche, heute katholische Pfarrkirche St. Kastor“, in: Die Kunstdenkmäler der Stadt Koblenz, hg. von Paul Clemen, Bd. 1: Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Koblenz, Düsseldorf 1937 (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz), S. 75–155. 4 Günther Stanzl, St. Kastor in Koblenz. Ausgrabungen und Bauuntersuchungen 1985–1990, mit Beiträgen von Walburg Boppert [u. a.], hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz

in Mainz, Worms 1998 (Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Forschungsberichte, 3). Astronomus: Vita Hludowici imperatoris (Astronomus: Das Leben Kaiser Ludwigs), hg. von Ernst Tremp, Hannover 1995 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum Scholarum separatim editi, 64), S. 256–257. Martina Knichel/Aloys Schmidt, Das Memorienbuch von St. Kastor in Koblenz: Edition und Erläuterung, Mainz 2000. Quellen zur Geschichte des St. Kastorstifts in Koblenz, 2 Bde., bearb. von Aloys von Schmidt, Bd. 1: Urkunden und Regesten (875–1400), Bd. 2: Urkunden und Regesten (1401–1500), Köln und Bonn 1954 und 1974. Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Stiftes St. Kastor in Koblenz, 2 Bde., bearb. von Aloys Schmidt, Bd. 1: Kleinere Rechnungen, Rechnungen der Fabrik, Bd. 2: Rechnungen der Aula, Koblenz 1975–1978 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 23 und 24). Bernd Goldmann, St. Kastor in Koblenz. Untersuchungen zur Verfassungs- und Sozialgeschichte eines mittelalterlichen Stifts, Mainz 1999.

Schriftliche Quellen und der Forschungsstand

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1 St. Kastor, Südostseite.

nige Richters mit seinem in drei Auflagen (1850, 1854, 1868) erschienenen Buch über die Kirche.10 In seiner Dissertation über den Hettischen Gründungsbau von St. Kastor lieferte Busley (1929) interessante Theorien zum karolingischen Vorgängerbau und ließ dabei einige Sondagen ausführen.11 Neben der Monographie über St. Kastor von Reitz (1936)12 sind kleinere

Eigenpublikationen zu nennen, welche vorwiegend von Erben und Liessem geschrieben wurden und einzelne Aspekte der (Bau- bzw. Stifts-) Geschichte darlegen13 sowie die Veröffentlichung von Hoffmann (1995), in welcher er die Restaurierungsgeschichte von St. Kastor im 19. Jahrhundert darstellt.14 Der Forschungsstand zeigt, dass der Bau von St. Kastor

10 Anton Joseph Richter, Die St. Castorkirche zu Coblenz, deren Geschichte, Architektur, Kunstwerke und Denkmale, als Andenken an die Restauration derselben im J. 1848, Koblenz 1850. Ab der zweiten Auflage dann mit abgeändertem Titel: Joseph Anton Richter, Sanct Castor zu Coblenz als Münster, Stift und Pfarrkirche, deren Geschichte (vom 9. bis 19. Jahrhundert), Architectur, Kunstwerke, Denkmale und Restauration, Koblenz 1854 bzw. 1868. 11 Josef Busley, Der hettische Gründungsbau von St. Castor-Koblenz (836). Eine Studie zur karolingischen Baugeschichte, Düsseldorf 1929. 12 Georg Reitz, St. Kastor in Koblenz: Kirche, Stift, Pfarrei in ihrer Geschichte, Koblenz 1936.

13 Pfarrei Koblenz St. Kastor. Dokumentation zum Wiederaufbau nach der Zerstörung im Krieg 1944/45, hg. von der Katholischen Kirchengemeinde St. Kastor, Koblenz 1980; Udo Liessem/ Karlheinz Erben, St. Kastor Koblenz. 200 Jahre Restaurierungen, Koblenz o. J. (1984); Altarweihe in Koblenz St. Kastor. Zum Abschluß der Innenrestaurierung 1985–1990, hg. von der kath. Kirchengemeinde St. Kastor, Koblenz 1990; Karlheinz Erben, Basilika St. Kastor. 25 Jahre Restaurierung, Koblenz 2004. 14 Godehard Hoffmann, Rheinische Romanik. Denkmalpflege in der preußischen Rheinprovinz, Köln 1995 (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland, 33); Weiterhin: Udo Liessem, „Die Restaurierungen von 1800 bis 1933. Zur Geschichte der Denkmalpflege im Rheinland“, in: 200 Jahre Restaurierungen (wie Anm. 13), S. 9–37.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

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bisher meist nur in Teilaspekten Gegenstand der historischen, kunsthistorischen und archäologischen Betrachtungen war.

Einführung in die Thematik Überblick über die Bauphasen

Die heutige Kirche (Abb. 1–3) ist das Ergebnis verschiedener mittelalterlicher Bauepochen, weshalb sie in chronologischer Reihenfolge dargestellt wird. Ein karolingischer Vorgängerbau wurde 836 vom Trierer Erzbischof Hetti geweiht; es handelte es sich hierbei um eine Saalkirche mit Querhaus, Chorumgang und einer Chorscheitelrotunde. Wahrscheinlich war der Kirche im Westen neben einem Eingangsbau mit Rundtürmen ein Atrium vorgelagert. Die nächste Baumaßnahme war die Errichtung des noch bestehenden Westbaus an das karolingische Kirchenschiff, vermutlich im 11. Jahrhundert. Einem Chorneubau in den 1150er Jahren folgte der Bau eines 1208 geweihten, dreischiffigen und flachgedeckten Langhauses. Das karolingische Querhaus blieb hierbei bestehen. Ende des 15. Jahrhunderts wurde schließlich das spätgotische Gewölbe eingezogen. Im 19. Jahrhundert erfolgten mehrere historisierende Restaurierungen.

Der Grundriss

Bei St. Kastor handelt es sich um eine dreischiffige, fünfjochige Pfeilerbasilika mit schmalem Westbau15, einjochigem Querhaus und einer halbrunden Chorapsis mit quadratischem Chorjoch. Das Mittelschiff und die Vierung sind mit Sterngewölben ausgestattet, die Seitenschiffe und die Querhausarme mit Kreuzgraten. Das Querhaus hat die Breite des Mittelschiffs und tritt auf der Südseite leicht aus der Seitenschiffsflucht heraus. 15 Da der umstrittene Begriff „Westwerk“ schwer zu fassen ist, wird hier die neutralere Bezeichnung „Westbau“ verwendet. Zur Definition des Westwerks: Heiko Seidel, Untersuchung zur Entwicklungsgeschichte sakraler Westbaulösungen des kernsächsischen Siedlungsraumes in romanischer Zeit, Phil. Diss., Hannover 2004, S.17–28. Als Internetressource: http://edok01.tib. uni-hannover.de/edoks/e01dh04/388873469.pdf [Zugriff: 16.05.2018]; Dagmar von Schönfeld de Reyes, Westwerkprobleme. Zur Bedeutung der Westwerke in der kunsthistorischen Forschung, Weimar 1999.

2 St. Kastor, Grundriss von Fr. Krause (1921).

Patrozinium und Gründungsgeschichte Der Heiligenvita aus dem 10./12. Jahrhundert zufolge, soll der hl. Kastor sich nach seiner Weihe durch den Trierer Bischof Maximin (329–346) als Einsiedler in Karden an der Mosel niedergelassen haben.16 Die Translation seiner wieder aufgefundenen Gebeine nach Koblenz soll am 11. November 836 erfolgt sein, um sie in der von dem Trierer Erzbischof Hetti errichteten Kirche neu beizusetzen. Acht Tage später soll Kaiser Ludwig der Fromme (814–840) die inzwischen geweihte Kirche besucht und dabei reiche Geschenke dargebracht haben.17 Trotz dieser Nachrichten ist nicht nachvollziehbar, ob es sich bei dem Stift um eine erzbischöfliche oder königliche Gründung handelt und wer das Bauvorhaben finanziert hat. Nicht zu klären ist weiterhin, ob das Gebiet von

16 Ferdinand Pauly, Das Stift St. Kastor in Karden an der Mosel, hg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte, Berlin/New York 1986 (Germania Sacra, N. F. 19. Die Bistümer der Kirchenprovinz Trier. Das Erzbistum Trier, 3), S. 54. 17 Nach Thegan wurde die Kirche am 12. November 836 geweiht, am 19. November erfolgte die Anreise Kaiser Ludwigs. MGH SS rer. Germ. 64, Tremp 1995 (wie Anm. 5), S. 256–257; Die Gesta Treverorum legt die Kirchweihe auf den 9. November 836. Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 80. Letztere stammt allerdings aus dem 11. Jahrhundert, ist stark von dem Text der Vita Hludowici (zu der auch der Bericht Thegans gehört) abhängig und gibt hier wohl falsche Daten an. Goldmann 1999 (wie Anm. 9), S. 33.

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3 St. Kastor, Längsschnitt von Fr. Krause (1921).

St. Kastor zum Krongut gehörte oder Teil des Trierer Erzstifts war, denn der Hof Koblenz selbst wurde erst 1018 durch König Heinrich II. an den Trierer Erzbischof Poppo übertragen. St. Kastor lag aber außerhalb der Stadtmauern.18

18 Anja Ostrowitzki, „Mittelalter am Mittelrhein“, in: Stadt und Burg am Mittelrhein (1000–1600), hg. von Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Landeshauptarchiv Koblenz und Historisches Museum am Strom, Regensburg 2008 (Faszination des Mittelalters, 1), S. 11–26, hier S. 15; Franz-Josef Heyen, „Beobachtungen zur Geschichte des Stifts“, in: Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 224–246, hier S. 235.

Die Saalkirche Erzbischof Hettis aus dem 9. Jahrhundert Baubeschreibung

Von 1985–1990 fanden im Zuge der Innenrestaurierung der Kirche umfassende Grabungen und Untersuchungen, vornehmlich unter der Leitung von Günther Stanzl statt.19 Stanzl rekonstruiert den karolingischen Hetti-Bau (Periode 4a, Abb. 4)20 anhand der Befunde als Saalkirche mit östlichem Querhaus, dessen tiefer liegende Querarme vom Mittelteil abgeschnürt sind. Langhaus und Querhaus waren 19 Bereits im 19. Jahrhundert/Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Boden der Kirche geöffnet, wodurch der Befund teilzerstört wurde. Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 12, 201. 20 Die Maße des Baus betragen: Gesamtlänge 57,3 m, Langhaustiefe 35,2 m, Langhausbreite 12,9 m, Querhausbreite 24,6 m, Querhaustiefe 9,5 m, Durchmesser der Rotunde außen 7,7 m. Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 196.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

gleich hoch, die Höhe lässt sich heutzutage noch an der Wand zwischen Querhaus und Chor ablesen. Im Osten setzt eine halbrunde, leicht eingezogene Apsis direkt an das Querhaus an, welche das gleiche Fußbodenniveau wie dieses aufweist. Ein um die Außenseite der Apsis gelegter halbrunder Chorumgang verbindet den Bau über einen Gang mit einer Chorscheitelrotunde21; diesen Komplex weist Stanzl als Kryptenanlage aus. Im heutigen Bau finden sich noch Teile des alten Querhauses, in welchem ältere Tür- und Fensteröffnungen nachzuvollziehen sind. 22 Die tiefer gelegene Krypta erreichte man über einige Stufen. Die Kirche besaß außen einen sepiafarbenen Verputz mit weißen, aufgemalten Quadern, die Türöffnungen in der westlichen Querhauswand hatten rote Gewände, die Querhausfenster rot-schwarz gestreifte Trichtergewände, die Rotunde war innen weiß getüncht und besaß einen rotgefärbten Estrich. Das heutige Querhaus hat die gleiche Giebelhöhe wie das Langhaus und wirkt einheitlich aus Tuffsteinen gemauert. Im Innern ist das Querhaus leicht erhöht und die Vierung wird von Pfeilern mit Halbsäulenvorlagen getragen. Nach Stanzl gab es im Westen der Anlage einen Torbau, der als Zugang diente. Dieser sei mit der Kirche durch eine Umfassungsmauer beziehungsweise mit den südlich liegenden Stiftsgebäuden verbunden gewesen, wodurch ein Atrium entstand. Ein Torbau ist tatsächlich auf alten Abbildungen im Westen der Kirche sichtbar, das Entstehungsdatum ist jedoch unbekannt. In einer zweiten Bauphase (Periode 4b, Abb. 4), die Stanzl in die 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts datiert, entstanden – oder wurden zumindest angelegt – ein dreiteiliger, breiter Westbau mit runden Flankentürmen sowie Atriumhallen.23 21 Der Grabungsleiter vor Ort, Josef Baulig, zählt die Chorscheitelrotunde zu einer zweiten Bauphase im 10. Jahrhundert. Zum ersten Bau gehörte ihm zufolge nur die Ringkrypta. Josef Baulig, Die Ausgrabung im Chorbereich der St. Kastor-Kirche in Koblenz. Vorläufiger Forschungsbericht zu den Untersuchungen, 1988 (unpubliziert/Planarchiv der GDKE). 22 Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 125. 23 Ebd., S. 197. Als Grundlage für die Rekonstruktion dienen das runde Turmfundament nördlich des Westbaus mit nach Westen hin anschließender Mauer und jene Mauer, welche östlich der westlichen Langhausmauer sitzt und (zumindest) im Norden über die heutigen Seitenschiffe hinausläuft. Der eventuelle Westbau wäre demnach etwas breiter gewesen als der heute vorhandene und das Atrium wesentlich breiter als die Saalkirche.

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4 St. Kastor, nach Grabungen rekonstruierter Grundriss des karolingischen Baus, Periode 4 a – b (nach Stanzl).

5 Nach Grabungen rekonstruierter Grundriss des Hildesheimer Domes, sog. Altfried-Bau.

In der Forschung wurden die Grabungen in St. Kastor hauptsächlich von Jacobsen24 und Binding25 zur Kenntnis genommen und diskutiert. Beide nehmen, obwohl die Grabungsbefunde explizit dagegen sprechen, einen dreischiffigen Bau an und Jacobsen bezweifelt zudem, dass es sich bei dem östlichen Kirchenabschluss um eine Ringkrypta gehandelt hat.26 24 Vorromanische Kirchenbauten, Nachtragsband, hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte, bearb. von Werner Jacobsen [u. a.], München 1991, S. 210–211; Werner Jacobsen, Der Klosterplan von St. Gallen und die karolingische Architektur. Entwicklung und Wandel von Form und Bedeutung im fränkischen Kirchenbau zwischen 751 und 840, Berlin 1992, S. 130–131, S. 296. 25 Günther Binding, Vorromanische Kirchenbauten, Köln 1996 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande. Beiheft XII/3), S. 21, 41 (umgezeichneter Grundriss), S.53. 26 Jacobsen schließt aber einen Saalbau nicht komplett aus. Beide Publikationen erschienen vor dem Forschungsbericht Stanzls und beziehen sich demnach auf vorläufige Grabungsberichte. Allerdings war Binding beratend in dem Grabungsprozess tätig. Baulig 1988 (siehe Anm. 21), o. S., Anmerkung 2.

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Kunsthistorische Einordnung Die karolingische Kirche im Gesamten hat kein Äquivalent, doch lassen sich einzelne Teile vergleichen. Die Entstehung einer Außenkrypta im Chorscheitel steht nach Albert Verbeek27 in Verbindung mit dem Heiligengrab, v. a. nachdem 813 das Verbot von Bestattungen in Kirchenräumen gelockert worden war.28 Einen Chorumgang mit anschließender Rotunde besaß der Hildesheimer Dom (Bau II, sog. Altfried-Bau, ca. 852–872, Abb. 5). Im Vergleich zu St. Kastor ist der Chorbezirk länger gestaltet und die rekonstruierte Apsis gestauchter. Der Umgang ist daher an den Seiten gerade ausgeführt, formt auf jeder Seite eine nach Osten gerichtete Nebenapside aus, führt zur Mitte zu der Apsidenrundung durch und stülpt mittig im direkten Anschluss die Rotunde aus. Ein verbindender Gang fehlt hier. Im Übrigen ist auch das Ganze an ein römisches Querhaus angeschlossen, wenn auch über rechteckige kapellenartige Räume.29 Weitere Beispiele zeigen, dass Elemente wie ein halbkreisförmiger Kryptenumgang im Anschluss an den Chor (Klosterkirche in Fulda, ca. 790–819, Westquerhaus 802–81930) oder eine Rotunde im Chorscheitel (St. Germain in Auxerre, 841–85931) auch in anderen Gebieten des Reiches vorkamen. Demzufolge fügt sich St. Kastor in seinen Ostteilen mit dem Konzept des Querhauses und des Chorumganges mit Rotunde zumindest in den Einzelteilen gut in die (bisher bekannte) karolingische Architektur. 27 Albert Verbeek, „Die Außenkrypta. Werden einer Bauform des frühen Mittelalters“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 13, 1950, S. 7–37. 28 Verbeek 1950 (wie Anm. 27), S. 7. Im Jahr 813 wurde in Mainz „Bischöfen, Äbten, würdigen Priestern und vornehmen Laien das Grab in der Kirche gestattet.“ In St. Kastor wurde im Bereich der Chorscheitelrotunde eine große Zahl von Gräbern gefunden. 29 Vorromanische Kirchenbauten: Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen, bearb. von Friedrich Oswald/Leo Schaefer/Hans Rudolf Sennhauser, unver. Nachdruck der Ausgabe von 1966–1971, München 1990, S. 116–118; Matthias Untermann, Architektur im frühen Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 142–143; Uwe Lobbedey, „Der Kirchenbau im sächsischen Missionsgebiet“, in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hg. von Christoph Stiegemann/Matthias Wernhoff, Ausst.-Kat. Paderborn (Diözesanmuseum) 1999, Bd. 3: Beiträge zum Katalog der Ausstellung, Mainz 1999, S. 498–511, hier S. 503–505. 30 Lobbedey 1999 (wie Anm. 29), S. 500/502. 31 Untermann 2006 (wie Anm. 29), S. 141.

6 St. Kastor, Westansicht.

Der Westbau – eine vorromanische Zweiturmfassade? Baubeschreibung

Der Kastorkirche liegt im Westen ein einjochiger und dreizelliger Bau vor, der etwas breiter als das Mittelschiff des Langhauses ist und mit 50 cm in die Seitenschiffe desselben hineinragt. Im Außenbau stellt sich der Bauteil als Zweiturmfassade dar, die vertikal in drei Zonen gegliedert ist (Abb. 6). Der mittlere Eingangsbereich mit neoromanischem Portal ist zweigeschossig aufgebaut, die Türme bestehen aus sechs Vollgeschossen und einem Dachgeschoss. Die unteren fünf Geschosse der Türme werden durch kräftige Eck- und schmalere Mittellisenen optisch zu einer Einheit gefasst. Seitlich sitzt jeweils ein halbrunder

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

Treppenturm, der zur Kapelle im zweiten Geschoss führt. Horizontal erfolgt eine Gliederung durch Gesimse, Rundbogenfriese und Konsölchen. Die oberen drei vollen Turmgeschosse haben Zwillingsöffnungen mit Überfangbogen. An den Lisenen im 2. Geschoss finden sich zehn flache, derb geschnitzte Sandsteinkapitelle mit Blattformen und Ornamenten, welche eventuell von dem Vorgängerbau stammen.32 Die Turmjoche sind kreuzgratgewölbt mit kräftigen Unterzügen. Im ersten Geschoss befindet sich eine quadratische vierjochige Kapelle mit Kreuzgratgewölben, breiten Gurten und einer Mittelsäule.

Baugeschichte

Seit der Würdigung St. Kastors durch den Bauinspektor Johann Claudius von Lassaulx (1835), der den unteren Teil der Westtürme zusammen mit dem Chor zu den ältesten Gebäudeteilen zählte und eine Gleichzeitigkeit mit den Türmen von St. Florin in Koblenz (um 1100) vermutete, wurde der Westbau meist grob in das 11. Jahrhundert und zeitlich damit vor dem Langhausbau eingeordnet.33 An der Kirche ist ablesbar, dass der Westbau mit dem romanischen Langhaus nicht im Mauerverband steht.34 Zudem ist von dem Dachraum der Seitenschiffe aus noch heutzutage die Blendgliederung der dritten Turmgeschosse mit Konsolen sichtbar. Auch die Tatsache, dass der Westbau schmaler ist als das Langhaus und somit nicht als Doppelturmfassade des heutigen Kirchenbaus geplant gewesen sein kann, stützt diese Feststellung. Michel ist der Meinung, zumindest die zwei unteren Geschosse des Westbaus seien Teile

32 Busley glaubt, die Kapitelle müssen „formenchronologisch“ älter sein als die unteren Geschosse des Westbaus. Busley 1929 (wie Anm. 11), S. 15; Kubach und Verbeek datieren die Kapitelle in das 9.–10. Jahrhundert und gehen auch von einer Wiederverwendung aus. Hans Erich Kubach/Albert Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Bd. 1, Berlin 1976. 33 Johann August Klein, Rheinreise von Straßburg bis Rotterdam sammt Ausflügen an die Nahe, die Mosel, die Ahr, in die Bäder des Taunus, nach Aachen und Spa, und den wichtigeren holländischen Städten. Mit architektonisch-historischen Bemerkungen über die Bauwerke am Rhein von dem Königl. Preuß. Bau-Inspektor von Lassaulx, zweite, erweiterte und verbesserte Auflage, Koblenz o. J. (ca. 1835), S. 461. 34 Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 17, 21.

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der ersten Kirche.35 Kubach und Verbeek hingegen datieren den ‚Unterbau‘ in das 11. Jahrhundert und nehmen aufgrund der geringen Mauerstärken, des sekundären Einbaus der ‚Querbögen‘ sowie der wiederverwendeten Kapitelle an den Lisenen wie Michel an, der Westbau sei anfangs eine zwei- bis dreigeschossige Querhalle gewesen.36 Stanzl zufolge wurde der untere Teil des Westbaus bereits Anfang des 11. Jahrhunderts an den karolingischen Saal angefügt, wobei auch er aufgrund von Zäsuren im Baubefund von mindestens einem Planwechsel ausgeht.37 Pauly und Stanzl vermuten eine (Teil-)Zerstörung St. Kastors beim Angriff der Normannen im Jahr 882, wonach unter Erzbischof Poppo (1016–1047) Neubaumaßnahmen begonnen hätten38; Diese Datierung wird durch einen dendrochronologisch bestimmten Balken aus der Brüstung des 6. Turmgeschosses gestützt (nach 1103).39 Sollte jedoch Michels Aussage zutreffen, das 6. Turmgeschoss sei erst unter Propst Rudolf (1171–1182) entstanden, wäre der Balken vermutlich wieder verwendet und für eine Datierung ungeeignet.

Kunsthistorische Einordnung

Das ursprüngliche Aussehen des Westbaus ist nicht überliefert, da er auf alten Abbildungen vor 1830 ungenau abgebildet oder durch einen Torbau verdeckt wurde (Abb. 7). Eine von Busley vermutete Westapsis wurde durch Sondierungsgrabungen 1927 ausgeschlossen.40 Der Datierung von Stanzl wie auch Kubach/Verbeek zufolge hätte es an St. Kastor Mitte 35 Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 117. Nach den Grabungsergebnissen von Stanzl erscheint die Datierung höchst unwahrscheinlich. 36 Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), S. 485. Als weiteres Indiz für die Datierung in die Mitte des 11. Jahrhunderts sehen Kubach und Verbeek die Unregelmäßigkeit der Gliederung mit den zwischen die Pilaster bzw. Lisenen gesetzten Rundbogenfriesen. Hier zählen sie auch die Rundbogenfriese des fünften Turmgeschosses auf, die jedoch eine Zutat der Restaurierung unter Mäckler (1890–1894) sind. 37 Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 21. 38 Pauly 1986 (wie Anm. 16), S. 188–189; Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 110–111. 39 Ebd., S. 23. Der Balken wurde bei den Restaurierungsarbeiten 1979–1982 gefunden. Beschreibung des Balkens auch in: 1150 Jahre St. Kastor Koblenz, bearb. von Karlheinz Erben/Udo Liessem, Ausst.-Kat., Koblenz 1986, S. 108–109. 40 Busley 1929 (wie Anm. 11), S. 53–55, Anm. 1; Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 17. Unter Stanzl wurde hier nicht gegraben.

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7 St. Kastor, Westansicht mit ehemaligem Torbau (Kirchenmodell in der Hand des hl. Kastors). Ausschnitt aus dem sog. Zieglein-Flügelaltärchen (1593), Pfarrarchiv St. Kastor.

8 Koblenz, St. Florin, Westansicht.

des 11. Jahrhunderts eine der frühesten bekannten und erhaltenen Zweiturmfassaden gegeben. Um ein frühes Beispiel handelt es sich bei dem dreischiffigen Langhaus der ehemaligen Mainzer Schlosskirche St. Gangolph (um 960), dem ein dreiteiliger Westbau vorgelagert war. Die Flankenräume dieses Baus waren quadratisch, der Mittelteil querrechteckig ausgebildet.41 Der Westbau und die Seitenschiffe lagen in einer Flucht, wurden also im Gegensatz zu St. Kastor vermutlich gemeinsam erbaut. Auch die Vorgängerbauten des Straßburger (Wernher-Bau, Baubeginn um 1015)42 und des Baseler Münsters (Nordturm

Ende 11. Jahrhundert)43 sowie die Klosterkirche Limburg an der Haardt (Weihe 1042)44 werden anhand von Grabungsbefunden meist mit Doppelturmfassaden rekonstruiert. Kubach/Verbeek sehen die Zweiturmfassade von St. Kastor in einer Gruppe mit den Kirchen in Amay (St. Lambert und St. Hubert), Namur (Saint-Aubin), Susteren und Utrecht (St. Johann, St. Paul, St. Peter).45 In Koblenz selbst ist die Fassade von St. Florin (um 1100, Abb. 8)46 mit ihrer Lisenenund Rundbogenfriesgliederung vielleicht in direkter Nachfolge von St. Kastor anzusehen. Im Gegensatz zu St. Kastor liegen Westbau und Seitenschiffe in einer Flucht. Auch für die spätromanische Koblenzer Liebfrauenkirche wurde der Typus der Doppelturmfassade (mit Eingangshalle und Emporen­kapelle) nach

41 Vorromanische Kirchenbauten: Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen, Nachtragsband, bearb. von Werner Jacobsen, München 1991 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, III/2), S. 263. 42 Dethard von Winterfeld, Romanik am Rhein, Stuttgart 2001, S. 51; Roland Recht, Das Straßburger Münster, Stuttgart 1971, S. 8–9; Hans Hang/Théodore Rieger/Victor: Beyer, La Cathedrale de Strasbourg, Straßburg 1957, S. 35–37; Vorromanische Kirchenbauten 1990 (wie Anm. 29), S. 323–324.

43 Von Winterfeld 2001 (wie Anm. 42), S. 36. 44 Ebd., S. 70–71. 45 Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 4, S. 147. 46 Jacobsen 1991 (wie Anm. 24), S. 210.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

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121047 übernommen. Abschließend ist zu konstatieren, dass auch der stilgeschichtliche Vergleich mit anderen möglicherweise zeitgleichen Bauten die Datierung des Westbaus von St. Kastor durch Kubach/ Verbeek und Stanzl in die Mitte des 11. Jahrhunderts weder erhärten noch diese als unrichtig erscheinen lassen kann. Der nicht in den Bau integrierte und mit runden Treppentürmen versehene Westbau von St. Kastor stellt trotz einiger Vergleichbarkeiten zu Bauten des 10. bis 11. Jahrhunderts wohl ein Unikum dar.48 Ob er den Typ der Doppelturmfassade im Reich mitprägte, muss daher fraglich bleiben.

Der neue Chor – ein Beitrag zur niederrheinischen Romanik Baubeschreibung

Am Außenbau ist die Chorapsis mit ihrem Kegeldach durch die Dächerabfolge als der niedrigste Bereich der Kirche nach dem Chorjoch zu erkennen (Abb. 1). Die im Grundriss halbrunde und gedrungen wirkende Apsis wird von zwei fünfgeschossigen, recht schlanken, quadratischen Türmen flankiert und besitzt eine dreigeschossige Gliederung: Das unterste Geschoss wird geprägt durch aufgeblendete Kleeblattbögen, die durch schlanke Halbsäulenvorlagen mit blatt- und ornamentgeschmückten Kapitellen getrennt werden. Das Mittelgeschoss wird dominiert durch große rundbogige Fenster, die einfach gestufte Gewände aufweisen. Vor der Wand steht eine rundbogige Blendarkadengliederung auf Säulchen mit ornamental verzierten Kapitellen. Das oberste Geschoss besteht aus einer niederrheinischen Zwerggalerie, bei der jeweils drei ungegliederte rundbogige Arkaden auf vier Säulchen mit Blattkapitellen eine Einheit bilden und durch einen Mauerstreifen voneinander

47 Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 490. 48 Der romanische Westbau des Wetzlarer Doms (um 1170/1190) stand wie im Fall von St. Kastor vor dem Kirchenbau, allerdings mit quadratischer, nach Osten hervorspringender Mittelhalle. Die Verbindung zum Langhaus erfolgte nur über das mittlere Eingangsjoch, welches der Breite des Mittelschiffs entsprach. Wenngleich die Kirche dreischiffig war, standen also die Türme wie bei St. Kastor an drei Seiten frei. Eduard Sebald, Der Dom zu Wetzlar, Königstein 22001.

9 St. Kastor, Innenansicht des Chores nach Osten.

geschieden werden. Die Galerie ist überwölbt von einer Längstonne mit Stichkappen. Die Chortürme nehmen in den unteren zwei Geschossen die Apsisgliederung auf, die oberen Geschosse werden durch Ecklisenen und Rundbogenfriese belebt, zudem enden die Lisenen am oberen Geschoss in einem Kleeblattbogen. Die Schallöffnungen der oberen zwei Vollgeschosse bestehen aus Zwillingsöffnungen mit Überfangbogen. Der Chor ist im Innern wesentlich niedriger als die Vierung und wird durch einen ungegliederten rundbogigen Triumphbogen von dieser abgetrennt (Abb. 9). Hinter dem kreuzgratgewölbten fensterlosen Chorjoch schließt sich die halbrunde Chorapsis an. Die zweigeschossige Wandgliederung besteht aus fünf rundbogigen Blendarkaden auf Säulchen sowie sieben darüber liegenden rundbogigen Fenstern.

Baugeschichte

Kurz nach der Mitte des 12. Jahrhunderts genügte der karolingische Chor wohl nicht mehr den Ansprüchen des Stifts bzw. war baufällig geworden, sodass unter Probst Buvo (1147–1158) bis etwa 1160 ein

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Catharina Lathomus

bezeichnet wird.52 Als einziges Bauteil ist der Chor seit der letzten Restaurierung 1999–2001 bis auf die Gliederung (Lisenen, Säulen, Kapitelle) mit einer Schlämme überzogen, was sicherlich dem historischen Original näher kommt als die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Steinsichtigkeit der restlichen Kirche im Sinne der Neoromanik.

Kunsthistorische Einordnung

10 Bonn, Münster, Chorapsis (Ostansicht).

kompletter Neubau erfolgte.49 Hierfür wurde die alte Chor- und Kryptenanlage größtenteils abgebrochen und das Fußbodenniveau durch Aufschüttungen um einen Meter erhöht.50 Der neue Chor überragte das noch bestehende karolingische Kirchenschiff, wovon ein erhaltenes Fenster und die Spuren des Giebels auf der Westseite des Chores zeugen.51 Es entstand ein großer, breit gelagerter Komplex, der die neue Schauseite zum Rhein darstellen sollte und von Kubach/Verbeek passenderweise als Chorfassade

49 Dendrochronologische Untersuchungen (nördlicher Chorturm) bestätigen das Fälljahr 1158. Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 112, 162; Eine spätere Dendroprobe eines Geschossbalkens der Chortürme ergab nach der Herausgabe der Publikation Stanzls das Fälldatum 1160. Freundlicher Hinweis von Herrn Stanzl. 50 Ebd., S. 135. 51 Busley 1929 (wie Anm. 11), S. 38–39; Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 116, 122; Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 200.

Die Formensprache des Chor­außen­baues mit dem mehr­ge­schossigen Aufbau, der längs­tonnen­ge­wölb­ ten Zwerggalerie und den begleitenden Seitentürmen ist dem niederrheinischen Kunstkreis zuzuordnen. Von den im Folgenden genannten Vergleichsbauten hebt sich St. Kastor allerdings dadurch ab, dass der Chor sehr breit und gedrungen wirkt, da der Baumeister sich offensichtlich an dem zu der Zeit noch bestehenden karolingischen Langhaus orientierte. Als Vorbild für den Neubau wird meist der Chor des Bonner Münsters St. Martin (Abb. 10) angesehen, der wohl unter dem Einfluss der Ostapsis des Speyerer Domes entstand.53 Der Bonner Chor mit Weihedatum 1153 wurde wohl kurz vor Baubeginn des Koblenzer Chores vollendet.54 Der Chor ist in Bonn höher und besitzt im Gegensatz zu Koblenz einen östlichen Schaugiebel55, die halbrunde Apsis ist (mit Kryptengeschoss)56 viergeschossig gegliedert. Wie in Koblenz folgt auf eine Mauerzone mit Blendgliederung – hier rundbogig – ein Fensterband mit sieben rundbogigen Öffnungen und von Säulen getragenen rundbogigen Blendarkaden. Darüber schließt die Chorapsis mit einer niederrheinischen Zwerggalerie ab, deren rundbogige Arkaden auf Säulchen stehen; jede vierte Stütze ist als Doppelsäule ausgebildet. Die quadrati52 Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 4, S. 303; Anm. 29. Hier konstatieren die beiden, dass ihrer Meinung nach die „fassadenhafte Wirkung einer Schauseite […] nicht abhängig von Portalen“ ist. 53 Dethard von Winterfeld, Die Abteikirche Maria Laach. Geschichte – Architektur – Kunst – Bedeutung, Maria Laach 2004, S. 46. Von Winterfeld führt hier die Kleeblattgliederung im ersten Geschoss an der Koblenzer Apsis auf die breite Spannweite zurück. 54 Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 123; von Winterfeld 2001 (wie Anm. 42), S. 110. 55 Der Giebel wurde später erhöht. Von Winterfeld 2004 (wie Anm. 53), S. 46. 56 Die Krypta selbst gehört noch zu dem salischen Vorgängerbau (um1050/60). Von Winterfeld 2001 (wie Anm. 42), S. 110.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

schen Chorflankentürme – die wie der ganze Komplex weit mächtiger als diejenigen in Koblenz sind – werden optisch mit der Apsis zu einer Einheit gefasst. Ähnlich wie in Bonn ist die Apsis der Servatiuskirche (um 115057) in Maastricht gestaltet: Der halbrunde Bau ist dreigeschossig, in den unteren zwei Zonen siebenachsig und besitzt begleitende quadratische Chortürme. Auf ein Geschoss mit rundbogiger Blendarkatur folgt ein weiteres mit drei rundbogigen Fenstern und vier Blenden. Als Abschluss gibt es auch hier eine Zwerggalerie, bei welcher drei der rundbogigen Arkaden jeweils optisch zu einer Einheit zusammengefasst werden. Den drei Kirchen in Bonn, Koblenz und Maas­ tricht stand Gerhard von Are als Probst in Personalunion vor, was vielleicht die Ähnlichkeit der Bauten erklärt.58 Von Winterfeld sieht diese Dreiergruppe zusammen mit dem vermutlich vor 1156 entstandenen Chor von St. Gereon in Köln als „die Gruppe der Gründungsbauten des neuen Stils der Stauferzeit“ an.59 Auch der etwa zeitgleich (vor 1156)60 errichtete Ostchor der Klosterkirche Maria Laach, dessen halbrunde Apsis ohne Zwerggalerie auskommt, weist eine ähnliche Gliederung wie Koblenz und Bonn auf. Auch im Innern zeigt sich eine Verwandtschaft mit einer rundbogigen Blendarkatur. In der Folge entstanden im Bereich des Niederrheines viele weitere Chorbauvarianten nach dem Beispiel dieser Gruppe, so unter anderem in Köln, hier oft als Trikonchos ausgebildet wie bei St. Aposteln, und in Andernach bei der Liebfrauenkirche.

57 Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 4, S. 611; Reinhardt von Hootz nennt die Zeit nach 1174 als Erbauungszeit. Kunstdenkmäler in den Niederlanden, hg. von Reinhardt Hootz, München/Berlin 1971, S. 387. 58 Matthias Untermann, „Kloster und Stift“, in: Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland, hg. von Susanne Wittekind, Bd. 2: Romanik, Darmstadt 2009, S. 410–495, hier S. 450. 59 Von Winterfeld 2001 (wie Anm. 42), S. 111. Über St. Gereon: ebd., S. 120. Auch Kubach sieht die genannten Kirchen als eine eigene Gruppe an in Abgrenzung u. a. zu den Kölner Kirchen. Hans Erich Kubach, „Die Kirchenbaukunst der Stauferzeit in Deutschland“, in: Die Zeit der Staufer, hg. von Reiner Haussherr, Bd. 3: Aufsätze, Ausst.-Kat. Stuttgart 1977, S. 181; Schäfke sieht die Chorfassade von St. Gereon im Vergleich als fortschrittlicher an, zweifelt aus diesem Grund die Datierung vor 1156 an und nimmt eine Vollendung um 1170 an. Werner Schäfke, Kölns romanische Kirchen, Köln ⁶1986, S.111–114. 60 Von Winterfeld 2004 (wie Anm. 53), S. 45.

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11 St. Kastor, Langhaus, Südseite.

Das Langhaus – Zerstörung und Wiederaufbau in politisch brisanter Situation? Baubeschreibung

Die Seitenschiffe des basilikalen Langhauses besitzen große rundbogige Fenster und eine Wandgliederung aus Lisenen und Rundbogenfries (Abb. 11) sowie im östlichsten Joch jeweils ein neoromanisches Portal (1892). Die Obergadenwand bleibt bis auf einen Rundbogenfries unstrukturiert, auf der Südseite ist allerdings die wohl durch den Gewölbeeinbau erfolgte Versetzung der östlichen Fenster im Mauerwerk gekennzeichnet.61 Das Mittelschiff (Abb. 12) wird durch das spätgotische Sterngewölbe in zwei große und im Westen ein kleineres Joch unterteilt. Insgesamt handelt es sich um eine Abfolge von fünf Arkaden, der auch fünf kreuzgratgewölbte Seitenschiffe entsprechen. Die Mittelschiffswand von St. Kastor ist dreigeschossig 61 Diese Kennzeichnung stammt vermutlich von Mäckler (Restaurierung von 1890–1894).

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12 St. Kastor, Mittelschiff nach Osten.

aufgebaut: Auf quadratischen Pfeilern mit halbrunden Säulenvorlagen mit Kelchblockkapitellen liegen rundbogige Arkaden mit Unterzug. Die Halbsäulen tragen im Mittelschiff abwechselnd einen Dienst bzw. den Rest einer Lisene, in den Seitenschiffen Gurtbögen und weiterhin den Unterzug der Arkaden. Als zweites Geschoss fungiert ein unechtes Triforium62 mit einer rundbogigen, hintermauerten Zwillingsöffnung auf Doppelsäulchen über jeder Arkade.63 Darüber befindet sich jeweils ein spitzbogiges Obergadenfenster.64 Auffällig sind die Außenwände der Seitenschiffe, die im Grundriss als Abfolge von segmentbogigen Muldennischen ausgebildet sind. Der heutige Raumeindruck 62 Die St. Severuskirche in Boppard besitzt über den echten Emporen auch solche Öffnungen, weshalb die Verfasserin sich gegen die oft verwendete Bezeichnung „unechte Empore“ entschieden hat. 63 Das östlichste Fenster auf der Nordseite besitzt keine Zwillingsöffnung. Michel geht davon aus, dass dies die erstgebaute der Blenden war, nach der ein Planwechsel erfolgte. Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 124. 64 Die Obergadenfenster sind aufgrund einer Füllung von außen rundbogig, innen spitzbogig.

entspricht nicht dem des romanischen Baus. Das Mittelschiff war ursprünglich vermutlich flach gedeckt, wovon noch immer die Aussparungen für die Balken über dem Gewölbe zeugen (Abb. 13). Eine Gliederung der Mittelschiffswände erfolgte vertikal durch flache spitzbogige Blenden, die auf Lisenen ruhten und die rundbogigen Obergadenfenster übergriffen (Abb. 14). Im Dachraum sind noch heute Reste dieser Gliederung sowie der romanischen Innenausmalung zu sehen. Zu den erhaltenen Darstellungen auf der Westseite des Triumphbogens gehört die Anbetung der heiligen drei Könige. Zu erkennen sind u. a. noch die thronende Gottesmutter (Taf. 24) mit blondem Haar, blauem Gewand und ehemals purpurnem Schleier, Teile des Christuskindes sowie der Kopf eines knienden ­Königs.65 Die Blendarkatur war mit einem Wellenmuster in gelb, rot, blau und grün versehen.

65 Regine Dölling, „Zur Ausmalung des 13. Jhs.“, S. 374–37; Reinhold Elenz, „Architekturfassung und Malerei über dem Gewölbe. Technologie, Erhaltungszustand, Konservierung“, S. 380–387, beide Aufsätze in: Stanzl 1998 (wie Anm. 4).

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

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13 St. Kastor, Mittelschiff über dem Gewölbe, Reste der romanischen spitzbogigen Blendarkatur mit den Dachbalkenauflagen der (vermutlichen) Flachdecke.

14 St. Kastor, rekonstruierter Längsschnitt des romanischen Baus nach Stanzl (1998) auf Grundlage von Michel (1937).

Baugeschichte

aufgestockt werden mussten. Das Mittelschiff blieb flachgedeckt, die Seitenschiffe sowie das Querhaus erhielten Kreuzgratgewölbe.68

Aufgrund der Thronstreitigkeiten nach dem Tode Heinrichs IV. (1197) blieb neben Köln, Bonn, Remagen und Andernach auch Koblenz nicht verschont und wurde am 10. Juli 1199 durch Otto IV. in Brand gesetzt.66 Hierbei scheint die Kastorkirche zu Schaden gekommen zu sein, denn schon bald erfolgte eine Teilerneuerung der Kirche, bei der unter anderem das Langhaus niedergelegt und neu aufgebaut wurde. Die Trierer Annalen berichten, dass die Bauarbeiten unter dem Trierer Erzbischof Johann I. (1189–1212) erfolgten, welcher die Kirche hiernach am 27. Juli 1208 weihte.67 Nach Stanzl wurden neben dem Langhaus Teile der westlichen Querhausmauer abgebrochen und 2,5 bis 4 m tiefe Pfeilerfundamente gelegt. Das Mittelschiff des neuen Langhauses entsprach in der Breite dem karolingischen Saalbau, war aber 2,5 m höher, sodass die Querhausmauern

66 Hagen Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250, Frankfurt/Berlin 1990, S. 428–429; Regesta Imperii, V, Jüngere Staufer 1198–1272, 3 Bde., hg. von Johann F. Böhmer/Julius Ficker/Eduard Winkelmann, Innsbruck 1898–1901, Bd. 1, 1 n. 211g. 67 Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 83 und S. 124. Auf S. 124 findet sich ein Druckfehler, die Weihe findet dort erst im August statt; Schmidt 1954 und 1974 (wie Anm. 7), 1, Nr. 32; Stanzl geht wie Michel von Kriegszerstörungen aus. Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 200; Heyen meint, die Baumaßnahmen hätten nicht zwangsläufig etwas mit einer Zerstörung zu tun. Heyen 1998 (wie Anm. 18), S. 242.

Kunsthistorische Einordnung Die Blendarkatur

Die das romanische Mittelschiff in einer Art Kolossalordnung einfassende Blendgliederung tritt in der Spätromanik zwar seltener auf, stellt jedoch keinen Einzelfall dar. Eine solche rundbogige Blendgliederung ist bereits in weitaus größeren Dimensionen bei Bau I des Speyerer Domes zu beobachten (Weihe 106169). Die Gliederung ist weiterhin im Seitenschiff, noch unverändert aus der Zeit von Bau I70, und außerdem im Querhaus vorzufinden. Von Speyer beeinflusst71, ist beim Wormser Dom (Mittelschiff um 1160)72 die Nordseite des Mittelschiffs mit einer Blendarkatur in rundbogiger Form ausgestattet, welche gleichfalls in einer gesimsübergreifenden Kolossalordnung ausgeführt ist. Weitere Beispiele finden sich in Köln im ehemaligen Kanonissenstift 68 Stanzl 1998 (wie Anm. 4), S. 200–201. 69 Hans-Erich Kubach, Der Dom zu Speyer, Bd. 4, von Günther Binding ergänzte Auflage, Darmstadt 41998, S. 127–128. 70 Kubach 1998 (wie Anm. 69), S. 33; Dethard von Winterfeld, „Die Baugeschichte des Speyerer Doms“, in: Die Salier. Macht im Wandel. Essays. Ausst.-Kat. Speyer, München 2011, S. 193. 71 Ebd., S. 194. 72 Dethard von Winterfeld, Der Dom zu Worms, Königstein 42003 (Die blauen Bücher), S. 11.

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Catharina Lathomus

15 Maria Laach, Klosterkirche, Blendarkatur im Seitenschiff.

16 Elten/Hochelten, St. Vitus, Mittelschiffswand.

St. ­Ursula (zweites Viertel des 12. Jahrhunderts)73, in den Seitenschiffen der nahe gelegenen Klosterkirche Maria Laach (Weihe Langhaus 1156, Abb. 15)74 und bei drei noch heute flach gedeckten Kirchen in Belgien, St. Vincenz in Chérain (12. Jahrhundert)75, St. Martin in Orp-le-Grand (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts)76 sowie St. Peter und Paul in Saint-Séverinen-Condroz (um 1140).77 Auch wenn die Koblenzer Blendarkatur im Vergleich zu den genannten Bauten spitzbogig ausgeführt wurde, steht sie also offenbar in einer Tradition des Rhein-Maas-Gebietes, die sich vielleicht von Speyer ausgehend in kleineren Dimensionen und verschiedenen Spielarten verbreitete.

Das unechte Triforium

Die Öffnungen des unechten Triforiums führten in romanischer Zeit in die Seitenschiffsdächer und hatten vermutlich allein die Aufgabe der Gestaltung und Belebung der Wand.78 Eine frühe Ausführung finden wir in der heutigen Pfarrkirche St. Vitus in Elten/Hochelten am Niederrhein (Abb. 16). Das basilikale Langhaus der dreischiffigen Kirche wurde 1129 geweiht79 und weist wie St. Kastor eine dreigeschossige Wandgliederung auf. Über einer rundbogigen Zwillingsarkade mit rundbogigem Überfangbogen befinden sich jeweils zwei Öffnungen in den Dachstuhl mit zwei darüber liegenden

73 Von Winterfeld 2001 (wie Anm. 42), S. 133. 74 Ebd., S. 101. 75 Hans Erich Kubach/Albert Verbeek, Romanische Kirchen an Rhein und Maas, Neuss 1971, S. 338; Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 175. 76 Kubach/Verbeek 1971 (wie Anm. 75), S. 353; Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 912–914. 77 Kubach/Verbeek 1971 (wie Anm. 75), S. 355; Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 988–992.

78 Die Seitenschiffe hatten zu der Zeit eventuell andere Neigungswinkel, sodass auch eine indirekte Beleuchtung durch Öffnungen im Dach möglich scheint. 79 Kubach/Verbeek 1971 (wie Anm. 75), S. 339; Günther Binding, Elten am Niederrhein, Neuss 1977 (Rheinische Kunststätten, 197), S. 10; Auch die ehemalige Stiftskirche St. Clemens im nahe gelegenen Wissel erhält um 1150/1160 solche Öffnungen. Kubach/Verbeek 1971 (wie Anm. 75), S. 360.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

17 St. Kastor, nördliches Seitenschiff nach Osten mit segmentbogigen Nischen.

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18 Essen, Dom, nördliches Seitenschiff nach Osten mit eng gereihten segmentbogigen Nischen aus ottonischer Zeit.

rundbogigen Obergadenfenstern. Weiterhin besitzt der romanische Neubau des Langhauses der Kirche St. Severus in Boppard (­Weihe Langhaus um 122580) Dachstuhlöffnungen. Diese sind hier allerdings Bestandteil einer viergeschossigen Wandgliederung und befinden sich zwischen Empore und Obergaden. Vermutlich in Abhängigkeit zu Koblenz gibt es bei der durch das gemeinsame Patrozinium verbundene Kastorkirche in Karden (Baubeginn um 126081) ein unechtes Triforium in der dreigeschossigen Wand, welches sich in Form von spitzbogigen Doppelarkaden präsentiert. Ob die in vielen romanischen Kirchen des Kölner Bereichs vorhandenen Blendtriforien, welche sich zwischen Arkaden und Obergaden befinden, mit den unechten Triforien zusammenhängen, ist unklar.82

Die Seitenschiffe der Kastorkirche sind im Innern in einem besonderen Rhythmus zusammengefasst, indem sie mit segmentbogigen Nischen ausgestattet sind (Abb. 17). Eine frühe durchnischte Außenwand ist in dem ottonischen Rest der Essener Damenstiftskirche (heute Dom) erhalten.83 Die halbkreisförmigen Nischen sind niedrig, fensterlos und dicht aneinandergereiht (Abb. 18). In Köln sind bzw. waren die romanischen Kirchen St. Kunibert (um 1210/1215)84 und St. Andreas85 mit einer solchen Belebung der Wand durch segmentbogige Nischen ausgestattet. Demzufolge scheint in Koblenz und Köln ein älteres Baumotiv aus ottonischer Zeit übernommen worden zu sein mit der Veränderung, dass die gesamte Seitenschiffshöhe genischt ist.

80 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.1: Ehemaliger Kreis St. Goar. Stadt Boppard, bearb. von Alkmar Freiherr v. Ledebur/Hans Caspary, Berlin 1988 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz), S. 211. 81 Die Kunstdenkmäler des Kreises Cochem, bearb. von Ernst Wackenroder, Berlin 1959, unveränd. Nachdruck 1984 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, 3), S. 423. 82 Zu diesem Phänomen der Abschnitt über Blend- und Nischentriforien in: Kubach/Verbeek 1976 (wie Anm. 32), Bd. 4, S. 390.

83 Die Datierung des Baus ist umstritten. Jantzen vermutet eine Entstehung zur Zeit der Äbtissin Mathilde (971–1011). Hans ­Jantzen, Ottonische Kunst, von Wolfgang Schenkluhn erw. u. kommentierte Neuausgabe, Berlin 1990 (Originalausgabe 1959), S. 29; Sölter setzt den Bau in die Zeit Theophanus (1039– 1058 Äbtissin des Essener Reichsstiftes). Walter Sölter, Der Essener Dom, Neuss 1982 (Rheinische Kunststätten, 265), S. 3. 84 Schäfke 1986 (wie Anm. 59), S. 157; von Winterfeld 2001 (wie Anm. 42), S. 123. 85 Schäfke vermutet den Beginn des romanischen Baus Ende des 12. Jahrhunderts. Schäfke 1986 (wie Anm. 59), S. 26.

Die Seitenschiffe

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19 St. Kastor, westliches Mittelschiffsgewölbe.

20 St. Kastor, Mittelschiffsgewölbe.

Das spätgotische Gewölbe Beschreibung

Das westliche querrechteckige Joch ist mit einem sechszackigen Stern überwölbt, die weiteren vier Langhausjoche sind zu zwei annähernd quadratischen Gewölbeeinheiten zusammengefasst und zeigen jeweils zwei vierzackige Sterne; die querrechteckige Vierung wird mit einem achtzackigen Sterngewölbe nach oben hin abgeschlossen. In den Gewölbefeldern gibt es an einigen Knotenpunkten Schlusssteine, welche Wappen oder Blumen zeigen.

Das Mittelschiffgewölbe

Der aus Dreistrahlen zusammengesetzte Gewölbestern des querrechteckigen Westjoches ist gedreht und an das Joch angepasst (Abb. 19). Das Hauptmotiv der zwei östlichen Mittelschiffsjoche besteht aus zwei vierzackigen, aus Dreistrahlen zusammengesetzten Sternen, von denen der eine mit den Spitzen in Langhausrichtung bzw. zur Außenwand zeigt während der zweite um 45 Grad gedreht ist (Abb. 20). Die Sterne liegen in einem aus Liernen gebildeten Oktogon.

Die einzelnen Gewölbekappen haben verschiedene Neigungen, sodass die über mehrere Gewölbefelder geführten Sternspitzen abgeknickt sind (Abb. 3). Es handelt sich daher um sogenannte Knickrippensterne. Insgesamt greift das Gewölbe zwischen den Jochen tief in das Mittelschiff bis auf Triforiumshöhe ein und ist äußerst knapp an den Obergadenfenstern vorbeigeführt, um vermutlich möglichst viel Licht einzulassen (Abb. 21).

Die Vierung

In der Vierung von St. Kastor findet sich ein achtzackiger Stern, welcher aus Dreistrahlen zusammengesetzt ist und in Bezug zur Kirchenachse liegt (Abb. 22).

Baugeschichte

Im Zuge ihres Umbaus erhielt das Langhaus der Koblenzer Liebfrauenkirche 1486/1487 anstelle des romanischen ein spätgotisches Sterngewölbe, welches Johann der Muyrer/Maurer ausführte.86 Nur wenige 86 Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 162, S. 185.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

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21 St. Kastor, Ansatz des spätgotischen Gewölbes in einem der Mittelschiffsjoche, welches aufgrund der geringen Raumhöhe tief in den Raum hineingreift.

Jahre später folgte St. Kastor: Der Steinmetz Meister Matthias ließ in den Jahren 1496–1499 ein figuriertes Rippengewölbe einziehen, welches dem der Liebfrauenkirche stark ähnelt und nur in Details abweicht.87 Neben dem bis dato flachgedeckten Langhaus erhielt auch die Vierung ein neues Gewölbe in Sternform.88

22 St. Kastor, Vierungsgewölbe.

eine durchgehende Tonne mit Stichkappen. In der Kastorkirche wurde folglich zwar das dekorative Gewölbemuster übernommen, jedoch in einer völlig anderen Weise ausgeführt. Daneben ist das Mittelschiff in Liebfrauen wesentlich höher, weshalb das Gewölbe sich harmonischer einfügt und nicht den gestauchten Eindruck wie in St. Kastor evoziert.

Kunsthistorische Einordnung

Im Grundriss zeigen die Mittelschiffsgewölbe der Liebfrauen- und der Kastorkirche fast die gleiche Disposition mit einem Sechsstern im Westjoch und größeren achtzackigen Sternen in den beiden östlichen Jochen (letztere jeweils in der Breite zweier Seitenschiffsjoche; (Abb. 20/23). Bei Betrachtung beider Gewölbe und ihrer Konstruktionen im Raum tritt jedoch ein größerer Unterschied hervor: Während sich die Grundform des Gewölbes von St. Kastor durch „springende“ Kappen auszeichnet, besitzt Liebfrauen 87 Meister Matthias ist durch Rechnungen belegt. Schmidt 1975– 1978 (wie Anm. 8), S. 263, 267, 270, 274f. 88 Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 84. Die zwei östlichen Obergadenfenster auf der Südseite mussten beim Gewölbeeinbau versetzt werden, siehe ebd., S. 126 und Anm. 76.

Das westliche Mittelschiffsjoch

Der sechszackige Stern des westlichen Joches stellt keine Seltenheit dar und fand seine Verbreitung im 14. und 15. Jahhundert. Den Ursprung für das Muster sieht Fischer im böhmischen Bereich, wo es bereits Ende des 14. Jahrhunderts in Mühlhausen/Milevsko auftritt und seiner Meinung nach auf ein von Peter Parler geschaffenes Gewölbe in der Prager Allerheiligenkapelle zurückgeht.89 In Frankfurt ist ein solches Gewölbe in der Torhalle des Nürnberger Hofes (zwischen 1409 und 1424) erhalten; es wurde vielleicht von dem Frankfurter Steinmetzen und Baumeister 89 Friedrich Wilhelm Fischer, Die spätgotische Kirchenbaukunst am Mittelrhein 1410–1520, Heidelberg 1962, S. 261, Anm. 198.

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23 Koblenz, Liebfrauenkirche, Mittelschiffsgewölbe.

24 Breslau, Dorotheenkirche, Sterngewölbe im Mittelschiff.

Madern Gerthener („Frankfurter Schule“) geplant und besteht aus drei ineinander verschachtelten sechszackigen Sternen.90 Die Pfarrkirche in Monzingen, die nach Fischer von der „Meisenheimer Schule“ abhängig ist, weist im Chor (um 148891) drei ineinander verflochtene Sechszacksterne auf, die durch Liernen und Tiercerons miteinander bzw. mit der Wand verbunden sind. Weitere Beispiele finden sich auch im schwäbischen Gebiet, so beispielsweise in Schwäbisch Hall, St. Michael im Chorumgang (Chor ab 149592), in Münsingen, Martinskirche im Chor (Umbau ab 149593) oder in der Petrikapelle der Klosterkirche Blaubeuren (Ende 15. Jahrhundert94).

90 Fischer 1962 (wie Anm. 89), S. 53–54. 91 Fischer 1962 (wie Anm. 89), S. 21. 92 Norbert Nussbau/Susanne Lepski, Das gotische Gewölbe, Darmstadt 1999, S. 251. 93 Katharina Laier-Bleifuss, Spätgotik in Württemberg. Die Kirchenbauten des Peter Steinmetz von Koblenz, Phil. Diss. 1995, Petersberg 2001, S. 157. 94 Ebd., S. 107.

Die östlichen Mittelschiffsjoche

Direkte Vorbilder für die Sterne in den östlichen Mittelschiffsjochen sind nicht auszumachen, jedoch bedienten sich die Baumeister aus einem bereits bekannten Repertoire. Ein frühes mögliches Vorbild für die Einzelform des aus Dreistrahlen zusammengesetzten vierteiligen Gewölbesterns ist im Vierungsgewölbe der Kathedrale von Amiens (um 1270) zu finden, wenngleich es sich bei diesem nach Clasen um einen „Flechtrippenstern englischer Herkunft und um kein Sterngewölbe im engeren Sinne“ handelt.95 Spätestens im 14. Jahrhundert ist das Motiv weit verbreitet, beispielsweise im Langhaus der Breslauer Dorotheenkirche (Ende 14. Jahrhundert, Abb. 24) sowie im gesamten Deutschordensstaat Preußen.96 Die Entstehung des Knickrippensterns, der aus „Freude an der mehrfach gebrochenen Linienbewegung entstanden“ sei, sieht Clasen Ende des 15. Jahrhunderts.97 95 Karl Heinz Clasen, Deutsche Gewölbe der Spätgotik, Berlin 1958, S. 23. 96 Ebd., S. 66. 97 Ebd., S. 79.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

Das Vierungsgewölbe

Wie die anderen Gewölbemotive in St. Kastor, ist auch der achtzackige Vierungsstern, der gleichzeitig als Vierstern beziehungsweise abgewandeltes griechisches Kreuz gelesen werden kann, kein singuläres Phänomen. Die wohl älteste Überlieferung dieses Motivs stammt aus einer Zeichnung Villard de Honnecourts, der ein Achtsterngewölbe um 1230 für einen Kapitelsaal vorschlug.98 Dieser Entwurf kam noch ohne Liernen aus, welche bei den folgenden Beispielen der spätgotischen Zeit jedoch Bestandteil dieses Gewölbes sind. In der zeitgleich zum Gewölbe von St. Kastor durch Philipp von Gmünd erbauten Schlosskirche in Meisenheim (1479–150499) ist ein solcher Stern im Chorjoch abgebildet, obschon in ein Netzgewölbe integriert. In der Kiedricher Pfarrkirche St. Valentin, die Fischer dem Einfluss der „Frankfurter Schule“ zuordnet, wurde der Chor um 1480 eingewölbt.100 Auch hier findet sich der Achtzackstern, dessen Spitzen wie in St. Kastor durch Liernen miteinander verbunden sind, in einen größeren Gewölbezusammenhang eingebettet. Die teilweise sehr genaue Übernahme von Gewölbedetails spricht für Verbindungen zwischen dem Mittelrhein und Schwaben, wo in der Spätgotik eine Vielzahl von Kirchen mit reich figurierten Gewölben entstand. Hier wurden viele Bauten lange Zeit einem Peter von Koblenz zugeschrieben.101 Laier-Bleifuss zufolge sind allerdings zum einen wenige Zuschreibungen haltbar, zum anderen ist nicht klar, ob Koblenz am Mittelrhein oder in der Schweiz gemeint ist.102 Die Idee einer Verbindung zwischen St. Kastor und Schwaben durch einen aus Koblenz stammenden Baumeister ist demnach zwar reizvoll, jedoch bisher nicht belegbar.

98 Ebd., S. 22–23. 99 Karl-Heinz Drescher/Günther Lenhoff, Die Schlosskirche zu Meisenheim, Neuss 2002 (Rheinische Kunststätten, 465), S. 7. 100 Fischer 1962 (wie Anm. 98), S. 91. 101 So u. a. von Hans Koepf, Die Baukunst der Spätgotik in Schwaben, hg. von der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Stuttgart 1958, S. 7. 102 Laier-Bleifuss 1995 (wie Anm. 93), S. 11–15.

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Spätere Restaurierungen und Umbauten Koblenz unter französischer Herrschaft 1794–1815

Im Zuge der Revolutionskriege wurde Koblenz 1794 von den Franzosen erobert, weshalb aufgrund der Säkularisierung bis 1812 auch die Stiftsgebäude von St. Kastor abgerissen wurden.103 Zwei erhaltene Lagepläne (von dem französischen Ingenieur Six104 1802/1803 und Leopold von Eltester105), welche allerdings voneinander abweichen, zeigen auf der Südseite der Kirche um einen Hof gruppierte Gebäude. Im Zuge der Umbaumaßnahmen wurde 1805106 der Kirche ein klassizistisches Portal vorgesetzt, welches durch alte Abbildungen und Pläne überliefert ist (Abb. 25).107 Auffallend bei dem Portal war die vor der Wand stehende portikusartige Architektur aus sechs kannelierten ionischen Säulen, die ein Gebälk trugen.

Die Restaurierung unter von Lassaulx (1848–1851)

1848 erfolgte eine radikale Innenrestaurierung unter von Lassaulx (1781–1848)108 , bei der u. a. auch die Chorschranken entfernt wurden, deren Standort zwei älteren Grundrissen abgelesen werden kann (Abb. 26).109 Im Anschluss wurden Chor und Querhaus „um einige Fuß erniedrigt“, um das 103 LHA Koblenz, Bestand 256, Sachakte 10735; Christian von Stramberg, Coblenz, die Stadt. Dritter Band. Koblenz 1854 (Denkwürdiger und nützlicher Rheinischer Antiquarius. Mittelrhein. I, 3), S. 504. 104 LHA Koblenz, Bestand 702, Nr. 8563/8564. Abbildung bei Liessem 1984 (wie Anm. 14), S. 12–13. 105 Der Plan wurde wohl von Leopold von Eltester (1822–1879) anhand eines Planes von 1800 erstellt. Das Original war nicht auffindbar. Zwei etwas differierende Abzeichnungen werden aufbewahrt im LHA Koblenz, Bestand 700 030, 418 019 und im Planarchiv der GDKE Mainz, Inv.-Nr.: 1355. Der Plan ist weiterhin aber auch abgedruckt bei Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 76. 106 Richter 1850 (wie Anm. 10), S. 100; Reitz 1936 (wie Anm. 12), S. 26. 107 Im Planarchiv der GDKE befinden sich zwei undatierte Aufrisse der Westseite St. Kastors, Inv.-Nr. 1356/1357. 108 Frank Schwieger, Johann Claudius von Lassaulx 1781–1848. Architekt und Denkmalpfleger in Koblenz, Neuss 1968; Willi Weyres/Albrecht Mann, Handbuch zur rheinischen Baukunst des 19. Jahrhunderts. 1800 bis 1880, Köln 1962, S. 66–68, Nr. 420. 109 Planarchiv GDKE, Inv.-Nr. 1354 und 1753. Michel 1937 (wie Anm. 3), S. 79.

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25 St. Kastor, unsignierte Westansicht (um 1859) mit klassizistischem Portal von 1805 und idealisiertem Dreiecksgiebel.

26 St. Kastor, Grundriss (um 1849?), vermutlich von Johann C. von Lassaulx.

Fuß­bodenniveau an das des Langhauses anzugleichen.110 Daneben soll die baufällig gewordene „große Bogenwand, der Hauptträger des Gewölbebaues zunächst dem Presbyterium“111 zur Hälfte neu ausgeführt worden sein. Auch wurde jede zweite Langhauslisene gekürzt. 112 Um das Hochwasserproblem zu lösen, baute von Lassaulx ein System von Abwässerkanälen in den Fußboden ein und zerstörte hierbei teilweise Reste des Vorgängerbaus.113 Die Arbeiten

brachten aber auch Überraschungen zutage, so die rundbogige Arkadengliederung im Chorinnern sowie das vermutlich aus dem 13. Jahrhundert stammende, heute übermalte, Apsisgemälde mit Christus als Salvator Mundi.114 Im Zuge der Innenrestaurierungen wurden Apsis (1849), Chorbogenwand (1851) sowie Langhaus (1870er Jahre) von Joseph Anton Settegast (1813–1890) im Stil der Spätnazarener ausgemalt.115 Die damals zugemauerten Öffnungen des Triforiums

110 Richter 1854 (wie Anm. 10), S. 140–141, Zitat S. 141; Stramberg 1854 (wie Anm. 103), S. 515. Die Bilder Chorschranken befinden sich im südlichen Querhaus. 111 Richter 1854 (wie Anm. 10), S. 143. 112 Richter 1850 (wie Anm. 10), S. 146–147. 113 Richter 1854 (wie Anm. 10), S. 141.

114 Das Bild wurde 1848 gefunden. Richter 1850 (wie Anm. 10), S. 115–116, S. 160–161. Eine Kopie ist abgedruckt bei Dölling 1998, (wie Anm. 81), S. 376. 115 Weiterhin malte Settegast auch 1870–72 zwei Fresken im Querhaus, welche nicht mehr erhalten sind. Erben/Liessem 1986 (wie Anm. 48), S. 29 und S. 6.

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27 St. Kastor, nördliche Mittelschiffswand nach Westen (vor 1928) mit dem vermauerten unechten Triforium und den Settegast-Fresken.

dienten als rundbogige Malfläche (Abb. 27). Noch im Jahr 1854 wurden außerdem die drei bisher geschlossenen Apsisfenster (wieder?) geöffnet.116 Der Bau des neoromanischen Portals erfolgte ab dem Jahr 1859 durch Franz Schmitz (1832–1894).117 Das Tympanon wurde um das Jahr 1868 durch Peter Fuchs (1829– 1898) ausgeführt.118 Zu dem Neubau scheint es eine Ausschreibung gegeben zu haben, zumindest sind im Planarchiv der GDKE Mainz mehrere Entwürfe enthalten, die z. T. stark voneinander abweichen.119 116 Richter 1850 (wie Anm. 10), S. 108 und S. 150. 117 Richter 1868 (wie Anm. 10), S. 167 und ihm folgend Liessem 1984 (wie Anm. 14), S. 20–21. 118 Richter 1868 (wie Anm. 10), S. 177–17. 119 Planarchiv GDKE, Inv.-Nrn. 1365, 1361, 1368.

Die Außenrestaurierung unter Mäckler 1890–1894

Von 1890–1894 fand eine der umfassendsten Restaurierungen unter dem Koblenzer Stadtbaumeister Friedrich Mäckler (1852–1913)120 statt, nachdem die Maßnahme 1889 bewilligt worden war.121 Wie ältere Fotos zeigen, waren die Westtürme in einem desolaten Zustand, am Südturm war das Gesims zwischen fünftem und sechstem Geschoss teilweise weggebrochen (Abb. 28–29). Die augenscheinlichste 120 Liessem 1984 (wie Anm. 14), S. 26. 121 Bericht über die Wiederherstellungsarbeit an der St. Castorkirche zu Coblenz vom 11.11.1892 durch Mäckler, GDKE. Der Bericht lag zusammen mit weiteren einem Antrag an die Provinzialverwaltung der Rheinprovinz vom 17. Mai 1894 um Finanzierungshilfe bei.

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28 St. Kastor, Westansicht vor 1890 mit geradem Langhausabschluss, neoromanischen Portal (ab 1859) und vermauerten Schallarkaden im vierten Turmgeschoss. Über dem fünften Turmgeschoss sind Bauschäden sichtbar (fehlende Gesimse).

29 St. Kastor, Südwestansicht (vor 1890). Am Obergaden des Langhauses ist noch der später von Mäckler veränderte Rundbogenfries sichtbar, welcher z. T. durch gerade Stücke über den Fenstern unterbrochen wird.

Veränderung, die wohl hier ausgeführt wurde, ist der Umbau des bis dahin geraden Langhausabschlusses in einen Dreiecksgiebel (Abb. 5 und 25).122 Mäckler selbst zählt die Restaurierung der Türme als erste erfolgte Maßnahme auf123, während er über den Giebelumbau schweigt. Folgend kam die „vollständige Instandsetzung der Außenseite, des ganzen Mittelschiffes, des nördlichen Seitenschiffes und des nördlichen Theiles des Querschiffes“ hinzu.124 Im Herbst 1891 122 Der damals bereits geplante Dreiecksgiebel ist auf Plan Nr. 1357 und Nr. 1352 GDKE sichtbar. Auf einem Foto von 1900 existiert der neue Dreiecksgiebel: Coblenz und Umgebung in Bild und Wort: Achtzig Ansichten nach Originalaufnahmen von P. Kraft, Berlin-Schöneberg 1900, S. 19. 123 Bericht Mäckler, 11.11.1892. Mäckler scheint bei seiner Aufzählung chronologisch vorzugehen, weshalb Liessem und Erben wohl Recht gehen in ihrer Annahme, die Arbeiten hätten im Westen begonnen. 124 Bericht Mäckler, 11.11.1892.

wurde am südlichen Seitenschiff festgestellt, „daß die südliche Abschlussmauer um etwa 30 cm nach außen überhing, daß die Gewölbe stark zerissen, theilweise zerdrückt und gänzlich deformiert waren“125. Auf dem Grundriss von Paul Tornow (1868/1872) ist die aus dem Grund in unbekannter Zeit vorgesetzte Mauer ersichtlich, aus welcher die auf älteren Gemälden sichtbare gemeinsame Fluchtlinie von Seitenschiff und Querhaus im Süden resultierte (Abb. 30).126 Bis zum November 1892 war das Seitenschiff niedergelegt, eine „Betonfundierung“ gelegt und die Wände in Breite des nördlichen Seitenschiffes bis auf Gewölbehöhe 125 Ebd. 126 Die anderen Grundrisse aus dem 19. Jh sind stark idealisiert. Ansonsten siehe auch das Gemälde der Südseite von St. Kastor von Johann Baptist Bachta, um 1830, Mittelrhein-­ Museum Koblenz, Inv.-Nr. M 308, welches den Zustand mit dem in der Fassade zurücktretenden Querhaus aufzeigt.

Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

hochgezogen; in den nächsten Wochen sollten noch die Einwölbung sowie die Eindeckung des Daches geschehen.127 Außen wurden beide Langhausseiten mit Tuffstein verkleidet und mit einer einheitlichen Blendgliederung aus Rundbogenfriesen und Lisenen versehen. Dies bedeutete auch, dass am Mittelschiff der Rundbogenfries in eine neoromanische Regelmäßigkeit gebracht wurde und keine geraden Stücke mehr über den Fensteröffnungen besaß (Abb. 11 und 29).128 Daneben wurden auch die Fensteröffnungen im Querhaus verändert. Die Rundbogenfriese der Chortürme wurden im gleichen Sinne wie die der Westtürme umgearbeitet: Statt zwei Bögen pro Wandfläche gab es nun drei, was zu einer Vereinheitlichung führte. Die Restaurierung der Chorapsis scheint bis zum 10. Dezember1894 erfolgt zu sein.129 Um den gesamten Bau wurde eine Sockelzone aus schwarzer Basaltlava gezogen. Neben weiteren kleinen Änderungen wurden die Portale auf der Nord- und der Südseite der Kirche ersetzt, das Tympanon auf der Südseite folgte aber erst 1933. Die Gesamtkosten für die Maßnahmen betrugen 162.932 Mk.130

Die Restaurierungen im 20. Jahrhundert

Nach mehreren Überschwemmungen wurden bei einer Restaurierung im Inneren u. a. die meisten Fresken Settegasts entfernt sowie die Biforienfenster wieder geöffnet und mit Zementdielen hintermauert.131 Während des Zweiten Weltkriegs wurde St. Kastor auf der Westseite beschädigt.132 Die Gewölbe­sicherung 127 Bericht Mäckler, 11.11.1892. 128 Möglicherweise rührt die Unregelmäßigkeit des Rundbogenfrieses aber auch von einer ehemaligen Restaurierung bzw. vom Einbau des spätgotischen Gewölbes. 129 Schreiben Pfarramt St. Castor (Pfarrer Lehnen) an Landesdirektor Rheinprovinz (Dr. Klein), Düsseldorf, Coblenz, den 10.12.1894, GDKE. 130 Liessem 1984 (wie Anm. 14), S. 33–34. 131 Von der Abnahme der Fresken 1928 und der Innenrestaurierung berichtet Pfarrer Albert Homscheid 1929 in einer Chronik, die als Abschrift im Planarchiv der GDKE liegt. Er schreibt u. a., die Zumauerung des Triforiums sei nur „einen Stein dick“ gewesen und könne keine statischen Gründe gehabt haben. (S.7). Da auf der Nordseite an den Biforiumsöffnungen einige Kapitelle und Säulchen fehlten, wurden sie bei der Gelegenheit erneuert. 132 LHA Koblenz, Bestand 910, Nr. 10169. St. Kastor selbst wurde am 6. November 1944 getroffen. Schreiben von Pfarrer Pick an den Bundesminister des Innern, Bonn, Koblenz, 2.

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30 St. Kastor, Grundriss (um 1868/70) von Paul Tornow mit verstärkter südlicher Seitenschiffsmauer.

erfolgte erst um 1954/1955, während in den Jahren zuvor das Innere restauriert worden war.133 Eine Außenrestaurierung des Chores und der Chortürme fand 1960–1962 statt.134 Infolge der Kriegsschäden war eine weitere Außenrestaurierung des Westbaus nötig, welche von 1979–1983 durchgeführt wurde.135 Die große Innenrestaurierung unter Günther Stanzl folgte 1985–1990, die Osttürme mussten ab 1999 restauriert und teilweise neu aufgebaut werden.136

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Mai 1958: „Ein Volltreffer zerschlug bei dem Grossangriff am 6.11.1944 die Empore; ausgedehnte Brände kamen hinzu; monatelang war das Gewölbe schutzlos den Einflüssen der winterlichen Witterung ausgesetzt.“ LHA Koblenz, Bestand 910, Nr. 10169. Pfarramt St. Kastor (Pfarrverwalter Oberstudienrat a. D. Pick) an Ministerium für Unterricht und Kultus, Betr.: Zuschuss für die Restaurierung der St. Kastorkirche in Koblenz, 24. März 1955. GDKE, Schreiben Pfarrer Pick an den Generalkonservator Bornheim, gen. Schilling, Koblenz 21.07.1959; Schreiben Pfarrer Pick an den Bistumskonservator in Trier und den Landeskonservator in Mainz, Koblenz, 15.01.1962. Karlheinz Erben, „Die Außenrestaurierung von 1979–1983“, in: 200 Jahre Restaurierungen (wie Anm. 13), S. 38–60; GDKE, Schreiben Pfarrer Klaus Philipp an Prof. Bornheim, gen. Schilling, 15.09.1978. Stanzl 1998 (wie Anm. 4); Hans Joachim Becker/Karlheinz Erben, Bericht über die Außensanierung des Ostbaus der Kirche, Planarchiv der GDKE, Inv.-Nr.: 22705/1.

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Schlussbetrachtung Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor, repräsentativ am Zusammenfluss von Rhein und Mosel gelegen, besitzt eine Baugeschichte, die von der spätkarolingischen Zeit bis zur Spätgotik reicht. Obwohl es sich bei der Kirche um einen der bedeutendsten Bauten am Mittelrhein handelt, wurde der Kirche seit dem Beitrag von Fritz Michel im Kunstdenkmalinventar aus dem Jahr 1937 keine kunsthistorische Monographie gewidmet. Diese Lücke wird durch die gleichnamige Magisterarbeit geschlossen und kombiniert zugleich eine kunsthistorische Betrachtung mit den Ergebnissen der Bauuntersuchung von Günther Stanzl (1985– 1990). Weiterhin ist der Fokus auf die Restaurierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts gerichtet, da unter von Lassaulx (1848–1850) und Mäckler (1890–1894) Umformungen des Baubestandes im Sinne der Neoromanik stattfanden, welche das heutige Erscheinungsbild des Baus entscheidend mitprägten. Ein Umstand, der in der Forschung lange Zeit übersehen wurde. Die karolingische Kirche soll den Quellen nach von dem Trierer Erzbischof Hetti erbaut und von Kaiser Ludwig dem Frommen nach deren Weihe im Jahr 836 besucht worden sein. Aufgrund der unter Stanzl durchgeführten Grabungen, konnte die Gestalt des Grundrisses dieser Kirche rekonstruiert werden. Eine erzbischöfliche oder kaiserliche Stiftung konnte damit in karolingischer Zeit auch einschiffig und musste nicht, wie bisher angenommen, zwangsläufig ein dreischiffiger Bau sein. Der Fokus der Baumeister lag auf dem Ostteil der Kirche, der mit einem Chorumgang, Umgangskrypta und Scheitelrotunde reich gestaltet war. Wie die Vergleiche mit anderen ergrabenen Bauten im Reich zeigten, reiht sich St. Kastor mit dem östlichen Abschluss in eine Bautradition ein, die sich hauptsächlich vom 9. bis ins 10. Jahrhundert nachweisen lässt. Daneben gehören Teile des heutigen Querhauses noch zum karolingischen Baubestand, womit St. Kastor also im Kern einer der ältesten bestehenden Bauten auf deutschem Gebiet ist. Den Baubeginn des Westbaus, der an den karolingischen Saal angefügt wurde, wird u. a. von Stanzl und von Kubach/Verbeek Anfang bzw. Mitte des 11. Jahrhunderts vermutet. Für eine genauere Datierung fehlen sowohl schriftliche Quellen als auch erhaltene Vergleichsbauten.

Die nächste Baumaßnahme, die Errichtung des Chores in den 1150er Jahren unter Probst Buvo, hingegen ist durch Quellen und dendrochronologische Proben belegt. Der zum Rhein hin als Schaufassade ausgerichtete Chor orientiert sich an dem des Bonner Münsters und ist ein frühes Beispiel für die romanischen mehrgeschossigen Chöre mit Zwerggalerie, die sich im 12. und 13. Jahrhundert, vor allem im Gebiet des Niederrheins mit einer Konzentrierung im Kölner Gebiet, etablierten. 1208 folgte die Weihe des romanischen, dreischiffigen Langhauses. Es gibt kein direktes Vorbild hierfür, jedoch finden sich einzelne Bauformen wie die spitzbogige Blendarkatur, das unechte Triforium im Mittelschiff und die Ausnischung der Seitenschiffswände im niederrheinisch-maasländischen Gebiet. Erst 1496–1499 wurde die romanische Flachdecke durch ein spätgotisches Sterngewölbe ersetzt; auch in der Vierung wurde ein Gewölbe mit Sternmotiv eingezogen. Das Langhausgewölbe ist motivisch von der Koblenzer Liebfrauenkirche übernommen, wenn auch die Ausführung variiert. Für die Einzelformen konnten Vergleiche vor allem im Mittelrheingebiet, aber auch im schwäbischen Raum gefunden werden. Unter französischer Herrschaft wurden alle Stiftsgebäude von St. Kastor bis 1812 abgerissen und die Westfassade der Kirche mit einem klassizistischen Portal versehen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten mehrere durchgreifende Restaurierungen im Sinne der Neoromanik. Abschließend ist zu hoffen, dass die Bedeutung des Baus in Zukunft besser erkannt wird und er eine entsprechende Würdigung im Rahmen der Kunstgeschichte erhält.

Maria Wenzel

Leonardo am Mittelrhein? Der Glockenstuhl von St. Martin in Oberwesel

Glockenstühle sind beeindruckende Zeugnisse der Zimmermannskunst. Aber erst, wenn man das Läuten einer Glocke mit dem knarrenden Anschwingen, dem ohrenbetäubenden Geläut und dem langsamen Ausschwingen miterlebt, bekommt man ein Gefühl für die Kräfte, die beim Läuten am Werk sind. Letztlich wächst damit auch das Verständnis dafür, warum man schon seit Jahrhunderten bestrebt ist, diesen mechanischen Vorgang zu optimieren. In diesem Sinne gibt der folgende Text einen Einblick in die Welt der Technik im Mittelalter und erläutert am konkreten Beispiel den Umgang der Denkmalpflege mit Glockenstühlen als Zeugnisse der Holzbaukunst.

Forschungsgegenstand Glockenstühle Der heutige Wissensstand über historische Glockenstühle ist deutlich ausbaubar: Eine grundlegende Dissertation von Heinrich Biebel aus den 1920er Jahren beschränkt sich einerseits auf Stadtkirchen und andererseits beim Umfang des Untersuchungsgebietes.1 Hervorzuheben ist die jüngste Dissertation von Iris Engelmann (2015 an der Universität Weimar), die sich mit den Glockenstühlen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Thüringen beschäftigt. Eine weitere Forschungsrichtung vertreten die Campanologen, welche vor allem die Glocken selbst und deren intensive Beanspruchung durch den Klöppel untersuchen. Hier ist das europäische Forschungsprojekt Probell zu nennen.2

1

Heinrich Biebel, „Gezimmerte Glockenstühle“, in: Zeitschrift für Bauwesen, Jg. 71, 1921, Heft 4–6, S. 93–115. 2 Siehe unter http://www.probell.org [Zugriff: 14.12.2017].

Glocke, Joch und Glockenstuhl Zur besseren Verständlichkeit werden im Folgenden die wesentlichen Merkmale von Konstruktionsweise und Funktion des Glockenstuhls zusammengefasst.3 Glocke, Glockenjoch und Glockenstuhl bilden ein Ensemble, das in einer mehr als 1500-jährigen Entwicklung schon frühzeitig eine harmonische Form erreicht hatte. Die Glocke transportiert den Klang und stellt mit oft meisterhafter Gestaltung und bild­ nerischer Ausschmückung ein eigenständiges Kunstwerk dar. Auch Glockenjoche sind häufig aufwendig gestaltet. Glockenjoch und -stuhl tragen mit Ausformung und Material in hohem Maße zur Klangwirkung der Glocken bei, sodass alle Teile zusammen­ wirken und gemeinsam betrachtet werden müssen. Im Allgemeinen hängt die Glocke am Glockenjoch, einem mächtigen Balken, der vor allem auf Biegung und Torsion (Drehung) beansprucht wird. (Abb. 1) Glocke und Joch sind durch Aufhängungen aus Flach- und Rundstählen starr miteinander verbunden. Nur das Joch selbst schwingt mit den seitlichen Jochzapfen in den Lagern des Glockenstuhls. Die unterschiedliche Ausformung der Glockenjoche folgt einerseits gestalterischen Gesichtspunkten. Je nach Zeitepoche kann sich diese ändern oder schmuckhaft variieren. Andererseits sind vor allem aber klangliche Aspekte ausschlaggebend, denn die Form eines Joches beeinflusst entscheidend das Klangverhalten einer Glocke. So z. B. schwingt eine Glocke mit einem hohen Holzjoch langsamer und die Töne haben mehr Zeit zum Ausklingen. Darüber hinaus wird zwischen geraden und verkröpften ­Jochen unterschieden. Meistens wird die gerade Jochform bevorzugt. Bei dieser Aufhängungsart liegt der

3 Vgl. im Folgenden: Winfried Ellerhorst, Handbuch der Glockenkunde, bearb. u. hg. von Gregor Klaus, Weingarten 1957, in: http:// www.wamsiedler.de/glockenkunde [Zugriff: 14.12.2017].

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1 Hagnau, Zierglocke mit verkröpftem Joch.

2 Freiburg i.B., Glockenstuhl mit Unterkonstruktion.

Schwerpunkt der Glocke tief. Zwar ist der Kraftaufwand beim Läuten relativ groß, ebenso wie der Platzbedarf, in klanglicher Hinsicht aber sind Glocke und Klöppel optimal aufeinander abgestimmt. Der Klöppel wird stark in Schwingung versetzt und schlägt am höchsten Punkt an, er wird „Flugklöppel“ genannt. Ein verkröpftes Joch ist u-förmig nach oben gebogen. Hierdurch schwingt die Glocke um die tiefer gelegene Achse näher an ihrem Schwerpunkt. So kann die dynamische Belastung des Glockenstuhls oder des gesamten Turmes reduziert werden, außerdem ist nicht nur der Kraftaufwand beim Läuten geringer, sondern auch der Platzbedarf.4 Allerdings müssen 4 Vgl. Franz M. Feldhaus, Die Technik der Vorzeit, der geschichtlichen Zeit und der Naturvölker. Ein Handbuch für Archäologen und Historiker, Museen und Sammler, Kunsthändler und Antiquare,

oft schwere Klangeinbußen hingenommen werden. So schlägt z. B. die Glocke schneller an und neigt zum „Bimmeln“. Der Anschlag des Klöppels erfolgt am tiefsten Punkt der Schwingung. Damit handelt es sich um einen „Fallklöppel“. Das Joch schwingt also mit seinen Lagerzapfen in den Jochlagern am Glockenstuhl. Heute handelt es sich dabei um industriell gefertigte Pendelkugellager. Zu den älteren Formen gehören das Wälzlager – eine Schale, in der sich der Jochzapfen dreht – oder das Stelzenlager mit einer geringeren Reibungsfläche. Die Glocke wird durch das Läuteseil in Schwingung versetzt. Dieses läuft über ein Seilrad, welches wiederum am Joch befestigt ist. Bei alten Glocken findet sich manchmal statt des Seilrades ein Läutearm, an dem das Zugseil befestigt ist. Wurden die Glocken früher per Hand geläutet, so setzte sich mit der Industrialisierung der elektrische Betrieb durch. Das erste bekannte motorisch angetriebene Geläut wurde im Jahr 1898 vom Bochumer Verein in der Georgenkirche Berlin-Mitte realisiert.5 Der Glockenstuhl, der das bewegliche Joch trägt, ist ein bock- oder fachwerkartiges Gerüst. (Abb. 2) Er ruht im Idealfall auf einem eigenen Fundament, oft auch auf einem zusätzlichen Untergerüst, das die dynamischen Kräfte beim Läuten in die tieferen Teile des Turmes leitet und so seine Beanspruchung verringert. Dies ist genau die Aufgabe der Glockenstühle: Sie fangen die dynamischen Lasten aus den Schwingungen der oft tonnenschweren Glocken auf und leiten diese reduziert in die Turmwände ab. Die beim Läuten entstehenden horizontalen Schubkräfte können ein Vielfaches des Glockengewichtes betragen. Ist das Gesamtsystem nicht aufeinander abgestimmt oder schadhaft, können am Turm oder den Kirchengewölben im Laufe der Zeit schwere Schäden

Leipzig/Berlin 1914, S. 472ff. Zu Glockenaufhängungen: http:// www.digitalis.uni-koeln.de/Feldhausm/feldhausm_index.html [Zugriff: 14.12.2017]. Leonardo beschreibt im Pariser Manuscript B Bl 70, dass bei Verkröpfung des Glockenjoches ein leichteres Läuten möglich ist: „Mache die Zapfen des Glockenbalkens so tief liegend, dass sie beinahe die Mitte der Glocke treffen und der Teil unter der Achse nur zehn Pfund mehr wiegt, als der Teil über der Achse, und ein kleiner Junge wird sie läuten“, zitiert nach ebd. Leonardo bedachte jedoch nicht, dass so eine Glocke nur sehr langsam schwingen könnte, Pendelgesetze waren noch nicht erforscht. 5 Schrey, „Die elektrisch geläuteten Glocken der Georgenkirche in Berlin“, in: Centralblatt der Bauverwaltung, Berlin, Jg. XVII, 19. Februar 1898, Nr. 8, S. 91f.

Leonardo am Mittelrhein?

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3 Oberwesel, Ortsansicht mit St. Martin, im Hintergrund Liebfrauenkirche und Schönburg.

4 Oberwesel, St. Martin, Glockenstuhls.

5 Oberwesel, St. Martin, Untergerüst des Glockenstuhls.

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entstehen, angefangen von Rissen im Mauerwerk bis hin zur Loslösung des Turmes vom Kirchenschiff. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Glockenstühle ausschließlich aus Holz gefertigt. Danach kam als Zeichen moderner Ingenieursbaukunst auch Stahl als Baumaterial zum Einsatz. Trotz qualitätsvoller Konstruktionen sind deren Läuteeigenschaften oftmals weniger gut, sodass spätestens seit den 1970er Jahren wieder eine Rückbesinnung auf Holzglockenstühle stattgefunden hat.

Turm und Glockenstuhl von St. Martin in Oberwesel Ein beeindruckendes Beispiel für einen mittelalterlichen Glockenstuhl befindet sich im Westturm von St. Martin in Oberwesel.6 (Abb. 3) Die kath. Kirche liegt an der höchsten Stelle der Stadt und bestimmt eindrucksvoll das Ortsbild. Der heutige Bau entstand anlässlich der Gründung eines Stiftes 1303. Nach dem Vorbild der Liebfrauenkirche war eine dreischiffige Anlage geplant, jedoch wurde lediglich das nördliche Seitenschiff ausgeführt. Dendrochronologisch ist das Langhaus 1350/55 bis 1361 datiert. Der mächtige Westturm wurde nach dem Weseler Krieg 1390 bis 1391 als Wehrturm ausgebaut und steht so im Zusammenhang mit der Befestigung der Niederburger Vorstadt. Die Datierung wurde durch dendrochronologische Untersuchungen präzisiert. Die Südmauer bis zum Turmobergeschoß weist Hölzer aus der Zeit zwischen 1448/57 und 1453/54 auf.7 Vor allem in den oberen Bereichen setzen Ecktürmchen, Zinnenkranz und Schlüssellochscharten unverkennbar wehrhafte Akzente. Ein Verputz des steinsichtigen Turmes war vermutlich geplant, wurde aber nie ausgeführt. Im Gegensatz dazu steht die helle, wenig kontrastierende Farbfassung des verputzten Schiffes mit ungegliederten Strebepfeilern, die nach 6 Vgl. im Folgenden: Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Ehem. Kreis St. Goar, Stadt Oberwesel, bearb. von Eduard Sebald, 2 Bde., München 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9), S. 1043ff. Zum Glockenstuhl ebd., S. 577ff. 7 Zu den dendrochronologischen Daten vgl. die bauhistorischen Untersuchungen von Lorenz Frank zum Turm der Kirche St. Martin in Oberwesel, 2008, im Archiv der GDKE, Landesdenkmalpflege Mainz.

restauratorischem Befund bei den letzten Instandsetzungsarbeiten ausgeführt wurde. Der Turm ist nicht nur Wehrturm, sondern auch Glockenträger. Er nimmt insgesamt vier Glocken auf, zwei von 1957 und zwei mittelalterliche. Die älteste wurde 1458 von Tilman von Hachenburg gegossen, die jüngere 1477 von Merten Moller.8 (Abb. 4) Sie wurden ca. zehn Jahre nach dem Bau des Westturmes aufgehängt, wie die dendrochronologischen Datierungen des Glockenstuhles in die Zeit um 1464/65 belegen. Der Glockenstuhl besteht aus fünf parallelen Bockgerüsten, jeweils mit zwei Eck- und einem Mittelständer, sowie andreaskreuzförmigen, gebogenen Streben als Aussteifung. Die Basis des Glockenstuhls ruht auf einer Holzdecke, welche wiederum auf Trompen bzw. auf Mauervorsprüngen im Turm aufgelagert ist. Darunter befindet sich ein mächtiges Untergerüst in zwei Etagen mit Kaiserstiel im oberen Geschoss. (Abb. 5) Es handelt sich um eine beeindruckende, umfangreiche Konstruktion, wie sie sich übrigens in ähnlicher Weise in der Liebfrauenkirche finden lässt. An diesem Glockenstuhl wurden bei der jüngsten Instandsetzung viele ungewöhnliche konstruktive und bauhistorisch interessante Details entdeckt, die letztendlich bis zu Leonardo da Vinci führen. Nach intensiver Recherche stellten sich die eigenartigen Vertiefungen an den Hölzern in Verbindung mit einem ungewöhnlichen Metallteil als Reste einer älteren, vermutlich bauzeitlichen Lagertechnik des Glockenjoches heraus.

Mittelalterliche Lagertechnik Hier stellt sich die Frage, welche historischen Lager­ techniken es im Spätmittelalter überhaupt gab. Zu den frühen, aber bis ins 19. Jahrhundert hinein gebräuchlichen Formen gehören die Wälz- oder Gleitlager.9 Dabei handelt es sich um eine meist metallene 8 Näheres zu den Glockeninschriften in Oberwesel Deutsche Inschriften online unter http://www.inschriften.net/, DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Eberhard J. Nikitsch [Zugriff: 14.12.2017]. 9 Näheres bei Johannes Biehle, Die geschichtliche Entwicklung der Glockenlagerung, hg. von Vereinigte Kugellagerfabriken Aktiengesellschaft, Schweinfurt 1934.

Leonardo am Mittelrhein?

6 Leonardo da Vinci, Codex Madrid I.1, f. 12 v zu Antifriktionslagern, Mehrfachscheiben und Pendelstützen.

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7 Metz, Dom St. Stephan und St.Maria, Ansicht und Schnitt des Glockenlagers.

Schale, in der sich der geschmiedete Jochzapfen dreht. Die starke Abnutzung durch den Reibungswiderstand wirkt sich jedoch nachteilig auf die Lebensdauer aus. Auch ist eine dauerhafte Pflege durch Schmieren notwendig und ein nicht unerheblicher Kraftaufwand beim Läuten. Daher suchte man schon früh nach einer leichter gängigen Läutetechnik, wie sie mit dem Scheibenlager entdeckt wurde. Dieses war bereits im Mittelalter bei deutschen „Maschinenbauern“ bekannt und stellt eine Vorform des Kugellagers dar. Hierbei wird der Jochzapfen auf beweglichen Scheiben gelagert, die eine geringe Reibungsfläche bieten. Eine Abbildung dazu findet sich bei Leonardo da Vincis Madrider Codex von 1495. (Abb. 6) Eine Weiterentwicklung des Scheibenlagers stellt das Stockfeder- oder Stelzenlager dar, das erstmals von Leonardo im Madrider Codex, später auch im Codex Atlanticus dargestellt ist.10 Ob der große Künstler 10 Vgl. Theodor Beck, Beiträge zur Geschichte des Maschinenbaues, Berlin 1899, insbes. S. 324ff. veröffentlicht unter http:// www.digitalis.uni-koeln.de/Beck/beck318–327.pdf [Zugriff:

damit als Erfinder des Lagers gelten darf oder ob er eine damals entwickelte Neuheit darstellt, ist nicht bekannt. In jedem Falle wurde er zum Namensgeber dieses Glockenlagers, bei dem die Lagerscheibe auf jenes Segment reduziert wird, das tatsächlich als Rollfläche dient. (Abb. 7) Der Jochzapfen rollt auf drei Scheibensegmenten, den Stelzen, die beweglich, d. h. federnd, in einem pfannenartigen Lager ruhen. Auf diese Weise rotieren beim Läutevorgang die Segmente um die lagestabile Welle. Wegen der verringerten Reibungsfläche wird es auch Antifriktionslager 14.12.2017], hier Hinweise auf Leonardos Pariser Manuscripte I 114 v: Von den Drehzapfen und ihrer Leichtigkeit in der Bewegung und I 57 h über Drehzapfen in höchster Vollkommenheit, wie für Glocken, Sägen und Dinge ähnlicher Art. Vgl. auch Leonardo da Vinci, Codex Madrid I, kommentierte Edition, Ulrich Alertz, Frank Hasters, Thomas Kreft, Dietrich Lohrmann, bes. Codex Madrid I. 1, f. 12 v zu Antifriktionslager, Mehrfachscheiben und Pendelstützen, veröffentlicht unter: http://www.codex-madrid.rwth-aachen.de/madrid1/f001aa/ index_idx.html [Zugriff: 14.12.2017]; sowie Leonardo da Vinci, Codex Atlanticus Folio 392 recto-b, in: Künstler, Forscher, Magier, hg. von Ladislao Reti, Stuttgart 1974, S. 282, Abb. 4.

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Maria Wenzel

8 Oberwesel, St. Martin, Glockenstuhl, Aussparungen für den verloren gegangenen Segmentstab des Stelzenlagers.

9 Oberwesel, St. Martin, Glockenstuhl, Reste der Befestigung für das verloren gegangene Stelzenlager.

genannt. Es ermöglicht ein deutlich leichteres Läuten und ist pflegeleicht, da kein Schmieren notwendig ist. Nachweislich wurde der Utrechter Dom zwischen 1507 und 1513 entsprechend neu ausgestattet.11 Auch im Bamberger Dom,12 in Straßburg und in Metz sind diese Lagertypen nachweisbar, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts vom Prinzip der Kugellager abgelöst wurden. Neueste Forschungen haben gezeigt, dass die Stelzenlager ein sehr unterschiedliches Verbreitungsgebiet hatten. Sie finden sich öfter im Raum Freiburg, Straßburg und den Niederlanden, sind hingegen in Glockengusszentren wie Lübeck, Lüneburg oder Erfurt bislang nicht nachweisbar.13 Im Glockenstuhl von St. Martin in Oberwesel finden sich nun die Reste eines solchen Stelzenlagers, wie es Leonardo gezeichnet hat. Mehrfache Änderung und Anpassung des Jochlagers haben Teile des originalen Befundes leider zerstört, jedoch ist er noch 11 Vgl. Sjörd van Geuns, „Der Holzglockenstuhl und die Stelzenlager im Utrechter Domturm“, in: Jahrbuch für Glockenkunde, Bd. 19/20, 2008, S. 83–93. 12 Z. B.: Bamberger Glocken in Vergangenheit und Gegenwart, Glocken, Geläute und Turmuhren in Bamberg. Bestand – Geschichte – Quellen, hg. von Peter Claus/Luitgar Göller, Bamberg 2008. 13 Freundlicher Hinweis von Iris Engelmann.

10 Oberwesel, St. Martin, Glockenstuhl, Fundstück eines Endlagers für den Segmentstab.

immer nachvollziehbar. Der senkrechte Mittelpfosten zeigt den Abdruck des verlorengegangenen vertikalen Segmentstabes. (Abb. 8) Erhalten hat sich sein unteres Auflager in Form einer pfannenartigen Aussparung. Da diese Stelze die größten Lasten aufnehmen muss, ist sie mit dicken, geschmiedeten Eisennägeln recht rustikal im Pfosten verankert. (Abb. 9) Von den waagerechten Segmentstäben sind im horizontalen Balken die seitlichen Aussparungen erkennbar. Bei dem metallenen Fundstück handelt es sich um das Endlager eines solchen waagerechten Segmentstabes. (Abb. 10) Ob es sich hierbei um das erste Glockenlager von St. Martin handelt oder um einen späteren Einbau lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Da es ähnliche Lager im späten 15. Jahrhundert bereits gab, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass es sich hier um die Ursprungstechnik handelt. 14

14 Vgl. auch im Folgenden Hubertus Jäckel, Kath. Kirche St. Martin Oberwesel, Bilddokumentation 3. Bauabschnitt Turmsanierung, ppp 2015. Hubertus Jäckel war der Architekt der folgend beschriebenen Baumaßnahme. Er stellte neben der ppp zahlreiche Fotos und wesentliche Informationen zur Verfügung. Dafür sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt.

Leonardo am Mittelrhein?

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Instandsetzung des Glockenstuhls Die Begeisterung über diesen Fund einer wohl noch spätmittelalterlichen Glockenlagerung war mindestens ebenso groß wie das Abenteuer der Gesamt­ instandsetzung der Holzkonstruktion. Diese stand im Zusammenhang mit einer größeren Baumaßnahme. Eigentlicher Anlass waren die immensen Schäden am Holzwerk des Glockenstuhls und der Unterkonstruktion, verursacht u. a. durch eine schadhafte Entwässerung und den Eintrag von Feuchtigkeit in das Trichterdach auf dem Turmaufsatz. Die Schäden waren so groß, dass das Glockenläuten eingestellt werden musste. (Abb. 11) Die Gesamtmaßnahme umfasste den kompletten Neubau des Daches, wobei das Trichterdach gegen ein besser zu entwässerndes Zeltdach ausgetauscht wurde. Dazu mussten auch die Mauerwerksflächen des Turmaufbaus instand gesetzt werden. Glockenstuhl, Zwischendecke und Unterkonstruktion wurden aufwändig zimmermannsmäßig saniert. Bei den Glocken selbst mussten Klöppel und Joche ersetzt sowie die Läuteanlage erneuert werden.15 Hinzu kam die Instandsetzung von Schallläden und Zifferblatt der Uhr. Anfänglich war vorgesehen, das gesamte Holzwerk auszubauen und in der Werkstatt zu reparieren. Schon bald stellte sich jedoch heraus, dass die Sanierung vor Ort die einzig sinnvolle und vor allem substanzschonendere Lösung war. Nicht nur die Baumaßnahme selbst, auch die Einrichtung der Baustelle stellte ein aufwändiges und teilweise abenteuerliches Unterfangen dar, das 2013 begonnen wurde. Zuerst errichtete man ein Gerüst mit Wetterschutzdach. Für das Ausheben der Glocken war ein Autokran von 200 Tonnen notwendig, der für einen Ballast von max. 52 Tonnen ausgelegt war und einen Ausleger von bis zu 48 m besaß. Bei dem rund achtstündigen Einsatz war weitgehende Windstille notwendig, um die insgesamt über sechs Tonnen schweren Glocken aus der engen Aushuböffnung sicher auf den Boden zu bringen. Anschließend folgte der Einbau einer stählernen Stützkonstruktion, um den Glockenstuhl anzuheben und

11 Oberwesel, St. Martin, Schnitt und Planskizze zur Instandsetzung des Glockenstuhls.

12

15 Vgl. Birgit Müller, Glockensachverständige, Gutachterliche Stellungnahme kath. Kirche St. Martin Oberwesel, 2013 im Archiv der GDKE, Landesdenkmalpflege Mainz.

Oberwesel, St. Martin, Einbau der Glocken im Dezember 2014.

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Maria Wenzel

daran aufzuhängen. Dazu wurde das Holzgerüst mit Spanngurten und Traghölzern gesichert und mittels vier Meter langen Gewindestangen an der Stahlträgerkonstruktion verankert. Nun erst war die Auf­ stands­ebene des Glockenstuhles mit all ihren Schäden erkennbar. Vor allem der Feuchtigkeitseintrag hatte zu einem erheblichen Schadensbild geführt. Von den zwölf Balkenauflagern dieser Ebene war keines ohne gravierende Schwächung, die teilweise bis zu 100 % betrug. Daher mussten alle Balkenköpfe abgeschnitten und erneuert werden. Auch die Hölzer des Glockenstuhls selbst waren dramatisch angegriffen, sodass die Konstruktion einen Durchhang von ca. acht cm aufwies – für einen Glockenstuhl eine viel zu starke Verformung. Die Schadenskartierung zeigte Stellen mit Fäulnis, Insekten- sowie Pilzbefall

(Würfelbruch) und damit umfangreich geschwächte oder zerstörte Holzquerschnitte. Auch hatten frühere Ertüchtigungsarbeiten mit neuen Ersatzhölzern erheblich in die historische Konstruktion eingegriffen. Die neue Reparatur erfolgte unter größtmöglicher Wahrung der Substanz bzw. unter Wiederherstellung der historischen Konstruktion. Auch die Jochlagertechnik war mehrfach geändert und angepasst worden. Schließlich mussten alle Glockenjoche ausgetauscht und neue Lager eingebaut werden. Nach dem Wiedereinbau des Glockenstuhls an seinen alten Platz konnten die Glocken am 12.12.2014 wieder eingebracht werden. (Abb. 12) So konnten die Arbeiten trotz der mehrfachen Unterbrechungen aufgrund von aufkommenden Winden, glücklich zum Abschluss gebracht werden.

Hauke Horn

St. Martin zu Bingen Die Baugeschichte einer sukzessiv gewachsenen Kirche im Spannungsfeld von Stift und Stadt

Die Frühzeit der Kirche Die Anfänge der Binger Martinskirche liegen im Dunkeln. Zahlreiche frühchristliche Grabsteine, die in Bingen und Umgebung gefunden wurden, weisen zwar nach, dass dort bereits im 5./6. Jahrhundert das Christentum praktiziert wurde. Der Grabstein des Presbyters Aetherius, der sich heute in der Martinskirche befindet, aber von einem Gräberfeld östlich der Stadt stammt, ist ein prominentes Zeugnis dafür.1 Allerdings sagt das noch nichts über die Existenz der Martinskirche aus. In der Literatur ist häufig zu lesen, die Kirche wäre an der Stelle eines Merkurtempels errichtet worden.2 Archäologisch nachgewiesen wurde ein solcher Tempel bisher allerdings nicht. Die These stützt sich allein auf ein Altarfragment, das bei Grabungen in der Krypta gefunden wurde und genauso gut von einer anderen Stelle des römischen Bingens stammen könnte. Von geringer Aussagekraft ist auch der archäologische Fund eines dekorierten Werksteinfragments, das von Christian Rauch als Beleg für eine karolingische Kirche gewertet wurde.3 Doch weder steht fest, wovon und woher das Fragment stammt, noch weisen seine Formen eindeutig in die karolingische Zeit. Als erstes schriftliches Zeugnis wird in der Literatur häufig eine Urkunde von 793

Dieser Beitrag basiert auf dem Aufsatz: Hauke Horn, „Die Baugeschichte von St. Martin zu Bingen“, in: St. Martin in Bingen. Die Geschichte der Basilika, hg. von Regina Schäfer, Roßdorf 2016, S. 92–122. Für diese Publikation wurde der Text überarbeitet und mit Fußnoten versehen. 1 Zum Aetherius-Stein grundlegend: Walburg Boppert, Frühchristliche Inschriften des Mittelrheingebietes, Mainz 1971, S. 99–104. 2 z. B. Carl: Villinger, Die St. Martins-Stiftskirche zu Bingen, Basilica minor. Ihre Geschichte und ihre Kunstwerke, Bingen o. J. (1959?), S. 15. 3 Christian Rauch, Die Kunstdenkmäler des Kreises Bingen, Darmstadt 1934 (Die Kunstdenkmäler im Volksstaat Hessen), 47–122, hier S. 48f.

angeführt.4 Aus dieser geht allerdings nur hervor, dass eine Körperschaft mit dem Heiligen Martin als Patron über Grundbesitz in der Binger Mark verfügte. Damit könnte das Binger Martinsstift gemeint sein, aber es könnte sich genauso gut um eine andere Körperschaft mit Martinspatrozinium handeln; vor allem der erzbischöfliche Stuhl in Mainz käme in Frage.5 Den frühesten sicheren Nachweis für die Existenz des Stifts St. Martin zu Bingen, und damit zwangsläufig auch einer Martinskirche, liefert erst eine Urkunde des Mainzer Erzbischofs Willigis von 1006, in welcher das Stift explizit erwähnt wird.6

Die Krypta des 11. Jahrhunderts Das früheste bauliche Zeugnis, das sich an der Martinskirche greifen lässt, ist die Krypta (Abb. 1). Vier Säulen mit Würfelkapitellen, monolithischen Schäften und attischen Basen tragen ein Kreuzgratgewölbe, dessen Felder von sichelförmigen Gurten begrenzt werden. Die voluminösen Würfelkapitelle nähern sich in ihrer Kubatur einem Würfel an, was viele Kapitelle dieses Typs – anders als der Name vermuten lässt – eher wenig tun. An den Seiten wurden die Schilde sowie ein Platte als oberer Abschluss dezent konturiert. Während sich zum Schaft hin ausladende Halsringe befinden, vermitteln einfache 4 Codex diplomaticus Fuldensis, hg. von Ernst Friedrich Johann Dronke, Kassel 1850, Nr. 105. 5 Ernst-Dieter Hehl ging zuletzt sogar davon aus, dass die Mainzer Domkirche gemeint war und nennt die Bezugnahme auf Bingen „irrtümlich“ (Ernst-Dieter Hehl, „St. Martin in Bingen. Religiöses Leben, Seelsorge und politisch-soziales Umfeld im frühen und hohen Mittelalter“, in: St. Martin in Bingen. Die Geschichte der Basilika, hg. von Regina Schäfer, Roßdorf 2016, S. 13–44, hier S. 22). 6 Regesta Bingiensia, hg. von Anton Joseph Weidenbach, Bingen 1853, Nr. 39.

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Hauke Horn

1 Krypta, drittes Viertel 11. Jahrhundert.

2 Basis in der Krypta.

3 Speyer, Domkrypta, geweiht 1041.

Kämpferplatten aus Platte und Schräge vom Kapitell zum Gewölbe. Bemerkenswert ist, dass Kapitell, Kämpfer und Halsring gemeinsam aus nur einem Stein geschlagen wurden. Auch bei den Schäften handelt es sich um Monolithen. Die attischen Basen weisen eine vergleichsweise schwach gerundete Kehlung auf und besitzen keine Eckzehen (Abb. 2). An den Wänden korrespondieren einfache Vorlagen aus Quadermauerwerk mit den Säulen der Raummitte. Die Wandvorlagen wurden lediglich mit einem Kämpfer am Übergang zur Wölbung geschmückt, dessen einfache Profilierung aus Platte und Schräge den Säulen entspricht. Anhaltspunkte für eine Datierung der Krypta kann derzeit allein eine formengeschichtliche Analyse liefern. Das beste Vergleichsbeispiel in dieser Hinsicht liefert die Krypta des Doms zu Speyer, die wohl 1041 geweiht wurde (Abb. 3).7 Die dortigen Würfelkapitelle stehen denen in der Binger Krypta hinsichtlich der Kubatur, des kräftigen Halsrings wie auch der dezenten Zeichnung von Schilden und Platte am nächsten. Die Kapitelle anderer, in der Literatur genannter Vergleichsbeispiele wie die Krypten von St. Gallus zu Ladenburg (Abb. 4) oder der eh. Peterskirche in Worms-Hochheim weichen in ihren Formen hingegen stärker ab. Die einfachen Kämpferplatten aus Platte und Schräge finden sich – wenn auch nicht durchgängig – ebenfalls in der Speyerer Domkrypta, vor allem aber im dortigen Langhaus, dessen erste Bauphase gegen 1060 eingestellt wurde.8 Eine signifikante Übereinstimmung zwischen Bingen und Speyer zeigt schließlich die Gewölbetechnik: In beiden Krypten weisen die Gurte eine Sichelform auf und die Grate werden von unscheinbaren Wulsten begleitet. Die deutlichen Parallelen sprechen dafür,

7 Dethard von Winterfeld, Die Kaiserdome Speyer, Mainz, Worms und ihr romanisches Umland, Würzburg 1993, S. 48. Walter Haas hält das Weihedatum für ungesichert und sieht es als terminus ante quem an (Hans Erich Kubach/Walter Haas, Der Dom zu Speyer, Bd. 1: Textband, München 1972 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 5), S. 696). 8 Zum Bauablauf des Speyerer Doms: Hauke Horn, „Flachdecke oder Wölbung? Gedanken zum ursprünglichen oberen Raumabschluss im frühsalischen Mittelschiff des Doms zu Speyer“, in: Der Dom zu Speyer. Konstruktion, Funktion und Rezeption zwischen Salierzeit und Historismus, hg. von Matthias Müller/ Matthias Untermann/Dethard von Winterfeld, Darmstadt 2013, S. 158–181, hier S. 174–176.

St. Martin zu Bingen

4 Ladenburg, St. Gallus, Kapitell in der Krypta.

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5 Basis, gefunden bei Ausgrabungen im Mittelschiff 1925, Durchmesser unterer Torus: 97 cm.

dass die richtungsweisende Speyerer Domkrypta das unmittelbare Vorbild für die Binger Krypta gewesen ist. Die Speyerer Krypta war in den 1040er Jahren in Betrieb, so dass eine Datierung der Binger Krypta in das dritte Viertel des 11. Jahrhunderts realistisch erscheint. Die von manchen Autoren wahrscheinlich aufgrund der Urkunde von 1006 vertretene Datierung in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts erscheint hingegen mit Blick auf Speyer zu früh. Bei partiellen archäologischen Grabungen in der Martinskirche fand man 1925 eine Basis,9 deren Profil mit demjenigen der Kryptabasen identisch ist (Abb. 5). Die Basis befand sich in situ auf einem breiten Fundamentstreifen, der dem vorherigen Mittelschiff zugeordnet werden kann (Abb. 6). Demzufolge handelte es sich bei der Kirche seinerzeit um eine Säulenbasilika oder, was im Vergleich mit anderen hochmittelalterlichen Bauwerken im deutsch-römischen Kaiserreich weitaus wahrscheinlicher ist, eine Basilika mit Wechsel von Pfeilern und Stützen. Die Höhe der Säulen allein, die sich mittels der Basis proportional zu den Kryptasäulen errechnen lässt, muss bei beachtlichen 3,40 Metern gelegen haben. Hingegen fiel das Mittelschiff mit 4,50 Metern lichter Breite 9 Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 49f.

6 Grundriss 1934 mit Eintragung der Krypta und Grabungsbefunden.

vergleichsweise schmal aus. Es lässt sich somit ein ungewöhnlich steiles Mittelschiff rekonstruieren, wie es neuerdings auch für die Mainzer Kirche St. Johannis im Frühmittelalter nachgewiesen ist.10 Die Mittelachse des alten Mittelschiffs, die etwas nördlich der heutigen lag, korrespondierte mit der Krypta. Dies spricht zusammen mit den identischen Basenformen dafür, dass das archäologisch sich abzeichnende Schiff und die Krypta einem gemeinsamen Bauzustand entstammen und zeitnah entstanden sind. In Anbetracht der bereits angesprochenen Datierung der Krypta lässt sich hier folglich eine Baukampagne aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts fassen. Diesen Zeitansatz unterstützt der formengeschichtliche Befund an den Basen, denen die seit dem späten 11. Jahrhundert verbreiteten Eckzehen fehlen. Da jedoch das Stift gemäß der Urkunde bereits 1006 existiert haben muss, handelt es sich hier nicht um den Gründungsbau, sondern einen Umbau der Salierzeit. Ein derartiges Unterfangen ließe sich gut mit der häufig geäußerten These zusammenbringen, das Martinsstift sei unter dem Mainzer Erzbischof

10 Die Grabungen in der Mainzer Johanniskirche waren zum Zeitpunkt, als dieser Aufsatz verfasst wurde, noch im Gange.

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Hauke Horn

Willigis konstituiert worden,11 in dessen Amtszeit sich das Stift zum ersten Mal quellenkundlich nachweisen lässt. Willigis hätte dann das Stift an einer älteren, bereits bestehenden Kirche eingerichtet, welche den funktionalen und repräsentativen Anforderungen des schnell an Bedeutung gewinnenden Stifts schon bald nicht mehr genügen konnte, so dass es zur Mitte des 11. Jahrhunderts zu einem großangelegten Neubau kam. Einem älteren Bauzustand entstammt möglicherweise auch der untere Teil des Südwestturmes. Hierfür spricht, dass der Turm heute im Grundriss in das Mittelschiff hineinragt, wohingegen das südlich ergrabene Fundament des alten Mittelschiffs recht genau auf die Nordecke des Turms zuläuft (Abb. 6). Es sieht also danach aus, als wäre der Turm in Bezug auf das alte Mittelschiff hin angelegt worden. Damit käme eine Erbauung im 12. oder 13. Jahrhundert in Betracht. In wieweit noch alte Substanz vorhanden ist, ließe sich, ebenso wie eine genauere Datierung, nur über weitergehende archäologische und bauforscherische Untersuchungen am Turm klären.

Der Stadtbrand 1403 Im August 1403 kam es zu einem verheerenden Brand in Bingen, bei dem drei Viertel der Bürgerhäuser abgebrannt sein sollen und auch die Stiftskirche schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.12 Am 3. Oktober wandten sich deshalb die Dignitäre des Stifts gemeinsam mit Bürgermeister und Rat der Stadt Bingen in einem Rundschreiben an die süddeutschen Bischöfe und die in ihren Diözesen wohnenden Adligen und weltlichen Würdenträger mit der Bitte um Spenden für den Wiederaufbau der Kirche, die mit „Thürmen, Kreuzgängen, Kernern, Glocken und anderem Zubehör“ verbrannt sei.13 Dass das Stift in der Tat schwer getroffen wurde, lässt sich daraus schließen, dass der Aufruf von Stift und Stadt gemeinschaftlich verfasst und für die Einsammlung der Spenden eigens ein 11 Günter Kuntze, Das Stift St. Martin in Bingen. Geschichte, Verfassung, Besitz, Mainz 1964, S. 4–6. 12 Annales Bingenses, verf. von Johannes Scholl 1613 und hg. von Eduard Sander, Mainz 1853, 176f; Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 392. 13 Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 393.

Kanoniker entsandt wurde. Eine Kirche aus Stein kann jedoch nicht gänzlich den Flammen zum Opfer gefallen sein. Wahrscheinlicher ist, dass der hölzerne Dachstuhl und ein Großteil der kostbaren Ausstattung verbrannten. Trotz des erheblichen finanziellen Schadens, den das Stift somit erlitt, entschied man sich nicht für eine Wiederherstellung des alten Bauwerks, sondern nutzte die Gelegenheit zu einer Vergrößerung und Modernisierung der Kirche. Dass ein Brand im Mittelalter oftmals nicht die Ursache, sondern der Anlass für eine grundlegende Erneuerung einer Kirche war, belegen zahlreiche vergleichbare Fälle. Ein prominentes Beispiel, bei dem ein solcher Vorgang schriftlich dokumentiert ist, wäre der umfassende Neubau des Magdeburger Doms nach einem Brand 1207. Die zeitgenössischen Quellen berichten vom Unmut der Magdeburger Bürger, als mit dem Abbruch des Altbaus begonnen wurde, weil man diesen hätte instand setzen lassen können.14 Der Magdeburger Dom des 13. Jahrhunderts wurde – aufgrund einer Achsdrehung – als kompletter Neubau an altem Ort konzipiert. Bei zahlreichen Baukampagnen des Mittelalters kam es hingegen zu einer Integration alter Gebäudeteile in die Neuplanungen; so auch in Bingen, wo die Krypta des 11. Jahrhunderts und offenbar ein Teil des Westbaus bewahrt blieben. In der älteren Literatur wurden derartige Übernahmen alter Gebäudeteile oft mit wirtschaftlichen Gründen erklärt. Tatsächlich verursachte die Integration alter Krypten ganz im Gegenteil oftmals einen baulichen und damit auch wirtschaftlichen Mehraufwand.15 Die Bewahrung alter Gebäudeteile stand mitunter im Zusammenhang mit einer Tradition des Ortes, die nicht nur erhalten, sondern auch mittels der Architektur sichtbar gemacht werden sollte.16 In Bingen lässt sich die Krypta ebenfalls 14 Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 1. Jahrhundert, Bd. 7: Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Magdeburg, Bd. 1, hrsg. durch die historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1869 (Repr. Göttingen 1962), S. 132. 15 Hauke Horn, Erinnerungen, geschrieben in Stein. Spuren der Vergangenheit in der mittelalterlichen Kirchenbaukultur, Berlin 2017 (Kunstwissenschaftliche Studien, 192), S. 34–42. 16 Ebd.; s. auch: Hauke Horn, Die Tradition des Ortes. Ein formbestimmendes Moment in der deutschen Sakralarchitektur, Berlin 2015 (Kunstwissenschaftliche Studien, 171).

St. Martin zu Bingen

als – noch heute verständlicher – Verweis auf das hohe Alter der Kirche auffassen. Welche Tradition damit verbunden war und auf welche Weise die Krypta genutzt wurde, lässt sich allerdings nach derzeitigem Kenntnisstand nicht erkennen. Dennoch ist die Binger Krypta nicht nur aufgrund ihres hohen Alters beachtenswert, sondern auch ihre Integration in den großangelegten Neubau des 15. Jahrhunderts ist von architekturhistorischem Interesse.

Der Wiederaufbau nach 1403 Der Wiederaufbau der Binger Martinskirche nach neuem Plan begann gemäß einem Eintrag in den 1613 verfassten Annales Bingenses im Jahr 1404, also im Jahr nach dem großen Stadtbrand, auf Betreiben des Mainzer Erzbischofs Johann II. von Nassau.17 Der liturgische Betrieb wurde während des Umbaus der Kirche aufrecht erhalten, wie sich aus einer Urkunde von 1404 ableiten lässt, mit welcher der Erzbischof den Kanonikern des Martinsstifts „den Gebrauch tragbarer Altäre an schicklichen Orten ihrer Kirche“ auf Widerruf genehmigte.18 Eine von Johann II. von Nassau 1417 ausgestellte Urkunde bestätigt, dass der Mainzer Metropolit nicht nur bei der Wiederherstellung des Kirchenbaus, sondern des Stifts im Ganzen eine entscheidende Rolle gespielt hat: „Daher habe ich die Kirche selbst und ihre Bruderschaft mitsamt ihren Gehilfen, soweit es uns möglich war, in einen ihr angemessenen Zustand wiederhergestellt, […].“19 Die Bauträgerschaft des Mainzer Erzbischofs lässt sich schließlich auch am Bauwerk selbst ablesen, denn das Wappen Johanns II. von Nassau ist an prominenter Stelle auf dem Gewölbeschlussstein in der südlichen Nebenapsis zu sehen (Taf. 11). 17 Annales Bingenses (wie Anm. 13), S. 177. 18 Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 396. 19 „Quapropter ispam Ecclesiam & eius fratum [sic!] cum suis ministris, quantum nobis possibile fuerit, suo decori restitui, […]“ (Codex Diplomaticus anecdotorum res Moguntinas, Francicas, Trevirenses, Hassiacas, finitimarumque regionum nec non jus germanicum et S. R. I. historiam vel maxime illustratium, hg. v. Valentin Ferdinand von Gudenus, Bd. 4, Frankfurt 1758, S. 117). – Für die Hilfe bei der Übersetzung danke ich Herrn Dr. Bastian Reitze vom Institut für Altertumswissenschaften, Arbeitsbereich Klassische Philologie, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Aus der 1404 begonnenen Baukampagne, welche auf die Errichtung einer dreischiffigen, kreuzgewölbten Basilika abzielte, stammen im heutigen Bauwerk der Chor mit dem polygonalen 5/8-Schluss, das Mittelschiff (Taf. 10) und das südliche Seitenschiff. Der ursprüngliche Chorbereich umfasste neben dem Polygon zwei Rechteckjoche, die zu den Seitenschiffen hin geschlossen waren. Die Wände des westlichen Chorjochs wurden erst während der großen Renovierung um 1890 mit je einer großen Arkade zu den Seitenschiffen hin geöffnet.20 Bis 1657 trennte darüber hinaus ein Lettner den Chor vom Mittelschiff. Der Abbau des Lettners erfolgte in der Amtszeit des berühmten Binger Dekans und Pfarrers Bartholomäus Holzhäuser noch in der Spätzeit des Stifts.21 Die Wände des Chorpolygons sind weitgehend durch große Maßwerkfenster aufgelöst, darunter befinden sich breite Nischen, die heute vom barocken Hochaltar verdeckt werden. In den Ecken erheben sich über polygonalen Sockeln dünne Dienste, welche die gekehlten Rippen des sechsteiligen Gewölbes tragen. Anstelle von Kapitellen markieren, wie in der Kirchenbaukunst um 1400 nicht unüblich, lediglich profilierte Platten die Fußpunkte des Gewölbes, welche im Verhältnis zu den Couronnements der Maßwerkfenster auffallend tief sitzen, so dass die Fenster weit in das Gewölbe hineinragen. Eine Stelzung der Rippen erhöht diesen Effekt. Die Kappen des Polygongewölbes wirken aus diesem Grund wie dünne Häute, die zwischen den Rippen gespannt sind, und verhelfen dem Gewölbe auf diese Weise zu einer leichten und filigranen Wirkung. Die dreibahnigen Maßwerkfenster zeigen drei gestapelte Vierblätter, die in der unteren Reihe gegenläufig rotieren. Die beiden anschließenden, rechteckigen Joche des Stiftschores wurden mit einfachen Kreuzrippen überwölbt, deren Fußpunkte so tief sitzen wie im Chorpolygon und auf diese Weise die membranartige Wirkung des Gewölbes fortsetzen. Auf Dienste wurde hingegen verzichtet, stattdessen nehmen Konsolen die Rippen auf, die im Kontrast zur relativ schlichten architektonischen Struktur bildhauerisch aufwändig als Köpfe ausgebildet wurden (Abb. 7, Abb. 8). In den drei westlich anschließenden Mittelschiffsjochen 20 Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 59. 21 Ebd., S. 52f.

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7 Konsole im östlichen Mittelschiff.

8 Konsole im westlichen Mittelschiff.

wird die tektonische Struktur der beiden Chorjoche recht einheitlich fortgeführt. In ihrer heutigen Form stammen die Gewölbe des Chors und Mittelschiffs allerdings aus den 1950er Jahren, denn die mittelalterlichen Gewölbe stürzten in Folge eines Bombenangriffs 1944 gänzlich ein.22 Da man sich bei der Rekonstruktion der Nachkriegszeit am alten Befund orientierte, wie alte Fotos belegen, vermitteln die heutigen Gewölbe einen Eindruck des mittelalterlichen Zustands. Bei der Bewertung von Details ist freilich Vorsicht geboten. So sieht es auf den qualitativ schlechten Abbildungen der Vorkriegszeit so aus, als wären die Profile der Rippen durchgehend bis auf die Konsolen ausgebildet gewesen.23 Die heute sichtbare, vermeintlich spätgotische Verschleifung der Profile wäre demnach eine Zutat des 20. Jahrhunderts. Original in ihrer Substanz sind hingegen noch die Mittelschiffsmauern. Schlichte, massige Rechteckpfeiler tragen die ungegliederten Obergadenwände,

in denen knapp unterhalb der Scheidbögen spitzbogige Maßwerkfenster sitzen. Inwieweit es sich bei den spätgotisch wirkenden Figuren aus Fischblasen und Falchions um originalen Bestand handelt oder um Rekonstruktionen aus dem 19. Jahrhundert, lässt sich in diesem Rahmen nicht klären.24 An den Arkaden lässt sich die für einen Bau dieser Größenordnung ungewöhnliche Stärke der Mittelschiffswände erkennen, die wie die durchgehenden Strebepfeiler mit dem unten beschriebenen schiffsweisen Bauverlauf zusammenhängt.25 Die Spitzbögen werden von ungewöhnlich breiten Gurten unterfangen, die mit großen Kehlen seitlich einer polygonalen Rippe eher grob profiliert wurden. Allein die Konsolen, auf denen die Arkadenrippen aufsetzen, sind mit Rankenmotiven verziert. Die Kopfkonsolen der östlichen Arkaden stammen aus dem 19. Jahrhundert, als man

22 Villinger 1959? (wie Anm. 3), S. 47. 23 Rauch 1934 (wie Anm. 4), Abb. 37.

24 Christian Rauch berichtet leider nur ungenau über eine „durchgreifende Restaurierung und vielfache Erneuerung besonders der dekorativen Teile (des Maßwerks usw.)“ (Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 53). 25 S. hierzu den Beitrag des Autors zur mittelalterlichen Bautechnik am Mittelrhein in diesem Buch.

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die Chorwand öffnete.26 Den Schub der Chor- und Mittel­schiffs­ge­wöl­be nehmen schlichte Strebepfeiler an den Außenseiten der Chor- und Mittelschiffswände auf. Diese bemerkenswerte Tragstruktur hat zur Konsequenz, dass die Strebepfeiler die Seitenschiffsdächer durchstoßen und in den Seitenschiffen sichtbar sind (Abb. 9, Abb. 10). Kontraste machen den architektonischen Reiz von Hochchor und Mittelschiff aus (Taf. 10). Den nüchternen und schweren Wandmassen stehen die filigranen Gewölbekonstruktionen mit ihren Profilen und plastischen Details, vor allem den Kopfkonsolen, gegenüber. Den Höhepunkt des Raumes bildet unbestritten der Chorschluss, dessen große und prächtige Maßwerkfenster für eine Lichtfülle im Sanktuarium sorgen, die im Gegensatz zur Dunkelheit des basilikalen Schiffes steht. Während die horizontale Flächigkeit der Wand im Schiff dominiert, wird der Chorschluss vertikal strukturiert von einer feinen Lineatur aus Diensten und Pfosten, die schließlich im dünnhäutigen Rippengewölbe kunstvoll kulminiert. 9 Grundriss vor Umbau 1885.

Die Weihe 1416 Für den 23. Dezember 1416 ist eine Weihe des Hochaltars zu Ehren Gottes, Martins, Marias, Stephans und Liberius` durch den Mainzer Weihbischof Gerhard überliefert.27 Die betreffende Urkunde ist im Original leider verschollen. Von ihrer Existenz und ihrem Inhalt weiß man nur von Jakob Keuscher, der die Urkunde nach eigenen Angaben vor 1853 in der Mainzer Stadtbibliothek gesehen habe.28 Die Angaben Keuschers wirken jedoch glaubwürdig und eine Weihe 1416, also zwölf Jahre nach Baubeginn, erscheint im Vergleich mit anderen Baukampagnen der Zeit realistisch. Für eine Weihe 1416 spricht auch die bereits genannte Urkunde von 1417, mit welcher 26 Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 59. 27 Jacob Keuscher, Die Feuerbrände der Stadt Bingen in den Jahren 1403, 1490, 1540, 1689, 1850. Ein Beitrag zur Geschichte dieser Stadt, Darmstadt 1853, S. 10f. 28 Ebd. –Merkwürdig ist, dass Keuscher über die Urkunde im Imperfekt berichtet („sich in der Mainzer Stadtbibliothek befand“). Die recht präzisen Angaben auch zu Details des Siegels legen jedoch nahe, dass Keuscher die Urkunde selbst gesehen hat. In späteren Publikationen wurde das Weihedatum 1416 ohne Quellenangabe genannt (z. B. Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 52).

10 Querschnitt vor 1944, Blick nach Westen.

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der Mainzer Erzbischof Johann II. von Nassau dem Stift die Bethlehem-Kapelle in Bingen mitsamt ihren Einkünften übereignete. Nachdem Johann II. von Nassau schildert, dass das Stift durch einen Brand in eine Notlage gekommen sei, führt er fort: „Daher habe ich die Kirche selbst und ihre Bruderschaft mitsamt ihren Gehilfen, soweit es uns möglich war, in einen ihr angemessenen Zustand wiederhergestellt, […]“29. Der Erzbischof schreibt im Perfekt über die Wiederherstellung und betrachtet diese folglich zumindest de iure als abgeschlossen. Dies würde zu einer vorangegangenen Weihe des Hochaltars passen, die schließlich als religiöser wie rechtlicher Akt die Aufnahme des Regelbetriebs anzeigt. Auf der anderen Seite sieht Johann II. von Nassau, dass de facto weiterer Handlungsbedarf beim Aufbau besteht und erweitert dessen finanziellen Handlungsrahmen durch die Inkorporation der Kapelle samt ihrer Einkünfte in das Stift. Dass dies der Zweck der Schenkung gewesen ist, geht daraus hervor, dass in der Urkunde explizit ein Zusammenhang mit der durch Brand verursachten Notlage hergestellt wird. Die Regesta Bingiensia berichten zudem von einer weiteren, kurz darauf erfolgten Schenkung des Erzbischofs an das Binger Martinsstift.30 Was teilt das Weihedatum nun über den Zustand des Kirchenbaus mit? In der älteren Literatur wurde eine Weihe oftmals mit der Fertigstellung des Bauwerks gleichgesetzt. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass die Weihe lediglich die Inbetriebnahme des Bauwerks, das heißt in der Regel des Chores, markiert, während die Bauarbeiten auch danach noch fortliefen. 1416 war der Umbau der Martinskirche demnach soweit fortgeschritten, dass am Hochaltar wieder ein geregelter liturgischer Betrieb aufgenommen werden konnte. Das setzt voraus, dass der Chorbereich zumindest überdacht gewesen war. Das Wappen des 1419 verstorbenen Erzbischofs Johann II. von Nassau zeigt an, dass die südliche Nebenapsis zum Zeitpunkt der Weihe oder kurz danach bereits mit Wölbung aufrecht stand. Das macht wahrscheinlich, dass auch die Gewölbe des Chors bereits im Bau, wenn nicht sogar schon fertiggestellt waren.

29 S. Anm. 19. 30 Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 424. Übertragen wurde dem Stift eine St. Oswald-Kapelle, die sich in „Dublesheim“ in der Gemarkung Büdesheim befand.

Bauverlauf Trotz der einheitlichen architektonischen Struktur lassen Details auf den zweiten Blick erkennen, dass der Bau des Mittelschiffs in Etappen von Osten nach Westen verlief: In den Mittelschiffsjochen setzen die Fußpunkte der Gewölbe ein Stück höher an und die zugehörige Konsolplastik ist deutlich einfacher ausgeführt worden. Anstelle der großen, plastisch ausgearbeiteten Köpfe im Chor treten hier kleinere, mehr ins Relief tendierende Köpfe auf (Abb. 7, Abb. 8). Das wirkt wie eine Maßnahme, um in Anbetracht schwindender Finanzmittel Kosten im Bereich der teuren Bildhauerarbeiten zu sparen, ohne die Einheitlichkeit der Architektur auf den ersten Blick zu gefährden, was wiederum darauf hinweist, dass die Einwölbung der Mittelschiffsjoche ganz am Schluss der Baukampagne vollzogen wurde. Im Südseitenschiff und der nördlichen Westturmhalle finden sich hingegen Kopfkonsolen, die denjenigen im Chor an Qualität und Größe nicht nachstehen und somit wohl in zeitlicher Nähe zu jenen entstanden sind. Aufgrund der durchgehenden Strebepfeiler an den Mittelschiffswänden wurde in der Literatur bisher davon ausgegangen, dass die Martinskirche zunächst als einschiffiger Saalbau geplant gewesen war. Dagegen spricht jedoch das bereits angeführte Wappen Erzbischof Johanns II. von Nassau im südlichen Seitenschiff (Taf. 11), das den Bau zumindest des östlichen Teils des Südseitenschiffs parallel zum Chor datiert wie auch die angesprochenen Kopfkonsolen, die nahelegen, dass das Seitenschiff vor dem Mittelschiff gewölbt wurde. Die in den Kirchenraum einbezogenen Strebepfeiler sind demnach kein Indiz für eine einschiffige Planung. Vielmehr handelt es sich um eine für den Mittelrhein charakteristische Tragstruktur für mehrschiffige Bauwerke, die wohl beim Bau der Liebfrauenkirche in Mainz um 1300 eingeführt wurde – dort noch mit Diensten vor den Strebepfeilern – und bei den Baukampagnen von Liebfrauen in Oberwesel, St. Anna in Steeg, St. Martin in Lorch und St. Martin in Oberwesel aufgegriffen wurde.31 Dieses Verfahren brachte den logistischen Vorteil mit sich, die Bauabschnitte mit den Schiffen verknüpfen zu können, weil 31 S. hierzu den Beitrag des Autors zur mittelalterlichen Bautechnik am Mittelrhein in diesem Buch.

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die Seitenschiffe statisch nicht mehr zwingend benötigt wurden, um den Schub der Gewölbe aufzunehmen. Es ermöglichte also, die Schiffe unabhängig voneinander zu errichten. An der Binger Martinskirche hat man gemäß dem Befund das Mittelschiff gemeinsam mit dem Südseitenschiff geplant und errichtet, hingegen auf das nördliche Seitenschiff zunächst verzichtet. Ganz ähnlich verfuhr man beim Bau von St. Martin in Oberwesel, wo das ursprünglich geplante Seitenschiff nicht ausgeführt wurde und heute noch immer fehlt (Taf. 41). Mit den Planungen für die Nordschiffe der Martinskirche in Bingen, allgemein bekannt als Barbarabau, wurde erst begonnen, nachdem die erste Bauetappe inklusive Ausstattung als abgeschlossen betrachtet wurde. Die Hypothese von einem älteren Nordseitenschiff, das für den Barbarabau abgerissen worden sei, wäre damit obsolet. Wie lange der Bau des Mittel- und Südseitenschiffs nach der Weihe 1416 noch andauerte, lässt sich nur schwer abschätzen. Eine Urkunde von 1430 berichtet vom Bau eines Valentinsaltares durch den Kanoniker Heinrich Nolle und der Stiftung einer Vikarie ebendort durch den Adligen Johann Fust von Diebach.32 Die Ausstattung der Kirche war demnach 14 Jahre nach der Weihe noch im Gange. Raoul Hippchen wies jüngst auf eine Schriftquelle von 1431 hin, mit der eine großzügige Geldschenkung des Binger Ratsherren und langjährigen Vorstands der Kirchenfabrik Paul Ingebrand dokumentiert wird.33 Darin ist auch von einer Spende von 426 Gulden die Rede, um „zwei Apsiden der Pfarrkirche zu wölben“, was man auf die Polygonschlüsse von Chorhaupt und südlichem Nebenchor beziehen möchte. Diese Nachricht steht jedoch im Widerspruch zum Befund, dass sich im südlichen Nebenchor das Wappen Johanns II. von Nassau befindet. Wie auch immer die Nachricht von der Schenkung Paul Ingebrands zu interpretieren ist, so darf man daraus wohl zumindest auf Wölbungsarbeiten in der Kirche schließen, die somit parallel zur Einrichtung von Nebenaltären stattgefunden haben.34 Mit dem Abschluss des Innenausbaus, zu 32 Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 447. 33 Raoul Hippchen, „St. Martin zwischen Stift und Stadt“, in: St. Martin in Bingen. Die Geschichte der Basilika, hg. von Regina Schäfer, Roßdorf 2016, S. 45–74, hier S. 58f. 34 In den Regesta Bingiensia wird eine Urkunde von 1435 erwähnt, mit welcher der Mainzer Erzbischof Theoderich denjenigen

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dem die Wölbung anscheinend zählte, und der Ausstattung wäre demnach in den 1430er/1440er Jahren zu rechnen.

Architekturhistorische Einordnung Die Architektur, mit der man die Martinskirche im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts wiederaufbaute, entspricht der gängigen Architektur von Stiftskirchen am Mittelrhein in der Zeit von ca. 1310 bis 1440. Vor allem der prächtige Neubau der Liebfrauenkirche in Oberwesel ab 1308 und der stark daran orientierte Neubau der benachbarten Oberweseler Martinskirche zur Mitte des 14. Jahrhunderts scheinen als Vorbild für St. Martin zu Bingen gedient zu haben.35 Auf die bautechnischen Parallelen zur Oberweseler Martinskirche mit den durchlaufenden Strebepfeilern an der Mittelschiffswand, die nach innen liegend auch bei Liebfrauen realisiert wurden, ist bereits hingewiesen worden. Neben der Tatsache, dass es sich im Aufbau jeweils um Basiliken handelt, sind die Parallelen in der Grundrissdisposition frappant. Jeweils wird der Stiftschor von einem 5/8-Schluss und zwei rechteckigen Jochen mit geschlossenen Wänden zu den ebenfalls polygonal abschließenden Seitenschiffen hin gebildet. Diese Parallelen erscheinen umso aussagekräftiger, als die beiden Oberweseler Stiftskirchen auch als Pfarrkirchen fungierten, wobei der Pfarraltar jeweils in den Seitenschiffen stand. Auch formal lassen sich die Ähnlichkeiten nicht verkennen. Vom Chor aus werden die Kreuzrippengewölbe im Mittelschiff einheitlich weitergeführt und die Systematik im Seitenschiff übernommen. Die Rippen Indulgenzen verleihe, die zur Wiederherstellung der Binger Martinskirche beitrügen (Regesta Bingiensia, Nr. 447). Dies wird in der Literatur teils als Beleg angeführt, dass das Langhaus zu jenem Zeitpunkt noch im Bau gewesen sei. Abgesehen davon, dass sich die Urkunde ebenso gut auf die Ausstattung der Kirche beziehen könnte, hat sich der Eintrag in den Binger Regesten jedoch als nicht belastbar herausgestellt. Die Regesten verweisen auf die 1722 von Georg Christian Joannis editierten Rerum Moguntiacarum (Bd. 1, S. 720). Dort ist jedoch ein Urkundentext von 1403 wiedergegeben, der also im Jahr des Binger Stadtbrands verfasst wurde. Dazu gibt es lediglich eine Fußnote, die lapidar vermerkt: „Später auch Theoderich im Jahr 1435.“ Vgl. Georg Christian Joannis, Rerum Moguntiacarum, Frankfurt a. M., 1722. 35 S. hierzu die weiteren Beiträge des Autors in diesem Buch.

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11 Ansicht von Nordwesten.

setzen in den Schiffen stets auf Konsolen auf, nur der Chorbereich ist bei Liebfrauen wie bei St. Martin in Bingen mit Diensten besonders ausgezeichnet. Insgesamt handelt es sich um eine zwar repräsentative, aber von der Haltung her schlichte Architektursprache, die letztlich auf die Architektur der Bettel­ ordenskirchen zurückgeht. Schließlich sei auf ein Motiv des Außenbaus hingewiesen, den die Binger Martinskirche ganz offensichtlich von der Oberweseler Liebfrauenkirche übernommen hat: Dies ist das signifikante, achteckige Obergeschoss des Südwestturms, dessen traufständige Giebelchen wie ein Krone wirken, und in Kombination mit dem steilen Turmhelm eine imposante Fernsicht vom Rhein her offerieren (Abb. 11, Abb. 12). Beim Wiederaufbau der Binger Martinskirche orientierte man sich also an einem seit vielen Jahrzehnten am Mittelrhein etablierten Konzept für Stiftskirchen mit Pfarrfunktion.

12 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Westturm.

Die Architektur wirkt somit im zeitlichen Kontext betont konservativ bis retrospektiv, was sich vielleicht mit dem Wunsch erklären lässt, die Altehrwürdigkeit des Stifts in der Architektur angemessen darzustellen. Allein die prächtigen Kopfkonsolen sind ein Detail des 15. Jahrhunderts, das sich in dieser Ausprägung in den Oberweseler Kirchen nicht finden lässt.

Der Barbarabau Nach dem Abschluss der Baukampagne widmete man sich dem Nordseitenschiff, das die Funktion einer Pfarrkirche für die Binger Bürgerschaft übernehmen sollte. Mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten zum Baubeginn des Chores entschied man sich für eine komplette Neuplanung, die unübersehbar mit dem älteren Bestand kontrastiert (Abb. 13).

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13 Barbarabau, Südschiff nach Osten.

Neben dem Wandel der architektonischen Technik und Mode spielte sicher auch eine Rolle, dass sich die Bürgerschaft mit diesem Gebäudeteil in besonderem Maße identifizierte. Der Zuschnitt des Barbarabaus auf die Feier des Pfarrgottesdienstes spiegelt sich auch in der ungewöhnlichen Maßnahme wider, zwei Nordseitenschiffe zu errichten, denn auf diese Weise wurde mehr Platz für die sicher nicht geringe Zahl Binger Bürger geschaffen. Der Barbarabau orientiert sich in seiner architektonischen Form und Struktur an zeitgenössischen, lichten Hallenkirchen deren gleich hohe Schiffe nicht durch eine Wand sondern nur durch eine Pfeilerreihe voneinander getrennt und von virtuosen Gewölbefigurationen überfangen werden. Die achteckigen Pfeiler besitzen keine Kapitelle und gehen daher in Längsrichtung ansatzlos in breite Gurte über, welche die Zweischiffigkeit ebenso wie die Längsausrichtung betonen. An den Seiten werden die Pfeiler von runden Diensten flankiert, aus denen ebenso ansatzlos die Gewölberippen entspringen (Taf. 9). Zur älteren Mittelschiffswand hin entschied man sich hingegen, die Rippen auf Konsolen

aufzusetzen. Vielleicht wollte man auf diese Weise hervorheben, dass es sich hierbei um einen Anschluss an einen älteren Gebäudeteil handelt, an den die neuen Gewölbe sozusagen angehängt wurden. Allerdings wählte man den Anschluss mit Konsolen auch an der neuen Nordseitenschiffswand, wahrscheinlich um ein symmetrisches Gesamtbild herzustellen. Der nachträgliche Anschluss der Rippen an die bestehenden Mittelschiffspfeiler kommt auch in einem anderen Detail zum Ausdruck. Aufgrund der andersartigen Pfeilergeometrie können nicht alle Rippen an den Konsolen ansetzen und „wachsen“ stattdessen unvermittelt aus dem Mauerwerk, was charakteristisch für die Baukunst des 15. Jahrhunderts ist. Die Rippen tragen kunstvolle Sterngewölbe, die in sieben verschiedenen Varianten auftreten. Besonders prächtig ausgeführt wurde das Gewölbe im Mitteljoch des südlichen Schiffs (Abb. 14) und das Gewölbe im Ostjoch des Nordschiffs, wo der mittlere, von Schlingrippen flankierte Schlussstein das Wappen der Boos von Waldeck zeigt, denen der 1467 –1505 amtierende Propst Johann entstammte

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14 Barbarabau, Gewölbe im mittleren Joch des südlichen Schiffs.

15 Barbarabau, Gewölbe im nordöstlichen Joch mit Wappen der Boos von Waldeck.

(Abb. 15).36 Jenes nordöstliche Joch fällt auch durch eine Abschrägung an der Ecke auf, die in Analogie zum polygonalen Chorschluss im Südseitenschiff gesehen werden kann. Damit wirkt der Bereich quasi wie ein Chorschluss des Barbarabaus.

Doch wann wurde mit der Errichtung des Barbarabaus begonnen? In den Binger Annalen wird der Barbarabau in die Jahre 1510/1511 datiert,37 was von Teilen der Literatur übernommen wurde. In manchen Publikationen werden stattdessen die Jahre 1502–1505 als Erbauungszeit angegeben, ohne das nachvollziehbar ist, worauf diese Datierung basiert.38

In beiden Fällen stimmt jedoch die äußerst kurze Bauzeit von zwei respektive vier Jahren skeptisch. Interpretiert man das überlieferte Datum 1510/1511 als Abschluss der Bauarbeiten inklusive Ausstattung, dann läge ein Baubeginn bereits im 15. Jahrhundert nahe. Diese Annahme wird von mehreren Hinweisen unterstützt. So wird in den Binger Annalen berichtet, der Binger Propst Johann Boos von Waldeck, der Mainzer Domkapitular Wolfram von Bicken und etliche Binger Bürger hätten für die Gewölbe des Barbarabaus gespendet.39 Tatsächlich findet sich das Wappen der Boos von Waldeck – in Rot drei silberne Sporenschnallen – gleich mehrfach im Gewölbe, u. a. im Zentrum des figurierten nordöstlichen Gewölbes, das mit seinen Schlingrippen zu den aufwändigsten zählt (Abb. 15). Den Herren von Bicken konnte

36 Kuntze 1964 (wie Anm. 12), S. 31. 37 Annales Bingenses (wie Anm. 13), S. 221; Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 585. 38 Z. B.: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland – Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz, Bd. 18: Kreis Mainz-Bingen, Teil 1:

Städte Bingen und Ingelheim, Gemeinde Budenheim, Verbandsgemeinden Gau-Algesheim, Heidesheim, Rhein-Nahe und Sprendlingen-Gensingen, bearb. von Dieter Krienke, Worms 2007, S. 80. 39 Annales Bingenses (wie Anm. 13), S. 219, 221.

Datierung des Barbarabaus

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16 Büdingen, Marienkirche, Gewölbe im Mittelschiff.

bisher noch kein Wappen zugeordnet werden, dafür aber den Brömsern von Rüdesheim, den Grafen von Hanau und der Familie von Eltz.40 Darüber hinaus konnte Raoul Hippchen zwei Wappen, die früher als Baumeisterzeichen missverstanden worden sind, als Wappen von Binger Ratsfamilien identifizieren, eines davon als dasjenige der wohlhabenden Familie Dürkheimer (Abb. 14).41 Johann Boos von Waldeck amtierte von 1467 bis 1505,42 Wolfram von Bicken war 1490 bis 1510 Domherr in Mainz und Frank Dürkheimer, der u. a. als Ratsherr, Richter und stadtherrlicher Meier in Bingen tätig war, verstarb um 1508.43 Zusammengenommen weisen diese Daten auf die Stiftung und Errichtung der Gewölbe um 1500 hin. Zu jenem Zeitpunkt muss der Barbarabau folglich bereits eingedeckt gewesen sein. Außerdem sind für die Jahre 1504 und 1506 Altarweihen überliefert, die sich sinnvoll nur auf den Barbarabau beziehen lassen.44 Zu diesem Zeitpunkt muss der Bau bereits so weit gediehen gewesen sein, dass die Altäre in Betrieb genommen werden konnten. Hierbei zeigt sich, dass die Wölbung und die 40 Hippchen 2016 (wie Anm. 34), S. 66. 41 Ebd., S. 66–68. 42 Kuntze 1964 (wie Anm. 12), S. 31. 43 Hippchen 2016 (wie Anm. 34), S. 67. 44 Regesta Bingiensia (wie Anm. 7), Nr. 575 (hl. Agatha und hl. Andreas), Nr. 582 (hl. Leonhard, hl. Andreas und 11.000 Jungfrauen).

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17 Frankfurt am Main, Leonhardskirche, Gewölbe.

Einrichtung von Nebenaltären wie schon 70 Jahre früher beim Bau der älteren Schiffe, zeitlich nah beieinander lagen. Unterstellt man nun eine realistische Bauzeit von rund 30–40 Jahren – in diesem Zeitraum ist zum Beispiel im 15. Jahrhundert das Langhaus der nicht weit entfernten Ober-Ingelheimer Burgkirche erbaut worden45 – so lässt sich ein Baubeginn für den Barbarabau in den 1460er/1470er Jahren annehmen.46 Damit fiel die Baukampagne in die Amtszeit des Propstes Johann Boos von Waldeck, dessen Familie nachweislich der Wappen in den Gewölben in besonderem Maße finanziell zum Bau beitrug.

Architekturhistorische Einordnung des Barbarabaus Architekturhistorisch lässt sich der Barbarabau in eine Reihe von Hallenkirchen des 15. Jahrhunderts einordnen, die in Süddeutschland verbreitet waren. Kennzeichnend sind die Trennung der Schiffe mittels 45 Der Bau des Langhauses der Ober-Ingelheimer Burgkirche begann ca. 1420; 1462 waren die Wölbungsarbeiten beendet (Hauke Horn, "Die Baugeschichte der Burgkirche in Ingelheim", in: INSITU 2018, 2, S. 195–210, hier S. 204–207). 46 Eine Datierung „spätestens im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts“ vertritt jüngst auch Raoul Hippchen, demzufolge das ‚Fundraising‘ für den Barbarabau schon in den 1440er Jahren begann (Hippchen 2016 (wie Anm. 34), S. 63–65).

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18 Lageplan der Martinskirche und ihrer Umgebung zu Beginn des 18. Jahrhunderts.

achteckiger Pfeiler und Gurte in Längsrichtung, der Verzicht auf Kapitelle und die Überwölbung mit kunstvollen Figurationen. Während der Bau der Martinskirche in Landshut für das 15. Jahrhundert als richtungsweisend gilt,47 kann die Münchener Frauenkirche, die gut 20 Jahre nach der Grundsteinlegung 1468 bereits weitgehend fertiggestellt war,48 als ein Höhepunkt dieser Architektursprache gesehen werden. Geografisch näherliegende Vergleichsbauten finden sich im Südhessischen. Die Marienkirche in Büdingen, deren Grundstein 1476 gelegt und die 1491 geweiht wurde,49 weist über die genannten Merkmale 47 Zum Bauwerk mit weiterführender Literatur: Günther Knesch, St. Martin zu Landshut, Bauwerk und Architektur, Regensburg 2009. 48 Zur Datierung: Lothar Altmann, „Die spätgotische Baugeschichte der Münchner Frauenkirche. Eine Zusammenfassung“, in: Ars Bavarica, 82, 1999, S. 29–38; Ders.: „Die spätgotische Bauphase der Frauenkirche 1468–1525. Eine Bestandsaufnahme und Interpretation bekannter Daten und Fakten“, in: Monachium Sacrum. Festschrift zur 500-Jahr-Feier der Metropolitankirche Zu Unserer Lieben Frau in München, hg. von Hans Ramisch, Bd. II, München 1994, S. 1–20. 49 Walter Nieß, „Zur Baugeschichte der Marienkirche in Büdingen“, in: 500 Jahre Marienkirche Büdingen, hg. von der Ev.

19 Westansicht 1897–1944.

hinaus wie der Binger Barbarabau einen fließenden Übergang der Profile von den Achteckpfeilern zu den Gurten auf (Abb. 16). Zudem sind dort viele Schlusssteine mit Wappen versehen. Auch im Langhaus der Frankfurter Kirche St. Leonhard, die im frühen 16. Jahrhundert eingewölbt wurde,50 finden sich vergleichbare Details (Abb. 17). Die mit den Wappen der bürgerlichen Stifter versehenen Gewölbefigurationen übertreffen den Binger Bau noch an Variantenreichtum und Virtuosität. Im Gewölbe finden sich auch die um 1500 beliebten Schling­rippen. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass für den Frankfurter Bau 1507 ein Werkmeister Hans von Bingen überliefert ist.51

Kirchengemeinde Büdingen, Büdingen 1991, S. 46–69, hier S. 54–61; Karl Dielmann, „Bemerkungen zur Baugeschichte der Marienkirche in Büdingen“, in: Büdinger Geschichtsblätter 1, 1957, S. 103–118, hier S. 108. 50 Die Baugeschichte der Leonhardskiche ist noch relativ schlecht erforscht. Einen Anhaltspunkt für die Datierung der Gewölbe liefern die dort befindlichen Jahreszahlen 1508, 1518 und1520 (Carl Wolff/Rudolf Jung, Die Baudenkmäler in Frankfurt am Main. Bd. 1: Kirchenbauten, Frankfurt a. M. 1896, S. 17f ). 51 Wolff/Jung 1896 (wie Anm. 50), S. 7.

St. Martin zu Bingen

Die architekturhistorischen Vergleiche untermauern jedenfalls eine Datierung des Binger Barbarabaus in das letzte Drittel des 15. Jahrhunderts und eine sich bis ins frühe 16. Jahrhundert hineinziehende Einwölbung.

Baukampagnen des 19. Jahrhunderts Im 16. Jahrhundert steht die wachsende Größe der Pfarrgemeinde, die sich in der Architektur des Barbarabaus manifestiert, der sinkenden Bedeutung des Martinsstifts gegenüber. Als das Stift zu Beginn des 17. Jahrhunderts neben dem Pfarrer nur noch zwei Kanoniker umfasst, wird es vom Mainzer Erzbischof zunächst suspendiert und schließlich 1672 formell aufgelöst.52 Seither fungiert St. Martin ausschließlich als Binger Pfarrkirche. Die Baukampagnen des 19. Jahrhunderts tragen dem Rechnung. Ab 1817 wurden die beiden Kreuzgängen, die sich westlich der Kirche befanden, und die angrenzende Totenkapelle auf Abriss verkauft (Abb. 18).53 Die Pfarrei entledigte sich also der Stiftsgebäude, für die sie selbst keine Nutzung mehr hatte. Zugleich erfolgte auf diese Weise eine Freistellung des Baukörpers, wie man sie zum Beispiel prominent vom Dom zu Speyer kennt und die der romantischen Vorstellung von Monumenten im städtischen Raum entsprach. Für 1835–1837 ist eine Renovierungskampagne unter Leitung des renommierten hessischen Hofbaumeisters Georg Moller überliefert, deren Umfang allerdings noch nicht erforscht ist.54 Relativ gut nachvollziehen lässt sich hingegen die Baukampagne 1885–1897 unter dem Frankfurter Architekten Max Meckel,55 der auch die neugotische

52 Kuntze 1964 (wie Anm. 12), S. 14f. Die Einkünfte des Martinsstifts übertrug Erzbischof Johann Philipp von Schönborn dem Mainzer Priesterseminar. 53 Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 52. 54 Ebd., S. 53. 55 Max Meckel wurde 1887 zum Limburger Diözesanbaumeister ernannt; 1894 wechselte er als Erzbischöflicher Baudirektor nach Freiburg i. Br. – Zu Max Meckel grundlegend: Werner Wolf-Holzäpfel, Der Architekt Max Meckel (1847–1910). Studien zur Architektur und zum Kirchenbaus des Historismus in Deutschland, Lindenberg 2000 (Materialien zu Bauforschung und Baugeschichte, 10). Zum Umbau der Binger Martinskirche findet sich dort auf S. 339f. ein Katalogeintrag, der die

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Binger Rochuskapelle entwarf, denn die seinerzeit durchgeführten Baumaßnahmen prägen das heutige Bild der Kirche erheblich mit. Meckel erkannte offenbar den malerischen Reiz der gewachsenen Kirche mit ihren unterschiedlichen Teilen und verstärkte dieses Bild mittels diverser Anbauten. So entstanden die Sakristei sowie eine nördliche und südliche Vorhalle nach Meckels Entwurf in neogotischen Formen (Taf. 8). Die beiden Vorhallen wurden wiederum 1923 zu Kapellen umgebaut, als die sie heute noch fungieren.56 Neben diesen Ergänzungen fand eine starke Überarbeitung des Westbaus im Rahmen der Meckel’schen Baukampagne statt, der somit als hybrider Gebäudeteil verschiedener Epochen gesehen werden muss (Abb. 19). Der heutige Eindruck einer nicht vollendeten Zweiturmfassade ist ein Produkt des Historismus. Auf frühneuzeitlichen Stichen ist die Binger Martinskirche stets mit nur einem Turm abgebildet, dem südwestlichen, dessen untere Teile eventuell aus der Zeit vor dem Brand 1403 stammen. Ein Ölbild von Josef Thürmer vermittelt einen Eindruck der Westfront 1816, die im Wesentlichen wohl auch den Zustand vorheriger Jahrhunderte wiedergibt (Abb. 20). Während sich der Südwestturm klar als solcher absetzt, erkennt man im Nordwesten eher eine Art Querriegel, dessen Traufe noch unterhalb der Mittelschiffstraufe lag. Das Mittelschiff schloss hingegen mit einem Giebel nach oben hin ab, so als würde es bis Westen durchlaufen. Damit war die Westfassade deutlich an den Westfassaden der mittelalterlichen Ordenskirchen ausgerichtet, was man heute nicht mehr nachvollziehen kann. Der jetzige Eindruck eines nordöstlichen, in die Vertikale strebenden Turmstumpfs geht also auf Max Meckel zurück, der den Gebäudeteil wesentlich erhöhte, mit einer Galerie versah und schließlich mit einem Spitzhelm krönte, der wiederum nach seiner Zerstörung 1944 nicht wieder aufgebaut wurde. Die Kanten des „neuen“ Nordwestturms wurden analog dem südwestlichen Pendant mit großen aufgemalten Quadern akzentuiert, so dass sich dieser wie jener als eigenständiger Bauteil absetzt. Der gemauerte Giebel des Mittelschiffs wurde hingegen zurückgebaut, um Baugeschichte aus der Sekundärliteratur zusammenfasst, aber Quellenangaben zu Archivalien enthält. 56 Rauch 1934 (wie Anm. 4), S. 59.

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20 Josef Thürmer: Ansicht von Bingen mit Pfarrkirche St. Martin, 1816, Öl auf Holz (Museum am Strom, Bingen).

den Eindruck eines vor dem Langhaus stehenden Westbaus hervorzurufen. Die Galerie, die mitsamt ihrer Maßwerkbrüstung eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts darstellt, unterstreicht den horizontalen, westbauartigen Abschluss des Baukörpers nach oben. Mit einem Versprung der Galerie vom Nordturm zum Mittelteil trug Max Meckel dem Bild eines mittelalterlich gewachsenen Gebäudeteils suggestiv Rechnung. Außerdem wurde das achteckige Turmobergeschoss und der Spitzhelm des Südwestturms gänzlich neu aufgebaut. Schließlich wurden große Teile des Maßwerks im Westbau erneuert.57 Die ebenfalls Ende des 19. Jahrhundert vorgenommene Öffnung der alten Chorwände mit Arkaden wurde bereits angesprochen.

Bau- und Renovierungsmaßnahmen im 20. Jahrhundert

57 Ebd., S. 54–57.

58 Ebd., S. 49, 53.

In den Jahren 1923–1926 kommt es dann zu Umbauarbeiten unter dem Mainzer Dombaumeister Ludwig Becker. Der größte funktionale Eingriff scheint die bereits erwähnte Umwandlung der Meckel’schen Eingangshallen in Kapellen gewesen zu sein. Daneben kommt es zur Installation einer Heizungsanlage im Kirchenraum, die anscheinend von rudimentären archäologischen Grabungen begleitet wurde.58 Eine größere Renovierung erzwangen die Schäden, welche die Martinskirche im Dezember 1944 bei einem Bombenangriff auf Bingen erlitt. Hierbei brannten die Dächer komplett ab und die Gewölbe

St. Martin zu Bingen

des Mittelschiffs stürzten ein (Abb. 21).59 Carl Villinger berichtet, dass aufgrund fehlender Sicherungsmaßnahmen in den folgenden Jahren auch das zunächst noch aufrecht stehende Chorgewölbe einstürzte und dabei auch die Gewölbe der Krypta in Mitleidenschaft gezogen worden sind.60 Die Gewölbe des Barbarabaus hielten großenteils stand. Nachdem 1949/1950 die Dächer über den Schiffen samt Dachreiter in einer Stahlkonstruktion wiederaufgebaut waren, wurde die Kirche 1951 vom Mainzer Bischof Albert Stohr neu geweiht und wieder in Betrieb genommen.61 Mit der Wiederherstellung der Gewölbe nach altem Vorbild wurde erst 1954 begonnen. Ferner wurde in jenem Jahr auch die heutige Orgel-Empore eingezogen. Schließlich berichtet Villinger von der farblichen Neufassung des Innenraums, in deren Zuge zugleich die alten Farbfassungen der heute steinsichtigen Pfeiler, Rippen und Gurte im Barbarabau entfernt wurden. Die Ausstattungsarbeiten zogen sich noch bis 1959 hin. Es lassen sich damit bemerkenswerte Parallelen zum mittelalterlichen Bauablauf erkennen: Die Weihe erfolgte nach Fertigstellung des Daches, die Wölbung erfolgte zu einem späteren Zeitpunkt, an der Ausstattung wurde noch Jahre nach der Weihe gearbeitet. In den 1950er Jahren ging es primär um den Wiederaufbau der Kirche. Für eine Komplettsanierung der Kirche reichten die Mittel seinerzeit verständlicherweise nicht aus, so dass bereits 1981–1988 eine zweite große Renovierungskampagne unter Leitung des Baudirektors der Diözese Mainz, Paul Schotes, durchgeführt wurde,62 in deren Zuge man zugleich die liturgische Raumdisposition im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils veränderte.63 59 Villinger 1959? (wie Anm. 3), S. 47. – Villinger schreibt auch, dass die Gewölbe des südlichen Seitenschiffs zerstört worden sein. Allerdings sehen die Schlusssteine dort – im Gegensatz zum Mittelschiff – original aus. Der Umfang der Zerstörung im Südseitenschiff ist somit unklar. 60 Ebd. 61 Daten zum Wiederaufbau der 1950er nach Villinger 1959? (wie Anm. 3), S. 50f. 62 Werner Brilmayer/Franz Brager, „Das Renovierungswerk der Basilika St. Martin 1981–1988“, in: Festschrift aus Anlaß der Altarweihe nach Beendigung der Außen- und Innenrenovierung der Basilika St. Martin Bingen/Rhein am 10. Juli 1988, hg. von der Kath. Pfarrgemeinde St. Martin, Bingen 1988, S. 53–67. 63 Hermann-Josef Herd, „Altar und Gemeinde“, in: Festschrift Bingen 1988 (wie Anm. 63), S. 18–26.

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21 Martinskirche nach Bombenangriff 1944, Zeichnung J. B. Fay.

Außerdem wurden die Arbeiten diesmal von einem Restaurator begleitet, was eine neue, im Innenraum teils historisch fundierte Farbfassung zur Folge hatte. Am Außenbau wurden viele Werksteinteile, die nicht nur im Laufe der Zeit verwittert waren, sondern wohl auch beim Brand der Kirche 1944 stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, gegen neue Stücke aus Elbsandstein ausgetauscht.64 Besonders stark betroffen war offenbar die Maßwerkgalerie des 19. Jahrhunderts am Westbau, die weitgehend erneuert wurde. Das heutige, äußere Erscheinungsbild der Kirche mit den rot hervorgehobenen Werksteinteilen,

64 Johann Baptist Humpl, „Aus der Sicht des Architekten, Erhaltung der historischen Bausubstanz und Anpassung an zeitgemäße bautechnische Erfordernisse“, in: Festschrift Bingen 1988 (wie Anm. 63), S. 76–82, hier S. 76.

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Strebepfeilern und aufgemalten Eckquadern ist ein Resultat einer neuen Farbfassung aus den 1980er Jahren.65 Auch der Innenraum der Kirche wurde farblich komplett neu gefasst.66 Der Restaurator Vitus Wurmdobler berichtet von fünf historischen Farbfassungen, die er aufdecken konnte, darunter ein leuchtendes Blau für Rippen und Pfeiler. Das zweischichtige Rot, für das man sich zur Fassung der Rippen und Gurte im Mittel- und Südseitenschiff schließlich entschied, konnte in beiden Raumteilen nachgewiesen werden. Ob es sich dabei um die älteste Farbfassung des frühen 15. Jahrhunderts handelt, geht aus der widersprüchlichen Befundbeschreibung des Restaurators leider nicht klar hervor.67 Für die zarten Pflanzenmalereien in den Gewölbekappen des wiederaufgebauten Gewölbes gibt es jedenfalls keinen bauhistorischen Befund. Schließlich wurde der Altarraum im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils neugestaltet, indem der Ort des Hauptaltars vom Chorschluss nach Westen verlegt wurde, also in den Westteil des ehemaligen Stiftschors, damit „die Gläubigen sich von drei Seiten um den Altar versammeln“68 können. Der zu diesem Anlass neu geschaffene Blockaltar mit vegetabilen Intarsien aus Marmor, die auf den Boden übergreifen, wurde von Elmar Hillebrand entworfen und im Juli 1988 vom Mainzer Bischof Karl Lehmann geweiht.69

Zusammenfassung Die Martinskirche in Bingen lässt sich urkundlich seit 1006 nachweisen. Das älteste bauliche Zeugnis stellt die Krypta der ehemaligen Stiftskirche dar, welche formengeschichtlich in das dritte Viertel des 11. Jahrhunderts zu datieren ist. Die Oberkirche wurde 1403 65 Brilmayer/Brager 1988 (wie Anm. 63), S. 57–59. 66 Vitus Wurmdobler, „Entfaltung bisher versteckter Schönheiten. Die Innenrenovierung aus Sicht des Restaurators“, in: Festschrift Bingen 1988 (wie Anm. 63), S. 80–82. 67 An einer Stelle schreibt Vitus Wurmdobler, dass das „zweischichtige Rot wohl in die Zeit um 1416 zurückzudatieren“ sei, an anderer Stelle, dass „die früheste Bemalung zartes Grau zeigt.“ (Wurmdobler 1988 (wie Anm. 67), S. 80). 68 Herd 1988 (wie Anm. 64), S. 21. 69 Klaus Biesdorf, „Altar und vorderer Chorraum. Künstlerische Erneuerung und Gestaltung“, in: Festschrift Bingen 1988 (wie Anm. 63), S. 73–75; Brilmayer/Brager 1988 (wie Anm. 63), S. 4.

bei einem Stadtbrand schwer getroffen, was als Anlass für einen weitgehenden Neubau genommen wurde, in welchen allerdings die alte Krypta und wahrscheinlich auch der untere Teil des Südwestturmes integriert wurden. Der vom Mainzer Bischof Johann II. von Nassau maßgeblich unterstützte Wiederaufbau sah zunächst die Errichtung des Mittelschiffs und des südlichen Seitenschiffs in einer schlichten Form der Gotik vor, welche für Stiftskirchen am Mittelrhein für die Zeit um 1400 typisch ist. Nach einer Weihe 1416 zog sich der Innenausbau und die Ausstattung anscheinend noch bis in die 1430er/1440er Jahre hin. Vermutlich in den 1460er/1470er Jahren begann der Bau des nördlichen Seitenschiffs, des sog. Barbarabaus, in dem sich der Pfarraltar befand. Der Barbarabau kontrastiert mit seinen spätgotischen Formen wie den figurierten Gewölben deutlich mit dem einige Jahrzehnte älteren Bestand und wirkt mit seinen zwei hallenartigen Schiffen wie eine Kirche in der Kirche. Die Wölbungsarbeiten lassen sich recht genau in das erste Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts datieren. Damit erfolgte die Errichtung des Barbarabaus hauptsächlich unter dem Binger Propst Johann Boos von Waldeck, der sich nachweislich der Wappen in den Gewölben zusammen mit weiteren mittel­ rheinischen Adligen, aber auch Binger Bürgern, an der Finanzierung beteiligt hatte. Seit der formellen Auflösung des Martinsstifts 1672 dient der gesamte Kirchenbau als Binger Pfarrkirche. Die heutige Erscheinung der Martinskirche wird erheblich von einem Umbau unter dem Limburger Diözesanbaumeister Max Meckel zum Ende des 19. Jahrhunderts geprägt. Meckel verstärkte den malerischen Reiz eines gewachsenen Kirchenbaus mit dem Anbau der Sakristei sowie zwei heute als Kapellen genutzte Vorhallen in neugotischen Formen. Auch der Westbau wurde gravierend verändert. So stellt der Eindruck einer nicht vollendeten Zweiturmfassade ein Produkt des Historismus dar. Nachdem die Dächer und die Mittelschiffsgewölbe im Zweiten Weltkrieg 1944 zerstört wurden, widmete man sich in der Nachkriegszeit dem Wiederaufbau. In den 1980er Jahren kam es zu einer weiteren Restaurierung der Martinskirche, bei welcher der Altarraum in Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils neugestaltet wurde. Auch das heutige Farbkonzept entstammt dieser Restaurierung.

Benedikt Ockenfels

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe Zu Beteiligung und Repräsentation an Kirche und Pfarrturm

Als weithin sichtbare Landmarken stellen Pfarrtürme, wie sie seit dem 14. Jahrhundert in den Städten des deutschsprachigen Gebietes vermehrt gebaut wurden, monumentale Zeugnisse von Wohlstand und städtebürgerlichem Selbstbewusstsein dar. Trotz meist baulicher Einheit mit Pfarr- oder Stadtkirche lagen Bau und Verwaltung üblicherweise in der Verantwortung des weltlichen Stadtrates. Sie übernahmen repräsentative und funktionelle Aufgaben und gelten bis heute als „[…] Symbol der bürgerlichen Souveränität […]“.1 In der Landschaft des Rheingaus fällt insbesondere der spätgotische Turm der Pfarrkirche zu Eltville als ein Bauwerk auf, das sich einer dergestalten Entwicklung zuordnen lässt (Abb. 1).2 Dem, in einem

1 Olaf Asendorf, Mittelalterliche Türme im Deutschordensland Preussen. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung und Funktion, Frankfurt am Main 1998 (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII, Kunstgeschichte, 315), S. 194. Vgl. Wolfgang Beeh, „Zur Bedeutungsgeschichte des Turmes. Der Kapellenturm in Rottweil“, in: Jahrbuch für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Jg. 6, 1961, S. 177–206. Vgl. auch Gerhard Johannes Ringshausen, Madern Gerthener. Leben und Werk nach den Urkunden, Göttingen 1968, S. 149f.; Hugo Schnell, „Die Entwicklung des Kirchturms und seine Stellung in unserer Zeit. Teil I“, in: Das Münster, Jg. 22, 1969, S. 85–96; Klaus Jan Philipp, Pfarrkirchen. Funktion, Motivation, Architektur. Eine Studie am Beispiel der Pfarrkirchen der schwäbischen Reichsstädte im Spätmittelalter, Marburg an der Lahn 1987 (Studien zur Kunstund Kulturgeschichte, 4), S. 116f.; Gottfried Kiesow, Gotik in Hessen, Stuttgart 1988, S. 44; Arnd Reitemeier, Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Wiesbaden 2005 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 177), S. 22, 172ff.; Robert Odell Bork/Pablo de la Riestra, Gotische Türme in Mitteleuropa, Petersberg 2008 (Imhof Kulturgeschichte), S. 52–56, 72. 2 Zum Pfarrturmbau in Eltville vgl. Robert Frank Schmidt, „Die Steinmetzzeichen an St. Peter und Paul. Beobachtungen zur Baugeschichte des Eltviller Kirchturms“, in: Pfarrkirche St. Peter und Paul Eltville. 1353–2003, hg. von Norbert Boos u. a., Eltville am Rhein 2002, S. 117–125. Vgl. auch Benedikt Ockenfels, „Der spätgotische Pfarrturm in Eltville am Rhein. Entstehung und Bedeutung vor dem Hintergrund der bistumspolitischen und kunsthistorischen Entwicklung des Erzbistums Mainz im 15. Jahrhundert“, in: Nassauische Annalen, Jg. 126, 2015, S. 21–69.

der ersten beiden Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts begonnenen, Turm folgten im Laufe des Jahrhunderts Um- und Ausbauten sakraler Bauwerke in den umliegenden Orten. Mit einem Schwerpunkt auf der Valentinskirche in Kiedrich hat Claudia Wels bereits die Entwicklung der ländlichen Sakralarchitektur des Rheingaus untersucht und den städtischen Charakter dieser Bauten sowie ein grundsätzliches „Städtisch-Sein-Wollen“3 der Gemeinden feststellen können.4 Jedoch geht sie nur marginal auf die Entstehung des markanten Pfarrturms zu Eltville ein bzw. übergeht die herausragende Stellung dieser Stadt, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die einzige tatsächliche Stadt im Rheingau gewesen ist.5 Exemplarisch für den Rheingau soll an der Genese der Stadt sowie der Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Eltville die enge Beziehung zur Baupolitik der Mainzer Erzbischöfe als den geistlichen Landesherren – sogar in Bezug auf einen Pfarrturm – sowie die Entwicklung städtischen Selbstbewusstseins im späten Mittelalter dargestellt werden. Ein kurzer Ausblick beleuchtet zudem entsprechende Strömungen in den umliegenden Ortschaften. Nicht zuletzt erlaubt der spätgotische Turm in Eltville auch die Beobachtung einer Verbindung zur einflussreichen Frankfurter Bauhütte um Madern Gerthener, die, vielleicht vermittelt durch die Mainzer Erzbischöfe, im Rheingau tätig wurde.6 3 Claudia Wels, Die Pfarrkirche St. Valentinus zu Kiedrich und die spätgotischen Landkirchen im Rheingau. Ländliche Sakralarchitektur mit städtischem Charakter, Marburg an der Lahn 2003, S. 114. 4 Ebd., S. 136–147. 5 Vgl. Alois Gerlich, „Sankt Peter zu Mainz und seine Urkunden für Eltville“, in: Mainzer Zeitschrift, Jg. 46/47, 1951/52, S. 57–64, hier S. 58f. Vgl. auch Max Herchenröder/Wolfgang Einsingbach, Der Rheingaukreis, Berlin u. a. 1965 (Die Kunstdenkmäler des Landes Hessen), S. 114; Werner Kratz, „Überblick über die Geschichte der Stadt Eltville“, in: Eltville am Rhein. 650 Jahre Stadt. Geschichte. Kultur. Landschaft, hg. von Magistrat der Stadt Eltville am Rhein, Eltville am Rhein 1982, S. 11–20, hier S. 11. 6 Zur Geschichte der Landschaft Rheingau und den Grundbedingungen der wirtschaftlichen, rechtlichen und bürgerlichen

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Benedikt Ockenfels

Exil der Mainzer Erzbischöfe

1 Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Eltville am Rhein, Ansicht von Südosten.

Entwicklung vgl. Barthold Carl Witte, Herrschaft und Land im Rheingau, Meisenheim am Glan 1959 (Mainzer Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 3). Vgl. auch Alois Gerlich, „Der Aufbau der Mainzer Herrschaft im Rheingau im Hochmittelalter“, in: Territorium, Reich und Kirche. Ausgewählte Beiträge zur mittelrheinischen Landesgeschichte. Festgabe zum 80. Geburtstag, hg. von Christiane Heinemann u. a., Wiesbaden 2005 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 74), S. 495–520; Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 14–36; Eltville, Geisenheim, Kiedrich, hg. von Dagmar Söder/Christine Krienke, Darmstadt 2014 (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland: Kulturdenkmäler in Hessen, 1, Rheingau-Taunus-Kreis), S. 14–58. Zur Geschichte des Ortes Eltville vgl. vor allem Werner Kratz, Eltville. Baudenkmale und Geschichte. Bd. 2: Eltville in der Geschichte des Rheingaus, Eltville am Rhein 1962b. Vgl. auch Alois Gerlich, „Eltville als Mainzer Residenz. Werden, Bauen, Ausstattung“, in: Mainzer Zeitschrift, 1988, S. 55–66. Ludwig Falck, „Die erzbischöflichen Residenzen Eltville und Mainz“, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Jg. 45, 1993, S. 61–81; Enno Bünz, Residenzen der Mainzer Erzbischöfe im späten Mittelalter. Mainz – Aschaffenburg – Steinheim – Eltville. [Vortrag im Rahmen der Festveranstaltung des Burg-Vereins e. V. Eltville am Rhein am 15. September 2002], Eltville am Rhein 2009 (Eltviller Druck, 51); Friedhelm Wilhelm Fischer, Die spätgotische Kirchenbaukunst am Mittelrhein 1410–1520. An charakteristischen Beispielen dargestellt, nach Schulen geordnet und mit historisch-topographischen Darlegungen verknüpft, Heidelberg 1962 (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen. N. F., 7), S. 11–14.

Spätestens seit dem 10. Jahrhundert hatten die Erzbischöfe von Mainz die Grundherrschaft über Eltville und die umgebenden Orte im Rheingau inne, und um die Mitte des 11. Jahrhunderts wurde die Eltviller Kirche unter das Patronat des Petersstiftes in Mainz gestellt. Schon früh wurde Eltville zudem in das Itinerar der umherreisenden Erzbischöfe aufgenommen.7 Eine markante Bedeutungssteigerung erhielt der Ort Eltville im Jahre 1328, als Balduin von Luxemburg zum Mainzer Erzbischof gewählt wurde. Nie durch päpstlichen Erlass in seinem Amt bestätigt, geriet er bald in Konflikt mit der Mainzer Bürgerschaft, die wie Papst Johann XXII. den Gegenkandidaten Heinrich III. von Virneburg unterstützten. Spätestens, als Balduin die von seinen Vorgängern zugesicherten Privilegien und Freiheitsrechte nicht mehr gestattete, musste er vor gewaltsamen Übergriffen der Mainzer Bürger nach Eltville fliehen, das aufgrund seiner geografischen Lage und der Nähe zu Burg Scharfenstein bei Kiedrich den nötigen Schutz versprach.8 Da Eltville zunächst nicht die notwendigen Grundlagen für einen längeren Aufenthalt g­ eboten

7 Vgl. Gerlich 1951/52 (wie Anm. 5), S. 61ff. Vgl. auch Klaus Neitmann, „Was ist eine Residenz? Methodische Überlegungen zur Erforschung der spätmittelalterlichen Residenzbildung“, in: Vorträge und Forschungen zur Residenzenfrage, hg. von Peter Johanek, Sigmaringen 1990 (Residenzenforschung, 1), S. 11– 43, hier S. 16–21. Vgl. auch Paul Kirn, Das Urkundenwesen und die Kanzlei der Mainzer Erzbischöfe im fünfzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1929, S. 9. Vgl. auch Gerlich 1988 (wie Anm. 6), S. 56ff.; Bünz 2009 (wie Anm. 6), S. 4–7. 8 Seit 1244 besaßen die Bewohner der Stadt Mainz besondere Freiheitsprivilegien, die ihnen das Recht verliehen, sich in etlichen kommunalen Angelegenheiten selbst und unabhängig vom Erzbischof als Oberherren zu verwalten. Vgl. Heinrich Schrohe, Mainz in seinen Beziehungen zu den Deutschen Königen und Erzbischöfen der Stadt bis zum Untergang der Stadtfreiheit (1462), Mainz 1915 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 4), S. 52f. Vgl. auch Joachim Fischer, Frankfurt und die Bürgerunruhen in Mainz (1332–1462), Mainz 1958 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 15), S. 8ff.; Gerlich 1988 (wie Anm. 6), S. 55–59; Paul Eichholz, „Die Burg der Erzbischöfe von Mainz zu Eltville“, in: Nassauische Annalen, Jg. 33, 1902/03, S. 99–146, hier S. 105f.; Michael Matheus, „Vom Bistumsstreit zur Mainzer Stiftsfehde. Zur Geschichte der Stadt Mainz 1328–1459“, in: Mainz. Die Geschichte der Stadt, hg. von Franz Dumont u. a., Mainz 21999, S. 171–204; Bünz 2009 (wie Anm. 6), S. 7.

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

hatte, sorgte Balduin von Luxemburg für einen steten Ausbau des Ortes. Im Zuge seiner Territorialpolitik erwirkte er zudem bei Kaiser Ludwig IV. die Verleihung der Stadtrechte für Eltville im Jahre 1332.9 Heinemann weist darauf hin, dass in Eltville schon zuvor wichtige verwaltungstechnische Institutionen in Ansätzen vorhanden waren. Auch die gesellschaftliche Entwicklung vor 1332 gleiche bereits einer „[…] landschaftlichen ‚Verstädterung‘, wie sie gerade für Weinbaugebiete mit ihrer großen Bevölkerungsdichte charakteristisch ist. Der Weinbau verlangte ein hohes Maß an Organisation und an genossenschaftlichem Denken und Handeln“.10 Der hohe Grad an eigenständiger Selbstverwaltung, der sich vielleicht daraus begründen lässt, spiegelt sich auch in der frühen Einrichtung eines Gerichtswesens im Rheingau wieder. Das 1324 zum Gesetz niedergeschriebene Rheingauer Weistum gewährte allen Orten im Rheingau stadtähnliche Freiheiten und dürfte als juristische Grundlage für einige der im Folgenden beobachteten Entwicklungen gesehen werden.11 So scheint Eltville hinsichtlich der selbstständigen Kommunalverwaltung durch einen Bürgermeister und einen Stadtrat mit einer ersten Nennung 1358 früh zu einer gut organisierten Stadt geworden zu sein.12 In Verbindung mit der Erlangung des Marktrechts – durch die Verleihung der Stadtrechte – muss auch dem Weinbau als Wirtschaftsfaktor eine hohe Bedeutung zugewiesen werden. Dieser wird im Rheingau schon seit dem 8. Jahrhundert betrieben, 9 Vgl. Hartmut Heinemann, „Erläuterungen zur Verleihungsurkunde“, in: Magistrat der Stadt Eltville 1982 (wie Anm. 5), S. 8–10. Vgl. auch Nassauisches Urkundenbuch. Erster Band. Dritte Abtheilung. Die Urkunden des ehemals Kurmainzischen Gebiets, einschliesslich der Herrschaften Eppenstein, Königstein und Falkenstein. Der Niedergrafschaft Katzenelnbogen und des Kurpfälzischen Amts Caub, hg. von Wilhelm Sauer, Wiesbaden 1887, S. 164, Nr. 1978. 10 Heinemann 1982 (wie Anm. 9), S. 9. Vgl. Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 136–140. 11 Vgl. Karl-Heinz Spieß, „Das Rheingauer Weistum“, in: Nassauische Annalen, Jg. 96, 1985, S. 29–42. Vgl. auch Söder/Krienke 2014 (wie Anm. 6), S. 21f. 12 Vgl. Witte 1959 (wie Anm. 6), S. 143–152. Vgl. auch Herchenröder/Einsingbach 1965 (wie Anm. 5), S. 114; Heinemann 1982 (wie Anm. 9), S. 8ff.; Wilhelm Kimpel, „Rechts- und Gerichtsverhältnisse in Eltville seit 1332“, in: Magistrat der Stadt Eltville 1982 (wie Anm. 5), S. 92–99. Yvonne Monsees, Die Inschriften des Rheingau-Taunus-Kreises, Wiesbaden 1997 (Die Deutschen Inschriften. Mainzer Reihe, 5), S. XV f.

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sodass im 14. Jahrhundert vermutlich auf ein gut ausgebildetes Keltereiwesen zurückgegriffen werden konnte.13 Die günstige Lage am Rhein als einem bedeutsamen Verkehrs- und Wirtschaftsweg dürfte den Wohlstand der Stadt darüber hinaus erheblich gesteigert haben.14 Mit der Stadtrechtverleihung einher ging auch die Bauerlaubnis einer umfassenden Befestigung sowie einer Burganlage.15 Selbst wenn keine längeren Aufenthalte des Erzbischofs Balduin von Luxemburg in Eltville überliefert sind, legte er doch den Grundstein für den weiteren Ausbau von Stadt und Burg durch die ihm nachfolgenden Mainzer Erzbischöfe.

Eltville als Residenz Nach dem Verzicht Balduins von Luxemburg auf das Amt des Erzbischofs im Jahre 1336 stellten sich seinem Nachfolger Heinrich III. von Virneburg ähnliche Konflikte mit dem Mainzer Domkapitel und der nach Unabhängigkeit strebenden Mainzer Bürgerschaft in den Weg. Die Burg in Eltville sollte daher abermals die Funktion einer Ausweichresidenz erhalten und massiv ausgebaut werden.16 Auch nach dem Tod Heinrichs III. von Virneburg im Dezember des Jahres 1353, blieb die Beziehung zwischen dem neuen Erzbischof Gerlach von N ­ assau und den Mainzer Bürgern als auch zum Mainzer 13 Vgl. Josef Staab, „Frühgeschichte des Weinbaus im Rheingau“, in: Nassauische Annalen, Jg. 101, 1990, S. 31–47. Vgl. auch Monsees 1997 (wie Anm. 12), S. 7–13; Matheus 1999 (wie Anm. 8), S. 193f.; Söder/Krienke 2014 (wie Anm. 6), S. 28–32. 14 Vgl. Kratz 1962b (wie Anm. 6), S. 131f. sowie Anmerkung Nr. 460 und 461. Vgl. auch Witte 1959 (wie Anm. 6), S. 116f. 15 Vgl. Gerlich 1988 (wie Anm. 6), S. 61. Vgl. auch Alfons Milani, „Die Burg zu Eltville. Eine baugeschichtliche Studie“, in: Nassauische Annalen, Jg. 55, 1935, S. 9–136; Werner Kratz, Eltville. Baudenkmale und Geschichte. Bd. 1, Eltville am Rhein 1962a, S. 34–52; Ferdinand Wilhelm Emil Roth, Die Geschichtsquellen des Niederrheingaus. Teil 1: Regesten zur Geschichte des Niederrheingaus, Wiesbaden 1880a (Geschichtsquellen aus Nassau), S. 245, Nr. 35; Hans Kremer, „Bausteine zur Geschichte der Eltviller Pfarrkirche St. Peter und Paul“, in: Festschrift zum 600-jährigen Jubiläum der Pfarrkirche Eltville, hg. von Katholisches Pfarramt Eltville, Eltville am Rhein 1953, S. 27–48, hier S. 29f. 16 Vgl. Eichholz 1902/03 (wie Anm. 8), S. 106–110. Vgl. auch Milani 1935 (wie Anm. 15), S. 55, 121; Kratz 1962b (wie Anm. 6), S. 104–113; Falck 1993 (wie Anm. 6), S. 71f.

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Domstift angespannt. Eltville behielt daher den Charakter einer nahezu ständigen Residenz, womit sich weitere städtebauliche Maßnahmen und die Ansiedlung wichtiger verwaltungstechnischer und juristischer Institutionen begründen lassen.17 Im Jahre 1397 wurde Johann II. von Nassau zum Oberhaupt des Mainzer Erzstiftes gewählt. Seine Wahl war, wie bereits die seiner Vorgänger, ebenfalls von Unstimmigkeiten im Mainzer Domkapitel begleitet und so wird von internen Auseinandersetzungen bis ins Jahr 1409 berichtet.18 Weiterhin ist Johann II. durch seine rege Bautätigkeit in Mainz und Frankfurt am Main zu Beginn des 15. Jahrhunderts bekannt geworden und wird auch mit Baumaßnahmen in Eltville in Verbindung gebracht.19 Als bedeutsame politische Entwicklung während der Amtszeit Johanns II. von Nassau muss auf die Mainzer Zunftunruhen ab 1411 hingewiesen werden, in denen ein alter Streit um die Verteilung des Einflusses im Rat der Stadt zwischen Patriziern und Mitgliedern der Handwerkszünfte erneut aufgenommen wurde. Der Erzbischof trat dabei zunächst nur als neutraler Vermittler zwischen den beiden Parteien auf, geriet aber ab 1414 selbst in einen Konflikt mit der, nach wie vor nach Unabhängigkeit von ihrem

17 Vgl. Witte 1959 (wie Anm. 6), S. 95–142. Vgl. auch Kratz 1962b (wie Anm. 6), S. 115–119; Helmut Presser, „Gutenberg und das Eltviller Lexikon von 1467“, in: Magistrat der Stadt Eltville 1982 (wie Anm. 5), S. 83–86; Heinz Herzog, „Eltviller Geld des Mittelalters“, in: ebd., S. 87–91; Gerlich 1988 (wie Anm. 6), S. 60–65. 18 Vgl. Anton Philipp Brück, „Vorgeschichte und Erhebung des Mainzer Erzbischofs Johann II. von Nassau“, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Jg. 1, 1949, S. 65–88. 19 Vgl. Eduard Sebald, „Zentrum und Umland. Zur Architektur der Stadt Mainz und des Erzstifts im 15. Jahrhundert“, in: Gutenberg. Aventur und Kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, hg. von Wolfgang Dobras u. a., Mainz 2000, S. 474–483. Vgl. auch Susanne Kern, Mittelalterliche figürliche Wandmalereien an Rhein, Mosel und Lahn. Eine Bestandsaufnahme, Mainz 2008, S. 348f.; Hans-Jürgen Kotzur/Diana Ecker, „Das verschwundene Martins-Chörlein. Auf den Spuren eines architektonischen Kleinods“, in: Der verschwundene Dom. Wahrnehmung und Wandel der Mainzer Kathedrale im Lauf der Jahrhunderte, hg. von Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2011, S. 239– 261; Helge Kuppe, „Kirchenumbau und Königserhebung. Die Bautätigkeit des Mainzer Erzbischofs Johann II. von Nassau (1397–1419) im Zusammenhang mit seiner Machtpolitik“, in: Soziale Bindungen und gesellschaftliche Strukturen im späten Mittelalter (14.–16. Jahrhundert), hg. von Eva Schlotheuber/ Hubertus Seidel, München 2013, S. 303–333.

Landesherrn strebenden Bürgerschaft. Bis 1417 kann infolgedessen mit häufigen Aufenthalten in Eltville gerechnet werden.20 Darüber hinaus waren seit dem Ausbruch der Unruhen zahlreiche Mainzer Patrizier aus Mainz geflohen und haben sich im Umland – insbesondere dem Rheingau – niedergelassen, sodass ein Anstieg der wohlhabenden, städtisch denkenden Bevölkerungsschichten in Eltville zu verzeichnen ist.21 Nicht zuletzt dadurch könnte ein Impuls für das prestigeträchtige Turmbauprojekt in Eltville als ein den Rat repräsentierendes Bauwerk gegeben worden sein. Auch lässt sich m. E. annehmen, dass Johann II. den Eltviller Bürgern gegenüber eine gemäßigtere Haltung bezüglich der Beschränkung von Rechten eingenommen haben dürfte, um in der Ausweichresidenz nicht ebenfalls Konflikte zu schüren.

Ausbau der Pfarrkirche Der Aufenthalt der Mainzer Erzbischöfe in Eltville hat insbesondere auch den Ausbau der einzigen Pfarrkirche des Ortes beeinflusst. Für die Abhaltung regelmäßiger Gottesdienste benötigten die Erzbischöfe ein geeignetes Gebäude, das u. a. für die Ausübung von Pontifikalien dem Anspruch an Prachtentfaltung gerecht werden musste. Für die Burg am Eltviller Rheinufer wird zwar eine Kapelle erwähnt, die jedoch eher der privaten Andacht gedient haben dürfte.22 Die unverhältnismäßige Größe des Chors der Pfarrkirche mag hingegen, da in Eltville niemals ein Stift ansässig gewesen war, das derartige Ansprüche an den Raum gestellt hätte, mit einem Repräsentationsbedürfnis der Erzbischöfe zusammenhängen oder schlicht mit der durch den Erzbischöflichen Hof gesteigerten Zahl der Zelebranten.23 20 Vgl. Schrohe 1915 (wie Anm. 8), S. 169–174. 21 Vgl. Matheus 1999 (wie Anm. 8), S. 178f. 22 Die spärliche Ausstattung mit einem Tragaltar, die geringen Ausmaße sowie die offenbar mehrteilige Funktion des Raumes lassen erahnen, dass dieser Raum nicht dem Anspruch eines Erzbischofes an seine Stammkirche gerecht werden konnte. Vgl. Eichholz 1902/03 (wie Anm. 8), S. 139ff. Vgl. auch Milani 1935 (wie Anm. 15), S. 11ff., 54. 23 Vgl. Johannes Zaun, Beiträge zur Geschichte des Landcapitels Rheingau und seiner vierundzwanzig Pfarreien, Unveränd. Neudr. d. Ausg. von 1879, Walluf 1973, S. 36. Vgl. auch Kratz 1962a (wie Anm. 15), S. 26, 43f. Wolfgang Einsingbach/Hans Kremer,

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

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Darüber hinaus befinden sich in vielen Schlusssteinen des Kirchenraumes von St. Peter und Paul Wappen der vertriebenen Mainzer Erzbischöfe, an denen die Beteiligung am Kirchenbau ebenso wie ein Repräsentationsbedürfnis abzulesen ist: In den beiden Chorvorjochen befindet sich bspw. das Rad-Wappen des Mainzer Erzstiftes sowie das Wappen mit dem stehenden Löwen des Hauses Nassau, die in dieser Kombination Erzbischof Gerlach von Nassau zugeschrieben werden können (Abb. 2).24 Der Schlussstein des östlichsten Langhausjoches verbindet die gerade erwähnten Wappen im Geviert heraldisch und ist in der dargestellten Form sowohl von Adolf I. als auch Johann II. von Nassau getragen worden. Das gleiche Wappen ist auch in der ehemaligen Sakristei südlich des Chors vorzufinden.25 Das gevierte Wappen Johanns II. von Nassau befindet sich weiterhin auf der westlichen Stirn des Chorbogens, gruppiert mit den Wappen von Einzelpersonen bzw. Familien, die nachweislich mit seiner Wahl zum Erzbischof in Verbindung gebracht werden können (Taf. 17).26 Das Fehlen des Wappens des Eltville im Rheingau, Neuss 4., veränderte Auflage 1989 (Rheinische Kunststätten, 129), S. 6; Falck 1993 (wie Anm. 6), S. 74. Zur vergleichbaren Entwicklung in Kiedrich und anderen spätmittelalterlichen Orten und Städten vgl. Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 130–134. Vgl. auch Reitemeier 2005 (wie Anm. 1), S. 18–21. 24 Vgl. Kremer 1953 (wie Anm. 15), S. 42f. Vgl. auch Ludwig Falck, Die Wappen des Kurfürstentums Mainz. Bemerkungen zu der Farbtafel. Aus Mainzer Zeitschrift 65, Mainz 1970, S. 4; Jürgen Fabian, „Zu Bau- und Stilgeschichte der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Eltville“, in: Boos 2002 (wie Anm. 2), S. 107–116; Gerlich 1988 (wie Anm. 6), S. 62. Vgl. auch Falck 1993 (wie Anm. 6), S. 71f. 25 Vgl. Die Baudenkmäler im Regierungsbezirk Wiesbaden, hg. von Wilhelm Lotz/Friedrich Schneider, Berlin 1880 (Inventarium der Baudenkmäler im Königreiche Preussen. Provinz Hessen-Nassau), S. 97. Vgl. auch Fabian 2002 (wie Anm. 24), S. 113. Zu beachten sei, dass auch das Wappen Adolfs II. von Nassau (1461–1475) heraldisch nahezu identisch ist. Vgl. hierzu Falck 1970 (wie Anm. 24), S. 4. 26 Der Innenraum der Kirche wurde nach barocker Raumvorstellung um 1753 weiß gefasst, die Wappen überstrichen. Erstmals wieder aufgedeckt wurden sie bei Instandsetzungsarbeiten in den Jahren 1865 bis 1866. Die restaurierte Malerei auf dem Chorbogen blieb bis 1934 sichtbar wurde dann aber wieder überdeckt. Erst zwischen 1959 und 1961 wurden die Malereien wieder aufgedeckt und professionell gesichert. Dabei wurden, so Kern, zwar beträchtliche Teile rekonstruiert, es kann aber von einer heraldisch korrekten Darstellung der Wappen ausgegangen werden. Vgl. Kremer 1953 (wie Anm. 15), S. 43–46 und Anm. 75. Vgl. auch Hans Feldtkeller, „Wiederaufdeckung

2 Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Eltville am Rhein, Chorgewölbe mit Wappen­ schluss­steinen, unten: Gerlach von Nassau (1353–1371), oben: Adolf I. von Nassau (1373–1390) oder Johann II. von Nassau (1397–1419).

Mainzer Domkapitels an dieser Stelle deutet Kern als bewusste Inszenierung des Erzbischofes sowie eine Besitzanzeige der Pfarrkirche.27 Zu beachten bleibt jedoch, dass der Schlussstein im westlichsten Joch des Seitenschiffes zumindest aufgemalt das Wappen des Mainzer Domstiftes zeigt. Angesichts der historischen Entwicklung erscheint es plausibel, dass in der Ausweichresidenz Eltville ein gewisser Repräsentationsaufwand in der Architektur der Pfarrkirche festgestellt werden kann. Erstaunlich sind hingegen die ganz ähnlichen Beobachtungen am Pfarrturm, als einem der weltlichen Verwaltung der Stadt unterstehenden Bestandteil der Kirche.

mittelalterlichen Malerei in der Eltviller Pfarrkirche“, in: Magistrat der Stadt Eltville am Rhein 1982 (wie Anm. 5), S. 78–82; Hans Kremer, „Der Annenaltar in der Deutschordenskirche zu Frankfurt am Main und die frühere Ausstattung der Eltviller Pfarrkirche“, in: Mainzer Zeitschrift, Jg. 79/80, 1984/85, S. 77–82; Monsees 1997 (wie Anm. 12), S. XXIX und S. 124f., Nr. 139. 27 Kern 2008 (wie Anm. 19), S. 344–361.

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Es verwundert daher, dass sich auch am Pfarrturm an prominenter Stelle das Wappen eines Erzbischofes – jenes von Konrad III. von Dhaun – befindet (Abb. 3).29 Nur in wenigen Fällen wird berichtet, dass ein städtischer Pfarrturm in augenscheinlicher Kooperation städtischer Organe mit einer geistlichen Instanz errichtet wurde.30 Ein passendes Beispiel findet sich, räumlich sogar benachbart, in dem Bau von St. Bartholomäus in Frankfurt am Main und dessen Pfarrturm. Weltlicher Stadtrat und geistliches Stift haben die Bauaufgaben an der Kirche, teilweise untereinander konkurrierend, aufgeteilt, bzw. im Falle des Pfarrturms zu Beginn sogar gemeinsam betreut. Erst im weiteren Bauverlauf konnte eine zunehmend stärkere Beteiligung des städtischen Patriziats gegenüber der Geistlichkeit festgestellt werden.31 Ein Modell, das sich auch mit

3 Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Eltville am Rhein, Westportal mit Wappen Erzbischof Konrad III. von Dhaun (1419–1434), Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts.

Beteiligung am Bau des Pfarrturms In seiner Funktion als Rechtsort, Träger stadtrechtlich genutzter Glocken und Plattform für einen Stadtwächter sowie in seiner markant aufragenden Gestalt ist im Westturm der Eltviller Pfarrkirche ein typischer spätmittelalterlicher Pfarrturm zu erkennen, wie er sich als Bautypus seit dem 14. Jahrhundert vor allem im südwestlichen Raum des Heiligen Römischen Reiches herausgebildet hat. Als solcher kann ihm auch die Repräsentation der städtischen Bürgerschaft zugeschrieben werden, deren Selbstbewusstsein in dem hohen und aufwendig verzierten Turm ausgedrückt wird.28 28 Vgl. Beeh 1961 (wie Anm. 1), S. 184ff. Vgl. auch Kiesow 1988 (wie Anm. 1), S. 44; Robert Odell Bork, Great Spires. Skyscrapers of the New Jerusalem, Köln 2003 (Kölner Architekturstudien, 76),

S. 253f.; Reitemeier 2005 (wie Anm. 1), S. 22 und S. 172ff.; Bork/de la Riestra 2008 (wie Anm. 1), S. 52–56 und S. 72ff.; Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa. 1220–1340. Von Metz bis Wien, München 2007 (Kunstwissenschaftliche Studien, 137), S. 181 und S. 209; Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 65–67. 29 Das heute am Portal befindliche Wappen des Erzbischofs ist eine Kopie, die vermutlich während der Restaurierungsarbeiten von 1892 bis 1894 gegen das Original ausgetauscht wurde. Die Nennung des Wappens in Georg Helwichs Inschriftensammlung bei seiner Aufnahme vom 24. September 1614, „[…] turris vero extructa colligitus ex insignibus, sub Archiepo Conrado Rheini comite […]“, bestätigt jedoch die heraldische Übereinstimmung mit dem heutigen Wappen. Vgl. hierzu Georg Helwich, Syntagma monumentorum et epitaphiorum, tum veterum tum recensium selectiorum, quae tum in dioecesi Moguntina, … erecta conspicuntur … Incaeptum anno aerae christianae M. D.C.XI., 1611–1615, Martinus-Bibliothek der Diözese Mainz, Hs 225, S. 241. Vgl. auch Ferdinand Wilhelm Emil Roth, Die Geschichtsquellen des Niederrheingaus. Teil 3: Sonstige Geschichtsquellen des Niederrheingaus, Wiesbaden 1880b (Geschichtsquellen aus Nassau), S. 238; Zaun 1973 [1879] (wie Anm. 23), S. 33; Lotz/ Schneider 1880 (wie Anm. 25), S. 97. 30 Vgl. Peter Wiek, „Das Straßburger Münster“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Jg. 107, 1959, S. 40–113. Vgl. auch Neitmann 1990 (wie Anm. 7), S. 24–27; Bork 2003 (wie Anm. 28), S. 292; Reitemeier 2005 (wie Anm. 1), S. 20f. 31 Vgl. Guido Schoenberger, Beiträge zur Baugeschichte des Frankfurter Doms, Frankfurt am Main 1927 (Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main, 3), S. 152. Vgl. auch Fischer 1962 (wie Anm. 6), S. 16; Ringshausen 1968 (wie Anm. 1), S. 84; 750 Jahre Frankfurter Kaiserdom Sankt Bartholomäus. 1239–1989, hg. von Karl Heinrich Rexroth, Frankfurt am Main 1989 (Kleine Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main, 45), S. 35; Christian Freigang, „Der Frankfurter Dom als Wahlort der deutschen Könige. Architektonische, liturgische und politische Aspekte“, in: Wahl und Krönung in

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

den Beobachtungen in Eltville in Übereinstimmung bringen lässt, wo insbesondere für die Anfangsphase eine Beteiligung mindestens eines Erzbischofes nachgewiesen werden kann, später jedoch die Nachrichten profaner Verwaltung überwiegen. Nicht nur das offensichtlich am Eltviller Pfarrturm angebrachte Wappen Konrads III. von Dhaun ist dazu ein Anhaltspunkt, sondern auch die Einführung eines Wallfahrtskultes zur Reliquie der Heiligen Hostie. Dieser ist durch einen Ablass schriftlich überliefert, der 1402 zusammen mit der Verlegung der Wallfahrt von Niedergladbach nach Eltville durch Johann II. von Nassau gewährt wurde.32 Es wird angenommen, dass bedeutsame Baumaßnahmen in Verbindung mit dem Beginn der Wallfahrt stehen.33 Selbst wenn der Ablass dabei zunächst Baumaßnahmen an Langhaus und Seitenschiff zugute gekommen sei und der Pfarrturm vor allem als städtische Leistung betrachtet werden soll, so kann auch von dieser Seite der wirtschaftliche Aufschwung, der mit der Wallfahrt entstand, nicht außer Acht gelassen werden. Die Architektur des Eltviller Pfarrturms gibt jedenfalls deutliche Hinweise für eine Verbindung mit dem Wallfahrtskult. Der Aufbau der Turmhalle mit Portalöffnungen in der südlichen und nördlichen Mauer legt etwa die Funktion als Prozessionsdurchgang nahe. Der Altan über dem Westportal könnte zudem als Plattform zur feierlichen Weisung der Reliquie genutzt worden sein.34 Zeiten des Umbruchs, hg. von Ludolf Pelizaeus, Frankfurt am Main 2008 (Mainzer Studien zur neueren Geschichte, 23), S. 131–156; Christian Freigang, „Madern Gerthener in Frankfurt am Main. Vom Aufstieg einer Reichsstadt zum Architekturzentrum um 1400“, in: Werkmeister der Spätgotik. Personen, Amt und Image, hg. von Stefan Bürger/Bruno Klein, Darmstadt 2010, S. 85–105, hier S. 90, 101f. 32 Vgl. Codex diplomaticus anecdotorum. Res Moguntinas, Francicas, Trevirenses, Hassiacas, Fintimarumque Regionum. Ius Germanicum et S. R.I. Historiam Vel Maxime Illustrantium, Bd. 4, hg. von Valentin Ferdinand Gudenus, Frankfurt/Leipzig 1758, S. 8–11. Vgl. Roth 1880a (wie Anm. 15), S. 254, Nr. 103. 33 Vgl. Kremer 1953 (wie Anm. 15), S. 47. Vgl. auch ders., „Die Pfarrei St. Peter und Paul zu Eltville, ihre Geschichte und ihr Gotteshaus“, in: Magistrat der Stadt Eltville am Rhein 1982 (wie Anm. 5), S. 49–61, hier S. 50, 57; Philipp 1987 (wie Anm. 1), S. 27ff.; Fabian 2002 (wie Anm. 24), S. 109 und S. 113ff.; Peter Jeschke, „Die Heilige Hostie von Eltville. Reliquienverehrung und Ablasswesen im Rheingau im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Boos 2002 (wie Anm. 2), S. 126–134. 34 Vgl. Gudenus 1758 (wie Anm. 32), S. 10. Vgl. auch Reitemeier 2005 (wie Anm. 1), S. 348–360, 475ff.; Hermann Reifenberg;

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Da Johann II. von Nassau nachweislich am Ausbau der Kirche in Eltville beteiligt war und für eine aktive Baupolitik in seinem Herrschaftsgebiet bekannt geworden ist, wäre zu spekulieren ob ihm nicht auch eine Anteilnahme am Bau des Pfarrturmes zugeschrieben werden könnte – und sei es nur durch die Bereitstellung einer Finanzierung in Form der eingerichteten Wallfahrt.35 In Mainz wurde bereits die Wahl Konrads III. von Dhaun zum Erzbischof im Jahre 1419 von Streitigkeiten der Mainzer Bürger mit dem Klerus überschattet. Zwar gewährte Konrad den Mainzern zahlreiche städtische Freiheiten, geriet aber dennoch in einen Streit mit ihnen, sodass das Erzbistum wohl schon bald eher aus dem Rheingau heraus verwaltet wurde.36 Darüber hinaus waren beinahe die gesamten 1420er Jahre geprägt von territorialpolitischen Auseinandersetzungen Konrads III. gegen den Landgrafen von Hessen und den Pfalzgrafen bei Rhein. In Anbetracht eines drohenden Zweifrontenkrieges wurden Burgen und Wehranlagen ausgebaut sowie Stiftungen an lokale Pfarrkirchen durchgeführt. Eltville wird dabei zwar nicht explizit erwähnt, jedoch lässt sich durch die schon damals historische Bedeutung des Ortes sowie der Burg vermuten, dass auch hier Ausbauten Sakramente, Sakramentalien und Ritualien im Bistum Mainz seit dem Spätmittelalter. Unter besonderer Berücksichtigung der Diözesen Würzburg und Bamberg. Teilband I. Bis 1671 (Mainz– römischer Ritus), Münster 1971 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 53), S. 667–689. Es sei angemerkt, dass der Altan auch zur Verkündigung amtlicher Bekanntmachungen verwandt worden sein kann. Eine Nutzung im Sinne des Wallfahrtskultes schließt sich dabei m. E. keineswegs aus. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Verwendung der Prozessionsportale. Vgl. Adalbert Erler, Das Strassburger Münster im Rechtsleben des Mittelalters, Frankfurt am Main 1954 (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Reihe, 9), S. 24ff. Vgl. auch Beeh 1961 (wie Anm. 1), S. 197f.; Eduard Sebald, Die Baugeschichte der Stiftskirche St. Marien in Wetzlar, Worms 1990 (Manuskripte zur Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft, 31), S. 187f.; Helen Wanke, Zwischen geistlichem Gericht und Stadtrat. Urkunden, Personen und Orte der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Strassburg, Speyer und Worms im 13. und 14. Jahrhundert, Mainz 2007 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 119), S. 181f. Weitere Beispiele auch bei Michael Funk, Alte deutsche Rechtsmale. Sinnbilder und Zeugen Deutscher Geschichte, Bremen 1940, S. 69–71; Philipp 1987 (wie Anm. 1), S. 41. 35 Vgl. Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 476–481. 36 Vgl. Schrohe 1915 (wie Anm. 8), S. 174f. Vgl. auch Kirn 1929 (wie Anm. 7), S. 8.

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und Stiftungen erfolgten.37 Das Wappen Konrads III. von Dhaun über dem Westportal des Pfarrturms bestätigt diese Überlegung. Die Beteiligung am Bau des Eltviller Pfarrturms kann in diesen politischen Wirren vielleicht sogar als bewusste Unterstützung eines aufwendigen Bauvorhabens betrachtet werden, das die Loyalität der Rheinstadt an den Landesherrn binden sollte. Angesichts der Erfahrung, die sowohl Konrad III. als auch seine Vorgänger bezüglich der Beschneidung städtischer Privilegien der Mainzer Bürgerschaft gemacht hatten, könnte eine vorsichtige und zuvorkommende Behandlung der Bewohner der Ausweichresidenz Eltville angenommen werden.38

Spätgotisches Bauen im Rheingau Der Pfarrturm zu Eltville wurde durch stilkritische Vergleiche und die Auswertung von Steinmetzzeichen der Frankfurter Bauhütte um Madern ­Gerthener zugeschrieben.39 Insbesondere beim Blick auf die Gestaltung des Portals mit dem sogenannten „­Gerthner-Motiv“40 – ein geschweifter Kielbogen 37 Vgl. Christiane Mathies, Kurfürstenbund und Königtum in der Zeit der Hussitenkriege. Die kurfürstliche Reichspolitik gegen Sigmund im Kraftzentrum Mittelrhein, Mainz 1978 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 32), S. 167ff. Anm. 237 und Anm. 240, S. 210–216. Anm. 287f. 38 Vgl. Neitmann 1990 (wie Anm. 7), S. 24f. Vgl. auch Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 18–24. 39 Vgl. dazu ausführlich Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 46–65. Am Eltviller Pfarrturm wurden zahlreiche Bauglieder während einer Restaurierung um 1892 bis 1894 nahezu vollständig ausgetauscht. Dieser Hinweis soll vor allem zur Vorsicht vor allzu detaillierten Stilvergleichen gemahnen. Vgl. Kratz 1962a (wie Anm. 15), S. 31. Vgl. auch Kremer 1982 (wie Anm. 33), S. 58–61; Die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Eltville. Kunst, Geschichte und Bedeutung, hg. von dems., Eltville am Rhein 1994, S. 18–24; Einsingbach/Kremer 1989 (wie Anm. 23), S. 10; Albert Schaefer, „Eltville. Gestalt und Gestalten der alten Hauptstadt des Rheingaus“, in: Magistrat der Stadt Eltville am Rhein 1982 (wie Anm. 5), S. 66–77; Kiesow 1988 (wie Anm. 1), S. 194; Ernst-Dietrich Haberland, Madern Gerthener „der Stadt Franckenfurd Werkmeister“. Baumeister und Bildhauer der Spätgotik, Frankfurt am Main 1992, S. 120; Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 479; Schmidt 2002 (wie Anm. 2), S. 119–125. Zu den Werken Gertheners siehe vor allem die aktuelle Forschung bei Gerhard Ringshausen, Madern Gerthener. Frankfurts großer Architekt und Bildhauer der Spätgotik, hg. von Evelyn Brockhoff, Frankfurt am Main 2015 (Studien zur Frankfurter Geschichte, 62). 40 Rolf Wallrath, „Eine Visierung des Baumeisters und Bildhauers Madern Gerthner?“, in: Jahrbuch der Preußischen

zwischen zwei schlanken Fialen über Birn- und Rundstabprofilen – im Vergleich zur Memorienpforte im Mainzer Dom (Abb. 4) und dem Südportal des Pfarrturms an St. Bartholomäus in Frankfurt am Main (Abb. 5) fällt die stilistische Verwandtschaft ins Auge. Das Sterngewölbe der Turmhalle zu Eltville (Abb. 6) mit Laubwerkskreuzungen und vierpassgefasstem Stadtwappen hat zudem Ähnlichkeiten zu Detailformen der Vorhallen des Westturms von St. Bartholomäus (Abb. 7), der Tordurchfahrt des Nürnberger Hofes (Abb. 8) und den Chören der Karmeliter- und Leonhardskirche in Frankfurt sowie dem Gewölbe des Westchores der Oppenheimer Katharinen­kirche (Abb. 9).41 Die Vorhalle der Höchster Justinuskirche gleicht dem Eltviller Turmhallengewölbe darüber hinaus fast bis ins Detail (Abb. 10). Im Chor zu Oppenheim stellen außerdem Zierelemente am Verkündigungsportal sowie im darüber liegenden Blendmaßwerk die Verbindung nach Eltville her (Abb. 11). Insbesondere für den Turmbau zu Eltville wurde bereits eine, von der jeweiligen Auftragslage abhängige, Wanderungsbewegung der Frankfurter Steinmetze zwischen Frankfurt und dem Rheingau vermutet.42 Vielleicht von dort ausgehend wurden vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Veränderungen an Sakralbauten in den benachbarten Orten Erbach, Kiedrich und Rauenthal durchgeführt.43 Der jeweils stockende Bauverlauf am Pfarrturm in Frankfurt sowie in Eltville könnten insbesondere dazu geführt haben, dass die beteiligten Handwerker sich andere Auftraggeber in der näheren Umgebung gesucht haben. Durch die frühe Errichtung des Eltviller

Kunstsammlungen, Jg. 64, 1943, S. 73–88, hier S. 82. Der Begriff ist allerdings mit Vorsicht zu gebrauchen, da der beschriebene Aufbau einer Portalrahmung bereits früher sowie auch unabhängig von Gerthener zu greifen ist. Vgl. ebd., S. 73–88. Vgl. auch Kremer 1982 (wie Anm. 33), S. 57; Fischer 1962 (wie Anm. 6), S. 23f.; Ringshausen 1968 (wie Anm. 1), S. 135. 41 Die vollständige Rekonstruktion des Oppenheimer Gewölbes beachtend, sei vor allem auf die erhaltenen Originalfragmente im Lapidarium neben der Kirche hingewiesen. Vgl. St. Katharinen zu Oppenheim. Lebendige Steine, Spiegel der Geschichte, hg. von Carlo Servatius, Alzey 1989, S. 526. Vgl. auch Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 55f. 42 Vgl. ebd., S. 60ff. Für die Verbindung innerhalb des Rheingaus vgl. Robert Frank Schmidt, „Meister Wilhelm und der Turmbau zu Kiedrich“, in: Rheingau Forum. Zeitschrift für Wein, Geschichte, Kultur, Jg. 2, 2007, S. 13–22, hier S. 20f. 43 Vgl. Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 480ff.

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

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4 Domkirche St. Martin zu Mainz, Portal zur Memorie in südlichem Seitenschiff , um 1410/20.

5 Pfarrkirche St. Bartholomäus zu Frankfurt am Main, Westturm, Südportal, Erstentwurf Madern Gerthener, um 1415.

6 Pfarrkirche St. Peter und Paul zu Eltville am Rhein, Westturm, Gewölbe der Turmhalle, Wappenschlussstein mit Stadtwappen.

7 Pfarrkirche St. Bartholomäus zu Frankfurt am Main, Westturm, Vorhalle des Südportals, Erstentwurf Madern Gerthener, um 1415.

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8 Ehemaliger Nürnberger Hof zu Frankfurt am Main, Gewölbte Tordurchfahrt, wohl Madern Gerthener und Frankfurter Bauhütte, um 1410, Wappenschlusstein mit Stadtwappen Nürnbergs.

9 Ehemalige Stiftskirche St. Katharina zu Oppenheim, Gewölbe des Westchors, Erstentwurf vermutlich Madern Gerthener, um 1415 bis 1439, Rekonstruktion des Gewölbes 1937.

Turms sowie die Bedeutung dieser Kirche als Hauptkirche der Filialgemeinden kann überdies von einer stilistischen Orientierung an diesem ausgegangen werden.44 Besonders die Türme der Kirchen in Kiedrich, Erbach und Rauenthal sollten als Bautyp beachtet werden, wenn es um die Frage des stilistischen Einflusses des Eltviller Pfarrturms geht. Als vor das Kirchenschiff gestellte Westtürme mit westlichem Portal und einer im untersten Geschoss befindlichen Turmhalle haben sie auf den ersten Blick viel gemein mit den Repräsentationsbauten der städtischen Pfarrkirchen. In der Landschaft des Rheingaus fügen sich die Türme in ein gängiges Schema ein, das Claudia Wels vor allem bei kleineren Land- und Pfarrkirchen seit dem 11. Jahrhundert feststellen konnte. Nach der Beweisführung von Wels ist hingegen allenfalls der Turm zu Kiedrich als ein von der Gemeinde finanzierter Pfarrturm mit ‚stadtrechtlichem‘45 und gegenüber der übergeordneten Geistlichkeit repräsentativem Anspruch zu verstehen.46 Der Turm der Valentinskirche sei nach Schmidt bis um 1400 bereits fertiggestellt worden und wurde von ihm mit Nachdruck dem Einfluss der Frankfurter Bauhütte 44 Vgl. Gerlich 1951/52 (wie Anm. 5), S.58. Vgl. auch Gerlich 2005 (wie Anm. 6), S. 516. 45 Da Kiedrich keine Stadtrechte besaß, soll dieser Ausdruck nur behelfsweise genutzt werden, um Orientierung und Absicht der Bauherren sowie der späteren Funktion des Turmbaus zu verdeutlichen. Siehe hierzu insbesondere Wels 2003 (wie Anm. 3). 46 Vgl. Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 111–114 und S. 136f.

10 Ehemalige Ordenskirche der Antoniter St. Justinus zu Frankfurt-Höchst, Nördliche Vorhalle, vermutlich Stephan von Irlebach und Frankfurter Bauhütte, um 1441 bis 1454, in Schlussstein Wappen des Hugo von Bellemonte (1434–1454).

entzogen.47 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden aber auch in Kiedrich Umbaumaßnahmen ausgeführt, die sich dem Umkreis derselbigen wieder annähern.48 Im Turm selbst befindet sich im Schlussstein der Eingangshalle zwar kein weltliches Wappen sondern das aufwendig ausgearbeitete Haupt Jesu Christi, dafür schmückt das Wappen des Adligen Otto von Scharfensteins das Gewölbe der darüber befindlichen ehemaligen Michaelskapelle. Selbiges Wappen findet sich zudem gemeinsam mit einer Vielzahl weltlicher Wappen im Chorgewölbe der Valentinskirche. Wappen des Rheingauer Adels, teils ursprünglich aus Mainz stammend, sowie das Ortswappen Kiedrichs sind hier zu sehen und schweben über dem Allerheiligsten der Kirche.49 In Kiedrich lohnt zudem ein Blick auf die der Valentinskirche benachbarten Michaelskapelle (Abb. 12). Trotz deutlicher Modifizierung des Gesamtaufbaus ist in der Aufrissgestaltung das Eltviller Turmportal sowie die genannten Vergleichsstücke zu erkennen. Strittig bleibt allerdings die gegenseitige Abhängigkeit des Westportals der benachbarten Valentinskirche, 47 Vgl. Schmidt 2007 (wie Anm. 42), S.16–21. 48 Vgl. Söder/Krienke 2014 (wie Anm. 6), S. 567. Vgl. auch Josef Staab, „Baugeschichte und Baumeister der Kirche“, in: St.-Valentinuskirche in Kiedrich. 1493–1993. Zur 500-Jahrfeier ihrer Vollendung, hg. von dems. u. a., Kiedrich 1993a, S. 19–23. 49 Vgl. Josef Staab, „Was erzählen uns die Wappen am Bau?“, in: Staab 1993 (wie Anm. 48), S. 28–37. Dort befindet sich auch der Hinweis auf das spätgotische Gewölbe der Geisenheimer Kirche aus dem frühen 16. Jahrhundert, in dem wiederum das gesamte Mainzer Domkapitel durch Wappen vertreten ist.

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

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11 Ehemalige Stiftskirche St. Katharina zu Oppenheim, Westchor, Blick auf Ostwand und Verkündigungsportal.

12 Michaelskapelle und Karner zu Kiedrich, um 1434 bis 1444.

13 Pfarrkirche St. Valentin zu Kiedrich, Westportal, um 1400.

14 Michaelskapelle und Karner zu Kiedrich, um 1434 bis 1444, Chörlein.

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Benedikt Ockenfels

15 Pfarrkirche St. Antonius zu Rauenthal, 1468 bis 1491, Westturm, Turmhalle, Gewölbeschlusstein mit Ortswappen.

16 Pfarrkirche St. Markus zu Erbach im Rheingau, Westturm, Gewölbe der Turmhalle mit Datierung 1477.

das Schmidt schon vor bzw. um 1400 einordnet (Abb. 13).50 Nichtsdestoweniger sind in den Detailformen der Strebepfeiler an der 1445 fertiggestellten Michaelskapelle sowie am Blendmaßwerk des Chörleins derselben auffällige Stilverwandschaften zu erkennen (Abb. 14).51 Die anderen genannten Türme weisen m. E. ähnliche, wenn auch zurückhaltender wahrnehmbare Tendenzen weltlicher Baubeteiligung und Repräsentation auf. Da sie alle auf ältere Vorgängerbauten gründen, können jedoch nur die markantesten Umbauten der spätgotischen Zeit beachtet werden.52 50 Vgl. Schmidt 2007 (wie Anm. 42), S. 20f. 51 Vgl. Fischer 1962 (wie Anm. 6), S. 71–96. Vgl. auch Kiesow 1988 (wie Anm. 1), S. 47; Schmidt 2002 (wie Anm. 2), S. 121. 52 Vgl. Ferdinand Luthmer, Nachlese und Ergänzungen zu den Bänden I bis V. Orts- und Namensregister des Gesamtwerkes, Frankfurt am Main 1921 (Die Bau- und Kunstdenkmäler des Regierungsbezirks Wiesbaden, 6), S. 161. Zu Erbach vgl. Zaun 1973 (wie Anm. 23), S. 134–143. Vgl. auch Herchenröder/Einsingbach 1965 (wie Anm. 5), S. 147. Zu Oestrich vgl. ebd. S. 291. Vgl. auch Zaun 1973 (wie Anm. 23), S. 169–175. Zu Rauenthal vgl. ebd. S. 106–119. Vgl. auch Anton Klein, „Überblick über die Geschichte von Rauenthal in Eltville“, in: Magistrat der Stadt Eltville 1982 (wie Anm. 5), S. 39–42. Hans I. Wagner, Ein Beitrag zur Geschichte der Rauenthaler Pfarrkirche St. Antonius Eremitus, Rauenthal 1991, S. 31–36; Rolf Müller, St. Antonius Eremita Eltville-Rauenthal, Regensburg 2000 (Kunstführer, 2405), S. 2f.

Der Pfarrturm in Rauenthal stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert, das schlichte Kreuzrippengewölbe der Turmhalle wurde aber vermutlich erst mit Errichtung des spätgotischen Neubaus des Kirchenschiffs bis 1492 eingezogen. Auch der Taufstein in der, bis ins 19. Jahrhundert vollständig vom Kirchenraum abgetrennten Turmhalle, stammt aus dieser Zeit.53 Wie im Turmhallengewölbe in Eltville zeigt auch hier der Schlussstein das Ortswappen (Abb. 15), sodass davon ausgegangen werden kann, dass hier ein Raum mit weltlichem Anspruch bzw. ‚stadtrechtlicher‘ Repräsentation markiert werden sollte, in dem neben der Taufe vermutlich auch weitere juristische Handlungen im Sinne einer profanen Gemeindeverwaltung vollzogen wurden.54 Rauenthal hatte sich bereits 1361 als selbstständige Pfarrei von Eltville gelöst und könnte wiederum am Vorbild des Eltviller Pfarrturms, den

53 Vgl. Söder/Krienke 2014 (wie Anm. 6), S. 374 und S. 384ff. 54 Vgl. Heiner Lück, „Kirchengebäude“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2, hg. von Albrecht Cordes u. a., Berlin 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012, Z. 1787–1796. Vgl. auch Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 66. Zum Sakralraum als Rechtsort vgl. auch das umfangreiche Werk von Wanke 2007 (wie Anm. 34).

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

eigenen Pfarrturm zur Inszenierung der unabhängigen Rechts- und Verwaltungsstruktur genutzt haben. Das Turmgewölbe der Markuskirche in Erbach zeigt eine nur leicht abgewandelte Form des Eltviller Sterngewölbes (Abb. 16). Die Rippenkreuzungen tragen zwar kein Laubwerk, sind aber durch vier kleine Tartschenschilde markiert, einer mit der Jahreszahl 1477 datiert. Die übrigen Schilde zeigen die Wappen verschiedener Adelsgeschlechter, unter denen sich auch ein Allianzwappen mit der Familie Gelthus zur jungen Aben befindet. Angehörige dieser Familie haben sich auch durch bedeutende Stiftungen in der Pfarrkirche zu Eltville ausgezeichnet.55 Der Schlussstein gleicht demjenigen im Pfarrturm zu Eltville und zeigt mit dem Markuslöwen zugleich Ortswappen und Symbol des Kirchenpatrons. Auch hier erinnert die den Ort repräsentierende Situation an die Turmhalle in Eltville und besticht zudem durch die interessante Doppelbelegung mit dem Symbol des Evangelisten. Bis spätestens 1429 hatte sich Erbach von der juristischen Abhängigkeit von Eltville gelöst und ein eigenes Rathaus mit selbstständigem Rat eingerichtet.56 Eine darüber hinaus erfolgte bauliche Inszenierung des Pfarrturmes im Sinne einer kirchlich-weltlichen Repräsentation sollte dabei nicht ausgeschlossen werden. Sogar in den Filialgemeinden von Eltville ist demnach eine Entwicklung zur selbstständigen Gemeindeverwaltung festzustellen. Ebenfalls unter Einbezug der Pfarrkirchen und deren Türme zu Repräsentation oder Nutzung als Rechtsort. Nur hingewiesen werden soll zuletzt auf die Befunde zahlreicher Steinmetzzeichen aus dem Umkreis der Frankfurter Bauhütte an Kirchenbauten des Rheingaus und die Nennung des Meisters Wilhelm, eines Schülers von Madern Gerthener, als Baumeister des Chores von St. Valentin in Kiedrich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sowie den Schüler Wilhelms, Hans Flücke von Ingelheim, der wiederum Dombaumeister an St. Bartholomäus in Frankfurt wurde.57 55 Vgl. Kern 2008 (wie Anm. 19), S. 344–361. Vgl. auch Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 50ff. 56 Vgl. Herchenröder/Einsingbach 1965 (wie Anm. 5), S. 143– 152. Vgl. auch Söder/Krienke 2014 (wie Anm. 6), S. 246. 57 Vgl. Staab 1993a (wie Anm. 48), S. 22f. Vgl. auch Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 97f. Zu den Steinmetzzeichen vgl. das Schema

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Mit der Frankfurter Bauhütte war eine der im 15. Jahrhundert produktivsten Werkstätten der weiteren Region im Rheingau tätig. Dies mag sicherlich nicht zuletzt durch die räumliche Nähe und die oben beschriebene Wirtschaftskraft des Rheingaus begründet sein. Nichtsdestoweniger sollte die Frage gestellt werden, wie die Handwerker der Bauhütte bereits zu Beginn des Jahrhunderts hierher vermittelt worden sind und welche Rolle die in Eltville residierenden Mainzer Erzbischöfe dabei gespielt haben können.

Vermittlung der Bauhütte Auf eine engere geschäftliche Verbindung zwischen der Bauhütte Madern Gertheners in Frankfurt und verschiedenen Mainzer Erzbischöfen wurde in der Forschung bereits hingewiesen.58 Die Grabmale zweier Erzbischöfe, die nachweislich in Eltville residiert haben, Johann II. von Nassau sowie sein Nachfolger Konrad III. von Dhaun wurden bei Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 57: Auffallend ist hier das Zeichen Nr. 16, das etwa am Westportal der nahe gelegenen Kirche St. Markus in Erbach angebracht ist, sowie Nr. 59 an derselben Kirche. In Erbach tauchen auch weitere Zeichen auf, die sich an St. Bartholomäus wiederfinden lassen. Vgl. Ulrike Schubert, „Gotisches oder neugotisches Mauerwerk. Baugeschichtliche Untersuchung der mittelalterlichen Bauphasen unter besonderer Berücksichtigung des Turmoktogons“, in: Der Frankfurter Domturm. Stadtbild, Geschichte, Restaurierung, hg. von Dieter Bartetzko, u. a., Bonn 2009, S. 47–63. Zudem sei auf das Zeichen Nr. 53 hingewiesen, das einerseits an der Karmeliterkirche in Frankfurt vorkommt, andererseits auch, zusammen mit Nr. 19 an der Michaelskapelle in Kiedrich, in St. Antonius in Rauenthal und das schließlich als Meisterzeichen mit Datierung auf 1490 im Gewölbe von St. Valentin in Kiedrich auftaucht. Vgl. Wilhelm Jung, „Beiträge zur Geschichte der spätgotischen Kirchenbaukunst am Mittelrhein. Anmerkungen zur Arbeit von Friedhelm Wilhelm Fischer“, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Jg. 15, 1963, S. 415–431. Vgl. auch Schmidt 2002 (wie Anm. 2), S. 122f. Zu den Verbindungen zwischen der Oppenheimer Katharinenkirche und St. Valentin in Kiedrich über Steinmetze aus dem Umkreis Gertheners vgl. Bernhard Schütz, Die Katharinenkirche in Oppenheim, Berlin u. a. 1982 (Beiträge zur Kunstgeschichte, 17), S. 294 und Anm. 414. 58 Vgl. Fischer 1962 (wie Anm. 6), S. 22–28. Vgl. auch Haberland 1992 (wie Anm. 39), S. 79–88; Horst Reber, „Madern Gerthener und das Grabmal des Erzbischofs Konrad von Dhaun im Mainzer Dom“, in: RückSicht. Festschrift für Hans-Jürgen Imiela zum 5. Februar 1997, hg. von Daniela Christmann u. a., Mainz 1997, S. 59–62; Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 502–511; Kotzur/Ecker 2011 (wie Anm. 18), S. 253.

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Benedikt Ockenfels

Madern Gerthener zugeschrieben. In Bezug auf die erzbischöfliche Baupolitik äußert Helge Kuppe zudem die Vermutung einer Einflussnahme Johanns II. von Nassau auf die Planung des Frankfurter Pfarrturms unter Madern Gerthener.59 Konrad III. von Dhaun war vor seiner Wahl zum Erzbischof 1419 als Propst am Stift von St. Bartholomäus in Frankfurt tätig und infolgedessen ebenfalls mit dem Projekt des Westturms vertraut.60 Horst Reber vermutete, dass sich Konrad III. von Dhaun auch nach seiner Wahl zum Mainzer Erzbischof noch für das Baugeschehen in Frankfurt interessiert habe.61 Konrads anhaltendes Interesse an dem Turmbau zu Frankfurt sowie seine geschäftlichen Beziehungen zum Baumeister Madern Gerthener können zu einer Rolle als Vermittler geführt haben. Vielleicht lässt sich weitergehend das Bestreben feststellen, die Bürger der Ausweichresidenz Eltville beim Bau eines prächtigen Pfarrturms unterstützen zu wollen, bzw. einen möglicherweise bereits unter Johann II. von Nassau begonnenen Turmbau weiterzuführen. Als Auslöser könnte nicht zuletzt das ab 1424 herrschende angespannte Verhältnis zwischen Konrad III. von Dhaun und der Reichsstadt Frankfurt gesehen werden, das zu einer Konkurrenzsituation geführt haben könnte.62 Wie auch in den anfangs erwähnten Stiftungen im Rahmen des Konfliktes Konrads mit dem Pfalzgrafen bei Rhein, lassen sich darin vielleicht indirekte Auslöser für den Bau des Turmes bzw. die Unterstützung dieses Vorhabens erkennen.

Die Niederlage Konrads III. von Dhaun gegen den Landgrafen von Hessen im August 1427 könnte zunächst als Ende des hervorgehobenen Status von Eltville verstanden werden. Nun wurde vor allem der Ausbau der Residenz Steinheim am Main vorangetrieben, und auch die erzbischöflichen Aufenthalte konzentrierten sich stärker auf diesen Ort.63 Mit dem Bau der Martinsburg – auch als Trutzburg gegen die Bewohner von Mainz – am Mainzer Rheinufer bis 1480 und den häufiger werdenden Aufenthalten in der Residenz in Aschaffenburg wandten sich die Erzbischöfe zunehmend vom Rheingau als Aufenthaltsort ab.64 Bis zu diesem Zeitpunkt dürfte Eltville sich als Stadt weitestgehend emanzipiert haben. Da der ortsansässige Adel weiterhin in Eltville verblieb, konnte Eltville offenbar den durch die Erzbischöfe geförderten Wohlstand beibehalten.65 Dafür sprechen die Berichte über den weiterhin erfolgreichen Weinanbau und die Beschäftigung hochrangiger Künstler. In der Pfarrkirche kann etwa eine nahezu „[…] kontinuierliche Ausstattungstätigkeit bis um 1522 […] unter Beteiligung des Adels und des Klerus […]“66 nachgewiesen werden. Auch der Bau des aufwendigen Pfarrturms kann trotz Unterbrechungen bis in das späte 15. Jahrhundert verfolgt werden.67 Für das Jahr 1440 ist die Einsetzung eines Stadtwächters auf dem Turm durch den Rat der Stadt überliefert.68 Die Frankfurter

59 Vgl. Rudolf Kautzsch/Ernst Neeb, Die kirchlichen Kunstdenkmäler der Stadt Mainz. Der Dom zu Mainz, Darmstadt 1919 (Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, 2), S. 246– 250. Vgl. auch Adolf Feulner, „Der Bildhauer Madern Gerthener“, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Jg. 7, 1940, S. 1–26; Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 476–481; Kotzur/Ecker 2011 (wie Anm. 18), S. 253; Kuppe 2013 (wie Anm. 18), S. 306–330; Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 30f. 60 Vgl. Feulner 1940 (wie Anm. 59), S. 18. Vgl. auch Donald L. Ehresmann, „The Frankfurt Three Kings Portal. Madern Gerthener and the International Gothic Style on the Middle Rhine“, in: The Art Bulletin, Jg. 50, 1968, S. 301–308, hier S. 303 und Anm. 12. 61 Vgl. Reber 1997 (wie Anm. 58), S. 59ff. Vgl. auch Kuppe 2013 (wie Anm. 18), S. 306–330. 62 Vgl. Mathies 1978 (wie Anm. 37), S. 179f.

63 Vgl. Mathies 1978 (wie Anm. 37), S. 167ff. Anm. 237 und Anm. 240 sowie S. 210–216 Anm. 287f. 64 Vgl. Schrohe 1915 (wie Anm. 8), S. 184–207. Vgl. auch Kratz 1962b (wie Anm. 6), S. 118–121; Anton Philipp Brück, Mainz vom Verlust der Stadtfreiheit bis zum Ende des Dreissigjährigen Krieges (1462–1648), Düsseldorf 1972 (Geschichte der Stadt Mainz, 5), S. 1f.; Schaefer 1982 (wie Anm. 39), S. 71–74; Gerlich 1988 (wie Anm. 6), S. 63f.; Falck 1993 (wie Anm. 6), S. 72– 81; Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 479; Friedhelm Jürgensmeier, „Diether von Isenburg-Büdingen und Adolf II. von Nassau“, in: Dobras 2000 (wie Anm. 19), S. 564–567; Bünz 2009 (wie Anm. 6), S. 14–20. 65 Vgl. Heinrich Schrohe, Das Mainzer Geschlecht zum Jungen in Diensten des deutschen Königtums und der Stadt Mainz (1353– 1437), Mainz 1933 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, 10), S. 25–28. 66 Kern 2008 (wie Anm. 18), S. 363. 67 Vgl. Schmidt 2002 (wie Anm. 2), S. 123ff. Vgl. auch Ockenfels 2015 (wie Anm. 2), S. 67ff. 68 Roth 1880a (wie Anm. 15), S. 259, Nr. 137.

Bedeutungsverlust der Residenz

Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

Chronik von Lersner notiert für das Jahr 1486, dass die Frankfurter Familie Reiß eine Summe von 20 fl. nach Eltville stiftete und bald danach neue Glocken beschafft wurden.69 Die Eltviller Chronik verzeichnet die Auftragsvergabe für eine neue Glocke im Jahre 1488 an einen Mainzer Glockengießermeister durch den Rat der Stadt.70 Ein Jahr später ist der Guss einer weiteren Glocke überliefert.71 Von einem Niedergang des Wohlstandes, der mit der vernachlässigten erzbischöflichen Residenz anzunehmen wäre, kann also keinesfalls die Rede sein. Während des gesamten 15. Jahrhunderts scheint der Rheingau und damit auch Eltville, sogar ein begehrter und treuer Verbündeter der Erzbischöfe geblieben zu sein.72 Auch nach der Eroberung von Mainz durch Adolf II. von Nassau im Jahre 1462 wurden im gesamten Rheingau noch Baumaßnahmen durchgeführt, deren Finanzierung ebenfalls durch Mainzer Institutionen wie das Domkapitel oder verschiedene Stifte unterstützt wurden. Die Entstehung zahlreicher Pfarrkirchen, auch unter Beteiligung von Mainzer Handwerkern, belegt die enge Verbindung des Rheingaus zur Erzdiözese.73 Zugleich treten aber auch die adligen Familien als Bauträger hervor und lassen sich, etwa in Kiedrich, selbstbewusst mit ihren Wappen in den von ihnen gestifteten Bauabschnitten verewigen.

69 Georg August von Lersner, Achill. Augusti von Lersner … Nachgehohlte, vermehrte, und continuirte Chronica der weitberühmten freyen Reichs– Wahl– und Handels–Stadt Franckfurth am Mayn, oder zweyter Theil der ordentlichen Beschreibung der Stadt Franckfurth Ursprung, und wie selbige nach und nach zugenommen, wie auch allerley denckwürdiger Begebenheiten und geschichten, so bey der Römischen Königen und Kayserlichen Wahl und Crönungen allhier vorgegangen, nebst denen Veränderungen, die sich in Weltlich– und Geistlichen Sachen von Zeiten zu Zeiten ereignet haben, Frankfurt am Main 1734, S. 201. Vgl. auch Zaun 1973 (wie Anm. 23), S. 37; Hermann Göbel, „Zur Baugeschichte der Eltviller Pfarrkirche“, in: Rheingauer Beobachter, Ausgabe vom 14.11.1925; Kremer 1982 (wie Anm. 33), S. 57. 70 Roth 1880a (wie Anm. 15), S. 266, Nr. 194. 71 Ebd., S. 266, Nr. 198. 72 Vgl. Witte 1959 (wie Anm. 6), 153–189. Vgl. auch Wels 2003 (wie Anm. 3), S. 18–36. 73 Vgl. Sebald 2000 (wie Anm. 19), S. 476–483; Uwe Gast, „Erzbischof Berthold von Henneberg als Auftraggeber“, in: Dobras 2000 (wie Anm. 19), S. 632–634.

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Markierung des zunehmend selbstbestimmten Rheingau Der Pfarrturm zu Eltville markierte schon während seiner Erbauung im 15. Jahrhundert das städtische Verwaltungszentrum des Rheingaus, das insbesondere durch die Einwirkung der Mainzer Erzbischöfe seit dem 14. Jahrhundert geprägt worden ist. Durch wiederholt auftretende Streitigkeiten innerhalb des Domkapitels sowie mit den Einwohnern der Stadt Mainz waren die Landesherren mehrfach gezwungen sich in Eltville eine Ausweichresidenz zu suchen. Die nahezu ununterbrochene Konfliktsituation im 14. und 15. Jahrhundert könnte dazu geführt haben, dass die Frage nach rechtlichen Zugeständnissen an die Einwohner Eltvilles stets mit größerer Vorsicht seitens der Erzbischöfe behandelt worden ist. Sozusagen verständig, aber auch mit eigenem repräsentativen Anspruch förderten sie den Ausbau der Stadt sowie der Pfarrkirche. Auch beim Bau des Pfarrturms kann das bei diesem Bautypus unübliche Vorgehen in Kooperation zwischen Geistlichkeit und Stadtrat beobachtet werden, wobei Loyalitätsgesuch und eigene Motivation als Gründe vermutet werden können. Ab 1411 und in den folgenden Jahrzehnten kamen zudem zahlreiche Mainzer Patrizier als Flüchtlinge vor Zunftunruhen und Streitigkeiten innerhalb des Mainzer Stadtrates in den Rheingau und könnten dort für eine zunehmende Ausprägung städtischen Selbstbewusstseins gesorgt haben. Im 15. Jahrhundert florierte die Kunstlandschaft Rheingau und zog nicht zuletzt durch die Vermittlung der Erzbischöfe, die hier mit Johann II. von Nassau und Konrad III. von Dhaun namentlich konkretisiert werden können, erstklassige Bauleute aus der Frankfurter Bauhütte an. Deren Beteiligung ist stilkritisch durch Steinmetzzeichen sowie durch wenige Quellen nachweisbar und vermag den Rang der Bauten im Rheingau zu betonen. In der Entwicklung von Eltville lassen sich die Auswirkungen der Bestrebungen nach stadtrechtlichen Privilegien und Unabhängigkeit vom geistlichen Landesherren nachvollziehen. Als Zufluchtsort für die Mainzer Erzbischöfe sowie die vertriebenen Patrizier konnte auf der oben ausgeführten Grundlage eine fruchtbare Residenz gebildet werden. Der Pfarrturm zu Eltville symbolisiert dabei sowohl den

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Benedikt Ockenfels

wirtschaftlichen Aufschwung unter der Einwirkung territorial- und kirchenpolitischer Vorgänge als auch die zunehmende Emanzipation der Bürgerschaft von ihrem Landesherrn, die sich über Eltville hinweg sogar bis in die Filialgemeinden verfolgen lässt.

Britta Hedtke

Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

Problemstellung Die Räumlichkeiten der ehemaligen Mainzer Domstiftsklausur (Abb. 1), die sich südlich des Doms als dreiflügelige Anlage um einen zweigeschossigen Kreuzgang gruppieren und in denen heute das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum untergebracht ist, fanden in der bisherigen kunsthistorischen Forschung nur wenig Beachtung.1 Bis zum heutigen Tag stellen die Ausführungen von Rudolf Kautzsch und Ernst Neeb die einzige umfassendere Untersuchung zu diesem Gebäudekomplex dar.2 Die dort vorgeschlagene Erbauungszeit des Kreuzgangs zwischen 1400 und 1410 fußt im Wesentlichen auf den Wappenschlusssteinen, die die meisten Gewölbe des Kreuzgangs zieren. Bereits im 18. Jahrhundert wies Jakob Christoph Bourdon die vier quadrierten erzbischöflichen Nassauer Wappen, die ursprünglich in etwa die Eckpunkte des Kreuzgangs markierten, Erzbischof Johann II. von Nassau (1397–1419) zu. Ihn betrachtete Bourdon als Bauherrn der drei Kreuzgangflügel und setzte den Baubeginn daher nach 1397 an.3 Die anderen Schlusssteine bilden mit wenigen 1 Nachfolgende Ausführungen geben weitgehend meinen Vortrag wieder, den ich am 20. April 2018 in Mainz bei der Tagung „Neue Forschungen zum Mainzer Dom“ gehalten habe. Herzlicher Dank für fachliche Unterstützung gilt Gaby Lindemann-Merz. 2 Rudolf Kautzsch/Ernst Neeb, Der Dom zu Mainz, Darmstadt 1919 (Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, 2, Teil 1), S. 393–489. 3 Von den erzbischöflichen Nassauer Wappenschlusssteinen haben sich nur noch drei Steine erhalten. Ein Schlussstein befindet sich im nördlichsten Joch des Westflügels, ein weiterer im Südflügel neben dem südwestlichen Eckjoch und ein dritter im Ostflügel im nördlichsten Joch. Einen weiteren Nassauer Wappenschlussstein sah Bourdon im südöstlichen Eckjoch. Dieser Stein wurde bei Renovierungsarbeiten in den Jahren 1841–1845 durch einen Wappenschlussstein Bischofs Peter Leopold Kaiser ausgetauscht. Vgl. Jacob Christoph Bourdon, Epitaphia in Ecclesia Metropolitana Moguntina sive

Ausnahmen die Familienwappen von Domkanonikern ab, von denen einige aufgrund der begleitenden Inschriften zweifelsfrei identifiziert werden konnten.4 Diejenigen Schlusssteine, die nur das Familienwappen ohne Inschrift abbilden, lassen sich in einigen Fällen nicht sicher ihren Inhabern zuordnen, da für diese Wappen mehrere Personen in Frage kommen.5 Da Bourdon fest davon ausging, die Erbauung des gesamten Kreuzgangs sei unter dem Pontifikat Johanns II. von Nassau geschehen, bemühte er sich, die inschriftenlosen Wappenschlusssteine Domkanonikern zuzuweisen, die in eben diesem Zeitraum ein Kanonikat am Mainzer Domstift bekleideten.6 Abweichend davon gibt es jedoch auch Wappenschlusssteine, für die ausschließlich Inhaber in Frage kommen können, die bereits vor dem Amtsantritt Johanns II. von Nassau verstorben waren. Diese Wappenschlusssteine Liber Mortuorum scilicet Omnium Archiepiscoporum Praelatorum ac Canonicorum et Vicariorum altae praefatae Ecclesiae nec non aliorum Externorum, Mainz 1727 (Kopie von Heinrich Knorr, 1754), Mainz, Martinus-Bibliothek, Sign. Hs 226a, S. 120–123; Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 2), S. 405. 4 Vgl. Die Inschriften der Stadt Mainz, gesammelt und bearbeitet von Fritz Arens aufgrund der Vorarbeiten von Konrad F. Bauer, Stuttgart 1958 (Die Deutschen Inschriften, 2), Nr. 68, Nr. 71, Nr. 75, Nr. 78; Die Inschriften des Mainzer Doms und des Dom- und Diözesanmuseums von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis 1434, bearb. von Susanne Kern auf der Grundlage der Vorarbeiten von Rüdiger Fuchs, Britta Hedtke und Anja Schulz, Wiesbaden 2016 (Mainzer Inschriften, 2), S. 73–92. 5 Es war durchaus üblich, dass eine adelige Familie mehrere Domkanoniker stellte. Vgl. dazu Michael Hollmann, Das Mainzer Domkapitel im späten Mittelalter (1306–1476), Mainz 1990 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 64), S. 50. 6 „Aedificatus vel saltem fornicibus exstructus fuit sub et ante initium saeculi decimi quarti sub Joanne II. comite de Nassau archiepiscopo, qui anno 1397 electus est et anno 1419 denatus est, unde insignia 24 canonicorum illius temporis cernuntur desuper in lapidibus, qui claudunt omnes arcus fornicum vulgo Schlußstein ut sequitur…“ Vgl. Bourdon 1727/1754 (wie Anm. 3), S. 120.

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Britta Hedtke

1 2 W1 3

1 Memorie

W2 W3

3 Nikolauskapelle 4 Ehemalige Präsenskammer 5 Quadratischer Treppenturm

4

W4 W5

W1 bis W5 und SW 5

SW

1 Grundriss des Mainzer Doms und Kreuzgangs, Zeichnung: Bildmessung mBH/ GBVD mbH, Müllheim 1989/2007.

wurden von Kautzsch und Neeb als testamentarische Stiftungen gedeutet. Die Inhaber dieser Wappen sollen demnach zu Lebzeiten für den geplanten Kreuzgangneubau eine Stiftung veranlasst haben, jedoch noch vor dem Baubeginn verstorben sein. Da drei Wappenschlusssteine im östlichen Kreuzgangflügel die Jahreszahlen 1405, 1407 und 1408 aufweisen, wurde für die Erbauungszeit des gesamten Kreuzgangs der Zeitraum zwischen 1400 und 1410 angenommen.7 Diese von der nachfolgenden Forschung weitgehend akzeptierte Erbauungszeit des Kreuzgangs, die eine stringente Bauabfolge der drei Flügel innerhalb von etwa zehn Jahren nach einem „Masterplan“ 7 Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 2), S. 409; Bernhard Rösch, „Spätmittelalterliche Wappensiegel und Wappenschlusssteine im klerikalen Bereich: Würzburg, Mainz, Regensburg, Hirzenhain“, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappen, Jg. 52, 2006, S. 213–221.

suggeriert und allein aus den Datierungen der Gewölbeschlusssteine abgeleitet wurde, muss jedoch aus mehreren Gründen in Frage gestellt werden. Die aus den Gewölbeschlusssteinen gewonnenen Datierungen sind nämlich in erster Linie als Gewölbestiftungen zu verstehen. Nicht in Betracht gezogen wurde bislang, dass die Einwölbung der einzelnen Gewölbejoche auch erst lange nach der Vollendung der Umfassungsmauern erfolgt und abhängig von der Anzahl der Gewölbestiftungen mal schneller oder langsamer vorangeschritten sein könnte. Am Beispiel des Kreuzgangs der ehemaligen Benediktinerabtei in Wissembourg lässt sich bspw. zeigen, dass die Umfassungsmauern des Kreuzgangs zwar mit einem Gewölbe rechneten, dieses jedoch aufgrund fehlender Gewölbestiftungen bis zum heutigen Tag unausgeführt blieb.8 Weiterhin ist die Zuweisung der drei, ehemals vier erzbischöflichen Nassauer Wappen an Johann II. von Nassau nicht zwingend. Das quadrierte Wappen kann nämlich nicht nur auf Johann II. von Nassau, sondern auch auf seinen Bruder Adolf I. von Nassau (1381–1390) verweisen.9 Denkbar wäre auch, dass sich beide Brüder am Bau des Kreuzgangs bzw. an seiner Einwölbung beteiligt hatten. In diesem Kontext soll auf die unterschiedliche, von der Forschung bisher nur am Rande wahrgenommene Gestaltung der drei Nassauer Wappensteine hingewiesen werden. Während im nördlichen Joch des Westflügels der Wappenschild auf einer schlichten Rundscheibe sitzt (Taf. 28), werden die Wappenschilde der beiden anderen Schlusssteine im Süd- und Ostflügel von jeweils drei Engeln gehalten (Taf. 29). Am Rande sei angemerkt, dass auch Erzbischof Gerlach von Nassau (1346/1353–1371), der Onkel der beiden Brüder, am Kreuzgangneubau mitgewirkt haben könnte, da er bereits im Jahr 1370 eine Ablassverkündung zum Bau des Domes und des Domkreuzgangs aussprach.10 8 Jürgen Keddigkeit/Jean Philippe Meyer, „Weissenburg, St. Peter, Benediktinerkloster“, in: Pfälzisches Klosterlexikon. Handbuch der pfälzischen Klöster, Stifte und Kommenden, Band 5 (T–Z), Kaiserslautern 2019, S. 167. 9 Ludwig Falck, „Die Wappen des Kurfürstentums Mainz“, in: Mainzer Zeitung Jg. 65, 1970, S. 190–195, hier S. 192–193 mit Farbtafel. 10 „B. Gerlach verleiht denen (confessis et contritis), die vor dem Bilde des hl. Kreuzes, das im Mainzer Dome an der Wand bei dem Kreuzaltar gegen die rechte Seite des Chores hin

Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

Als Inhaber einer der Wappenschlusssteine kommt er jedoch nicht in Frage, da er keinen gevierten, sondern einen gespaltenen Wappenschild führte.11 Darüber hinaus muss bei einem Gebäudekomplex wie der Mainzer Stiftsklausur, die zahlreiche Brandkatastrophen und Kriege überdauerte, mit nachträglichen baulichen Veränderungen gerechnet werden, sodass das auf den ersten Blick einheitlich wirkende Mauerwerk des Kreuzgangs aus mehreren Bauphasen hervorgegangen sein kann. Die von Gerlach von Nassau ausgesprochene Ablassverkündung des Jahres 1370, vor allem aber stilkritische Beobachtungen zur Bauskulptur im westlichen Stiftsklausurtrakt legen einen früheren Baubeginn, deutlich vor 1397, nahe. Da Ablässe häufig dann ausgesprochen wurden, wenn ein bereits begonnener Bau ins ­Stocken geraten war, spricht viel für die Annahme, dass der Mainzer Domkreuzgang bereits 1370 im Bau war. Angesichts dieser Erkenntnis kann man die frühen Schlusssteindatierungen, von denen die frühesten in den drei südlichen Jochen des westlichen Kreuzgangflügels vorkommen, auch als reelle und nicht als testamentarische Gewölbestiftungen deuten. Die Wappen dieser Schlusssteine verweisen auf eine Einwölbung der drei Joche im Zeitraum zwischen 1330 und 1391.12 Da die drei nördlichen Schlusssteine dieses Flügels hingegen eine Einwölbung innerhalb der Zeitspanne zwischen 1397 und 1427 anzeigen,13 ist es denkbar, dass diese Gewölbe nachträglich erneuert wurden. Sollte es zwischen 1397 und 1427 tatsächlich Wiederherstellungsarbeiten am westlichen Kreuzgangflügel gegeben haben, dann könnten diese nicht nur die nördlichen drei Kreuzgangjoche, sondern auch die angrenzenden Gebäude betroffen haben. Unter dieser Fragestellung wurden in den Jahren 2016/2017 die Gebäude der westlichen Stiftsklausur angebracht ist, knieend ein Vaterunser und ein Ave Maria beten oder zu dem Bau des Domes oder des Domkreuzganges beisteuern, einen Ablaß von 40 Tagen.“ Vgl. Fritz Vigener, Regesten der Erzbischöfe von Mainz. Abteilung 2, Band 1: 1354–1371, Leipzig 1913, Nr. 2661. 11 Falck 1970 (wie Anm. 9), S. 192. 12 Joch W4: Wappen des Andreas von Brauneck (1346–1391), Joch W5: Nikolaus I. von Oberstein (1330–1382), Joch SW: Kunigunde von Rosière, gen. von Metz († um 1360). 13 Joch W1: Wappen des Erzbischofs Johann II. von Nassau (1397–1419)?, Joch W2: Wappen des Domkanonikers Conrad von Dhaun (1398–1419), Joch W3: Wappen des Johannes Winter von Rüdesheim (1390–1427).

im Rahmen des noch laufenden Dissertationsprojektes untersucht.14 Die wichtigsten Befunde dieser Untersuchung sollen in den folgenden Kapiteln vorgestellt und die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst werden.

Überblick über die Gebäude der westlichen Stiftsklausur Im Winkel zwischen dem südlichen Querhaus und dem Südseitenschiff wurde um 1200 ein quadratischer, kreuzrippengewölbter Raum, die sogenannte Memorie errichtet. Über die ursprüngliche Funk­ tion dieses Raumes wird bis heute diskutiert, er wird jedoch mehrheitlich für den alten Kapitelsaal des Domstifts gehalten. Die Bezeichnung „Memorie“ erhielt dieser Raum aufgrund seiner Funktion als bevorzugter Bestattungsort der Domkanoniker.15 An 14 Das von mir an der Heidelberger Karls-Ruprecht-Universität durchgeführte Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Der gotische Kreuzgang und die Stiftsgebäude des Mainzer Doms wird von Prof. Dr. Matthias Untermann betreut. Im Frühjahr 2016 wurden zunächst die Innenwände der Memorie und im Anschluss daran der Dachraum der Nikolauskapelle untersucht. Ein unter dem Boden der Präsenzkammer zugänglicher Heizungsschacht erlaubte im Mai 2016 die Untersuchung eines Wandstücks, das als Mauerwerk aus vorgotischer Zeit identifiziert werden konnte. Auch an der Ostwand im Keller des Mainzer Domchors (Leichhof 26) haben sich Reste mittelalterlichen Mauerwerks erhalten, die im Frühjahr 2017 begutachtet wurden. Im Dezember 2016 und Januar 2017 wurden schließlich der Innenraum der Nikolauskapelle mit der doppelläufigen Wendeltreppe sowie der quadratische Treppenturm in der Südwestecke des Kreuzgangs untersucht. Ein Untersuchungsbericht, der meine Ergebnisse und die des Restaurators Thomas Lutgen zusammenfasst, sowie ein Befundkatalog wurde am 27. März 2018 dem Dombauamt übergeben. An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums herzlich danken, da sie mir trotz der laufenden Ausstellungen den Zutritt zu allen Räumlichkeiten ermöglichten. Einen ganz besonderen Dank möchte ich Herrn Domdekan Heinz Heckwolf und der Diözesankonservatorin Diana Ecker für die Unterstützung meiner Arbeit aussprechen. Besonders hilfreich war, dass aufgrund ihres Befürwortens der Restaurator Dr. Thomas Lutgen mit der Untersuchung der an mehreren Stellen erhaltenen historischen Putze und Mörtel beauftragt wurde. Außerdem sei den Mitarbeitern der Dombauhütte, allen voran Jörg Walter, für ihre nachhaltige Unterstützung bei der Untersuchung vor Ort gedankt. 15 Die Diskussion rund um die Funktion des Raumes wurde zuletzt zusammengefasst von: Juliane Schwoch, „Locus Memoriae – zum Kapitelsaal des Mainzer Domes“, in: Magister operis. Beiträge zur mittelalterlichen Architektur Europas. Festgabe

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2 Grundriss nach Valentin Ferdinand von Gudenus, um 1745: Detail mit westlicher Stiftsklausur.

3 Grundriss nach Bernhard Hundeshagen, 1819: Detail mit westlicher Stiftsklausur.

die Memorie wurde in gotischer Zeit der westliche, aus sechs Jochen bestehende Kreuzgangflügel angebaut. Westlich und parallel zu diesem wurde die Nikolauskapelle angefügt, deren drei Joche mit den drei nördlichen Jochen des westlichen Kreuzgangflügels korrespondieren. Ursprünglich setzte sich die Nikolauskapelle in einem merkwürdig verkürzten Joch nach Süden fort und verfügte im mittleren Joch über einen polygonalen Erker, der in den Kreuzgang hineinragte und in dem der Altar aufgestellt war (Abb. 2). Im Jahr 1810 wurde unter Bischof Colmar der Erker beseitigt, da er bei Prozessionen im Kreuzgang störte. Der Altarstandort verblieb aber zunächst noch im mittleren Joch (Abb. 3). In den Jahren 1841/1842 fanden in der Nikolauskapelle umfangreiche Renovierungsmaßnahmen statt, bei denen das kurze für ­Dethard von Winterfeld zum 70. Geburtstag, hg. von Gabriel ­ ette/Laura Heeg/Klaus T. Weber, Regensburg 2008, S. 79–100. D

4 Grundriss des südlichen Teils der westlichen Stiftsklausur nach Einbau der Altarnische in die Südwand der Nikolauskapelle nach Rudolf Kautzsch, 1919.

südliche Joch durch eine Trennwand von den drei kreuzrippengewölbten Jochen abgetrennt und in dem entstandenen Zwischenraum eine Altarnische installiert wurde (Abb. 4).16 Die Nikolauskapelle soll laut Bourdon auf Kosten und noch zu Lebzeiten des Domkanonikers Nikolaus I. von Oberstein (1330– 1382) erbaut worden sein.17 Zusammen mit dem Bau der Nikolauskapelle und dem westlichen Kreuzgangflügel wurde auch ein polygonaler Treppenturm errichtet, der den Zugang in die Obergeschosse der Nikolauskapelle und des westlichen Kreuzgangflügels ermöglichte. Südlich 16 Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 2), S. 394–395. 17 „Tota capella exstructa fuit sumptibus et in vita Nicolai a Lapide sive Oberstein defuncti anno 1382 […].” Vgl. Bourdon 1727/1754 (wie Anm. 3), S. 106. Das Gewölbe der Nikolauskapelle wird von runden Schlusssteinen geziert, die das Wappen des Domherren Nikolaus I. von Oberstein und dessen Mutter Kunigunde von Metz abbilden.

Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

5 Dienstsystem im westlichen Kreuzgangflügel.

6 Nordwestliche Ecke des westlichen Kreuzgangflügels: Tas-de-charge, in dem der nördliche Schildbogen der Nikolauskapelle, der Gewölbeanfänger des Kreuzgangs und die südöstliche Polygonseite des Treppenturms zusammenlaufen.

der Nikolauskapelle schließt sich die ehemalige Präsenzkammer als ein nahezu quadratischer Raum mit einer Mittelstütze an. Die Entstehungszeit dieses Raumes ist aufgrund des deckenden Verputzes an den Innenwänden noch ungeklärt. Wiederum südlich der ehemaligen Präsenzkammer wurde ein quadratischer Treppenturm mit gotischen Gewölben zwischen die Präsenzkammer, den südlichen Kreuzgangflügel und das südlich an diesen angrenzende Kapitelhaus eingefügt.

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Westlicher Kreuzgangflügel

Der westliche Kreuzgangflügel unterscheidet sich vom Süd- und Ostflügel dadurch, dass er über durchlaufende Dienste verfügt, die nahtlos, ohne Kapitelle zum Gewölbe aufsteigen, wohingegen sich die Gewölberippen des Süd- und Ostflügels bereits in Kämpferhöhe mit den Kreuzgangmauern verschneiden. Das Dienstsystem des Westflügels setzt sich aus Kehlen und scharfen Graten zusammen und gabelt sich in Kämpferhöhe in zweifach gekehlte Schildbögen, Gurt- und Diagonalrippen auf (Abb. 5). Die Rippenkreuzungen werden, wie bereits dargelegt, von runden Schlusssteinen mit

reliefierten Wappen geziert. Wie Kautzsch und Neeb bereits erkannten, stehen die Nikolauskapelle, der Treppenturm mit der doppelläufigen Wendeltreppe und das Erdgeschoss des westlichen Kreuzgangflügels im Mauerverband.18 Das zeigt sich deutlich an einem Tas-de-charge in der nordwestlichen Ecke des westlichen Kreuzgangflügels, in dem sich der nördliche Schildbogen der Niko­lauskapelle, der Gewölbeanfänger des Kreuzgangs und die südöstliche Polygonseite des Treppenturms vereinen (Abb. 6).19

Memoriensüdwand

Als man in gotischer Zeit mit dem Bau der westlichen Stiftsklausur begann, musste zunächst das spätromanische Mauerwerk der Memoriensüdwand unterhalb des Schildbogens weitgehend abgetragen werden. An der Stelle der alten Südwand errichtete man in der Mitte einen Treppenturm, westlich davon den Zugang zur Nikolauskapelle und östlich den Zugang zum westlichen Kreuzgangflügel (Abb. 7). Es wurden die spätromanischen Quader der alten Südwand

18 Kautzsch/Neeb, 1919 (wie Anm. 2), S. 409. 19 Die Skizzierung des Mauerwerks im westlichen Kreuzgangflügel ist an dieser Stelle als vorläufig zu verstehen, da die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Vgl. Anm. 14.

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7 Südwand der Memorie.

8 Südwand der Memorie: Konsolstein in Gestalt eines geflügelten ­ Fabel­wesens am Treppenturm.

9 Südwand der Memorie: Östliche Türsturzkonsole des von der Memorie zur Nikolauskapelle führenden Portals.

wiederverwendet, die nun aber Zangenlöcher aufweisen. Der Treppenturm, der in seinem Inneren eine doppelläufige Wendeltreppe aufnimmt und sowohl von der Memorie als auch von der Nikolauskapelle aus betreten werden kann, tritt in der Memorie nur leicht aus der Flucht der Südwand hervor. In den Treppenturm gelangt man durch eine spitzbogige Pforte, die einen segmentbogigen Türsturz und ein gedrungenes, mit Blendmaßwerk geschmücktes Tympanon aufweist. Über der Treppenturmpforte tritt das Mauerwerk leicht spornförmig hervor und wird von einem Konsolstein in Form eines geflügelten Fabelwesens abgefangen (Abb. 8). Die Wandfläche des Treppenturms wird oberhalb der Pforte durch drei übereinander paarweise angeordnete, gestaffelte Fensteröffnungen durchbrochen. Links der unteren Fensteröffnung springt ein spornförmiger, von einer Fiale bekrönter Lichterker aus der Wandflucht hervor (Abb. 7). Dieser hängt baulich mit dem Treppenturm zusammen, da dessen westlicher Teil und das östliche Fenstergewände gemeinsame Werksteine ausbilden und die „Sohlbank“ des Erkers im Mauerverband mit der Treppenturmwand steht.20 Das Lichthäuschen ruht auf einer Laubwerkkonsole und wird von einem fialenähnlichen Aufsatz bekrönt. Östlich des Treppenturms führt ein breites spitzbogiges Portal in den westlichen Kreuzgangflügel. Die Gewände zeigen bis zur Kämpferhöhe breite glatte Schrägen, die dann in einen profilierten Bogen übergehen. Das Portalgewände orientiert sich in seiner Tiefe an den Schrägen des polygonalen Treppenturms, dessen nordöstliche Polygonwand das westliche Portalgewände bildet. Da sich keinerlei Reste eines Türanschlags erkennen lassen, ist davon auszugehen, dass der zum Kreuzgang geöffnete Bogen ursprünglich nicht für einen Verschluss mit Türflügeln vorgesehen war, sondern einen offenen Durchgang bildete. Das Fenster, das in die westliche Bogenlaibung, also in die östliche 20 Auf der Oberfläche des Sohlbanksteins haben sich eingeritzte Konstruktionszeichnungen erhalten, die die Ausrichtung des Lichthäuschens im Raum definieren. Herzlichen Dank an Katja Schröck, die mich auf diese Ritzzeichnungen aufmerksam machte. Über die Funktion des Lichthäuschens in der Mainzer Memorie sei auf den Beitrag von Vera Henkelmann verwiesen: Vera Henkelmann, „Licht am Portal – Beleuchtung an Kirchenportalen und -türen im Mittelalter“, in: Mittelalterliche Portale als Orte der Transformation, hg. von Stephan Albrecht/Stefan Breitling/Rainer Drewello, Bamberg 2018, S. 178–189.

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Wand des Treppenturms eingelassen ist, wird heute von den Türflügeln geschnitten. Ein weiteres Portal westlich des Treppenturms führt in die angrenzende Nikolauskapelle. Wie die Treppenturmpforte wurde auch der Türsturz dieses Portals segmentbogig ausgeführt und erhielt ein mit Blendmaßwerk geschmücktes Bogenfeld (Abb. 7). Der Türsturz verkröpft sich mit einem aus Birn- und Rundstäben profilierten Gewände und ruht auf Laubwerkkonsolen, die auf ihrer Südseite nachträglich abgeschlagen wurden (Abb. 9).

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10 Innenansicht der Nikolauskapelle mit Blick nach Norden, Post­karte von 1919.

Innenraum der Nikolauskapelle

Im Inneren der Nikolauskapelle tritt der polygonale Treppenturm wesentlich prominenter aus der Wandfläche hervor, als dies in der Memorie der Fall ist (Abb. 10). Die in den Treppenturm führende Pforte zeigt sich als profilierter Spitzbogen. In der Süd- und Südwestwand des Turms sind je zwei übereinander angeordnete, in ihrer Höhe gestaffelte Fenster eingelassen. Das Erdgeschoss des Turms wird von einem in der Südwestwand eingebrachten Einzelfenster beleuchtet. Alle Treppenturmwände wurden ursprünglich von einem umlaufenden, sich um das Erdgeschossfenster verkröpfenden Kaffgesims gegliedert. Dieses Gesims sowie die gesamte westliche Wandfläche des Treppenturms wurden zusammen mit den in der Memorie sichtbaren Türsturzkonsolen nachträglich abgearbeitet, um Türflügel in den Durchgang zur Memorie einsetzen zu können. Auch dieser Bogen öffnete sich also ursprünglich ohne verschließbare Türflügel zum angrenzenden Raum. Die Ostwand der Nikolauskapelle wird durch bis zum Boden reichende Wanddienste in drei Joche gegliedert (Abb. 10 und Abb. 11). Die Dienste setzen sich aus drei miteinander verschliffenen Rundstäben zusammen, von denen der mittlere kräftiger ausgebildet ist. Unten weisen die Rundstäbe jeweils attische Basen und zweigestufte polygonale Sockel auf (Abb. 12); oben werden sie von eigenen Laubwerkkapitellen mit polygonalen Deckplatten abgeschlossen. Die Vorlagen sind durch eine Rücklage mit der Wand verbunden. Die Wandflächen zwischen den Diensten werden in allen drei Jochen nahezu vollständig von reich profilierten, spitzbogigen Fenstergewänden eingenommen, die einer niedrigen Brüstung aufsitzen.

11 Ostwand der Nikolauskapelle, nördliches Joch.

12 Sockel der Wanddienste in der Nikolauskapelle.

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13 Ostwand der Nikolauskapelle: zwischen Schildbogen und Fenstergewände eingefügtes Blendmaßwerk.

14 Westwand der Nikolauskapelle, südliches Joch.

Alle Gewände gehören weitgehend zum originalen Baubestand; auch das Gewände im mittleren Joch, in dem ursprünglich eine Altarnische eingelassen war.21 Die in die Gewände eingefügten vierbahnigen Maßwerke entstammen dagegen durchweg dem 19. Jahrhundert, ebenso die Brüstungen, auf denen die Fenster ruhen.22 Die mit Blendmaßwerk gefüllten Wandzwickel zwischen dem Gewölbe und den Fenstergewänden konnten dem originalen Baubestand zugewiesen werden. So belegt ein in die südöstliche Treppenturmwand eingeklinkter Tas-de-charge, dass der Treppenturm zusammen mit dem Blendmaßwerk aufgemauert wurde (Abb. 13). Auf der Wandfläche unterhalb der Fenster liegt ein moderner deckender Verputz mit Quadermalerei, der eine Beurteilung des Mauerwerks verhindert. Die Westwand wird wie die Ostwand durch bis zum Boden durchlaufende Wanddienste gegliedert (Abb. 14). Auch hier werden die Wandflächen von drei spitzbogigen Fenstern durchbrochen, die hier jedoch nur bis knapp unterhalb die Kämpferhöhe reichen. Das unterhalb der Fenster befindliche Mauerwerk ist 21 Kautzsch und Neeb hielten das Fenstergewände im mittleren Joch, aufgrund der hier ehemals anschließenden Altarnische, für eine Zutat des 19. Jahrhunderts. Die geflächte Steinbearbeitung und die Zangenlöcher weisen jedoch auch das mittlere Gewände als gotisches Mauerwerk aus. Vgl. Kautzsch/Neeb, 1919 (wie Anm. 2), S. 393. 22 Ebd.

15 Nikolauskapelle: am Treppenturm, unterhalb des Ansatzes der Gewölberippe sind deutlich die Spuren einer abgearbeiteten Gewölberippe des Vorgängergewölbes zu erkennen.

wie an der gegenüberliegenden Wand verputzt und erhielt im 20. Jahrhundert eine Quader imitierende Malerei. Das Gewändeprofil der Fenster entspricht den Gewänden auf der Ostseite und scheint wie diese zum originalen Baubestand zu gehören. Die als Dreistrahl ausgeführten Fenstermaßwerke entstammen wie auch die Maßwerke der Ostwand alle dem 19. Jahrhundert.23 Die Nikolauskapelle wird heute von einem dreijochigen Kreuzrippengewölbe mit runden Schlusssteinen an den Rippenkreuzungen überspannt. Dieses Gewölbe setzte sich ursprünglich als kurzes Tonnengewölbe weiter nach Süden fort. Mehrere Befunde verweisen darauf, dass das heutige Gewölbe ein älteres ersetzte. So konnten auf den Kapitelloberflächen eingeritzte Konstruktionszeichnungen nachgewiesen werden, die nicht mit den darauf ruhenden Gewölbeanfängern korrespondieren.24 Den Ritzzeichnungen zu Folge verteilten sich die Gewölberippen ursprünglich gleichmäßig auf den für sie bestimmten Vorlagen und waren nicht so eng gebündelt wie es heute der Fall ist. Die seitlich der Gurtbögen erkennbaren Abarbeitungsspuren stützen diese Annahme. Auch am Treppenturm wurden offensichtlich Veränderungen vorgenommen. So wurde 23 Ebd. 24 An dieser Stelle möchte ich Thomas Lutgen danken, der mich auf die Konstruktionsritzungen aufmerksam machte.

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16 Südostecke der Nikolauskapelle: Rippenanfänger mit nachträglich veränderter Rippenführung.

17 Schacht zwischen der originalen und der im 19. Jahrhundert vorgeblendeten Nikolauskapellensüdwand: Blick auf die originale, fast vollständig verputzte Südwand mit stuckverziertem Kaminschlot.

an der südöstlichen Polygonwand der obere Stein mit dem Ansatzstück der Diagonalrippe ausgetauscht. Bei den Abarbeitungsspuren des darunter liegenden Steins handelt es sich um den Rippenansatz des Vorgängergewölbes (Abb. 15). An den südlichen Gewölbeanfängern ließen sich darüber hinaus nachträglich veränderte Rippenführungen feststellen, die deutlich anzeigen, dass die Gewölbekappen des Vorgängergewölbes wesentlich flacher als die des heutigen Gewölbes anstiegen (Abb. 16).

Zwischenraum der im Süden der Nikolauskapelle eingelassenen Altarnische

Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei der heutigen Südwand der Nikolauskapelle um eine aus Backsteinen errichtete Zwischenwand des 19. Jahrhunderts, die zwischen die südlichsten Wandvorlagen der Nikolauskapelle eingespannt wurde, um in dem dadurch entstandenen Zwischenraum eine Altarnische installieren zu können (Abb. 4). Aufschlussreich war die im Rahmen der aktuellen Bauuntersuchung vorgenommene Sichtung der originalen Südwand vom Dachraum der Nikolauskapelle

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18 Schacht zwischen der originalen und der im 19. Jahrhundert vorgeblendeten Nikolauskapellensüdwand: Reste eines stuckverzierten Rauchkastens.

aus.25 Über einen Rauchabzug im südlichen Gewölbeabschnitt konnte durch die zerstörte Kaminnordwand der ca. 95 cm breite Zwischenraum auf Höhe des Altarnischengewölbes betreten werden. Im Inneren dieses Schachtes zeigte sich, dass der Rauchabzug wahrscheinlich zu einem offenen Kamin gehörte, dessen Rauchkasten sich zur Nikolauskapelle in einem stuckverzierten Bogen öffnete. Ferner konnte man erkennen, dass der polygonal gebrochene und sich nach oben verjüngende Kaminschlot von einem aus Stuck gearbeiteten profilierten Gesims horizontal gegliedert wurde (Abb. 17). Darüber hinaus ließen sich an den Seitenwänden des Rauchkastens ornamentale Stuckreliefs feststellen (Abb. 18). Eine restauratorische Untersuchung der geborgenen Stuckfragmente ergab eine Datierung ins späte 17. bzw. ins 18. Jahrhundert.26 Für die Baugeschichte der Nikolauskapelle ist ihre alte Südwand, deren Aussehen noch nie beschrieben wurde von besonderer Bedeutung. Diese Wand 25 Vgl. Anm. 14. 26 Aufgrund der im Stuck vorkommenden Rinderhaare kann die Entstehungszeit des Stucks zwischen dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts und dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts eingegrenzt werden. Vgl. Untersuchungsbericht Hedtke/Lutgen 2018 (wie Anm. 14), S. 22.

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zeigte sich als eine nahezu vollständig verputzte Wandfläche. Der ca. 3–4 cm dicke Kalkputz legt sich auch um die polygonal gebrochenen Wände des Kaminschlots herum (Abb. 17). Auf dem Putz liegt eine graue Tünche mit einer ornamentalen, vorwiegend in Grisaille ausgeführten Malerei. Farbig wurde nur das Wappen des Mainzer Domkapitels gestaltet, das über einem aus Backsteinen gemauerten Entlastungsbogen zu erkennen ist. Dieser Entlastungsbogen gehörte zu einem Durchgang zwischen der Nikolauskapelle und der südlich angrenzenden ehemaligen Präsenzkammer. Im Gewölbescheitel der Südwand, wo ein Teil des Verputzes abgebrochen ist, ließ sich eine verputzte Fensternische feststellen, die zunächst verkleinert und schließlich ganz vermauert wurde (Abb. 19). Dieser Befund ist für die Klärung der Baugeschichte von großer Tragweite. Wenn es ursprünglich an der Südwand der Nikolauskapelle ein Fenster gegeben hat, könnte das entweder bedeuten, dass sich südlich der Nikolauskapelle ursprünglich kein weiteres oder nur ein sehr niedriges Gebäude anschloss oder aber, was wesentlich wahrscheinlicher ist, dass diese Wand zu einem benachbarten Gebäude gehörte, an das die Nikolauskapelle heran gebaut wurde. Rücksichtnahme auf ein südlich benachbartes Gebäude würde den Umstand erklären, dass man die Nikolauskapelle im Süden in dem beschriebenen seltsam schmalen Joch enden ließ. Da man bei der Jochgliederung von der des benachbarten Kreuzgangflügels abhängig war, sich das südliche Joch der Nikolauskapelle also nicht beliebig vergrößern ließ, war man folglich gezwungen gewesen, den schmalen Zwischenraum mit einem kurzen Tonnengewölbe zu überspannen.27 Bei Annahme einer solchen „Notlösung“ würde auch der aufgemalte Eckgewölbeanfänger in der Südostecke eine schlüssige Erklärung finden, der unter dem Putz des 17./18. Jahrhunderts zum Vorschein kam, und der wohl den nicht ganz geglückten südlichen Abschluss der Nikolauskapelle kaschieren sollte (Abb. 20). 27 Eine ähnliche Situation zeigt sich in der Nikolauskapelle des Wormser Doms, wo unter Rücksichtnahme auf den Ostflügel des romanischen Kreuzgangs die beiden westlichen Joche nur verkürzt als halbe Joche ausgebildet werden konnten. Vgl. Jürgen Keddigkeit/Britta Hedtke/Matthias Untermann, „Worms, St. Peter, Domstift“, in: Pfälzisches Klosterlexikon. Handbuch der pfälzischen Klöster, Stifte und Kommenden, Band 5 (T–Z), Kaiserslautern 2019, S. 474.

Dachraum über der Nikolauskapelle

Auch im Dachraum der Nikolauskapelle kann man erkennen, dass das heutige Gewölbe ein älteres ersetzte, da es im Süden an eine verputzte Wandfläche anstößt. Über dieser verputzten Wandfläche springt das Mauerwerk um ca. 10 cm zurück. Da der Wandputz ein relativ feines Gefüge, aber keinerlei Reste einer Farbfassung aufweist, wird es sich um einen provisorischen Innenputz gehandelt haben. Dieser Befund sowie ein auf dem Mauervorsprung nachweisbarer Abdruck eines Holzbalkens legen nahe, dass die Nikolauskapelle, bevor sie das neue Gewölbe erhielt, zunächst mit einer provisorischen Flachdecke abgedeckt war.28 Die Backsteinformate des heutigen Gewölbes sowie das Gefüge des verwendeten Setzmörtels sprechen für eine Entstehung noch in gotischer Zeit.29 Die im Gewölbescheitel regelmäßigen quer zum Gewölbe verlaufenden Störungen, bei denen es sich um nachträgliche Vermauerungen mit Bruchsteinen handelt, sind als Balken eines Hilfsgerüstes zu deuten, an das das Gewölbe heran gebaut wurde (Abb. 21). Die Ostwand des Dachraumes wird von der Westwand des Kreuzgangobergeschosses gebildet. Sie wird von drei Strebepfeilern gegliedert, die ursprünglich den Gewölbeschub der Kreuzganggewölbe im Obergeschoss aufnahmen.30 Im nördlichen Wandabschnitt zeigt sich der obere Abschnitt des zwischen der Memorie und der Nikolauskapelle eingefügten Treppenturms, dessen Mauerwerk nahezu vollständig zerstört ist (Abb. 22). Die Abplatzungen an den Sandsteinquadern deuten auf ein schweres Brandereignis hin. Die Wand des Kreuzgangobergeschosses und die Treppenturmwand stehen nicht, wie es im Kreuzgangerdgeschoss der Fall ist, im Mauerverband. Da die Kreuzgangwand an das stark brandgeschädigte Mauerwerk des Treppenturms anstößt, muss das Kreuzgangobergeschoss jünger als das Kreuzgangerdgeschoss sowie das Brandereignis sein und ist folglich als Wiederaufbau eines älteren Obergeschosses zu deuten. Weiterhin muss das ältere Obergeschoss wesentlich niedriger als das heutige gewesen sein, denn am brandzerstörten Treppenturm 28 Vgl. Untersuchungsbericht Hedtke/Lutgen 2018 (wie Anm. 14), S. 19. 29 Backsteinformat: 30,5–31 × 5,5–6 × 15 cm. 30 Die Gewölbe des Kreuzgangobergeschosses wurden im Jahr 1793 zerstört. Vgl. Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 2), S. 407.

Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

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19 Schacht zwischen der originalen und der im 19. Jahrhundert vorgeblendeten Nikolauskapellensüdwand: Blick auf die originale Nikolauskapellensüdwand mit abgebrochenem Putz im Gewölbescheitel; unter dem Putz kam eine zugesetzte Fensteröffnung zum Vorschein.

20 Schacht zwischen der originalen und der im 19. Jahrhundert vorgeblendeten Nikolauskapellensüdwand: aufgemalter Eckgewölbeanfänger in der Südostecke, der unter dem Putz des 17./18. Jahrhunderts zum Vorschein kam.

21 Dachraum über der Nikolauskapelle: Backsteingewölbe mit quer zum Gewölbe ausgerichteten Störungen, bei denen es sich um nachträgliche Vermauerungen mit Bruchsteinen handelt; zuvor waren dort wohl die Balken eines Hilfsgerüstes eingelassen, an die das Gewölbe heran gebaut wurde.

22 Dachraum über der Nikolauskapelle, Nordwestecke: stark brandgeschädigter Turmstumpf; das Mauerwerk des Kreuzgangobergeschosses stößt an das brand­ geschädigte Mauerwerk des Turmes an.

23 Doppelläufige Wendeltreppe in Höhe des Dach­ raumes der Nikolauskapelle: mit Backsteinen zuge­ setz­tes Portal; ursprünglich öffnete sich dieses Portal zu einem Raum, der über der Nikolauskapelle lag.

24 Doppelläufige Wendeltreppe am Austritt aus dem Treppenturm zum Kreuzgangobergeschoss: nachträglich eingefügte Blattwerkkonsole, die ursprünglich die Gewölberippen des Kreuzgangobergeschosses aufnahm.

hat sich ein Traufgesimsstein noch in situ erhalten, der nur mit einem niedrigen Kreuzgangobergeschoss an dieser Stelle zu erklären ist. Dass der Westflügel schon immer zweigeschossig angelegt war, ergibt sich aus der zweifelsfreien Existenz des Treppenturms schon in der Frühzeit.

Treppenturm mit der doppelläufigen Wendeltreppe

Der zwischen die Memorie, die Nikolauskapelle und den westlichen Kreuzgangflügel eingefügte Treppenturm nimmt in seinem Inneren eine doppelläufige Wendeltreppe auf, bei der sich zwei getrennte Treppenläufe um eine gemeinsame Spindel winden (Taf. 30). Der eine Treppenlauf verbindet die Nikolauskapelle mit dem westlichen

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Kreuzgangobergeschoss, der andere führt von der Memorie ebenfalls zum westlichen Kreuzgangobergeschoss und noch weiter zu einem Raum, der ursprünglich über der Nikolauskapelle lag. Die Treppenstufen, die zu diesem Raum führten, sind im Gegensatz zu den anderen Stufen außerordentlich ausgetreten. Sie enden an einem mit Backsteinen zugesetzten Sandsteinportal (Abb. 23). Da alle Stufen, die zum Kreuzgangobergeschoss führen deutlich weniger ausgetreten sind, scheint der Treppenturm in erster Linie als Zugang zu diesem über der Nikolauskapelle gelegenen Raum genutzt worden zu sein. Die einstige Funktion dieses Raumes ist unbekannt, jedoch schien ihm eine bedeutende Funktion zugekommen zu sein. Beide Treppenläufe wurden oben ursprünglich durch eine Zwischenmauer oder eine Brüstung voneinander geschieden. Der Niveauunterschied zwischen dem Kreuzgangobergeschoss und dem tiefer liegenden Austritt des Treppenturms wird durch einen kurzen Treppenlauf ausgeglichen (Taf. 31). Die Treppenturmwand über dem Austritt wird von einem schlichten Sturz abgefangen, dem nachträglich eine Laubwerkkonsole aufgesetzt wurde (Abb. 24). Diese Konsole nahm die Rippen des nach dem Brandereignis neu errichteten Kreuzgangobergeschosses auf. Oben wird der Treppenturm von zwei zweckentfremdeten Grabplatten des 14. Jahrhunderts abgedeckt.

Rekonstruktion des Bauverlaufs Fasst man die beschriebenen Befunde zusammen, lässt sich folgender Bauverlauf rekonstruieren: In gotischer Zeit wurde zunächst die Nikolauskapelle und östlich davon der westliche Kreuzgangflügel an die Memoriensüdwand angebaut. Sowohl die Nikolauskapelle als auch der westliche Kreuzgangflügel erhielten Obergeschosse, die über den Treppenturm mit der doppelläufigen Wendeltreppe zugänglich gemacht wurden. Ein zu unbekannter Zeit stattgefundenes Brandereignis zerstörte die Obergeschosse des Treppenturms, der Nikolauskapelle und des westlichen Kreuzgangflügels vollständig. Dabei wurden die Gewölbe der Nikolauskapelle und wohl auch die Gewölbe der drei nördlichen Joche des Kreuzgangerdgeschosses so stark beschädigt, dass sie erneuert

werden mussten. Bei den Wiederaufbauarbeiten verzichtete man auf die Wiederherstellung des Raumes über der Nikolauskapelle, der fortan zu einem funktionslosen Dachraum wurde. Aus diesem Grund setzte man das zu diesem Raum führende Portal mit Backsteinen zu und reparierte den oberen Teil des Treppenturms notdürftig, indem man den Turmstumpf mit zwei Grabplatten abdeckte. Das Obergeschoss des westlichen Kreuzgangflügels wurde dagegen recht aufwendig mit einem steinernen Gewölbe neu errichtet und auf höchst anspruchsvolle Weise mit dem Treppenturm verbunden, indem nachträglich eine Blattwerkkonsole so in den Treppenturm platziert wurde, dass sie exakt den nordwestlichen Eckpunkt des neu errichteten Kreuzgangobergeschosses definiert, um hier die Schild-, Gurt- und Diagonalrippen des Kreuzganggewölbes aufzunehmen.

Datierung und stilistische Einordnung Die eben erörterten Bauabschnitte lassen sich mit Hilfe stilistischer Vergleiche zeitlich eingrenzen. So weisen die ältesten untersuchten Bauteile, die Memoriensüdwand, die Wände der Nikolauskapelle sowie der untere Abschnitt des Treppenturms eine reiche Bauzier auf, die sich stilistisch gut mit der regionalen Bauornamentik des ersten Drittels des 14. Jahrhunderts vergleichen lässt. Zur Datierung eignen sich besonders die verwendeten Motive der an diesen Gebäuden zahlreich vorkommenden Blendmaßwerke. Zu nennen ist das Tympanon des von der Memorie zur Nikolauskapelle führenden Portals, das mit einem stehenden, genasten Vierpass mit Lilienendungen und seitlich anstoßenden Lanzettspitzen gefüllt ist (Abb. 7). In die Lanzettspitzen sind je ein Kleeblattbogen mit einem bekrönenden Dreiblatt eingeschrieben. Die Figur der zur Mitte stoßenden Lanzettspitzen findet sich auch auf dem 1328 datierten, aus der Mainzer Liebfrauenkirche stammenden Bronze-Taufbecken, das seit 1868 im nördlichen Querhaus des Mainzer Domes aufgestellt ist.31 Dieses Motiv wurde wohl der Südfassade der Oppenheimer Katharinenkirche entlehnt, wo es in ganz ähnlicher Weise in den Bogenfeldern 31 Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 2), S. 220.

Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

25 Blick vom südlichen Kreuzgangflügel auf die zweijochige Allerheiligenkapelle des Mainzer Doms.

der beiden mittleren Südseitenschifffenster auftaucht (Taf. 43). Im Gegensatz zum Tympanon in der Mainzer Memorie wurden die Lanzettspitzen der Oppenheimer Seitenschifffenster jedoch ohne Füllung als schlichte, genaste Lanzettbögen ausgeführt. Das Motiv eines unter einem Lanzettbogen zusammengefassten Kleeblattbogens mit bekrönendem Dreiblatt kommt an der Katharinenkirche aber im Blendmaßwerk der Südseitenschiffwand vor, wo es paneelartig nebeneinander angeordnet die Wandzwickel und Strebepfeiler schmückt. Auch das die Ostwand der Nikolauskapelle zierende Blendmaßwerk, das aus geschweiften Lanzettbögen, Vierpässen und in Bogendreiecken eingeschriebenen Dreiblättern gebildet wird (Abb. 13), tritt in ganz ähnlicher Weise am Mainzer Dom in den Wimpergfragmenten der 1319 geweihten Allerheiligenkapelle auf (Abb. 25). Ebenso ist vergleichbares Blendmaßwerk an der Fassade der Oppenheimer Südkapellen zu beobachten, wo geschweifte Lanzetten und von Bogendreiecken gerahmte Dreipässe die

Wandzwickel füllen (Abb. 26). Die jüngst von Tina Schöbel vorgenommene stilistische Einordnung der Oppenheimer Bauornamentik erlaubt eine Datierung der südlichen Seitenschiff- und Südkapellenwand zwischen 1317 und 1330.32 Die aufwändige an der Memoriensüdwand vorkommende Bauskulptur lässt sich stilistisch ebenfalls in das erste Drittel des 14. Jahrhunderts einordnen.33 Die Konsolen, die den segmentbogigen Türsturz des zur Nikolauskapelle führenden Portals aufnehmen, zeigen stark gewellte Blätter mit gekräuselten Rändern und deutlich herausgearbeiteten Blattadern 32 Tina Schöbel, „Oppenheim, St. Katharina. Kollegiatstift“, in: Pfälzisches Klosterlexikon. Handbuch der pfälzischen Klöster, Stifte und Kommenden, hg. von Jürgen Keddigkeit/Matthias Untermann/Hans Ammerich/Pia Heberer/Charlotte Lagemann, Band 3 (M–R), Kaiserslautern 2015, S. 504–505. 33 Da die westlich des Treppenturmportals eingesetzte Blattmaskenkonsole sowie der über der Bischofsstatue schwebende Baldachin wohl erst nachträglich ins Mauerwerk eingesetzt wurden, werden sie in der stilistischen Beurteilung nicht berücksichtigt.

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26 Oppenheimer Katharinenkirche, südliche Kapellenwand (Detail).

(Abb. 9). Die Blattmitte weist den Ansatz einer Buckelung auf, wie sie zwischen 1300 und 1320/30 am Ober- und Mittelrhein charakteristisch ist.34 Ähnlich gestaltetes Blattwerk lässt sich auch an der Konsole des spornförmig aus der Treppenturmwand hervorspringenden Lichterkers und an den bekrönenden Wimpergen beobachten (Abb. 7).35 Das Motiv eines 34 Herzlichen Dank an Tina Schöbel für ihre Hilfe bei der stilistischen Einordnung der Blattformen. Anhand der von ihr vorgenommenen Inventarisierung der Gipsabdrucksammlung der Oppenheimer Katharinenkirche lässt sich die Entwicklung des Laubwerks in der Zeit zwischen 1260 und 1300 anschaulich nachvollziehen. Vgl. Archiv GDKE, Tina Schöbel, Abschlussdokumentation – Inventarisierung von Architekturfragmenten und Gipsabgüssen der Katharinenkirche Oppenheim, Heidelberg 2014. 35 Die Wimpergkrabben des Lichthäuschens ähneln in auffälliger Weise denen der Obergaden-Wimperge der Oppenheimer Katharinenkirche, da sie wie diese zum Betrachter hingedreht wurden (Abb. 40). Dass die Oppenheimer Wimpergkrabben wohl einer früheren Entwicklungsstufe angehören, legen ihre relativ glatten Blattränder nahe. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Krabben am Lichthäuschen durch stark gekräuselte Blattränder aus. Diese Beobachtung stützt die Annahme Tina Schöbels, die sich für eine Erbauungszeit des Oppenheimer Langhauses bereits vor 1300 aussprach (Schöbel 2015, wie Anm. 32). Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren

27 Oppenheimer Katharinenkirche, südliche Obergadenwand (Detail).

halb aus Mensch und Tier bestehenden Mischwesens, das in der Memorie als Konsolstein die über dem Treppenturmportal hervortretende Wandfläche aufnimmt (Abb. 8), könnte ebenfalls vom Obergaden der Oppenheimer Südfassade übernommen worden sein. Dort beleben anthropomorphe Fabelwesen die Zwickel der Wimperge (Abb. 27).36 In der Nikolauskapelle ließen sich die ondulierenden Wanddienste, die aus einem kräftigen Rundstab zwischen schwächeren Rundstäben gebildet werden, sowie die auf diesen abgelasteten Birnstabrippen ohne Weiteres noch ins 13. Jahrhundert datieren (Abb. 10 und Abb. 11). Auch die Dienstkapitelle mit dem zweireihig angeordneten Blattwerk und den polygonalen Kämpferplatten erscheinen eher Europa 1220–1340. Von Metz bis Wien, München/Berlin 2007, S. 271–274 setzt dagegen den Baubeginn des Langhauses erst nach 1317 an. 36 Die Bauskulptur der Oppenheimer Südfassade wurde im 19. Jahrhundert zu großen Teilen erneuert. Dass sie allerdings weitgehend originalgetreu nachgebildet wurde, belegt eine Zeichnung, die um 1820 die an der Oppenheimer Südfassade vorkommende Bauskulptur dokumentiert. Vgl. Franz Hubert Müller, Die St. Katharinenkirche zu Oppenheim, Darmstadt 1823, Tafel 4/Blatt 24.

Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

28 Fenstergewändekapitell der Peter- und Pauls-Kapelle des Mainzer Doms.

29 Dienstkapitell der Nikolauskapelle mit Eichenlaubblattwerk.

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30 Dienstkapitell im westlichen Kreuzgangobergeschoss des Mainzer Doms.

31 Gewändekapitelle des spätgotischen Memorienportals im Mainzer Dom.

32 Fenstergewände im Obergeschoss des westlichen Kreuzgangflügels mit Profilüberschneidungen im Scheitel.

konservativ. Überraschend große Übereinstimmungen weisen die Kapitelle mit den Gewändekapitellen der zwischen 1285 und 1291 errichteten Peter- und Pauls-Kapelle im Mainzer Dom auf. Besonders beim westlichen Kapitell des westlichen Fenstergewändes (Abb. 28) lässt sich eine enge Verwandtschaft zu einem Kapitell an der Ostwand der Nikolauskapelle (Abb. 29) erkennen.37 Beide Kapitelle zeigen Eichenlaubblätter, die kurzen quergestellten Hölzchen entwachsen. Das Kapitell der Peter- und Pauls-Kapelle zeichnet sich durch gewellte, bereits leicht gebuckelte

Blattformen aus. Aufgrund der etwas stärkeren Blattbuckelung können die Kapitelle der Nikolauskapelle als jüngere Bauplastik angesehen werden, ebenso die abgestuften Dienstsockel mit ihren konkav eingeschwungenen Polygonseiten (Abb. 12). Der zeitgleich errichtete, sich östlich an die Nikolauskapelle anschließende westliche Kreuzgangflügel erscheint mit seinen bis zum Boden durchlaufenden gekehlt-gratigen Wandvorlagen, die ohne Kapitelle in die gekehlten Gewölberippen übergehen (Abb. 5) zwar wesentlich moderner, führt aber ein Dienstsystem fort, das sich im Mainzer Dom bereits um 1300 in den Südkapellen etabliert hat.38

37 Elmar Altwasser/Birgit Kita/Jörg Walter, Gotik am Mainzer Dom. Die Kapellenanbauten der Nordseite, Regensburg 2018 (Neue Forschungen zum Mainzer Dom 1), S. 142–143.

38 Vgl. Kautzsch/Neeb 1919 (wie Anm. 2), S. 220.

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Die hier vorgenommene Analyse der Bauornamentik, bei der eine enge Verwandtschaft zum Formenrepertoire der gotischen Seitenkapellen des Mainzer Doms sowie zu der Südfassade der Oppenheimer Katharinenkirche aufgezeigt werden konnte, führt deutlich vor Augen, dass die Nikolauskapelle und die mit ihr zusammenhängende Architektur unmöglich erst nach 1397 im Bau gewesen sein kann. Erst die Gebäude, die nach dem Brandereignis wiederhergestellt wurden, also das Obergeschoss des westlichen Kreuzgangflügels und der obere Teil der doppelläufigen Wendeltreppe, weisen bauliche Details auf, die eine stilistische Einordnung ins 15. Jahrhundert erlauben. Zu den spät zu datierenden Elementen gehören die Kapitellfragmente im Kreuzgangobergeschoss (Abb. 30) und die Blattkonsole im Treppenturm (Abb. 24), die den Gewändekapitellen des spätgotischen Memorienportals (Abb. 31) sehr nahekommen. Das Blattwerk dieser Kapitelle zeichnet sich durch bewegte Blätter aus, die sich aufgrund ihrer starken, nahezu kugelförmigen Buckelung vom Kapitellkelch zu lösen scheinen. Die gelappten, stark gefurchten Blätter wachsen aus kurzen quergestellten naturalistisch gestalteten Ästchen hervor und weisen eine kräftige mittlere Blattader auf. Das Memorienportal, das man dem Frankfurter Stadtbaumeister Madern Gerthener zuschreibt, wird nachvollziehbar um 1415 datiert.39 Auch die sich am Bogenscheitel durch­dring­ en­den Gewändeprofile, wie sie die Fenster des Kreuz­gang­ober­ge­schosses zeigen (Abb. 32), stützen eine Datierung ins frühe 15. Jahrhundert. Bezeichnenderweise lässt sich dieses Motiv erstmals auch an Bauten nachweisen, die Madern Gerthener zugeschrieben wurden, wie zum Beispiel in der Speyerer Domsakristei, deren feierliche Grundsteinlegung durch König Ruprecht im Jahr 1409 überliefert ist.40 Dass Madern Gerthener auch am Wiederaufbau des Mainzer Domkreuzgangs beteiligt gewesen sein könnte, erscheint zwar durchaus plausibel, lässt sich jedoch aufgrund fehlender urkundlicher Nachrichten nicht belegen.

39 Zur Datierung des Memorienportals vgl. Gerhard Ringshausen, Madern Gerthener: Frankfurts großer Architekt und Bildhauer der Spätgotik, Frankfurt a. Main 2015 (Studien zur Frankfurter Geschichte, 62), S. 400–420. 40 Ringshausen 2015 (wie Anm. 39), S. 359 u. S. 365.

Die Untersuchung der westlichen Stiftsklausur hat gezeigt, dass beim Bau des westlichen Kreuzgangflügels zwei Bauphasen zu unterscheiden sind. So darf davon ausgegangen werden, dass die Schlusssteindatierungen der drei nördlichen Joche des westlichen Kreuzgangflügels nicht den Baubeginn des Kreuzgangs und der angrenzenden Nikolauskapelle, sondern eine Renovierungsmaßnahme bezeichnen, die zwischen 1397 und 1427 nach einem Brandereignis durchgeführt wurde. Der Baubeginn des Kreuzgangs ist folglich schon sehr viel früher im ersten Drittel des 14. Jahrhundert anzusetzen. Die von Ute Engel postulierte „gotische Ummantelung“ des (spät) romanischen Mainzer Doms könnte daher nahtlos nach der Fertigstellung der südlichen Kapellenreihe im Jahr 1319 mit der Erbauung des gotischen Kreuzgangs fortgesetzt worden sein.41

41 Ute Engel, „Ummanteln oder neu bauen? Die rheinischen Kathedralen in Konkurrenz im 13. und 14. Jahrhundert“, in: Cappricio & Architektur. Das Spiel mit der Baukunst, hg. von Stefan Bürger/Ludwig Kallweit, München 2017, S. 91–99.

Regina Schäfer

Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger Struktur und Verflechtung des Hoch- und Niederadels am Mittelrhein im 14. Jahrhundert

„Der Adel im Mittelrheingebiet“, so nannte Hellmuth Gensicke seinen Überblick, den er für die erste Tagung „zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit“ verfasste.1 Schon die Abgrenzung Mittelrheingebiet im Vergleich zu Altbayern, Franken, Westfalen oder Kärnten zeigt das Problem der Definition des Raumes wie der Bestimmung der Adelsgruppe, die behandelt wurde.2 Zugleich ist der Begriff Mittelrhein in der Kunstgeschichte, aber auch der Archäologie – manchmal ergänzt um das Moselgebiet – eine häufig benutzte landschaftliche Lokalisierung,3 wobei die Kunstgeschichte intensiv mit der Frage ringt, ob es eine mittelrheinische Kunst im Mittelalter gab.4 Hellmuth Gensicke hat das 15. und frühe 16. Jahrhundert in den Blick genommen. Er versteht unter Mittelrhein einen sehr weiten Raum, der im Westen über Trier hinausgreift und auch den Odenwald und somit Teile der fränkischen Reichsritterschaft mit umfasst; dies ähnelt dem Mittelrhein-Begriff von Kunsthistorikern

und Archäologen.5 Winfried Wilhelmy rückt das­ Territorium des Mainzer Erzbischofs ins Zentrum.6 Für die hier gestellte Aufgabe, einen Überblick über den Adel für das 14. Jahrhundert zu geben, möchte ich am Raum des oberen Mittelrheintals ansetzen, welcher zum Weltkulturerbe erhoben wurde, also dem Engtal des Rheines zwischen Bingen und Koblenz. Von dort ausgehend muss der Blick bis zu der mittelrheinischen Stadt schlechthin, Mainz, ausgeweitet und somit Rheinhessen und der Rheingau mit einbezogen werden.7 Das soll in vier Schritten geschehen: Zunächst wird die politisch-territoriale Situation am oberen Mittelrheintal im 14. Jahrhundert dargestellt (I). Danach möchte ich versuchen, die verschiedenen Gruppen der Adeligen am Mittelrhein zu systematisieren (II). Im dritten Teil soll die Verflechtung des Adels aufgezeigt werden (III) und abschließend werden die Besonderheiten des mittelrheinischen Adels thesenhaft zur Diskussion gestellt.

1 Hellmuth Gensicke, „Der Adel im Mittelrheingebiet“, in: Deutscher Adel 1430–1555. Büdinger Vorträge 1963, hg. von Hellmuth Rößler, Darmstadt 1965 (Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit, 1), S. 127–152. 2 Vgl. die Beiträge des Bandes Deutscher Adel 1430–1555 (wie Anm. 1). Aus den regionalen Adelsstudien heraus fällt auch der Aufsatz von Gerhard von Lenthe, der sich mit dem „Niedersächsischen Adel zwischen Spätmittelalter und Neuzeit“, in: ebd., S. 177–202 beschäftigt und die moderne Landesgrenze zugrunde legt. 3 Neben den Zeitschriften Berichte zur Archäologie an Mittelrhein und Mosel sowie Kunst in Hessen und am Mittelrhein seien hier nur ein Band beispielhaft genannt: Mainz and the Middle Rhine Valley: medieval art, architecture and archaeology, hg. von Ute Engel, Leeds 2007 (Conference transactions. The British Archaeological Association, 30). 4 Vgl. hierzu Kunsttransfer und Formgenese in der Kunst am Mittelrhein 1400–1500, hg. von Martin Büchsel, Hilja Droste und Berit Wagner, Frankfurt 2019 (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, 20).

5 Gensicke 1965 (wie Anm. 1), S. 127f. 6 Winfried Wilhelmy, „Schrei nach Gerechtigkeit. Einführender Essay“, in: Schrei nach Gerechtigkeit. Leben am Mittelrhein am Vorabend der Reformation, hg. von dems., Regensburg 2015 (Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz, 6), S. 20–25, hier S. 21. 7 Vgl. auch Regina Schäfer, „Lokale Zentren ohne Mitte? Herrschaftliche Heterogenität und überregionale Vernetzung im Spätmittelalter in ihren Auswirkungen auf die Kunstentwicklung am Mittelrhein“, in: Kunsttransfer und Formgenese (wie Anm. 4), S. 29–48.

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Regina Schäfer

I. Das Mittelrheingebiet war um 1400 territorial stark zersplittert.8 Für die komplexe Genese dieses Flickenteppichs war die Bedeutung des Mittelrheins für Wahl und Krönungszug des Königs und als politische Zentrallandschaft sicher ein wichtiger Grund. Peter Moraw hat den Großraum „Mittelrhein-Hessen-fränkischer Oberrhein“ als Kernregion des Reiches im Spätmittelalter herausgestellt, die sich von anderen Regionen deutlich unterschied.9 Diese „Entfaltung regionaler Ordnungen“ statt einer territorialen Verdichtung hat Joachim Schneider beschrieben und betont, dass der Südwesten zugleich eine politische Kommunikationsregion war.10 Im Engtal zwischen Bingen und Koblenz steigerte sich die für den Großraum typische kleinteilige Ordnung noch ins Extrem. Alle vier rheinischen Kurfürsten, die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier sowie der Pfalzgraf bei Rhein, hatten hier Dörfer und Burgen und ebenso Reichsritter/Niederadelige sowie der nichtfürstliche Hochadel/Grafen und Herren – aber es gab auch Reichsstädte und unmittelbar vor dem engeren oberen Mittelrhein, im Ingelheimer Grund, Reichsdörfer bzw. im Rheingau auch eine Landschaft mit spezifischen Freiheitsrechten. Die Ausformung der Gemeinden am Mittelrhein vollzog sich durchaus anders als die Gemeindeentwicklung z. B. der Taunusgemeinden im Spätmittelalter. So hielt beispielsweise der Kölner Erzbischof an seinem entfernten Besitz in der Gemeinde Rhens nicht nur fest, sondern verhalf diesem

8 Raoul Hippchen/Heidrun Ochs/Regina Schäfer, „Der Mittelrhein. Konkurrenz der Herrschaften und Motor des Handels“, in: Schrei nach Gerechtigkeit (wie Anm. 6), S. 17–25. Vgl. die Karte in: Stadt und Burg am Mittelrhein (1000–1600), bearb. von Beate Dorfey, Regensburg 2008, S. 13. Grundlegend zum Mittelrhein, nicht nur zur Wirtschaft dort: Otto Volk, Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1998 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 63). 9 Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Berlin 1985 (Propyläen Geschichte Deutschlands, 3). 10 Joachim Schneider, „Entfaltung regionaler Ordnungen im Mittelalter“, in: Kreuz – Rad – Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte. Bd. 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches, hg. von Lukas Clemens/Franz J. Felten/Matthias Schnettger, Mainz 2012, S. 305–338.

Ort auch zu Stadtrechten.11 Zudem wurde der kleine Ort wichtiger Treffpunkt der vier rheinischen Kurfürsten und sogar Wahlstadt Kaiser Karls IV., obwohl er kaum über nennenswert städtische Strukturen verfügte und in seiner zentralörtlichen Funktion deutlich hinter den Winzerdörfern in Rheinhessen oder im Rheingau, wie Nierstein und Ingelheim oder Rüdesheim und Geisenheim zurückstand. Neben den vier rheinischen Kurfürsten waren am Mittel­ rhein insbesondere die Grafen von Katzenelnbogen mit dem Besitz von St. Goar und dem höchst einträglichen Rheinzoll begütert. Sie verfügten ebenso über Braubach, das sie von den Herren von Eppstein erworben hatten. Weiter sind die Grafen von Sponheim hervorzuheben, deren Besitzungen an der Nahe bis an den Rhein ausstrahlten sowie die Grafen von Nassau. Hinzu kamen die ausgesprochen reichen, weit verzweigten – und leider sehr schlecht erforschten – Ritterfamilien, welche ebenfalls Herrschaftsrechte am Mittelrhein hatten. Die seit der Romantik als Einheit wahrgenommene Abfolge von Burgen und Städten auf engem Raum war folglich Ergebnis einer extremen territorialen Zersplitterung. Dies galt auch für die Städte und die unmittelbar angrenzenden Burgen, die manches Mal in die Stadtbefestigung eingebunden waren, öfter jedoch einen anderen Herrn als die Stadt hatten, als Beispiele seien die Burgen um Bacharach genannt. Die Städte am Mittelrhein besaßen – ebenso wie die Dörfer – oft mehr als einen Herrn. Teils konkurrierten mehrere Herrschaften, wie im Falle von Bacharach, das zwischen dem Erzbischof von Köln und dem Pfalzgrafen umstritten war; teils waren die Städte verpfändet und mussten neben dem Pfandherrn noch den Pfandnehmer als aktuellen Herrn erdulden, wie die Reichsstadt Boppard, die dem Trierer Erzbischof verpfändet war. Boppard konnten die Trierer Erzbischöfe erst 1497 unterwerfen, Oberwesel bereits 1391. Zudem lag die kirchliche Einteilung quer zur politischen. Der Ort Rhens gehörte beispielsweise zum Territorium des Kölner Erzbischofs, kirchlich aber zum Trierer Sprengel. Rechte überschnitten sich und mussten erst noch erstritten und konsolidiert werden. Es kam 11 Alexander Ritter, „Zur Topographie der Stadt Rhens in der Frühen Neuzeit“, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 28, 2002, S. 47–76.

Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger

entsprechend zu zahlreichen Streitigkeiten zwischen den Gemeinden.12 Typisch für den Mittelrhein war also eine hoch komplexe Gemengelage, die sich zudem im Fluss befand. Die entscheidende Klärung dieser Verhältnisse ergab sich im 15. Jahrhundert, durch die große Mainzer Stiftsfehde sowie das Vordringen des Landgrafen von Hessen, welcher die Besitzungen der Grafen von Katzenelnbogen erbte und die Herrschaft sehr planmäßig in den Besitz nahm. Zudem kam im 15. Jahrhundert eine Entwicklung zum Abschluss, die bereits im hier vor allem interessierenden 14. Jahrhundert in vollem Gange war: das massive Vordringen des Pfalzgrafen. Er verfügte am Mittelrhein über Bacharach und den gegenüberliegenden Stützpunkt Kaub sowie die Besitzungen an der Nahemündung und im rheinhessischen Hinterland mit dem Zentrum Alzey; von diesen Kernen ausgehend baute er seine Herrschaft immer weiter aus. Zahlreiche Kleinburgen in Rheinhessen sind in diesem Kontext das erste Mal im 14. Jahrhundert bezeugt.13 Das 16. Jahrhundert begann mit dem Landshuter Erbfolgekrieg, welcher die Rheinpfalz von Bayern trennte und mit der Reformation und der Durchformung der Territorialherrschaften eine Verstärkung und Versteifung beförderte, zumal der Fürst als Landesherr nun zugleich Kirchenherr war.14 Profitierten die weltlichen Fürsten von dieser Entwicklung, so waren die Verlierer dieser Vereinfachung der komplexen Strukturen am Mittelrhein, die einherging mit einer stärkeren herrschaftlichen Durchdringung des Raumes und einem härteren 12 Hippchen/Ochs/Schäfer 2015 (wie Anm. 8). 13 Zahlreiche dieser Kleinburgen finden sich im Pfälzischen Burgenlexikon beschrieben; z. B. Gunther Mahlerwein, „Alsheim II“, in: Pfälzisches Burgenlexikon, hg. von Jürgen Keddigkeit/ Alexander Thon/Karl Scherer/Rolf Übel/Ulrich Burkhart, Bd. 1,3, überarbeitete Aufl.Kaiserlautern 2007 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, 12,1), S. 74–76; vgl. Regina Schäfer, „Burgen in Dörfern. Das Beispiel Rheinhessen – eine Bestandsaufnahme“, in: Zur Sozial- und Kulturgeschichte der mittelalterlichen Burg. Archäologie und Geschichte, hg. von Lukas Clemens/ Sigrid Schmitt, Trier 2009 (Interdisziplinärer Dialog zwischen Archäologie und Geschichte, 1), S. 187–206. 14 Werner Freitag/Regina Schäfer, „Das ‚lange‘ 15. Jahrhundert: Westfalen und Kurmainz“, in: Handbuch Landesgeschichte, hg. von Werner Freitag/Michael Kißener/Christine Reinle/Sabine Ullmann, Oldenburg 2018, S. 139–175; zur Herrschaftsausformung siehe Schneider 2012 (wie Anm. 10), S. 328–338; zum nicht-fürstlichen Adel ebd., S. 321–328.

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Zugriff auf die Personen, zahlreich: Der Mainzer Erzbischof, der Adel, der oft mediatisiert wurde oder sich aus diesem Raum zurückzog, sowie die Dorfund Stadtgemeinden, welche ihre offenen Strukturen verloren. In den Dörfern lebten und wirkten die Adeligen nicht mehr als Mitbürger. Vielmehr schloss sich der Adel als herrschaftliches Organ nun genossenschaftlich von der übrigen Dorf- und Stadtgemeinschaft ab. Eine verschärften Spaltung und Aufteilung der Dörfer und auch Städte in einen kurmainzischen und einen pfälzischen Gemeindeteil, und damit im 16. Jahrhundert auch in einen katholischen und einen protestantisch-calvinistischen Teil, führte langfristig zu einer Stagnation der Dörfer und des Landstrichs.15 Das Ergebnis der Entwicklung des 15. und 16. Jahrhunderts verstellt den Blick auf die Zeit zuvor, das 14. Jahrhundert, welches auf politisch-territorialer Seite durch die Mainzer Erzbischofsschismen ebenso geprägt war wie durch das Vordringen des Pfalzgrafen und die Regentschaft des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg mit seiner ausgreifenden Territorialpolitik.16

II. Unterhalb und zwischen diesen mächtigen Fürsten agierte ein vielfältiger Adel. Man unterscheidet bekanntlich zwischen Fürsten, den Grafen und Herren als nicht-fürstlichem Hochadel und dem Niederadel. Die Gruppe des Niederadels umfasste einige Edel­ freie, die sich in den Dienst begaben, war weitgehend aber aus der Ministerialität, also der Dienstmannschaft/familia des Königs, der Fürsten und der Klöster entstanden. Der Prozess der Formierung war mit dem Erlangen der vollen Lehensfähigkeit und dem Abschütteln der politischen und sozialen Einschränkungen zu Beginn des 14. Jahrhunderts vollzogen, 15 Regina Schäfer, „Recht und Gericht. Die Gemeinden um 1500 am Mittelrhein“, in: Schrei nach Gerechtigkeit (wie Anm. 6), S. 110–117. 16 Vgl. Schneider 2012 (wie Anm. 10), S. 311–321; Friedhelm Burgard, „Bischoff und Grebe … Bischof und Graf zugleich. Zur Ausbildung des Trierer Kurstaates bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts“, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 63, 1999, S. 70–89.

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sodass der Niederadel eine genuin spätmittelalterliche Formation bildete.17 Niederadel ist ein Forschungs- und kein Quellenbegriff. Die Gruppe der Adeligen am Mittelrhein ist hochgradig heterogen. Versucht man diese Adeligen zu systematisieren, kann man an der Genese der Familie ansetzen. Zu unterscheiden wären dann alte Familien, die noch dahingehend differenziert werden könnten, ob sie aus der Reichsministerialität, der Dienstmannschaft der Fürsten, Grafen oder Klöster stammten sowie neue Familien, die sich oft nach Dörfern benannten. Doch ist die Herkunft der Adeligen nur sehr schwer festzumachen, zumal Namensänderungen beim Erwerb von neuem Besitz nicht selten waren.18 Auch Burgenbesitz ist kein Kriterium. Über Burgen oder Burgenanteile an Ganerbenburgen verfügten alle diese Adeligen. In Rheinhessen finden sich neben den Ganerbenburgen zahlreiche, meist fünfstöckige Adelstürme in den Dörfern, von denen die kleinesten einen Grundriss von vier auf fünf Metern hatten, wobei Nebengebäude hinzukamen.19 Hilfreicher ist die Unterscheidung in stadt- und landgesessene Adelsfamilien, doch auch sie birgt Probleme. Das adelige Mainzer Patriziat oder die Familien des Alzeyer Stadtadels, welche dem Pfalzgrafen halfen, die niederadeligen Truchsessen von Alzey als Stadtherren zu verdrängen, hatten ihren Wirkungskreis vor allem in der Stadt. Allerdings ist dies nicht unbedingt eine Rangabstufung. Hinsichtlich Konnubium oder politischem Netzwerk waren zumindest die Spitzenfamilien dem landgesessenen Niederadel ebenbürtig, vom Vermögen her teils überlegen; lediglich die eingeschränkte Lehensfähigkeit wirkte sich 17 Volker Rödel, „Multi ignobiles facti milites: zur Entstehung des Niederadels als Stand“, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 41, 2015, S. 7–32; Joachim Schneider, Spätmittelalterlicher deutscher Niederadel. Ein landschaftlicher Vergleich, Stuttgart 2003 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 52). 18 Für diese Familien am Mittelrhein demnächst Gabriel Eggert, Vernetzungen des Niederadels am Mittelrhein (1300–1500), in Vorbereitung. Ich danke Herrn Eggert für die Möglichkeit, einen Einblick in das ungedruckte Manuskript zu nehmen. Auch für die Stifte am Mittelrhein lassen sich Ministerialenfamilien benennen; Ferdinand Pauly, Die Stifte St. Severus in Boppard, St. Goar in St. Goar, Liebfrauen in Oberwesel, St. Martin in Oberwesel, Berlin/New York 1980 (Germania Sacra, NF 14. Das Erzbistum Trier, 2), S. 65. 19 Schäfer 2009 (wie Anm. 13).

mindernd aus. Die Wahrnehmung dieser Familien als Stadtadel ist auch insofern problematisch, als sie die oft weit über die einzelne Stadt hinausgreifenden Beziehungsgeflechte der einzelnen Personen verkennt.20 Doch ein anderes Phänomen wirkt schwerer, insbesondere für die Adelsfamilien in den Städten am engeren Mittelrhein, zwischen Bingen und Koblenz. Nur scheinbar gibt es hier eine deutliche Trennung zwischen den Adeligen im Dienst des Stadtherrn und den nicht-adeligen Bürgern, z. B. in Bingen zwischen den Burgmannen auf der Burg Klopp am Rande der Stadt als Vertreter des Erzbischofs und den eigentlich städtischen Familien. Die Arbeit von Raoul Hippchen zeigt nicht nur, dass es in Bingen – und auch in einer Reihe anderer mittelrheinischen Städte – patrizische Familien gab, sondern auch die Verflechtung zwischen Stadt, Burgmannschaft und dem Stift St. Martin.21 Ähnliches lässt sich punktuell für Oberwesel zeigen, wofür hier nur ein Beispiel angeführt werden soll: Johann Schmidtburg zu Schönburg saß auf der gleichnamigen Burg. Im Jahr 1399 wurde er Burgmann des Grafen von Katzenelnbogen auf der Rheinfels, indem er einen Weinberg auf Oberweseler Gemarkung, welchen er als Allod/Eigengut besaß, dem Grafen zu Lehen auftrug. Er tat dies vor den Schöffen Karl Futtersack, Johann Rheingraf dem Jüngeren und Thielmann Zöllner.22 Johann Schmidtburg zu Schönberg ist zugleich edelfrei, Herr zu Schönberg, Burgmann auf der Rheinfels und begütert in Oberwesel. Johann Rheingraf ist Lehensmann des Grafen und wohl als adelig anzusprechen, ohne dass dies in den Quellen explizit benannt wird, zugleich ist er Bürger und Schöffe in Oberwesel. Thielmann war wohl (zuvor?) Zöllner, bei Karl Futtersack ist über

20 Heidrun Ochs, Gutenberg und sine ‚frunde‘. Studien zu patrizischen Familien im spätmittelalterlichen Mainz, Stuttgart 2014 (Geschichtliche Landeskunde, 71). Zu Alzey: Alzey im Mittelalter, hg. von Regina Schäfer (Alzey, Geschichte der Stadt 4), Alzey 2019. 21 Raoul Hippchen, Soziale Verflechtung und politische Ordnung in einer kleinen Stadt am Mittelrhein. Vergleichende Studien zu Bingen im Spätmittelalter, Dissertation, im Druck. Ich danke Herrn Hippchen für die Möglichkeit, einen Einblick in die noch nicht veröffentlichte Arbeit zu nehmen. 22 Regesten der Grafen von Katzenelnbogen, bearb., von Karl E. Demandt, 4 Bde., Wiesbaden 1953–1957, unveränderter Nachdruck 2001 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 11), Nr. 2174, S. 616.

Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger

seine Funktion als Schöffe hinaus nichts bekannt.23 Es gab Adel in der Stadt und es gab Stadtadel und die Gruppen überlappten sich. Ein ganz eigenes drittes Phänomen sind dann die Schutz- und Bündnisverträge, welche die mittelrheinischen Städte mit den benachbarten Grafen schlossen, wofür sie diesen auch das Stadtbürgerrecht und einen Wohnsitz gewährten. So war der Graf von Katzenelnbogen Bürger zu Frankfurt, Koblenz, Köln, Mainz und Oberwesel.24 Die Trennung in Stadt- und Landadel ist folglich oft eher eine Momentaufnahme oder eine Zuschreibung; der offenen Situation am Mittelrhein im 14. Jahrhundert wird sie nicht unbedingt gerecht. Einfacher scheint die Aufteilung in Hoch-, Nieder- und Nicht-Adel. Die Hochadeligen waren freier Abkunft; dagegen stammten die Niederadeligen in der Regel aus der Ministerialität; die damit verbundene rechtliche Unfreiheit war im 14. Jahrhundert noch bewusst.25 Die Grenze nach unten war weit weniger deutlich. Es gab kein eindeutiges und stets geltendes Spezifikum, das einen Niederadligen auszeichnete, sondern ein Bündel von Kriterien: aktive und passive Lehensfähigkeit, Ämtertätigkeit und Hofdienst, qualifizierender Besitz z. B. von Herrschaftsrechten oder Burgen(-anteilen), Bezeichnung als Ritter oder Edelknecht, adeliges Konnubium, die Zulassung zu Stiftskirchen, Klöstern, Domkapiteln sowie Turnieren und schließlich und vor allem die soziale Akzeptanz der niederadligen Standesgenossen.26 Die Kontinuität einer Kombination von Merkmalen machte adlig. Daher gab es eine breite Diffusionsschicht zwischen Niederadel und städtischen Bürgern sowie der dörf-

23 Urkunden von 1387 und 1403; ebd., Nr. 1857, S. 530f. und Nr. 2389, S. 666. 24 1332 Aufnahme in Koblenz, ebd., Nr. 791, S. 259; 1375 Aufnahme in Köln, ebd., Nr. 1538, S. 443f. 25 Auch hier gibt es Ausnahmen, Familien wie die Bolander oder der Ohrenstamm der Kronberger, denen der Anschluss an den Hochadel gelang. Als Kriterium für die Akzeptanz als hochadelig gilt das Konnubium; siehe Karl-Heinz Spieß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 2. korrigierte Aufl.2015 (Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, 111). 26 Zwischen Nicht-Adel und Adel, hg. von Kurt Andermann/Peter Johanek, Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen, 53). Zu den Kriterien siehe insbesondere Karl-Heinz Spieß, „Aufstieg in den Adel und Kriterien der Adelszugehörigkeit im Spätmittelalter“, in: ebd., S. 1–26.

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lichen Oberschicht, in der sich Komponenten beider Gruppen vermischten. Das ist gerade im Großgebiet Mittelrhein von hoher Bedeutung. Zum einen war die Mobilität hier besonders groß; zum anderen gab es eine hohe Durchlässigkeit innerhalb der Einheiten von Dorf und Stadt – die Dörfer waren keinesfalls nur von Bauern bewohnt; in zahlreichen Ortsgemeinden in Rheinhessen wie im Rheingau bildeten ritterliche und nicht-ritterliche Männer als Schöffen gemeinsam das Gericht als zentrale Instanz des Ortes. Viele Dörfer auf beiden Seiten des Rheines wiesen teils quasistädtische Strukturen auf und es gab bis ins 16. Jahrhundert keine Zuzugs- oder Abzugsbeschränkungen, auch nicht für neue, fremdherrige Männer und Frauen. Die Präsenz insbesondere der Fürsten, aber auch der Grafen am engeren Mittelrhein generierte zudem eine stete Nachfrage nach Dienstmannen, z. B. in der Zollverwaltung, als Geleitsknecht, in der Burghut usw. Hinzu kommt, dass mit den Fürsten auch neue Adelsfamilien an den Mittelrhein kamen, die sich mit den hier ansässigen Adeligen verwandtschaftlich verbanden, ebenso wie die hier ansässigen Niederadeligen über die Netzwerke des Fürstendienstes in anderen Landschaften Fuß fassten. Dies hat Gerhard Fouquet gerade auch für einzelne rheinhessische Familien gezeigt, die als Klien­tel des Pfalzgrafen im Domstift Speyer eine bedeutende Rolle übernahmen.27 Die Fluktuation im Adel war durch das Adelssterben ebenso geprägt wie durch den Zuwachs neuer Familien, die über Einheirat oder Erbe ebenso hierher kamen wie sie aus nicht-adeligen Schichten nachwuchsen. Genealogische Studien zu diesen Familien sind eher selten – vor allem die versteckt publizierten Arbeiten von Gensicke wären zu nennen.28 Erschwert werden die Familienzuschreibungen durch die häufigen Namenswechsel. Zudem machen auch die Quellen die adelige Qualität eines Mannes oder einer Familie nicht immer deutlich. Über eigene Siegel und Besitz in verschiedenen Ortschaften verfügten auch nicht-adelige Bürger wie 27 Gerhard Fouquet, Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde., Mainz 1987 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 57). 28 Die zahlreichen Aufsätze von Hellmuth Gensicke sind gut erschließbar über den Opac der Regesta Imperii. Siehe zu einem Beispiel, dem Familienverband derer von Geroldstein unten.

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Peter Bart, Bürger zu St. Goar29 und Nachbar des dort ebenfalls wohnhaften Edelknechts Dietrich Mul.30 Der Niederadel war folglich mehr nach unten als nach oben hin, insbesondere im 14. Jahrhundert, noch recht offen. Zu dieser Unschärfe der Abgrenzung tritt die innere Heterogenität des Niederadels. Cord Ulrichs klassifiziert am Beispiel Frankens den Adel nach Herkunft bzw. Wirkung sowie nach Funktion und Prestige in Amts-, Stadt- und Ortsadel sowie Stifts-, Turnier-, Einungs- oder Lehnadel.31 Die hier stattdessen gewählte Klassifikation Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger kann eine Abstufung sein, doch waren es am Mittelrhein mehr Aktionsräume des Adels. Die Adeligen waren oft Burgmannen auf fürstlichen Burgen und zugleich Landadel mit Allod- oder Lehensbesitz und sie übernahmen Amts- und Dienstfunktion für Fürsten und Grafen. Die meisten erfüllten also alle der von Ulrichs genannten Unterteilungen.32 Zudem ist für das engere Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz festzuhalten, dass sich für den Adel hier mit der dichten Abfolge von Städten mit unterschiedlichen Stadtherrschaften und den teils in die Stadtverteidigung eingebundenen, aber andersherrigen Burgen andere Bedingungen ergaben als in anderen Adelsregionen.33 Die Konkurrenz von mehreren Fürsten bot den Adeligen nicht nur die Chance auf Fürstendienst, sondern zudem die Möglichkeit, zwischen den Fürsten lavierend die eigene Abhängigkeit zu bewahren. Die Positionierung für oder gegen einen Fürsten bedeutete noch keine dauerhafte Einbindung in die Klientel desselben. Das änderte sich im Laufe des 14. Jahrhunderts durch das Vordringen des Trierer Erzbischofs und des Pfalzgrafen; zum Abschluss kam diese Entwicklung aber, wie angeführt, erst im 15. Jahrhundert.

Jenseits der Einordnung einer Einzelperson oder auch einer Familie stellt sich folglich das Problem der Verflechtungen und Verbindungen zwischen den Adeligen, ihren Netzwerken, nicht nur im Sinne einer politischen Gruppe, sei es als Standesvertretung oder Klientel eines Fürsten. Der Frage nach die Landschaft übergreifenden Netzwerken, vor allem einem Kommunikationsnetz des Ritteradels um 1500 wurde bereits nachgegangen.34 Für das 14. Jahrhundert sind diese Netzwerke weit schwieriger zu ermitteln. Einen vergleichenden regionalen Überblick über die Ausformung des Niederadels hat Joachim Schneider vorgelegt.35 Es fehlen aber moderne Studien zum Adel, die gleichermaßen Nieder- wie Hochadel, Stadt- und Landadel einschließen, insbesondere für den Mittelrhein; hier wird Gabriel Eggert eine Lücke schließen. Im Folgenden seien daher zunächst Kontaktzonen beschrieben. Hier entstanden jeweils ganz unterschiedlich zusammengesetzte Adelsgruppen, wie an den folgenden Beispielen gezeigt werden kann:

1. „Nachbarschaft“ in Dorf und Stadt.

Am Ende des 13. Jahrhunderts verkauften die Herren von Hohenfels und Bolanden ihre Vogteirechte in einer Reihe von rheinhessischen Dörfern an die dortige Dorfgemeinde (Mommenheim, Bechtolsheim, Schornsheim, Büdesheim bei Mainz, Armsheim, Essenheim). Die Gemeinden bestimmten aus ihren Reihen jeweils sechs bis zehn ansässige Ritter und Edelknechte, welche den Herren Vasallendienste zu leisten hatten. In den genannten Fällen kam es zu einer ganerbschaftlichen Herrschaft über die Dörfer.36 Bei den größeren und reicheren Orten Nierstein und Ingelheim gelang den ortsansässigen Adeligen die Übernahme der Dorfherrschaft erst in der frühen Neuzeit. Aber auch in zahlreichen anderen rheinhessischen Dörfern und den meisten Rheingauer

III. Verflechtung 29 1383, Demandt 1953–1957 (wie Anm. 22), Nr. 1755, S. 504. 30 1371, ebd., Nr. 1446, S. 344. 31 Cord Ulrichs, Die Entstehung der fränkischen Reichsritterschaft: Entwicklungslinien von 1370 bis 1590, Köln 2016 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, 31). 32 Eggert 2019 (wie Anm. 18). 33 Zu den Adelsregionen siehe Schneider 2003 (wie Anm. 17). Vgl. auch Andermann/Johanek 2001 (wie Anm. 26).

34 Kommunikationsnetze des Ritteradels im Reich um 1500, hg. von Joachim Schneider, Stuttgart 2012 (Geschichtliche Landeskunde, 69). 35 Schneider 2003 (wie Anm. 17). 36 J. F. S. Zimmermann, Ritterschaftliche Ganerbschaften in Rheinhessen, Mainz 1957; Karl-Heinz Spieß, „Bäuerliche Gesellschaft und Dorfentwicklung im Hochmittelalter“, in: Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, hg. von Werner Rösener, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 115), S. 384–412.

Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger

Gemeinden waren niederadelige Geschlechter in großer Zahl ansässig und übernahmen zentrale Funktionen in der Dorfgemeinde, vor allem als Ritterschöffen. Sie waren durchaus in den Dörfern mit Höfen begütert, auch wenn sie nicht oder nicht alle dauerhaft dort präsent waren. Wenn eine Dorfgemeinde handelte, z. B. auch beim Kirchenbau, agierte folglich immer auch eine Gruppe Adeliger mit. Der Adel traf sich im Dorf auch regelmäßig, z. B. bei der Weistumsfindung, die dreimal im Jahr stattfand. Das gleiche gilt für die Adeligen in den Stadtgemeinden. Sie übernahmen unterschiedliche Funktionen in der städtischen Verwaltung. Typisch für die mittelrheinischen Städte ist dabei ein Mit- und Nebeneinander von Adeligen und Nicht-Adeligen auch im städtischen Gericht.37

2. Verwandtschaft.

Verwandtschaft bewirkte Vergesellschaftung und war nach den Analysen zum Früh- und Hochmittelalter geradezu konstitutiv für den Adel. Der Bedeutung von Verwandtschaft für die Hochadelsfamilien im Spätmittelalter ist Karl-Heinz Spieß umfassend nachgegangen.38 Zu den aus der Ministerialität stammenden Familien liegen vergleichende Studien mit einem Schwerpunkt auf dem 13. Jahrhundert vor, welche insbesondere den Sog der Pfalzgrafen auf diese Familienverbände zeigen.39 Hinzu kommen zahlreiche einzelne genealogische Abhandlungen, wobei gerade am engeren Mittelrhein die Familien der Mittel- und Unterschicht noch kaum untersucht sind und die Arbeit von Gabriel Eggert hier Neues bieten wird.40 37 Hierzu für Bingen, Hippchen 2019 (wie Anm. 21); zu Bacharach, Eggert 2019 (wie Anm. 18). 38 Spieß 2015 (wie Anm. 25). 39 Karl-Heinz Spieß, „Reichsministerialität und Lehnswesen im späten Mittelalter. Studien zur Geschichte der Reichsministerialen von Bolanden, Hohenfels, Scharfeneck, Eltz, Schöneck und Waldeck“, in: Ministerialitäten im Mittelrheinraum, Wiesbaden 1978 (Geschichtliche Landeskunde, 17), S. 56–78; Hellmuth Gensicke, „Ministerialität zwischen Odenwald und Westerwald“, in: ebd., S. 79–99; Volker Rödel, Reichslehnswesen, Ministerialität, Burgmannschaft und Niederadel. Studien zur Rechts- und Sozialgeschichte des Adels in den Mittel- und Oberrheinlanden während des 13. und 14. Jahrhunderts, Darmstadt 1979 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 38). 40 Zahlreiche genealogische Abhandlungen, vor allem für die Familien des Westerwaldes bietet Hellmuth Gensicke, der viel

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Trotz Hausbewusstsein in den Adelsfamilien erinnerten diese die Namen ihrer Vorfahren kaum. So wird an Ahnenproben oder Memorialstiftungen erkennbar, dass explizit nur die Angehörigen zweier Generationen auch mit Vornamen bekannt waren.41 Inwiefern Familienverbände im 14. Jahrhundert auch politisch agierende Genossenschaften waren, ist bisher nicht untersucht, obwohl dies gerade bei Ganerbschaften oft vermutet wird.

3. Ganerbenburgen.

Die Ganerbschaften waren genossenschaftliche Zusammenschlüsse der Burgenanteiler. Über Erbteilung, Einheirat, Wittumseinsetzungen, Auftragungen und anderes mehr waren Familienverbände entstanden, welche unterschiedliche Besitzanteile an einer gemeinsam zu nutzenden und zu verteidigenden Burg hatten. Die hohe Anzahl der an einer Ganerbenburg beteiligten Familien ist oft überraschend.42 Auch die Reichsburg Friedberg in der Wetterau war eine Ganer­benburg. Die Burgmannen genossen ein Selbstergänzungsrecht, versuchten Grafen und Fürsten als Burgmannen zu vermeiden.43 Die Homogenität der Adelsgruppe ist im Falle der Ganerbschaft kleiner. Die Ganerben bildeten einen Personenverband, der zum Teil auf Verwandtschaft ungedrucktes Material aufarbeitet, z. B. die Aufsatzreihe in den Nassauischen Annalen „Zur Geschichte des nassauischen Adels“. Hier finden sich auch mittelrheinische Familien im engeren Sinne wie die von Geroldstein, Hellmuth Gensicke, „Zur Geschichte des nassauischen Adels. Die von Geroldstein“, in: Nassauische Annalen, Jg. 101, 1990, S. 217–230. 41 Karl-Heinz Spieß, „Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsentation im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalters“, in: Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen, hg. von Werner Rösener, Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung, 8), S. 97–123. 42 Gensicke 1965 (wie Anm. 1), S. 135f. 43 Joachim Schneider, „Die Ahnenprobe der Reichsburg und Ganerbschaft Friedberg in der Vormoderne. Überlieferung, Praxis und Funktion“, in: Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion, Initiation, Repräsentation, hg. von Elizabeth Harding/Michael Hecht, Münster 2011 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, 37), S. 209–232; Volker Press, „Friedberg – Reichsburg und Reichsstadt im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit“, in: Wetterauer Geschichtsblätter, Jg. 35, 1986, S. 1–29; Thomas Schilp, Die Reichsburg Friedberg im Mittelalter. Untersuchungen zu ihrer Verfassung, Verwaltung und Politik, Friedberg 1982 (Wetterauer Geschichtsblätter, Sonderband 31).

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beruhte. Die einzelnen ­Ganerben unterschieden sich aber durchaus hinsichtlich des Aktionsradius des Einzelnen. Auch hier war allerdings nicht nur der Rang der Familie, sondern zudem die Einzelpersönlichkeit von Bedeutung, wie sich am Beispiel der Kämmerer von Worms zeigen lässt.44

4. Adelsgesellschaften und Adelsbündnisse. 4.1. Rittergesellschaften und Grafenverein.

Durchaus den Ganerbschaften vergleichbar sind die ständischen Zusammenschlüsse, mit dem Ziel der Friedenswahrung untereinander und der politischen Aktion nach außen. Während sich die mittelrheinischen Ritter erst sehr spät zu einer Adelsgesellschaft zusammenschlossen, war der Wetterauer Grafenverein der erste Zusammenschluss des nicht-fürstlichen Hochadels im Reich.45 Diese Adelsgesellschaften sind insbesondere Phänomene des 15. Jahrhunderts,46 dies gilt auch für die patrizischen Gesellschaften in den Städten. Der Charakter der „Zechgesellschaft“ in Bacharach/Steeg, die im 14. Jahrhundert bezeugt ist, ist umstritten.47

44 Ritteradel im Alten Reich: die Kämmerer von Worms, genannt von Dalberg, hg. von Kurt Andermann, Epfendorf 2009 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, NF 31). 45 Georg Schmidt, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden, Marburg 1989 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 52); Karl-Heinz Spieß, „Zwischen König und Fürsten. Das politische Beziehungssystem südwestdeutscher Grafen und Herren im späten Mittelalter“, in: Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert, hg. von Kurt Andermann/Clemens Joos, Epfendorf 2006 (Kraichtaler Kolloquien, 5), S. 13–34. 46 Andreas Ranft, „Ritterbünde, Rittergesellschaften“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, 1995, Sp. 876f.; ders., „Adelsgesellschaften. Zum Verhältnis von Stadt und Adel am Ende des Mittelalters“, in: Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit, hg. von Stefan Rhein, Sigmaringen 1993 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 3), S. 47–64; ders., Adelsgesellschaften. Gruppenbildung und Genossenschaft im spätmittelalterlichen Reich, Sigmaringen 1994 (Kieler historische Studien, 38). 47 Otto Volk, „Weinbau und Weinabsatz im späten Mittelalter. Forschungsstand und Forschungsprobleme“, in: Weinbau, Weinhandel und Weinkultur. Sechstes Alzeyer Kolloqium, hg. von Alois Gerlich, Stuttgart 1993 (Geschichtliche Landeskunde, 40), S. 49–163.

4.2. politische Aktionsbündnisse.

Für das 14. Jahrhundert typischer sind die Adelsgesellschaften und Adelsbündnisse, welche gegen einen politischen Gegner geschlossen wurden.48 Ein Beispiel ist das Bündnis der Ganerben von Schöneck, Ehrenberg, Waldeck und Eltz gegen Erzbischof Balduin von Trier, das die Eltzer Fehde der Jahre 1331 bis 1337 trug49 oder der in Hessen von 1370 bis 1373 agierenden Sternerbund, der sich gegen die expansive Politik des Landgrafen richtete.50 4.3. Turniergesellschaften.

Ebenfalls noch in das 14. Jahrhundert zurück reicht die 1387 erstmals bezeugte Turniergesellschaft „mit dem Esel“. Sie verzeichnet in ihrem ältesten Protokollbuch von 1401 fast 240 Familien als Mitglieder.51 Die inzwischen recht intensiv untersuchten Turniere waren wichtige gesellschaftliche Ereignisse, die an der Wende des 16. Jahrhunderts der sozialen Abgrenzung des Adels als Turnieradel diente. In der Zeit zuvor boten sie vor allem auch gesellschaftliche Anlässe, Gelegenheit zur Repräsentation und einen Heiratsmarkt, aber auch und vor allem einen Vergnügungsort. Viele Adelige turnierten regelmäßig und eine Reihe von Turnieren sind noch nicht erfasst. Nach dem Bruchstück einer Familienchronik zog es Philipp den Älteren von Kronberg innerhalb von exakt zwei Jahren zu 13 Turnieren, darunter auch zu zwei Turnieren in Boppard, aber ebenso zu Turnieren in Mainz, Worms, Frankfurt und Wiesbaden.52

5. Lehenshöfe.

Eine wichtige Verbindung zwischen den Adeligen entstand durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu den Lehenshöfen. Im Jahr 1401 gehörten 23 Grafen und 26 Freiherren sowie eine weit größere Zahl an Rittern dem Lehenshof des Pfalzgrafen bei Rhein an. 48 Gensicke 1965 (wie Anm. 1), S. 143–145. 49 Julia Eulenstein, „Rebellion der „Übermütigen“? Die Eltzer Fehde Balduins von Trier, 1331–1337“, in: Kurtrierisches Jahrbuch, Jg. 46, 2006, S. 79–115. 50 Fred Schwind, „Sternerbund“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, 1997, Sp. 137. 51 Ranft 1994 (wie Anm. 46), Anlage C. 52 „Cronberg’sches Diplomatarium“, bearb. von Otto Freiherr von Stotzingen, in: Nassauische Annalen, Jg. 37, 1907, S. 180–227, hier S. 217.

Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger

Die Bandbreite reichte vom Vasallen im Fürstenrang bis zum Kammerknecht der Pfalzgräfin.53 Diese trafen sich immer wieder auch im Dienst ihres Herrn, insbesondere beim Lehensgericht oder im Gefolge ihres Fürsten, bei militärischen Aktionen, aber vor allem auch auf Hof- und Reichstagen, wo der Fürst durch den Rang seines Gefolges glänzte.

6. Fürstendienst und Räte.

Mehrfachvasallität war für die meisten Adeligen üblich; mit der Entscheidung, einen bestimmten Fürsten zu begleiten, ordneten sie sich aber dessen Gefolge zu. Eine engere Gruppe stellen folglich die Adeligen dar, welche im gemeinsamen Fürstendienst tätig waren. Auch diese Gruppe umfasste hinsichtlich Status und Vermögen sehr unterschiedliche Adelige und Funktionsträger, von den Amtmännern bis zu den berittenen Knechten. Meist waren die Amtsträger zudem durch Vasallität eingebunden, doch finden sich hier verstärkt auch Bürger. Eine besonders herausgehobene Gruppe bildeten die fürstlichen Räte.54

7. Landständische Vertretung.

Einen Schritt weiter hinsichtlich einer kollektiven Organisation führen die Ansätze einer landständischen Vertretung, die sich in ihren Anfängen im 14. Jahrhundert ebenso fassen lassen wie die fürstlichen Räte. In den geistlichen Territorien übernahm zum Teil das Domkapitel diese Funktion. Doch es gab auch „politische“ Fraktionen, welche Kleriker und weltliche Adelige umfasste, wie es sich besonders im 15. Jahrhundert für Kurtrier in der Manderscheider Fehde greifen lässt. 53 Karl-Heinz Spieß: Lehnrecht, Lehnspolitik und Lehnsverwaltung der Pfalzgrafen bei Rhein im Spätmittelalter, Wiesbaden 1978 (Geschichtliche Landeskunde, 18), S. 169; ders., „Die Pfalzgrafen bei Rhein als Lehnsherren im Spätmittelalter“, in: Der Griff nach der Krone. Die Pfalzgrafschaft bei Rhein im Mittelalter. Begleitpublikation zur Ausstellung der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg und des Generallandesarchivs Karlsruhe, Regensburg 2000 (Schätze aus unseren Schlössern, 4), S. 53–60. 54 Christian Hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg 1350–1515, Göttingen 2005 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 70).

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8. Stifte (und Klöster).

Die mittelrheinischen Städte zeichneten sich durch ihre besonders hohe Anzahl an alten Kollegiatstiften in den Städten aus. Im weiteren Raum sind insbesondere die Domstifte von Mainz, Worms und Speyer, aber auch die Koblenzer oder die anderen Mainzer Stifte einschließlich St. Victor mit seiner Stiftsschule zu nennen. Wir wissen, dass die Stiftsherren auf ihren Stiftshöfen ihre adeligen Verwandten ebenso wie andere Gäste zu Besuch hatten. Hier bestand eine Vernetzung der Adeligen in den geistlichen Einrichtungen und außerhalb. Hinzu kamen die Absprachen der Stiftsherren innerhalb des Stiftskapitels. Die Protokolle des Mainzer Domkapitels zeigen, dass dieses zeitweise als Wahrer der Interessen der Landschaft agierte – auch gegen den Erzbischof – und erlauben auch einen Einblick in die widerstreitenden Interessen von verschiedenen einzelnen Adeligen oder Familienverbänden, innerhalb und außerhalb des Erzstifts. In den Stiften in Boppard, St. Goar und Oberwesel stammten zahlreiche Vikare und Kanoniker aus den Städten und den umliegenden Dörfern. Besonders gut lässt sich dies dank des Regestenwerks von Karl E. Demandt für St. Goar erfassen. Ein Teil der Stiftsherren und Vikare gehörte zu Familien, die nachweislich im 14. Jahrhundert Burgmannen waren wie die Piner, Biß, Bart und Duden, ein anderer zu den Bürgerfamilien wie die Rode, Ernesti, Fabri oder Alberti, ein dritter Teil kam von außen.55 Für St. Goar ist bereits im 14. Jahrhundert die Nähe der Grafen von Katzenelnbogen wichtig, die 1408 dann bestimmend wurde, als der Abt von Prüm die Besetzung der Kanonikate wie der Vikarien den Grafen übertrug. Die Katzenelnbogner ließen die Kirche schließlich auch baulich umgestalteten.56 Die Stifts­herren hatten in den mittelrheinischen Städten bereits im 14. Jahrhundert ihre Häuser in der Stadt verteilt.57

55 So zusammenfassend auch bereits Pauly 1980 (wie Anm. 18), S. 184. 56 Ebd., S. 149–154, S. 171, S. 176–178. 57 Der Kanoniker von St. Severus in Boppard Johann gen. vom Hospital wohnte 1375 in der Nähe des Propsteihofes an der östlichen Stadtmauer, ebd., S. 120. Auch in St. Goar waren die Kurien über die Stadt verteilt, ebd. S. 182.

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9. Bruderschaften.

Die vielfältigen Bruderschaften zählten Geistliche wie Weltliche, Adelige wie Bürgerliche zu ihren Mitgliedern. Dies erkennt man auch bei jenen Bruderschaften, bei denen man eine genuin städtische Zusammensetzung erwarten würde, wie im Falle der Bopparder Rats- und Schöffenbruderschaft, der auch der Kanoniker Johann von Köln (1338–1349) angehörte.58 Ähnliches dürfte für die anderen Bruderschaften zu vermuten sein, die allerdings in St. Goar (Marienbruderschaft, Bruderschaft des Hl. Goar, Heilig-Geist-Bruderschaft, Bruderschaft St. Jost) erst im 15. Jahrhundert zu fassen sind.59

10. Studium.

Für St. Goar wurde zwischen 1389 und 1428 eine hohe Zahl an Studenten in Heidelberg bemerkt, die später Kanoniker wurden. Pauly vermutet, dass entweder die Anziehungskraft der neu errichteten Universität oder des dort lehrenden aus St. Goar stammenden Kanonikers Nikolaus Burgmann entscheidend war. Dies verweist auf ein Netzwerk, das aus der Stadt an die Universität getragen wurde und dann in die Stadt zurück.

11. Begegnungen.

Der Adel begegnete sich auch zufällig, nicht nur bei exklusiven Adelstreffen, sondern ebenso in der Stadt – bei Landgerichtstagen, am Rande von Reichsversammlungen oder auch auf den Frankfurter Messen. Manchmal konnte man sich kaum aus dem Weg gehen, wie ein Schreiben eines Frankfurter Abgesandten bezeugt, der aus seinem Mainzer Wirtshaus auszog und sich heimlich einquartierte, damit ihn ein Graf, der Forderungen an Frankfurt stellen wollte, nicht finden konnte.60

58 Ebd., S. 119. 59 Ebd., S. 217. 60 22. Oktober 1414; Frankfurts Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1376–1519, hg. von Johannes Janssen, Bd. 1, Freiburg im Breisgau 1863, S. 478. Weitere Belege insbesondere zu Mainz bei Regina Schäfer, „Adelsfamilien und Adelshöfe zur Zeit Gutenbergs“, in: Lebenswelten Gutenbergs, hg. von Michael Matheus, Stuttgart 2005 (Mainzer Vorträge, 10), S. 143–168, hier S. 144–148; ausführlicher,

Es bestanden folglich enge und vielfältige Kommunikationsnetze zwischen den Adeligen, wobei in der Regel Adelige unterschiedlicher Schichten aufeinandertrafen, Grafen und Ritter, aber eben auch Niederadelige unterschiedlicher Potenz. Die Kommunikation fand an verschiedenen Orten und mit immer wieder anders zusammengesetzten Gruppen statt. Es entstanden komplexe Netzwerke mit Untergruppen, welche sich personell überlappten. Die Fürsten versuchten, die Knotenfunktion zu übernehmen. Dies gelang insbesondere dem Pfalzgrafen, dessen Herrschaft über den Adel sich auf drei Säulen stützte: auf die Durchsetzung des Herrschaftsanspruches vor Ort, wie er sich z. B. in den erzwungenen Lehensauftragungen der Adelsburgen in Rheinhessen und am Mittelrhein um 1400 zeigt. Mehrere Burgen werden in den Quellen zum ersten Mal erwähnt im Zusammenhang mit einer Brechung durch oder einer Auftragung an den Pfalzgrafen, so die Stammburgen der Boos von Waldeck und Ganerben von Wildenstein im Jahr 139861 – vielleicht gab es hier ein Bündnis gegen die Pfalzgrafen. Hinzu kam der Ausbau einer glänzenden Hofhaltung in Heidelberg mit der Gründung der Universität, erhöht durch den Glanz der Königswürde Ruprechts von der Pfalz. Die dritte Säule wurde aus den beiden Stifte Speyer und vor allem Worms gebildet, die zunehmend in die Abhängigkeit des Pfalzgrafen gerieten. Die Stifte waren Teil des Familiennetzwerkes und die Familien Teil des aus den Stiften betriebenen Netzwerkes.62 Auch für Kurtrier lässt sich eine zielgerichtete Adelspolitik zeigen. Erzbischof Balduin von Luxemburg gelang es in der Eltzer Fehde die Spitzenfamilien Ehrenburg, Eltz, Schönburg und Waldeck sowie aber noch ungedruckt: Regina Schäfer, „Luxusproduktion in Mainz zur Zeit Gutenbergs. Handwerker und Auftraggeber“, in: Reviewing Gutenberg. Historische Kontexte und Rezeptionen, hg. von Michael Matheus/Heidrun Ochs, Tagung Mainz 23./24.2.2018, Druck voraussichtlich 2019. 61 Regesten der Pfalzgrafen bei Rhein, Bd. 1: 1214–1400, bearb. von Adolf Koch/Jakob Wille, Innsbruck 1894; Regesten der Pfalzgrafen bei Rhein, Bd. 2: Regesten König Ruprechts 1400–1410, bearb. von Ludwig Graf von Oberndorf/Manfred Krebs, Innsbruck 1939, Regesten Nr. 5888, 5889. Hierzu auch oben Anm. 13. 62 Kurt Andermann, „Die Integration des Ritteradels in den Pfälzer Hof“, in: Die Wittelsbacher und die Kurpfalz im Mittelalter. Eine Erfolgsgeschichte?, hg. von Jörg Peltzer/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter/Alfried Wieczorek, Regensburg 2013, S. 231–244.

Burgmannen – Landadel – herrschaftliche Funktionsträger

weitere zu unterwerfen. Der Krieg wurde von beiden Seiten mit erheblichen Kosten geführt, unter anderem errichtete der Erzbischof die Gegenburgen Rauschenberg und Trutzelz. Eine Einbindung der adeligen Gegner erfolgte ebenfalls durch Lehensbindung und Amtsmannschaft. Der Eltzer wurde Burggraf auf Trutzelz, der Schönburger auf Rauschenberg. Heinrich Beyer von Boppard, der Großvater des oben Genannten ist zeitgleich kurtrierischer Schultheiß bzw. Amtmann in Boppard und in Oberwesel, Burggraf im sogenannten Königshof in Boppard und Erbburggraf zu Sterrenberg; er stand folglich auf der anderen Seite, ohne dass es zu einem dauerhaften Bruch in der Adelsgruppe kam.

IV. Was lässt sich also an besonderen Merkmalen des mittelrheinischen Adels fassen? Einige Beobachtungen seien als Thesen zur Diskussion gestellt: 1. Der Adel ist im 14. Jahrhundert am Mittel­rhein im Fluss. Einzelne Familien, aber auch Personen, welche für ein oder zwei Generationen eine bedeutende Rolle am Mittel­rhein gespielt haben, verschwinden, andere Gruppen rücken nach. 2. Der Blick allein auf den Adel ist zu eng gefasst. Die Adeligen müssen nicht nur nach oben hin, als Lehnsmänner und Amtsträger der Fürsten gesehen werden, sondern auch in ihrer Bindung an ihre Herkunfts- oder Wirkungsstadt. Stadt und Stift, Adel und Bürger bilden Schnittmengen. In den Städten aber auch in den Dörfern, bei der Stadtverteidigung oder beim Kirchenbau wirkten Adelige und Nichtadelige am Mittelrhein, in Rheinhessen und im Rheingau eng miteinander, wie Eberhard Nikitsch es für die Liebfrauenkirche in Oberwesel wahrscheinlich gemacht hat.63

63 Eberhard J. Nikitsch, „Ein Kirchenbau zwischen Bischof und Stadtgemeinde. Zur Bauinschrift von 1308“, in: Die Liebfrauenkirche in Oberwesel, Worms 2002 (Forschungsberichte zur Denkmalpflege, 6), S. 133–142.

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3. Daraus ergeben sich weitere Schlussfolgerungen: Der Adel ist durchaus stark an die dort befindlichen Städte und bedeutenden Stifte gebunden. 4. Durch die Territorialisierung der Fürstentümer werden die Spitzenfamilien des Adels verdrängt bzw. weichen in andere Landschaften aus, auch um die Reichsfreiheit zu bewahren. Fast keine Familie sitzt im 16. Jahrhundert noch auf der namensgebenden Burg.64 5. Es gibt kein einheitliches Zentrum am Mittelrhein, weder einen Fürstenhof noch eine Stadt, welche den Adel fest zu binden vermochte. Dies ist in anderen Landschaften bereits anders und auch der Pfalzgraf baut in Heidelberg am Ende des 14. Jahrhunderts ein solches Zentrum auf, zieht den Adel an den Hof und in die Stadt. Dieser Hegemonialkreis wirkt auch auf den Adel am Mittelrhein, doch ihm bleiben noch eine Reihe weiterer Höfe, jene der drei geistlichen Kurfürsten und ebenso der Königshof. Das wichtigste Kommunikationszentrum der Region ist die Stadt Mainz. 6. Wichtig für die Aktivierung von Teilen des Adels waren in der Regel Einzelpersönlichkeiten, entsprechend gestalteten sich die Aktionsgruppen auch sehr unterschiedlich in ihrer Zusammensetzung, es gab also noch keine festen Bündnisstrukturen. In der Eltzer Fehde war Johann von Eltz die treibende Kraft, welche die Verwandten und Ganerben der anderen Burgen zu überzeugen vermochte. Johann von Milwalt dagegen unternahm seine langjährige Fehde gegen seinen Lehensherrn, den Grafen von Katzen­ eln­bogen, weitgehend allein. Die Netze lassen sich besonders gut in Fehden fassen, dass es auch andere gab, bezeugt der 1426 greifbare internationale Freundeskreis des Winand von Steeg.65

64 Gensicke 1965 (wie Anm. 1), S. 137. 65 Enno Bünz, „Winand von Steeg (1371–1453)“, in: Verfasserlexikon, Bd. 10, 1998, Sp. 1181–1189; ders., „Winand von Steeg“, in: Rheinische Lebensbilder, Jg. 15, 1995, S. 43–64; Winand von Steeg (1371–1452), ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler und die Bilderhandschrift über Zollfreiheit des Bacharacher Pfarrvereins auf dem Rhein aus dem Jahre 1426, Handschrift 12 des Bayerischen Geheimen Hausarchivs zu München, hg. von Aloys Schmidt/Hermann Heimpel, München 1977.

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Regina Schäfer

7. Folglich kann man nicht sagen, wie weiträumig das Netz des Adels war. Es gab sehr unterschiedliche Geflechte. Zudem hakten sich die Adeligen in die Netzwerke der Städte wie der Fürsten ein, ja, sie bilden für Städte und Fürsten die Netzwerke wie gerade die pfalzgräflichen Familien in den Domkapiteln zeigen.66 8. Karl. E. Demandt hat seinem Regestenwerk zu den Grafen von Katzenelnbogen auch ein Verzeichnis der Siegelbeschreibungen vorangestellt. Dies umfasst fast 400 Adelsfamilien. Mit all diesen Adeligen hatten die Grafen von Katzenelnbogen, die 1486 ausstarben, eine wie immer geartete Verbindung. Sie waren gräfliche Vasallen oder Amtmänner, Ganerben

oder Zeugen, Fehdegegner oder Schuldner und vieles mehr.67 Der Adel am Mittelrhein ist außerordentlich zahlreich, heterogen und schlecht erforscht. Zu oft wird er als ein Block des Ritteradels gesehen und hinsichtlich der Vielfalt, aber auch der Wirkungsmöglichkeiten unterschätzt. Die Arbeiten von Gabriel Eggert zum Adel um Bacharach und von Raoul Hippchen zur Stadt Bingen werden für diese beiden wichtigen Städte und – dank der Vernetzung des Adels – auch darüber hinaus eine neue Basis legen. Die Inschrifteneditionen68 wie die Kulturdenkmäler-Bände69 haben das Überlieferte erschlossen. Der Zugriff über die bei Demandt verzeichneten Siegelbilder und die Wappen ermöglicht aber vielleicht auch für Kunsthistoriker noch weitere Zuschreibungen.70

66 Fouquet 1987 (wie Anm. 27).

67 Demandt 1953–1957 (wie Anm. 22), S. 2374–2378. Fürsten sowie Grafen und Herren hat Demandt hier nur vereinzelt angeführt, in das Verzeichnis sind auch Städter aufgenommen, die über ein Siegel verfügten und deren adelige Qualität zu diskutieren wäre, da die Quelle hierzu keine Aussage macht; vgl. dazu oben. 68 Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises I. (Boppard, Oberwesel, St. Goar), bearb. von Eberhard J. Nikitsch, Wiesbaden 2004 (Die Deutschen Inschriften, 60/ Mainzer Reihe, 8); Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises II. (ehem. Lkrs. Simmern und westlicher Teil des ehem. Lkrs. St. Goar), bearb. von Eberhard J. Nikitsch, Wiesbaden 2010 (Die Deutschen Inschriften, 79/ Mainzer Reihe, 12). 69 Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.3: Stadt St. Goar, 2 Bde., bearb. von Eduard Sebald, München 2012 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 10); Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Ehemaliger Kreis St. Goar. Stadt Oberwesel, 2 Bde., bearb. von Eduard Sebald, München 1997 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 9). 70 Mehrere hundert Abbildungen bietet der Band von Rolf Zobel, Wappen an Mittelrhein und Mosel, München 2009, der allerdings die Familienverbände nicht immer deutlich erkennen lässt. Vgl. zu den Wappenverbänden zuletzt Ochs 2014 (wie Anm. 20).

Raoul Hippchen / Heidrun Ochs

Stadtadel – Patriziat – Funktionselite Struktur und Verflechtung von Führungsgruppen mittelrheinischer Städte – Eine Skizze

Die Gesellschaften der mittelalterlichen Städte scheinen zuweilen Entitäten und Solitäre in einer herrschaftlich geprägten Umwelt zu sein. Während die städtischen Netzwerke, die durch Städtebünde, Kommunikation zwischen den Räten oder die Hilfe von Ratsvertretern in Notlagen entstanden, mehrfach untersucht wurden1, ist die gesellschaftliche Verflechtung von Städten auf personeller Ebene bislang nur vereinzelt in den Blick genommen worden2. Auch für das Gebiet des Mittelrheins, in dem – bedingt durch die Attraktivität des Rheins – eine Vielzahl an Herren auf engem Raum nebeneinander Herrschaftsrechte besaßen und das sich durch seine große Dichte an

Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten und nur um die wichtigsten Literaturangaben ergänzt. Die Skizze basiert auf den Dissertationen der beiden Verfasser. Bei Aussagen, die auf diesen Arbeiten beruhen, wird im Folgenden auf Einzelnachweise verzichtet. Vgl. Raoul Hippchen, Soziale Verflechtung und politische Ordnung. Städtische Eliten des späten Mittelalters in Bingen am Rhein, Diss. masch., Mainz 2018; Heidrun Ochs, Gutenberg und sine frunde. Studien zu patrizischen Familien im spätmittelalterlichen Mainz, Stuttgart 2014 (Geschichtliche Landeskunde, 71). 1 Aus der Fülle der Arbeiten zu den zwischenstädtischen Verflechtungen sei hier lediglich auf folgende Arbeiten verwiesen: Städtebünde. Zum Phänomen interstädtischer Vergemeinschaftung von Antike bis Gegenwart, hg. von Ferdinand Opll/Andreas Weigl, Innsbruck u. a. 2017; Ligues urbaines et espace à la fin du Moyen Âge = Städtebünde und Raum im Spätmittelalter, hg. von Laurence Buchholzer-Rémy/Olivier Richard, Straßburg 2012; Sigrid Schmitt, „Städtische Gesellschaft und zwischenstädtische Kommunikation am Oberrhein. Netzwerke und Institutionen“, in: Historische Landschaft – Kunstlandschaft? Der Oberrhein im späten Mittelalter, hg. von Peter Kurmann, Ostfildern 2008 (Vorträge und Forschungen, 68), S. 275–306; Bernhard Kreutz, Städtebünde und Städtenetz am Mittelrhein im 13. und 14. Jahrhundert, Trier 2005 (Trierer Historische Forschungen, 54). 2 So wurde etwa für die kurtrierischen Orte an Rhein und Mosel festgestellt, dass „über personelle Geflechte der Herrschaftssicherung und des Kommunikationstransfers eng gewobene Städtenetze“ entstanden seien. Monika Escher/Frank G. Hirschmann, Die urbanen Zentren des hohen und späteren Mittelalters. Vergleichende Untersuchungen zu Städten und Städtelandschaften im Westen des Reiches und in Ostfrankreich, 3 Bde., hier Bd. 1: Thematischer Teil, Trier 2005 (Trierer Historische Forschungen, 50), S. 525.

Städten, die Vielfalt an Städtetypen und verschiedenen Stadtherren auszeichnete, steht die politische Zusammenarbeit der Städte außer Frage. Fragen nach sozialen Verbindungen zwischen den städtischen Gesellschaften sind jedoch noch weitgehend offen. Indes weisen erste Beobachtungen auf der Grundlage prosopografischer Arbeiten zu Bingen und Mainz auf eine vielfältige und recht starke Verflechtung zwischen den Führungseliten der mittelrheinischen Städte hin als Ausschnitte jener Netzwerke, die für die Entstehung der vielfältigen und heterogenen Architektur im Spätmittelalter eine Rolle gespielt haben könnten. Netzwerk ist dabei einer jener Begriffe, die heute in der Geschichtswissenschaft allgegenwärtig sind3. Er hat das Instrumentarium zur Erforschung der städtischen Führungsgruppen erweitert, in dem auf der Grundlage feststellbarer Netzwerke gefragt wird, in welcher Weise die Verflechtungen sozial wirksam waren. Die Netzwerke der städtischen Führungsgruppen öffnen dabei zugleich den Blick nach außen und stellen einen Teil der zwischenstädtischen Beziehungen und Städtenetze dar, die in der Stadtgeschichtsforschung starkes Interesse finden4. Für die mittelrheinischen Städte liegen bislang keine

3 Zur Rezeption des Netzwerk-Konzepts in der Geschichtswissenschaft vgl. etwa Morten Reitmayer/Christian Marx, „Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft“, in: Handbuch Netzwerkforschung, hg. von Christian Stegbauer/Roger Häußling, Wiesbaden 2010 (Netzwerkforschung, 4), S. 869–880; Robert Gramsch, Das Reich als Netzwerk der Fürsten. Politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) 1225–1235, Ostfildern 2013 (Mittelalter-Forschungen, 40), insbes. S. 15–18; Mark Häberlein, „Netzwerkanalyse und historische Elitenforschung. Probleme, Erfahrungen und Ergebnisse am Beispiel der Reichsstadt Augsburg“, in: Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, hg. von Regina Dauser/Stefan Hächler/Michael Kempe/Franz Mauelshagen/Martin Stuber, Berlin 2008 (Colloquia Augustana, 24), S. 315–328, hier insbes. S. 315–319. 4 Schmitt 2008 (wie Anm. 1).

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Raoul Hippchen / Heidrun Ochs

solchen Untersuchungen vor, was nicht zuletzt durch das weitgehende Fehlen prosopografischer Studien bedingt sein dürfte. Deshalb möchte der vorliegende Beitrag nicht den Anspruch erheben, die Netzwerke der Führungseliten zu rekonstruieren und umfassend zu untersuchen. Vielmehr stellt er den Versuch dar, eine erste Skizze dieser Verflechtungen, ihrer Formen und Bedingungen zu entwerfen und Anregungen zu weiteren Arbeiten zu bieten. Dazu werden nach einer kurzen Klärung der Begriffe zunächst an einem Beispiel typische Verflechtungsmuster beschrieben. Anschließend soll versucht werden, unter Hinzuziehung weiterer Beispiele einigen wesentlichen Formen und Bedingungen der Verflechtung systematisierend nachzuspüren.

Als Mittelrhein wird hier derjenige Abschnitt des Rheintals verstanden, der zwischen Speyer und Koblenz liegt und die angrenzenden Höhenlagen sowie auch die Unterläufe der Nebenflüsse umfasst, sodass auch die Reichsstadt Frankfurt einbezogen wird. Dieses alte Kerngebiet des Reiches war durch eine kleinteilige politische Gliederung und die fürstlichen Territorialstaaten geprägt, denen hier neben den anderen Territorien auch gewachsene Strukturen städtischer und dörflicher Eigenständigkeit gegenüberstanden. Die große Anzahl der Städte belegt eindrücklich den hohen Urbanisierungsgrad, wobei die herrschaftliche Einbindung der Städte sowie deren Verwaltung im Spätmittelalter sehr verschieden war: Frankfurt blieb bis in die Neuzeit Reichsstadt, Mainz, Worms und Speyer waren Freie Städte und die übrigen Städte gehörten spätestens seit dem 14. Jahrhundert zu den Territorien der rheinischen Kurfürsten oder einzelner Grafenfamilien5.

In vielen mittelrheinischen Städten lässt sich schon im 13. Jahrhundert ein Stadtrat nachweisen, und bis ins 14. Jahrhundert hinein entwickelte sich selbst in den kleinen Städten eine solche Form der Gemeindevertretung. Häufig zerfielen die Räte in Teile mit verschiedenen Zugangsmöglichkeiten – etwa in eine stadtherrliche Schöffenbank und aus der Gemeinde gewählte Ratsherren wie in Bingen oder in einen alten Rat aus Hausgenossen bzw. Patriziern und einen neuen Rat aus Zunftvertretern wie in Mainz. Auch ohne solche formalen Aufteilungen konkurrierten verschiedene Gruppen um den Zugang. In der Regel wurden sie gerade in der Frühzeit durch herrschernahe Gruppen dominiert – Ministeriale, Schöffen, Hausgenossen, Ritter –, die dann ihre aus der herrschaftlichen Funktion abgeleiteten Ansprüche auf die Führung gegen die Partizipationsansprüche anderer, nachrückender Gruppen zu behaupten suchten. Aufbau, Zusammensetzung und Rekrutierung der Räte zeigen eindrücklich, wie unterschiedlich die gesellschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnisse in den mittelrheinischen Städten gewesen sind. Zudem belegen die Auseinandersetzungen um den städtischen Rat, dass auch in diesen zum Teil sehr kleinen Städten mit differenzierten urbanen Gesellschaften zu rechnen ist. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit es in den Städten am Mittelrhein Stadtadel, Patriziat und Funktionseliten gegeben hat. Gerade für diese Frage spielt der Rat eine zentrale Rolle, denn eine herausgehobene soziale Position ging in der Stadt mit der Ratsfähigkeit einher, also mit der Möglichkeit zur Ausübung von Herrschaft. Die verschiedenen in der Forschung verwendeten Begriffe sind an dieser Stelle ganz knapp in dem im Folgenden verwendeten Sinn zu skizzieren: Funktionselite, als umfassendster Begriff, meint sämtliche Inhaber von – oft an bestimmte Ämter gebundenen – entscheidenden gesellschaftlichen Funktionen, ohne dass der Begriff eine Gruppenidentität voraussetzt.

5 Zur herrschaftlichen Situation und den Städten am Mittelrhein vgl. Raoul Hippchen/Heidrun Ochs/Regina Schäfer, „Der Mittelrhein. Konkurrenz der Herrschaften und Motor des Handels“, in: Schrei nach Gerechtigkeit. Leben am Mittelrhein am Vorabend der Reformation, hg. von Winfried Wilhelmy, Regensburg 2015 (Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz, 6), S. 17–25; Joachim Schneider, „Entfaltung regionaler Ordnungen im späten Mittelalter“, in: Kreuz – Rad – Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte, hg. von

Lukas Clemens/Franz-Josef Felten/Matthias Schnettger, Bd. 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches, Darmstadt 2012, S. 305–338; Gerold Bönnen, „Handel und Gewerbe, Städtewesen und jüdische Gemeinden, in: ebd., S. 419–464; Matthias Schmandt, „Die mittelalterlichen S­ tädte im Rheintal von Bingen bis Koblenz“, in: Stadt und Burg am Mittel­rhein (1000–1600), bearb. von Beate Dorfey, Regens­burg 2008 (Faszination Mittelalter, 1), S. 27–52.

Der Mittelrhein und seine Funktionseliten – Begriffsklärungen

Stadtadel – Patriziat – Funktionselite

Führungsgruppe impliziert dagegen, dass es – wie im Stadtrat – einen Bewusstseinszusammenhang gab zwischen denjenigen, die die entscheidenden Funktionen und Kompetenzen innerhalb eines Gemeinwesens innehatten, wobei diese Zugehörigkeit auch für ihre gesamten Familien beansprucht werden konnte. Beim Patriziat kommt hinzu, dass dieser Kreis von Familien häufig rechtlich privilegiert war, sodass dessen Vorrangstellung und der Zugang zur patrizischen Führungsgruppe durch die Zugehörigkeit zu diesen Familien und damit geburtsständisch begründet waren. Das trifft am Mittelrhein auf die Geschlechter und Hausgenossen in Frankfurt, Mainz, Worms und Speyer zu, wobei es phasenweise auch bei den Bopparder und Oppenheimer Rittern sowie bei den Koblenzer und Binger Schöffen dazu Tendenzen gab6. Im Unterschied zu diesen funktionellen und rechtlichen 6 Zu Frankfurt siehe Andreas Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt am Main. Geschichte des reichsstädtischen Patriziats, Wien u. a. 2014; Pierre Monnet, „Élites dirigeantes et distinction sociale à Francfort-sur-le-Main (XIVe-XVe siècles)“, in: Francia, Jg. 27, 2000, H. 1, S. 117–162; ders., „Führungseliten und Bewußtsein sozialer Distinktion in Frankfurt am Main (14. und 15. Jahrhundert)“, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Jg. 66, 2000, S. 12–77; zu Worms vgl. Geschichte der Stadt Worms, hg. von Gerold Bönnen, Stuttgart 2015; zu Speyer vgl. Ernst Voltmer, „‘Zwölf Männer, nach deren Beschluß die Stadt regiert werden soll‘. Der Speyerer Rat im Mittelalter“, in: 800 Jahre Speyerer Stadtrat, bearb. von dems., hg. von der Stadtverwaltung Speyer, Speyer 1999 (Schriftenreihe der Stadt Speyer, 11), S. 27–80; Gerold Bönnen, „Gemeindebildung und kommunale Organisation in Worms und Speyer (1074 bis ca. 1220)“, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 74, 2010, S. 19–56; zu Koblenz vgl. Raoul Hippchen, „Schultheißen und Schöffen als Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Das Beispiel der mittelrheinischen Städte Bingen und Koblenz (13.–15. Jahrhundert)“, in: Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas, hg. von Elisabeth Gruber, Innsbruck 2013 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 56), S. 243–268; Klaus Eiler, Stadtfreiheit und Landesherrschaft in Koblenz. Untersuchungen zur Verfassungsentwicklung im 15. und 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1980 (Geschichtliche Landeskunde, 20); vgl. auch Sabine Happ, Stadtwerdung am Mittelrhein. Die Führungsgruppen von Speyer, Worms und Koblenz bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2002 (Rheinisches Archiv, 144); zu Boppard vgl. Otto Volk, „Boppard im Mittelalter“, in: Boppard. Geschichte der Stadt, hg. von Hans-Helmut Wegner/Heinz E. Mißling, Bd. 1: Von der Frühzeit bis zum Ende der kurfürstlichen Herrschaft, Boppard 1997, S. 61–412; zu Oppenheim vgl. Dorothea Held, „Der Oppenheimer Rat im Mittelalter“, in: Oppenheimer Hefte, Jg. 33, 2007, S. 2–16. Vgl. künftig auch die Arbeit von Gabriel Eggert, „Vernetzungen des Niederadels am Mittelrhein (1300–1500)“.

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Kategorien beschreibt dagegen der Begriff „Stadt­ adel […] sehr genau die Lebensform ‚Patriziat‘ “7. Das heißt, die städtischen Räte bestanden per se aus Funktionseliten, die eine Führungsgruppe bildeten, zu denen in vielen Fällen Gruppen wie die Patrizier einen privilegierten Zugang hatten. Auf die an ihnen beteiligten Familien und deren zwischenstädtische Verflechtungen konzentriert sich die folgende Skizze, wobei andere Verflechtungen – etwa zu geistlichen Institutionen und Fürstenhöfen – unberücksichtigt bleiben müssen.

Stefanshenne – zwischen Bingen und Frankfurt und am Mittelrhein Stefanshenne, der vermutlich den Namen Werner Stefanshenne trug und um das Jahr 1400 geboren wurde, begegnet uns erstmals 1435 als Schöffe und Ratsherr in Bingen. Dem Binger Schöffengericht kamen seit jeher neben der eigentlichen Gerichtsbarkeit umfangreiche, auch verwaltungstechnische Aufgaben zu. Über ihre Führungsfunktionen entwickelten sich die Gerichtsleute zu wichtigen Ansprechpartnern sowohl für den Stadtherrn als auch die Gemeinde. Entsprechend bildete die Schöffenbank hier auch den Kern und die eine Hälfte des Stadtrates. Bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde sie vor allem durch alteingesessene Bürgerfamilien und Niederadlige besetzt, die in der Regel in enger Verbindung zum Mainzer Erzbischof standen. Mit der Übernahme der Stadtherrschaft durch das Mainzer Domkapitel 1424, dann endgültig 1438, wandelte sich die Rekrutierung der Schöffen, die nun zunehmend aus neuen Familien genommen wurden. Auch Stefanshenne scheint zu diesen Neuen gezählt zu haben. In jedem Fall muss er von den amtierenden Schöffen als Nachrücker für einen verstorbenen Kollegen kooptiert worden sein und auch die Zustimmung der Stadtherrschaft gefunden haben. Damit wurde er als Schöffe zugleich auch Mitglied im Stadtrat. Neben anderen adligen und bürgerlichen Schöffen war Stefanshenne bis mindestens 1449 im Binger Rat und Gericht. 7 Gerhard Fouquet, „Städtische Lebensformen im Spätmittelalter. Neue Perspektiven und neue Forschungen“, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, Jg. 22, 1999/2000, S. 11–36, hier S. 24.

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Raoul Hippchen / Heidrun Ochs

Er bewohnte ein großes Haus in der Kirchgasse, einer der besten bzw. steuerstärksten Lagen der Stadt und zählte in der Binger Haussteuerliste des Jahres 1468 zur Top Ten der wohlhabenden Bürger. Die Grundlage seines Reichtums bildeten Renten und Gülten, die Vergabe von Krediten und der überregionale Handel mit verschiedenen Tuchen, der ihn auch bis nach Nürnberg und Frankfurt führte. In Frankfurt lernte er seine Ehefrau kennen: Spätestens Ende der 1430er Jahre heiratete er Agnes Eck, die Tochter von Johann Eck, einem Frankfurter Händler, Ratsherrn und Mitglied der Frankfurter Gesellschaft Frauenstein. In den 1450er Jahren bezog Stefanshenne mit seiner Frau ein Haus in Frankfurt, wo er spätestens 1457 das Bürgerrecht erwarb. Auch wenn er gleichzeitig weiter einen Haushalt in Bingen führte, dort Steuern zahlte und eventuell beide Bürgerrechte innehatte, verlagerte sich damit sein Lebensmittelpunkt nach Frankfurt. Ein Grund für den Umzug könnte die Attraktivität der Frankfurter Messe für den Großhändler gewesen sein, den Anlass aber bildete vermutlich die Erbschaft seiner Frau nach dem Tod des Schwiegervaters 1455, zu der auch das Haus gehörte. Wie nachhaltig die Umorientierung des Binger Schöffen wirkte, zeigt sich daran, dass er aus seinem umfangreichen Besitz vor seinem Tod (am 5. November 1475) die Stefanskapelle an der Frankfurter Barfüßerkirche stiftete, die seiner Familie bis ins späte 17. Jahrhundert als Grablege dienen sollte. In Frankfurt eröffneten Stefanshenne sein Reichtum und seine geschäftlichen wie familiären Verbindungen den Zugang zu den Patriziergesellschaften Laderam und Frauenstein, in der auch sein Schwager, der Ratsherr und Schöffe Jost Eck, Mitglied war. Die Führungsgruppe des Frankfurter Rats war stark durch die patrizischen Gesellschaften Laderam, Frauenstein und allen voran Alten Limpurg geprägt. Aus ihnen rekrutierten sich vornehmlich die erste Ratsbank der Schöffen und die zweite Ratsbank, während sich die Zünfte eine Beteiligung in einer dritten Ratsbank erst erkämpfen mussten. Die Aufnahme des Binger Schöffen-Ratsherrn und Tuchhändlers in die Frankfurter Gesellschaften bildete nur eine Etappe beim sozialen Aufstieg der Familie. Stefanshenne hatte auf seine Binger Ämter verzichtet, in Frankfurt aber selbst keinen Zugang zu den städtischen

Gremien gefunden. Anders war das allerdings bei seinem Enkelsohn und bei seinen zahlreichen Schwiegersöhnen, die aus den höchsten Kreisen des Frankfurter Patriziats stammten. Dazu zählten der aus altehrwürdiger Familie stammende Ratsherr Wicker Frosch, der Ritteradlige und Sohn des Frankfurter Reichsschultheißen Eberhard von Heusenstamm, die Schöffen und Ratsherren Georg Blum und Johann vom Rhein sowie der Frankfurter Junker Peter Fürstenberg. Um von letzterem aus das Netz noch etwas weiter zu spannen: Die Fürstenberger stammten wiederum aus dem Mainzer Patriziat. In Mainz besetzten die Geschlechter lange Zeit exklusiv den städtischen Rat und beherrschten die städtischen Ämter, bis ihre Alleinherrschaft im Rat durch den Erfolg der Gemeinde in den innerstädtischen Unruhen 1332 beendet wurde. Gegenüber den zünftischen Vertretern im neuen Rat zeichneten sie sich durch ihre wirtschaftlichen und geburtsständischen Privilegien sowie ihre Nähe zum Erzbischof aus. Die Fürstenberger hatten sich im Zuge der innerstädtischen Auseinandersetzungen im 15. Jahrhundert im Rheingau niedergelassen, wohin seit jeher für die Mainzer Patrizier enge Verbindungen bestanden. Peter bekleidete dort um 1470 das Amt des erzbischöflichen Untervitztums. Über seine Großmutter Grete zum Jungen war Peter mit dem ebenfalls aus Mainz stammenden weitverzweigten Geschlecht derer zum Jungen verbunden. Dessen Mitglieder hatten sich seit 1420 in Frankfurt, Oppenheim und Eltville niedergelassen. Peter selbst lebte im rheingauischen Mittelheim, erscheint aber auch in Rüdesheim, Bingen und in Frankfurt. Dort wurde er trotz auswärtigem Wohnsitz 1474 in Alten-Limpurg aufgenommen, der exklusivsten der Frankfurter Patriziergesellschaften. Sein Sohn Philipp war einer der bedeutendsten Frankfurter Schöffen und Ratsherren der Reformationszeit. Peters Bruder Heinrich Fürstenberger lebte dagegen als Händler in Köln. Bezeichnenderweise heiratete dessen gleichnamiger Sohn (also Peters Neffe) dort Mitte des 16. Jahrhunderts Adelheid Pilgrum, die Witwe des Kaufmanns Hieronymus Federhenn. Dieser war wiederum der Enkelsohn eines Binger Kaufmanns und ehemaligen Bürgermeisters, der zunächst von Bingen aus seine Geschäfte am gesamten Mittelrhein und bis nach Luxemburg betrieb, bevor er schließlich in den 1480er Jahren seinem Sohn nach Köln folgte,

Stadtadel – Patriziat – Funktionselite

der dort Zugang zum Rat fand. Nimmt man noch die Schwäger von Peter Fürstenberger hinzu, zeigt sich die regionale Ausdehnung der familiären Verbindungen: von Bingen und Mainz über Frankfurt, Worms, Oppenheim, den Rheingau und Bacharach bis nach Köln und wieder zurück nach Bingen.

Formen und Bedingungen der Verflechtung Das Beispiel von Stefanshenne steht keineswegs alleine. Wenngleich eine systematische Untersuchung der Verflechtung der mittelrheinischen Führungsgruppen im Moment noch nicht zu leisten ist, lassen das Beispiel des Stefanshenne und weitere Beobachtungen zu den mittelrheinischen Städten erste Befunde zu Formen der Verflechtung sowie Ausmaß, Intensität und Reichweite der komplexen Netzwerke zu, die in vier Punkten zumindest angedeutet werden sollen. Für die Migration, als eine der „deutlichsten Verbindungslinien“8 zwischen den Städten, finden sich im Untersuchungsraum zahlreiche Beispiele: Patrizische Familien aus Mainz, wie die zum Jungen, die zur Jungen Aben, die Gensfleisch und die Fürstenberger, gingen nach Frankfurt, Oppenheim und Eltville; Mitglieder der Familie Nussbaum, einer Schöffenfamilie aus dem kleinen Rüdesheim am Rhein, waren um 1500 auch in Bingen, Mainz und Bad Kreuznach präsent und hatten dort städtische Ämter inne; die adlige Familie Fudersack aus Steeg, das zur Viertälergemeinde Bacharach gehörte, war mehrfach in Bacharach an Rat und Gericht beteiligt und findet sich später in gleichen Positionen auch in Heimbach und in Oberwesel9. 8 Schmitt 2008 (wie Anm. 1), S. 298. 9 Bernhard Kirchgässner, „Heinrich Göldlin. Ein Beitrag zur sozialen Mobilität der oberdeutschen Geldaristokratie an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert“, in: Aus Stadt- und Wirtschaftsgeschichte Südwestdeutschlands. Festschrift für Erich Maschke zum 75. Geburtstag, hg. von Friedrich Facius/Jürgen Sydow, Stuttgart 1975 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, B/85), S. 97–109; Friedrich Ludwig Wagner, „Die adligen Geschlechter des Viertälergebietes von Bacharach“, in: Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde, Jg. 16, 1952/54, Sp. 19–30; Rolf Göttert, „Der Rüdesheimer Ortsadel“, in: Notizen aus dem Stadt-Archiv. Beiträge zur Rüdesheimer Stadtgeschichte, Jg. 120, 2004, S. 1–10; Ernst von Oidtman, „Die adeligen Geschlechter von Rüdesheim“, in: Mitteilungen der Westdeutschen

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Die Gründe für die Migration, die push- und pull-Faktoren, konnten im familiären, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und herrschaftlichen Bereich liegen und waren oft miteinander verwoben10. Änderungen in Stadtverfassung und -herrschaft konnten zu push-Faktoren werden. Als sich in Mainz mit dem Erstarken der Zünfte ein Wandel im Normenhorziont bemerkbar machte, verließen Teile der Mainzer Geschlechter die Stadt. Unter anderem zogen Heinrich zum Jungen und seine Familie nach Oppenheim. Gesellschaft für Familienkunde, Jg. 2, 1918/21, S. 265–290 und Jg. 4, 1924/26, S. 34–36. Probleme bei der Identifikation der Personen betreffen zum einen die Frage, ob Personen mit einem entsprechenden Zunamen aus der jeweiligen Stadt kamen (etwa de Pingiua, Dürckheimer), und resultieren zum anderen aus der Tatsache, dass Namensgleichheit nicht bedeuten muss, dass es sich um dieselbe Familie handelt. So gibt es mehrere Familien mit dem Namen zur Laden in Mainz, aber auch in Andernach, zum Maulbaum in Worms und Mainz oder Heinsberg in Bingen, Frankfurt und Kaiserslautern. 10 Dirk Hoerder/Jan Lucassen/Leo Lucassen, „Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung“, in: Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Klaus J. Bade u. a., Paderborn u. a. 2007, S. 28–53; Klaus J. Bade, „Historische Migrationsforschung“, in: Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Vorträge auf dem Deutschen Historikertag in Halle a. d. Saale, 11. September 2002, hg. von dems., Osnabrück 2002 (I-MIS-Beiträge, 20/2002), S. 21–44; Ludwig Schmugge, „Mobilität und Freiheit im Mittelalter“, in: Die abendländische Freiheit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1991 (Vorträge und Forschungen, 39), S. 307–324, hier insbes. S. 319, stellt die Frage, ob soziologische Erklärungsmodelle auf das Mittelalter übertragbar seien und benennt vor allem demografische Faktoren sowie Statusinkonsistenz, Sozialprestige und Transilient-Phänomen Erklärungsmodelle für Migrationsbewegungen. Beispiele: Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, hg. von Michael Borgolte, Berlin 2014; Jochen Hermel, „Von der Main- zur Rheinmetropole. Bürgerliche Mobilität und Migration im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert am Beispiel der Reichsstädte Köln und Frankfurt“, in: O felix Agrippina nobilis Romanorum Colonia. Neue Studien zur Kölner Geschichte – Festschrift für Manfred Groten zum 60. Geburtstag, hg. von Andreas Rutz/ Tobias Wulf, Köln 2009 (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, 48), S. 95–111; Bruno Koch, Neubürger in Zürich. Migration und Integration im Spätmittelalter, Weimar 2002 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, 40); Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), hg. von Rainer Christoph Schwinges, Berlin 2002 (Zeitschrift für Historische Forschung, 30); Heidrun Ochs, „Kontakte Krakauer Patrizier zu den elsässischen und pfalzgräflichen Städten“, in: Elita władzy miasta Krakowa i jej związki z miastami Europy w średniowieczu i epoce nowożytnej (do połowy XVII wieku). Zbiór studiów, hg. v. Zdzisław Noga, Kraków 2011, S. 123–148.

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Raoul Hippchen / Heidrun Ochs

Heinrichs Beziehungen zum Pfalzgrafen und die dortigen Burglehen gestatten ihm ein (stadt-) adliges Leben, das ihm in Mainz nicht mehr möglich schien. Für andere Mainzer Familien war erst die Mediatisierung der Stadt, die die Auflösung des städtischen Rates nach sich zog, der Anlass, die Stadt zu verlassen. Aus einem vergleichbaren Grund gingen Mitglieder von Binger Schöffenfamilien nach der Übernahme der Stadtherrschaft durch das Domkapitel in den Rheingau, wo sie im Dienste des Mainzer Erzbischofs verbleiben konnten. Umgekehrt – also als pull-Faktor – zog der Ausbau von Koblenz zum kurtrierischem Verwaltungsmittelpunkt Hofleute und Gelehrte in die Stadt, wo sie vom Trierer Erzbischof Ämter erhielten und die Führungsgruppe neu strukturierten11. Zu den Faktoren für die Attraktivität von Städten zählen auch die Schulen und Universitäten. Um seinen Söhnen eine Schulausbildung zu ermöglichen, schickte ihr Vater, Schöffe aus der kleinen Stadt Gemünden im Hunsrück, sie an die Lateinschule in Frankfurt. Der Enkel des Schöffen, Johann Fichard, studierte Jura, war Advokat und Prokurator am Reichskammergericht und wurde in der Frankfurter Patriziergesellschaft Alten-Limpurg rezipiert12.

11 Zur Stadt Koblenz und ihrem Ausbau als Verwaltungsmittelpunkt vgl. Dieter Kerber, Herrschaftsmittelpunkte im Erzstift Trier. Hof und Residenz im späten Mittelalter, Sigmaringen 1995 (Residenzenforschung, 4); Eiler 1980 (wie Anm. 6). 12 Hansert 2014 (wie Anm. 6); Michael Matheus, „Schnittstellen zwischen Kirche und Welt. Spätmittelalterliche Bildungseinrichtungen am Mittelrhein“, in: Konstanz und Wandel. Religiöse Lebensformen im europäischen Mittelalter, hg. von Gordon ­Blennemann/Christine Kleinjung/Thomas Kohl, Affalterbach 2016 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, 11), S. 247–280; ders., „Bildung am Mittelrhein um 1500. Schulen und Alphabetisierung“, in: Wilhelmy 2015 (wie Anm. 5), S. 148–161; Rainer Christoph Schwinges, „Ordnung, Ämter und Karrieren. Die mittelalterlich-vormoderne Universität als soziale und kulturelle Institution“, in: Wissenschaft mit Zukunft. Die „alte“ Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, hg. von Andreas Speer/Andreas Berger, Köln u. a. 2016, S. 115–136 (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln, 19); Christian Hesse, „Das Repertorium Academicum Germanicum (RAG). Perspektiven zur Erforschung der Gelehrten, ihrer Netzwerke und ihres Wirkens im Alten Reich (1250–1550)“, in: Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-deutschen Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik, hg. von Christine Reinle, Affalterbach 2016 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters, 10), S. 53–64.

Wie mit der geografischen Mobilität die soziale Mobilität verbunden sein konnte, zeigt wieder der Fall des Stefannshenne. Die Ehe und der Eintritt in das Frankfurter Bürgerrecht ebneten den Weg von der Binger Funktionselite ins reichsstädtische Patriziat, der durchaus nicht selbstverständlich war. Bislang aber muss die Frage offenbleiben, wie die Ehe zustande kam bzw. ob es Standesunterschiede zwischen dem Mitglied der Führungsgruppe der kleinen landesherrlichen Stadt und der Tochter eines reichsstädtischen Ratsherrn gab. Die Ehe ermöglichte jedenfalls die nächsten Schritte des intergenerationellen Aufstiegs: die Aufnahme in die Patriziergesellschaft des Schwiegervaters, die Einheirat der Kinder in weitere Patrizierfamilien und -gesellschaften, der Eintritt der Erben in Rat und Gericht der Reichsstadt, schließlich die Verleihung eines kaiserlichen Wappenbriefes und die Anerkennung als Reichsadels-Familie in der Frühen Neuzeit. Eine zweite deutliche Verbindungslinie bilden Heiraten13. So war etwa das Netzwerk, das die Binger Schöffenfamilie Heinsberg durch Heiraten schuf, weit gespannt: Es umfasste neben anderen Binger Schöffenfamilien eine Rheingauer und eine Lahnsteiner Adelsfamilie, die zur dortigen städtischen Führungsgruppe zählte, eine Oberweseler Schöffenfamilie und das Frankfurter Patriziat. Während hier die Verbindungen breit gefächert sind, zeigen mehrere Eheschließungen zwischen Mitgliedern zweier Städte dauerhafte Verbindungen an. So heirateten Mitglieder derer zum Jungen insgesamt fünf Frauen aus Speyer, darunter auch die Tochter des dortigen Schultheißen. Eheschließungen geben uns nicht nur Informationen über Verbindungen zwischen den Führungsgruppen, sondern bieten uns zugleich die Möglichkeit, die Führungsgruppen der Städte sozial einzuordnen. Ohne dem hier weiter nachgehen zu können, stellen sich Fragen wie: Lassen Eheverträge Unterschiede in der sozialen Einschätzung der Ehepartner und ihrer Familien erkennen oder finden sich Heiratskreise, die sehr stark durch Gleichartigkeit ausgezeichnet sind? Grundsätzlich lässt sich davon ausgehen, dass nach der Eheschließung die beiden Familien als weitgehend gleichrangig erachtet 13 Zur Bedeutung der Heiraten für die zwischenstädtischen Beziehungen vgl. Schmitt 2008 (wie Anm. 1), S. 298.

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wurden. So bietet die Ehe von Steffanshenne und ­ gnes Eck ein Beispiel dafür, wie durch die Heirat der A soziale Aufstieg einer Binger Familie in das reichsstädtische Patriziat von Frankfurt erfolgen konnte. Wichtige Verbindungen sind die zahlreichen Geschäftsbeziehungen, die die Mitglieder von Führungsgruppen miteinander und mit anderen Bürgern unterhielten. Dieses weite Feld sei hier nur kurz angedeutet: Ausweis sind etwa die zahlreichen Renten und der Grundbesitz, die sie aus bzw. in anderen Städten besaßen. Auch bei der Frage nach dem Besitz spielten die Eheverbindungen eine große Rolle. So verband sich die Familie Pelz von Boppard, die die Bopparder Schöffen- und Ratsherrenbruderschaft mitbegründete, mit der zur Oberweseler Führungsgruppe gehörenden Familie Milwalt, die sie dann im 15. Jahrhundert beerbte und so Besitz in Boppard und Oberwesel in eine Hand brachte14. Zudem gab es auch gemeinsame Handelsgeschäfte und weitere Zusammenarbeit: So ließ Stefanshenne sich bei seinen Binger Kreditgeschäften vor Gericht von einem Binger Ratsherrn vertreten, während ein Mitglied der Frankfurter Patrizierfamilie Heusenstamm ihn in Nürnberg vertrat. Abschließend sei an einem Beispiel die Möglichkeit der (herrschaftlich vermittelten) lehnsrechtlichen und amtlich-funktionellen Beziehungen angedeutet. Nicht nur konnten Mitglieder einer Familie in mehreren Orten verschiedene Funktionen in Stadt, Burg oder Stift innehaben, sondern in manchen Fällen konnte die Verbindung über ein und dieselbe Person hergestellt werden. So war etwa Johann Rheingraf, dessen adlige Familie seit dem 13. Jahrhundert im Oberweseler Gericht saß, um 1380 nicht nur Ratsherr im kurtrierischen Oberwesel, sondern zugleich auch Ratsherr im kurpfälzischen Bacharach – also Diener zweier Herren in zwei Städten.

14 Vgl. Volk 1997 (wie Anm. 6); Isabelle Haßler, Wesalia Superior. Funktionseliten der Stadt Oberwesel im Mittelalter (Magisterarbeit Saarbrücken), Grin Verlag für akademische Texte 2007.

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Fazit In weiteren Arbeiten könnte anhand dieser Verbindungslinien das Ausmaß und Intensität der Verflechtung genauer untersucht werden, wären Akteure und Strukturen in ein Verhältnis zu setzen. Dabei wäre auch nach Strategien der Verflechtung, nach Vermittlern und Knotenpunkten von zwischenstädtischen Netzwerken zu fragen, sowie danach, ob die enge institutionelle Zusammenarbeit bestimmter Städte sich vielleicht auch in einer dichteren Verflechtung der jeweiligen führenden Familien spiegelt. Einige wichtige Beobachtungen lassen sich schon jetzt festhalten: Die Führungsgruppen der verschiedenen Städte am Mittelrhein waren sehr unterschiedlich strukturiert, sowohl hinsichtlich der formellen Zusammensetzung der Räte als auch hinsichtlich der tatsächlich am Rat beteiligten Familien und ihrer Offenheit bzw. Geschlossenheit. Trotz dieser Unterschiede und der herrschaftlich-territorialen Abgrenzungen waren die Verflechtungen zwischen diesen Gruppen eng und die Bewegung von der einen in die andere Führungsgruppe keine Seltenheit. Dabei konnte geografische Mobilität auch zur sozialen Mobilität führen. Die genannten Aspekte sind offensichtliche und direkte Verbindungen zwischen den Führungsgruppen der Städte. Sie entfalteten sich vor dem Hintergrund eines ständigen, alltäglichen Austauschs, sozusagen dem Grundrauschen der Beziehungen. Zu denken ist dabei an die Städtebünde des 13. und 14. Jahrhunderts inklusive gemeinsamer Bürgerrechte, die Delegationen von Ratsherren zur Unterstützung befreundeter Städte, an Handwerkerbünde, eine phasenweise gemeinsame Außenpolitik, geistliche Institute und übergreifende kirchliche Bezirke sowie dichte wirtschaftliche Zusammenhänge. Möglicherweise – so könnte als Hypothese formuliert werden – waren die Führungsschichten und Stadtgemeinden eben keine Solitäre, sondern Teile einer mittelrheinischen Gesamtgesellschaft, die keineswegs ohne inneren Zusammenhang war – und bisher erst in Ansätzen in den Blick genommen wurde.

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1 Karte des Mittelrheintals Ende des 15. Jahrhunderts, Territorien, Höhen- und Niederungsburgen, nach Vorgaben von Eduard Sebald, 2014.

2 Karte des Mittelrheintals Ende des 15. Jahrhunderts, Territorien, Städte, Minderstädte, nach Vorgaben von Eduard Sebald, 2014.

3 Karte des Mittelrheintals Ende des 15. Jahrhunderts, Territorien, Stadtmauern und Zollstellen, nach Vorgaben von Eduard Sebald, 2014.

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4 Bacharach, St. Peter, von Nordwesten.

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5 Bacharach, St. Peter, Apsis.

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6 Bacharach, Wernerkapelle, von Norden.

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7 Bacharach, Wernerkapelle, von Osten.

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8 Bingen, St. Martin, Ansicht von Südost.

9 Bingen, St. Martin, Pfeiler und Gewölbeansatz im Barbarabau.

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11 Bingen, St. Martin, Wappen des Erzbischofs Johann II. von Nassau in der südlichen Nebenapsis.

10 Bingen, St. Martin, Mittelschiff nach Osten.

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12 Boppard, St. Severus, Ostseite.

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13 Boppard, St. Severus, Mittelschiff.

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14 Boppard, St. Severus, Mittelschiffgewölbe.

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15 Braubach, Marksburg.

16 Capellen-Stolzenfels, Schloss Stolzenfels.

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17 Eltville am Rhein, Pfarrkirche St. Peter und Paul, Chorbogen mit Wappenversammlung um Johann II. von Nassau (1397–1419).

18 Esslingen, Pfarrkirche St. Dionys, Chor.

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19 St. Goar, Burg Rheinfels, Baualtersplan nach Vorgaben von Eduard Sebald, 2010.

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20 St. Goar, Stiftskirche, ­ esamtansicht von Osten. G

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21 St. Goar, Stiftskirche, Mittelschiff.

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22 St. Goar, Stiftskirche, Krypta.

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23 Ingelheim, Burgkirche.

24 St. Kastor in Koblenz, Reste der romanischen Mittelschiffsausmalung über dem Gewölbe, Muttergottes mit Kind (Ausschnitt aus der Anbetung der hl. drei Könige).

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Gesamtansicht des Mainzer Doms.

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26 Mainz, Dom, Schlussstein der ersten südlichen Seitenkapelle von Osten.

27 Mainz, Dom, Schlussstein der zweiten südlichen Seitenkapelle von Osten.

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28  Dom, Mainz, Gewölbeschlussstein im nördlichen Joch des westlichen Kreuzgangflügels mit dem erzbischöflichen Wappen eines Mitgliedes der Familie Nassau.

29  Dom, Mainz, Gewölbeschlussstein im zweiten Joch von Westen des südlichen Kreuzgangflügels mit dem erzbischöflichen Wappen eines Mitgliedes der Familie Nassau.

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30  Dom, Mainz, Längsschnitt der doppelläufigen Wendeltreppe mit Blick nach Osten; Zeichnung: GBVD mbH, 2005.

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31 Dom, Mainz, Grundriss der doppelläufigen Wendeltreppe in Höhe des Kreuzgangobergeschosses; Zeichnung: GBVD mbH, Müllheim, 2005.

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32 O  berwesel, Liebfrauen­ kirche von Süden.

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33  Oberwesel, Liebfrauenkirche, Längsschnitt mit Baualtersplan nach Vorgaben von Eduard Sebald, 2008.

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34 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Mittelschiff.

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35 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Goldaltar.

36 Oberwesel, Liebfrauenkirche, Mittelschiff und Lettner, 1. Hälfte 14. Jahrhundert.

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37–39  Oberwesel, Liebfrauenkirche, Detail der Bauinschrift in der Chorverglasung, vor 1331.

40 Oberwesel, Ruine der Minoritenkirche von Osten.

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41 Oberwesel, St. Martin, Langhaus von Süden.

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42 Oberwesel, St. Martin, Mittelschiff.

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43 Oppenheim, Katharinenkirche, Langhaus von Süden.

44 Oppenheim, Katharinenkirche, Rose im ersten Joch des südlichen Seitenschiffs.

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45  Sinzig, St. Peter, Ostseite.

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46 Straßburg, Münster, nördliches Westportal.

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47 Trechtingshausen, Sankt Clemenskapelle.

48  Trechtingshausen, Sankt Clemenskapelle, Vierungsgewölbe.

Abbildungsnachweise

Bruno Klein, Warum Gotik?

Abb. 1, http://www.mondotheque.be/wiki/images/d/d4/Corbusier_vers_une_architecture.pdf; Abb. 2, Elias Zamora, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org; Abb. 3, Tim Giddings, CC BY-SA 4.0, commons.­wikimedia. org; Abb. 4, Von Diliff, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 5, Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0,commons wikimedia.org; Abb. 6, Hpschaefer www.reserv-art.de, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 7, Max Hasak: Die Baukunst. 11. Heft: Die Kirchen von Gross St. Martin und St. Aposteln in Köln, Berlin/Stuttgart, 1899; Abb. 8, Henne am Rhyn, Dr. Otto: Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. 1, Berlin 1897, S. 387; Abb. 9, Ralph Hammann, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org; Abb. 10, Espirat, CC BY-SA 4.0, commons. wikimedia.org; Abb. 11, Simon.Absonditus, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 12, Pedelecs auf wikivoyage shared, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 13, Hermann Walter, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inv.-Nr. 4076, commons.wikimedia.org; Abb. 14, The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH; Abb. 15, Benediktinerstift St. Paul im Lavanttal; Abb. 16, Thomas Clouet, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org; Abb. 17, Beckstet, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 18, Siren-Com, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 19, Tango7174, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org; Abb. 20, Welleschick, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 21, Vassil, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 22, Vassil, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia. org; Abb. 23, Wolfgang Pehlemann, Wiesbaden, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 24, José Luiz Bernardes Ribeiro, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org; Abb. 25, Dethard von Winterfeld, Romanik am Rhein (Stuttgart 2001) S. 80 oben: Abb. 26, Hoger, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 27, Pierre Poschadel, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 28, Pierre Poschadel, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; Abb. 29, Neuwieser, CC BY-SA 2.0, commons.wikimedia.org; Abb. 30, Jonathan Martz, CC BY-SA 3.0, commons. wikimedia.org; Abb. 31, Gemeinfrei; Abb. 32, The British Library. Matthias Müller, Der „Übergangsstil“ als dialektische Form

Abb. 1, ETH-Bibliothek Zürich; Abb. 5–9, Renate J. Deckers-Matzko; Abb. 14, 15, 18, 20, 27, Matthias Müller; Abb. 2, 3, 4, 10–17, 19, 21–26, Archiv des Verfassers oder des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Universität Mainz. Hauke Horn, Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Abb. 1, 31,32, 34, 44, 45, 47, 48, 51, 52, Foto: Hauke Horn, 2015; Abb. 2, 6, 17, 22, Ledebur, Alkmar Freiherr von: Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.1: Stadt Boppard, Bd. 1, München 1988. (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, 8); Abb. 3, 55, Foto: Hauke Horn, 2014; Abb. 4, 8, 10–14, 28, 30, 33, 35, 40, 41 Foto: Hauke Horn, 2016; Abb. 5, 54, Rauch, Christian: Die Kunstdenkmäler des Kreises Bingen, Darmstadt 1934. (Die Kunstdenkmäler im Volksstaat Hessen); Abb. 6, 7, Michael Imhof, Andreas Metzing, Stephan Weyer-Menkhoff, Die Kirchen im Mittelrheintal. Führer zu den Bauten des UNESCO-Welterbes Mittelrhein, Petersberg 2010; Abb. 9, Toni ­Diederich, Rheinische Städtesiegel, Neuss 1984. (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Jahrbuch 1984/1985); Abb. 15, 26, Dethard von Winterfeld, Der Dom zu Worms, Königstein im Taunus 1984. (Die blauen Bücher); Abb. 16, 20, 21, 24, 25, Hauke Horn, 2017; Abb. 18, Fritz Reuter/Peter und Johann Friedrich Hamman, Handzeichnungen von Worms aus der Zeit vor und nach der Stadtzerstörung 1689 im „Pfälzischen Erbfolgekrieg“, Worms 1989; Abb. 19, 23, Wörner, Ernst:

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Abbildungsnachweise

Kunstdenkmäler im Grossherzogthum Hessen: Inventarisierung und beschreibende Darstellung der Werke der Architektur, Plastik, Malerei und des Kunstgewerbes bis zum Schluss des XVIII. Jahrhunderts: Provinz Rheinhessen: Kreis Worms, Darmstadt, 1887; Abb. 27, commons.wikimedia.org/w/index.­phptitle=File:Sinzig_­ StPeter_n_O2.JPG&oldid=154806245 (Foto: Beckstet, 2010); Abb. 29, commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Linz_StMartin.jpg&oldid=141385216 (Foto: Till Niermann, 2010); Abb. 36, Foto: Musée de l’Œuvre Notre-Dame Strasbourg (Photo Musées de Strasbourg, M. Bertola); Abb. 37, 38, Paul Clemen, Bacharach (Kreis St. Goar). Sicherungsarbeiten an der Wernerskapelle, in: Berichte über die Thätigkeit der Provinzialkommission für die Denkmalpflege in der Rheinprovinz und der Provinzialmuseen zu Bonn und Trier, 6, 1901 (Korrektur Hauke Horn, 2016); Abb. 39, Marc Steinmann: Die Westfassade des Kölner Domes. Der mittelalterliche Fassadenplan F, Köln, 2003. (Forschungen zum Kölner Dom, Bd. 1); Abb. 42, Andreas Köstler, Die Ausstattung der Marburger Elisabethkirche. Zur Ästhetisierung des Kultraums im Mittelalter, Berlin, 1995/Markierung Hauke Horn, 2015; Abb. 43, Hans Erich Kubach/ Albert Verbeek: Romanische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, Bd. 1, Berlin, 1976 Abb. 46, 53, Eduard Sebald, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Ehemaliger Kreis St. Goar. Stadt Oberwesel, Mainz 1997. (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, Bd. 9); Abb. 49, Schenkluhn, Wolfgang: Architektur der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa, Darmstadt 2000; Abb. 50, Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) Rheinland-Pfalz, Landesdenkmalpflege, Plansammlung, Rückseite von Inv.-Nr. 5425. Eduard Sebald, Fluss – Land – Stadt – Burg – Zoll

Abb. 1–2, GDKE, Fotoarchiv; Abb. 3, 5, GDKE, Fotoarchiv; Abb. 4, 11, Repro GDKE; Abb. 6, 10, GDKE, Eduard Sebald; Abb. 7–9, GDKE, Heinz Straeter. Hauke Horn, Bautechnik und Bauorganisation des 13.–15. Jahrhunderts im Mittelrheintal

Abb. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 11, 12, 13, Foto: Hauke Horn, 2015 ; Abb. 2, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:OberweselSt Martin.jpg [31.1.2018] (Foto: Manfred Heyde, 2007); Abb. 8, Julian Hanschke, Zwei mittelalterliche Baurisse der Wernerkapelle in Bacharach, in: INSITU 3 (2.2011), S. 149-160; Abb. 9, Clemen, Paul: Bacharach (Kreis St. Goar). Sicherungsarbeiten an der Wernerskapelle, in: Berichte über die Thätigkeit der Provinzialkommission für die Denkmalpflege in der Rheinprovinz und der Provinzialmuseen zu Bonn und Trier 6, 1901, S. 15-19; Abb. 10, Eduard Sebald, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Ehemaliger Kreis St. Goar. Stadt Oberwesel, Mainz 1997, Taf. 1 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, Bd. 9); Abb. 14, Ferdinand Luthmer, Die Bau- und Kunstdenkmäler des Rheingaues, Frankfurt a. M. 1902, S. 99. (Die Bau- und Kunstdenkmäler des Regierungsbezirks Wiesbaden, 1); Abb. 15, Eduard Sebald, Die Kunstdenkmäler des Rhein-Hunsrück-Kreises, Teil 2.2: Ehemaliger Kreis St. Goar. Stadt Oberwesel, Mainz 1997, Taf. 7 (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, Bd. 9); Abb. 16, Rauch, Christian: Die Kunstdenkmäler des Kreises Bingen, Darmstadt 1934, Abb. 30. (Die Kunstdenkmäler im Volksstaat Hessen); Abb. 17, Beate Dengel-Wink, Die ehemalige Liebfrauenkirche in Mainz. Ein Beitrag zur Baukunst und Skulptur der Hochgotik am Mittelrhein und in Hessen, Mainz 1990, S. 82. (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz); Abb. 18, Foto: Hauke Horn, 2016. Ute Engel, Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300

Abb. 1, Kautzsch/Neeb 1919, Abb. 4, S. 10; Abb. 2, Hundeshagen 1819, T. 2; Abb. 3, Kautzsch/Neeb 1919, Taf. 77; Abb. 4, GDKE, Landesmuseum Mainz, Graphische Sammlung, GS 4225, Foto Ursula Rudischer; Abb. 5, Hundeshagen 1819, T. 10; Abb. 6, Hundeshagen 1819, T. 5; Abb. 7, 8, 10, 11, 14, 17, Foto Ute Engel; Abb. 8, 9, 16, Foto Monika Gräw; Abb. 12, Hundeshagen 1819, T. 27; Abb. 13, Foto Bildarchiv Foto Marburg, fm48005, Fotograf unbekannt, 1929; Abb. 15, Foto Markus Hörsch.

Abbildungsnachweise

Sascha Köhl, Notre-Dame – Liebfrauen – und zurück?

Abb. 1, 2, Foto: Marlene Kleiner (Köln); Abb. 3, 7, 15, 23, 24, Foto: Sascha Köhl; Abb. 4, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pr%C3%A9fecture_de_police_de_Paris_-_Service_Photographique,_Notre_Dame_de_Paris. jpg?uselang=de; Abb. 5, Dieter Kimpel und Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich. 1130–1270, München 1985, Abb. 355; Abb. 6, Alain Erlande-Brandenburg, Notre-Dame in Paris. Geschichte, Architektur, Skulptur, Freiburg i. Br. 1992, S. 245; Abb. 8, Dieter Kimpel und Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich. 1130–1270, München 1985, Abb. 356; Abb. 9, Das Straßburger Münster und seine Bildwerke, hg. v. Richard Hamann, bearb. v. Hans Weigert, Berlin 1928, Tafel 14; Abb. 10–14, Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft Mainz; Abb. 16, Marc Carel Schurr, Gotische Architektur im mittleren Europa 1220–1340. Von Metz bis Wien, München 2007 (Kunstwissenschaftliche Studien, 137), Abb. 252; Abb. 17, 18, Werner Schäfke, Kölns romanische Kirchen. Architektur, Ausstattung, Geschichte, Köln 41985; Abb. 19, Arka­ dien am Mittelrhein. Caspar und Georg Schneider, hg. von Sabine Mertens, Ausst.-Kat. Mainz, Landesmuseum, 1998, S. 53, Abb. 5; Abb. 20, 21, Beate Dengel-Wink, Die ehemalige Liebfrauenkirche in Mainz. Ein Beitrag zur Baukunst und Skulptur der Hochgotik am Mittelrhein und in Hessen, Mainz 1990 (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz, Jg. 1990); Abb. 22: Markus Schlicht, La cathédrale de Rouen vers 1300. Portail des Libraires, portail de la Calende, chapelle de la Vierge. Un chantier majeur de la fin du Moyen Âge, Caen 2005 (Mémoires de la Société des Antiquaires de Normandie, 41), Fig. 6. Marc Carel Schurr , Straßburg und der Mittelrhein

Abb. 1–3, 5–12, 14–15, Foto: Marc Carel Schurr; Abb. 4: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Kunstgeschichte, Sammlung Julius Baum; Abb. 13, Stéphane Potier, Inventive Studio/Fondation de l’Oeuvre Notre-Dame. Karola Sperber, Seitenschiff oder Kapellenbau?

Abb. 1, Winfried Monschauer, Das Minoritenkloster in Oberwesel. Geschichte eines außergewöhnlichen Denkmals, Oberwesel 2013, S. 28; Abb. 2, Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Koblenz, bearb. v. Fritz Michel, 1. Bd.: Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 20. Bd., I. Abteilung, Düsseldorf 1937, S. 248, Abb. 179; Abb. 3: Die Kunstdenkmäler des Kreises Mayen, bearb. v. Josef Busley, Heinrich Neu, 1. Halbband. Die Kunstdenkmäler der Ämter Andernach-Stadt und -Land, Burgbrohl, Kelberg, Kempenich und Virneburg, Düsseldorf 1941 (= Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd 17., II. Abteilung), S. 126, Abb. 109; Abb. 4, Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz, bearb. von Alkmar Freiherr v. Ledebur, Bd. 8, Teil 2.1, München 1988, IV, 1; Abb. 5, Wolfgang Schenkluhn, Architektur der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa, Darmstadt 2000 S. 29, Abb. 3; Abb. 6, Günther Binding, Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in England, Frankreich und Deutschland 1140 - 1350, Darmstadt 2000, S. 153 Mitte links; Abb. 7, 18, Wolfgang ­Schenkluhn, Architektur der Bettelorden, Darmstadt 2000, S. 94; Abb. 8, 14, Karola Sperber (April 2015); Abb. 9, Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Trier mit Ausnahme des Domes, bearb. v. Hermann Bunjes u.a., 3. Bd., Düsseldorf 1938 (= Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 13. Bd., III. Abteilung), S. 50, Abb. 41; Abb. 9 a, Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz, bearb. v. Patrick Ostermann, Bd. 17,1. Stadt Trier. Altstadt, Worms 2001 (= Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland), S. 128; Abb. 10, Michael Embach [Hg.], Kontinuität und Wandel. 750 Jahre Kirche des Bischöflichen Priesterseminars Trier. Eine Festschrift aus Anlaß der feierlichen Wiedereröffnung 1993, Trier 1994, S. 174, Abb. I; Abb. 11, Michael Embach [Hg.], Kontinuität und Wandel. 750 Jahre Kirche des Bischöflichen Priesterseminars Trier. Eine Festschrift aus Anlaß der feierlichen Wiedereröffnung 1993, Trier 1994, S. 177, Abb. II; Abb. 12, Michael Embach [Hg.], Kontinuität und Wandel. 750 Jahre Kirche des Bischöflichen Priesterseminars Trier. Eine Festschrift aus Anlaß der feierlichen Wiedereröffnung 1993, Trier 1994, S. 178, Abb. III; Abb. 13, Winfried Monschauer, Das Minoritenkloster in Oberwesel. Geschichte

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eines außergewöhnlichen Denkmals, Oberwesel 2013, S. 15; Abb. 15–17, 19–21 Karola Sperber (Oktober 2015); Abb. 22, IKM Datenbank; Abb. 23, Almar Altwasser/Birgit Kita/Jörg Walter, Gotik am Mainzer Dom. Die Kapellenanbauten der Nordeite, Regensburg 2018 (Neue Forshcungen zum Mainzer Dom, 1), S. 78; Abb. 24, Winfried Monschauer, Das Minoritenkloster in Oberwesel. Geschichte eines außergewöhnlichen Denkmals, Oberwesel 2013, S. 66. Yves Gallet, Mikroarchitektur und Kulturtransfer zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340

Abb. 1–6, 8–10, 12–13: Foto: Yves Gallet; Abb. 7, Foto: Wikimedia Commons; Abb. 11, Foto: Pierre-Louis Laget. Catharina Lathomus, Die ehemalige Stiftskirche St. Kastor in Koblenz

Abb. 1, 6–13, 15, 17–23, Catharina Lathomus; Abb. 2, Fritz Michel: „Ehemalige Stiftskirche, heute katholische Pfarrkirche St. Kastor“, in: Die Kunstdenkmäler der Stadt Koblenz, Bd. 1: Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Koblenz, hg. von Paul Clemen, Düsseldorf 1937, S. 75–155 (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz), S. 85, Abb. 55; Abb. 3, Fritz Michel: „Ehemalige Stiftskirche, heute katholische Pfarrkirche St. Kastor“, in: Die Kunstdenkmäler der Stadt Koblenz, Bd. 1: Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Koblenz, hg. von Paul Clemen, Düsseldorf 1937, S. 75–155 (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz), S. 93, Abb. 62; Abb. 4, Günther Stanzl: St. Kastor in Koblenz. Ausgrabungen und Bauuntersuchungen 1985–1990, mit Beiträgen von Walburg Boppert [u.a.], hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz in Mainz, Worms 1998 (Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Forschungsberichte, 3), S. 197; Abb. 5, Uwe Lobbedey: „Der Kirchenbau im sächsischen Missionsgebiet“, in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hg. von Christoph Stiegemann/Matthias Wernhoff, Kat. Auss., Paderborn {Diözesanmuseum}1999, 3: Beiträge zum Katalog der Ausstellung, Mainz 1999, S. 498–511, S. 505; Abb. 14, Günther Stanzl: St. Kastor in Koblenz. Ausgrabungen und Bauuntersuchungen 1985–1990, mit Beiträgen von Walburg Boppert [u.a.], hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz in Mainz, Worms 1998 (Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Forschungsberichte, 3), S. 96, Abb. 15, 18, Hauke Horn, 2014; Abb. 16, Günther Binding: Elten am Niederrhein, Neuss 1977 (Rheinische Kunststätten, Bd. 197), S. 2; Abb. 24, Thomas Kaffenberger; Abb. 25, Unsignierte Westansicht um 1859, Generaldirektion Kulturelles Erbe, Abt. Landesdenkmalpflege, Mainz, Planarchiv, Inv.-Nr. 1357; Abb. 26, Generaldirektion Kulturelles Erbe, Abt. Landesdenkmalpflege, Mainz, Inv.-Nr. 1753; Abb. 27, 29, Pfarrarchiv St. Kastor; Abb. 28, Generaldirektion Kulturelles Erbe, Abt. Landesdenkmalpflege, Mainz, Fotoarchiv; Abb. 30, Rheinlands Baudenkmale des Mittelalters. 2. Serie. Ein Führer zu den merkwürdigsten mittelalterlichen Bauwerken am Rheine und seinen Nebenflüssen, hg. von Fr. Bock, Köln/Neuss 1869–71, S. 12. Maria Wenzel, Leonardo am Mittelrhein?

Abb. 1, 2, 7, Heinrich Biebel, „Gezimmerte Glockenstühle“, in: Zeitschrift für Bauwesen1921, 71. Jg., 4.-6. Heft; Abb. 3, Maria Wenzel, Landesdenkmalpflege, GDKE; Abb. 4, 5, Heinz Straeter, Landesdenkmalpflege, GDKE; Abb. 6, http://www.codex-madrid.rwth-aachen.de/madrid1/f001aa/index_idx.html; Abb. 8–12, Hubertus Jäckel Oberwesel. Hauke Horn, St. Martin zu Bingen

Abb. 1, 2, 4, 5, 7–9, 12, 14–16, Hauke Horn, 2016; Abb. 3, Toman, Rolf (Hg.): Die Kunst der Romanik. Architektur – Skulptur – Malerei, Köln 1996, S.46; Abb. 6, Rauch, Christian: Die Kunstdenkmäler des Kreises Bingen, Darmstadt 1934, 51. (Die Kunstdenkmäler im Volksstaat Hessen); Abb. 13, Hauke Horn, 2015; Abb. 10, Rauch 1934 (wie Abb. 6), Abb. 30 ; Abb. 11, Rauch 1934 (wie Abb. 6), 54; Abb. 17, https://commons.wikimedia.org/

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wiki/File:Buedingen-Marienkirche-Inneres_von_Osten-20120722.jpg [30.1.2018] (Foto: Mylius, 2012) ; Abb. 18, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Frankfurt_Am_Main-Leonhardskirche-Hauptschiff-­Gewoelbe.jpg [2.5.2016] (Foto: Mylius?, 2008); Abb. 19, Rauch 1934 (wie Abb. 6), 48; Abb. 20, h ­ ttps://de.­wikipedia.org/wiki/ Datei:StMartinBingenSuedseite.jpg [2.5.2016] (Foto: Manfred Heyde, 2009); Abb. 21, Rauch 1934 (wie Abb. 6), 56; Abb. 22, Schäfer, Regina (Hg.): St. Martin in Bingen. Die Geschichte der Basilika, Roßdorf 2016, S. 175; Abb. 23, Villinger, Carl: Die St. Martins-Stiftskirche zu Bingen, Basilica minor. Ihre Geschichte und ihre Kunstwerke, Bingen o. J. (1959?). Benedikt Ockenfels, Eltville und der Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe

Abb. 1–16, Foto: Benedikt Ockenfels. Britta Hedtke, Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der westlichen Stiftsklausur des Mainzer Doms

Abb. 1, Dombauamt Mainz, Zeichnung: GBVD mbH, Müllheim; Abb. 2, Rudolf Kautzsch/ Ernst Neeb: Der Dom zu Mainz, Darmstadt 1919, S. 393–489. (Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, 2, Teil 1). S. 4, Abb. 1; Abb. 3, Hundeshagen, Bernhard: Das Domgebæude zu Maynz, architectonisch aufgenommen und dargestellt, Darmstadt (1819/1943), Tafel 2; Abb. 4, Rudolf Kautzsch/ Ernst Neeb: Der Dom zu Mainz, Darmstadt 1919, S. 393–489. (Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, 2, Teil 1). S. 395, Abb. 104; Abb. 5, 6, 8, 9, 21, 22, 26, 27, Foto: Christian Hedtke, Mainz; Abb. 7, 11–20, 23–25, 29–32, Foto: Britta Hedtke, Mainz; Abb. 10, im Besitz von Britta Hedtke, Mainz; Abb. 28, Elmar Altwasser/Birgit Kita/ Jörg Walter: Gotik am Mainzer Dom. Die Kapellenanbauten der Nordseite. Regensburg 2018, S. 143, Katalog-Abb. 35. (Neue Forschungen zum Mainzer Dom 1). Tafelteil

Taf. 1–3, 14, 33, GDKE, Eduard Sebald; Taf. 4–7, 14, 20, 22, 32, 40–43, 47–48, Foto: Hauke Horn, 2015; Taf. 8, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:StMartinBingenSuedseite.jpg [2.5.2016] (Foto: Manfred Heyde, 2009); Taf. 9–11, 46, Foto: Hauke Horn, 2016; Taf. 12, Michael Imhof, Andreas Metzing, Stephan Weyer-Menkhoff, Die Kirchen im Mittelrheintal. Führer zu den Bauten des UNESCO-Welterbes Mittelrhein, Petersberg 2010, S. 122; Taf. 13, Michael Imhof, Andreas Metzing, Stephan Weyer-Menkhoff, Die Kirchen im Mittelrheintal. Führer zu den Bauten des UNESCO-Welterbes Mittelrhein, Petersberg 2010, S. 123; Taf. 15–16, GDKE, Heinz Straeter 2001; Taf. 17, Foto: Benedikt Ockenfels; Taf. 18, Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft Mainz; Taf. 22, Foto: Hauke Horn, 2017; Taf. 24, Foto: Catharina Lathomus; Taf. 25, Schütz, Bernhard, Große Kathedralen des Mittelalters, München 2002, S.156-161; Taf.  26–27, Domprojekt_MZ_UMZ_DP_MZ_0618134, Ute Engel; Taf. 28–29, Bischöfliches Ordinariat Mainz, Domdekan Heckwolf/ Sensum Graphikbüro, Bernd Schermuly, Wiesbaden; Taf. 30–31, Dombauamt Mainz; Taf. 35, Foto: Yves Gallet; Taf. 36, Tilman2007, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org; Taf. 37–39, Eberhard J. Nikitsch, „Zur Wiederentdeckung der verloren geglaubten Bauinschrift von 1308 in der Liebfrauenkirche zu Oberwesel am Rhein“, in: Akademie-Journal 1, 1996, S. XIV–XIX; Taf. 45, Wikimedia Commons.

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