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German Pages 342 Year 2020
Márcio Vilar Calon-Welten
Kultur und soziale Praxis
Márcio Vilar, geb. 1978, ist Anthropologe und forscht zu den vielfältigen Auswirkungen biotechnologischer Innovationen im Bereich der Immunologie.
Márcio Vilar
Calon-Welten Eine Ethnografie über das Leben, Sterben und Weiterleben bei Ciganos in Brasilien
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version der Dissertation »‹A Vida do Cigano›: Trauerrituale, Person und Tauschkreisläufe bei Calon-Zigeunern im Nordosten Brasiliens«, die am 6.7.2017 an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig verteidigt und angenommen wurde. Als Gutachter wirkten Dr. Elisabeth Tauber, Prof. Andreas Brockmann (Co-Betreuer) und Prof. Bernhard Streck (Betreuer) mit.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Márcio Vilar Lektorat: Erika Stiller und Jan Wenke Übersetzungen aus dem Portugiesischen ins Deutsche: Márcio Vilar Satz: Márcio Vilar Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4438-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4438-2 https://doi.org/10.14361/9783839444382 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Dank | 9 Anmerkungen zur Schreibweise | 11 Vorwort, Elisabeth Tauber | 13
1 Ein undomestiziertes Image | 19 2 Theoretische Subsidien | 59 3 Eintritt ins Feld | 79 4 Von Grenzen als Heim | 119 5 »Die Erkenntnis haben«, »in Gefühl sein« | 143 6 »Schau Dich an, [Du] Tote!« | 195 7 Das »Vergessen« der »Namen, die für immer sind« | 243 8 Von Resonanzen als die Macht des Abwesenden | 285
Nachwort, Bernhard Streck | 307 Literatur und Filmografie | 313 Vollständiges Inhaltsverzeichnis | 333 Abbildungen und Tabellen | 337 Über den Autor | 339
In Erinnerung und Dankbarkeit an meine Großmutter und meine Eltern Für meinen Sohn Benjamin
Dank
Obwohl es für mich unmöglich ist, mich bei allen Leuten zu bedanken, die zur Realisierung dieses Buches direkt oder indirekt beigetragen haben, möchte ich an dieser Stelle einige Personen und Institutionen erwähnen, ohne die diese Arbeit in ihrer aktuellen Form nicht existieren würde. Mehrere Leute in Brasilien haben mich während meiner Feldforschung aufgenommen, mir vertraut und geholfen. Unter ihnen sind mehrere Calen, bei und mit denen ich die Ehre hatte, einen kurzen Teil meines Lebens zu verbringen. Ich hoffe, in dieser Arbeit angemessen das wiederzugeben, was mir jeder von ihnen auf seine Art und Weise beigebracht hat. In Deutschland hat Bernhard Streck als Hauptbetreuer meiner Promotionsforschung mitgewirkt und mich uneingeschränkt unterstützt. In die Herausforderung meines Vorhabens stieg Andreas Brockmann als Co-Betreuer ein, der sich für mich und meine Arbeit stark engagierte. Elisabeth Tauber ehrte mich als Gutachterin für diese Arbeit, nachdem ihr ethnologischer Ansatz mir den Weg für dieses Buch geöffnet hatte. Wie bei fast allen Forschern, die sich mit den Lebensweisen verschiedener Ciganos in Brasilien beschäftigen wollten, hat mir Frans Moonen (†) die ersten Türen vor Ort geöffnet. Auf meinem Weg profitierte ich von der Kollaboration mit Experten wie Miriam Guerra, Flávio José, Florencia Ferrari und Fábio Dantas. Insbesondere hatte ich gelegentlich das Privileg, mit Martin Fotta intensiv über Befunde zu diskutieren, was dieses Buches wesentlich bereicherte. Sérgio Adolfo (†), Isabel Borges, Patrícia Goldfarb und Titus Riedl haben mir ihre eigenen Arbeiten zugesendet. Den Mitarbeitern von der Pastoral der Nomaden und von der Pastoral der Kinder bin ich besonders dankbar für alle Zugänge während meiner Feldforschung sowie auch für ihre vorbereitenden Hinweise und Erklärungen. An der Universität Leipzig lernte ich zahlreiche Personen kennen, die zu meinen persönlichen Freunden geworden sind. Viele haben mir auch gelegentlich damit geholfen, Tagebuchauszüge und Übersetzungen aus dem Portugiesischen ins Deutsche sowie Bewerbungen, Anträgen oder weitere Materialien, die mit meiner Forschung zusammenhingen, zu prüfen. Von denjenigen, die auf die-
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se Weise Leistung mit einer allgemeinen Hilfsbereitschaft in alltäglichen Situationen kombinierten, danke ich insbesondere Kerstin Meyer, Steffen Hahn, Janka Linke, Tobias Marx, Andrea Steinke, Fabian Jacobs und Andrea Eichenberg. Swintha Danielsen korrigierte die englischen Versionen der Kapitel drei und vier. Die gesamte Arbeit profitierte von dem sehr professionellen Lektorat von Erika Stiller und Jan Wenke und teilweise der feinen Revision von Lena Sell und Luise Engel. Anne Sauerland und Katharina Kotschurin von transcript Verlag haben die Produktion des Buches kompetent und sorgfältig betreuet. Mein Dank gilt auch Ursula Rao, die mir einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellte sowie mich auch im Rahmen meiner laufenden postdoktoralen Forschung intensiv und dezidiert unterstützte. Wiederholt zählte ich auf die Hilfe der Research Academy Leipzig (RAL) und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), die vor allem, aber nicht nur, für die Feldforschungsaufenthalte wesentlich war. Die Druckkosten dieses Buches werden hauptsächlich von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften gedeckt. João Cândido Portinari vom Projeto Portinari erlaubte mir, kostenfrei ein Gemälde von seinem Vater Cândido Portinari in diesem Buch zu reproduzieren. Birgitt Röttger-Rössler und Anita von Poser, sowie auch zwei anonyme Mitarbeiterinnen an der Freien Universität Berlin, trugen aufmerksam zur Abfertigung des Typoskriptes mit notwendigen Kommentaren, Korrekturen und Kritiken bei. Auch bedanke ich mich bei Michaela Meurer und Jan Wilkens für ihre Unterstützung, Offenheit und relevanten Bemerkungen. Ohne die emotionale und finanzielle Unterstützung von mehreren Verwandten und zahlreichen Freunden in Brasilien und in Deutschland wäre dieses Buch definitiv nicht möglich gewesen. Neben meinen Eltern (†) haben mir Tante Leomar und Onkel Eduardo Holanda, meine Cousine und Cousins Juliana, André und Breno, sowie Anna Rosa Vilar, Ricardo Peixoto und Onkel Beto im weiteren Sinne geholfen. Gesundheitlich wurde ich u.a. von Dr. Genésio Pacheco da Veiga (†) erfolgreich behandelt. Ein großes Dankeschön! geht an Edvaldo C. Alves undAna Navarro, Alexandre Gadêlha, Robério Feitosa, Mauro Koury, Tante Zélia und alle Vilars, Carmen Schreier, Viviane Viscardi, Yves Braunschweig und Yvonne Thamm, Sascha Poweleit, Klaus und Ellen Warda, Roberto Weber, Judith und Milan Kurztke, Katrin Treichelt, Miriam, Frida und Darius Pjater, Jana und Kurt L. Werner und Louis Hohlmann, Sebastian und Linda Schäffner, Frank Winkelmann, Nastasia Hase und Jadié Santos für die geteilte Freude und für die Unterstützung in Zeiten von Ebbe und Flut. Besonders herzlich dankbar bin ich den Menschen, die meinen Sohn Benjamin unterstützen, auf seinem eigenen Weg gesund aufzuwachsen, während er bei mir aufgrund meiner Arbeit nicht ist. Dieses Buch widme ich ihm.
Anmerkungen zur Schreibweise
Sprachliche Gleichstellung von Mann und Frau Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Grundbezeichnungen Mit dem Wort Calon (auf Chibi, die Sprache der Calen) bzw. Cigano (auf Portugiesisch) bezeichnen sich mehrere Menschen in Brasilien, die an meiner Forschung teilnahmen. Diese Selbstbezeichnungen gelten als Synonyme, und auf Deutsch entsprechen sie dem Wort Zigeuner. Auf Chibi gibt es auch das Wort Rom. Dieses bedeutet »Ehemann« bzw. »Mann«. Doch es wird sehr selten, wenn überhaupt, von einem Calon in der Öffentlichkeit ausgesprochen. Während die Calen (Pluralform von Calon) unter sich selbst i.d.R. von Calon reden, stellen sie sich als Ciganos (Pluralform von Cigano) vor, wenn sie sich unter Nichtcalen bzw. Nichtciganos befinden bzw. sich diesen gegenüber politisch darstellen. Die Calen haben mehrere Bezeichnungen, um Nichtcalen bzw. Nichtciganos unter sich zu bezeichnen. Die häufigsten lauten: Juron, Gajon oder Brasilianer. Als Oberbegriff schließt das Wort Cigano weitere Minderheiten in Brasilien wie Turcos, Lovara, Kalderasch und andere ein. In diesem Buch berücksichtige ich die Selbstidentifizierung derjenigen Menschen, die sich als Calon bzw. Cigano bezeichnen, neben der entsprechenden Anerkennung durch eine Gruppe, Gemeinschaft bzw. Familie, zu der sie gehören. Anonymisierungen Alle in diesem Buch zitierten Ortschaften und Individuen habe ich mit fiktiven Namen bezeichnet.
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Benutzung von bestimmten Artikeln Wenn ich hier von den Calen bzw. den Ciganos oder auch von den Zigeunern rede, beziehe ich mich auf Konstrukte. Diese Konstrukte basieren auf meiner Erfahrung mit der Gesamtheit derjenigen Menschen, mit denen ich selbst in unmittelbarem Kontakt stand, bzw. bezeichnen diejenigen, die in der hier verwendeten Literatur erwähnt werden. Ich beziehe mich auf keinen Fall auf die Totalität aller existierenden Personen, die sich als Calon bzw. Cigano bezeichnen und als solche von ihren Mitmenschen anerkannt werden. Hervorhebungen und Zitate Alle Zitate, ob schriftlich oder mündlich, sind in Anführungszeichen gesetzt. Alle Hervorhebungen in den schriftlichen Zitaten sind original. Im Übrigen sind meine eigenen Hervorhebungen kursiv geschrieben. Diese umfassen Schlüsselbegriffe und wichtige Textpassagen, Werktitel, fremdsprachige Begriffe und Fremdwörter im Allgemeinen (mit Ausnahme von einigen Begriffen wie Potlatsch, Agency und Arché). Übersetzungen vom Portugiesischen ins Deutsche Alle in diesem Buch reproduzierten Textpassagen von Werken, die im Original auf Portugiesisch (Pt.) geschrieben sind, wurden von mir selbst ins Deutsche (Dt.) übersetzt.
Vorwort
»Die Personen sterben nicht, sie werden verzaubert.« Diese Feststellung, die der brasilianische Autor João Guimarães Rosa kurz vor seinem eigenen Tod 1967 machte, bildet gewissermaßen den Leitfaden für die gesamte Forschung von Márcio Vilar. Er führt in die verzauberte Welt der Calen ein, die sich über Kenntnis, Gefühl und Respekt von der Welt der Jurons in Brasilien abhebt, diese kontrastiert, umleitet, antizipiert und schließlich durch das Sterben aufhebt und damit die Welt der Jurons gleichzeitig besiegelt. Márcio Vilar bewegt sich in der ethnographischen Tradition sozialanthropologischer Forschung zu Tod- und Trauerritualen und in besonderem Maße der Leipziger Schule, die von Bernhard Streck begründet wurde. Sein wesentlicher Beitrag ist in der Ergänzung und Erweiterung der Forschung zu Manuš und Sinti zu sehen, die ihre kohäsiven Sinnstiftungsprozesse über ihre Beziehung zu ihren Verstorbenen gestalten. Dabei erweist sich Márcio Vilars Entscheidung Trauerrituale, das Werden der Person und Tauschkreisläufe in den Fokus zu nehmen als grundlegend richtig. Das Werden der Calon-Person ist ohne ihre Trauer-Arbeit und ohne ihre Einbindung in Kreisläufe des Tausches zwischen Calon und ihren Verstorbenen nicht verstehbar. Die Erschaffung der Calon-Welt geht einher mit der Erschaffung der Calon-Person. Márcio Vilar spricht für diese Prozesse von einer selektiven Hybridität (siehe auch Bernhard Streck), die erst die Unterscheidung zwischen Calon und Juron Welt möglich machte. Márcio Vilar verweist kohärent auf die Grundthemen der Calen, die den Prozess der Verzauberung (Transformation) der Calon-Person vom Toten, zum Lebenden, zum Calon in den beiden Regionen Rio Grande do Norte und Bahia in Brasilien als für die Calon communitas konstitutives Moment beschreibt. Die zwei wesentlichen Aspekte des Calon-Seins die Erkenntnis haben und in Gefühl sein verweisen uns auf die soziale Organisation und die Beziehungsstrukturen der Calen. Muss es verwundern, dass sentimento als Ausdruck gegenseitiger Bindungen zwischen Calon-Person und eigenen Toten als Gabe und damit als reziproke Verpflichtung im Sinne Mauss’ betrachtet werden? Das Calon-
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Werden ist ein lebenslanger Prozess, der sich vom ambiguen (Kind) zum nachahmenden (Erwachsenen) hin zum integren (Verstorbenen) erstreckt. Ein Prozess der sich von der Nichtperson, zur unvollständigen – erwachsenen – CalonPerson hin zur vollständigen – toten – Calon-Person vollzieht. Der Magie der Verzauberung eigen ist das Vergessen der Erinnerungen und die Betrachtung der Juron Welt als Welt der Namenlosigkeit. Für diesen Übergang aus der Namenlosigkeit in die Calon-Welt ist es notwendig, sich den Anderen (Jurons) zu antizipieren, diese zu imitieren und sie damit bedeutungslos zu machen und gleichzeitig die Welt der Calon-Person über ein Netz aus sentimento zu bilden. Der transzendentale Charakter dieses Prozesses, den Márcio Vilar insbesondere in den Toten- und Trauerritualen ausmacht, verweist auf eine ununterbrochene Kontinuität der Umkehrungen und darüber der Definition von Grenzen zwischen Juron und Calon, Lebenden und Verstorbenen, Calen und ihren Verstorbenen. In dieser Kontinuität, in der die Zeit als Kontinuum aufgehoben wird, ist der Calon-Verstorbene der Macher der Zukunft, das Calon Kind wird der Welt der Toten zugeordnet und der Juron wird über antizipierendes Sprechen als Nichtcalon markiert. Für den südamerikanischen Kontinent liegen wenige sozialanthropologische Ethnographien zu Ciganos vor. Márcio Vilar bezieht sich für den brasilianischen Kontext insbesondere auf die zweite Generation der brasilianischen Forschung zu Romani Gemeinschaften, die so Márcio Vilar, keine wissenschaftliche Stetigkeit aufweise und somit auch nicht als eigenständiges akademisches Projekt gesehen werden könne. Umso beeindruckender ist daher aus einer ethnologisch vergleichenden Perspektive Márcio Vilars Bezugnahme auf zwei europäische Ethnographien (Williams 1993, Tauber 2014 [2006]), die die Beziehung von Manuš und Sinti zu ihren Toten beschreiben. Damit werden wesentliche Fragen für unser Fach und für die Forschung zu Calon, Sinti, Manuš Gruppen insgesamt aufgeworfen. Auch wenn sich die lokalspezifischen kulturellen Ausdrucksformen aus den nichtzigeunerischen Welten äußerlich unterscheiden, so sind die transatlantischen kulturellen Ähnlichkeiten zwischen brasilianischen Calen, französischen Manuš und italienischen Sinti doch frappierend. Wie können wir diese Ähnlichkeiten verstehen? Haben sich Calen, Sinti und Manuš jemals, vor Jahrhunderten, vor Generationen getroffen? Welche mnemonischen Praktiken und Systeme lassen sich hier erkunden? Aus jüngsten ethnographischen Archivforschungen wissen wir, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Deportationen österreichisch-italienischer Sinti nach Brasilien gekommen ist (Trevisan, 2019). Auch wenn einige Familien wieder nach Italien zurückfanden, um ihre Toten zu beerdigen, sind andere Familien doch in Brasilien geblieben. Sind die
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kulturellen Parallelen, die wir durch die Arbeit von Márcio Vilar feststellen können, durch diese transatlantischen Bewegungen erklärbar? Die vorliegende Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie über diese kulturellen Ähnlichkeiten am Beispiel der Calen zu neuen analytischen Vorschlägen kommt. So hat es die sozialanthropologische Forschung zu Romanies in Europa bislang weitgehend vermieden von Initiation, Heiligkeit oder Tauschkreisläufen zu sprechen. Márcio Vilar hingegen macht deutlich, dass der Prozess des CalonWerdens ein lebenslanger Initiationsprozess ist, in dem die physische Geburt in die Welt hinein noch als Zustand des in der Welt der Toten, weil nicht initiierten Person gilt, der erst mit dem Tod der Calon-Person abgeschlossen wird; nicht, weil der Verstorbene dann nicht mehr ist, sondern im Gegenteil besondere Calon-Integrität erlangt hat. Márcio Vilar weist darauf hin, dass diese Initiation in die Heiligkeit der Calon-Welt führt, die sich, wie wohl andere Ethnographien schon gezeigt haben, durch Nichtsprechen der profanen Welt der Nichtzigeuner entzieht. Der lebenslange Initiationsprozess führt durch verschiedene Tauschkreisläufe zwischen Calon und ihren Toten sowie Calon und anderen Calon. Diesen verzauberten Rhythmen und diesem zyklischen Werden und Vergehen muss sich der Ethnograph hingeben, um deuten zu können. Márcio Vilar beschreibt seine eigene Annäherung an diese für Juron verwirrende, weil sich scheinbar ständig widersprechende Welt, indem er durch die gesamte Arbeit eine dezidiert ethnographische Reflexion beibehält. Diese konstante kritische Reflexion ermöglicht es ihm »etwas weniger Juron zu sein« (S. 53), um die Kosmologie der Ciganos zu verstehen.
Elisabeth Tauber
Bozen, 02.09.2018
Teil I Einleitung
1
Ein undomestiziertes Image Oder: Vor anderen Augen sterben »Die Personen sterben nicht, sie werden verzaubert.« Im Orig.: As pessoas não morrem, ficam encantadas. João Guimarães Rosa am 16. November 1967, zwei Tage vor seinem Tod. (1968, 85)
1.1 VON EINER CALON-DISTINKTION Estar de sentimento ist ein Ausdruck, den viele Calen im Nordosten Brasiliens heutzutage für gewöhnlich benutzen, um den Trauerzustand einer Person zu bezeichnen, der im Allgemeinen mit dem Tod von Geliebten, Gefährten und Nahestehenden beginnt. Dieser Ausdruck, der sich ins Deutsche mit »in Gefühl sein« übersetzen lässt, schließt bei vielen Calen auch spezifische Verhaltensweisen und Handlungsmodi mit ein, die ihren Trauerzustand gestalten. Diese bleiben jedoch für die meisten Nichtcalen – oder Jurons (im Pl.), wie die Calen unter sich die Nichtcalen nennen – unverständlich. Stattdessen wenden die Nichtcalen den Ausdruck »in Trauer sein« (estar de luto) für eben jenen Trauerzustand an. So kann bspw. der Calon João Cigano dem neugierigen Juron Francisco auf die Frage, warum sich ein anderer Calon, Sepp Galêgo, den beide kennen, in einer bestimmten Situation weigert, etwas zu tun, wie eine Zigarette zu rauchen, ein Bier zu trinken, Reis zu essen, in eine gewisse Straße abzubiegen usw., antworten, dass Sepp Galêgo »in Gefühl ist«. So setzt João Cigano Francisco über die Trauer von Sepp Galêgo in Kenntnis, ohne ihm weitere Details zu nennen. Der nun vermeintlich aufgeklärte Francisco versteht daher nur selten, was João Cigano nicht ausdrücken will, wenn dieser im selben Kontext eventuell noch von »Erinnerungen« (lembranças) und »vergessen« (esquecer) spricht. Francisco versteht womöglich noch weniger, wenn ihm João Cigano zusätzlich lächelnd sagt: »Wenn man stirbt, ist es vorbei.« Und das möglicherweise gerade dann, wenn Francisco glaubt, er habe es endlich begriffen…
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Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Jahre Francisco schon unmittelbar neben Sepp Galêgo wohnt oder ob er mittlerweile gar selbst ein Mitglied seiner Familie geworden ist. Francisco wird immer noch dazu neigen, ein Juron zu sein bzw. wie einer zu handeln. D.h. auch – und ohne, dass João Cigano das geringste Bedürfnis hat, es in Worte zu fassen –, wie jemand zu handeln, der nicht »das Gefühl« (o sentimento) und manchmal auch nicht »die Erkenntnis« (o conhecimento) eines Ciganos besitzt. Francisco wird weder von João Cigano noch von Sepp Galêgo als Cigano anerkannt. Mit dieser Parabel, die ich aus Erlebnissen meiner Feldforschung zusammensetzte, möchte ich eine kulturelle Diskontinuität wahrnehmbar machen. Sie kondensiert und illustriert Grenzsituationen zwischen Calen und Nichtcalen, die sich im Kontext eines zwischenmenschlichen Verlustes zu verschiedenen Zeiten und Orten in Brasilien und auf verschiedenen Ebenen zu wiederholen scheinen. Bei der oben umrissenen Situation gibt es drei Figuren: einen Calon (João Cigano), der wegen der Verwunderung eines Jurons in Bezug auf das Verhalten eines anderen Calons befragt wird; den Juron (Francisco), der sich über das Verhalten eines trauernden Calons wundert; und den trauernden Calon selbst (Sepp Galêgo), der seine Trauer still auslebt. Der Hinweis João Ciganos auf das für den Juron scheinbar besondere, unverständliche und manchmal kuriose Trauerverhalten eines anderen Calons ist nicht als Erklärung intendiert. Jedes Mal, wenn Francisco wie die meisten Jurons einem Calon eine Frage zu dem für ihn seltsamen Verhalten irgendeines Calons stellt und dadurch anzeigt, dass er selbst kein Calon ist, entblößt er sich zugleich erneut als Juron. Wie die meisten Calen schaltet João Cigano hier in einen anderen Modus des Tausches: Statt Francisco zu belehren, gibt er ihm bzw. seinen Juron-Fragen sozusagen Juron-Antworten zurück. Währenddessen wird Francisco durch sein Selbstentblößen und als Subjekt differenzierender Behandlung vor dem Befragten und anderen anwesenden Calen als Juron markiert. Angesichts dieser Offenbarung hat João Cigano in dem skizzierten Gespräch längst damit begonnen, die üblichen Machtverhältnisse zwischen ihm (als Minderheitsangehöriger) und seinem Juron-Gesprächspartner (als Mehrheitsangehöriger) umzukehren: Als Calon kommt er dem Juron zuvor. Das, was prinzipiell eine Erläuterung als ein Gefallen im Sinne von Auskunftgeben sein sollte, wird als Reaktion auf eine Juron-Frage zu einem Instrument der Selbstbehauptung und Repositionierung der Personen, die an dieser Interaktion beteiligt sind. Es handelt sich also um eine antizipierende Calon-Handlung, die sowohl Differenz zwischen den Beteiligten neu generiert als auch ihr Machtverhältnis zueinander
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zu modifizieren versucht. Dadurch erfinden sich sowohl João Cigano als auch Sepp Galêgo als Calen durch ihre Abgrenzung zu dem Juron Francisco neu. Wie ich anhand konkreter Situationen in diesem Buch illustriere, ist eine Auswirkung dieses Handelns eines Calons in Bezug auf das Handeln eines Jurons dem gleichzusetzen, was Roy Wagner »obviation« nennt (Wagner 1981 [1975], xv und 2010, ix-xii).1 Die Obviation, welche die Calen durch Antizipation vor allem in Bezug auf Nichtcalen ausführen, thematisiere ich im Laufe dieser Ethnografie als eine Art Handlung, die einen »differenzierenden Symbolismus« (Wagner 1981 [1975], 43) impliziert und daher die Erfindung und Aktualisierung einer weiteren Welt als eine Entfaltung unserer gemeinsamen Welt ermöglicht. Wagner meint dazu: »The tendency of differentiating symbolism […] is to impose radical, binding distinctions upon the flow of construction, to specify, and to assimilate to one another the contrasting contexts set up by convention« (ebd.). Diese Tendenz ist vergleichbar mit den Auswirkungen der Handlungen mehrerer Calen bei ihrer Konstruktion einer Calon-Welt inmitten der sie umgebenden Juron-Welt, wobei »Konvention« hier als die unaufhörliche Konstruktion der Juron-Welt angenommen werden kann. Wagner setzt fort: »›Invention‹, the ›sign‹ of differentiation, is the obviator of conventional contexts and contrasts; indeed, its total effect of merging the conventional ›subject‹ and ›object‹, transforming each on the basis of the other, might be labelled ›obviation‹. The giving or taking of associations from one context to another is a consequence of this effect, one that I propose to call objectification.« (Ebd., 43f.)
Dementsprechend verwendet Roger Sansi das Konzept von Objektivation (objectification), um Prozesse zu beschreiben, durch die »things, persons and places are recognized as bearers of specific and different forms of value or quality« (Sansi 2007, 4). Er argumentiert, dass Objektivation im Zusammenhang mit dem Konzept von Aneignung (appropriation) als »the process by which strange
1
Nach Priscila Santos da Costa (2011, 37) wird das englische Wort obviation aus der lateinischen Wurzel obvius bzw. obviam (»auf dem Weg« bzw. »entgegen«) abgeleitet. Dies ist eine gemeinsame Wurzel für (to) obviate im Sinne von »antizipieren« bzw. »verschwinden lassen« und für obvious im Sinne von »selbstverständlich« bzw. »scheinbar« (so auch Wagner 1978, 33). Von dieser Stelle an benutze ich die deutsche Variante: obviieren, und ihre jeweiligen Konjugationen (»es obviiert«, »hat obviiert« usw.).
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things are recognized as familiar, as parts of the self« (ebd.), betrachtet und verwendet werden soll. Die obviierenden Handlungen wahrer Calen in Bezug auf das Verhalten der sie umgebenden Jurons stehen im Gegensatz zu ihrer Haltung, die sich auf ihre Calen bezieht. Mit einer Betonung auf das Possessiv und durch Ausdrucksvarianten (die eigenen Calen, die toten Angehörige, meine Calen usw.) bezeichne ich in diesem Buch diejenigen, die die Calen als ihnen nahstehende bzw. enge Personen respektvoll berücksichtigen. Darunter sind auch diejenigen Toten zu finden, die einem Calon unauffällig beibringen, mittels eines angebrachten Tausches Diskontinuitäten in die fließende Konstruktion der Juron-Welt als kreative Elemente einzuführen, wie bspw. in Form von Juron-Antworten (vlg. Tauber 2014 [2006], 40). Wie in der oben vorgestellten Parabel tritt der tote Angehöriger von Sepp Galêgo im Endeffekt weder in Erscheinung noch ist von ihm die Rede, obwohl sich die Situation um ihn dreht und sich in Bezug auf ihn weiter entfaltet. Doch die nahstehenden Calen spielen gleichfalls eine wesentliche Rolle bei der Abgrenzung zu anderen Calen, was wiederum Auswirkungen auf das Mitgestalten einer eigenen Calon-Welt hat. Die Zusammenarbeit von Lebenden und Toten, die bei den Calen einander gehören, weist auf das gemeinsame Erschaffen von eigenen Calon-Welten hin und auf Praktiken, die eine Kontinuität zwischen beiden und eine Abgrenzung zwischen ihnen und anderen stimulieren. Indem diese Parabel Zeichen von Abgrenzung zwischen Ungleichen als Teil einer Calon-Obviation übermittelt, dient sie dazu, die Fragestellung meiner Forschung einzuleiten: Was bedeutet diese Calon-Distinktion im Trauerkontext und inwieweit ermöglicht eine ethnologische Untersuchung über sie, konstitutive Aspekte einer Calon-Welt als Minderheit in Brasilien zu erfassen? Wie objektivieren die Calen ihre eigenen Welten im Kontext eines zwischenmenschlichen Verlustes, wenn dieser, wie i.d.R., inmitten von Nichtcalen stattfindet? In diesem Buch verfolge ich die Grundabsicht zu verstehen, wie einige Calen in Brasilien mit dem Tod umgehen und welche Implikationen ihre Beziehung zu den Toten für die Erschaffung und Ausgestaltung einer eigenen Welt bzw. einer Calon-Person haben, angesichts, innerhalb und zugleich parallel zu der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft. Zu diesem Zweck beschäftige ich mich aus einer ethnologischen Perspektive primär mit Trauererfahrungen bei den Calen, denen ich im Laufe meiner Feldforschung begegnet bin. Diese Erfahrungen untersuche ich im Zusammenhang mit differenzierenden Calon-Praktiken, die sich bei rituellen Prozessen im Kontext von kulturellen Kontakten als Schismogenese (vgl. Bateson 2000 [1935], 68-72) begreifen und in Verbindung zu einer Art Ca-
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lon-Erfahrungsreligion (vgl. Bargatzky 2007) übersetzen lassen. Damit schaue ich auf das soziale Erzeugen von Ähnlichkeiten und Unterschieden bei CalonMinderheiten und bei der sie umgebenden Mehrheit, sodass substantielle Einsichten in die kulturellen Lebens- und Arbeitsweisen der Calen und, als Teil davon, in ihre Praktiken selektiver Hybridität möglich werden (Williams 2011a, 2011b). Im Folgenden präsentiere ich zuerst Aspekte der semantischen Felder, in denen und durch die Fremd- und Selbstbezeichnungen in Bezug auf die Calen und Nichtcalen zirkulieren, und erkläre dabei meine Verwendung der diesbezüglichen Termini. Im Anschluss daran fasse ich zusammen, wie die Bestattungsbräuche der Calen in Brasilien als Alterisierungsvorgänge gewissermaßen zu einem Juron-Problem geworden sind. Schließlich erkläre ich, wie dieses Buch konzipiert und strukturiert ist.
1.2 CALON, CIGANO, ZIGEUNER UND IHRE GEGENSÄTZE In ganz Brasilien ist es möglich, Menschen zu finden, die sowohl sich selbst als Calon bezeichnen als auch von anderen Calen als solche anerkannt werden. Im Übrigen bezeichnen sich viele Calen auch als Cigano und werden ebenfalls als Cigano von anderen Ciganos anerkannt. Gleich, ob man Calon oder Cigano sagt, ich hörte von mehreren Calen während meiner Feldforschung: »Es heißt dasselbe.« Diese Wörter sind aber nicht nur als Synonyme innerhalb einer Sprache zu verstehen, sondern auch als Teile von zwei verschiedenen Sprachen, die zu einer hochkomplexen, spannungsreichen Minder- und Mehrheitsfiguration gehören: Chibi als die Geheimsprache der Calen als Minderheit, die als Variante von Romani Chib (vgl. Dantas de Melo 2005 und 2008) bzw. als Para-Romani verstanden wird (vgl. Krinková 2015), und Portugiesisch als die Sprache der Mehrheitsgesellschaft, inmitten derer die Calen leben und von der sie sich i.d.R. zugleich abgrenzen. Ähnlich wie z.B. bei den britischen Travellers oder spanischen Gitanos, bei denen Okely (vgl. 1998 [1983], 66-76) und Gay y Blasco (vgl. 1999, 2001) jeweils ihre Forschungen unternahmen, definieren sich die Calen grundsätzlich in Abgrenzung zu denjenigen, die sie u.a. als Juron oder als Gajon bezeichnen und die daher im Wesentlichen Nichtcigano bzw. Nichtcalon sind. Eine weitere Calon-Bezeichnung für Nichtcigano ist »Brasilianer« (Brasileiro). Während Portugiesisch für die Calen wie bei den Brasilianern im Allgemeinen die Muttersprache ist, verstehen die Nichtcalen jedoch kein Chibi. Daher wissen die loka-
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len Nichtcalen i.d.R. nicht, dass das Wort Calon überhaupt existiert, und folglich auch nicht, was es bedeutet. Anders gesagt, beide Bezeichnungen (Cigano und Calon) gehören zur Sprache der Calen, aber das Wort Calon gehört nicht zur Sprache der Mehrheitsgesellschaft. In diesem Sinne ist Calon ein Wort, durch das die Calen über sich selbst bzw. über andere Calen in der Anwesenheit von Nichtcalen reden können, ohne dass diese es mitbekommen; ein Wort also, welches die Calen nach innen verwenden. Dagegen ist Cigano ein gemeinsames, öffentliches Wort; ein Wort, welches die Calen nach außen verwenden.2 Außer als zwei Modalitäten von Selbstbezeichnungen sind Calon und Cigano in diesem Sinne manchmal auch als kantianische Kategorien anzusehen: Obwohl alle Calen sich als Ciganos betrachten, bezeichnen sich nicht alle Ciganos in Brasilien als Calon. Das ist z.B. der Fall, wenn Calen sich von anderen Ciganos im Kontext von Minderheitenpolitik durch die Vermittlung von Nichtcalen unterscheiden. Ciganos, die keine Calen sind, umfassen u.a. diejenigen, die gelegentlich auch von den Calen als »Türken« (Turcos) oder »Nieten-Macher« (Tacheiros, was auch auf »Schmiede« verweist) bezeichnet werden. I.d.R. werden die Calen von Forschern als denjenigen Ciganos identifiziert, die den Kontinent zu Beginn der Kolonisierung Brasiliens betreten haben (vgl. z.B. Lopes da Costa 2005), während die Turcos mit denjenigen Ciganos assoziiert werden, die erst später, ab dem 19. Jahrhundert, auf verschiedene Weise hauptsächlich aus osteuropäischen Ländern nach Brasilien kamen (vgl. dazu Moonen 2008).3 Daneben
2
Scheinbar kann dieses Phänomen weltweit gefunden werden. So fasst Patrick Williams die Beziehung zwischen den gegenseitigen Abgrenzungen zwischen Zigeunern und Nichtzigeunern im Allgemeinen und den Wechselwirkungen der Identitätskonstruktion der Ersten zusammen: »Wir begegnen ihnen [den Zigeunern] nur eingefasst in eine Gesellschaft – sie werden im Kontakt mit dem Anderen zu ›Zigeunern‹. Es ist richtig, dass die Zigeuner durch diesen Prozess nicht zu Zigeunern werden, sondern zu Gadjkene Manouches, Rom Lovara, Sinti Piémontais, Roms Gabori, etc. Aber jedes Mitglied der Gemeinschaft muss ›die Zigeuner‹ in den Augen der Außenwelt verkörpern, sprich die Bilder und Vorurteile auf seinen Schultern tragen, welche die europäischen und anderen Gesellschaften unter dem Etikett ›Zigeuner‹ gesammelt haben. Diese Phantasmagorien ›machen‹ die Zigeuner, und die Identitätskonstruktionen der Rom Lovara, der Gadjkene Manouches, der Sinti Piémontais, der Roms Gabori geben diesen Phantasmagorien Raum.« (Williams 2011a, 52)
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Persönlich habe ich keinen Turcos bzw. Tacheiros kennengelernt. Flüchtig sah ich einige Personen im Gebirge in Rio Grande do Norte (RN), wo sie aus einem Auto heraus unterwegs Winterdecken verkauften. »Das sind Turcos«, sagte mir ein Calon. In
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gibt es auch Sinti, die vermutlich mehrheitlich aus Italien nach Brasilien eingewandert sind (vgl. Trevisan 2019 apud Tauber im Vorwort, 14).4 Um die Calen von diesen anderen Ciganos zu unterscheiden, klassifizieren und bezeichnen vermittelnde Nichtcalen die Calen auf Portugiesisch oft als »Calon-Cigano« (Ciganos Calon), wodurch Cigano zu einem Oberbegriff und Calon zu einer spezifischen Unterkategorie von Cigano werden. Diese Aspekte von Calon und Cigano als zwei Selbstbezeichnungen (jeweils nach innen und nach außen) und als Selbst- und Fremdkategorien weisen auf einen Unterschied zwischen der dichotomischen Wahrnehmung Calon/Juron (aus der Perspektive der Calen) und der Cigano/Nichtcigano (aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung), obwohl diese Dichotomien sich großenteils überlappen. Dieser Unterschied ist analog zu dem, den Jane Dick Zatta und Leonardo Piasere (vgl. Piasere & Zatta 1990) bei den Roma in Italien beschreiben und den Martin Fotta wie folgt zusammenfasst: »The authors distinguish between the idea of an ethnic group (a non-Gypsy view), on the one hand, and adherence to a Roma way of life and forms of evaluating behaviour where the Gadze [Jurons] serve as the ›outside‹ (a Roma view), on the other.« (Fotta 2018, 20) Als Teil der Mehrheitsgesellschaft konstituiert die Sprache der Jurons auch eine Umwelt mit, in der die Calen leben und eine eigene Welt erschaffen. Dieses Argument kann durch eine weitere Beobachtung verstärkt werden. Der Ausdruck Nichtcalon bzw. Nichtcigano (não-Cigano) ist vor allem als wissenschaftliches Konstrukt zum analytischen Zweck gedacht und wird von den Calen oder den lokalen Nichtcalen selbst nicht verwendet. Stattdessen verwenden die Calen die Bezeichnung Juron, wenn sie von Nichtcalen unter sich reden, auch wenn diese anwesend sind. Obwohl es nicht die Regel ist, wissen manche lokale Nichtcalen, dass sie von Calen als Juron bzw. als Brasilianer bezeichnet werden. Calon und Cigano sowie ihre Gegensätze (Nichtcalon, Nichtcigano bzw. Juron) werden also nicht immer und überall und von jedem ohne Weiteres verwen-
Sertão erzählte mir eine Bewohnerin von Cachoeira dos Índios, dass dort vor vielen Jahren einmal eine Gruppe »verschiedener Ciganos« erschienen sei und in einem Zirkuszelt eine Kinovorstellung gegeben hätte. »Ich glaube, sie waren Spanier«, sagte mir das dort ansässige Mädchen. In den Ortschaften in RN und in Bahia (BA), wo ich meine Feldforschung durchführte, waren Calen deutlich häufiger zu sehen als Turcos. 4
Ich habe auch von einigen gehört, jedoch keinen persönlich kennengelernt. Ein sich für Ciganos engagierender Pater erzählte mir einmal, dass viele Sinti im Zirkus arbeiteten.
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det: Diese Wörter zirkulieren innerhalb von dem und durch das, was ich Tauschkreisläufe nenne. Als Tauschkreisläufe verstehe ich eine Fusion von sozialen Kreisen, wie Georg Simmel sie konzipiert hat (vgl. Simmel 1992 [1908], 456511; auch Nollert 2010, 157-165), und die Modalitäten von Tausch im Sinne von Marcel Mauss (1990 [1923]). Durch die verschiedenen Tauschmodalitäten, die die Tauschkreisläufe mitkonstituieren, werden die Übergänge von Personen, Wörtern und Dingen u.a. zwischen verschiedenen Welten bzw. Lebensrealitäten reguliert. Die Wörter Calon und Cigano können jedenfalls sowohl als Selbstbezeichnungen als auch als Kategorien im Deutschen als Synonyme aufgefasst und mit »Zigeuner« übersetzt werden, genau wie sie bspw. auf Englisch mit Gypsy oder auf Spanisch mit Gitano übersetzt werden. Im Gegensatz zu der abwertenden Konnotation des Worts Zigeuner, die im deutschsprachigen Raum und in mehreren osteuropäischen Ländern heutzutage relativ dominant ist, stellt sein Synonym Cigano an sich grundsätzlich kein ethisches Problem in portugiesisch- oder spanischsprachigen Ländern dar (vgl. dazu auch Brazzabeni et al. 2016, 23, und Lajus 2015). Daher betrifft die Kontroverse um die Benennungen von entsprechenden Minderheiten in Nordeuropa nicht das Leben der Ciganos in Brasilien, mit dem ich mich in diesem Buch befasse. D.h. nicht, dass das Wort Cigano in Brasilien keine negative Konnotation hat. Wie überall hängt diese in portugiesisch- und spanischsprachigen Ländern stark davon ab, wie es verwendet wird, in welchem Kontext und zu welchem Zweck. Man kann es sowohl als negatives als auch positives Attribut benutzen: Das ist vergleichbar damit, wie man z.B. von Indianern, Arabern oder Europäern reden kann. Auf jeden Fall ist Cigano ein Wort, das die Calen in der Öffentlichkeit benutzen, um sich selbst darzustellen (vgl. z.B. Araújo Souza & Coradini 2014), und das von Nichtciganos anerkannt wird. Bspw. wird am 24. Juni in Portugal und am 24. Mai in Brasilien der »Tag des Ciganos« (Dia do Cigano) offiziell mit Feierlichkeiten begangen. Zahlreiche Vereine bzw. Verbünde von politisch organisierten Familien tragen auch das Wort Cigano bzw. Gitano in ihrem Namen. Schließlich ist eines der stärksten Symbole für die Selbstbehauptung bei Calen durch das öffentlich benutzte Wort Cigano m.E. das Calon-Grab, dessen Foto am Ende dieses Buches zu sehen ist. Angesichts aller oben betrachteter Aspekte der Wörter Calon, Cigano und Zigeuner verwende ich sie und weitere diesbezügliche Termini in diesem Buch aus praktischen, methodologischen Gründen wie nachfolgend dargelegt: Calon nutze ich in erster Linie als die Selbstbezeichnung in eigener Sprache und unter Angehörigen derselben Gemeinschaften, deren Mitmenschen sich gegenseitig als solche anerkennen. Cigano verwende ich hauptsächlich als einen Oberbegriff, der die Gesamtheit von ähnlichen Minderheiten in Brasilien umfasst. Ich wende
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Zigeuner als analytische Kategorie für die Fälle an, in denen eine genauere Gruppenzugehörigkeit nicht festgestellt werden kann (vgl. Tauber 2014 [2006], 16). Entsprechend gebrauche ich Zigeuner als einen Oberbegriff auf globaler Ebene. U.a. umfasst Zigeuner Minderheiten, die sich selbst durch das entsprechende Synonym für das deutsche Wort Zigeuner in ihren eigenen nationalen Sprachen bezeichnen (z.B. Gypsies, Tziganes, Țigani, Gitanos usw.; vgl. z.B. Mucha 2007) und auch diejenigen Minderheiten, die nicht als Roma oder als Sinti bezeichnet werden wollen bzw. bei denen keine Variante von Romani Chib gesprochen wird (vgl. z.B. Stewart 2013, 419).5 Ein weiterer Grund, weshalb ich das Wort Zigeuner verwende, ist seine Fähigkeit, die nie gelöste Spannung um die verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Definitionen von Gemeinschaften auszudrücken, die mit dem Wort assoziiert werden (Streck 2008).
1.3 CIGANO-BESTATTUNGSBRÄUCHE ALS JURON-PROBLEM Wie bei mehreren Minderheiten ist es auch für viele Calen und andere Ciganos oft eine Herausforderung, sich den hegemonialen Bräuchen anzupassen und gleichzeitig die eigene kulturelle Souveränität durchzusetzen. Im Kontext von Trauer müssen sie grundsätzlich nach verschiedenen Weltbildern und jeweiligen Vorschriften agieren und daher eine passende Kombination finden, was sich i.d.R. nicht ohne Weiteres umsetzen lässt. Doch woran erkennt man interethnische Reibungen (vgl. Cardozo de Oliveira 1963 und 1978, 11) im Kontext von Sterben, Tod und Trauer zwischen Ciganos und Nichtciganos in Brasilien? Inwieweit und auf welche Art werden dort bei zwischenmenschlichen Verlusten Ciganos den Nichtciganos aufgrund ihrer Andersartigkeit entfremdet? Eine Vielzahl von ethischen Wahrnehmungen, Herangehensweisen und Erklärungsversuchen lässt sich u.a. durch flüchtige Hinweise, Notizen, Kurzerwähnungen, Auszüge, Beschreibungen oder Indizien zu Bestattungsbräuchen festmachen, die in verschiedenen Dokumentationsbereichen zu »Ciganos in Bra-
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In Europa gibt es z.B. zahlreiche Eigenbezeichnungen, die u.a. auf dem Beruf (Ursari, Kalderasch, Kovaci …) oder dem Ort (Piamontese, Halab, Tartare …) basieren (vgl. z.B. Hefty 2009). Außerdem beschränkt sich die Gesamtheit ähnlicher Gruppen auf keinen Fall auf europäische und amerikanische Räume, worauf mehrere Studien hinweisen (vgl. u.a. Streck 1996; Chou 2003; Wieck 2011; Günther 2016; Schwanke 2018).
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silien« zu finden sind: insbesondere in akademischen Studien, Berichten, Mitteilungen, Romanen und Kurzerzählungen oder in mündlich überliefertem Volkswissen (im Sinne z.B. von Robert Darnton 2009 [1984]), wie bei Totengräbern. In diesen Äußerungen von Nichtciganos sind Diskontinuitäten zwischen gewöhnlichen und fremden Bestattungsbräuchen in dokumentarischen bzw. literarischen Formen zu finden, die in dem einen oder anderen erhellenden Einblick oft entweder auf eine exotische Religion oder einfach auf Irreligiosität seitens der Ciganos hinweist. In zeitgenössischen lokalen und virtuellen Zeitschriften und Polizeidokumentationen befinden sich zwar mehrere Auszüge über einige Arten des Sterbens von Ciganos in Brasilien. Allerdings beschränken sich diese Quellen meist ausschließlich auf gewalttätige Tode, die nicht selten aus Konflikten mit anderen Ciganos und mit Polizisten resultieren und die mitunter als Indizien für die Ausübung von Blutrache als regelmäßige Umgangspraxis fungieren können. Jene Quellen sagen aber kaum etwas aus über die üblichen Bestattungs- und Beerdigungspraktiken oder über soziale Prozesse, die dadurch ausgelöst werden. Insofern habe ich diese Quellen von meiner Analyse ausgeschlossen. Statt eine ausführliche Sammlung aller bestehenden Alterisierungsformen darzulegen, setze ich im Folgenden ein kurzes und unvollständiges Inventar zusammen, um einen einführenden Blick auf konstitutive Elemente eines JuronImaginären zu gewinnen, die in Bezug auf das Leben des Ciganos und die Bestattungsbräuche in verschiedenen Kontexten in Brasilien zu finden sind. Dazu fokussiere ich zuerst auf die Literatur; dann auf zwei Geschichten, die mündlich und durch neue Medien jeweils erzählt wurden; und letztlich auf eine Diskussion im Rahmen einer Konferenz. Einerseits versuche ich einige Erscheinungen des verfremdeten Bildes von Ciganos als Minderheiten wahrnehmbar zu machen und sie andererseits als weiteren Ausdruck einiger brasilianischer Weltanschauungen zu präsentieren. Wie in zahlreichen Studien über Tod und Trauer bei Zigeunern, die in vielen verschiedenen Ländern erschienen sind, wurden auch die Bestattungsbräuche der Ciganos in Brasilien als eine spezifische Problematisierung von Nichtciganos mehrmals und unterschiedlich betrachtet und behandelt. Tod und Trauer finden sich bereits unter den Themen der ersten zwei bekannten Publikationen zu brasilianischen Ciganos. Alexandre José de Mello Moraes Filho hat 1885 eine Sammlung von Cigano-Dichtungen und -Liedern unter dem Titel Cancioneiro dos Ciganos (Liederbuch der Ciganos) veröffentlicht, deren Untertitel Volksdichtung der Ciganos von Cidade Nova (vgl. Mello Moraes Filho 1981 [1885/1886]) lautet. Diese Lieder bzw. Dichtungen wurden von ihm in drei Kategorien auf Chibi
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gegliedert: kambulins (Lyrik), kachardins (Elegien) und merendins bzw. mulondins (Trauerlieder). Unter den Letzteren, den mulondins, deren Bezeichnung sich aus dem Wort »mulon« (Tot, auf Chibi) ableiten lässt und die der Autor als »Volksrequiem« bezeichnet (ebd., 13), sind die Lieder bzw. Dichtungen zu finden, mit denen die Ciganos in Rio de Janeiro nach Mello Moraes Filho gewöhnlich ihr Bedauern zum Ausdruck brachten. Er argumentierte, das Temperament der Ciganos sei zum großen Teil von einer differenzierenden Schwermut geprägt. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte er sein Buch Os Ciganos no Brazil: Uma contribuição ethnographica (Die Ciganos in Brasilien: Ein ethnografischer Beitrag). Neben anderen Themen wie Ursprung, Migration, Verwandtschaft, Aberglaube bzw. Religion und psychologischen Betrachtungen gibt der Autor im sechsten Kapitel ein Gespräch wieder, das sich während einer Totenwache für einen verstorbenen Cigano ergab. Dabei schildert er imaginativ eine Trauerfeier bei Ciganos, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Cadeia Velha und in Valongo stattgefunden habe. Nachdem die Leiche des Verstorbenen auf die Totenwache vorbereitet war, »folgten die Trauererzählungen über seine Tugenden […]; [Die anwesenden Trauernden] erinnerten sich an die Kleidung, die der Verstorbene trug, seine Lieblingsspeisen, die Dichtungen, die er bei Festen vortrug […]. [Seine] Witwe schnitt sich die Haare, legte die Hälfte davon auf die Brust des Verstorbenen und wickelte den Rest in das Kleid, das sie in den Moment trug, als ihr Mann zum letzten Mal ausatmete. Während sie kabbalistische Wörter aussprach, warf sie alles in ein Lagerfeuer, das für diesen Zweck vorbereitet worden war. Vor dem Trauermarsch wurden die Kleidung des Verstorbenen, sein Geschirr, seine Gitarre, sein Schmuck usw. neben dem Schafott [cadafalso] gestapelt. Und sie janhavam [bzw. so etwa janhar-nípen auf Chibi; d.h. Weinten, Bedauerten, Verehrten ihn], während sie seine Sachen sukzessive aufhieben [...] Die Unglückliche [die Witwe], barfuß, gekleidet in ewige Trauer, ihre Kinder und Verwandten, begleiteten ihn.« (Mello Moraes Filho 1981 [1885/1886], 63f.)
Im Anschluss an diese vorangestellte Beschreibung berichtet Mello Moraes Filho von einer Trauerfeier, die er persönlich besuchte. Ihm zufolge fand diese Tochenwache im Wohnzimmer des Hauses einer Calon-Familie in Cidade Nova statt. »Die weit geöffneten Türen des Alkovens zeigen […] ein Oratorium aus gelben, blauen und fleischfarbenen Spitzen, Blumen aus derselben Farm und denselben Farben sowie mit
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goldenen Sternchen dekorierten Schmuck, die in einer besonderen Ästhetik um ein an die Wand genageltes Abbild der Jungfrau [Mutter Jesu] drapiert sind. Darunter steht eine alte Kommode; ein Glas Weihwasser, ein paar Rosmarinzweigen und zwei Glaskerzenleuchter mit brennenden Kerzen. Lavendel und Benzoe knistern beim Räuchern... Die Witwe schneidet sich die Haare und legt sie auf die Brust ihres Mannes [dessen Leiche auf einem Tisch in der Mitte des Wohnzimmers liegt]. Von diesem Moment an geht sie barfuß und setzt sich nicht mehr auf einen Stuhl, sondern auf den Boden in den Ecken. [...] Die Familie betrauert […] und hebt die Kleider des verstorbenen Mannes und seine Lieblingsgegenstände in die Luft. [...] Das janhar dauert bis zum Morgengrauen und wird nur durch den Eintritt einer Person unterbrochen, was die Witwe – nicht alle Leute – dazu bringt, über das Leiden ihres Mannes während der Krankheit und seine Todesstunde zu berichten. Dann betrauern [ihn] alle, während ihre Stimmen in einem molltonartigen Rezitativ lauter und leiser werden. […] Im Verlauf des Lärms, des Tumults und des Weinens lösen sich von Zeit zu Zeit lange hohe, hysterische Schreie von den Lippen einer Frau, die sich im Korridor herumquält. […] Nach der Beerdigung bleibt das Haus leer; Die Familie zieht in das [Haus] eines Verwandten um, der sie […] beherbergt.6 In der Wohnung, in der sich die Witwe befindet, ist das Spiel der Gitarre nicht mehr zu hören.« (Ebd., 65f.)
Daraufhin wechselt Mello Moraes Filho ohne einen Übergang zu einer dritten, kürzeren Beschreibung einer weiteren Trauerszene: »Es geschieht in einem Gastzimmer an der Rua do Alcântara. Die Ciganos kommen zusammen; Die Traurigkeit des einen steckt [die anderen] an.« (Ebd, 66) Im Rahmen dieser Trauerfeier bereiten sich die Anwesenden darauf vor, Gitarre zu spielen bzw. zu hören. Während die Spielmänner die Gitarre stimmen, bleiben die Frauen auf ihren Kiefernbänken sitzen und die Kinder hocken auf dem Boden. »Jedes Mal wenn ein Schatten sich perplex ausdehnt, erzählen sie gedankenversunken von einem Kummer [und] stimmen ein Trauerlied an.« (Ebd., 66) Beide Veröffentlichungen erschienen 1981 in einem Band mit zahlreichen Fußnoten von Luís da Câmara Cascudo, einem renommierten brasilianischen Folkloristen und Ethnologen, und mit einem für Cancioneiro dos Ciganos 1885
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Wenn ein Calon stirbt, werden »die Bestattungs- und Messenkosten von den Verwandten übernommen, die wie eine Schuld gegenüber dem Verstorbenen der Witwe und den Waisenkindern Aushilfe leisten«, so Mello Moraes Filho (ebd., 67).
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geschriebenen Nachwort von Sílvio Romero, einem Philosophen, Literaturhistoriker und Vertreter der Recife Schule. Beeinflusst von dem damals herrschenden evolutionistischen Ansatz sah Mello Moraes Filho, der ein Abolitionist war, die Bestattungsbräuche der Ciganos in Brasilien als Residuen einer früheren Kultur an, die auf dem Weg der unvermeidlichen Auflösung sei. Im Zusammenhang damit übernahm er die These eines altägyptischen Ursprungs der Ciganos, wie die Titelseite seiner Publikation in ABBILDUNG 1 widerspiegelt. Abbildung 1: Titelseite des Buches Os Ciganos no Brasil (1886)
Quelle: Mello Moraes Filho (1981 [1885/1886])
Allerdings bezeichnet er die Ciganos zugleich als »das Lot der Vermischung« (a solda da mestiçagem), um sie als rassisches Element beschreiben zu können, was eine Beziehung zwischen verschiedenen Völkern in Brasilien herstelle (Mello
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Moraes Filho 1981 [1885/1886], 27). Seine These entstand vor dem Hintergrund einer Herausforderung damaliger brasilianischer Forschern und Politiker, als Teil der nationalstaatlichen Bildung die ethnische Konstellation Brasiliens zu ermitteln und zu beschreiben (vgl. Romero 1981 [1885], 75f.). Die Arbeit von Mello Moraes Filho, der ein Abolicionist und antirassistisch war (Skidmore 1993, 57 apud Ferrari & Fotta 2014), ermöglichte in diesem Sinne einen zusätzlichen Blick nach innen, indem er die Ciganos als Teil der Nation porträtierte. Gleichzeitig stießen seine Schriften aus mehreren Gründen auf vehemente Kritik. Seine Arbeit ist z.B. gespickt mit Behauptungen, von denen der Leser nicht wissen kann, ob und inwieweit sie lediglich der Imagination des Autors entsprangen. Weil er weder sein empirisches Material und die Umstände, unter denen er dazu gekommen ist, noch seine bibliografischen Quellen ordentlich präsentierte und erklärte, wurde er von seinem portugiesischen Kollegen Adolpho Coelho (vgl. 1892, 285) kritisiert. Seine besondere Sorge um seinen Schreibstil, der von vielen als pompös charakterisiert wurde, trug zusätzlich dazu bei, seine Arbeit im Wesentlichen als Romantisierung des Themas und in dessen Konsequenz als Exotisierung der Ciganos in Brasilien zu betrachten. Auf dem Schutzumschlag des Buches (Mello Moraes Filho 1981 [1885/ 1886]) bestätigt Sílvio Romero, die Lieder der Ciganos habe der Autor selbst aus erster Hand dokumentiert, was durch seine Freundschaft zu einigen Ciganos ermöglicht worden sei. Allerdings fragt er, »Wurden alle dieser Lieder, die auf Portugiesisch sind, tatsächlich von Ciganos selbst komponiert? Werden nicht viele von ihnen eher aus den Bevölkerungen, die sie umgeben, erlernt?« (Ebd.) Doch hier scheint Romero gerade die Lieder zu ignorieren, die von Mello Moraes filho unmittelbar auf Chibi transkribiert wurden (ebd.). Nach Câmara Cascudo singen die Ciganos von Cidade Nova diese vierzeiligen Gedichte zur Begleitung einer Gitarre: »Die Authentizität dieser Liedersammlung begründet sich durch ihre Popularität unter den Ciganos. Alle kennen ihre Verse«, so Câmara Cascudo (ebd., 73). Bei aller Kritik erscheint mir dennoch ein Teil des ethnografischen Materials, das Mello Moraes Filho in diesem Buch zusammentrug, als wesentlich. Mehr als auf die Lieder an sich, die Coelho, Romero und Câmara Cascudo Endeffekt als eine wahrscheinliche Aneignung bei Ciganos von gewöhnlichen brasilianischportugiesischen Volksliedern ansehen, weisen die Gedichte außerdem auf die Gesangskultur hin, die heute bei mehreren Ciganos sowohl im Alltag als auch im Rahmen der Bestattungsbräuche zu finden ist. Wie ich in diesem buch (Kap. fünf) zeigen werde, nennen die heutigen Calen in Bahia diese Trauerpraktiken »jaimpem«. Wenn sich die Ciganos anhand dieser Gedichte und ähnliche Trauer-
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lieder gegenseitig erkennen, könnte dies dann nicht darauf hinweisen, dass die Nichtciganos also nicht genau wissen, worum es geht, wenn die Ciganos solche bekannten Lieder auf ihre Weise (d.h. als janhar-nípen bzw. jaimpem) singen? Das von Mello Moraes Filho beschriebene kollektive rhythmische Weinen bei der Totenwache konnte ich persönlich im Kontext einer Beerdigung und am Ende einer Hochzeit bei den Calen erleben. Neben Mello Moraes Filhos Beschreibungen von Trauerfeiern scheinen außerdem manche der von ihm übertragenen vierzeiligen Gedichte der damaligen Ciganos in Rio de Janeiro bspw. unmittelbar Denkweisen besonders provokativ auszudrücken, die circa ein Jahrhundert später dem theoretischen Ansatz von Patrick Williams (vgl. 2003 [1993]) und Elisabeth Tauber (vgl. 2014 [2006]) entsprechen, der seinerseits für die moderne Ethnologie wesentlich ist. D.h., dass Manusch (Mānuš) in Frankreich und Sinti in Südtirol niemals ohne schweigenden Bezug auf ihre eigenen Toten handeln, indem sie ihren Spuren aus Respekt folgen: »Se morreste para o mundo,
»Wenn Du für die Welt starbst,
Não morreste para mim;
Starbst Du doch nicht für mich;
Eu seguirei teus caprichos
Deinen Capricen werde ich folgen
Até meus dias dar fim.«
Bis ans Ende meiner Tage.«
(Mello Moraes Filho 1981 [1885/1886], 65)
Oder: »Quanto mais calado estou
»Je mehr ich schweige
Mais a minha pena eu digo,
Desto mehr verrate ich meinen Kummer,
Porque meu silêncio expressa
Weil mein Schweigen den Schmerz ausdrückt,
A dor que trago comigo.«
den ich mit mir herumtrage.«
(Ebd., 36)
Mit seinem Werk antizipierte Mello Moraes Filho zum Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Aspekte der Trauerarbeit der Calen, denen ich im Kontext meiner zwischen 2008 und 2012 verrichteten Feldforschung begegnet bin. Zwölf Jahre nach der Publikation von Os Ciganos no Brazil wurde ein Buch veröffentlicht, das weitere Beobachtungen zu Bestattungsbräuchen brasilianischer Ciganos präsentiert. In The Jew, The Gypsy and the Islam erwähnt Sir Richard Francis Burton (vgl. 1898, 282-285), der wenig in die Diskussion zur nationalstaatlichen Bildung Brasiliens involviert war, eine seiner Begegnungen mit Ciganos während seiner Reise 1866 durch den brasilianischen Bundesstaat São Paulo. Ohne besondere Aufmerksamkeit darauf wird neben generellen Beobach-
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tungen zu allgemeinen Eigenschaften der ihm begegnenden Ciganos das Thema ihrer Trauerrituale eingewoben: »Their chief occupations are petty trade and fortune-telling, when they reveal for a consideration all the mysteries of ›love and law, health and wealth, losses and crosses‹. They also ›keen‹ at funerals during the livelong day, and drink, sing, and dance through the night – a regular wake.« (Ebd., 285)
Dieses Ausrichten von Totenklagen bei Ciganos während der Totenwache als Fest ist, wie von Burton erwähnt, ein Element der Bestattungsbräuche, das die Nichtciganos in Brasilien im direkten Erleben wenigstens heute noch irritieren kann7. In Bezug auf eine damit mögliche verbundene Religiosität schreibt er: »They protest themselves to be pious Catholics, yet they are so far the best of Protestants, as they protest, practically and energetically, against the whole concern. Their religion, in fact, is embodied in the axiom: ›Cras moriemur – post mortem nulla voluptas.‹« (Ebd., 283) Wie ich in diesem Buch argumentiere, wird dieses Axiom (auf Dt. etwa: »Morgen sterben wir: Nach dem Tod gibt es keine Vergnügungen«) bei den heutigen von mir begegneten Calen gelegentlich, wenn auch auf andere Weise (z.B.: »Nach dem Tod ist es vorbei«), geäußert, um das weitere Sprechen mit einem Juron zu unterbrechen. Eine weitere flüchtige Beobachtung zu Beerdigungen bei Ciganos in Brasilien findet sich erst mehr als zwei Jahrzehnte später, in einem Text von Augusto de Oliveira e Souza (2004 [1921]) als Beispiel für einen verwirrenden religiösen Glauben aufgrund eines angenommenen Mangels an Zivilität. Deutlicher drückt sich dies in dem Bild aus, welches der Verfasser vom Leben und Alltag der Ciganos auch im Bundesstaat São Paulo zusammenfassend vorstellt: »Gibt es viele Ciganos hier? Endlos! Reis’ auf diesen Straßen herum, um’s zu sehen … Es ist ein Ameisenhaufen. Überall sieht man ihre Karawanen.8 Tagsüber reisen sie oder sind
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Nach João José Reis wurden Bestattungen im 19. Jahrundert in Brasilien häufig als
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Die große Anzahl an Ciganos wurde ebenfalls sowohl von Brepohl (vgl. 2004 [1932]
Festlichkeiten durchgeführt (Reis 1991, 137ff.). und 1937) über ein Jahrzehnt später im Bundesstaat Paraná als auch von Burton mehrere Jahrzehnte davor wahrgenommen: »The Romá of the North American Republic are well known, and their emigration is of modern date. […] On the other hand, South America is very little known; and yet the part with which I am most familiar, the Brazil, is full of Gypsies.« (Burton 1898, 282).
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sie unterwegs, abends schlagen sie die Lager auf und übernachten in Zelten am Rande der Wege. […] ›Diejenigen, die sterben, werden in den Wäldern, in den Höhlen, in den Tälern, unter der Obhut eines charakteristischen Kennzeichens oder eines Kreuzes begraben. Nach dem Ausrichten der Beerdigung ziehen sie sich mit exotischen Riten zurück, die aus einer Mischung von unverständlichen Religionen resultieren. Und gehen weiter‹« (Oliveira e Souza 2004 [1921], 96-97)
So erscheinen die Bestattungsbräuche der Ciganos im Hinterland von São Paulo unter anderen Diskontinuitätselementen schon damals als kontrastiv in Bezug auf die der lokalen Mehrheitsgesellschaft. Nach Ático Vilas-Boas da Mota (vgl. 2004, 95) war Oliveira e Souza ein Dramatiker und schrieb mehrere literarische Werke. Im Gegensatz zu Mello Moraes Filho, für den die Ciganos ursprünglich aus Ägypten stammten und in Brasilien als »Lot« der Nation wirken, und Burton, der Ähnlichkeiten zu den europäischen Gypsies erkannte,9 hielt Oliveira e Souza die Ciganos in Brasilien für eine autochthone Gruppe, gebildet aus dem Residuum der brasilianischen Völkervermischung. Als eine Art »Subprodukt der Zivilisation« sah er die Ciganos jedenfalls als »ein soziales Problem« an, das die brasilianische Gesellschaft selbst geschaffen hätte, welches auch nur sie selbst durch eine geeignete Erziehungspolitik überwinden könne (Oliveira e Souza 2004 [1921], 98f.). Fast 30 Jahre nach der Publikation des erwähnten Textes von Oliveira e Souzas drückt auch João Dornas Filho eine ähnliche Sorge aus, wenn er von dem Mangel an Zivilität der Ciganos in Brasilien schreibt: »Als Mendonça Furtado im Jahre 1591 Bahia und Pernambuco als Vertreter des Heiligen Offiziums besuchte, wurden bei ihm Dutzende von Ciganos als Straftäter von Verbrechen gegen die Religion und Moral denunziert. Dieses Volk […] hat keine Religion.« (Dornas Filho 1948, 1) Am Schluss dieser Publikation, die eine große Anzahl von gewalttätigen Konflikten zwischen Ciganos und Nichtciganos, aber auch
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»Wandering about the provinces of S. Paulo and Minas Geraes, I often met Gypsy groups whose appearance, language, and occupations were those of Europe. They are here perhaps a little more violent and dangerous, and the wayfarer looks to his revolver as he nears their camp at the dusk hour; yet they are hardly worse than the ›Morpheticos‹ (lepers), who are allowed to haunt the country. Popular books and reviews ignore them; but the peasantry regard them with disgust and religious dread.« (Burton 1898, 283-284). Auch Coelho erwähnte Ähnlichkeiten zwischen Ciganos in Brasilien und in Europa (1892, 271).
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zwischen Ciganos untereinander anhand von polizeilichen Berichten kompilierte, fasst Dornas Filho seine Meinung über die Religiosität der Ciganos wie folgt zusammen: »Was die Religion betrifft, so handelt es sich um ein Volk von sehr defizitärer moralischer Formation, um sie [ihre Religion] fühlen oder zur Schau stellen zu können. Gama Rosa behauptet, dass die brasilianischen Ciganos zwar an der allgemeinen Religion des Landes teilnehmen, dass sie diese jedoch mit bizarren Handlungen verformen, indem sie z.B. Heiligenbilder mit Blumen und Bändern als Dank für Wunder in Form von Ornamenten aufstellen oder indem sie diese binden und als Strafe für nichtvollbrachte Wunder in die schattigen Ecken des Hauses werfen. Doch es sind Einzelfälle, falls es diese überhaupt gegeben hat, die uns dieser Autor anprangert. Der Cigano ist jeder Religion abgeneigt, er ist nichts anderes als ein Fetischist und Abergläubiger und verfügt über keine weiteren Fähigkeiten, um die moralische Welt zu fühlen, als die fünf von Nomadentum und Ignoranz verrohten Sinne. Als zivilisatorisches Element ist sein Einfluss auf unser gesellschaftliches Umfeld heutzutage insignifikant, obwohl er der Anforderung materieller Ordnung nicht abgeneigt ist. Mit dem Aufkommen des Automobils haben die Ciganos die Zelte abgelegt und die LKWs mit Plane übernommen, die sowohl als Transportmittel als auch als Sammelunterkunft dienen.« (Ebd., 41)
Obwohl ich die oben erwähnten Autoren und jeweiligen Gesichtspunkte in eine chronologische Reihenfolge einordne, haben sie doch relativ wenig miteinander zu tun. Bis dato kenne ich nicht mehr als sechs Autoren, die sich mit Ciganos in Brasilien zwischen 1885 und 1946 befasst haben. Neben José B. d’Oliveira China (vgl. 1936) und Friedrich Wilhelm Brepohl (2004 [1932], 1937) bilden Mello Moraes Filho, Burton, Oliveira e Souza und Dornas Filho die sogenannte erste Generation der brasilianischen Tsiganologie (vgl. Moonen 2011; Ferrari & Fotta 2014). Das weist auf lange Pausen hin, die nicht von konstruktiver Kontinuität überbrückt wurden, da die Arbeiten dieser Pioniere kaum aufeinander Bezug nehmen. Vielmehr wirkt jede Arbeit wie ein neuer Versuch, die Ciganos in Brasilien zu begreifen (vgl. dazu auch ebd.). Wie üblich legen die meisten ihrer Publikationen eher etwas über ihren Entstehungskontext offen als über die untersuchten Kollektive. In ihnen werden die Ciganos oft als Exoten beschrieben, die sich entweder aus abergläubischen, naiven und überängstlichen oder entgegengesetzt aus gefährlichen und zu verachtenden Menschen zusammensetzt, die ihr Ding machen, ein Ding, das für Außenstehende unverständlich bleibt. Dennoch wird dies nicht selten als kulturelles Überleben von Traditionen vergangener Zeiten und Orte angesehen. Diversität und Weiterentwicklungen der Kulturen
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verschiedener Ciganos in Brasilien werden kaum in Betracht gezogen, obwohl die brasilianischen Tsiganologen viel zu ihrer Dokumentation beitrugen. Erst ab 1981 wurde eine gewisse brasilianische Tsiganologie gebildet, die aber innerhalb der brasilianischen Sozialwissenschaften nur schwer, wenn überhaupt, an Sichtbarkeit und Relevanz gewonnen hat. Wichtige Arbeiten dieser Phase, die wertvolle ethnografische bzw. historische Materialien bieten, sind die Abschlussarbeiten und Forschungsberichte von z.B. Moacir Antônio Locatelli (vgl. 1981), Maria de Lourdes B. Sant’Ana (vgl. 1983), Rodrigo Corrêa Teixeira (vgl. 2007 [2000]), Sérgio Paulo Adolfo (vgl. 1999) und Mirian Alves de Souza (vgl. 2006). In Bezug auf die Trauerrituale der Ciganos hat ein Teil dieser zweiten und der dritten Generation die Prämisse der Akkulturation weiterverfolgt, während sich ein anderer Teil – hierzu gehören vor allem spätere Arbeiten wie die von Florencia Ferrari (vgl. 2010) – im Grunde mit der Anwendung der Reinigungstheorie, hauptsächlich nach Mary Douglas (vgl. 2009 [1966]), und der Performanztheorie auseinandergesetzt hat. Diese und weitere Studien zu Ciganos in Brasilien werde ich im Laufe dieses Buches gelegentlich erwähnen. Im Folgenden möchte ich zunächst zeigen, dass das Themenumfeld nicht auf den Forschungsbereich beschränkt bleibt.
1.4 »DAS GRAB DES CIGANOS«: VON DER NAMENLOSIGKEIT Angesichts der Verwunderung, Ängste und Faszination, die die als fremd empfundenen Bestattungsbräuche auslösen, versuchen sich neben akademischen Nichtciganos auch gewöhnliche Menschen in Brasilien an Vermutungen als potenzielle Erklärungen. Die folgende Geschichte, die mir im September 2009 vor Ort erzählt wurde, ist nicht nur ein einfacher Hinweis auf eine Rekonstruktionsarbeit des Todes eines jungen Ciganos vor vielen Jahrzehnten. Die Geschichte seines Sterbens wirft vielmehr ein Schlaglicht auf einige grundsätzliche Aspekte eines Szenarios, welches sich von Zeit zu Zeit und in verschiedenen Regionen in Brasilien variierend und oft überraschend als undomestiziertes Image wiederholt. Den spezifischen Hintergrund der Geschichte im damaligen, fernen und semiariden Sertão bilden die Umstände, unter denen ein Begräbnis durchzuführen war, wie z.B. die Benutzung von Hängematten statt Särgen oder das Erleben von Sterben und Tod als öffentliches Ereignis. Einige davon haben sich z.T. bis heute erhalten, wie die althergebrachte Untrennbarkeit zwischen den Lebenden und den Toten, die mit-
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ten in der Stadt und ungeachtet der modernen Vertreibung der Toten aus den urbanen Zentren (vgl. Ariès 2009 [1977]; Cymbalista 2011) koexistiert. Im Licht der interethnischen Reibungen verdeutlicht dieses Szenario einige Aspekte eines Juron-Bildes insbesondere in Bezug auf den sichtbarsten Teil der Trauerrituale der Ciganos, also die Beerdigungsriten. So äußern die Nichtciganos eines kleinen Dorfes im Bundesstaat Paraíba, das circa 600 Kilometer von einem der Orte meiner Feldforschung in Rio Grande do Norte entfernt liegt, ihr Erstaunen über die Bestattungsbräuche der Ciganos. Eines Tages, vor vielen Jahrzehnten, möglicherweise irgendwann zwischen den 40er und den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, traf eine Gruppe von Ciganos mitten in Sertão in Cachoeira dos Índios ein, um dort einen ihrer jungen Männer sterben zu lassen. »Sie kamen an einem Tag an, als er schon erkrankt war, am nächsten Tag ist er gestorben«, sagte mir Seu Egildo, ein lebhafter 77 Jahre alter lokaler Nichtcigano. Nach seinen Angaben habe er damals nicht nur dem öffentlichen Tod des jungen Ciganos wie fast jeder am Ort beigewohnt, sondern auch als einer der Leichenträger an der Beerdigung teilgenommen. Cachoeira dos Índios zählt heute einige tausend Einwohner und gilt offiziell als Stadt bzw. Munizipium. Damals war der Ort dagegen ein Dorf, nur ein Distrikt, circa 18 Kilometer von der Stadt Cajazeiras entfernt, diese war in der Region zu jener Zeit schon ein wichtiges kommerzielles Zentrum. Statt eines öffentlichen Platzes aber, der selbst in den kleinsten Ortschaften der Region üblicherweise als zentraler Verknüpfungspunkt zu finden ist, gab es in Cachoeira dos Índios eine Art einfachen Pavillon, der von Reisenden und Passanten als Anlaufstelle und zur Übernachtung genutzt wurde. Im Gegensatz zum »neuen Friedhof«, der erst zwei oder drei Jahre zuvor ganz am Rand dieser kleinen Stadt angelegt wurde, liegt »der alte Friedhof« immer noch sehr zentral und nur wenige Meter von dem heute nicht mehr existierenden Pavillon entfernt. Das Dorf ist um den alten Friedhof herum also etwas gewachsen, und es erreichte irgendwann den Status einer kleinen Stadt. Die Ciganos, die sich dort an jenem Tag versammelten, waren in der Gegend nicht unbekannt, genauso wie die Umgebung für die Ciganos nicht unbekannt war. Als sie ankamen, sind sie direkt zum Pavillon gegangen und haben sich dort niedergelassen. Obwohl noch jung an Jahren, litt der Sterbende an einer »natürlichen Ursache« (causa natural), so Seu Egildo. Da der Pavillon keine Wände hatte und damit komplett einsichtig war – er bestand bloß aus Holzsäulen und dem darauf ruhenden Holzdach –, war sein Sterben und Tod für jeden sichtbar. D.h., dass sich der sterbende Junge, seine Familie und weitere Gruppenangehörige der Öffentlichkeit ausgesetzt haben. Der junge Cigano litt dort, bis es gegen Mittag
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des nächstens Tag so weit war. Nach wie vor unter dem Eindruck der Ereignisse stehend, erinnert sich Seu Egildo daran, wie die Angehörigen der Gruppe gleich, nachdem der junge Cigano gestorben war, viel Lärm machten, und insbesondere, wie sie seiner nun verwitweten Frau die Haare abschnitten. Als ich ihn fragte, ob die Ciganos das aus Trauer gemacht hätten, hat er sich, ohne zu zögern, dagegen ausgesprochen, als ob er das nie in Erwägung gezogen hätte: »Ach, was? Nein… Es liegt daran, dass die Ciganos normalerweise solchen Blödsinn sowieso haben … [und im gleichen Atemzug korrigierte er sich schnell] hatten…« Seu Egildo verwies auf den im Dorf zentral gelegenen Friedhof, der ursprünglich direkt neben dem Pavillon lag, während er fortfuhr: »Auf jeden Fall haben wir uns dann versammelt und ihn mitgenommen, um ihn an der Ecke gleich dort zu vergraben.« Zusammen mit anderen habe er eine kleine Hängematte geholt, den verstorbenen Cigano darin eingewickelt und ihn so mithilfe eines Stockes zum Friedhof getragen 10. Seine Beschreibung entspricht dem Gemälde des Malers Cândido Portinari: Vorbereitung auf Beerdigung in der Hängematte (Preparando Enterro na Rede, vgl. ABBILDUNG 2). Seu Egildo erklärte mir zudem, dass es damals üblich war, die Toten auf diese Weise, also ohne Sarg, nur eingewickelt in eine Hängematte bzw. eine Decke, an einen Stock gebunden auf den Schultern zu tragen und in der Hängematte zu beerdigen. All diese Gegenstände wurden dem Leichnam mit ins Grab gelegt, auch weil niemand diese Dinge mehr benutzen wollte. Allerdings erinnerte sich Seu Egildo: »Die Ciganos wollten keinesfalls einen Sarg für ihren Verstorbenen.« »Am folgenden Tag, nach dem Begräbnis… Zack! Keiner von ihnen war mehr da. Sie sind weggegangen und kehrten nie wieder zurück!« Nicht etwa, dass kein Cigano mehr das Dorf besucht bzw. durchquert hätte, aber – so erklärte Seu Egildo – »seine Gruppe« begann nach dessen Tod, die Ortschaft zu meiden: Sie schienen das Dorf zu umgehen, immer wenn es auf ihrem Weg lag. Ihm zufolge hat ein anderer Bewohner des Dorfes von einer Frau der Gruppe des Verstorbenen per Zufall einmal Folgendes gehört: »Wir werden dort nicht mehr durchgehen, weil einer von uns dort begraben wurde …« Die Gruppe jedoch ist manchmal in der Umgebung aufgetaucht und einige Frauen sind in das Dorf gekommen, »um zu betteln«, meinte Seu Egildo.
10 Auch einige Sozialwissenschaftler erwähnten die Beerdigung in der Hängematte (vgl. Câmara Cascudo 2003 [1957], 122-126; Reis 1991; Riedl 2002; Cymbalista 2011). Ein Sarg war ein Luxus, den sich nicht jeder leisten konnte.
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Abbildung 2: Vorbereitung auf Beerdigung in der Hängematte (1958)
Autor: Candido Portinari
Da »der Cigano« auf einem schmalen Stück Erde begraben wurde, wurde ein sehr schmales, dafür aber auch ziemlich hohes, weiß gestrichenes Grabmal in Form einer vierseitigen Pyramide errichtet, auf dessen Spitze ein Kreuz angebracht ist (ABBILDUNG 3). Es handelt sich hierbei um ein kleines, aus Zement gefertigtes Grabmal, auf dem kein Name, kein Datum, kein einziges Wort und auch keine Nummer zu finden ist. Seu Egildo kannte den Namen des Verstorbenen nicht, obwohl er sich allgemein noch an viele Details erinnern konnte. Um das Grab stehen drei gewaltige Grabanlagen von seit langer Zeit im Ort ansässigen Familien, sodass das Grab kaum noch zu erkennen ist. Einige Einwohner haben sich über die Breite und Höhe bzw. Form des Grabmals lustig gemacht, welche auf den vermuteten Ursprung der Ciganos aus Ägypten hinweist. Manche sagen z.B. immer noch, dass »der Cigano« kopfüber begraben worden wäre. Doch später irgendwann hat jemand auf das Grabmal »O Cigano« geschrieben und ein sehr kleines Kreuz quer darunter gemalt. Noch heute pflegen einige Leute freiwillig und aus eigener Initiative »das Grabmal des Ciganos« (a cova do Cigano), wie es in der Gegend genannt wird. Unter der Aufschrift »O Cigano« gibt es eine kleine Aushöhlung, in die Kerzen gestellt werden können. Übrigens sah ich ein paar Kerzen darin, die zur Hälfte abgebrannt waren, wie auch manche in benachbarten Gräbern noch zu erkennen waren. In Bezug auf die Grabpflege erwähnte Seu Egildo einen seiner Freunde, der während der Zeit der Toten (época
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dos mortos) – d.h. den Vorbereitungszeitraum vor dem Tag der Toten, der in Brasilien am 2. November abgehalten wird – viele Gräber streicht bzw. putzt. »Das Erste, das er putzt, ist immer das des Ciganos.« Und, so fügte er hinzu: »Keiner hat in dem Ort jemanden beerdigt, wo er beerdigt wurde.« Abbildung 3: Das Grab des Ciganos, PB (2009)
Quelle: Eigenarchiv
Dieser hier betonte Vermeidungsakt – jemanden dort zu begraben, wo jemand anderer schon begraben wurde – kann als Ausdruck und Zeichen von Respekt, Angst bzw. Verehrung verstanden werden. Manchmal werden Ciganos besonders im Hinterland Brasiliens von Nichtciganos gefürchtet, entweder wegen des Gewaltpotenzials (was auch Rachebräuche einschließt), wegen magischer Kräfte oder wegen beider. Darüber hinaus werden einzelne Personen, die einen besonders schmerzhaften Tod erfahren haben, nicht selten von unbekannten Leu-
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ten verehrt. In einigen wenigen Fällen (mir sind zwei bekannt) können Gräber verstorbener Ciganos von der Mehrheitsbevölkerung angeeignet und gepflegt werden, obwohl sich die Familien des Verstorbenen prinzipiell dadurch gestört fühlen und dagegen ausgesprochen haben (vgl. z.B. Andrade Júnior 2009). Nachdem ich die Geschichte von Seu Egildo gehört hatte, suchte ich unter den lokalen Einwohnern nach anderen Versionen, die eventuell etwas ergänzen bzw. eine andere Sichtweise bieten konnten. Bastião Nogueira, 86 Jahre alt, ein Gevatter (compadre) von Seu Egildo – dem Patenonkel einer der Töchter Nogueiras –, erlebte das Sterben des jungen Ciganos selbst nicht mit. Da er kein Augenzeuge gewesen war und wie viele andere in der Ortschaft nur davon gehört hatte, missfiel es ihm, sich diesbezüglich direkt zu äußern. Stattdessen erzählte er mir lediglich, dass »die Ciganos« damals »Freunde« (amigos) seines Vaters gewesen seien. Früher besaß sein Vater einen Bauernhof, auf dem die Ciganos mehrmals kampierten. Tatsächlich erzählten mir verschiedene Nichtciganos, dass Ciganos früher auf den Bauernhöfen ihrer Eltern lagerten.11 Damals gab es in Cachoeira dos Índios aber keine eigenen schriftlichen Dokumente, Zeitungen oder Ähnliches, weder offiziell noch privat.12 Es ist möglich, dass schriftliche Dokumentationen dazu in Cajazeiras zu finden sind. Allerdings, da ich meinen Forschungsaufenthalt bei den Calen andernorts weiterführen wollte und ich dort nur en passant war, unternahm ich hier keine weiteren Recherchen. In Cachoeira dos Índios legte ich einen Zwischenstopp ein, weil mir eine alte Freundin und Kollegin, die mit mir an der Universität studiert hat und aus Cajazeiras stammt, von der bekannten Geschichte über »das Grab des Ciganos« erzählt hatte. Sie wusste selbst nicht genau, worum es sich dabei handelte. So sagte sie lediglich: »Es scheint, um die Geschichte eines Ciganos zu gehen, der um seine Tochter trauert …« Bevor ich die Ortschaft verließ, fragte ich Seu Egildo abschließend, was ihn damals an dem von ihm geschilderten Todesfall am meisten beeindruckt hatte. Ohne zu zögern antwortete er mir: »Ich wollte etwas über den Ursprung [a origem] der Ciganos wissen…« In der oben wiedergegebenen Geschichte sind Elemente wiederkehrender Wahrnehmungen, Eindrücke, emotionaler Zustände und offener Fragen von Nichtci-
11 Ebenfalls konnte ich von einer Tante von mir erfahren, dass viele Ciganos manchmal auf der Farm eines meiner eigenen Urgroßväter übernachtet hatten. 12 Damals war Analphabetismus auf dem Land bzw. in Sertão etwas Gewöhnliches. Lesen und schreiben zu können, war vor allem ein Privileg der höheren lokalen Klasse.
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ganos zu finden. Diese vielfältigen Elemente sehe ich als Teil der in diesem Buch zusätzlich erwähnten akademischen und nichtakademischen NichtciganoWahrnehmungen zu Tod und Trauer bei Ciganos in Brasilien an. Eine rezente Episode im Hinterland von Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat, der in einer der reichsten und industrialisiertesten Regionen Brasiliens liegt, stützt diese Annahme. Am 28. September 2014 wurde im Internet auf dem Blog eines Radiosenders namens Vang, der zu einer lokalen Zeitschrift der Stadt Marau gehört, ein Video unter dem Titel: Grabkapellen wurden während Cigano-Totenwache beschädigt, veröffentlicht. Darunter ist der folgende Text zu lesen: »Das Video oben zeigt den Zustand der Grabkapellen in Marau nach der Totenwache, die zwischen Mittwochnachmittag (27.) und Donnerstagmittag (28.) stattfand. Die Bilder wurden von einem Hörer […] aufgenommen und an den Reporter [A.] per WhatsApp gesendet. Es zeigt, dass die Teilnehmer der religiösen Zeremonie ein Lagerfeuer auf dem Bürgersteig im Hof der Kapellen gemacht haben. Außerdem wird die Sorglosigkeit deutlich, mit welcher der Ort bereinigt wurde. Die Zeremonie des Abschieds von den Toten dauert in der Cigano-Kultur sieben Tage. Allerdings wurde diese hier erwähnte Beerdigung am Donnerstagmittag abgeschlossen. Das bedeutet nicht, dass die Feierlichkeiten abgeschlossen sind. Die Ciganos, die bis zum Zeitpunkt der Beerdigung an den Grabkapellen waren, haben sich an einen anderen Ort innerhalb von Marau begeben. Nach auf dem Friedhof gesammelten Angaben werden sie dort das Ritual fortsetzen.« (Jornalismo Vang/JM 2014, 28.08)
Diese Nachricht reproduziert ein Gefühl des Unbehagens bei Nichtciganos angesichts des relativ rezenten Begräbnisses eines Ciganos in Marau, welches außerhalb der lokalen Mehrheitsordnung stattfand, während es von Ciganos innerhalb der und durch die üblichen Orte durchgeführt wurden, wo Nichtciganos ihre Toten normalerweise begraben, soeben wie vor Jahrzehnten in Cachoeira dos Índios. Verwirrung und Neugier unter Nichtciganos in Bezug auf die Bestattungsbräuche von Ciganos konnte auch ich persönlich mehrmals mitbekommen. Es ist kein Zufall, dass eben diese Frage: »Was ist der Ursprung der Ciganos?«, die häufigste, wenn nicht eine nahezu obsessiv verfolgte war, die Martin Fotta und mir von einem Rundfunksprecher eines Radioprogramms im Sertão von Bahia am Fuß der Chapada Diamantina gestellt wurde. Die Sendung wurde im Rahmen einer offenen Konferenz zu Ciganos im November 2009, circa 700 Kilometer südlich von Cachoeira dos Índios, aufgenommen, an der wir beide neben mehreren lokalen Ciganos, Studenten und Lehrern der dortigen bundesstaat-
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lichen Universität und einer religiösen Autorität der brasilianischen »Pastoral der Nomaden« (Pastoral do Nômades do Brasil), Pater Cleyton, teilnahmen. In Brasilien gibt es zahlreiche Pastorale, deren Ziel es ist, sich um verschiedene benachteiligte Gruppen zu kümmern. Sie werden nach denjenigen kategorisiert, die versorgt werden: Pastoral der Fischer, der Minderjährigen, der Gefangenen, der marginalisierten Frauen usw. 13 »Pastoral der Nomaden« schließt z.B. nicht nur verschiedene Gruppen von Ciganos ein, sondern auch Zirkusarbeiter und andere Leute, die mobile Dienste leisten bzw. nicht sesshaft leben. Eine andere Pastoral, die auch mit Ciganos in Brasilien zu tun hat, ist z.B. die Pastoral der Kinder. Über sie hatte ich auch die Möglichkeit, einen spezifischen Zugang zu Calon-Familien in Paraná zu bekommen. Bei der Konferenz stellte Pater Cleyton dem Publikum die Ciganos als biblisches Volk vor. Er meinte, sie seien schon in der Heiligen Schrift erwähnt worden, und zitierte die folgende Passage: »Mache den Raum deiner Hütte weit, und breite aus die Teppiche deiner Wohnung; spare nicht! Dehne deine Seile lang und stecke deine Nägel fest! Denn du wirst ausbrechen zur Rechten und zur Linken, und dein Same wird die Heiden erben und in den verwüsteten Städten wohnen.« (Jesaja/Isaias 54, 3-4) Das Thema der Trauerrituale bei den Calen kam bei der Konferenz während eines offenen Gesprächs zwischen Ciganos und Nichtciganos wieder auf. Was für die meisten anwesenden Nichtcalen schwer nachzuvollziehen war, beschrieb Pater Cleyton wie folgt: »Bei den Ciganos werden die Geschwister nie um das Erbe streiten, da es bei ihnen kein Erbe gibt. Niemand behält die Sachen eines Verstorbenen. Diese müssen verschenkt werden, solange er noch am Leben ist.« Aus dieser Aussage lässt sich ableiten, dass die Bestattungsbräuche der Ciganos zumindest eine soziale Funktion haben: die Vermeidung eines Konflikts unter den Ciganos. Während eines früheren Interviews mit Pater Cleyton, das zu diesem Zeitpunkt bereits acht Monate zurücklag, hatte er mir die Bestattungsbräuche der Ciganos, bei denen ich lebte, auf Basis seiner jahrelangen Beobachtungen beschrieben. Allerdings wertete er sie als »einen primitiven Brauch« ab, der seiner Meinung nach »neben anderen Bräuchen noch zu überwinden« wäre. Somit äußerte sich diese Autorität der Pastoral der Nomaden wie diejenigen Nichtciganos, die in den Bestattungsbräuchen der Ciganos keine kulturelle Souveränität erkennen.
13 Nach Szyszkowitz (2015): »Der Begriff Pastoral kommt vom lateinischen Wort Pastor = Hirte, und wird entweder mit Seelsorge gleichgesetzt oder steht für die mit Seelsorge beauftragten Einrichtungen der Kirche«. Um mehr über den Begriff Seelsorge zu erfahren, der sich mit dem von Pastoral überschneidet, vgl. Engemann 2007.
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Obwohl viele unter den oben erwähnten Alterisierungen wichtige empirische Befunde präsentieren, haben manche dabei wenn nicht wesentliche Aspekte der Bestattungsbräuche der Ciganos übersehen, dann doch manchmal anachronistische Vorurteile und Unklarheiten in Bezug auf sie verstärkt. Diese Art der Inkongruenz der Nichtciganos in Bezug auf die Trauerrituale der Ciganos umfasst weitere Aspekte des Lebens der Ciganos. Aus ethnologischer Sicht ist das nicht zu wundern: »In der Vormoderne sowie in vielen Parallelkulturen der Moderne, die auch heutzutage noch oft mit verfälschenden oder abwertenden Etiketten, wie beispielsweise ›Naturvölker‹ oder ›Primitivkulturen‹ versehen werden, tritt Religion als ›Erfahrungsreligion‹ in Erscheinung, d.h. als Komplex von Vorstellungen und Handlungen, der die Erfahrung des Wirkens weltimmanenter numinoser Wesen zum Gegenstand hat. In diesen Kulturen sind Mythos, Kultus und Alltag auf eine Weise miteinander verwoben, die es für den Blick von außen oft schwermacht, die Erfahrungsreligion in ihrer Eigenart zu erkennen. ›Sakral‹ und ›profan‹ können beispielsweise nicht immer genau unterschieden werden. Daher halten manche Beobachter die ›Naturvölker‹ für ›religionslos‹, wogegen andere meinen, ihre Lebensweise sei von der Religion durchdrungen.« (Bargatzky 2007, 9)
Im Laufe meiner Feldforschung konnte ich feststellen, dass die Trauerrituale vieler Ciganos zu verschiedenen Zeiten und Orten in Brasilien ein immer wieder auftretendes Problem darstellen: Falls sie überhaupt wahrgenommen werden, passen sie nicht zum hegemonialen Bestattungsschema der umgebenden Nichtciganos, wenigstens nicht vollständig. Weil die Rituale der Ciganos von den gewöhnlichen Trauerritualen ihrer Umgebung in vielerlei Hinsicht erheblich abweichen, dazu im Verlauf der Beerdigungen noch andere Rituale einbeziehen, und zwar öffentlich durchführen, bleiben sie in den Augen vieler Nichtciganos wie eine auf ewig offene, unbeantwortete Frage und somit wie ein undomestiziertes Image. An dieser Stelle möchte ich nur drei Aspekte von Alterisierungen hervorheben: erstens die Art und Weise, wie Ciganos ihre Bestattungsbräuche durchführen und deren öffentlicher Charakter; zweitens, inwieweit Nichtciganos als Zuschauende davon beeindruckt sind und wie sie Unverständnis und Verfremdung zum Ausdruck bringen; und drittens, wie zugleich eben diese eventuell verwirrten Nichtciganos sich an der Vermittlung und Durchführung der entsprechenden, mehrheitlichen Todesrituale eines verstorbenen Ciganos beteiligen. Auf die eine oder andere Weise tragen die hier erwähnten Alterisierungen allesamt dazu bei, die Bestattungsbräuche von Ciganos in Brasilien und die damit verbundene Religiosität (oder Irreligiosität) u.a. als Fragestellung und Untersuchungsgegen-
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stand der Sozial- und Geisteswissenschaften zu thematisieren und sie daher als solche zu konstituieren.
1.5 »DAS LEBEN DES CIGANOS«: EINE ETHNOGRAFISCHE THEORIE Den vielfältigen Formen von Missverständnissen und kulturellen Disqualifizierungen begegnet die Ethnologie bereits seit ihren Anfängen und ist daher bestens mit ihnen vertraut. Ein Großteil ihrer Aufgabe besteht gerade darin, von außen disqualifizierte Kulturen aus einer von innen heraus qualifizierten ethnografischen Perspektive zu rehabilitieren (vgl. Streck 1997, 2013). Während eines längeren Forschungsaufenthalts bei verschiedenen CalonFamilien in unterschiedlichen Siedlungen im Nordosten Brasiliens und durch direkte Beteiligung an Diskussionen, die die Dynamiken meiner Forschungsarbeit prägten (vgl. Halstead et al. 2008), verfasste ich eine Ethnografie über das Leben, Sterben und Weiterleben bei den Calen. Dazu fokussierte ich mich hauptsächlich auf die Beziehung zwischen den Trauerritualen von Calen und ihrer Konstruktion und Aktualisierung einer eigenen Calon-Welt, welche mit der Konstruktion einer Calon-Person als distinkt zu einer Juron-Welt/Person zusammenfällt (vgl. u.a. Mauss 1979 [1921a], 1979 [1929], 2003 [1924], 2003 [1935] und 2003 [1938]; Pina-Cabral 2010 und 2014). Obwohl ich von Beginn meiner Feldforschung an eine offene Haltung pflegte (vgl. Okely 2008), formulierte ich die folgenden Forschungsfragen als Ausgangspunkte: Wie gehen Calon-Familien in Brasilien mit Tod und Trauer um? Wie sehen entsprechende Rituale aus? Welche Rolle spielen im Fall eines zwischenmenschlichen Verlustes die sozialen Netzwerke, in die Ciganos eingebunden sind (Abstammungsgruppe, religiöse Gemeinschaft, Nachbarschaft und andere), und wie verhält sich individuelle Trauer zu kollektiven Vorschriften? Um meine ethnografische Theorie zu entwickeln, folgte ich einem Ansatz, den Gregory Bateson »a combination of loose and strict thinking« nennt (Bateson 2000 [1940], 75). Diese Kombination ist seines Erachtens das wertvollste Werkzeug in der Wissenschaft, um die epistemologischen Beschränkungen und Verluste sowohl mittels eines »stricter way of thought or exposition, […] ›operationalism‹ or symbolic logic or any other of these very essential systems of tramlines« als auch durch ein freies, völlig entfesseltes Denken in Bezug auf diese
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»formal thought and exposition« zu überwinden (ebd.).14 Wenn ich die vorliegende Arbeit als ethnografisch bezeichne, möchte ich hiermit betonen, dass sie an erster Stelle als eine ethnografische Theorie (vgl. Malinowski 1966 [1935], 317-340) zu verstehen ist. Wie Márcio Goldman (2006, 28) erklärt, ist eine ethnografische Theorie weder eine »eingeborene Theorie« (teoria nativa), noch das, was Bronisław Malinowski (1960 [1944]) später eine »scientific theory of culture« nannte. Sie ist vielmehr eine Art solides Zentrum, welches, anstatt die beiden gegensätzlichen Pole abzulehnen, sie in einem bemerkenswerten Gleichgewicht hält: »Das zentrale Ziel einer ethnografischen Theorie ist, ein Modell für das Verständnis irgendeines sozialen Gegenstands (Sprache, Magie, Politik usw.) zu entwerfen, das auch als eine Matrix von Intelligibilität in und für weitere Kontexte dienen kann, obwohl es in und für einen partikularen Kontext produziert wurde. In diesem Sinne ermöglicht sie, die bekannten Paradoxien des Partikularen und des Allgemeinen sowie vielleicht auch die der Praktiken gegen die Regeln oder der Realität im Gegensatz zu Idealen zu überwinden. Das ist so, weil es immer darum geht, die abstrakten Fragen in Bezug auf Struktur, Funktionen und Prozesse sogar zu vermeiden und sie stattdessen auf die Arbeitsweisen und Praktiken zu richten.« (Goldman 2006, 28)
Zwar trifft Tim Ingolds umgekehrt symmetrische Ansicht über »ethnografische Theorie« als Terminologie zu, gemäß der er es bevorzugt, sie eher »anthropology« zu nennen: »Indeed ethnography and theory resemble nothing so much as the two arcs of a hyperbola, which cast their beams in opposite directions, lighting up the surfaces, respectively, of mind and world. They are back to back, and darkness reigns between them. But what if each arc were to reverse its orientation, so as to embrace the other in an encompassing, brightly illuminated ellipse? […] If ethnographic theory is the hyperbole, anthropology is the ellipse.« (Ingold 2014, 393)
Doch in diesem Buch umfasst meine hier angewandte Idee von ethnografischer Theorie dieselbe Bedeutung, die Ingold der »anthropology« als Ellipse bzw. als
14 Michael Burawoy (vgl. 1998) unternahm einen sehr didaktischen Versuch, diese Bemühung methodologisch zu systematisieren. Zur konstitutiven und fruchtbaren Spannung zwischen empirischer Romantik und rationalistischem Universalismus der modernen Sozial- und Geisteswissenschaften vgl. Luis Fernando Dias Duarte 2004.
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»philosophy with people in« zuspricht; d.h. als »an enterprise energized by the tension between speculative inquiry into what life could be like and a knowledge, rooted in practical experience, of what life is like for people of particular times and places« (ebd.). Dieser Begriff von ethnografischer Theorie entspricht ebenfalls derjenigen Tätigkeit, welche Thomas Bargatzky »ethnologische Theoriearbeit« nennt: »Ethnologische Theoriearbeit leisten heißt also, im Medium des Begriffs ein Modell eines begrenzten Ausschnitts aus der unendlichen Vielfalt menschlicher Lebensverhältnisse zu errichten, das am Besonderen des jeweils untersuchten Falles das Allgemeine des urproduktiven menschlichen Handelns sichtbar macht. […] [D]ie Randbedingungen menschlichen Handelns sind durch die biotische, psychische und geistige Einheit aller Menschen bei gleichzeitiger Kulturgeprägtheit des Verhaltens gegeben.« (Bargatzky 1997, 178)
Die ethnografische Theorie, die ich hier als ethnologische Theoriearbeit entwerfe, hat die Umgangsweisen von Calen in Brasilien mit ihren Toten und mit dem Tod in verschiedenen Situationen in Gegenüberstellung zu Nichtcalen, d.h. den Jurons, zum Thema. Ihre Umgangsweisen lassen sich auch als Set differenzierender Praktiken, Handlungen und Arbeitsweisen verstehen. Gewissermaßen ließ ich mich auch von William Robertson Smith inspirieren, wenn dieser die religiösen Praktiken anstelle des Glaubens betont: »Our modern habit is to look at religion from the side of belief rather than of practice. […] When we approach some strange or antique religion, we naturally assume that here also our first business is to search for a creed, and find in it the key to ritual and practice. But the antique religions had for the most part no creed; they consisted entirely of institutions and practices. No doubt men will not habitually follow certain practices without attaching a meaning to them; but as a rule we find that while the practice was rigorously fixed, the meaning attached to it was extremely vague, and the same rite was explained by different people in different ways, without any question of orthodoxy or heterodoxy arising in consequence.« (Smith 2002 [1894], 16)
Während meiner Feldforschung hatte ich die Möglichkeit, gewisse Schlüsselelemente (Konzepte, kommunikative Handlungen bzw. Sprache und Symbole) kennenzulernen, die bei den vielfältigen Beziehungen der Calen in spezifischen Kontexten auftauchen, und die sie nutzen, um ihre eigene Welt wahrzunehmen, auszudrücken und somit erneut zu reproduzieren. Die Identifizierung dieser Elemente erfolgte durch verschiedene, miteinander kombinierte Methoden wie die Erhebung von Lebensgeschichten, die Analyse der Verwandtschaftsstruktur,
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freie Gespräche bzw. halbstandardisierte Interviews und systematische Beobachtung verschiedener Alltagspraktiken. In Ergänzung zur Beobachtung und Aufnahme dieser und weiterer formaler und diffuser Handlungen berücksichtigte ich gleichfalls die »modes of control and constraint, of silence as well as assertion and defiance« (Comaroff & Comaroff 1992, 11) unter den Calen. Zu diesen Schlüsselelementen gehört auch »das bloß Anekdotische«, das nach Judith Okely (vgl. 2011, 39) im Rahmen der Verfassung einer ethnografischen Theorie »the grounded potential for long term theoretical and ethnographic overviews and explanations, beyond place and time« (ebd.) hat. Der Rückgriff auf Anekdoten beim Weben einer Ethnografie ist ohne Frage als wesentlicher Teil der Theoretisierungsarbeit vorgesehen. Indem Goldman auf ein klassisches Konzept von Claude Lévi-Strauss zurückgreift, erklärt er, dass das Entwerfen bzw. die Formulierung einer ethnografischen Theorie bspw. »ein wenig aus dem wilden Denken« (Goldman 2006, 28-29) hervorgeht: Eine ethnografische Theorie »verwendet die sehr konkreten im Laufe einer Feldforschung und auch durch andere Mittel gesammelten Elemente, um diese in Form von leicht abstrakten Lehrsätzen zu artikulieren, die fähig sind, den Ereignissen und der Welt Intelligibilität zu bieten. […] Zu diesem Zweck wendet man sicherlich sehr konkrete Ereignisse, doch auch scharfsinnige einheimische Theorien und sich als hilfreich erweisende abstrakte Formulierungen an.« (Ebd.)
Meine ethnologischen Theoretisierungen zu den Lebensweisen und der sozialen Organisation der Calen im Nordosten Brasiliens nahmen allmählich die Form einer bricolage (vgl. Lévi-Strauss 1973) an, indem ich die während meiner Feldforschung fragmentarisch gesammelten Schlüsselelemente zu ihrer Trauerarbeit (als liturgische Handlung bzw. Arbeitsweise), rituellen Handlungen bzw. auf die Toten bezogenen Praktiken als ein Intelligibilitätsmodell einheitlich re-kombiniert bzw. re-arrangiert habe. Dies spielte eine wesentliche Rolle bei meiner eigenen ethnologischen Konstruktionsarbeit; diese Arbeit beschreibt Malinowski in Coral gardens and their magic wie folgt: »The main achievement in field-work consists, not in a passive registering of facts, but in the constructive drafting of what might be called the charters of native institutions. The observer should not function as a mere automaton; a sort of combined camera and phonographic or shorthand recorder of native statements. While making his observation the field-worker must constantly construct: he must place isolated data in relation to one another and study the manner in which they integrate. To put it paradoxically one could say
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that ›facts‹ do not exist in sociological any more than in physical reality; that is, they do not dwell in the spatial and temporal continuum open to the untutored eye. The principles of social organisation, of legal constitution, of economics and religion have to be constructed by the observer out of a multitude of manifestations of varying significance and relevance. It is these invisible realities, only to be discovered by inductive computation, by selection and construction, which are scientifically important in the study of culture.« (Malinowski 1966 [1935], 317)
Wenn ich von Elementen spreche, die ich während meiner Feldforschung sammelte, meine ich nicht etwa nur Daten, die dort faktenartig auf mich warteten. Vielmehr fußen diese Elemente auf konkreten Begegnungen, spezifischen Geschichten, Tatsachen und Träumen, Ritualen, Codes usw. einer Calon-Welt, die sich mir in alltagsbegleitenden Interaktionen mit einigen Calen als Kenntnis erschlossen. Diese Kenntnis »grows and is grown in the forge of our relations with others.« (Ingold 2014, 391) Diese Neuanordnung bzw. Artikulierung spezifischer Befunde konnte ich handwerklich (im Sinne von Mills 1956) vor allem durch und innerhalb von zwei komplementären transformativen Feldern (vgl. Strathern 1999) abwechselnd entwerfen: Im ersten Feld, dem der »ethnografischen Feldforschung« bzw. der CalonWelt sozusagen, habe ich die mir begegneten Calon-Systeme »of signs and relations, of power and meaning, that animate them [die ethnografischen Befunde]« (Comaroff & Comaroff 1992, 11), im Zentrum eines Lernprozesses angeeignet. Somit situierte ich meine Befunde grundsätzlich im Licht des Lebens des Ciganos (a vida do Cigano), um dies als privilegierte Deutungsreferenz anzunehmen und konsequent epistemologische Folgen daraus zu ziehen. Im zweiten Feld, dem der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, präsentierte ich teils systematisierte ethnografische Daten bzw. Teilergebnisse, die ich innerhalb der ethnografischen Forschungslokationen explorierte, um sie im Rahmen verschiedener akademischer Veranstaltungen im Licht von sozialen Theorien, einem ethnologischen Vergleich und einer kulturhistorischen Analyse zu diskutieren. Dabei konnte ich bei informellen Gelegenheiten ethnografisches Material mit einigen Kollegen bereichernd austauschen. Während ich meine analytischen Übungen und das Verfassen innerhalb und durch diese ko-extensiven transformativen Felder durchführte, habe ich nicht vergessen, dass Bedeutungen einigermaßen »arbitrary and diffuse« sind (ebd.), und dass »social life everywhere on the imperfect ability to reduce ambiguity and concentrate power« (ebd., 10f) basiert. Somit wob ich meine Ethnografie in Form einer vielfältig konstituierten ethnografischen Theorie zu den Modi, wie die Calen eine eigene Calon-Welt innerhalb und aus anderen Welten durch ihren
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kulturellen Kontakt konstruieren, als eine »exercise in dialects rather than dialogics, although the latter is always part of the former« (ebd., 10f). Da die Konstruktionsmöglichkeit einer Calon-Welt gewöhnlich einer kulturellen Wiederaneignung (vgl. Sahlins 1997) und Modifizierung spezieller Symbole, Sitten, Werte und weiterer Elemente der umgebenden hegemonialen Mehrheitsgesellschaft (und all ihrer Darstellungspraktiken) zugeschrieben wird, bin ich davon ausgegangen, dass ein wirksamer Weg für die Calen, solche Verwandlungen zu realisieren und somit eine eigene Welt innerhalb der Welt der anderen konstruieren zu können, ein ritueller Weg wäre. Diese Annahme wird durch theoretische Ansätze begründet, die Rituale nicht als Kontrapunkt zu Alltagsgeschehnissen, sondern als Teil davon verstehen. 15 Zudem vollziehen die Calen, wie übrigens die meisten Menschen, ihre Trauerarbeit im alltäglichen Leben.
1.6 DIE STRUKTUR DIESES BUCHES In diesem ersten einleitenden Kapitel war es meine Hauptabsicht, das Thema und die ethnologische Fragestellung dieses Buches darzulegen. Dabei versuchte ich erstens zu zeigen, dass die Art und Weise, wie mehrere Calen in Brasilien mit dem Tod umgehen, für Nichtciganos an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten als problematisch erscheint und eine gegenwärtige Herausforderung bleibt. Ich führte auf, wie sowohl Akademiker und lokale Autoritäten als auch Nichtakademiker die Bestattungsbräuche von Ciganos in Brasilien wahrnehmen und diese nicht selten selbst entfremden. Zweitens richtete ich die Aufmerksamkeit darauf, dass der Umgang der Calen mit dem Tod und den Verstorbenen im Kontext ihres Lebens als Minderheit unter den sie umgebenden Nichtciganos auf eine eigene Calon-Ethik hinweist. Interethnische Reibungen, Alterisierungen und Schismogenese scheinen sich zwischen Calen und Jurons im Kontext von Tod großenteils dann zu entwickeln, wenn die Jurons diese Calon-Ethik nicht wahrnehmen und erkennen, während die Calen sie paradoxerweise öffentlich praktizieren, ohne sie zugleich zugänglich zu machen. Das tun die Calen, indem sie von Gefühl reden und danach handeln. Sie sind dabei, ihre rituellen Praktiken im Kontext des Todes und der Trauer gegenüber ihrer umgebenden Mehrheit souverän aufs Neue zu behaupten. Dieses Buch ist eine ethnografische Theorie über jene Calon-Ethik, die es mir ermöglichte, Leben, Tod und Trauer unter einigen Calon-Familien umfassender zu verstehen.
15 Vgl. expliziter Bargatzky 2007 und Michael Houseman 1998 und 2006.
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Eine aus meiner Sicht spezifische Calon-Haltung den Toten sowie den Nichtcalen gegenüber wird im Kontext beständiger, vielfältiger interkultureller Kontakte mittels bestimmter Praktiken ausgeübt, durch die sich die Calen als Minderheit kreativ neuerfinden können. Diese Praktiken der Calen lassen sich daher als liturgisches Handeln (vgl. Bargatzky 2007, 277) ethnologisch übersetzen. Hier versuche ich, diese Calon-Ethik in Bezug auf den Umgang mit ihren Toten unter dem Zeichen des Gefühls als eine Erweiterung des alltäglichen Lebens des Ciganos, welches sich als eine differenzierende symbolische Weltkonstruktion bzw. -erfindung (vgl. Wagner 1981 [1975]) entfaltet, zu begreifen und zu beschreiben: eine Calon-Welt, die die Calen inmitten von Jurons, aber auch vor anderen Ciganos aufrechterhalten. Im zweiten Kapitel, Theoretische Subsidien, fasse ich wichtige Elemente des ethnologischen Feldes zu Tod, Trauer und Ritual in einem allgemeinen Kontext von kulturellem Kontakt und Austausch zusammen. Hier möchte ich zeigen, dass Trauerrituale als menschliche Konstrukte sowohl die Komplexität von lokalen soziokulturellen Organisationen und Machtbeziehungen ausdrücken als auch diese koproduzieren. Angelehnt daran erweitere ich die Diskussion auf eine brasilianische Realität. Weil es um Tod und Trauer im Rahmen von Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheit geht, illustriere ich die von mir vorgestellten Konzepte kurz anhand einer komparativen Digression bezüglich der Spannung zwischen der dominanten religiösen Ordnung und den marginalen Religionen im Brasilien des 19. Jahrhunderts. Ich führe zunächst Theorien u.a. der urproduktiven Gesellschaften und vom Ritual als Kommunikation und Machtverhandlung (vgl. Mauss (2012 [1899]), 2012 [1909], 1979 [1921b]; und Leach 2000 [1968]) ein, auf die ich gelegentlich zugreifen werde, um den religiösen Aspekt der Trauerrituale der Calen zu betonen. Am Ende des Kapitels stelle ich weitere Grundprämissen und Ausgangspunkte aus den Gypsy Studies bzw. aus der Tsiganologie vor, die ich heuristisch nutze, um meine ethnografische Theorie auszudifferenzieren. Wie ich in der Einführung bemerkt habe, findet die tsiganologische Diskussion in Brasilien nicht nur über die Bestattungskulturen von Ciganos, sondern auch über weitere Aspekte ihrer Lebensweise statt. Allerdings entfaltete sich diese Diskussion i.d.R. ohne Verbindung zu dem, was außerhalb Brasiliens und besonders in Europa diskutiert wird, genauso wie es wenige ethnografische Materialien zu Ciganos in Brasilien (sowie auch in Lateinamerika im Allgemeinen) in Europa gibt. Diese Verbindung versuche ich herzustellen, bevor ich zum nächsten Kapitel übergehe. Im dritten Kapitel, Eintritt ins Feld, stelle ich Aspekte der Möglichkeitsbedingungen für die Produktion ethnologischer Materialien im Rahmen meiner Feldforschung vor. Ich berichte von analytischen Herausforderungen, die sich im
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Laufe der Forschung ergaben. Dazu zählte z.B. die Möglichkeit, das Forschungsvorhaben als translokalen Vergleich anzulegen. Ich diskutiere, wie ich meine theoretisch-methodologischen Strategien aus mehreren verfügbaren Elementen artikulierte und gleichzeitig den Umfang meines Untersuchungsgegenstands und des verfügbaren Materials eingegrenzt habe. Dabei beleuchte ich grundsätzliche Zusammenhänge zwischen den mir begegneten Cigano-Welten, den Umständen meiner Aufenthalte, meinen Bezügen zu einigen Calen und meiner Suche nach einem Inventar ethnologischer Begriffe, die ich als konzeptuelle Werkzeuge zur Untersuchung meiner Problematik verwenden konnte. Das Kapitel ist in drei Unterpunkte strukturiert: Erstens geht es darum, die geografischen und zeitlichen Lokationen zu beschreiben, auf die ich meine Recherche konzentrierte, wie auch die Umstände, unter denen ich meine Materialien erstellt habe. Meine offene Haltung als teilnehmender Beobachter versuche ich dabei ebenfalls zu betonen und ihre Auswirkungen zu beschreiben. Zweitens erkläre ich, wie ich im Laufe der Feldforschung allmählich eine Strategie entworfen habe, um die Befunde aus zwei getrennten und nicht miteinander verknüpften Cigano-Regionen aufeinander zu beziehen und sie zu vergleichen. Ich argumentiere, dass ich meine Begegnungen mit und Begleitung von Calen in Rio Grande do Norte (RN) und in Bahia (BA) gemeinsam in Bezug auf ihre Trauerrituale thematisieren kann, ohne dazu zwei verschiedene Ethnografien schreiben zu müssen. Im Gegenteil, ich lehne mich an die Theorie der Fraktale von Benoît Mandelbrot (apud Bargatzky 2007, 154156) an, um zu argumentieren, dass die Produktion von einer Calon-Person/Welt durch ihre Trauerrituale als fraktale Realisierung eines Selbst (»das Leben des Ciganos«) verwirklicht wird. Drittens führe ich einige Grundaspekte der sozialen Organisationen der Calen in RN und BA ein. Im Einzelnen betrifft das Kleidung, Wohnen, Wirtschaft, Feste, Endo- und Exogamie, Sprache, Blutrache und Fluchtkultur als Elemente, die zu einer vida Cigana gehören. Dabei versuche ich Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen ihnen hervorzuheben. Gemeinsam ist Ciganos in RN und BA sowohl, dass sie ihr Cigano-Leben unter Jurons führen, als auch, dass alle diese Grundaspekte betroffen sind, wenn ein zwischenmenschlicher Verlust bei ihnen eintritt. Im vierten Kapitel, Von Grenzen als Heim, versuche ich, einen Perspektivwechsel anzuregen, der als Übergang zu dem sich daran anschließenden Teil des Buches dienen soll: Man braucht kein Cigano zu sein, um einen Cigano zu verstehen, aber es hilft sehr, etwas weniger Juron zu sein. Diese Bemühung trägt dazu bei, die Narrative der Calen als Calon-Geschichte, die sie einander erzählen, als eine Calon-Historie der Calen (und nicht von Ethnologen, Historikern und anderen Tsiganologen) zuallererst und mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit zu
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betrachten. Diese zeitliche Relativierung versteht sich analog zu der Art und Weise, wie sich mehrere Calen innerhalb einer Juron-Welt räumlich organisieren. Meine ethnologischen Ausführungen und Interpretationen hinsichtlich des Lebens des Ciganos lassen sich nur vor dem Hintergrund dessen verstehen, was spezifische Personen in Bezug auf ihr Leben und ihren Wertekosmos als Calon/Cigano mir gegenüber geäußert haben. Diese Strategie ist nicht anders als jene, welche Peter Gow in seiner Ethnografie angewendet hat, um den Bezug von im Regenwald Perus lebenden Gesellschaften zu ihrer Vergangenheit durch den und im Zusammenhang mit ihrer eigenen Kultur zu begreifen. So schrieb Gow, dass seine Herangehensweise »places history at the heart of the analysis, but the […] study is not a historical analysis of the native people of Bajo Urubamba. Instead, it deals with history from within native people’s culture.« (Gow 1993, 3) Im Zusammenhang damit präsentiere und begründe ich einerseits meine Annahme der Theorie des Respekts von Williams (vgl. 2003 [1993]) und Tauber (vgl. 2014 [2006] und 2008) wie auch meine partielle Aufnahme der Theorie der urproduktiven Gesellschaften von Bargatzky (1997 und 2007), um meine Befunde besser interpretieren zu können. Als Teil dieser Interpretationsarbeit bemühte ich mich andererseits stets darum, die Theorie meinen empirischen Befunden anzupassen. Anders gesagt, geht es darum, die ethnografischen Beiträge von Williams und Tauber mit den Linsen zu interpretieren, welche meine Begegnungen mit Calon-Familien herausgeschliffen haben. In den drei darauf folgenden Kapiteln versuche ich, aus einer intergenerationellen Perspektive die Bildung der Calon-Person bei verschiedenen Calen unter verschiedenen Umständen (das Leben, Sterben und Weiterleben) als von einer Juron-Person distinkt zu beschreiben. In Kapitel fünf, »Die Erkenntnis haben«, »in Gefühl sein«, erläutere ich einige Grundkategorien und Begriffe der Calen; sie benutzen diese sowohl, um ihre eigenen Calon-Welten und die Welten von anderen aufzufassen, als auch, um ihre eigenen Erlebnisse, Moralitäten und Tauschbeziehungen in einer für sie angebrachten Weise zu konzipieren. Zum »Gefühl« werden Calon-Konzepte wie »Erkenntnis«, »Sich-Etablieren« und andere hinzugefügt. »Die Erkenntnis, die man hat«, spielt dabei eine besondere Rolle, da die Calen damit die Beziehungen zwischen den Elementen, die eine Calon-Welt konstituieren, nicht nur identifizieren, sondern auch manipulieren können. Dabei versuche ich, gewisse Moralitäten und Zeitlichkeiten (vgl. Leach 2000 [1953], 2000 [1955b]) zu identifizieren und ihre Zusammenhänge hervorzuheben, um das Handeln bzw. Reden der Calen situieren zu können. Ich fokussiere mich dann auf ein Narrativ des ältesten Calons der Siedlung, in der ich meine Feldforschung durchgeführt habe, und
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versuche dadurch eine Geschichte seiner Geschwister (und der Siedlung selbst, in der die Mehrheit seiner Geschwister wohnt) aus einer Calon-Perspektive zu verstehen. Sowohl die Erkenntnis, die man hat, als auch das Gefühl, in dem man ist, erscheinen als Voraussetzungen für die Erfindung einer eigenen Calon-Welt. Während ich in Kapitel fünf den konzeptuellen Hintergrund sowie die Voraussetzungen für die Bildung einer Calon-Person/Welt z.T. aus einer Perspektive von alten Calen beschreibe, untersuche ich in Kapitel sechs, Über das CalonWerden, diese Bildung anhand der Beziehungen zwischen Calon-Erwachsenen und ihren Kindern. Um ermitteln zu können, wie die Calen mit den Toten umgehen, ist es notwendig zu erfahren, wie sie die Toten in ihren Welten situieren (vgl. Leach 2000 [1955a]). Meine Untersuchung der intergenerationellen Beziehungen zwischen Calon-Erwachsenen und Calon-Kindern dient in diesem Zusammenhang als Maßstab, an dem man abschätzen kann, wo die Toten als Altersgruppe stehen. Die Erziehung der Kinder verweist auf das, was die Erwachsenen für eine ideale Calon-Person im Kontrast zu einem Juron halten. Daraus folgen entsprechende Calon-Erziehungspraktiken und -Umgangsstrategien, mit denen Erwachsene versuchen, ihren Kindern als Vorbilder für wahre CalonWege zu dienen. Jedes Mal, wenn die Kinder im Rahmen dessen von den Erwachsenen als »Tote« gerufen werden, lässt sich der Status, ihre CalonVerstorbenen als Lebende wahrzunehmen, erkennen. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass Calon-Kinder die Calonität ihrer eigenen Calon-Erwachsenen teilweise infrage stellen. In diesem Kapitel wird deutlich, dass der Respekt in Bezug auf die eigenen Verstorbenen vor deren Tod selbst einsetzt. Diese alltägliche rituelle Calon-Umkehrung zwischen Lebenden und Toten zu kennen, ist eine Voraussetzung, um die Handlungen der Calen während ihrer Trauerrituale zu verstehen. In Kapitel sieben, Von einem verstorbenen Cigano zu einem Calon-Ahnen, widme ich mich der Bildung einer Calon-Person/Welt im stets interkulturellen Kontext von Beerdigungen und Trauerarbeiten der Calen. Wichtig wird hierbei sein, dass die Calen nicht nur unter Jurons, sondern auch unter anderen Calen leben, denen sie sich gelegentlich annähern oder von denen sie sich distanzieren. Im Kontext eines Todes verlangen sowohl die Jurons als auch andere Calen, dass die Calon-Trauernden ihre Verstorbenen entweder rituell transzendieren lassen oder dass sie vergessen werden. Deswegen müssen die Calen einen eigenen Weg finden, um zu vermeiden, dass ihre kürzlich verstorbenen Mitgefährten tatsächlich zu Toten (Jurons) werden. Eher müssen sie ihre Toten als Lebende (Calon) aus Gefühl bewahren und behandeln. Die zentrale Frage dieses Kapitels lautet daher: Wie können die Calon-Trauernden sich zwischen Jurons und anderen Ca-
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len bei einem Todesfall so durchsetzen, dass sie ihre Integrität bewahren können, ohne mit ihnen in Konflikt zu geraten? Ich zeige, dass die obviierenden Praktiken der Calen im Laufe einer Beerdigung antistrukturell (vgl. Turner 2008 [1969]) wirken, wenn sie zu einer Vercalonisierung der lokalen Juron-Bestattungsordnung und dadurch zu einer Wiederbehauptung der Calen als Kollektiv führen. Allerdings wirken die häufig verborgenen Praktiken der Calon-Trauernden in Bezug auf diese Vercalonisierung der Juron-Bestattungsordnung auch antistrukturell, wenn sie zur Konstruktion von Grenzen zwischen ihnen und anderen Calen und daher zur Konstruktion selbstständiger Calon-Welten führen. Die eigenen Toten können ihren Calen den Weg zeigen, wie sie sich den anderen antizipieren können, wenn sie ihren Trauernden ihre Erinnerungen hinterlassen. Im Abschlusskapitel, Von Resonanzen als die Macht des Abwesenden, resümiere ich meine Diskussionen und leite theoretische Implikationen zu Tausch, Person und Trauer bei Ciganos ab. Ich reflektiere, ob und inwieweit die Praktiken der Calen im Trauerkontext einer Calon-Ethik entsprechen, die im Alltag von den toten Angehörigen beeinflusst und der ebenfalls gefolgt werden soll. Dabei argumentiere ich, dass die Umgangsweisen der Calen mit den Toten und wesentlichen Aspekten ihres alltäglichen Lebens sich als stetige Suche und Flucht, Vergemeinschaftung und Abgrenzung, doch vor allem als kreativ-rituelle Assimilation und Rekonstruktion von Differenz gegenseitig offenbaren, übersetzen und ko-konstruieren.
Teil II Begegnungen, Verschiebungen, Eingrenzungen
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Theoretische Subsidien
2.1 TRAUERRITUALE, WELTERSCHAFFUNG, KULTURELLER KONTAKT UND AUSTAUSCH Der Tod als soziokulturelles Phänomen ist eines der wichtigsten Themen der Ethnologie seit ihren Anfängen (z.B. Bachofen 1925 [1859]; Tylor 1947 [1871]; Frazer 1933-1936) sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften allgemein. Jede Gesellschaft bzw. Kultur hat eine eigene Beziehung zu ihren Toten und muss daher eigene Vorstellungen über den Tod und auf ihn bezogene Vorschriften entwickeln und bearbeiten (vgl. u.a. Bloch & Parry 1982; Danforth & Tsiaras 1982; Kóvacs 2008). Der Tod kann also als ein universelles Phänomen angesehen werden, das jedoch unterschiedlich betrachtet und ausgedrückt wird. Studien über den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer bieten die Möglichkeit, partikuläre Vorstellungen von Kosmos und Schicksal – und damit vom Selbst – zu verdeutlichen, sodass sie wesentlich zum Verständnis kollektiver Lebenserfahrungen und individueller Handlungsweisen in verschiedenen Kulturen beitragen. Die Beschäftigung mit den Toten und die Begegnung mit den Grenzen der eigenen Existenz regen Menschen in allen Gesellschaften unabhängig von Zeit und Raum dazu an, irgendeine Vorstellung über das Leben, den Kosmos und das Universum aus einer stets situierten Position und jeweiligen Perspektive auf die eine oder andere Weise zu aktualisieren (vgl. Benjamin 1996 [1935/1936]; Eliade 2007, 197-200; Balandier 1976 [1967], 125). Der Tod, als ein unausweichliches, unvermeidbares Phänomen, verlangt in diesem Sinne von den Lebenden immer wieder das Erschaffen von Ordnung, oder zumindest, dass die Lebenden diese suchen, erhalten und wiederherstellen. Menschen tun dies unabhängig davon, ob der Tod kulturell als Lebensende, Teil des Lebens oder als ein Übergang zu einem weiteren Leben aufgefasst wird. Nach Maurice Bloch (vgl. 1988) ist der Tod als sofortiges Ende einer menschlichen Existenz eine sehr spezifische Vorstellung, die außerhalb der Moderne kaum gefunden werden kann. Aus einer geschichtlichen Perspektive ver-
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stärkt die Studie von Philippe Ariès (vgl. 2009 [1977]) über die Repräsentationen von Tod im europäischen Mittelalter Blochs Argument. Im südamerikanischen Kontext behaupten João José Reis (vgl. 1997) und Renato Cymbalista (vgl. 2011), dass es den Tod im Brasilien des 17. Jahrhunderts im Grunde nicht gibt. Jedenfalls betrifft und mobilisiert die Aktualisierung, die der Tod von den Lebenden immer wieder aufs Neue verlangt, gleichfalls und unmittelbar eine Myriade von soziokulturellen Institutionen, die sich an der Verwaltung nicht nur des Todes und der Toten, sondern auch und als Teil davon des Lebens und der Lebenden beteiligen. Dazu gehören vor allem rechtliche, gesundheitliche und religiöse Einrichtungen und deren jeweilige Autoritäten. Diese Aktualisierung heißt also institutionelles Alignment: Jedes Mal, wenn eine Person stirbt oder im Sterben liegt, sollen die dafür als verantwortlich erachteten Grundinstitutionen mobilisiert werden. Das Phänomen des Todes ist deshalb grundlegend als eine totale soziale Tatsache (vgl. Mauss 1990 [1923]) anzusehen, weil es jede Gesellschaft in mehreren ihrer wesentlichen Aspekte betrifft. Das ist eine etablierte Idee und zugleich auch eine der grundsätzlichsten Prämissen, sowohl in der Ethnologie und Soziologie des Todes als auch in der Geschichte, Philosophie und Religionswissenschaft: Während das Phänomen des Todes Menschen überall und in all ihren existentiellen Aspekten und Totalitäten trifft, nehmen Menschen wiederum den Tod in ihren jeweiligen kulturellen Ordnungen, also nach eigenen Referenzen, auf. Somit nimmt der Tod trotz und gerade wegen seiner hierophanischen Universalität (vgl. Streck 2013) jedes Mal eine einzige kulturelle Form an, sobald er von Menschen in ihre partikulären Ordnungen, sozialen Umgebungen und Lebensweisen integriert wird, wie z.B. mittels verschiedener Bestattungsbräuche. Es scheint Teil dieser weltweit zu findenden Aktualisierungsbemühungen einer lokal existierenden Vorstellung vom Tod und Leben zu sein, dass Verwandlungen von einer Realitätswahrnehmung und einem existentiellen Zustand in eine andere Realität stattfinden (vgl. Hertz 2007 [1907], 159; van Gennep 2005 [1909]). Rita Astuti fasst dies folgendermaßen zusammen: »[O]rdinary people all around the world […] transcend the reality of biological death by routinely transforming lifeless, stiff, cold corpses into sentient ancestors, wilful ghosts, possessing spirits, pure souls or their equivalents, all of whom defy the biological constraints that impinge on human social life and on human creativity.« (Astuti 2007, 227)
Das bedeutet, dass der Tod einer Person mehrere Implikationen für die gesamte Gesellschaft hat. Der Tod an sich und die Toten selbst werden von denjenigen, die noch nicht gestorben sind, unterschiedlich wahrgenommen und aufgefasst.
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Und diejenigen, die noch nicht gestorben sind – d.h. die Hinterbliebenen, die Lebenden im Sinne derjenigen, die für die im Kontext von Sterben und Tod entstandenen Fragen passende Antworten und Verhaltensweisen zu finden haben –, sind lediglich die zukünftigen Toten. Demnach kümmern sie sich auch um sich selbst, wenn sie sich um ihre Toten kümmern. Die Hinterbliebenen, die Trauernden, sind also diejenigen, die die Verwandlung der Realitätswahrnehmung in Bezug auf ihre Toten als Personen innerhalb und als Teil ihrer jeweiligen konkreten Welten – und daher mithilfe geeigneter kosmologischer Akteure und Elemente, die ihnen zur Verfügung stehen – verwalten und durchführen. Alle Autoritäten, die irgendwie in der Durchführung dieser Umwandlungsarbeit im Kontext zum Tod involviert sind, können prinzipiell als soziale Personen im Sinne von Edmund Leach angesehen werden: »Power in any system is to be thought of as an attribute of ›office holders‹, that is of social persons who occupy positions to which power attaches. Individuals wield power only in their capacity as social persons.« (Leach 2000 [1954], 224) In vielen Kulturen scheint diese Transformation auf vielfältigen Ebenen durch die Identifizierung und Manipulation bestimmter Kanäle stattzufinden, die vor allem zwischen dem Heiligen (Sakralen) und dem Weltlichen (Profanen) bestehen. Nur durch das Erkennen von solchen Brücken, Kanälen und jeweiligen Vermittlern kann man mit den verfügbaren symbolischen bzw. physischen Elementen und Mitteln auf eine geeignete Weise umgehen oder einen adäquaten »Weg« (Bargatzky 2007, 281) beschreiten. Diese geeigneten Umgangsmodi und Manipulationen im Kontext von Sterben, Tod und Trauer tendieren dazu, rituelle Formen anzunehmen, welche eine situierte bzw. zu situierende Ordnung zum Ausdruck bringen. Trauerrituale, die wie in der vorliegenden Arbeit sowohl Bestattungsbräuche als auch Trauerarbeit umfassen, dürfen daher als Rituale angesehen werden, die besonders für die Durchführung und Verwirklichung der Verwandlungen von Lebenden in Tote und umgekehrt stehen. Trauerrituale dienen damit grundsätzlich als orientierte Vermenschlichung des Todes (vgl. Bloch & Parry 1982; Metcalf & Huntington 2008 [1991]), während sie umgekehrt sowohl den Tod als auch die Toten in ihren geeigneten für sie speziell gedachten und produzierten Orten und Zeiten am Leben halten. Anders gesagt, finden sowohl die Konzeptualisierung des Todes und der damit verbundenen Elemente als auch die Mobilisierung der dafür verantwortlichen Institutionen in den verschiedensten Kulturen hauptsächlich durch Rituale statt. Als Teil dieses Prozessses bringen Rituale die Einzigartigkeit jeder Kultur zum Ausdruck. Im Rahmen spezifischer Rituale (vgl. Ambos & Weinhold 2013) können autorisierte Personen diese Verwandlungsarbeit durch geeignete Modi als kontrollierbare Vorgänge (vgl. Turner 2008 [1969]) realisieren oder sie zumindest
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auf angebrachte Weise und daher prinzipiell mit einer gewissen Legitimität beeinflussen. Wie jeder Transformationsvorgang, der Verwandlungen von Wahrnehmungsrealitäten im Todeskontext durch Übergangsrituale in kontrollierter Weise ermöglicht und sie daher relativ handhabbar macht (vgl. Hertz 2007 [1907]; van Gennep 2005 [1909]), sind Trauerrituale gleichermaßen immer wieder kreative, »produzierende Tätigkeiten«, und zwar nicht nur symbolisch. Thomas Bargatzky meint: »Der Mensch, als handelndes und stellungnehmendes, ›weltoffenes‹ Wesen im Sinne der Anthropologie Max Schelers und Arnold Gehlens, wandelt mittels seiner Institutionen die Natur zu einer lebensdienlichen Kultur um.« (Bargatzky 2007, 103) Deswegen dürfen Rituale »im engeren ökonomischen Sinn, auf die Natur gerichtet [als menschliche ›Institutionen‹ betrachtet bzw. definiert werden], da die Produkte dieser Arbeit ein notwendiger Bestandteil der liturgischen Handlungen sind, etwa in der Gestalt von Lebensmitteln für die Verköstigung der Teilnehmer an den Kulthandlungen und Feierlichkeiten. […] Liturgisches Handeln soll hinfort, in seinem allgemeinen Sinn, als ein Handeln verstanden werden, das mythische Substanz in Kultus und Weltgeschehen gegenwärtig setzt.« (Ebd., 143-144)
Den Begriff von Weltgeschehen werde ich im Laufe der vorliegenden Arbeit gelegentlich verwenden. Nach Bargatzky entspricht Weltgeschehen dem, was gemeinhin als Tabu (vgl. Steiner 1967 [1956]) bezeichnet wird. Der Unterschied liegt darin, dass die Betonung auf seinen positiven Aspekt als liturgisches Handeln fällt; d.h. als eine Handlung, die durch Abgrenzung dazu beiträgt, eine spezifische Kultur oder Welt zu schaffen (vgl. Bargatzky 2007, 282). Wie ich hier argumentiere, findet die rituell einordnende und daher transformierende Beschäftigung mit den Toten und folglich eine Aktualisierung einer kosmologischen Vorstellung prinzipiell bei Lebenden, d.h. Noch-nicht-Toten, statt. Vielleicht darf der Tod als Haupthierophanie angesehen werden, da alle anderen dem Menschen nur insofern als bedrohlich erscheinen können, wenn der Mensch sich selbst als sterblich betrachtet. Der Tod erinnert daran und erregt daher Angst vor denen, die sein Ende antizipieren können, wie es der Fall bei anderen Hierophanien als Manifestierung des Heiligen ist. Deswegen kann man davon ausgehen, dass insbesondere die Trauerrituale als produzierende Tätigkeit einer gegebenen Kultur vielfältige und latente Aspekte ihrer alltäglichen Lebensrealitäten zum Ausdruck bringen und diese wiederum ebenfalls von Todeskonzeptionen geprägt sind, insbesondere, wenn man vom Kulturverständnis Simmels ausgeht: »Die Kultur des innersten Lebens steht in jedem Zeitalter in enger
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Wechselwirkung mit der Bedeutung, die es dem Tode zuschreibt. Wie wir das Leben auffassen und wie wir den Tod auffassen – das sind nur zwei Aspekte eines einheitlichen Grundverhaltens.« (Simmel 1910, 1)1 Wenn man dazu die rituelle Verwandlungsarbeit grundsätzlich als produzierende Tätigkeit betrachtet, wird in der Folge auch ein weiterer Aspekt sichtbar: Trauerrituale als produzierende, orchestrierte Handlungen führen zu einer Reproduktion der jeweiligen Weltordnungen, die sie gestaltet haben (vgl. Metcalf & Huntington 2008 [1991], 108-130). Dazu gehört die Produktion von Personen, ihrem jeweiligen Status und ihren Positionen innerhalb von Kosmologien, die umgekehrt von diesen innewohnenden Personen selbst gegenseitig konstituiert werden (vgl. Kaufman & Morgan 2005, 320-327; Bloch 1988). Damit spiegelt der Tod als kulturell aufgenommenes Phänomen gewissermaßen wiederum das Leben derjenigen wieder, die ihn als Teil des Lebens wahrnehmen (Werte, Welteinordnung, Umgebung, Lebensweise usw. umfassend). Das Geschöpf spiegelt wider, reproduziert und aktualisiert den Schöpfer und vice versa. Klassische Beispiele von Aspekten partikulärer Lebensrealitäten durch den Umgang mit den Toten und dem Tod in westlich-christlichen Kulturen schließen Beerdigungen, Gräber und Friedhöfe ein. Aber in zahlreichen Kulturen nimmt dieser Umgang andere künstliche Formen an (vgl. z.B. Cederroth et al. 1988). Die Modi, durch die man stirbt und trauert, gehören zu den Lebensweisen der jeweiligen Kulturen, in denen man weiterlebt. Sie konstituieren sich unaufhörlich gegenseitig und können als Erweiterungen voneinander betrachtet werden, genau wie Rituale und Ritualisten sich gegenseitig konstituieren. Auch deshalb haben so viele Sozial- und Geisteswissenschaftler immer wieder das Reden und Handeln im Todes- und Trauerkontext mit der Entstehung vielfältiger Konzeptionen von Sakralem und Profanem, mit der Etablierung von Tabus, mit der Entwicklung von Religionen und nicht zuletzt mit der Schaffung von Kultur als weltliche decodierende Ordnung (vgl. Herder 2007 [1786]; Sahlins 1997) in unmittelbaren Zusammenhang gebracht (vgl. Bachofen 1925 [1859]; Durkheim 1981 [1912]). Bei der rituellen Mühe, die Dinge, wie sie sind, durch Nachahmung widerzuspiegeln, versucht man zugleich, diese Dinge in Ordnung zu bringen, also dorthin, wo sie hingehören. Das verweist auch auf ein Prinzip, welches gleichermaßen ein heilendes und ein reinigendes ist (vgl. Douglas 2009 [1966]). In den Augen derjenigen, die im Kontext von Tod und Trauer rituelle Vorschriften beachten, müssen diese das Leben, den Kosmos, das Universum – wie es in ihren lokalen Realitäten vorgestellt und angenommen ist – kohärent und
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Vgl. auch Bob Simpson 2018.
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synchron widerspiegeln. Es handelt sich also um die Suche nach kosmologischen Entsprechungen. Und d.h. grundlegend, den Tod und das Leben als zwei Seiten, nämlich als Licht und als Schatten von ein und derselben (und von jemandem) konzipierten Realität, zu begreifen und sie rituell zu domestizieren bzw. domestiziert zu halten. Wie Bob Simpson beobachtet: »A substantial literature in anthropology demonstrates how the cessation of life is a point at which distinctive, and often expert, routines are put into practice to ensure that, for the living as well as the dead, the corpse undergoes a meaningful transition to an afterlife, a re-birth, a place of memoriam. The list of ways in which bodies might be disposed of to the satisfaction of the living (and the dying) is long. It encompasses preparing the dead by washing, shaving, dressing, and ritually disposing of the corpse through burial, cremation, and other funerary rites. Encounters with ghosts, spirits, and ancestors all attest to the ways in which the dead have influence and agency in the worlds of the living. Photographs, tombstones, heirlooms, and archives might similarly give death immanence in the midst of life. This theme is currently being carried forward in novel ways with the advent of information and communication technologies […]. People the world over are, as Heraclitus put it, ›living each other’s death‹.« (Simpson 2018, 2-3)
Das Verhandeln der Legitimität ritueller Praktiken und assoziierter Ideen und Dinge im Kontext von Tod und Trauer schließt die kulturellen Entwürfe von Ethiken und Personen ein. Jede Ethik wird zumindest im Prinzip nach dem Tod und nach dem geeigneten Umgang mit den Toten konzipiert, da der Umgang mit dem Tod und den Toten in einer entsprechenden Kultur durch das, was für einen würdigen Tod gehalten wird, eine eigene Vorstellung von einem würdigen Leben ausstrahlt. Jede kulturelle Konstruktion der Person bettet beide ein. Allerdings mag das, was für richtig, würdig bzw. ethisch im Kontext von Sterben, Tod und Trauer selbst bei nur einer Kultur gehalten wird, umstritten und nicht selten Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten sein. Man denke bspw. An den Disput um die Legalisierung und Implementierung dessen, was in Europa als Euthanasie definiert wird, bzw. an die Auseinandersetzung um die Definition selbst, oder die Diskussionen über Abtreibungsrechte in verschiedenen Ländern, das Akzeptieren oder Nichtakzeptieren von gewissen Verabschiedungsritualen wie z.B. Kremation und die verschiedenen Formen, die sie annehmen können (vgl. Kaufman & Morgan 2005). Wie Arnold van Gennep schon vor über einem Jahrhundert in Bezug auf die inhärente Komplexität von vermutlich einheitlichen Bestattungsriten festgestellt hat, sind Bestattungsriten
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»auch deshalb so kompliziert, weil bei ein und demselben Volk gewöhnlich mehrere, einander widersprechende oder unterschiedliche, aber dennoch miteinander verschmolzene Vorstellungen von der jenseitigen Welt existieren, was nicht ohne Auswirkungen auf die Riten bleibt. Hinzu kommt, daß man sich den Menschen aus mehreren Elementen geschaffen denkt, deren Schicksal nach dem Tode nicht das gleiche ist: Körper, Vitalkraft, Atemseele, Schattenseele, Miniaturseele, Lebensseele, Blutseele, Kopfseele usw. Einige dieser Seelen leben nach dem Tod immer oder eine Zeitlang weiter, andere sterben.« (van Gennep 2005 [1909], 143)
Diese Komplexität wird dann multipliziert, wenn man Trauerrituale als Grenzfläche zwischen verschiedenen Kollektiven betrachtet.
2.2 ZUM TOD DES ANDEREN IN BRASILIEN: ÜBERBLICK ÜBER RISKANTE ORDNUNGEN Aus einer Makroperspektive arbeitete Roberto Damatta (vgl. 1987) am Ende der 1980er Jahre mit zwei grundsätzlich Idealtypen von der brasilianischen Gesellschaft, zwischen denen es unendliche weitere Variationen von Sensibilitäten und Handlungsmodi in Bezug auf den Tod gibt: die moderne Gesellschaft, in der das Individuum als moralische, dominante Entität existiert und in der die sozialen Beziehungen erst in Bezug auf das Individuum stattfinden; und die traditionelle bzw. verhältnismäßige Gesellschaft, in der das soziale Subjekt nicht das Individuum selbst ist, sondern die sozialen Verhältnisse zwischen den Individuen (vgl. Tönnies 1991 [1887]). Im Gegensatz zur modernen Gesellschaft, in der der Tod ein existentielles Problem ist, liegt das Problem in den traditionellen Gesellschaften bei den Toten. Die brasilianische Großgesellschaft wird von Damatta als eine traditionelle Gesellschaft charakterisiert, in der es außer der privaten und öffentlichen Sphäre noch einen weiteren Raum gibt: die Welt der Toten. »Das Problem liegt darin, die Bedingungen, unter denen eine Person aus ihren Beziehungsnetzen auftaucht und ihre eigenen und persönlichen Gründe über die Gruppe stellt, zu verstehen« (Damatta 1987, 147). Für Damatta geht es also um den Individuationsvorgang von dem, der einen menschlichen Verlust erlebt. Das ist nicht mehr die verhältnismäßige Denkweise, die Mauro Koury (vgl. 1993 und 2003) in den urbanen Zentren Brasiliens am Anfang der 2000er Jahre vorfindet. Ihm zufolge fand in den letzten Jahrzehnten eine bedeutsame Veränderung im Verhalten der urbanen Bevölkerung (d.h. etwa 75 Prozent aller Einwohner Brasiliens) in Bezug auf den Tod statt, die auf eine zunehmende Tabuisierung des Todes in Brasilien hinweist:
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»Je weniger an jemanden erinnert wird, der verstorben ist und damit Sehnsucht und Schmerz ausgelöst hat, desto besser scheint es für das Soziale zu sein. Die Komplizenschaft durch die scheinbare Indifferenz, als ob es Tod und Schmerzen nicht gäbe, scheint das moderne Merkmal des Trauerprozesses im urbanen Brasilien zu sein. […] Der Schock zwischen einer verhältnismäßigen Tradition, die die trauernde Person gebildet hat, und einer tiefgreifenden Auflösung der Bräuche und der integrativen Prozesse des modernen Urbanen betont noch mehr die Abwesenheit eines Raumes im Sozialen, die Nichtbürgerschaft und die Einsamkeit des gewöhnlichen Menschen.« (Koury 2003, 9)
Auch die Ciganos wie die Jurons bewegen sich zwischen diesen Modellen. In der hier primär als Wissenschaft der Differenz (vgl. Streck 1997) ausgeübten symmetrischen Ethnologie (vgl. Goldman & Viveiros de Castro 2012; Latour 2008 [1991]) liegt der analytische Fokus in erster Linie darauf, wie sich Menschen in Bezug aufeinander im Kontext von Sterben, Tod und Trauer unterscheiden und dabei ihre gemeinsamen Welten erschaffen. Wenn die Lebenden als Hinterbliebene ihre eigenen Trauerrituale durchführen, machen sie das oft unter anderen Lebenden, die nicht unbedingt dieselbe Weltanschauung, Vorstellung und Erfahrung von Tod und Leben teilen und die diese nicht auf dieselbe rituelle Weise übersetzen und praktizieren. In Brasilien sind die meisten kulturell differenzierten Bestattungsbräuche, die auf verschiedene Gruppen und Herkünfte zurückgehen, den durchaus variierenden, jedoch insgesamt hegemonialen Bestattungsbräuchen unter traditionellen katholischen Vorschriften in den jeweiligen Regionen unterworfen (vgl. Brandão 1994 [1990]; Callia & Oliveira 2005; Cymbalista 2011). Diese Begegnungen zwischen unterschiedlichen Bestattungs- und Trauerorientierungen, die seit dem Beginn der Kolonisierung und Christianisierung von Brasilien bis zum heutigen Tag stattfinden, wurden und werden auf verschiedenen Ebenen oft auch stark von einem kulturkämpferischen Charakter geprägt. Als häufigstes, aber keinesfalls einziges Beispiel dafür können zwei Matrizen von Bestattungsbräuchen betrachtet werden: diejenigen, die bei den einheimischen Indianern praktiziert wurden und werden, und diejenigen der afrodeszendenten Bevölkerung Brasiliens. Beide mussten sich angesichts des sogenannten zivilisatorischen Prozesses (vgl. Ribeiro 1968 und 1970), der auf die herrschende, aus Europa stammende Elite zurückgeht, strikt anpassen. Im Zuge der Entwicklung Brasiliens, zunächst als Kolonie, dann als Kaisertum und schließlich Nationalstaat, sind deren Anpassungsfähigkeiten auch Zeichen vielfältiger Spannungen zwischen eigenen Religiositäten und Christentum. Um einen Überblick über den Tod des anderen in Brasilien zu gewinnen, nehme ich im Folgenden die zweite Matrix als Illustration:
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»Deportiert und im Imperium zu Sklaven gemacht, wurden die Afrikaner gezwungen, katholischen Regeln zu gehorchen, aber sie haben trotzdem ihre Traditionen nie ganz abgelegt. In ihren Bruderschaften haben sie den Katholizismus afrikanisiert, indem sie GönnerHeilige mit Masken gefeiert und Trommeln-Perkussion, Tänze voller körperlicher Energie, in Muttersprache gesungene Lieder und die fiktive Wahl von schwarzen Königen und Königinnen eingeführt haben. Auf der anderen Seite war ihnen der barocke Katholizismus mit seiner Effusion von Riten, Symbolen und Farben und der Prozessionsstraßenkultur nicht ganz fremd. Und angesichts der Flexibilität der afrikanischen Religiosität gab es immer Raum für neue Rituale, Symbole und Götter. […] Trotz der Proteste von Fundamentalisten wurde die katholische Kirche gezwungen, die Afrikanismen bei den Bestattungszeremonien zu akzeptieren – oder wenigstens die Augen zu verschließen. Allerdings besteht kein Zweifel, dass die katholischen Regeln hauptsächlich auf der öffentlichen Seite von Beerdigungen prädominiert haben.« (Reis 1997, 101)
Bei dem oben erwähnten Beispiel ist es möglich, wenigstens drei zentrale rituelle Praktiken zu identifizieren, die bei Trauerritualen im Kontext eines kulturellen Kontakts und Austauschs aus einer anthropologisch-relationalen Perspektive gefunden werden können und die sich gegenseitig bedingen. Erstens, dass man die eigene Welt im Kontext von Sterben, Tod und Trauer immer wieder aufs Neue anderen gegenüber sowohl vor Außen- und Innenstehenden als auch vor noch Nichtinitiierten vorführt, wie bspw. zwischen Generationen oder Geschlechtern, aber auch zwischen Trauernden und Nichttrauernden (vgl. Forde & Gluckmann 1962; Turner 2008 [1969]). Zweitens, dass man die eigene Welt durch den Akt des Vorführens neu gestaltet und diese dadurch reproduziert (vgl. Marx & Engels 1962 [1845/1846], 21). Und drittens, dass man sie gelegentlich im Laufe der Zeit wieder vergegenwärtigt (vgl. Eliade 2007, 186-200). Der Umgang mit dem Tod und mit den Toten umfasst verschiedene rituelle Handlungen, die zudem hochkommunikativ sind (vgl. Mauss 1979 [1921a]; Leach 1976; Wagner 1984; Streck 1997, 2000; Leistle 2006) und meistens jemandem etwas überliefern wollen – selbst wenn manchmal das, was diese rituellen Handlungen zu überliefern haben, nur bei dem Empfänger selbst zu finden ist. Um Bestand zu haben, muss sich jede Welt kontinuierlich durch eigene und geeignete Mittel vor anderen, welche manchmal Nichtwelten einschließen, wieder behaupten. Das erfolgt, weil die Welt angesichts des Todes und des anderen, ob als Zeichen des Todes oder des Lebens, i.d.R. als stabil und kontrollierbar erfasst werden soll (vgl. Bargatzky 2007, 263). Um bei dem Hauptbeispiel zu bleiben:
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»Aus ihren ursprünglichen Heimaten haben die Afrikaner Bestattungsriten und anspruchsvolle Vorstellungen über das Jenseits mitgebracht. Alle betrachteten die Ahnengeister als mächtige Kräfte, die ihnen halfen, den Alltag zu erleben und einen guten Tod abzusichern. Sie glaubten an Lohn und Strafe nach dem Tod und anschließend an die Existenz von verlorenen Seelen, welche aus Problemen bei den Bestattungsritualen oder durch das Erlebnis bzw. die Erfahrung einer unerwünschten Art von Tod geboren sind. Der vorzeitige Tod, der Tod durch Zauberei, der Mangel an geeigneten Bestattungsriten und das Fehlen geeigneter Gräber störten den Übergang des Afrikaners ins Jenseits. […] Nach der traditionellen mündlichen Überlieferung, die von den Angehörigen bewahrt wurde, wurden die den Toten gewidmeten Candomblés – die egunguns Nagôs – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen.« (Elbein dos Santos 1995 apud Reis 1997, 98-99).
Die Kontrollierbarkeit des Todes kann bspw. erreicht werden, indem mit dem Tod konfrontierte Menschen versuchen, durch mögliche rituelle Mittel zurück zu oder wenigstens in die Nähe des Ursprungs zu kommen; z.B. zu den Ahnen. Die eigene Welt wird neu gestaltet, weil dieser ewige Versuch immer unter anderen, geänderten, gegenwärtigen Umständen durchgeführt werden muss, und das betrifft auch die dafür verfügbaren rituellen Mittel (vgl. Bargatzky 2007, 263). Schließlich bedeutet das auch, die eigene Welt erneut zu vergegenwärtigen, weil diese als eine sich ständig ändernde Realität dazu führen kann, sie wieder, weiter und neu zu etablieren, und damit macht sie aus Geändertem bzw. Werdendem ein Immer-Gewesenes als eine kulturelle Naturalisierung der symbolischen Ordnung. Anders gesagt, es ist, als ob diese neue Aktualisierung durch Nachahmung etwas Unzerbrechliches und Wesentliches wie die Wahrheit hervorriefe, welche mit dem Sakralen und mit Vorbildern zusammenfällt; zumindest, bis ein nächster Tod stattfindet und Trauerarbeiten von Neuem beginnen (vgl. ebd., 264). Diese Wahrheit als sakral kann durch Obviation erfunden werden. Das, woran man glaubt und was man macht, scheint oder soll notwendigerweise der Wahrheit nahestehen, selbst wenn die eigenen Vorfahren an etwas anderes glaubten. Diese drei rituellen Handlungen, die auch die Formen mythischer Narrative annehmen, führen also zur Produktion von Grenzen und Vergemeinschaftung als gegenseitige und doch komplementäre Seiten ein und desselben Vorgangs: die symbolische Konstruktion bzw. Fortsetzung einer eigenen Welt aus anderen Welten, bei deren Entfaltungen weitere »fuzzy systems« entstehen (ebd.). Wie Roy Wagner (vgl. 1981 [1975], 39) versteht auch Bargatzky die rituelle Welterschaffung bzw. -konstruktion als rituelle Realisierung und dadurch als Aufkommen eines differenzierenden Symbolismus, der für sich einen eigenen Platz inmitten anderer zu finden hat:
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»Von außen her betrachtet kann die symbolische Ordnung einer Kultur als historisch kontingente Konstruktion beschrieben werden. Die vermeintlich unhinterfragbare Gültigkeit dieser Ordnung wäre der beständigen Unterdrückung alternativer symbolischer Ordnung zu verdanken. Die Produktion und Reproduktion der symbolischen Ordnung kann in diesem Sinne als ein Prozeß beschrieben werden, der von umfassenden Versuchen gekennzeichnet ist, andere Möglichkeiten der Symbolisierung gleichsam zu exorzieren. Solch ein Prozeß der ›Purifikation‹ kommt jedoch niemals zum Abschluß, da symbolische Sinnsysteme in der sozialen Interaktion stets wieder aufs neue reproduziert werden müssen. Dabei ist in der Regel ein hohes Maß an ›kultureller Energie‹ zugunsten einer Naturalisierung der symbolischen Ordnung [was Wagner ›Objektivation‹ nennt] vonnöten, die das Aufkommen alternativer Sinnsysteme negativ sanktioniert und zu verhindern sucht. Dies kann aber niemals vollständig gelingen. Daher können Sinnsysteme aus einer diachronen Perspektive mit Hilfe der Metapher des Palimpsestes gedeutet werden. So, wie auf einem Pergament die unkenntlich gemachten Texte immer durchscheinen, so können auch im Bereich der Sinnsysteme die ausgeschlossenen Symbolisierungen niemals vollständig ausgelöscht, sondern lediglich mit der bevorzugten Möglichkeit gleichsam ›überschrieben‹ werden. Daher bleibt das Unterdrückte latent vorhanden, und die ausgeschlossenen Alternativen können rekonstruiert und zur Darstellung gebracht werden.« (Bargatzky 2007, 265266)
Wenn die rituellen Vorgänge der Verwandlung von Wahrnehmungsrealitäten im Todeskontext von aus bestimmten Sicherheitsgründen gewählten Agenten und nach jeweiligen Weltanschauungen und Perspektiven geführt werden, damit ihre Kontrollierbarkeit und der hegemoniale Anspruch abgesichert werden, können diese Sicherheitsmaßnahmen im Kontext von kultureller Diversität das Gegenteil bewirken. Dabei gibt es oft mehrere gegensätzliche Ordnungen, die sich nicht immer harmonisch an Verwandlungsritualen im Todeskontext beteiligen oder zu beteiligen versuchen, weil die Sakral-profan-Referenz eine andere sein kann. Derartige rituelle Vorgänge laufen aus diesem Grund selten ohne Spannungen ab, weswegen Rituale zugleich auch als Kampfarenen angesehen werden können, in denen die gegensätzlichen Ordnungen häufig auf das letzte Wort und auf die Sanktionierung des Todes und des Umgangs mit den Toten nicht verzichten mögen. Diese Ordnungen müssen allerdings nicht unbedingt eine Mehrheit bilden (vgl. dazu auch die Diskussion zwischen Bernhard Streck [2001] und Thomas Hauschild [2001], bei der u.a. auch der Begriff vom Kulturkampf angesprochen wird). Oft streben diese riskanten Ordnungen nach anderen Aufteilungen von religiösen Autoritäten und Legitimierungen diverser koexistierender Kosmologien, die aber nicht selten inkommensurabel sind. Die assoziierten Todes- und Le-
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bensvorstellungen und jeweiligen Praktiken werden bei riskanten Ordnungen von marginalen bzw. nichtautorisierten religiösen Akteuren, wenn schon nicht gefördert, dann doch zumindest im Verborgenen ausgeübt (vgl. Streck 2007a). Jede einzelne Ordnung kann in diesem Sinne zugleich als eine auf eine andere Ordnung gründende Gegenordnung, und dadurch als anfechtende und zugleich anfechtbare riskante Ordnung, betrachtet werden. Dasselbe gilt auch für das, was viele Sozialwissenschaftler als Diskurse bezeichnen: Diskurse werden als Kontradiskurse – also in Bezug auf einen anderen schon existierenden – entworfen und modifiziert. Wenn andererseits rituelle Praktiken als Mittel zur Reproduktion einer etablierten Ordnung dienen, öffnen sie gleichzeitig einen Spielraum für legitime Veränderungen ihrer strukturellen Aspekte (vgl. Forde & Gluckmann 1962; Turner 2008 [1969]). Auch, weil der Tod im Endeffekt ein rätselhaftes und universelles Phänomen bleibt, wird er nie von irgendjemandem vollständig interpretiert, domestiziert oder angeeignet, sondern geschieht überall, zu jeder Zeit und bei allem unaufhörlich immer wieder. Während diese rituell umgestaltenden Praktiken je nach Umständen und Anpassungsanforderungen von denjenigen, die sie durchführen, manipuliert werden können, müssen sie aber zugleich durch vorbestimmte Darstellungsmodi, die als solche in der Welt der involvierten Kollektive als effektiv wirksam und daher als legitim gelten, realisiert und anerkannt werden. Ritualisten müssen deswegen mit anderen Autoritäten die Legitimität ihrer rituellen Handlungen auf die eine oder andere Weise immer wieder aufs Neue verhandeln. Die brasilianische soziokulturelle Anthropologie bzw. Ethnologie und Geschichtswissenschaft sind reich an Beispielen zivilisatorischer Zwänge, Widerstände und ritueller Anpassungen, Einführungen von Diskontinuitäten bzw. Umkehrungen von Bestattungsbräuchen, wie Studien zu indigenen Völkern, bäuerlichen Gemeinschaften, Armen, Migranten und anderen belegen (vgl. z.B. Azevêdo 2002 [1955] und 1990; Carneiro da Cunha 1978; Martins 1983; Novaes 1983; Koury 1993 und 2003; Vilaça 1998; Gonçalves da Silva 2005). Was bei den Dynamiken vieler verschiedener Trauerkulturen in Brasilien als Regenerationsprozesse von Leben als Gemeinsamkeit auffällt, ist ihre Kapazität, den Tod und die Toten als Teil ihrer eigenen Narrative über einen unterschiedlichen Aspekt der Existenz rituell-mythologisch aufzunehmen. Das praktizieren die nichtdominanten Trauerkulturen bzw. Bestattungsordnungen trotz oder gerade wegen ihrer marginalen Stellungen und obwohl sie von der dominanten Ordnung als riskante Ordnung betrachtet und behandelt werden können. Bei riskanten Ordnungen findet die dominante Ordnung häufig nichts anderes als verwirrende bzw. unpassende Unordnung: Die riskanten Narrative der riskanten Ord-
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nungen weisen auf die Multiversalität und Partikularität des Lebens hin, während sie zugleich in ihrer Gesamtheit als Lebewesen eine Einheitlichkeit der Menschlichkeit offenbaren. Viele dieser anderen brasilianischen Kulturen stoßen im Kontext der Konstruktion Brasiliens als National- und Vielvölkerstaat die Wechselhaftigkeiten eines langfristigen und dauerhaften Assimilationsprozesses an. Dieser wird auf multiplen Ebenen und als eine Art modernisierende Zentripetalkraft wirkend durchgeführt (vgl. Clastres 2003 [1974] und 2004 [1980]), und ihre Konstanz und Intensität mögen im Laufe der Zeit und abhängig vom Ort schwanken. Dabei leiten marginale Welten im Verlauf der Durchführung der dominanten Sitten eigene Signaturen (vgl. Barth 1998 [1969]) als Ressource oder Mittel kultureller Aneignung ein, sodass sich ihre eigenen Weltvorstellungen dadurch wieder durchsetzen und damit eine fortbestehende Integrität erhalten werden kann. Somit können die Angehörigen von Schattenkulturen als riskante Ordnungen mit dem Tod und ihren Toten auf eine Weise umgehen, die für sie angesichts ihrer eigenen Weltanschauungen und partikulären Lebensrealitäten geeignet ist. Elemente ihrer eigenen Kultur können somit innerhalb, zwischen oder im Laufe der Durchsetzung der vorherrschenden Kultur durch das Erfüllen gewisser Lücken oder das Ersetzen äquivalenter Elemente zum Ausdruck gebracht werden, wobei es zwischen Ausdruck und Verwirklichung keinen Unterschied mehr gibt. Es handelt sich nunmehr um Kosmologien, die durch Bestattungsbräuche und Trauerarbeiten – also als Trauerrituale – ausgedrückt und aus einer oder mehreren anderen Kosmologien ausgearbeitet werden. Folglich werden sie nur im Kontext von kulturellem Kontakt auf innerlichen und äußerlichen Ebenen als Selbstbehauptungen belebt.
2.3 ZWISCHEN ABGRENZUNG UND ZUGEHÖRIGKEIT Die Calen leben seit Jahrhunderten in ganz Brasilien oft in kleinen verstreuten, manchmal temporären Siedlungen auf dem Land und am Rand großer Städte. Die Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft ist beständig, vielfältig und vor allem spannungsreich (vgl. Fotta 2012a, 2012b, 2016a, 2016b und 2018; Ferrari 2010). Wenn die Calen in Brasilien angesichts ihrer Kontakte mit Nichtciganos auf dem Weg einer Akkulturation – d.h. zu einer homogenisierenden Aufnahme in die Mehrheitsgesellschaft – und daher in einer kulturellen Auflösung wären, gäbe es dort mittlerweile keinen Cigano mehr. Doch in Brasilien sind die Ciganos längst zu Hause und heute kulturell mindestens so stark verankert, wie zu früheren Zeiten.
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Die Intensität der in diesem Buch geschilderten Interaktionen zwischen Ciganos und Nichtciganos in Brasilien kann weltweit in vergleichbaren Figurationen gefunden werden. Wie Michael Stewart zusammenfasst: »For the past 40 years, anthropological approaches to Roma and Gypsy populations have overwhelmingly been concerned with explaining the survival of the Gypsy way of life and its associated populations. The reason for this focus lies in the truly fascinating sociological puzzle that Gypsy persistence presents. Gypsies live dispersed among majority populations who, at least in the modern era […], tend to despise them; they are always more or less familiar, indeed intimate, with the cultural world around them and yet they reproduce their communities with apparent ease; and they do so without shared religion, without any form of ritual or political leadership, and without overarching or underpinning political organization.« (Stewart 2013, 418)
Auf die Frage nach der Persistenz der Existenzmodi und der kulturellen Integrität bei Zigeunern wurden verschiedene Antworten. Stewart fasst drei Typen von Erläuterungen bzw. Herangehensweisen zusammen: »[Erstens] historical explanations, which focus on the distinct origins of Gypsy populations and treat them in effect as an unassimilated foreign ethnic group with a distinct ethos; [zweitens] structural explanations, which locate the persistence of Gypsy populations in the way they have occupied particular niches within the changing European division of labor, a subset of which structuralist approaches are the Foucault-inspired positions that focus on the effects of the labeling strategies used by state institutions; and finally, [drittens] culturalist explanations, which consider the internal coherence of Gypsy or Romany value systems in a self-declared holistic approach.« (Ebd., 418)
Doch nach Stewart stießen die Gypsy Studies bzw. Tsiganologie auf die Grenzen einer Idee von Ethnizität, die »from a model of autonomous and quasiautochthonous nation-states« (ebd., 418) abgeleitet wurde. In diesem Sinne schlussfolgert er, »one of the things the anthropology of Roma and Gypsies has taught is how much of an ideological notion the very notion of ethnicity itself is.« (Ebd., 148) Daran anknüpfend findet man auch eine Charakterisierung von Kultur als statisch bzw. unveränderlich, als stände Kultur im Gegensatz zu einer universellen Geschichte. Judith Okely zufolge hat die Identifizierung von Kultur mit einem Territorium bei der Etablierung dieser Idee eine zentrale Rolle gespielt.
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»Unfortunately classical anthropology in theory and rhetoric held onto the idealisation of separations of groups and cultures until globalisation and more prominent migration made this impossible to ignore. At the same time, non-anthropologists concerned with Gypsies or Gypsiologists held fast to the sedentarist mythical charter which privileged an Indian origin. This colluded with rather than challenged the politically dominant ideal of culture as place and geographical isolate.« (Okely 2003, 152)
Für die Dekonstruktion dieser hegemonialen Idee, die zumindest bis vor ein paar Jahrzehnten als selbstverständlich galt, und die konsequente Ermöglichung einer onto-epistemologischen Wende, die teilweise auf der Ebene der Geistes- und Sozialwissenschaften stattfand, hat die ethnologische Forschung einen wesentlichen Beitrag geleistet. Wie Martin Sökefeld zusammenfasst: »Seit den 1960er Jahren setzte sich […] mehr und mehr die Bezeichnung ›ethnische Gruppe‹ anstelle von ›Stamm‹ für die untersuchten Gruppen durch. Damit war die Erkenntnis verbunden, dass diese Gruppen keineswegs immer eindeutig voneinander zu unterscheiden und schon gar nicht voneinander isoliert waren, sondern durchaus kulturelle Merkmale miteinander teilten. Das Unterscheidungskriterium für ethnische Gruppen war nicht ein ›objektiv‹, von außen feststellbares kulturelles Inventar, sondern die Tatsache, dass sie, bzw. ihre Angehörigen, sich selbst voneinander unterschieden. Die Bestimmung von ethnischen Gruppen beruhte also auf der Perspektive der Akteure, auf ihrer ›Identität‹. An dieser Stelle war ein Beitrag des norwegischen Ethnologen Fredrik Barth ungeheuer einflussreich (Barth 1969). Barth lenkte die Aufmerksamkeit von dem kulturellen ›Inventar‹ ethnischer Gruppen auf die Gruppengrenzen und betont, dass aus der Perspektive der Akteure bestimmte kulturelle Elemente als symbolische Grenzmarkierungen gesetzt werden, auch wenn sich die betreffenden Gruppen möglicherweise ansonsten kaum voneinander unterscheiden. Umgekehrt können die Mitglieder einer Gruppe, die etwa über ein weites Gebiet verteilt leben und regionale kulturelle Variationen aufweisen, sich als Angehörige derselben Gruppe verstehen.« (Sökefeld 2012, 43f.)
Im Allgemeinen scheint es in der Tat keine einzige Kultur zu geben und gegeben zu haben, die sich nicht durch Interaktionen mit einer oder mehreren anderen Kulturen entwickelte. Das steht in Diskrepanz zur Erwartung des in verschiedenen Formen (religiös, wissenschaftlich, politisch usw.) noch weitverbreiteten Glaubens, dass sich Kulturen aus sich selbst heraus entwickeln und dass sie deswegen vor dem Kontakt mit anderen Kulturen geschützt werden sollen, wenn sie ihre Souveränität bewahren wollen. Doch seit Barth (1969) den Fokus der Ethnologie auf die Untersuchung der Gruppengrenzen verschoben hat, gilt als das »entscheidende Moment der Gruppenzugehörigkeit und -unterscheidung […] die
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Zuschreibung, und zwar sowohl die Zuschreibung durch andere, als auch die Selbstzuschreibung.« (Sökefeld 2012, 43) Besonders inspiriert von Barth, der dadurch »Ethnizität als die soziale Organisation kultureller Differenz« (ebd., 43) neu definierte, unterstütze Judith Okely dieses Verständnis innerhalb der Gypsy Studies bzw. Tsiganologie. Wie sie erklärt: »The Gypsies pioneering example of cultural coherence has often been dismissed as hybrid, or even diluted if not ›degraded‹. Yet hybridity has its cultural integrity. Gypsy culture is created sometimes through conflict and usually through specific exchange. In contrast to the classical paradigms, Gypsy culture emerges from culture contact, rather than being an isolate destroyed order undermined by contact.« (Okely 2003, 152)
Angesichts dieser analytischen Möglichkeit bestätigten mehrere ethnografisch basierte Studien in den letzten Jahrzehnten, dass sich Zigeunergesellschaften erst dann kritisch untersuchen lassen, wenn sie vor allem in Bezug auf die lokale Mehrheitsbevölkerung betrachtet werden (vgl. z.B. Gay y Blasco 1999, 2005; Chou 2003; Piasere 1985, 1987, 1992; Okely 1998 [1983]; Ries 2007; Jacobs & Ries 2008; Jacobs & Jacobs 2011; Jacobs 2012; Stewart 1997, 2013; Streck 1996; Williams 2003 [1993]; Marx 2014). Im Verlauf dessen entstanden vor allem relationale Herangehensweisen zum Verstehen der multiplen Lebensweisen von Zigeunern, welche Aspekte der drei von Stewart oben erwähnten klassischen Betrachtungsweisen (d.h. historical, structuralist und culturalist explanations) kombinieren, ohne sich allerdings auf einen von ihnen zu reduzieren. Was dabei zu einer zentralen Prämisse in der Ethnologie geworden ist, ist der »Fakt, dass die ›Gemeinschaften der Zigeuner‹ sich immer von den Gesellschaften, in denen sie leben, unterscheiden, sich aber das kulturelle Arsenal, das diese Unterschiede fördert und nährt, extrem von einer Gruppe zur anderen variiert – auch im Laufe der Zeit innerhalb einer Gruppe« (Williams 2011a, 45). Damit lautet die derzeitige Frage: Wie sehen die Austausche bzw. die Dynamiken der Abgrenzungen zwischen Zigeunern und Nichtzigeunern aus? Im Rahmen meiner eigenen Forschung zum Handeln von Ciganos im Kontext ihrer Trauerrituale fand ich besonders die relationalen Herangehensweisen inspirierend, die, wie im Fall von Bernhard Streck, auf dem analytischen Modell der Ordnung-Paraordnungen basieren (Streck 2011a, 2011b), als auch diejenigen, die, wie im Fall von Patrick Williams, im Gegensatz »zur Suche nach unveränderlichen Größen […] wie Herkunft, Sprache, Unterscheidung zwischen rein und unrein […] die Dynamik von Identitätskonstruktionen« (Williams 2011a, 51f.) in Betracht ziehen. Williams betont, dass man nicht nur die Diffe-
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renzierung, sondern auch »die Zugehörigkeitssituation der Zigeuner« (la situation d’immersion des Tsiganes, Williams 2011b, 17) zu der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft zu berücksichtigen ist, um die Spezifizität ihrer Identitätskonstruktion verstehen zu können (2011a, 2011b; auch Streck 2011a, 2011b). Die Erfahrung der Tsiganologie bzw. Gypsy Studies zeigt, dass Zigeunergesellschaften innerhalb der sie umgebenden Mehrheiten unterschiedliche Positionen besetzen können. Wie in anderen Ländern gibt es in Brasilien zwischen Ciganos und Nichtciganos sowohl gelegentliche Tendenzen von Vergemeinschaftungen als auch gegenseitige Abgrenzungen. Dabei befinden sich die Ciganos häufig unter anderen ausgeschlossenen Menschen innerhalb dessen, was Bernhard Streck in Bezug auf die Lebensbedingungen von ähnlichen Kollektiven im Allgemeinen »Zwischenräume« nennt: »Überall, wo Arbeitsteilung entwickelt ist, sie aber ohne Wettbewerb und soziale Mobilität funktioniert, entstehen Kasten – und unter tsiganologischer Perspektive auch Kastenlose, also Menschen, die von den strengen Ordnungen ausgeschlossen bleiben. Das kann unter Zwang erfolgen oder freiwillig gesucht werden. Alle Räume produzieren Zwischenräume mit spezifischen Überlebenschancen, die wir ökonomisch auch als Nischen bezeichnen dürfen.« (Streck 2008, 28)
Die meisten Calen, die ich im Verlauf meiner Feldforschung kennengelernt habe, sind vor allem im sogenannten informellen Sektor tätig. Sie können in diesem Sinne zumindest teilweise tatsächlich »als Teile der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, nicht unbedingt als integrierte […], aber als verbundene Teile eines asymmetrischen Verhältnisses« (ebd.) betrachtet werden.2
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In Brasilien gibt es außerdem aufgestiegene und etablierte Ciganos, die Teil der Mittelschicht und lokaler sozialer Eliten sogar wurden. Ein klassisches Beispiel dafür ist der ehemalige Präsident Brasiliens, Juscelino Kubitschek, dessen Großmutter vermutlich eine Romni war (vgl. Cairus 2015). Es ist erwähnenswert, dass viele der erfolgreichen Ciganos, mit Ausnahme vieler Musiker, gelegentlich ihre Cigano-Identität verbergen sollen oder müssen, damit sie nicht durch potenzielle Stigmatisierungen geschädigt werden. »Wer Unternehmer ist, dem ist es egal, aber diejenigen, die vom öffentlichen Leben […] abhängen, verbergen die Information, Cigano zu sein«, so Farde Vichil (apud Sanches 2005, 13.07). Zé Rodrix erwähnte in derselben Reportage, es gebe »ganze Straßen in reichen Stadtvierteln, in denen nur Ciganos wohnen. Das besondere Kennzeichen ist, dass die Wasserhähne aus Gold sind, damit sie im Fall einer Notflucht mitgenommen werden können« (ebd.).
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Diese Asymmetrie, so Streck, »befindet sich in einer Entwicklung, in der die Abhängigkeit umso einseitiger wird, je stärker sich die arbeitsteilige Industriegesellschaft entfaltet« (ebd.). In der Regel werden die in den Zwischenräumen beheimateten Personen stigmatisiert und gemieden. »Oft wird in den etablierten ›Räumen‹ der Zwischenraum als gesellschaftliche Grauzone kriminalisiert. In den alten Quellen […] lesen wir von ›herrenlosem Gesindel‹ oder ›heimatlosem Gesindel‹. Über die abstoßende Diktion hinaus lässt sich hier aber der Zwischenraum erkennen: Hier folgen die Menschen der Herrschaft A, dort der Herrschaft B, dazwischen ist man herrenlos, also frei. Die festgefügten Ständeordnungen produzierten wohl von Anfang an solche Freiräume für ›Freimenscher‹, wie Zigeuner auch genannt werden konnten.« (Ebd., 27)
In jedem Fall schaffen es Ciganos sowie scheinbar Zigeunergesellschaften überall, auch wenn sie als Minderheit von der Mehrheitsbevölkerung abhängen, dennoch, als Freimenschen und aktive Subjekte ihre eigenen Weltanschauungen und sozialen Organisationen innerhalb der Großgesellschaft weiter zu gestalten. Aus einer relationalen Perspektive betrachtet sind sie in der Lage, sich im Schatten von Verfolgungsgeschichten und unter den spezifischen Bedingungen der Zwischenräume Elemente der sie umgebenden dominanten Kultur anzueignen und diese in Eigenes zu verwandeln. Im Lichte dessen setzen sie sich selbst als kollektives Subjekt fort, das sich in Abhängigkeit von den Umständen permanent verändert und trotzdem immer dasselbe bleibt (vgl. Williams 2011a, 2011b; Streck 2011a, 2011b; Stewart 2013). Doch wie finden diese Aneignungs-, Transformations- und Stabilisierungsprozesse statt? In Hinsicht auf die Konstruktion und Wiedererschaffung der eigenen Kultur und Lebensweise in den Zwischenräumen des unterschiedlich geteilten Raumes scheint es in diesem Sinne möglich, von gypsiness zu sprechen, wie es Ada Engebrigtsen formuliert. Sie definiert es als »The Rom-Gypsy mode of existence that implies their relationship to non-Gypsies and the mutual ideas that govern this relationship. Gypsiness as a social form is a creation of specific social processes in time and space. Gypsiness […] does not refer to a community, but to the particular social form created by the interdependence of Gypsies and non-Gypsies […]. I opt for a view of Gypsies and gypsiness as a relationship that is flexible, changing and explorative in adaptation to the surrounding populations.« (Engebrigtsen 2007 [2000], 1)
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In diesem Buch verwende ich dieses Konzept in demselben Sinne wie Engebrigtsen, jedoch auch in Bezug auf die Calen, indem ich entsprechend von Calonität (änhlich wie bei Ferrari 2010) als das gypsyness der Calen schreibe. Johannes Ries kombiniert das Konzept von gypsyness mit dem von ethnic boundaries nach Barth (1998 [1969]) wie folgt: »Roma/Gypsies take up certain cultural patterns of Gadzo [Juron] culture, redefine them and use them for the construction of their own gypsyness […]. From this perspective, gypsyness is a flexible construct basing itself on difference. Both Roma/Gypsies and Gadze negotiate their ethnic markers. […] Crucial in this struggle for gypsyness is the constructed ethnic boundary; the essential content may vary from group to group or change in the course of history.« (Ries 2008, 284)
Williams stellt einerseits fest, dass die Vorgehensweisen (d.h. »Selektion, Konservierung, Übertreibung, Verzierung, Verschiebung etc.«, Williams 2011a, 51), durch die sich Zigeuner »kulturelle Merkmale« (traits culturelles, Williams 2011b, 18) der sie umgebenden Nichtzigeuner aneignen, verändern und ins Eigene verwandeln, an sich »in keiner Weise« (ebd., 51) spezifisch sind: Jedem Menschen bzw. jeder Minderheit stehen sozusagen dieselben Ressourcen für Aneignung, Transformation und Abgrenzung zu Verfügung. Anderseits sind die Resultate solcher Absonderungen nicht selbstverständlich, wie z.B. »das Ritualensemble, das für die Manouches die Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten und darüber hinaus die Beziehung zu den anderen regelt« (ebd., 52) oder »den Bezug zum Gesang […] [und zu den Toten bei den] Gitanos von Jerez-de-la-Frontera in Andalusien, wie sie Caterina Pasqualino (1995 [und 1998]) beschreibt.« (Williams 2011a, 52) Für Williams (ebd., 52ff.) können die universellen Aneignungs- und Transformationsressourcen die Konstruktionsprozesse der Zigeuner erst, wenn überhaupt, spezifizieren, wenn diese Ressourcen mit der geteilten Disposition für mutuelle Abgrenzungen zwischen Minder- und Mehrheit, mit der eigenen Kreativität und der verkörperten Kultur (habitus) der Zigeuner und mit der historischen Kontingenz »auf ungewöhnliche und unzulässige Weise« (Streck 2011b, 116) kombiniert werden. Sowohl für Streck (ebd.) als auch für Williams schließt die Identitätskonstruktion der Zigeuner hauptsächlich Praktiken von »Abspaltung-Verbundenheit« (détachement-attachement, Williams 2011b, 17; auch Streck 2011b) ein, wobei es letztlich darum geht, »eine Differenz aus dem zu machen, das denen gehört, von denen man sich unterscheiden will – ein Prozess, der gleichzeitig Zugehörigkeit und Loslösung zeigt.« (Williams 2011a, 51) Die Frage der (ethnischen) (Selbst-)Behauptung und die materialistischen Implikationen davon lauten: Man
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muss Elemente der umgebenden, dominierenden Welt der Mehrheit mobilisieren, um sich selbst als anders davon abzuzeichnen. Das Paradox besteht darin, dass indem man das unternimmt, kommt man wieder auf die Mehrheit zu: Es ist dieses Paradox, das Williams betont, wenn er von déttachement-attachement schreibt: »Diese Art, seine Einzigartigkeit zu erreichen, führt einerseits vom Ausgangsmaterial, also von den Gadjé fort, und verbindet andererseits mit diesem Material, also mit den Gadjé. Die Manouches von Pau [bspw.] erkennen sich in einem musikalischen Repertoire, das anderswo und zu einer anderen Zeit die Gadjé begeisterte.« (Williams 2011a, 51)
Im Kontext meines Untersuchungsfeldes formuliere ich die Fragestellung so: Nach welchen Prinzipien und unter welchen Umständen verläuft die Transformation von der Nichtcigano-Welt in die Calon-Welt? Wie schaffen es die Calen, eine eigene Welt inmitten von Jurons zu konstruieren und zu erhalten? In diesem Buch biete ich als eine mögliche Antwort darauf eine Übersetzung der Trauerrituale verschiedener Calen an, die ich versuchte, in Form einer ethnografischen Theorie durch relationale, symmetrisierende Herangehensweisen (vgl. Wagner 2010; Latour 2008 [1991]) zu verweben. Der Schwerpunkt meiner Überlegungen besteht darin, zu untersuchen, ob und wie die Konstruktion einer eigenen CalonWelt unter Jurons, die im Kontext verschiedener Tauschkreisläufe und in Bezug auf die Toten stattfindet, mit der Bildung einer Calon-Person zusammenfällt. In Brasilien pflegen sowohl Jurons als auch andere Ciganos mehrere rituelle Vorgänge, an denen die Calen auch teilnehmen. Durch ihr Engagement im Rahmen dieser Rituale regulieren die Calen intra- und interkulturellen Kontakt und auch selektive Hybridität. Hauptsächlich gehe ich davon aus, dass die Emersion der Calen innerhalb, außerhalb und als Teil der Juron-Welt durch ihre symbolische und materielle Konstruktion einer eigenen, kontrastierenden Calon-Welt stattfindet. Während die normative Weltkonstruktion der Jurons als Mehrheit eine ordnungsstiftende konventionelle Symbolisierung impliziert, wirkt die kreative Calon-Konstruktion als Minderheit dagegen wie ein gegenordnungsstiftender differenzierender Symbolismus. An dieser Stelle kann man von einer JuronSymbolisierung sprechen, die von einem differenzierenden Calon-Symbolismus angeeignet und verwandelt wird. Dieser baut sich der konventionellen (bzw. Juron-)Symbolisierung gegenüber an erster Stelle durch obviierende Praktiken auf (vgl. Wagner 1981 [1975], 38-39), die die Calen sowohl im Alltag als auch im Rahmen von Grenzüberschreitungen rituell immer wieder durchführen, wenn sie ihr Leben als Ciganos leben wollen.
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3.1 ZUR ERFAHRUNG DER TEILNEHMENDEN BEOBACHTUNG Anhand ihrer eigenen Feldforschungserfahrung bei Travellers in England plädiert Judith Okely (vgl. 2008 und 2011) für eine offene Haltung während der Feldforschung: Der Forscher soll den Nativen gegenüber offen bleiben und nicht mit im Voraus formulierten unflexiblen Fragen ins Feld gehen, um diese den Forschungsteilnehmenden ohne Weiteres zu stellen. Naven von Gregory Bateson (1958 [1936], 257-279) kann bspw. z.T. als Ergebnis einer offenen Haltung verstanden werden. Eine ähnliche, wenn nicht dieselbe Haltung hatte ich, als ich 2008 ins Feld ging, um die Ciganos in Brasilien kennenzulernen. In diesem Kapitel beschreibe ich zunächst einige Aspekte der Umstände, unter denen ich meine Feldforschung betrieb. Hier stelle ich sowohl die Hauptakteure und ihre Umgebungen vor, die in diesem Buch eine besondere Rolle spielen, als auch die Verbindungen, die sich zwischen ihnen und mir entwickelt haben. Dabei nehme ich wichtige Aspekte der Calon-Trauerrituale und der Rolle des Zusammenlebens, der gegenseitigen Benennung bzw. Namensgebung und Tauschmodi zwischen Calen vorweg. Hierdurch soll der Blick der Leser etwa für die Betrachtungen der partikularen Umstände sensibilisiert werden, unter denen die Calen aufwachsen und leben. Im Zusammenhang damit erkläre ich die theoretisch-methodologischen Strategien, die ich für das Konzeptualisieren des Lebens von Ciganos als ethnografische Theorie artikulierte. Bevor ich auf wesentliche Aspekte dieser theoretisch-methodologischen Strategien eingehe, die ich im Laufe meiner Forschung entwarf, möchte ich zunächst von meiner ersten Begegnung mit Ciganos in Brasilien berichten. In diesem Zuge stelle ich meine ersten Gesprächspartner in einer meiner ethnografischen Lokationen vor, um danach einige wichtige Aspekte meiner teilnehmenden Beobachtung als Arbeitsweise (vgl. Mills 1936) konkreter darzulegen. Hierfür transkribiere ich einen überarbeiteten Auszug meines Tagebuchs.
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3.1.1 Suchen und gefunden werden Es war im April 2008, als ich das Willkommensschild der kleinen Stadt Pedrosa passierte, welches über einer Staatsstraße inmitten des Sertão des brasilianischen Bundesstaats RN und circa 300 Kilometer von Cachoeira dos Índios entfernt hängt. Damals war ich auf der Suche nach einem Ort, wo ich Ciganos kennenlernen könnte. Nach ein paar hundert Metern öffnet sich auf der rechten Seite ein kleiner Platz, an dem die Stadt zu beginnen scheint, ganz so, als ob er ihre Eingangstür wäre. Kurz davor, auf der linken Seite, liegt eine typische SelfserviceReisegaststätte. Dort hielt ich an und parkte das Auto, während die Staatsstraße weiter gen Westen zur nächsten, 30 Kilometer entfernten Stadt Tupanatinga weiterführt. Nach dem Abendbrot und einem Kaffee überquerte ich die Straße und ging an dem kleinen Platz vorbei, um meine Suche zu Fuß fortzusetzen. Ich wollte in das Stadtviertel »Fuchsschwanz« (Rabo da Rapôsa), wie es umgangssprachlich genannt wird, bzw. »Hügelkönigin« (Rainha do Monte), wie es offiziell heißt. Dort ist es, »wo die Ciganos wohnen«, wie Einheimische mir erklärten. Ich lief die Hauptstraße entlang. Die vielen Leute, die an jenem Abend um circa 20 Uhr unterwegs waren, belebten die Straßen. Wie in kleinen Städten und Dörfern in der Gegend üblich, saßen viele vor ihren Häusern auf Stühlen, die sie aus ihren Wohnungen auf den Gehsteig herausgebracht hatten, oder blieben stehen, um sich zu unterhalten und die Geschäftigkeit von anderen Leuten zu beobachten. Nachbarn, Verwandte, Freunde, Unbekannte und Kunden zirkulierten. Kinder spielten. Leute fuhren in ihren Autos und auf zahlreichen Motorrädern vorbei. Zwischen den nebeneinanderstehenden Häusern sind oft kleine Läden zu finden: Bäckereien, Kneipen, Minimärkte, Apotheken, Imbisse, Videotheken usw. Obwohl diese Läden auf den ersten Blick spärlich angesiedelt zu sein scheinen, sind sie zumindest in diesem Teil der Stadt doch ziemlich zahlreich verteilt. Mehrere evangelische Kirchen liegen in den Parallelstraßen verstreut, zwei katholische Kirchen befinden sich an der Hauptstraße. Die Größte liegt mitten auf dem Hauptplatz und bildet das Stadtzentrum. Manche Einwohner gaben mir gegenüber an, dass eine große Menge an Schwefel hier unter dem Boden sehr wahrscheinlich das Grundwasser kontaminiere und dass die zahlreichen Fälle von Krebserkrankungen in der Stadt damit zusammenhingen. Die Ciganos würden, im Gegensatz zu anderen Menschen, jedoch »merkwürdigerweise nie an Krebs erkranken…« Neben der ersten Kirche, etwas versteckt von dieser, befindet sich das Rathaus. Die anliegende Hauptstraße erstreckt sich mal enger, mal breiter. Mehrere Internetspielhallen (die bekannten Lan-Houses) waren entlang des Weges zu finden.
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Ein paar hundert Meter weiter vorne erblickte ich ein enormes Fußballfeld auf der rechten Seite. Seine Mauer sah alt aus. Es wirkte verlassen. Insgesamt schien mir die Stadt aber gut gepflegt zu sein. Zugleich hatte sie, vielen Dörfern ähnlich, etwas Gemächliches. Um mich zu vergewissern, dass ich auf dem richtigen Weg war, fragte ich einen Herrn, wo Fuchsschwanz liege. Der sagte mir: »Geh einfach die Straße weiter entlang, es liegt ganz am Ende.« Nach etwa 15 Gehminuten, während derer die Läden allmählich verschwanden und nur noch Wohnhäuser zu sehen waren, und nachdem ich an der zweiten, eher kleinen und unauffälligen katholischen Kirche vorbeigegangen war – wie ich später erst noch erfahren sollte in der Gegend auch als »Kirche der Ciganos« bekannt –, kam ich endlich am Ende der Hauptstraße an. Dort befand sich eine Kreuzung; die letzte der Stadt. Hier gab es weniger Geschäftigkeit als an der Kreuzung 300 Meter davor, an der ich noch eine Bar mit Billardtisch entdecken konnte. Weiter sah man nichts: Die letzte Straßenlaterne spendete nur wenig Licht. Die Hauptstraße, welche zur Landstraße wird, löste sich in der Dunkelheit auf. Erst 14 Kilometer weiter wird diese im Gebirge von den Lichtern der kleinen Nachbarstadt erhellt. Links von mir befand sich ein Haus, aus dem Musik drang und vor dem zwei Bartische standen. Einer war frei, der andere war von vier Männern besetzt, die Karten und Domino spielten. Eine junge Frau, die einen Säugling in ihren Armen hielt, stand vor einem Haus mit einem großen, offenen Fenster. Sie schaute mich sehr sympathisch an und lächelte. Als ich sie bemerkte, grinste ich, und sie näherte sich. Ich sagte zu ihr: »Guten Abend!«, und hörte von ihr dasselbe. Ich fragte sie, ob dies das Ende der Stadt sei. Mit guter Laune bestätigte sie dies: »Ja, es ist hier. Da lang gibt es nichts mehr«, und wies mit ihrem Finger in die Dunkelheit. Ich fragte sie, ob das an der Ecke eine Bar sei oder ob dort nur Freunde seien, die miteinander spielen und trinken. »Doch es ist ein Bar«, antwortete sie und fragte mich, ob ich etwas trinken wolle. »Ich weiß es noch nicht… Doch! Bestimmt trinke ich irgendetwas.« Sie war sehr nett und entgegenkommend, bis ich sie in ungezwungener Art fragte, ob die Ciganos in diese Bar kämen und ob sie eventuell manche von ihnen kenne. Da wurde sie sehr ernst und ihr Blick nahm eine dunkle, ängstliche Mine an. »Nein!«, antwortete sie, bevor sie sich jäh umdrehte und mit dem Baby schnell die Straßenseite wechselte, wo sich andere Einwohner auf dem Gehsteig unterhielten. Angesichts diese Reaktion entschloss ich mich, meine Suche – ohne etwas getrunken zu haben – auf die Parallelstraßen in der Gegenrichtung auszudehnen. Ich bog nach links ab und ging einige Meter weiter. Gleich an der nächsten Ecke sah ich einen großen Platz. Das war ein flaches, verlassenes, leeres Gelände, das teils aus Wiese, teils aus Erde bestand. Am nächsten Tag sollte ich erfahren, dass
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dies der »Calon Platz« ist. Hier sah ich noch zwei weitere Kneipen, oder zumindest etwas, das zwei Kneipen ähnelte, fast nebeneinander an einer der Straßen, die das Gelände umschlossen. Ich wandte mich der Nächstgelegenen von ihnen zu. Dort war tatsächlich eine kleine Bar, die Teil eines Wohnhauses war. Der Teil der Bar, der zur Straße hin lag, war geöffnet, erleuchtet und leer. Die Haustür stand offen. Drinnen schaute jemand fern. Ich rief von der Tür aus hinein und ein Mann kam heraus. Ihn fragte ich, ob die Bar noch geöffnet sei. Er erklärte mir: »Ja, aber ich werde sie gleich zumachen.« Ich fragte ihn, ob er die Ciganos der Gegend kenne. Er meinte, er wisse gar nichts darüber, habe keine Ahnung, kenne keinen Cigano… Ich setzte meine Runde fort und fragte noch in der anderen kleinen Bar, wo sich wiederum nur der Besitzer befand, der ebenfalls darin wohnte, und erhielt die gleiche Antwort. Ich erinnerte mich noch an die Bar mit dem Billardtisch an der Hauptstraße und ging dorthin zurück. Falls ich heute keinen Cigano treffe, dachte ich mir, könnte ich zumindest ein bisschen Billard spielen und ein paar Einwohner kennenlernen. Meine Suche würde ich dann am nächsten Tag fortsetzen. Mehrere Leute waren noch dort. Viele Anwesende waren sehr jung, einige Kinder liefen herum, Erwachsene spielten Domino, manche saßen nebenan auf dem Gehsteig und unterhielten sich. Ich holte mir ein Bier und setzte mich an einen Tisch, von dem aus ich damit begann, alles zu beobachten. Schnell spürte ich, dass ich ebenfalls beobachtet wurde. Mit einem jungen Mann spielte ich eine Runde Billard und verlor. Am Ende fragte mich mein Gegenspieler, ob ich von der Armee sei und käme, um Leute zu rekrutieren. Ein anderer gesellte sich zu uns und fragte mich, ob ich von der Studentenbehörde sei und mich hier eingefunden habe, um Studentenausweise auszustellen, da es keine Behörde in der Stadt gebe. Während ich danach allein mein Bier trank, tauchte ein dritter auf und fragte mich, ob ich in der Stadt sei, um Verwandte zu besuchen. Ich erklärte, dass ich von der Universität sei und dass ich nach Pedrosa gekommen sei, um die Ciganos der Gegend kennenzulernen. Sowohl während ich allein am Tisch der Bar saß als auch während ich mich unterhielt, kamen und gingen einige Kinder, die zwei- oder dreimal irgendetwas an der Bar bestellt hatten. Nach ungefähr 40 Minuten entschied ich mich, die Suche für jenen Abend aufzugeben und sie am nächsten Morgen wiederaufzunehmen. Ich verabschiedete mich von den Jungs und machte mich auf den Weg zurück zum Gasthaus, das an der Staatsstraße liegt und bis zu dem ich noch die ganze Stadt zu durchqueren hatte. Als ich circa 100 Meter von der Bar entfernt war, hörte ich ein Motorrad, das plötzlich von hinten an mir vorbeifuhr und vor mir anhielt. Darauf saßen zwei
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Männer. Nervös sprach der Fahrer mich an: »Wir haben’s gehört, Du suchst nach Ciganos… Wer bist denn Du?« Ich sagte meinen Namen und auch, dass ich von der Universität sei und die Ciganos der Stadt im Rahmen einer Forschungsarbeit kennenlernen wolle. Derjenige, der hinten saß und einen Revolver trug, fragte mich: »Woher bist Du Sohn?«, was auch: »Woher kommst Du ursprünglich?«, heißt, während »Du« hier etwa »Du und Deine Familie« bedeutet. Ich antwortete vage, dass ich aus »Paraíba« (dem benachbarten Bundesstaat) komme, wie meine Familie. »Woher dort?« »Aus Taperoá«, sagte ich und gab meinen Familiennamen an. Dazu ergänzte ich noch: »Aber ich bin woanders aufgewachsen, in Recife, und besuche meine Familie in João Pessoa.« Ich fasste zusammen, wie ich auf die Stadt gekommen sei, indem ich von der Homepage im Internet, vom Telefonat mit dem Rathaus und den Hinweisen von Antônio im Gasthaus erzählte. Schließlich teilte ich ihnen mit, dass ich im Gasthaus von Seu Petrônio am Rand der Staatsstraße kurz vor dem Stadteingang übernachten würde. Nach diesen Erklärungen waren die beiden sichtlich erleichtert. Als sie sahen, dass ich keine Bedrohung darstellte, löste sich die Spannung schnell auf. Wie ich bald lernte, wurden »die Ciganos von Pedrosa« in der Vergangenheit schon mehrfach u.a. von interessierten Studenten, Forschern, Journalisten aus verschiedenen Gründen kontaktiert. Ich vermute, dass beide Ciganos aus diesem Grund meine Geschichte glaubten.1 Der hinten Sitzende sagte mir in einem fast entschuldigenden Ton, dass sie Ciganos seien, aber dass sie wegen anderer Ciganos, die ihre Feinde seien, aufpassen müssten, da sie in eine Blutrache hineingezogen worden seien. Sie teilten mir mit, dass ein Cigano letztens in einem Hinterhalt ermordet worden war und dass sie alle seitdem noch vorsichtiger als sonst lebten. Der Fahrer ergänzte etwas genervt: »Es geht um Rache… Das passiert wegen der Alten… [os Velhos]. Wir selbst haben damit nichts zu tun, aber die Alten haben ihre Feindschaften und jeder von uns hier ist mittendrin, verstehst Du?!« Da sich die Unruhe gelegt hatte, schlugen sie mir vor, am nächsten Tag in der Früh zurückzukehren, um sie tagsüber zu treffen und weitere Ciganos kennenzulernen. Der Fahrer stellte sich dann vor. »Erschein morgen hier, komm aber nicht so spät wie heute, alles klar? Dann frag nach Jacó Cigano.« Ich fragte den anderen, wie er heißt, und hörte: »Du kannst auch nach Pedro Cigano su-
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Von einer ähnlich angespannten Situation zwischen Ciganos und einem Forscher in der Stadt Natal berichtet Pereira da Silva (vgl. 2002, 36-40).
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chen, ich wohne hier vor der Bar, wo Du warst.« Jacó ergänzte: »Uns kennt jeder hier… Als Du in der Bar saßt, wussten wir schon von Dir.« Aufgrund der Art und Weise, wie Jacó und Pedro vom Hinterhalt und der Tötung des Ciganos gesprochen hatten, glaubte ich noch eine Zeit lang, es handelte sich dabei um ein kürzlich geschehenes Ereignis. Erst viel später erfuhr ich von lokalen Nichtciganos, dass sich diese Begebenheit bereits vor acht Jahren zugetragen hatte (im Jahr 2000). Die Anspannung, die sowohl bei den ortsansässigen Ciganos als auch bei ihren Nichtcigano-Nachbarn zu spüren war, hatte hauptsächlich damit zu tun, dass sich einige lokale Ciganos an ihren Feinden gerächt hatten und sie deswegen seitdem jederzeit mit einem Gegenstoß rechneten. Kurz bevor wir uns verabschiedeten, fragte ich Pedro und Jacó Cigano, ob sie Lust hätten, gleich in die Bar zu gehen, um dort ein bisschen zu reden und etwas zu trinken. Jacó bedankte sich für die Einladung, antwortete aber, er trinke nicht. Pedro erklärte mir ausweichend, fast flüsternd, dass vor kurzer Zeit einige »Verwandte« (parentes) bei einem Autounfall gestorben seien. Jacó sei deswegen »in Gefühl« und trinke gerade weder Alkohol noch feiere er. Mir fiel sofort die Geschichte eines Autounfalls ein, die Antônio – ein Juron, der mit seiner Frau im Gasthaus arbeitet – mir an jenem späten Nachmittag erzählt hatte. Bevor ich zum Abendbrot zur Reisegaststätte fuhr, redete ich mit ihm über die zahlreichen Kapellen am Rand der Staatsstraße, die ich unterwegs gesehen hatte. Diese werden dort errichtet, wo Menschen durch einen Autounfall gestorben sind. In diesen Kapellen können sowohl die Angehörigen des Verstorbenen als auch Passanten Kerzen anzünden, Steine darauflegen oder weitere symbolische Gegenstände wie Wasserflaschen abstellen. Der Autounfall, bei dem die Frau von Xexéu umkam, geschah vor vier Monaten am letzten »Weihnachtsfeiertag der Ciganos« (Natal dos Ciganos). Das Geschehnis, das sowohl bei den Ciganos als auch bei den Nichtciganos noch stark nachhallte, kann wie folgt zusammengefasst werden: Das Auto kam von Tupanatinga voller Ciganos und fuhr Richtung Pedrosa zu ihrem Weihnachtsfest. Xexéu war sehr betrunken und kurz vor dem Ziel verlor er die Kontrolle über den Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abkam und sich überschlug. Zwei Personen sind dabei ums Leben gekommen: seine Frau, die P. hieß; und auch ein anderer Cigano namens J., der »ein bisschen behindert« war. »Die Ciganos sind alle richtig durchgedreht!«, erzählte mir Antônio, »so viel Lärm haben sie gemacht…« Xexéu, der das Auto bei dem Unfall fuhr, wurde von Seu Alberto, dem Vater seiner Frau, an ihrem Tod für schuldig erklärt und musste sofort nach dem Unglück wegen dessen Rache fliehen und untertauchen.
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3.1.2 Von den Calen als Lehrer In den folgenden Tagen und Jahren erfuhr ich von mehreren Trauerpraktiken bei Pedro, Jacó und anderen Calen, die unmittelbar an diejenigen rituellen Handlungen erinnern, über die Patrick Williams (vgl. 2003 [1993]) bei den Manusch in Frankreich und Elisabeth Tauber (2014 [2006] und 2008) bei den Sinti in Südtirol ethnologisch berichteten: u.a. die Zerstörung der Gegenstände der Verstorbenen gleich nach ihrem Tod, der Umzug von den Angehörigen bzw. Mitgefährten, das Fasten in Bezug auf verschiedene Handlungen, die mit den Toten assoziiert werden, das Verschweigen ihrer Namen… kurzum: das Auslöschen jeglicher Spur bzw. Erinnerung an die Verstorbenen. Als ich von diesen Aspekten der Calon-Trauerrituale erfuhr, zeichnete sich ab, dass insbesondere die Theorie des Respekts, die Williams und Tauber entworfen haben, eine geeignete theoretische Grundlage bieten konnte, um den Umgang mit Tod und Trauer bei den in Brasilien von mir begleiteten Calen aus einer Perspektive von Inklusion und Exklusion zu reflektieren. Auf Basis dieser Theorie, die mir spezielle Perspektiven anbot, konnte ich meine Untersuchung über die verfügbare ethnologische Pollutionsmetapher (vgl. z.B. Sutherland 1986 [1975]; Okely 1998 [1983]; Engebrigtsen 2007 [2000]; Gay y Blasco 2005) hinaus erweitern. Und doch, obwohl die Theorie des Respekts für mich ausschlaggebend war, vermied ich es im Verlauf meiner Forschung bei den Calen, fremde Theoretisierungen a priori anzunehmen. Bronisław Malinowski bemerkt hierzu: »[O]bservations are impossible without theory; […] theories must be formed before you start to observe, but readily dropped or at least remoulded in the course of observation and construction. […] fieldwork is a hard, persistent struggle for the vision of what a legal or economic institution is; how mythology integrates modes of behaviour and how this blends with magic and with practical work. It is the vision of the clear, firm outline of native institutions which brings order into the chaos of trifling happenings and details of varying relevance.« (Malinowski 1966 [1935], 321)
Meine empirischen Befunde – d.h. die von mir selbst beobachteten Konzeptualisierungen und Rituale von Calen in Bezug auf Tod und Trauer – interpretiere ich einerseits kritisch anhand der verfügbaren Theorien, bemühe mich jedoch gleichzeitig diese durch meine eigenen Befunde zu aktualisieren (vgl. Barth 1999 [1995]). Wenn ich als Ethnologe Kulturunterschiede zu übersetzen habe, dann beziehen die sich nicht unbedingt und lediglich auf das, was andere Leute mir auf meine eigenen ethnologischen Fragen zu sagen haben. Wichtiger ist es meiner Ansicht nach, die Art und Weise kennenzulernen, wie Leute ihre eigenen
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Fragen als Teil ihrer eigenen Realitäten selbst formulieren. Unterschiedliche Bedingungen und unvorhersehbare Umstände erwarteten mich als Forscher und begegneten mir auf dem Weg meiner möglichen Interpretation. Diese hängt davon ab und wird davon beeinflusst, wie ich in der Feldforschung von unterschiedlichen Akteuren wie Jacó und Pedro Cigano oder von den sie umgebenden Jurons, mit denen ich zu tun habe, aufgenommen wurde. Des Weiteren verlangt die Übersetzungsarbeit von mir einen Perspektivwechsel: Um eine andere Realität verstehen zu können, musste ich lernen, von gewöhnlichen Prämissen und Zeichen der Ciganos auszugehen; oder wenigstes, das zu versuchen. Daher wusste ich von Anfang an, dass die zentrale ethnologische Fragestellung, die ich in der Einführung präsentierte, eventuell keinen Sinn ergeben würde, wenn ich erst mal ins Feld eingetreten wäre. Folglich war mir bewusst, dass ich eventuell nichts über Tod und Trauer bei den Calen in Erfahrung bringen würde und daher eine Studie zu meiner Fragestellung eventuell nicht umzusetzen wäre. Abgesehen davon ahnte ich mittels der Theorie des Respekts, dass das Thema des Todes und der Trauer bei den Ciganos in Brasilien ebenfalls ein Tabu sein könnte, über das keiner reden wollte. Angesichts dessen blieb ich offen und nahm die Ciganos als Menschen an, von denen ich viel über ihre eigenen Realitäten im Allgemeinen und in Bezug auf mehrere spezifische Themen zu lernen gedachte: Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, im Fach Tsiganologie über die Ciganos bei den Ciganos selbst mehrere Feldforschungsaufenthalte zu absolvieren. Die teilnehmende Beobachtung, die ich in den folgenden Jahren bei und mit den Calen durchführte, entspricht der Definition von teilnehmender Beobachtung als Arbeitsweise, wie Tim Ingold sie formuliert: »[P]articipant observation […] calls upon the novice anthropologist to attend: to attend to what others are doing or saying and to what is going on around and about; to follow along where others go and to do their bidding, whatever this might entail and wherever it might take you. This can be unnerving, and entail considerable existential risk. It is like pushing the boat out into an as yet unformed world – a world in which things are not ready made but always incipient, on the cusp of continual emergence. Commanded not by the given but by what is on the way to being given, one has to be prepared to wait […]. Indeed, waiting upon things is precisely what it means to attend to them.« (Ingold 2014, 389)
Durch die zuvor berichtete Begegnung wie auch durch weitere Erfahrungen wurde ich stets daran erinnert, dass ich für die Calen in erster Linie auch ein Fremder war. Nur allmählich und mich vorsichtig vorantastend versuchte ich, bei den mir begegneten Calen zu prüfen, ob und inwieweit es mir überhaupt ge-
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stattet war, von Tod, Trauer und von Toten bei und von ihnen zu erfahren. Sehr bald bevorzugte ich es, nicht etwa das Thema anzusprechen, sondern nur dann darüber zu reden, wenn ein Calon selbst oder eine dritte anwesende Person das Gespräch darauf lenkte. Ich glaube, das half mir, ihre anfängliche Ablehnung abzubauen, während sich weitere Calon-Welten öffneten.
3.2 ZUM ENTWERFEN EINER VERGLEICHSSTUDIE IM LAUFE IHRER DURCHFÜHRUNG Meinen ersten Forschungsaufenthalt verrichtete ich zwischen März und Juni 2008 explorativ. Vor Ort beschäftigte ich mich mit einer bibliografischen und dokumentarischen Erhebung, mit dem Aufbauen eines Forschungsnetzwerks und mit der Kontaktsuche zu Cigano-Familien in Brasilien. Das hat mir wesentliche Kontakte mit Calen und anderen Personen, die sich mit ihnen beschäftigen, sowie verschiedene Kurzaufenthalte in Calon-Siedlungen in den Bundesstaaten von RN und BA im Nordosten und von Paraná (PR) im Süden Brasiliens ermöglicht. Schon zu Beginn meiner Forschung stieß ich im Internet auf eine Meldung, in der die Calen der Stadt Pedrosa in RN erwähnt wurden. Dieser Meldung zufolge führte die »ethnische Gruppe« am Ende einer Veranstaltung zur »politischen Anerkennung ihrer Ethnizität« und entsprechenden »Minderheitsrechten« einen »Cigano-Tanz« (dança Cigana) als Symbol ihrer legitimen Andersartigkeit auf. Damals war der sogenannte Cigano-Tanz im brasilianischen Fernsehen Mode. Einige Bilder von einem in strahlendem Rosé festlich gekleideten tanzenden Cigano-Pärchen illustrierten den Bericht. Später erfuhr ich, dass es sich bei den Tanzpartnern um Geschwister gehandelt hat, mit denen ich im Verlauf meiner Forschung viel zu tun haben sollte: Esmeraldo (bzw. Dagoberto) und Luísa, eine seiner Schwestern, wie auch einen großen Teil der anderen Anwesenden lernte ich nach kurzer Zeit persönlich kennen. Hinter den Tänzern waren nicht nur einige lokale Autoritäten auszumachen, sondern auch einige Calen, die dem Treffen eine Art repräsentative Legitimität zu geben schienen. Die Zusammenkunft, die nicht in Pedrosa selbst stattfand, wurde von ihrem Bürgermeister und einigen lokalen »Persönlichkeiten« besucht. Weil ich mich zu dieser Zeit im benachbarten Bundesstaat Paraíbas befand, entschloss ich mich kurzerhand dazu, die Gelegenheit eines Besuches zum persönlichen Kennenlernen wahrzunehmen. Anfang Juni befand ich mich im Süden von BA. Dort lernte ich Tico kennen und die anderen Ciganos, die in seiner Siedlung in Lagoa Bela wohnten. Ich traf sie bei einer Veranstaltung, die von einem Anthropologen und einem Musiklehrer,
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einem Rom aus Rio de Janeiro, organisiert worden war. Auch war bei dieser Veranstaltung Pater Cleyton anwesend, der als eine Art Pater für die Ciganos fungierte. Nach dem Ende der Veranstaltung sprach ich Tico, der sich als Gruppensprecher hervorgetan hatte, direkt an, als er sich mit mehreren Anwesenden unterhielt. Ich fragte ihn, ob es möglich wäre, ihn zu besuchen. Tico engagierte sich politisch für die Anerkennung der Ciganos als ethnische Minderheit, was vor allem durch die Autorität der Pastoral der Nomaden vermittelt wurde. Vielleicht wurde ich deswegen willkommen geheißen. Während der nächsten Tage war ich in seiner Siedlung und konnte einige seiner Brüder kennenlernen und den Tag bei ihnen verbringen. Als ich ein Jahr später zurückkehrte, konnten sie sich noch an mich erinnern. Zwischen meinen Besuchen in RN und BA war ich eine Woche lang in einer Ortschaft in PR, die circa eine Autostunde der Hauptstadt Curitiba entfernt ist. Die Calon-Siedlung, die ich besuchte, lag an der Autobahn, auf dem Gelände einer Kalkfabrik. Meistens unterhielt ich mich mit Todinho und gelegentlich mit seiner Frau, wenn diese anwesend war. Die Frauen der Siedlung fuhren täglich mit dem Bus nach Curitiba, um dort betteln zu gehen (manguear). Todinho trat wie Tico und Esmeraldo politisch für Minderheiten ein. Der Kontakt zu ihm ergab sich dank einer Mitarbeiterin der Pastoral da Crianças, zu der er eine Beziehung pflegte. Eines seiner Projekte war es z.B., eine Schule zu bauen, die ausschließlich von Calon-Kindern besucht werden sollte. Bei diesem ersten explorativen Aufenthalt konnte ich einen Überblick über das Leben einiger Calon-Familien vor Ort gewinnen und auch einen längeren Forschungsaufenthalt in einer der besuchten Siedlungen vorbereiten. Aus praktischen Gründen, vor allem wegen der kontinentalen Distanzen, plante ich zunächst, meine Studien auf eine Ortschaft in der Region im Nordosten zu beschränken. Doch entgegen diesem ursprünglichen Vorhaben ergab sich die Möglichkeit, meine Feldforschung auf verschiedene Ortschaften auszudehnen. Deshalb sowie angesichts der scheinbar auffälligen Unterschiede zwischen den Calon-Familien im Sertão von RN und denen im Süden von BA hielt ich es für sinnvoll, eine vergleichende Studie durchzuführen. Allerdings hatte ich mir im Voraus keine feste Strategie dafür zurechtgelegt, wie ich einen Vergleich entwickeln könnte. Wenn ich in einem Ort und bei denselben Familien in BA viel mehr Zeit verbrachte, so war es doch zumindest notwendig, dass ich mit gewisser Regelmäßigkeit auch die Calon-Familien in RN besuchte. Die Form meines Vergleichs nahm erst im Laufe meiner Forschung allmählich Gestalt an. Im März 2009 kehrte ich nach Brasilien zurück und blieb dort diesmal bis Dezember desselben Jahres. Während dieser Zeit war ich meistens in BA. Im August war ich in RN und konnte dann außer weiteren Siedlungen in anderen
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Städten auch drei nebeneinanderliegende Calon-Siedlungen in der Stadt Trindade im benachbarten Bundesstaat von Paraíba besuchen. Nach diesem längeren Aufenthalt war ich nur noch ein einziges Mal in BA, im Januar 2011. Hingegen war ich bei den Calon-Familien in RN erneut im August, September und Dezember 2010 und ein letztes Mal im März 2012. Das eröffnete mir die Möglichkeit, eine Form der Längsschnittstudie in Bezug auf die Calen in RN zu unternehmen. Insgesamt fand meine Feldforschung in verschiedenen Zeitabschnitten zwischen 2008 und 2012 hauptsächlich an der Südküste und im Südwesten von BA sowie im Sertão von RN statt. Die gesamte Feldforschungszeit erstreckte sich über zwölf Monate. Zwar liegen beide Gebiete im Nordosten, einer der fünf Großregionen von Brasilien, dennoch sind sie etwa 1500 Kilometer voneinander entfernt. Die von mir besuchten Ciganos und Jurons beider Regionen kennen sich nicht und haben prinzipiell wenig, wenn überhaupt etwas miteinander zu tun bzw. gemein. Für Außenstehende können die Calen in RN und in BA in mehreren Aspekten auf den ersten Blick sehr unterschiedlich aussehen. Während ich in beiden Gebieten mein Forschungsmaterial produzierte, wurde ich mehrmals mit den klassischen Fragen der Möglichkeiten und Modalitäten der Methode eines Vergleichs in der Ethnologie konfrontiert; d.h., ob und wie man sich analytisch von einer lokalen auf eine transregionale Ebene bewegen kann. Diese Herausforderung formuliert Adam Kuper wie folgt: »The customs, ideas, institutions, practices, the parts, made sense in terms of their interrelationship; and/or in terms of the goals or perceptions of the actors. But if one had, in the first instance, to grasp the parts in their internal context, could one then move on to comparison?« (Kuper 1980, 21) Fredrik Barth schlägt vor, den Unterschied zwischen diesen beiden analytischen Ebenen aufzulösen. Seiner Meinung nach schaffe das eine Voraussetzung, um die Beschränktheit des Vergleichsmodells der Anatomie zu überwinden, die die Ethnologie übernommen habe und die üblicherweise in ihrem Bereich nach wie vor praktiziert werde: »There can be no doubt that all of our anthropological analyses involve comparisons of ethnographic materials. But I would argue that we can no longer sustain the schematism of distinguishing our analyses of forms ›within‹ a body of field data, and the ›cross-cultural‹ comparisons we perform ›between‹ such units. Indeed, by abandoning this distinction, we also escape some of the difficulties of establishing equivalences, and of only being able to compare descriptions.« (Barth 1999 [1995], 81)
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Abbildung 4: Karte von Brasilien2
Quelle: Angepasst vom Instituto Brasileiro de Geografia e Estatísticas, IBGE (2015)
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Die Region des brasilianischen Nordostens umfasst die Bundesstaaten: Maranhão, Piauí, Ceará, RN, Paraíba, Pernambuco, Alagoas, Sergipe und BA.
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Angelehnt an meine empirischen Materialien und an Barth (vgl. ebd.) sah ich davon ab, zwei separate Beschreibungen zu entwerfen (z.B. eine über die Ciganos in RN und eine andere über die im Süden von BA), um sie danach miteinander zu vergleichen. Stattdessen bildeten die Praktiken, die den Trauerritualen der Calen sowohl in RN als auch in BA gemein waren, die Basis für einen Vergleich. Das schloss die Suche nach Äquivalenzen ein. Die Art der ethnografischen Materialien, mit denen ich an meine Fragestellung zu den Trauerritualen der Calen herangehen könnte, erschloss sich mir somit allmählich durch meine Interaktionen mit den Ciganos verschiedener Regionen. Meine transversale Suche nach Äquivalenzen zwischen den Ciganos von RN und von BA streifte verschiedene Aspekte ihrer Lebensweise: Kleidung und Körper, Wirtschaft bzw. Tätigkeiten, Wohnformen und Mobilität, Sprache, Endo- und Exogamie sowie Festlichkeiten. Je näher ich den Calen dieser zwei Regionen kam und je länger ich sie begleitete und mich zugleich von gewöhnlichen Juron-Blicken entfernte, desto weniger wirkten sie wie zwei gegensätzliche Pole. Dieser Prozess fand zumeist allmählich statt, etwa wenn ich beobachtete, wie sich alle diese verschiedenen Aspekte des Cigano-Lebens unter den Auswirkungen des Todes eines Calons änderten. Den gemeinsamen Hintergrund der CalonHaltungen bilden dazu die Jurons, die auf jeder Ebene im Leben der Ciganos wahrgenommen werden, egal ob diese in BA oder in RN oder anderswo leben. Im Rahmen meiner Feldforschung verstärkte sich meine Wahrnehmung, dass sich die rituellen Praktiken um Tod und Trauer der Calen sowohl zwischen denen in RN und BA als auch zwischen den brasilianischen Calen einerseits und Sinti und Manusch andereseits nicht grundsätzlich unterscheiden, während sie im Vergleich zu den Todes- und Trauerritualen der jeweiligen Juron-Mehrheitsbevölkerungen auf je ähnliche Weise stark kontrastieren. Ungeachtet der Unterschiede untereinander betrachten sich die Calen gegenseitig als Calen, insofern sie jeweils anerkennen, dass sie als Ciganos »viel sentimento haben«. Somit ging es bei meiner Vergleichsarbeit häufig darum, die kulturellen Variationen der Trauerpraktiken der Calen zu untersuchen, durch die sie sich als distinkte Calon-Person (also als Nichtjuron) entwerfen, d.h., sie als Verwirklichungsmodi einer »fraktalen [Calon-]Person« (vgl. Wagner 1991) zu studieren. Diese fraktalhafte Selbstrealisierung kann ebenfalls als »das mythische Gesetz der Bildung der [Calon-]Person« verstanden werden, wie sich Thomas Bargatzky (2007, 150-161) ausdrückt. Wie für Roy Wagner geht es auch für ihn um jenes »Prinzip von Selbstähnlichkeit, das im Mythos, im Neuplatonismus und in der fraktalen Geometrie bzw. Chaos-Theorie eine große Rolle spielt und das […] als mythisches Prinzip
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der gegenseitigen Abbildlichkeit – also Selbstähnlichkeit – von Mikro-, Meso- und Makrokosmos identifiziert wird. In jedem Teil ist prinzipiell das Ganze gegenwärtig.« (Ebd.)
Die Unterschiede zwischen den Ciganos von RN und BA, so fand ich, waren besser, wenigstens vorläufig, als kulturelle Variationen oder Realisierungen von einem Selbst anzusehen. Sowohl die Calon-Beerdigungen, die wie ihre Weihnachts- und Hochzeitsfeiern zu den Calon-Festlichkeiten gehören, als auch die damit unmittelbar verbundene Trauerarbeit der einzelnen Calen, die dem Toten nahestanden, weisen auf etwas Gemeinsames hin. Durch ihre Trauerrituale aktualisieren die Calen immer wieder den Status einer distinkten Person, d.h. einer Calon-Person, welche von anderen Calon-Personen als solche anerkannt wird. Es scheint gerade die Fraktalhaftigkeit dieses Selbst zu sein, welche eine Differenzierung zwischen Calon-Individuen und Calon-Kollektiven verhindern kann; oder die, wie Wagner einmal schrieb, »keeps the imageries of understanding from collapsing into the individuals, groups or categories that constructionism bundles into wholes greater than the sums of their parts.« (Wagner 1991, 171) Bevor ich auf die Calon-Trauerrituale zu sprechen komme, entwerfe ich im Folgenden einen Überblick über mehrere Grundaspekte der sozialen Organisationen von Ciganos in RN und BA. Diese Grundaspekte bilden die Hintergründe der Erlebnisse, die ich im Laufe dieses Buches beschreibe. Hierbei berichte ich von meiner transversalen Suche nach Äquivalenzen und den sich dabei aufzeigenden Unterschieden ihrer sozialen Organisationen.
3.3 GRUNDASPEKTE DER SOZIALEN ORGANISATIONEN VON CIGANOS IN RIO GRANDE DO NORTE (RN) UND BAHIA (BA) 3.3.1 Von der gegenseitigen Anerkennung zwischen Calen Als Teil des langwierigen Vorgangs meiner Feldforschungsannäherung wollte ich einigen der Calon-Familien des Lagers in Lagoa Bela und des Stadtviertels in Pedrosa etwas Nützliches als Gegenleistung anbieten. Außerdem konnte mein Auftreten das Misstrauen, das viele Calen oft gegenüber Jurons hegen, etwas abmildern. Die Aktivitäten, die ich bei ihnen unternahm, umfassten z.B. die Reparatur und die Verwaltung von Ticos Rechner, was u.a. das Besorgen und Installieren von Computerspielen für die Kinder wie auch das Speichern und Verwalten von Liedern und allgemeinen Dateien umfasste. Abgesehen davon unterstützte ich sie beim Schreiben von »kulturellen Förderprojekten« und ab und zu
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fuhr ich Pkws oder half gelegentlich mit Dingen im Alltag. Dadurch wurde mein Zugang zu ihrem Alltag tatsächlich erleichtert. Eine weitere Idee war es, die Rolle als Fotograf zu übernehmen. Diese Aktivität brachte mich manchmal in besonders erhellende Situationen. Als ich bspw. Bilder von vielen ihrer Frauen und Kinder gemacht hatte, um ihnen diese in Form von Slideshows auf CDs zu schenken, riet mir Tico, mein Calon-Hauptgesprächspartner in Lagoa Bela: »Sei vorsichtig damit! Zeig die Fotos keinem anderen, ok? Sonst weiß man, dass es so viele Frauen hier bei uns gibt…« Später ergänzte er, dass es kein Problem sei, die Bilder nach Deutschland zu bringen (um sie z.B. bei einer Ausstellung zu zeigen), während er gleichzeitig implizit meinte, dieselben Bilder auf keinen Fall anderen, unbekannten Ciganos zu zeigen – zumindest nicht, ohne vorher zu fragen. Ähnliches passierte mir in Sertão von RN. Als ich mehrere DVD-Aufnahmen von Weihnachtsfesten bei lokalen Calen kopiert hatte,3 auf denen eine große Anzahl von Calon-Familien zu sehen ist, wobei alle Generationen und Geschlechter vertreten waren, warnte mich gleichfalls Jacó in Pedrosa: »Pass auf, was Du damit machst…« D.h. nicht, dass die Calen, die ich kennenlernte, zuvor keine Erfahrung mit Kameras gemacht hätten. Ganz im Gegenteil: Die Calen von Lagoa Bela wurden oftmals von Jurons fotografiert und einst für ein Dokumentarvideo aufgenommen4. Zudem fotografierten sie sich selbst mehrmals und machten Videoaufnahmen.5 Safira, die Frau von Roland, einem der Brüder von Tico, zeigte und lieh mir bspw. die persönlichen Film- und Videoaufnahmen von ihrer Familie. Sie wollte das ganze Material digitalisiert haben, weil die Aufnahmen sehr alt waren. Ähnliche Erfahrungen mit der Produktion und Regulierung von visuellen Materialien konnte ich bei den Ciganos in RN machen. Auch diese wurden bereits von lokalen Schülern für ein Dokumentarvideo aufgenommen, während die Ciganos selbst in beiden Regionen auch Jurons anstellen, um auf ihren Festen Aufnahmen zu machen. Es war für mich in beiden Orten eindeutig, dass ich am ehesten Calon-Frauen und -Kinder fotografieren durfte. Während viele von ihnen aus eigener Initiative zu mir kamen, ließen sich die meisten Calon-Männer nicht gern und nur selten fotografieren.
3
Die Originale sind von einer von privaten Partygebern unter den Calen damit beauf-
4
Zu diesem Thema bei Calen in Brasilien vgl. auch Florencia Ferrari 2010, 251-252.
5
Verschiedene Dokumentarfilme porträtieren andere Ciganos in Bahia wie z.B. die von
tragten Juron-Firma auf VHS-Kassetten aufgenommen bzw. gespeichert worden.
Olney São Paulo (vgl. 1976-1978) und Ianna Rocha, Izanna Santos und Luana Marinho (vgl. Rocha et al. 2011).
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Abbildung 5: Porträt einer versprochenen Calin, BA (2008)
Quelle: Eigenarchiv
Erst später, als sie mehr Vertrauen zu mir gefasst hatten, konnte ich von ihnen ohne Anspannung Bilder aufnehmen. Allerdings fotografierte ich die Männer dann nur gelegentlich, um dadurch keine weitere Distanz zwischen uns aufzubauen. Abgesehen von diesen zwei grundsätzlichen Beispielen wurde auch in anderen Situationen deutlich, dass ein sensibler Umgang geboten war. Prinzipiell sind diese Schutzmaßnahmen etwas, was man überall finden kann. Alfred Gell schreibt hierzu: »Nervousness about being represented in an index (a photograph or portrait) is often discussed as if it were only a foible of innocent tribesmen, who believe that their souls are in danger of being stolen away therein. In fact, almost everyone has reasons for wishing to
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keep some degree of control over representations of themselves, rather than have them circulate freely.« (Gell 1998, 102)
Vielleicht hat die hier beschriebene Vorsicht in Bezug auf visuelle Materialien seit dem Aufkommen des Internets zugenommen. Allerdings weisen die Reaktionen der Calen auf die Bilder, die ich von ihnen gemacht habe, auf andere Sorgen und potenzielle Gefahren hin als jene, die üblicherweise bei den Jurons zu finden sind. Das wurde mir klar, als ich bemerkte, dass viele Ciganos, obwohl sie im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung unter relativ guten Bedingungen leben, gelegentlich in Situationen geraten, in denen sie Unsicherheit ausdrücken, geradeso, als ob sie einer beständigen Risikosituation ausgesetzt wären. Die Haus-Zelte (kehs) der Calen in Lagoa Bela bleiben bspw. im Gegensatz zu den Juron-Häusern den ganzen Tag über offen. Jeder Juron, der vorbeigeht, kann alles sehen, was es darin gibt: Möbel, Kühlschrank, Tische, Stühle, Fernseher und andere Elektrogeräte, manchmal Sofas usw. Im Gegensatz zu den sie umgebenden Jurons haben die Calen also weniger oder keine Angst davor, ausgeraubt zu werden. Eindrücklich nahm ich das wahr, als ich einmal gegen Mittag zu dem Lager zurückkehrte. Kurz davor konnte ich einen Juron sehen, der mir auf der Straße entgegenkam. Auf seinem Fahrrad fuhr er sehr langsam an den kehs vorbei. Starr blickte er in die Zelte, als ob er seine Augen nicht davon abwenden konnte. Ich bemerkte, wie beeindruckt er war, wie der gesamte Hausrat der Calen seine Blicke auf sich zog, da dies bei Jurons sehr ungewöhnlich ist. Aber wovor haben die Calen Angst, was sehen sie als Bedrohung an? Wem genau dürfen die Bilder sowohl von ihren Frauen und Kindern als auch von ihnen selbst nicht gezeigt werden? Und wer darf dann ihre Bilder anschauen? Wie verwalten die Calen ihre Bilder? Wenn man mit Franz Steiner (1967 [1956], 146) davon ausgeht, dass »all situations of danger […] are socially or culturally defined«, was offenbaren dann ihre Ängste über die Calon-Welten? Ich nahm an, erleuchtende Konturen einer Calon-Welt kennenzulernen, wenn ich von einigen ihrer wichtigsten kollektiven Ängste (vgl. Delumeau 1989 [1978]), die sie auch von Jurons unterscheiden, erführe und sie erfasste. Diese Ängste könnten ausdrücken, was für die Calen in ihrem Leben bedeutsam ist, und mit Tabus belegt sein. Gemäß Steiner verhält es sich so: »[U]ntil taboos are involved, a danger is not defined and cannot be coped with by institutionalized behaviour. […] To speak of danger is not equivalent to speaking of the possibility of defeat or annihilation; […]. To face danger is to face another power.« (Steiner 1967 [1956], 146) Vor welchen »anderen Mächten«, die für Nichtciganos nicht unbedingt die gleiche Bedrohung darstellten, wollten sich die Calen in diesem Sinne also schützen?
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Eine erste Antwort zeigte sich im Laufe eines Gesprächs mit Aparecida, einer Calon-Frau, Tante von Esmeraldo und Schwester seines Vaters. 3.3.2 Von anderen Mächten Die Ästhetik des Hauses von Aparecida, eine meiner wichtigsten CalonGesprächspartnerinnen in Pedrosa, scheint unter mehreren Aspekten nicht nur die Angst vor allgemeinen Bedrohungen, sondern auch eine spezifische Angst vor tödlichen Konflikten auszudrücken. Wie ich später teils durch die Presse, teils durch mündliche Aussagen von Jurons erfahren sollte, waren auch Aparecida und ihre Familie selbst tief in Blutrache verstrickt. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich vor allem auf das erste von ihr bewohnte Haus, das ich kennengelernt habe, da sie im Verlauf meiner Forschung zweimal umgezogen ist. Aparecida und alle anderen, die in dem Haus wohnen, nutzen am häufigsten die Hintertür als Eingang, während die Vordertür meistens verschlossen bleibt. Hinter dem Haus liegt der Hof, in dem sich mehrere Calen treffen, reden und essen können. Der Zugang zu diesem Hof, circa 30 Meter von der Hauptstraße entfernt, ist nicht eindeutig erkennbar, weil er an einem verlassenen Gelände liegt. Es ist schwer zu sagen, wo der Hof beginnt bzw. endet. Oben an der Eingangstür (d.h. an der Hintertür des Hauses) hängt eine mit Knoblauch und Salz gefüllte Plastikflasche, um böse Geister zu vertreiben und das Unglück auf Abstand zu halten. Demselben Zweck dienen gekochte Ochsenhörner. Aparecida hat mehrere Tiere, wie sie bei Calen oft zu finden sind. Diese können verschiedenen Zwecken dienen, wie z.B. als Nahrung, für den Verkauf oder als Glückstier. Auch die Bewachung des Hauses spielt eine wichtige Rolle und wird hauptsächlich den Hunden übertragen. (In Lagoa Bela waren nicht nur zwei Hunde, sondern auch die Gänse für diese Aufgabe verantwortlich. Tico sagte mir einst, sie wären längst alle erledigt, wären die Gänse nicht da.) Im Allgemeinen ist es nicht schwierig, die eine oder andere Calon-Familie zu finden, die in einem Haus oder Zelt wohnt, das unbewohnbar aussieht, ganz so, als ob die Erscheinung ihrer Wohnungen dazu diene, potenzielle Feinde auszutricksen. Als wir einander besser kannten, sagte Aparecida sehr erleichtert: »Du bist echt verrückt! Wieso kommst Du so spät am Abend hierher, um nach Ciganos zu suchen?? Wolltest Du sterben?? Wir waren alle zu Tode erschrocken!! Alle dachten, Du wärst Cigano oder ein beauftragter Matador!« Aparecida erzählte mir von einem Mord, die erst vor Kurzem vorgefallen war (zumindest klang es damals so, ähnlich wie bei Pedro und Jacó am Abend unseres Kennenlernens). Nach zwei weiteren Gesprächen mit Jurons, zu denen
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die Ciganos in einem besonderen Verhältnis standen, konnte ich mir die Szene vorstellen: Jemand rief den Cigano von einem öffentlichen Telefon an, das auf dem Gehsteig in der Nähe seines Hauses stand.6 Das wurde ihm mitgeteilt und er trat aus dem Haus auf die Straße, um mit der vermeintlich wartenden Person am Telefon zu sprechen. Als er das Telefon erreichte, fuhren zwei Männer auf dem Motorrad an ihm vorbei und erschossen ihn, bevor sie schnell, und ohne Spuren zu hinterlassen, flohen. Aparecida bestätigte, dass »alle« am Abend zuvor dachten, wie auch Pedro und Jacó, ich wäre jemand der anderen Cigano-Familie und sei geschickt worden oder aus eigenem Willen gekommen, um die Ciganos der Gegend aus Rache umzubringen. In diesem Kontext fing sie an, mir von Ciganos vor allem als rachsüchtig und von der »Cigano-Rache« (vingança de Cigano) als einer Art Mischung aus Beschwörung, Zauberspruch und Schicksal zu erzählen, so wie viele Ciganos oft ihre Racheneigung beschreiben. »Niemand tut einem Cigano was Böses! Ein Cigano ist sehr rachsüchtig! Der [Cigano] rächt sich, egal wo, an jedem, in jedem Ort. Wenn Du hier was tust, wirst Du leiden. Egal, wie lang es dauert, bis Du gefunden wirst, egal ob man zehn Jahre braucht, um Dich zu finden! Weil ein Cigano so ist: Wenn Du jemandem meiner Familie etwas Böses antust, gehe ich hin und tue es jemandem Deiner Familie an, genau das Gleiche, was Du mir angetan hast, damit Du denselben Schmerz fühlen kannst, verstehst Du?«
Aparecida nannte ein paar Beispiele, während einige Anwesende ihre Geschichte ergänzten. »Mal angenommen, einer kommt und bringt Deinen Cousin um, Du gehst dann den Cousin von demjenigen, der Deinen Cousin getötet hat, suchen und bringst ihn um. […] Die Ciganos von dort sind Feinde. Wenn sie hier plötzlich erscheinen, kann jeder, der in der Nähe ist, mit erschossen werden: Du, er, ich… Dazu reicht es, zusammen zu sein… Wenn sie hierherkommen, um uns umzubringen, würden sie Dich dann auch mit umbringen, da
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In Brasilien war es üblich, nicht nur Anrufe mit öffentlichen Telefonen zu tätigen, sondern mit diesen auch Anrufe zu empfangen, da jedes öffentliche Telefon auch eine eigene Nummer besitzt. Das war sinnvoll vor allem für diejenigen Personen, die in der Nähe von einem öffentlichen Telefon leben oder arbeiten, und die kein Festnetz zu Hause haben. Obwohl heutzutage jeder mindestens ein Handy hat, ist dies in manchen Gebieten noch üblich, wie bspw. im Hinterland und auch an einigen Taxiständen.
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Du gerade mit uns zusammen bist, Du sitzt in diesem Moment unter/mit uns, gerade bist Du mit uns zusammen, Du bist hier.«
Diese Erklärung verstand ich als eine indirekte Vorwarnung, da ich damals ein gerade angekommener Fremder war. Ich solle also aufpassen mit dem, was ich dort bei ihnen tue. Für mich wirkten ihre Wörter anderseits als eine Art Selbstvorstellung, als ob sie zeigen wollte, wie sich Ciganos durch Intensität und Ernst auszeichnen. Diese hier demonstrierte Intensität gilt gleichfalls für die Feste (inklusive Hochzeiten) und für das Verhalten im Kontext eines Todes, wie Todesankündigung, Feier usw. Obwohl die Tötung des Ciganos am Telefon nicht unbedingt wie ein Spektakel wirkt, wird deutlich, dass Cigano-Rache durch ihre Explosivität charakterisiert ist (vgl. Lopes Sulpino 1999). Auch viele Pressenachrichten, vor allem die kleinen Kommunikationsvehikel im Hinterland, berichten ab und an von Massakern an ganzen Familien, die von anderen Ciganos getötet werden. Doch was Aparecida ausdrücken wollte, war eben nicht die Uneinigkeit der Ciganos unter sich, sondern das Gegenteil davon, d.h. ihre Einigkeit. Diese Bindung aber gewinnt oft erst durch inneren Streit an Sichtbarkeit, während sie auch dadurch neu artikuliert wird. Die Aussagen von Aparecida lösten bei mir ein ähnliches Gefühl aus wie das, welches Williams am Anfang seiner Ethnografie zu den Manusch wie folgt beschreibt (und welches Favret-Saada [vgl. 1981 (1977)] zuvor in Bezug auf die Zauber in der Region Bocage beschrieben hatte): »There is no halfway position for observers: we have to be either completely in or irremediably out, unable to grasp anything. The position of privileged observer is totally illusory. It is not even possible to touch upon the surface of things since […] Mānuš things do not have a surface. We either get to the bottom or nowhere at all.« (Williams 2003 [1993], 1)
»Es liegt im Blut«, rachsüchtig zu sein, »denn ein Cigano hat viel sentimento«; d.h. Gefühl für den Cigano der eigenen Sippe bzw. für diejenigen, die für sie stehen. In den Erzählungen von Aparecida und von anderen erscheint Gefühl als das, was bewegt. Mit Geduld und der Fähigkeit, eine bestimmte Gelegenheit nutzen zu können, wird die Cigano-Rache als eine Art Schicksal ausgeübt. Außerdem hat das Blut eine besondere Bedeutung für die Ciganos: Manche Calen sehen das Blut der Cigano-Männer als eine Essenz an, welche diese übertragen bzw. weitergeben, während die Frauen diese Essenz in ihrem Blut nicht besitzen, sondern sie nur von Calon-Männern bekommen. Es sind immer die Männer oder Jungen, die für eine Rache beauftragt werden bzw. sich dazu verpflichtet fühlen.
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Es gibt mehrere Beispiele von Kindern, die sich als Erwachsene an dem Mörder rächten, der in ihrer Kindheit ihre Eltern bzw. Bezugspersonen getötet hatte. Diese Erzählungen zeigen auf, dass die Calen ihre Rache nur mithilfe der eigenen Familienmitglieder schaffen. Das illustriert die folgende kurze Geschichte: Ein Sohn, dessen Mutter getötet wurde, während sie seinen jüngeren Bruder stillte, ist aufgewachsen, ohne zu vergessen, was passierte. Jahre später brachte einer seiner Cousins den Mörder seiner Mutter für ihn um. So, wie seine Mutter aus Rache umgebracht worden war, wurde dann ihr Mörder gleichfalls Ziel der Rache. Es gibt mehrere Variationen solcher Geschichten, bei denen ein zwischenmenschlicher Verlust durch einen anderen ausgeglichen wird, sodass der schicksalhafte Zyklus durch die Tötung fortgesetzt wird. Als ich Aparecida fragte, wie ein Cigano jemanden finden könnte, der geflohen ist, nachdem er einen seiner nahen Ciganos getötet oder verletzt hat, um sich an ihm zu rächen, erklärte sie: »Wir haben Leute überall, egal wohin Du fliehen würdest, würden wir Dich finden, wir würden erfahren, wo Du Dich versteckst, früher oder später, egal wie lange das dauern würde…« Diese Aussage zeugt von weitreichenden Verbindungen und einem weitverbreiteten Kommunikationsnetzwerk. Der Täter wird weder vergessen noch wird ihm verziehen, die Rache ist bloß eine Frage der Zeit. Dies illustriert auch die Geschichte von Xexéu, eine Person, die zum Sterben markiert war. Vier Jahre nach diesem Gespräch mit Aparecida und nach dem Autounfall, bei dem P. gestorben war, saß ich erneut bei Aparecida. Neben anderen nahen Ciganos war auch Chuchura dort, mit dem ich in der zweiten Hälfte meiner Feldforschungszeit viel unterwegs war. Ich fragte ihn nach Tadeuzin, dem älteren Sohn von Seu Alberto, der Arthritis hat und oft Karten gespielt hat. Chuchura sagte mir: »Tadeuzin hat Scheiß gebaut und musste abhauen.« »Wie?«, fragte ich. »Hast Du nicht gehört von Xexéu in Tupanatinga? Tadeuzin wird ein paar Monate wegbleiben.« Die Nachricht des Todes von Xexéu war auch im Internet auf der Homepage einiger lokaler Journalisten zu finden. Xexéu saß vor seinem Haus, als zwei Männer auf einem Motorrad auftauchten und ihn erschossen. Die Täter waren noch unbekannt und wurden von der Polizei gesucht. In diesem Kontext scheint Kenntnis zugleich auch das beste Mittel zu sein, um Massaker zu verhindern, da »Spione« (espiões) die potenziellen Täter einer Racheexpedition immer vorhersagen können. D.h., wenn man Familienmitglieder unter den Feinden hat, besteht die Möglichkeit, rechtzeitig von der Bedrohung zu erfahren, sodass man noch fliehen kann.
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3.3.3 Blutrache und Tabu als organisatorische Praktiken Im Laufe meiner Forschung rückte somit ein dritter Akteur ins Zentrum der Calon-Netzwerke und Tauschkreisläufe, die ich studiert habe: Der andere Cigano hat sich zwischen Ciganos und Jurons definitiv auch als Protagonist durchgesetzt. Eine große Angst, die viele Calen teilten, war die Angst davor, von anderen Calen infolge einer Fehde getötet zu werden, wie die Episode meiner ersten Begegnung mit Jacó und Pedro verdeutlichte. Es gibt sicherlich auch Fälle von Blutrache zwischen Jurons, aber diese sind nicht so zahlreich und bei ihnen geht es nicht nur um die Ehre, sondern häufig gibt es dafür auch andere Motive, wie z.B. Landbesitz. Weil die Blutrache unter den Calen dagegen überall in Brasilien für mich normal aussieht, fragte ich mehrere von ihnen nach den häufigsten Gründen, warum die Calen unter sich in Streit gerieten. Die Antwort, die ich am häufigsten erhielt, war: »Wegen Frauen.« »[Im Allgemeinen von anderen] betrogen zu werden«, hörte ich auch oft. Eine Erklärung für Ehen zwischen Calen und Nichtcalen illustriert diese Schwierigkeit, den Frieden zu erhalten. So hat Dagoberto, einer meiner CalonHauptgesprächspartner in RN und Neffe von Aparecida, mir einmal erzählt: »Deswegen ziehen wir [die Calen] es vor, heutzutage eine Calin [d.h. ein CalonMädchen bzw. -Frau] lieber mit einem Juron zu verheiraten, weil es mehr Sicherheit gibt. Mit anderen Ciganos wird es kompliziert, es gibt immer zu viele Probleme…« Wenn Dagoberto von Heirat spricht, meint er nicht unbedingt die Juron-Hochzeitszeremonien, zumal diese bei den Calen in RN heutzutage i.d.R. nicht üblich sind. Bei ihnen geht es grundsätzlich eher darum, zusammenzuziehen und eine Familie zu gründen. Diese und ähnliche Aussagen von Calen lenkten meine Aufmerksamkeit auf Ängste, die mit dem unangebrachten Umgang mit den Bildern der Calon-Frauen sowohl in RN als auch in BA assoziiert werden können. Ich hatte den Eindruck, dass es unter den Calen auch eine gewisse Angst davor gibt, dass ihre CalonMädchen geraubt bzw. genommen werden oder dass sie einfach als Braut für eine von ihren Eltern nicht autorisierte Ehe fliehen, wie bei den Sinti (vgl. Tauber 2014 [2006]). Ich fragte mich, ob und inwieweit diese Calon-Angst mit der Prämisse von Elisabeth Tauber zu tun haben könnte, nach der ihre jeweiligen eigenen Toten zwischen verschiedenen Calon-Familien stehen. Auf den ersten Blick erschien mir diese Angst vor der Flucht bzw. dem Raub von Calon-Frauen allerdings widersprüchlich angesichts der Tatsache, dass es gerade die Calon-Frauen sind, und zwar nicht nur in RN, sondern auch in BA, PR und an vielen anderen Orten, die am häufigsten der Gefahr ausgesetzt werden, die von Jurons ausgeht! Wenn sie in der Öffentlichkeit z.B. betteln bzw.
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mangeln gehen (manguear) – genau wie bei Tauber (vgl. 2008) gemeint –, gehen sie manchmal das Risiko ein, von der Polizei festgenommen zu werden, wie es Andorinha, der Frau von Jacó, oder bei Sepp der Piste, einer anderen Jurin (d.h. Juron-Frau), die sehr häufig mangeln ging, wenigstens einmal passiert ist. Von einem weiteren Fall erzählte mir eine Journalistin in Recife. Doch gerade diese Angst offenbart, wie unterschiedlich der Status von Calen auf der einen und Jurons auf der anderen Seite wahrgenommen wird. Eine potenzielle Lösung für diesen scheinbaren Widerspruch liegt meiner Einschätzung nach darin, dass die anderen Calen für die eigenen Calen i.d.R. eine viel größere Bedrohung darstellen als die Jurons. Diese Wahrnehmung hat sich bei mir verstärkt, als ich davon erfuhr, dass die Calen sehr oft unter potenziellen Angriffen von anderen Calen leiden, mit denen sie oder ihre eigenen Calen bzw. Verwandten verfeindet sind. Folglich können sie von Feinden ermordet werden, manchmal auch bloß, wenn sie in der Nähe von einem Calon stehen, der sozusagen zum Sterben markiert ist, wie Aparecida betonte. Das Verständnis Edmund Leachs (vgl. 2000 [1965], 345-346) von Gesellschaft als als einem Netz aus Machtbeziehungen schien aus diesen Gründen meinen Entwürfen von CalonWelten zu entsprechen. »Society, however we conceive it, is a network of persons held together by links of power. The individual who apprehends society in this way has to proceed by logical steps. He must first be able to see how one person differs from another person and he must then be able to appreciate that two persons, though different, may be linked together. Viewed in this way power does not lie in persons or in things but in the interstices between persons and between things, that is to say in relation. Every individual must go through this concept-forming process, first distinguishing the self from the non-self and then apprehending the relationship between the self and the other. On a grander scale the same is true of society; we recognise what we are as a community by seeing how we differ from and how we are related to ›the others.‹« (Ebd.)
Im Rahmen des Lebens des Ciganos erscheinen Blutrache, Tabus und diesbezügliche Narrative als Praktiken, die den Calen helfen, ihre Machtbeziehungen zur Mehrheitsgesellschaft, zu anderen Ciganos und unter sich selbst zu verwalten. Bei vielen Ciganos in Pedrosa wirkte eine Geschichte, die Jahre zuvor passierte, noch nach. Eine Calin sei »mit einem Zirkus geflohen«. Die Ciganos waren sehr aufgebracht deswegen. Sie verfolgten den Zirkus, fanden das Mädchen wieder und einer von ihnen brachte sie um. Diese Geschichte habe ich nur von Jurons gehört, während die Ciganos selbst i.d.R. nichts dazu sagten: Sie tabuisieren es durch ihr Schweigen. Nach ihrem Verständnis ist den Calon-Frauen die
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Flucht aus ihrer Sippe untersagt. Zudem ist dies ein Thema, über das man nicht spricht, genauso wenig wie über das der eigenen Toten. Die oben erwähnten Calon-Ängste und die damit assoziierten Tabus scheinen somit auf diejenigen Bedrohungen hinzuweisen, welche die Verletzung einer Calon-Integrität – d.h. von dem, was die Calen in Einigkeit zusammenhält und das daher bewahrt werden muss – mittels verschiedener Trennungsmöglichkeiten (Tötung bzw. Tod, einer nicht von den Eltern erlaubte Ehe bzw. »Heirat mit Liebe«, Festnahmen usw.) verursachen können, was Tauber als den Bruch von Respekt bezeichnet (vgl. Tauber 2014 [2006]). Die Calon-Integrität ist hier jedoch nicht individuell zu verstehen: Es scheint vor allem um eine Calon-Integrität zu gehen, die sich nur in Bezug auf eine andere oder mehrere Kernfamilien, Gruppen usw. verwirklichen kann. Manche Calen sprechen von »grupo«, »bando« oder »turma«. Auf jeden Fall scheint es kein spezifisches Wort zu geben, das die Ciganos benutzen, um sie als Kollektivitäten zu bezeichnen. Darüber hinaus scheinen grupo wie auch die anderen Ausdrucksweisen (bando, turma usw.) eine monolithische Idee darzustellen. Allerdings wurde deutlich, dass – eventuell mit Ausnahme der Bezeichnung im Chibi selbst – die meisten Wörter weder etisch noch emisch genau definiert werden können. Ihre Bedeutungen und Anwendungen als Gegenstand von Aneignungen und folglich von neuen Verwandlungen sind eher aus anderen Perspektiven und Anwendungen zu verstehen (vgl. Stewart 2013). Keinesfalls sollte man aus den Augen verlieren, dass manche Gruppen sich beim Erscheinen an bestimmten Orten und Zeitpunkten und für einen bestimmten Zweck bilden (z.B. Feste, Rache oder wegen Forderungen), bevor sie sich wieder auflösen. Das Zusammensein in verschiedenen Formen, das eine Einheit unter Calen bildet, bedeutet immer eine erneute Treueprüfung unter ihren Mitgliedern. In der Tsiganologie erscheint Fluchtkultur bzw. Fluchtbereitschaft als ein distinktiver Aspekt, welcher auch im Rahmen meiner Forschung eine wesentliche Rolle bei der Unterscheidung zwischen Cigano- und Juron-Lebensweisen spielt. Der ehemalige Bürgermeister von Pedrosa berichtete mir einst in einem Gespräch: »Die Calen kaufen und verkaufen vor allem diejenigen Dinge, die man schnell an sich nehmen und mit denen man abhauen kann, wie Autos und Motorräder…«. Allerdings erfuhr ich, dass die Calen auch mit Immobilien handeln. Wie ich später lernen sollte, belassen einige Calen ihre Güter verstreut, ohne dass andere mitbekommen, dass sie diese besitzen bzw. wo ihre Güter sind. Bspw. können Ciganos im Fall eines plötzlichen Angriffs von anderen Calen ihre eigenen Kinder notfalls zunächst bei Juron-Nachbarn unterbringen, während sie selbst aufbrechen, wie mir Bruno und Dona Flores, zwei zentrale Gesprächspartner unter den Nichtciganos in Pedrosa, berichteten. Bei ihnen selbst haben
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Jacó und Andorinha ihre Kinder zweimal im Verlauf einer Flucht vor dem Angriff anderer Calen abgegeben, um sie später wieder abzuholen. Das war ihnen zufolge eine übliche Strategie der Calen in ihrer Gegend. Diese Flucht findet gleichsam im Rahmen der Bestattungsbräuche bzw. in Bezug auf die Toten statt, wenn z.B. eine ganze Familie oder Sippe einen Ort verlässt, an dem ein Angehöriger bzw. Familienmitglied gestorben ist. Dabei spielen die anderen Ciganos erneut eine wesentliche Rolle, da die CalonTrauernden selbst ihren eigenen Toten vor anderen Ciganos keine Trauer erweisen dürfen, wie ich im Verlauf dieses Buches zeigen werde. Meine Erfahrung bei den Calen in Brasilien warf somit ein zusätzliches Licht auf das Konzept von Fluchtbereitschaft: Im Gegensatz zu der üblichen tsiganologischen Vorstellung leben die Calen nicht ausschließlich wegen der Jurons in Fluchtbereitschaft, sondern eindeutig auch aufgrund anderer Ciganos, wie ich im Zusammenhang mit den potenziellen und drohenden Blutrachen feststellen konnte. Die anderen Ciganos können den bevorstehenden Tod, der sie plötzlich aus dem Hinterhalt ereilen kann, personifizieren. Die Calen haben gemeinsame Ängste, mit denen auch Scham verwoben ist, und ein Verlangen, über das sie untereinander als Calon erkennbar sind. Zudem scheinen bestimmte Ängste auch nicht vorzukommen bzw. atrophisch zu sein. Ich glaube, dass die Calen z.B. nicht dieselbe Angst vor dem Tod haben wie ihre Juron-Nachbarn. Der Tod an sich scheint für die Calen keine andere Macht zu sein, der man begegnet, sondern eher eine Person (oder Personengruppe), die den Tod mit sich bringt bzw. ihn verursacht. In diesem Sinne verkörpert der Feind den Tod. Wie ich in Teil III dieses Buches argumentiere, hat das Schweigen der Calen über ihre eigenen Toten weniger mit einer Juron-Etikette der Diskretion in Bezug auf den Tod als Entität als mit einer Calon-Ethik des Gefühls (sentimento) in Bezug auf die anderen Calen zu tun. Und der hohe Konsum von Antidepressiva in RN (vgl. Pereira da Silva 2002) wie auch die Fluchtbereitschaft vieler Calen können im Zusammenhang mit solch latenten Bedrohungen verstanden werden, so wie die Calen sie wahrnehmen. Die Mitglieder der zahlreichen Calon-Familiennetze, die in einem oder mehreren brasilianischen Bundesstaaten verstreut leben, pflegen gewisse Bräuche und verbieten andere. Es ist z.B. wahr, dass viele Calon-Frauen in RN neben anderen Aktivitäten mangeln gehen, Karten legen oder aus der Hand lesen. Dagegen dürfen die meisten Calon-Frauen in Lagoa Bela, wo es ein Mitgiftsystem gibt, keine dieser Tätigkeiten ausüben. Die Verbote und Nichtverbote differieren wesentlich unter den Calon-Familiennetzen, obwohl ihre Grenzen manchmal verhandelbar sind. Diese partikulären Sets von Tabus scheinen nicht nur Abstän-
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de in Bezug auf die Jurons zu definieren, sondern auch die Grenzen der Endogamie der eigenen Netze und Tauschkreise gegenüber den Netzen anderer Calen zu markieren. Jedenfalls sind Tabus bei Ciganos offensichtlicher in Bezug auf Frauen wahrzunehmen. Diese Tabus, die gemeinsame Ängste erkennen lassen und geteilte Schamgefühle innerhalb eines Netzes ausbilden, exponieren die Konturen der CalonWelten, indem sie sowohl ihre Grenzen wie auch die potenziellen Bedrohungen definieren, die hinter diesen Grenzen lauern. Was ich als Calon-Welt bezeichne, nennen meine Calon-Gesprächspartner »die Ordnung«, »die Tradition« oder auch »die Art und Weise« von jedem (von uns). In diesem Sinne können die geteilten Ängste und Tabus, die die Grenzen bestimmter Calon-Welten ziehen, als Zeichen von Integrität und daher von Gruppensouveränität angesehen werden; unabhängig davon, wie fragil diese auch immer sein mögen. Zu dieser Integrität gehört es, sich selbst als Zentrum zu betrachten. Die verschiedenen Calon-Familiennetze und Tauschkreisläufe, die um die Jurons herum gefunden werden können, sind gerade deswegen ihre eigenen Zentren. Um sie zu bewahren, bleiben die sie umgebenden Jurons peripher bzw. ausgeschlossen, ungeachtet dessen, wie nah bei den Calen sie wohnen. Aus der Perspektive einer symmetrischen politischen Anthropologie gibt es prinzipiell keinen richtigen, realen Unterschied zwischen dem sogenannten Zentrum und der entsprechenden Peripherie (vgl. Goldman 2006, 42). Ich gehe eher davon aus, dass diese Dichotomie, wie jene zwischen sakral und profan, immer relativ ist und stark von den involvierten Personen und jeweiligen Perspektiven abhängt (vgl. van Gennep 2005 [1909]). Deswegen versuche ich, so weit wie möglich, die Dichotomie Zentrum/Peripherie nur einer Calon-Perspektive zu unterwerfen, um daraus weitere epistemo-ontologische Folgen ethnologisch abzuleiten. Einerseits betrachte ich gewisse Aspekte vom Leben des Ciganos im Licht einer Calon-Perspektive, und damit nicht lediglich aus einer JuronPerspektive. Andererseits beziehe ich diese Aspekte in die Diskussion über eine Calon-Moralität ein. Dadurch versuche ich, weitere Formen einer Calon-Ethik zu entwerfen, die wiederum im Rahmen des Umgangs mit dem Tod und mit den eigenen Toten bei Calen nicht nur Resonanz finden, sondern auch als das Leben des Ciganos verwirklicht und aktualisiert werden. Dabei erhebe ich weder Anspruch darauf, wie Márcio Goldman es ausdrückt, »vermutliche Beziehungen zwischen relativ autonomen Sub-Systemen zu entblößen« noch »zu zeigen, dass es hinter allem okkulte Machtbeziehungen gäbe, die gleichzeitig die Menschen motivieren und als Erklärung für alles das, was sie tun, dienten« (Goldman 2006, 42). Es geht vielmehr darum, »die Politik« beim Verfassen meiner ethnografischen Theorie »dem alltäglichen Leben zurückzuge-
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ben« (ebd.). Als ein Nebeneffekt dessen verhindere ich, dass »Theorien über die Macht« zu »Theorien der Macht« werden (ebd.). Auf seine eigene Art und Weise weist auch Bernhard Streck in Bezug auf die Aufgabe der Religionsethnologie darauf hin: »Heidentum ist Religion ohne Theologen, und auch der Ethnologe, der als einziger den Heiden zuhört, darf sich nicht zum Religionslehrer oder gar -stifter aufschwingen. Was er den mythologischen Kulturen entnimmt und in der modernen Sprache weitergeben möchte, ist nichts mehr als ›zitathaftes Leben‹.« (Streck 2013, 15) 3.3.4 Juron-Blicke, Calon-Haltungen: Kontrastkultur und Unsichtbarkeit Kleidung. Als ich nach meiner ersten Begegnung mit Pedro und Jacó Cigano zu Fuß zum Gasthaus zurücklief, überlegte ich mir das Folgende: Die ganze Zeit, während ich im Ort nach Ciganos gefragt habe, wussten alle Leute, die ich angesprochen habe, dass überall in der Nachbarschaft zahlreiche Ciganos wohnen. Viele von ihnen kennen sie sogar persönlich oder zumindest vom Sehen. Sie kooperierten also sozusagen indirekt mit den Ciganos. Die Ciganos haben sogar ihre Kinder in die Bar geschickt, als ich dort war, um herauszufinden, wer ich sei. Diese Kinder waren für mich in keiner Weise als Cigano erkennbar, sogar komplett unsichtbar. Wie ich feststellen sollte, bin ich außerdem direkt an vielen Häusern von Ciganos vorbeigegangen, ohne auch nur zu ahnen, dass viele von ihnen dort wohnten. Eigentlich scheinen sich weder Pedro noch Jacó von anderen Leuten auf der Straße zu unterscheiden. Die Ciganos und die Nichtciganos sahen für mich zunächst gleich aus. Doch während die Calen in RN prinzipiell äußerlich kaum von ihren Juron-Nachbarn zu unterscheiden sind, bilden die Calen in BA einen deutlichen Kontrast zu ihren jeweiligen Juron-Nachbarn. Am auffälligsten sind die Unterschiede in der Kleidung der Calins. Während sie in BA lange, bunte und besonders geschnittene Kleidung tragen, kleiden sich die meisten Calon-Frauen in RN wie jede andere Jurin (Juron-Frau) in ihrer Nachbarschaft. Ana, eine Jurin, die in einer Stadt in BA wohnt und oft von lokalen Calen beauftragt worden ist, die Kleidung einer Calin zu nähen, sagte mir, dass die Calen nicht jeden beauftragten, sondern nur diejenigen, die genau wüssten, wie die Kleidung zuzuschneiden sei. Bradóqui, mein Hauptgesprächspartner in Monte Verde (BA) bestätigte dies. Auch zeigen in RN vor allem die jüngsten Calon-Mädchen ihre Beine, Bauch und Schultern. Jedoch habe ich erfahren, dass dies auch auf einen Generationsunterschied zurückzuführen ist, da viele alte Calon-Frauen in RN und in benachbarten Gebieten durch bunte Röcke (bzw. »als Ciganas«) auffallen. Was die Calon-Frauen in beiden Gebieten von den Juron-
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Frauen oft unterscheidet, sind Silber- bzw. Goldzähne, welche nicht selten auch bei Calon-Männern zu sehen sind. Die meisten Calon-Männer wiederum kleiden sich in beiden Gebieten größtenteils wie die Juron-Männer, obwohl manchmal einige Merkmale zu finden sind, die sie als Calen identifizierbar machen, wie Goldschmuck, Armbanduhren und Ringe, welche häufiger bei Cigano-Festen zu sehen sind. In PR begegnete ich dagegen mehreren Calon-Männern, die sich deutlich von den sie umgebenden Jurons unterschieden, indem sie sich sehr auffällig als sertanejos bzw. vaqueiros (cowboys) kleideten. Derselbe Kleidungsstil ist oft auch in São Paulo zu bemerken. Als ich bei einem von dem damaligen FTF organisierten II-Netzwerke in Leipzig ein Video von einem Cigano-Weihnachtsfest bei den Calen in RN zeigte, meinte die ebenfalls anwesende Florencia Ferrari, dass die Menschen darauf »komplett anders« aussähen als diejenigen Calen im Bundesstaat São Paulo, bei denen sie ihre Feldforschung durchgeführt habe. Später sollte ich erfahren, dass es endlose subtile regionale und familiäre Variationen im Kleidungsstil der Calen gibt, wie ich in Fortaleza (Hauptstadt des Bundesstaats Ceará) nordwestlich von BA und in der Stadt Trindade im benachbarten Bundesstaat Paraíbas beobachten konnte. Im Südwesten von BA bin ich wiederum Calen begegnet, die sich von Jurons vor allem in den urbanen Zentren unterscheiden, da sie sich wie Viehzüchter bzw. Kuhhirten der lokalen trockenen Halbwüste in Sertão kleiden. Mehrere Calen in RN und BA erzählten mir allerdings, dass ein Calon einen anderen Calon »immer« erkenne, ganz gleich ob durch den Kleidungsstil und gewisse Schmuckstücke oder durch das Verhalten oder einen besonderen Blick. Wohnen. Wie im Fall des Kleidungsstils der Calon-Mädchen variiert je nach Gebiet, Umständen und familiärer Tradition auch die Ästhetik der Calon-Wohnungen zwischen dem stereotypisierten, romantisierten Cigano einerseits und dem des gewöhnlichen lokalen Jurons andererseits sehr stark. Diese ästhetische Wohnvariation wurde für mich auffälliger, nachdem ich das Wohnen bei verschiedenen anderen Calen beobachten konnte, die zwischen den beiden Gebieten in verstreuten Bundesstaaten leben. Wenn man die einzelnen Varianten von Cigano-Wohnformen vergleicht, entsteht schnell der Eindruck, dass hybride Formen eher die Regel sind bzw. dass reine Formen nicht zu existieren scheinen. Es gibt scheinbar kein Rezept für das, was die Jurons ein typisches »CiganoLager« (acampamento Cigano) nennen, obwohl es mehrere Vorbilder für CalonWohnungen (kehs) gibt. Einerseits passen die Calen ihre Unterkünfte immer der entsprechenden geografischen Umgebung an, übernehmen und spiegeln z.T. ihre
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Formen wider. Andererseits bilden sie eine besondere Art des Wohnens unter anderen Calon-Wohngewohnheiten ab. Mehrere Jurons bezeichnen die Calen in BA oft als »nomadisch«, während viele Jurons die Ciganos in RN mittlerweile als »sesshaft« betrachten. Diese Juron-Wahrnehmungen über die sie umgebenden Ciganos hängen meiner Meinung nach eng damit zusammen, dass, während Erstere meist in Zelten leben, viele der Letzteren »heutzutage in Häusern, wie diejenigen, die keine Ciganos sind«, wohnen, wie mehrere Jurons behaupteten. Andererseits wohnen einige Ciganos in RN auch in Zelten, die im Gegensatz zu den manchmal imposanten Zelten von Ciganos in BA von Jurons oft für Wohnungsimprovisationen von »Obdachlosen« bzw. »armen Leuten« gehalten werden. Abbildung 6: Calon-Siedlung im hohen Sertão, BA (2009)
Quelle: Eigenarchiv
Wahrnehmung von Wohlstand und Wirtschaft. Häufig konnte ich in RN erfahren, wie manche Calen von lokalen Jurons angesichts ihrer Kleidung und ihres Erscheinungsbildes mitunter als »Bettler«, »Arme« oder »Schmutzige« betrachtet werden, aber wie andere Calen in derselben Ortschaft von denselben Jurons auch als »reich« angesehen werden können. Wie ich dabei beobachtete, fielen in die Juron-Kategorie von »armen Ciganos« oft ältere Calen, unter denen einige sind, die eine besondere Autorität innehaben. Die Juron-Vorstellung von den Calen in
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RN als »arme Leute« wird darüber hinaus noch verstärkt, wenn die Jurons bemerken, dass viele Calen oft ohne Besteck essen und lieber auf dem Boden ihrer Häuser schlafen, nur auf einer dünnen Schicht Pappe. Dass sie oft im Kreis hocken, wird teilweise auch als eine Art Kultur der Armut angesehen. Allerdings zeigen auch hier meistens die ältesten Calen diese Eigenart im Gegensatz zu jüngeren Calon-Generationen. In der Stadt Jequié (BA) erzählt mir ein Juron-Beamter, dass es dort »arme Ciganos« (Ciganos pobres) und »reiche Ciganos« (Ciganos ricos) gibt. Diese Juron-Bilder der Ciganos als »reich« und als »arm« koexistieren auch im Süden von BA und im ganzen RN, wo ich Feldforschung betrieben habe, und werden je nach Situation verdichtet. Wie in RN handeln auch die Calen in Lagoa Bela und Umgebung überwiegend mit Geldleihen und Pkws, während andere Jobs nur gelegentlich ausgeübt werden. Endo- und Exogamie und Festlichkeiten. Die üblichen Feste der Ciganos und die Art ihrer Heiratsbeziehungen können als wesentliche Unterschiede zwischen den Ciganos von RN und denen von BA angesehen werden, sodass sie auf eine unüberwindbare Kluft zwischen beiden hinweisen. Die Calen in RN und BA feiern in ihren jeweiligen Gebieten große Feste, die den Kontrast zwischen ihnen noch mehr zu verstärken scheinen. Während bei den Calen in RN die »CiganoWeihnacht« (natal Cigano) das größte Cigano-Fest ihrer Umgebung ist, gelten bei den Calen in BA hauptsächlich die »Cigano-Hochzeitsfeste« (casamento Cigano) als markant. Die Feste werden stets von einzelnen Calon-Männern organisiert, die als kollektive Personen auftreten. Die zentralen Juron-Riten bei Weihnachts- und Hochzeitsfeiern werden vernachlässigt, während die bei den Jurons nebensächlichen Riten eine zentrale Rolle spielen. Ein Mitgiftsystem ist nicht nur in BA, sondern auch in vielen anderen Regionen Brasiliens bei zahlreichen Calon-Netzwerken als eine Art »Hochzeit ohne Liebe« (nach dem Wunsch der Eltern) weitverbreitet. Diese Form der Eheschließung koexistiert in beiden Gebieten mit anderen Heiratsformen, die von den Calen z.B. als »Hochzeit mit Liebe« (ohne Erlaubnis der Eltern) bezeichnet wird. Diese Vermählung ohne Zeremonie ist bei Calen in RN zumindest in der Gegenwart vorherrschend. Beide Ausdrücke lernte ich während eines Besuchs einer Calon-Siedlung in Paraíba 2009 kennen. Als Kategorien hielt ich sie für nützlich und wende sie in der vorliegenden Arbeit deswegen in anderen Kontexten in Bezug auf ähnliche Heiratsformen an. Obwohl die Feste sich in der Form und thematisch voneinander unterscheiden, wirken die Cigano-Partys immer wieder u.a. als eine Art Wiederbehauptung ihrer gypsyness gegenüber den lokalen Jurons. Die Calen in BA und in RN
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schienen angesichts ähnlicher Probleme unterschiedliche Antworten von Machtumkehrungen, die ihre Immersion inmitten der Jurons alltäglich fordern (vgl. Piasere & Zatta 1990, 165-166; auch Streck 2003a), entwickelt zu haben. Zu den Calon-Festen gehören auch die Beerdigungen. Diese wirken wie die Weihnachts- und Hochzeitsfeste als Selbstbehauptung gegenüber den sie umgebenden Jurons; u.a., indem die Calen den Jurons gegenüber vorübergehend zur Mehrheit werden, jedoch so, dass sie als Mehrheit in Bezug auf diese virtuell bleiben. Außerdem haben sie verschiedene Implikationen für die internen Organisationen der Calen wie die Aktualisierung von Allianzen und Feindschaften unter und zwischen Calen. Auf den Festen der Calen gibt es Raum für vielfältige Formen des Wettbewerbs. Die rituelle Art und Weise solcher Konkurrenzkämpfe helfen den Calen dabei, sich sowohl der umgebenden Juron-Mehrheit als auch bekannten und fremden Calen gegenüber zu situieren. Während dieser Festlichkeiten finden die Wettbewerbe statt, ohne an eine zentrale Machtinstanz bzw. Institution gebunden zu sein. Sie sind stattdessen weit verstreut und segmentär, je nachdem, wer sie organisiert. Allerdings wird die Region in mehrere geografische Territorien unterteilt und die Gesamtheit der miteinander verbundenen Rituale findet jeweils innerhalb eines eingekreisten Gebietes statt. Wenn sich die Calen zu ihren zyklisch stattfindenden potlatschartigen Festen versammeln und dabei gegenüber den umgebenden Jurons zur Mehrheit werden, eröffnen sich für die jungen, noch alleinstehenden Calen auch die besten Gelegenheiten, sich zu treffen. Endo- und Exogamie und Nachbarschaft. Ein weiterer Unterschied zwischen den Calen in RN und BA scheint in der Art der Beziehungen zu ihren jeweiligen Juron-Nachbarn zu liegen, besonders die endo-exogamischen Beziehungen betreffend. Im Vergleich zu den Calen in RN scheinen jene in BA weniger direkten Kontakt zu Juron-Nachbarn zu haben, obgleich sie in ihrem Alltag immerzu mit Jurons zu tun haben. Das könnte z.T. daran liegen, dass die Calen in BA im Gegensatz zu denen von RN isolierter von ihren direkten Juron-Nachbarn zu wohnen scheinen, aber auch daran, dass sie erst seit wenigen Jahren dort leben. Sie achten strenger auf endogamische Regeln, weshalb es in der Siedlung keine Familien gab, an welche Jurons angegliedert waren. Derweil sind die Calen in RN schon so weit mit ihren Juron-Nachbarn vermischt, dass sie kaum noch von diesen zu unterscheiden sind, zumindest nicht auf den ersten Blick. Allerdings lernte ich während meines Aufenthalts in BA kaum Jurons kennen, die intensiven oder regelmäßigen Kontakt zu den Calen zu halten schienen. Erst am Ende fand ich die Gelegenheit, mich mit einigen Juron-Nachbarn auszutauschen.
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Daher konnte ich auch nicht viel über die Geschichte der lokalen Ciganos aus der Sicht der Jurons erfahren. In Lagoa Bela kennen sich die benachbarten Ciganos und Jurons untereinander, haben aber prinzipiell wenig oder kaum etwas miteinander zu tun. Viele der Jurons, die ich auf dem Zeltplatz bzw. in der Siedlung sah, waren dort, um den Ciganos irgendeinen Dienst zu erweisen, z.B. als Bauarbeiter, Kosmetikerin, beim Umzug usw. Viele werden bei den Calon-Hochzeitsfeiern beschäftigt, um Gäste zu bedienen, zu grillen und zu kochen. Es gibt auch solche, die zu diesen Partys selbst als Gast eingeladen werden. Aber die Distanz zwischen Calen und Jurons in BA wird von den Calen stets streng und manchmal auf sehr subtile Weise bewahrt, sodass die sie umgebenden Jurons ihnen nicht viel zu sagen hatten. Deswegen gibt es meiner Meinung nach in RN eine Juron-Geschichte bzw. einen Juron-Mythos für die Niederlassung und die Akkulturation der Ciganos, während ich in BA auf lokaler Ebene keine Äquivalenz finden konnte. Sprache. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist das Chibi, die Sprache der Calen. Wie das Schweigen gelten auch gewisse Modalitäten des Sprechens als Zeichen von Tabu. Chibi, oder einfach »die Sprache« (a língua), als die sie es manchmal bezeichnen, wird bei den Calen oft gesprochen. Vielleicht wird Chibi in RN öfter gesprochen, als ich es in BA gehört habe, obwohl alle Calen, die ich aus beiden Regionen kenne, das Chibi fließend beherrschen. Eine Hypothese ist, dass die Calen, die in RN öfter miteinander Chibi sprachen als die Calen in BA, viel häufiger in der Anwesenheit von Jurons sind, während ich unter den Calen z.B. in der Siedlung in Lagoa Bela nur selten Jurons antraf, die bei ihren Gesprächen anwesend waren. »Die Sprache« wird von den meisten Calen, ob in RN oder in BA, häufig als eine Art »Gottesgabe« (bzw. »Gabe«) bezeichnet. Sie darf nicht gelehrt werden und dient u.a. auch als eindeutiges Zeichen und Mittel der Abgrenzung von den Jurons. Das ist übrigens einer der Gründe dafür, dass die Calen bzw. Ciganos von den Jurons nicht gerne als Roma bezeichnet werden, da rom ein Chibi-Wort ist, welches sie lieber nur unter sich verwenden. Antônio sagte bei einem Ausflug ab und zu »mein Rom« (meu rom), als wir mit Chuchura und Ari – zwei Calen, mit denen ich oft in RN zu tun hatte – unterwegs waren. In diesen Momenten fielen die beiden unvermittelt in Schweigen. Hier lassen sich erneut »instances of the unuttered« (Bateson 2005 [1978], 81) wahrnehmen, die auf das Heilige verweisen. Das Chibi kann als ein abgrenzendes Mittel betrachtet werden, das den Calen bspw. erlaubt, bei Anwesenheit von Jurons sprachlich zu entfliehen, ohne den Ort verlassen zu müssen. Und Flucht kann dazu als eine Vermeidungsstrategie
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und daher als rituell weltaufbauende Handlung (im Sinne von Weltgeschehen nach Bargatzky 2007, 282) verstanden werden, die bestimmten Tabus folgend das erhellen, was als heilig anzusehen ist: die Integrität der eigenen Calen. Jedenfalls hat sich die große Mehrheit der Calen, die ich in RN, BA und in anderen Bundesstaaten Brasiliens kennengelernt habe, nicht besonders für die schriftliche Sprache interessiert. Sie sind grundsätzlich eine eher mündliche Kultur. Bei vielen verschiedenen Gelegenheiten habe ich einigen Calen z.B. Zeitungsnachrichten, E-Mails und einmal bei einer Hochzeit biblische Passagen usw. vorgelesen. Die Kinder bilden hier eine Ausnahme, da viele von ihnen die lokale Schule besuchen, i.d.R. ohne einen besonders auffälligen Enthusiasmus, obwohl es mehrere Kinder gibt, die sich sehr ernsthaft interessieren. Es schien auf jeden Fall eine große Tendenz dafür zu geben, die Schule vorzeitig zu verlassen, besonders unter den Calon-Mädchen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Lesefähigkeit ist prinzipiell kein Zeichen von Prestige oder Status unter den Calen. Manchmal kann sie beschämend wirken, vor allem bei Calon-Erwachsenen, die bewusst nicht mit Jurons verglichen werden wollen. Ich habe jedoch zwei Ausnahmen kennengelernt: Dagoberto in RN und Bonifácio in BA. Der Erste bemühte sich darum, eine Vermittlerrolle zwischen Calen und Jurons einzunehmen. Letzterer studierte auf Wunsch seines verstorbenen Vaters. In beiden Fällen haben »alle Ciganos« den Studienabschluss gefeiert. Die beiden sind zu Vermittlern zwischen Calen und Jurons geworden. Doch unter den Calen selbst haben sie durch das Studium an sich nicht mehr Prestige oder Respekt gewonnen. Allerdings wird die Lesefähigkeit von den Calen als ein wichtiges Instrument betrachtet, sich darum, eine Vermittlerrolle zwischen Calen und Jurons einzunehmen. Die Positionen von Dagoberto und Bonifácio unter ihren eigenen Calen sind bereits aufgrund der persönlichen Beziehungen abgesichert, die sie zu ihnen pflegen. 3.3.5 Exkurs: ein Juron-Mythos der Akkulturation von Ciganos Da Antônio in der Umgebung von Pedrosa »geboren und aufgewachsen« ist, hat er seit seiner Kindheit Kontakt zu den Ciganos. Er beschrieb seinen Vater, der circa vier Jahre zuvor verstorben war, als einen großen »Freund der Ciganos«. »Zu jener Zeit, als die Ciganos noch auf Pferden und Eseln« herumgefahren sind, half sein Vater den Ciganos mehrmals mit Übernachtungsmöglichkeiten und Nahrungsmitteln aus. Dies stehe im Gegensatz zu »heutzutage«, da sie nun Autos und Motorräder besitzen, in Häusern wohnen und z.T. sogar »reich« seien. Antônio erzählte mir, sein Vater kannte sogar Cigano-Familien, die untereinander »Feinde« waren. Er bemerkte, dass sich die Ciganos in der Stadt Pedrosa
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wahrscheinlich circa 25 Jahre zuvor angesiedelt hatten. Damit gibt er einen üblichen Juron-Diskurs über den rezenten Ursprung der Ciganos in der Stadt wieder. Er betrachtet die Ciganos vor allem als »gute Leute«, mit denen man kein Problem habe, im Gegensatz zu der zunehmenden Zahl von »Evangelikalen« (Evangélicos bzw. Crentes), die Antônio im Allgemeinen als problematisch erachtet. Weil ihm in jenem Moment unseres ersten Gesprächs kein großer Unterschied zwischen Ciganos und Nichtciganos einfiel, knüpfte er an seine Überlegung spontan die Frage an: »Warum gibt es diesen Namen überhaupt, ›Cigano‹?« Zwei Studierende aus der Region, die zu den Ciganos in der Gegend von Pedrosa ihre Abschlussarbeiten im Bereich der Erziehungswissenschaften schrieben (vgl. de Oliveira Silva 2001 und 2012; dos Santos Medeiros 2001), sind zu dem Schluss gekommen, dass die Ciganos eine rasche Akkulturation durchlaufen. Wie Antônio stützen auch sie ihre Argumentation auf die Geschichte der Niederlassung mehrerer Cigano-Familien in Pedrosa und in anderen benachbarten Städten. Diese mythologische Juron-Geschichte kann wie folgt zusammengefasst werden: Ende der 1970er Jahre ist »Pater Sandivar« aus dem Süden von BA nach Pedrosa umgezogen. Pater Sandivar, dessen Familie heute zu einer der »vier oder fünf großen Familien der Stadt zählt, denen das ganze Gebiet gehört«, wie mir einer der Studierenden persönlich mitteilte, übernahm damals das Amt des Bürgermeisters der Stadt und hat den Ciganos, die »ziellos herumfuhren«, mehrere Grundstücke am Ende der Stadt »geschenkt«. Diese haben sein Angebot angenommen und dort Häuser errichtet. Später haben die Ciganos sogar eine kleine Kapelle als Hommage für den Heiligen Franziskus (São Francisco) gebaut. Die Grundstücke, auf denen damals mindestens vier Häuser von Ciganos erbaut wurden, bildeten einen Kreis um ein leeres, verlassenes Gelände, das von den Jurons offiziell als »Calon-Weide« bezeichnet wurde. »Damals gab es zwischen den Ciganos [und ihren neu gebauten Häusern] und der Stadt nur Busch!«, erzählte mir Dona Flores, die Mutter von Bruno, die beide meine wichtigsten Nichtcigano-Gesprächspartner vor Ort waren. Die Stadt ist gewachsen und hat sich in Richtung der Cigano-Siedlung ausgedehnt, bis sie die Calon-Weide erreichte. Wie zuvor blieben die Ciganos in ihrer Peripherie. Durch den Kontakt und die Vermischung mit den Jurons, die sich dort ansiedelten, passten sich die Ciganos in ihrer Lebensweise allmählich den Jurons an und legten ihre CiganoLebensweise nach und nach ab. An dieser Geschichte halten viele Jurons der Umgebung fest, um sowohl die Anwesenheit der Ciganos in der Stadt als auch ihre vermeintliche Akkulturation zu erklären. Selbst Pater Cleyton, der als Vertreter der Pastoral der Nomaden eine langfristige Beziehung inklusive zu Tico und seiner Familie pflegt, interessierte sich
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bei einem Besuch 2007 auf Einladung des ehemaligen, für die Ciganos politisch engagierten Bürgermeisters in Pedrosa kaum für die Calen in RN, vermutlich weil diese nicht mehr wie Ciganos aussahen. Die Calen in Pedrosa seien infolge einer »Akkulturation« durch intensiven Kontakt mit Nichtciganos völlig »decharakterisiert«. Diese Haltung der brasilianischen Pastoral der Nomaden scheint die Polarität zwischen der Charakterisierung der Calen von BA als »authentische, reiche Ciganos« und der Calen von RN als »akkulturierte, arme Ciganos« im Allgemeinen, aber auch im Bereich der Politik, verstärkt zu haben. Zuerst erzählte mir dies der Bürgermeister 2008. Ein Jahr später sah ich es bei dem Vertreter der Pastoral der Nomaden bestätigt, der selbst in Pedrosa gewesen war. Mittlerweile sind die Calen von RN aber bei vielen Interessierten so bekannt, dass die Pastoral der Nomaden sie als Ciganos anerkennt. Darüber hinaus haben sich zahlreiche Forscher für die Ciganos in RN interessiert. Bis noch vor wenigen Jahrzehnten, und in manchen Fällen sogar noch heute, gehen einige dieser Tsiganologen in Brasilien, ohne es zu hinterfragen, davon aus, dass kultureller Kontakt einen Akkulturationsvorgang verursache (vgl. z.B. de Oliveira Silva 2001; Moonen 2008, 137-170). Diese Prämisse ist noch umstritten. So wie Kultur zu einem populären Begriff mit allen entsprechenden Wechselfällen seiner politischen Instrumentalisierungen geworden ist (vgl. Anttonen 2003), scheint den Begriff Akkulturation ein ähnliches, wenn nicht dasselbe Schicksal zu ereilen (vgl. Sahlins 1997). Allerdings wäre es auch möglich, das Interesse der Pastoral der Nomaden im Licht der Bemühungen evangelischer Gruppen zu sehen, sich den Ciganos anzunähern, da sie deren Bekehrung im ganzen Land stark vorantreiben. Trotz einer rezenten Entdeckung der Ciganos in Brasilien als ethnische bzw. rassische Minderheit und einem Aufstieg als politisches Subjekt (obwohl sie dort schon seit Jahrhunderten überall zahlreich leben), werden sie oft als eine problematische Gruppe angesehen, die der Vergangenheit angehört und deren Kultur gerade allmählich verschwindet (i.d.R. wegen ihres Kontaktes zu Nichtciganos). Sie werden normalerweise mit Kriminalität assoziiert und ab und zu in der Literatur und in Fernsehserien romantisiert (vgl. dazu z.B. SEPPIR 2005). Die vermeintliche Bedrohung der Ciganos durch Akkulturation gehörte in den Kontext mehrerer Minderheiten, die sich auf der Ebene der brasilianischen Staatspolitik darum bemühten, als Ethnie anerkannt zu werden. Das »Sekretariat zur politischen Förderung der Rassengleichheit« (Secretaria de Políticas de Promoção da Igualdade Racial, SEPPIR) organisierte und vermittelte besonders im Verlauf des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert diese Anerkennungsbestrebungen. Bezüglich der Ciganos in Brasilien hat das SEPPIR einen Preis zur För-
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derung der Cultura Cigana instituiert, den »Cigano Kulturförderpreis« (Prêmio Culturas Ciganas). Es sind diese Umstände, unter denen ich die Ciganos in Pedrosa (RN) zuerst kennenlernte. Als ich mich im Rathaus der kleinen Stadt telefonisch meldete, um grundsätzliche Informationen einzuholen und nach möglichen Kontakten zu fragen, brauchte ich mich bei einer Beamtin der Präfektur bloß sehr kurz vorzustellen, bevor sie mich praktisch auf eigene Initiative nach Pedrosa einlud: »Ah, Sie recherchieren zu Ciganos? Ach, hier gibt es sie in großer Zahl! Sie müssen doch unbedingt vorbeikommen, um sie kennenzulernen! Wenn Sie ankommen, suchen Sie […] den Bürgermeister, der kennt sich mit ihnen gut aus!« Es klang für mich seinerzeit so, als wollte die damalige Stadtregierung das Image der Stadt mit einem kulturell gepflegten Image ihrer Ciganos aufpolieren, um sich dadurch von ihren Nachbarstädten abzuheben. Trotz dieser lokalen Juron-Geschichte über die Ankunft bzw. Herkunft der Calen in Pedrosa erscheinen die Wahrnehmungen der lokalen Jurons über die lokalen Ciganos nicht selten inkonsistent und widersprüchlich und zeugen außerdem davon, dass auf sie eher als customary strangers (vgl. Berland & Rao 2004) bzw. »Trickster« (vgl. Piasere 2011) herabgeblickt wird. Das konstatierte auch einer der Autoren der Studien zu Ciganos in Pedrosa, obwohl er das Argument der Sesshaftigkeit und Akkulturation der lokalen Calen verteidigt: »[Unsere] Forschung wurde ziemlich mühsam angesichts eines besonderen Merkmals der Cigano-Kultur: des Nomadismus. Als wir unsere Aufnahmearbeiten begannen, waren viele Ciganos schon aufgebrochen und haben ihre Kinder mit sich mitgenommen, die in der Schule eingeschrieben waren.« (de Oliveira Silva 2001, 11) Schon Bruno sagte neben Dona Flores, dass er eine große Zahl, wenn nicht die große Mehrheit, der Calen in Pedrosa seit ihrer Kindheit kenne und viele von ihnen habe aufwachsen sehen. Doch obwohl diese Calen und seine Familie befreundet seien, besuchten die Calen ihn, seine Familie oder andere Nichtciganos nur selten. Er behauptete, dass die Ciganos auffälligerweise immer unter sich blieben. Andere bekannte Jurons würden von bestimmten Calen meistens dann aufgesucht, wenn diese betteln gingen. Als ich bei ihnen 2011 zu Besuch war, kam ausnahmsweise zwei- oder dreimal Jaguar vorbei, Jacós Sohn, da er sich mit Dona Flores unterhalten wollte. Diese Inkonsistenzen wiesen mich auf Grenzen hin, die für die meisten Jurons etwas undeutlich wirken können. Wenn die Ciganos keine eigene Kultur haben und wie alle anderen leben, dann sollten sie für die meisten Einwohner der Stadt längst keine Besonderheit mehr darstellen. Wieso erscheinen die Calen den Jurons dann immer wieder so fremd, so unlesbar, wenn diese doch schon »akkulturiert« seien, wenn die Calen also vermutlich wie alle anderen lebten?
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Ein Juron-Nachbar einiger Calon-Familien in Pedrosa beobachtete dies und brachte es mir gegenüber auf den Punkt: »Lustig, nicht wahr…? Diejenigen Leute, die mit den Ciganos zusammenkommen [im Sinne von Familien gründen], werden praktisch alle Ciganos. Doch die Ciganos selbst bleiben immer Ciganos. Obwohl sie mit anderen verheiratet sind!« Dieselbe Beobachtung registrierte Mardes Pereira da Silva (vgl. 2002, 50) in Bezug auf Ciganos in Natal (Hauptstadt des Bundesstaats RN): »Zwar gibt es mehrere gemischte Ehen unter den Familien, wobei es meistens um Ciganos mit Nichtcigano-Frauen geht. In allen Fällen beginnen diese, den Lebensstil ihrer Männer anzunehmen.« Pereira da Silva (ebd.) erklärte, dass es bei den Calen in Natal keine »Hochzeitszeremonien« gebe: Die Calen ziehen einfach zusammen. Geradeso wie in Pedrosa. Die Calen in Pedrosa und in anderen Städten und Dörfern in RN wiederholen gegenüber den Jurons denselben Diskurs: »Die Calen heiraten nur unter sich; das gilt vor allem für die Calins; die Männer können ausnahmsweise aber Jurins heiraten, die Calins niemals…« Die meisten der Calen, die ich in RN kennenlernte, leben mit anderen Calen zusammen, obwohl Ehen zwischen Calon-Männern und Jurins normal sind. Trotz der mündlichen Beteuerung vieler Calen über das Verbot einer Ehe zwischen einer Calin und einem Juron gibt es aber auch CalonFrauen, die mit Jurons zusammenleben bzw. Kernfamilien gegründet haben. Einerseits ähneln diese Beobachtungen einer Situation wie Tauber (vgl. 2014 [2006]) sie bei den Sinti erlebte: Ehen zwischen Sinti und Gadze (d.h. Nichtsinti) ergeben sich trotz des Heiratsverbots. Wie bei den Calen bestehen die meisten gemischten Ehen zwischen Sinti-Männern und Gadzo-Frauen, während es Familien von Sinto-Frauen mit Gadzo-Männern in geringerer Anzahl gibt. Nach Taubers Erklärung ist die Integration der Gadzo-Frauen in die Welt der Sinti unkomplizierter als umgekehrt. Andererseits bestätigen und verstärken diese Beobachtungen die in Kapitel zwei vorgestellte Prämisse, nach der »Gypsies provide a special example of culture as created in shared not isolated territory and which consequently involves daily and ubiquitous encounters with non-Gypsies and their representatives.« (Okely 2003, 152) Abgesehen von den Partikularitäten von endo-exogamischen Beziehungen unter den Calen und zwischen diesen und den Jurons, welche oft als Integration von Jurons in die Calon-Welten dienten, gibt es noch weitere Kuriositäten bei den Ciganos, die die lokalen Jurons in RN nachdenklich stimmen. Antônio erzählte mir etwas, was weder er noch viele andere Jurons so richtig verstanden haben: Vor wenigen Jahren gab es einen Cigano, der als bedürftiger Landstreicher bekannt war. Eines Tages ist er in einem öffentlichen Krankenhaus in Natal gestorben, während er auf seine Behandlung gewartet hatte. Nach seinem Tod wurde in seinen Socken ein hoher Geldbetrag gefunden… »Wieso ging er also
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als Landstreicher herum, wenn er so viel Geld bei sich hatte?«, fragte sich Antônio. Abbildung 7 und 8: O Cigano von José Modesto de Azevêdo, RN (o.J.)
Quelle: da Silva Santos 2010, 127
Die Juron-Wahrnehmung von »reich« und »arm« unter den Ciganos scheint unter Jurons in BA gleichfalls unpräzise bzw. relativ zu sein. In Lagoa Bela gibt es zwei Lager von Ciganos. Das Lager, in dem Tico, seine Geschwister und deren jeweiligen Familien wohnen, wurde von ihnen 2005 aufgeschlagen. In dieser Siedlung leben sie in Zelten. Die andere Siedlung, in der ihre Cousins mit ihren
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Der Fotograf José Modesto produzierte zwischen den 1960er und den 1980er Jahren zahlreiche visuelle Register vom alltäglichen Leben in einer Stadt im Sertão von RN namens Jardim do Seridó. In einer seiner thematischen Reihen porträtierte er Personen, die in jener Ortschaft als »Verrückte« oder »Bettler« bekannt waren. Diese lebten oft auf den Straßen und pflegten gute Beziehungen zu den anderen Einwohnern der Stadt. Doch ihre Herkunft war unklar und ihre Verhaltensweisen blieben rätselhaft. Unter diesen Personen fotografierte José Modesto auch den »Cigano, der ab und zu in der Stadt erschien, ohne dass jemand über sein Leben etwas wusste« (da Silva Santos 2010, 11).
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Familien wohnen, war dort schon seit mindestens 2003 etabliert. Dort wohnen die Siedler nicht in Zelten, sondern in großen Ziegelhäusern. Während die erste Siedlung als ärmer angesehen wird, gilt die zweite als reicher. Obwohl einige Familien umgezogen waren, waren beide Siedlungen noch dort, wo ich sie beim letzten Mal im Januar 2011 aufgefunden habe. Mehrere Jurons können nicht nachvollziehen, dass die Ciganos in RN vor ihren Ziegelhäusern auch Zelte aufschlagen, um in diesen zu schlafen, wie dies in Rajada der Fall ist. Weitere Handlungen lassen viele Jurons in RN ebenfalls nachdenklich werden, z.B. wenn ein Calon von einem Juron ein Glas Wasser bekommt und es bevorzugt, statt, wie die meisten Leute, direkt aus dem Becher zu trinken, das Wasser zuerst in seine Hand zu gießen, um erst dann daraus zu trinken. Mithilfe der ethnografischen tsiganologischen Literatur und weiteren Beobachtungen ging ich allerdings relativ schnell dazu über, die lokalen kulturellreligiösen Disqualifizierungen von Calen in RN (entweder als »akkulturierte Ciganos« oder als »Arme«) als Aspekte von historischen Asymmetrien und kultureller Myopie zwischen ihnen und den sie umgebenden Nichtcalen bzw. JuronEinrichtungen zu betrachten. Okely fasst diesen Aspekt wie folgt zusammen: »In the last resort it is the non-Gypsies who hold all the keys to power, and potential persecution.« (Okely 2003, 152). Für mein ethnologisches Vorhaben ergab sich im Laufe meiner Suche nach Äquivalenzen zwischen den Calen in RN und in BA die Frage, an welche moralischen bzw. ethischen Grenzen die Jurons hier stoßen bzw. worauf dieses Unverständnis hinweist, das viele Jurons ausdrücken. Ich hielt es für möglich, dass die Calen ihre eigene Welt wenigstens in zwei emotionalen Kulturen (vgl. Röttger-Rössler 2002) konstruieren, dass sie zwischen einer Art kulturellem Parallelismus und engen sozialen Verflechtungen zu leben scheinen. In diesem Sinne ergibt sich folgende Frage: Inwieweit spiegeln sich im alltäglichen Leben der Calen Spannungen, die aus ambivalenten Gefühlscodes stammen und sich als Zeichen einer differenzierenden Moralität und Realitätswahrnehmung erkennen lassen?
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4.1 ANNÄHERUNG AN EIN CIGANO-ETHOS: VERSUCH EINES PERSPEKTIVWECHSELS Das Leben am Rande von Dörfern und kleinen Ortschaften im Hinterland oder in der Nähe von großen Städten, welches die mir bekannten Ciganos führen, stellt keine Ausnahme dar. Eher scheint es bei den meisten von ihnen im ganzen Land die Regel zu sein. Abgesehen von meinen Feldforschungsbeobachtungen sind dafür weitere Evidenzen zu finden. So berichten mehrere Studien und Zeitungsartikel oft davon, dass »Cigano-Lager« (acampamento Cigano) in peripheren Räumen gelegen seien. Darüber hinaus konnte ich durch den persönlichen Austausch u.a. mit Miriam Guerra, Florencia Ferrari und Martin Fotta darüber sprechen und Zugang zu ihren schriftlichen Arbeiten und zu ihrem Bildmaterial erhalten (vgl. Williams 1982; auch Guerra 2007). Die meisten Ciganos wohnen weder innerhalb noch wirklich außerhalb von Städten und Dörfern, sondern eher an ihren Grenzen oder wenigstens in der Nähe von Stadttoren und Verkehrsknotenpunkten, welche ihrerseits auch immer Ein- und Ausgänge, Anfang und Ende der jeweiligen Ortschaft sind. Tatsächlich wohnen viele von ihnen eigentlich nicht einmal in den Peripherien, sondern an den Peripherien der Peripherien, zwischen ihren Enden und dem Busch oder Pfaden: in Industriegebieten, auf Bauernhöfen, verlassenen Anwesen… In den Augen der meisten Jurons sind mehrere dieser Räume, in denen viele Calen leben, überhaupt keine Orte, vor allem nicht zum Wohnen: Wenn die Calen weder innerhalb noch außerhalb von einem Wohnort hausen, den Jurons für geeignet halten, sondern dazwischen, dann leben sie prinzipiell nirgendwo bzw. im Niemandsland (vgl. Streck 2008, 27). Diese Räume bilden nicht selten Passagen, durch die man normalerweise nur hindurchfährt; oder auch in Lagen, wo nichtmenschliche Dinge sind. Das bedeutet, an diesen Nichtwohnorten hält man nicht an – oder zumindest nicht, um sich dort aufzuhalten. In den Augen vieler Jurons
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befinden sich die Calen also betwixt-and-between (vgl. Turner 1964), weder hier noch dort, sondern zwischen verschiedenen Orten. Aus globaler und historischer Perspektive wurden und werden Zigeunergesellschaften in verschiedenen Ländern vergleichsweise oft direkt oder indirekt als liminal people charakterisiert. Weltweit findet ihre Verwandlung in Trickster statt, indem sie z.B. von Forschern, Journalisten, Aktivisten, Beamten usw. als ausgeschlossen, mysteriös, geheimnisvoll oder grenzhaft, als exotisch und unsichtbar charakterisiert werden (vgl. z.B. Piasere 2011). Weil die Ciganos in Brasilien außerdem gewöhnlich Wohngebiete durchqueren, an denen viele Jurons beständig leben, erscheinen sie vielen von ihnen gleichfalls als diejenigen, die nicht dort anhalten oder leben, wo man normalerweise wohnt. Dort, wo ein Juron einen Haushalt gründen sollte, bleiben die Ciganos meistens nur vorübergehend. Diese Wahrnehmung erweckt bei vielen Jurons den Eindruck, Ciganos seien Nomaden. Doch eine Grenzsituation im Sinne von Victor Turner (vgl. 2008 [1969]) ist kein Zustand, in dem man kontinuierlich bleiben kann, sondern eine Situation, die man lediglich vorübergehend erlebt, nachdem man aus einem vorherigen stabilen Zustand gekommen ist und bevor man in einen neuen, anderen stabilen Zustand eintritt. Deswegen gehören Grenzsituationen als undefinierte Orte bzw. Zustände nicht zu der sogenannten Normalität und bezeichnen dagegen eher ihre Antithese: das Undefinierte, das Abnormale, die Ausnahme, das Nichtsein… kurz: das, was vorübergeht. Grenzsituationen stehen zwischen stabilen Spatiotemporalitäten und werden daher wie im Beispiel von van Gennep (vgl. 2005 [1909]) und Turner (vgl. 2008 [1969]) metaphorisch als Passagen betrachtet. Insofern kann man annehmen, dass es nicht aufrechtzuerhalten ist, dauerhaft innerhalb einer Grenzsituation zu bleiben und zu leben. Selbst, wenn jemand darauf besteht, bringen einen die Umstände dazu, sich zu verändern: Sobald eine Grenzsituation aufhört, sich im Laufe einer eingeschränkten Zeit zu verwandeln, beginnt sie sich statisch neu zu definieren. Es gibt auf der Karte Brasiliens zahlreiche Plätze, Straßen, Ortschaften usw., die einen Bezug zu den Ciganos aufweisen (vgl. z.B. Vilas-Boas da Mota 1971, 164). Die Jurons nennen diese Orte »Cigano«, als ob sie damit die Präsenz und Stellung der Ciganos innerhalb ihrer Weltanschauung fixieren wollten, nachdem einige Ciganos sich eine Zeit lang an einem bestimmten Ort aufgehalten haben. Doch die Calen entfliehen diesen von Jurons offiziell Cigano genannten Orten gewöhnlicherweise: Sie sind meistens nicht dort in dem Ort zu finden, der das Wort Cigano in sich trägt. Die Bezeichnungen der Jurons als Einordnungsversuch der Ciganos verbleiben als Übergangsmarken, die die Ciganos hinterlassen, doch ohne unbedingt den Ort verlassen zu haben.
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Abbildung 9: Brücke über den Cigano-Fluss (2010)
Quelle: Eigenarchiv
Insofern kann davon ausgegangen werden, dass diese Wahrnehmung der Wohnmarginalität der Ciganos grundsätzlich eine Juron-Perspektive ausdrückt, die dazu tendiert, Ciganos nach für Jurons gültigen geopolitischen Maßstäben zu verorten. Somit lokalisieren die Jurons die Ciganos außerhalb deren eigener Calon-Welten. Indem man die Grenzen einer Stadt aus ihrem Zentrum betrachtet, neigt man dazu zu übersehen, dass für viele derjenigen Leute, die in ihren Peripherien oder jenseits davon wohnen, diese zu den eigenen Lebenszentren gehören. Es handelt sich also um ihr Zuhause. Anders gesagt, weil die Calen häufig gerade dort wohnen, wo Jurons nur Durchgänge sehen, tendieren dieselben Jurons dazu, das Heim der Calen zu übersehen. Über diese Juron-Grenze hinaus ist es möglich, eine andere Wahrnehmung kennenzulernen. Durch und um diese Zwischenräume führen viele Calen ein geregeltes Leben. So wie andere Einwohner dieser Orte haben auch Calen ihre eigenen Modi, die von ihnen erlebten Räume als Zentren und Limits ihres respektiven Überalls wahrzunehmen und zu konzeptualisieren, was auch immer auf eine eigene Calon-Geo-/Biopolitik verweist. Diese Modi schließen alle Juron-Orte, wie auch Orte anderer Calen, ein, die sich um ihre eigenen Calon-Welten drehen und durch und zwischen denen sie sich bewegen. Eine Hauptimplikation ist, dass in den Augen vieler Calen sowohl die Zentren der Juron-Städte und -Dörfer als auch die Positionen von anderen Ciganos die Peripherien ihrer zentralen Calon-
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Zelte bzw. -Häuser bilden. Die Calen betrachten sich selbst aus ihrer eigenen Perspektive, statt einen Fremd- bzw. Juron-Blick über sich selbst in einer entfremdenden Weise zu übernehmen. Diese Wohneigenschaft der Calen scheint prinzipiell wenig mit irgendeiner Art von Marginalisierungszwang bzw. Exklusion oder Ähnlichem zu tun zu haben. Im Gegenteil, diese Situation ist von den Calen i.d.R. selbst gewählt: Die meisten von ihnen bevorzugen es, weit vom Stadtzentrum entfernt zu leben. Diese Präferenz schien umso stärker, je größer die urbane Fläche der Ortschaft war. Doch sie liegen auch zwischen den Städten (mit ihren Unternehmen, kommerziellen Zentren, öffentlichen Plätzen und weiteren Einrichtungen) und den Feldern (mit ihren Grundbesitzen und ab und zu mit mancher Industrie); diese Umgebung scheint für Calen als potenzielle Residenz strategisch attraktiv zu sein. Während Jurons vor der gewöhnlichen stigmatisierten periferia Angst haben, fühlten sich einige der mir bekannten Ciganos unwohl, wenn sie sich zu lange in einer Stadt, vor allem in der Innenstadt, aufhalten müssen. Einige von ihnen erzählten mir, dass sie sich fühlten, als müssten sie ersticken. Diese Vorliebe für die Peripherie, die allgemein bei Calen zu finden ist, kontrastiert deutlich mit dem Wunsch oder Wohnideal von vielen, vielleicht gar den meisten Jurons in ihrem Umfeld: Während die Calen nach einem neuen Ort suchen, um ihre Zelte aufzuschlagen, oder nach einem aus Beton gebauten Haus, in dem sie wohnen können, das aber immer draußen bzw. in der Nähe (und nicht weiter drinnen in) einer Ortschaft liegt, streben viele Jurons in ihrem Umfeld i.d.R. danach, in ein infrastrukturell besser ausgebautes Stadtviertel zu ziehen; u.a. auch wegen Sicherheitsfragen, des Status und des Prestiges. Prizipiell agieren die Calen nach anderen, manchmal gegensätzlichen Prestigeskalen. In den Augen vieler Jurons erscheint das Calon-Leben in Lagern als Selbstverständlichkeit, ganz so, als ob es zu einer natürlichen Cigano-Lebensweise gehörte. Doch zumindest unter den Calen selbst scheint das oft nicht der Fall zu sein. Eher gehörte das Wort »Cigano-Lager« (acampamento Cigano) zu einer Juron-Terminologie, die die Ciganos i.d.R. erst dann verwenden, wenn sie sich mit Jurons unterhalten. Dieser Begriff wird von Calen im Umgang mit Jurons gelernt, nicht selten bei Jurons, die in ihrem Umfeld eine besondere Autorität besitzen. Unter sich reden die Calen kaum von »Lager«. Als eine Juron-Erfindung und daher mit Juron-Herkunft wirkt dieser Ausdruck bei vielen Calen eher als Zeichen einer beständigen Juron-Präsenz statt als eine Calon-Selbstbenennung. Wenn die Calen von ihrer eigenen Wohnung reden, können sie das Wort keh auf Chibi, das Zuhause heißt, neben anderen Wörtern auf Portugiesisch verwenden. »Vem pra keh!« (etwa: »Komm nach Hause!«) habe ich mehrmals Duda, eine Nichte von Tico bzw. die älteste Tochter von Nathanael, die in demselben
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Gelände wie er wohnt, ihren Kindern zurufen hören. Keh bezeichnet nicht das Zelt an sich, sondern eher jede Art von Unterkunft, in der man wohnt, also ein Heim, egal ob in einem Zelt, in einem aus Stein gebauten Haus, in einem hybriden Zelt-Haus oder unter einem Baum. Manchmal sprechen einige Calen auch von ihren »Ranches« (rancho) oder davon, dass sie hier oder dort »ranchen« (arranchar); als Verb gemeint und etwa das Aufbauen einer Ranch bezeichnend. Statt dem, was Jurons als »Cigano-Lager« bezeichnen, verwenden die Calen außerdem den Namen der Stadt, an der das Lager liegt, oder von einem Calon, der in dieser Ortschaft (bzw. innerhalb einer dort liegenden Ansammlung von kehs) lebt, vielleicht vor allem dann, wenn die betroffene Person »sich etabliert« hat. So reden bspw. die Calen in Lagoa Bela nicht unbedingt von der Stadt Encruzilhada, sondern von Amarelo, dem Vater des Bräutigams der Tochter von Osvaldo, einer der Brüder von Tico, der in demselben Gelände in Lagoa Bela wohnt. Oder umgekehrt: Wenn einige von ihnen von Encruzilhada reden, meinen sie Amarelo… Obwohl die Calen in Lagoa Bela von der Stadt Monte Verde reden können, ist es wahrscheinlicher, von ihnen von Bradóqui oder von seinem Vater Leopoldo zu hören, doch selten, wenn überhaupt, von ihrem acampamento Cigano in jener Stadt. Somit fallen die Namen einzelner Calen mit den Namen der Ortschaften zusammen, an denen sie sich befinden. I.d.R. haben alle lokal siedelnden Calen die Kenntnis der Namen und Lokalisierungen von den anderen Ciganos, die sich in ihrem eigenen Gebiet befinden. Dadurch übernehmen die kehs der Calen die Zentralität der ihr nahen Städte, während diese wiederum für die Calen als ihre Peripherien gelten. Eine ähnliche, vielleicht analogische Bewegung konnte ich in Bezug auf die Namen der Calen beobachten: Ihre Juron-Namen – z.B. diejenigen, die auf dem Juron-Ausweis zu finden sind – werden von ihnen als sekundär behandelt, während ihre CalonNamen eine zentrale Position einnehmen und nicht außerhalb ihrer Zentren – d.h. denjenigen, zu denen sie gehören (ihre eigenen Lebenden) – zirkulieren. Somit sind die Calen in der Lage, durch einen differenzierenden Symbolismus Diskontinuitäten in die Juron-Welt einzuführen, die mehrere Implikationen auf kosmologischer Ebene haben (vgl. dazu auch Brazzabeni 2013). Nach Pierre Bourdieu: »[O]ne may act by trying to transform categories of perception and appreciation of the social world, the cognitive and evaluative structures through which it is constructed. The categories of perceptions, the schemata of classification, that is, essentially, the words, the names which construct social reality as much as they express it, are the stake par excellence of political struggle, which is a struggle to impose the legitimate principle of vision and division« (Bourdieu 1989, 20-21).
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Mit ihren eigenen Benennungen bzw. ihren eigenen Calon-Namen bauen die Calen ihre eigenen Welten inmitten der sie umgebenden Juron-Welten1. Im Zusammenhang damit scheint die Macht der Namen bei ihnen eine ähnliche Wirkung zu haben, wie es Keith H. Basso (1996, 1970) vergleichsweise über die Namen bei den Apachen verifizieren konnte. Wilson Trajano Filho fasst diese Wirkung wie im Folgenden zusammen: »Die Namen der Orte haben eine hohe Evozierungsmacht und, während sie genutzt werden, haben sie die Fähigkeit, eine Vielzahl von mentalen und emotionalen Assoziationen u.a. zwischen Zeit und Raum, Personen, Gruppen und sozialen Aktivitäten, Vergangenheit und Gegenwart zu wecken. Durch diese Assoziationen lösen sie [die Namen der Orte] Akte von Selbstreflexion aus, die am Ende ein vibrierendes Gefühl des Selbst produzieren« (Trajano Filho 2010, 7).
Weitere Implikationen lassen sich bei den Calen herauskristallisieren, sobald man anfängt, die interstitiellen Räume der Juron-Welten nicht als Peripherien, sondern als etablierte Calon-Lebenszentren zu betrachten. Diese konzeptuelle Verschiebung einer Juron-Geopolitik und daher des Raumbegriffs entspricht zugleich derselben konzeptuellen Verschiebung einer Juron-Geschichte (z.B. als »große Geschichte«) und des Zeitbegriffs (vgl. Tauber 2014 [2006], 201-204). Im vorigen Kapitel präsentierte ich eine Reihe von differenzierenden und ähnlichen Grundelementen, die das soziale Leben der Calen in RN und BA mit organisieren. Doch der Tod eines Calons kann alle diese Aspekte des CiganoLebens gleichzeitig auf besondere Weise treffen: ihre Körper und Kleidung sowie tägliche Gewohnheiten ändern; so wie die Calen das Wohnhaus für immer verlassen und ihre familiäre ökonomische Lage und die Umstände ihres Feierns sich völlig verändern werden; gleichfalls wird der Wortschatz bzw. die Sprache der Calon-Trauernden direkt affektiert. U.a. verhalten sich die Calen sowohl in RN als auch in BA so, dass sie ihre eigenen Welten ihren eigenen Toten anpassen. Dadurch scheinen sie beide, ihre Welten das Leben ihrer eigenen Toten z.B. durch Weltgeschehen auszudrücken. Somit ähneln sich die Calen von RN und
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Zum Vergleich schreibt Wagner vom Benennen (naming) bei den Melanesiern als »the way in which Melanesians indigenously speak of, order and conceptualize existence as identity. […] for it is after all names, rather than individuals or groups, that ›go on high‹ in the moka, that command awe, attention and responsibility in the Kula, that serve, as ›big‹ and ›small‹, for the identities of what we are predisposed to call groups – lineages, clans or whatever.« (Wagner 1991, 163)
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BA durch ihre Distanz und Fremdheit zu den sie jeweils umgebenden Jurons, aber auch durch das, was das Bewahren und Wiederherstellen der eigenen Integrität betrifft.
4.2 SENTIMENTO ALS WEG: ZUR BILDUNG DER CIGANO-PERSON/-WELT Sowohl bei den Calen in RN als auch bei denjenigen in BA konnte ich feststellen, dass es vergleichbare Bestattungsbräuche gibt, die für das Verständnis der komplexen und oft problematischen Beziehungen zwischen Minderheit und Mehrheit sowie der Dynamik der hochsegmentären Sozialorganisationen der Calen von wesentlicher Bedeutung sind. Zwar scheint es mehrere gemeinsame Aspekte zwischen den Trauerritualen der Calen und vergleichbaren Bestattungspraktiken zu geben, die bei Zigeunergesellschaften in Europa beobachtet wurden, selbst wenn verschiedene Interpretationen und folglich diverse theoretische Ansätze dazu vorliegen. Diese Gemeinsamkeiten zwischen den Trauerritualen der Calen in BA und RN und zwischen diesen und denjenigen der Sinti und Manusch in Europa nehme ich hier als Äquivalenzen und somit als Vergleichsbasis für meine Studie an. Gleichfalls dienen diese Äquivalenzen in diesem Buch als Elemente, die den Unterschied zwischen lokaler und transregionaler Ebene auflösen. In diesem Sinne wirkte der theoretische Ansatz von Patrick Williams zu den Manusch und von Elisabeth Tauber zu den Sinti im Rahmen meiner Feldforschung einerseits als vergleichender theoretischer Maßstab und andererseits als Mittel für eine besondere Sensibilisierung meines Blicks in Bezug auf die Trauerrituale der Calen. »Alle Gruppen, die in den Augen der Sinti eine ähnliche Beziehung zu den armen/anonymen Toten haben, werden grundsätzlich als Sinti betrachtet. Die sprachlichen Nuancierungen, Kleidungsstile, Formen der Ökonomie, Musikstile und so weiter spielen in der gegenseitigen Beobachtung insofern eine Rolle, als all diese Merkmale letztendlich Spuren sind, denen die Lebenden aus Respekt vor ihren jeweiligen Toten folgen.« (Tauber 2014 [2006], 50)
Wie Manusch und Sinti fasten auch die meisten Calen infolge von Trauer, aus Respekt bzw. aus sentimento. Sie verzichten auf besondere Gegenstände, Orte und Vorlieben, die auf die Personalität ihres Verstorbenen als singuläres Individuum und als eine Calon-Person verweisen, sodass sie die manchmal unsichtbare Präsenz ihrer eigenen Toten erkennen. Die Calen nennen diese besonderen Din-
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ge »Erinnerungen«, lembranças. Allerdings schützen Calon-Trauernde ihre eigenen Toten angesichts der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft, die sich überall befindet und die alles besetzt und interpretiert, die im Prinzip aber gleichzeitig ein niemand ist, sodass sie dadurch die moralische Integrität ihrer eigenen Welten absichern. In allem unmittelbar involviert sind die Jurons weder, weil die Juron-Mehrheitsgesellschaft keine richtige Gruppe bildet, noch, weil die Jurons ihre eigenen Toten nicht wie die Calen auf adäquate Weise respektieren, noch weil sie eigene Namen unter den Calen haben. Eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen den Calen und den Manusch und Sinti fällt hier auf. »The Universe in which the Mānuš travel«, so Williams, »is entirely filled with markers. Gadzos are already everywhere the Mānuš can go. The roads and paths they are travelling on have been built by Gadzos; the places where they are camping have been delimited by Gadzos […]; the fields and the woods they are exploring have been fenced, planted, cultivated by Gadzos who guard them. But the Mānuš have the ability to appropriate all of this. Not as competitors of the Gadzo conquest, exploitation and transformation of nature, but in the ways and modes specific to them and which the Gadzos do not understand. The dead act as the main, though not the sole, operator in this appropriation. […] Those who have stopped drinking wine or eating a special dish of hedgehog, rabbit etc., or singing a song because of the death of one of their loved ones are actually civilizing the wine, the dish of hedgehog or rabbit, the song… through their renunciation. When they begin to drink, eat, or sing again, all this no longer represents foods, dishes, ordinary endeavors, or simple products of nature or of the Gadzos, but rather a ritual transformation through which those who renounced are now nourishing themselves from Mānuš civilization.« (Williams 2003 [1993], 29-30)
Die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten bei Manusch und Sinti können so gedeutet werden, als bildeten sie innerhalb der Mehrheitsgesellschaft eine Art differenzierenden symbolischen Zwischenraum, in dem Grenzziehungen und Vergemeinschaftungen unter Familienangehörigen und zwischen diesen und Nichtfamilienangehörigen um die Toten gemäß des Systems des Respektes entstehen. Die verschiedenen Elemente (Gegenstände, Gesten, Wörter, Lieblingslieder, -essen und -getränke des Verstorbenen), aus denen dieser abgegrenzte Zwischenraum besteht, sind nicht in der Welt der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft zu finden, obwohl sie aus dieser stammen: die Lieder, das Essen, die Getränke, die Landstraßen, die Gegenstände… Ein Grund dafür ist, dass alle diese aus der Mehrheitsgesellschaft stammenden Elemente von den nahen Verwandten ihres eigenen Verstorbenen aus Res-
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pekt entzogen wurden. Gleich, ob dieses Entziehen (das Fasten, das Verzichten, das Vermeiden, das Nichttun…) von Manusch, Sinti oder Calen als Weltgeschehen durchgeführt wird, und zwar durch das Schweigen der trauernden Personen, es bleibt für die Außenstehenden i.d.R. unsichtbar; mit Ausnahme der öffentlichen Zerstörung der persönlichen Gegenstände des Verstorbenen. Das Schweigen um und über den eigenen Toten ist die Gewährleistung des Respekts vor diesem, dessen Spuren seine Lebenden folgen. Nur in der Umgebung ihrer Mehrheitsgesellschaften können Sinti bzw. Manusch sich verwirklichen, indem sie auf ihre eigenen Toten Bezug nehmen und deren Spuren im Verborgenen folgen. Die Trauerarbeit der einzelnen Sinti-Individuen, die es wie im Fall von Manusch ermöglicht, eigene diskontinuierliche und parallele Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten innerhalb der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft einzuführen und zu stabilisieren, scheint nach Tauber zwischen Sehnsucht und Angst abzulaufen: »Für die Sinti ist die Wahl, die Interpretation, die Gestaltung der romano kova [die SintiTrauerarbeit, sozusagen], der eigene Lebensentwurf, eine individuelle Entscheidung. Eine Entscheidung, die aber nie ohne Referenz auf ihre Toten stattfindet, und damit aus der individuellen Entscheidung eine kollektive Angelegenheit macht. Fällt die Referenz auf die Toten weg oder mit den Worten der Sinti, werden die Toten nicht respektiert, dann werden die Toten unruhig. Ihre Unruhe bedroht die Lebenden und fordert die Reflexion über die Modalitäten der Gestaltung des individuellen und demzufolge auch kohäsiven Lebens der Sinti« (Tauber 2014 [2006], 39).
Das System der Calen ist mit dem von Manusch und Sinti vergleichbar, da die Calen ebenfalls aus sentimento (Gefühl, Loyalität, Kompromiss, Erinnerung) im Sinne von Respekt (gemäß den Werken von Tauber und Williams) handeln. In diesem Buch stelle ich die Hypothese auf, dass die Verwirklichung der Calen als Calon-Person durch ihre Trauerarbeit nicht nur eine Juron-Umgebung benötigt, sondern auch eine Calon-Umgebung bzw. -Öffentlichkeit, der gegenüber sich die Calon-Trauernden durch rituelle Transgression wiederum als Ciganos resilient neu definieren, um in paradoxer Weise als Calen weiterzuleben. Das wird am Beispiel ihres Umgangs mit den Erinnerungen an die eigenen Toten deutlich, die von den Calon-Trauernden aus der Calon-Öffentlichkeit entfernt und nur in ihren privaten Sphären im Verborgenen hochgehalten werden. Weil die Ciganos von dem gewöhnlichen Bestattungsschema ihrer Umgebung z.T. abweichen und selbst im Verlauf der Beerdigungen andere Rituale miteinbeziehen und diese öffentlich durchführen, erscheinen sie, wie in der Ein-
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führung erläutert, in den Augen der meisten Jurons immer wieder wie eine nichtbeantwortete Frage. Auf die meisten Jurons wirken die Handlungen vieler Ciganos im Rahmen einer Calon-Beerdigung teils normal, teils fremd. Sie erscheinen also als zwiespältig. Neben lokal gewöhnlichen Verhaltensweisen ergeben sich: der skandalöse Lärm von den Calins im Moment der Todesmitteilung; die Zerstörung bzw. Verbrennung der persönlichen Gegenstände des Verstorbenen durch seine nahen Verwandten; und als Teil davon ihr Auszug aus der Wohnung, in der der Verstorbene lebte bzw. viel Zeit verbrachte; das eventuelle Abhalten der Totenwache an ungewöhnlichen Orten; die große Anzahl an »unbekannten Ciganos«, die von woanders her auftauchen und teilhaben; das gemeinsame Anhören der von dem Verstorbenen geliebten Lieder; das allgemeine Feiern bzw. die explizite Betrunkenheit der anwesenden Calen. Dabei sind die Jurons, die eine Beerdigung von Ciganos begleiten, oft über emotionale Ausdrücke von Schmerz und von Lob u.a. im Rausch der Begräbnisfeier etwas verwundert. Es wirkt in manchen Fällen so, dass nur die engsten Trauernden des Verstorbenen unter den Ciganos nicht gefeiert und kaum etwas gegessen haben, wenn überhaupt: Im Gegensatz zu den anderen Calen, die an der Beerdigung teilnehmen, hatten sie mit ihrer Trauerarbeit schon begonnen. Nach der Beerdigung und der entsprechenden Messe, nachdem alle zurückgefahren sind, hören die Trauernden keine Musik, vermeiden Partys, sie fasten und ziehen gemeinsam an einen anderen Ort, an den sie sich noch eine Weile etwas zurückziehen. Trotz dieses Rückzugs gewinnt ihre Trauer eine gewisse öffentliche Sichtbarkeit, wie z.B. durch das Tragen von schwarzer Kleidung. Am auffälligsten ist dies bei den Frauen, den Calins. Im Laufe der Zeit nehmen die individuellen Trauerhaltungen eigene Konturen an. Einige verkürzen die Trauer, andere verlängern sie. Einer lässt sich einen Bart wachsen, ein anderer die Haare, einige Frauen tragen längere Hosen oder schneiden sich die Haare ab usw. Die einzelnen Trauernden entwickeln also unterschiedliche Strategien, um mit dem Verlust zurechtzukommen. Irgendwie scheinen die verschiedenen Formen, die die individuelle Trauerarbeit annimmt, auf die bedeutsamsten Aspekte der einzelnen Beziehungen zu dem Toten zu verweisen, als ob die Spuren des Lebens zwischen Lebenden und Verstorbenen karikiert und zugleich verborgen worden wären. Wenn die Calon-Trauernden im Allgemeinen Musik, das Trinken und die Orte des Toten meiden, orientiert sich jeder einzelne Trauernde an Einzelheiten, die er mit der gerade Verstorbenen verbindet, um genau zu bestimmen, was man essen soll oder nicht, wie man sich verhalten soll, was man überhaupt tun oder nicht tun soll. Das, was einmal mündlich in irgendeiner Situation behauptet wur-
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de (was mir z.B. von dem ein oder anderen hinsichtlich der Trauerzeit gesagt wurde: »drei Monate«, »ein Jahr« usw., als ob es selbstverständlich abgemacht wäre) hatte sich längst aufgelöst, und jeder der Trauernden verhält sich so, wie er es für richtig befindet. Als ein Modus des Fastens, als eine Art Nichttun, als liturgisches Handeln, durch das sich ihre Trauerarbeit kennzeichnet, ist das Schweigen zu verstehen, wie z.B. das Verschweigen des Namens des Verstorbenen. Nur einige Calen wissen i.d.R., um wen es sich handelt und können daher verifizieren, ob der Trauernde sich auf geeignete Weise verhält oder nicht. Vor allem gilt: Von dem eigenen Verstorbenen darf kein Calon reden; »sein« Name darf nicht ausgesprochen werden. Wenn die Calon-Trauernden von »Erinnerungen« sprechen, ohne von diesen etwas zu sagen, beziehen sie sich auf die Spuren ihres eigenen Toten, die sie im Kontext der Beerdigungen und im Alltag öffentlich verwischen und denen sie zugleich im Rahmen einzelner Trauerarbeiten in ihrer privaten Sphäre folgen. Dieses Calon-Prinzip konnte ich vor allem durch zwei Ausnahmen verstehen2. In RN wollte bzw. konnte Pirulito, eine Calin-Mutter, nicht aufhören, sich an ihre kürzlich hochschwanger verstorbene Calin-Tochter B. zu erinnern (sie sprach in der Öffentlichkeit sehr häufig und explizit von ihr und weckte allgemein Erinnerungen an sie, zeigte Abbildungen von ihr usw.). Aufgrund dessen mieden die anderen Calon ihre Nähe und sie konnte nur Gesellschaft unter Nichtcalen finden (siehe dazu das Kapitel sieben). Nina, die Tochter eines Calons und einer Jurin, die in einem Dorf an der Grenze zwischen den Bundesstaaten BA und Minas Gerais lebt und praktisch ein Leben als Jurin führt, erzählte mir von ihrem verstorbenen Calon-Vater und den Erinnerungen, die sie von ihm bewahrt hat. Untrennbar dazu erscheint in ihrem Narrativ auch der Abstand, den viele Calen einschließlich der Mitglieder ihrer ei-
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In mehreren ethnografischen Fällen im Rahmen meiner Forschung sollte ich gewisse Unterscheidungsprinzipien zwischen Calen und Nichtcalen wie auch zwischen CalonTrauernden und nichttrauernden Calen durch das Studium von Ausnahmen erfahren. Mit ihnen kann man eine partikuläre Realität wahrnehmen, welche i.d.R. dazu neigt, durch Normalitätsgefühl bzw. Banalität ungeachtet zu bleiben: Ohne die oben erwähnten Fälle wäre es für mich sehr schwierig – wenn nicht unmöglich – gewesen zu erfahren, was passiert, wenn sich ein Calon gegenüber einem Calon-Publikum an seinen eigenen Toten erinnert. Es ging bei meinen Beobachtungen im Feld in diesem Sinne oft darum, auf diese Reibungen gelegentlich zu achten, da bei diesen, wie Clifford Geertz (vgl. 1973) meint, mehrere erhellende Codes auszumachen sind.
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genen Calon-Familie zu ihr eingenommen hatten. Sie selbst schien diese Distanz nicht so richtig zu verstehen, aber, wie sie mir auch erzählte, ist sie nicht unter Ciganos aufgewachsen, obwohl ihr Vater selbst Cigano war und immer mit Ciganos Umgang pflegte. Ich konnte eine Erklärung für das Verhalten der Ciganos dahingehend ableiten, dass sie sich in der Calon-Öffentlichkeit noch oft an ihren Vater erinnert (vgl. Vilar 2012). Von einem sehr ähnlichen Fall, auf den ich in Kapitel sieben als komparative Digression eingehe, berichtete auch Judith Okely (2011, 39). In allen diesen Fällen, wie auch beim Beispiel der Blutrache, scheinen die Calen ihre Distanz als das auszuüben, was Gregory Bateson »laterale Sanktionen« nennt (Bateson 2000 [1940], 75-76). D.h., weder von oben nach unten noch umgekehrt, sondern von den Seiten als Gleichung. Diese Beispiele von Devianzen weisen auf eine Normalität hin, die bei den Calen im Rahmen ihrer Trauerrituale respektiert werden soll. Diese Normalität umfasst mehrere rituelle Handlungen, die mit den Calen direkt assoziiert und in Bezug zu Jurons kontrastiert werden können. Wenn also ein Cigano aus eigener Initiative in der Calon-Öffentlichkeit Abstand von seinen Toten nimmt, rückt diese Öffentlichkeit von ihm ab. Die anderen Ciganos wollen über die Toten eines anderen Ciganos nichts direkt aus dem Mund von diesem anderen hören. Das enthüllt einen bestimmten Weg, einen Calon-Weg. Mit richtigem Weg bezeichne ich die rituellen Praktiken, die die CalonTrauernden in Bezug auf ihre Toten nach ihrer Calon-Ethik bzw. mit Respekt durchführen. Die rituell geeigneten Methoden umfassen und ordnen die Mittel dazu ein, die es den Ciganos ermöglichen, ihre Gewährleistung von Respekt unter Gleichen im Status anderer Calen durchzuführen. Das wird deutlicher, wenn man »das Leben des Ciganos« als eine Art Erfahrungsreligion annimmt. »Religion ist Erfahrungsreligion im Sinne der Vorstellung des Wirkens weltimmanenter numinoser Wesen und nicht Glaube an einen transzendentalen Gott im Sinne der monotheistischen Offenbarungsreligionen. Sie entspricht der Herleitung von religio durch Cicero im Sinne einer peinlich genauen Beachtung überkommener kultischer Verpflichtungen, wobei sich dieses Observanz-Ethos im liturgischen Handeln auch auf Bereiche außerhalb des eigentlichen kultischen Handelns erstreckt – das Weltgeschehen – da sakral und profan ja keine voneinander streng abgrenzbaren Bereiche sind. Das Verhältnis zu den Gottheiten wird von der Regel do ut des geleitet. Der Mensch ist, im Verein mit den Gottheiten, Mitarbeiter am ›Welthaus‹, das sich als mikro-, meso- und makrokosmischer Zusammenhang von Gabe und Gegengabe entfaltet, also als umfassendes ›System der totalen Leistungen‹. In diesem Sinne gleicht religiöses Handeln dem korrekten Begehen eines ›Weges‹, dem Folgen von Wegweisern für das richtige Tun.« (Bargatzky 2007, 183)
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Weltimmanente numinose Wesen scheinen überall im Leben des Ciganos mitzuwirken. Die Beispiele sind zahlreich. Nicht nur erscheinen bei den Calen die eigenen Toten in den Träumen der um sie Trauernden, um diesen zu sagen, was sie tun sollen. Auch Vogelschreien und besondere, unerwartete Ereignisse können die Calen in ihrem Alltag als Omen ansehen und versuchen, daraus Zeichen und Botschaften zu lesen. Die Kraft weltimmanenter numinoser Wesen kann in den Welten mehrerer Calen direkt über Menschen gefunden werden, wie im Fall des »bösen Blicks« zwischen Ciganos. Die Calen werden von Jurons manchmal als Menschen mit übernatürlicher Kraft gefürchtet (vgl. z.B. Vilas-Boas da Mota 1971, 163; Santos Amorim 2010, 32). Die Calen wissen das und wissen dies gut zu nutzen. Wenn aber die Jurons i.d.R. keine magische Bedrohung darstellen, sind die anderen Ciganos immer in der Lage, durch ihre Wünsche bzw. aus ihrem Neid das Leben anderer Calen positiv oder negativ zu beeinflussen. Auch deswegen gibt es bei den Calen sowohl Glücksbringer als auch Pechbringer. Wenn ein Cigano einen anderen fürchtet, kann er sich den Tod seines Gegners wünschen, und die Wahrscheinlichkeit, dass dieser stirbt, steigert sich auf unterschiedliche Weise, wie z.B., wenn »ein Cigano den Namen von seinem Feind auf einen Zettel schreibt und diesen vor einen Friedhof wirft«, wie Pater Carvalho mir einmal erklärt hat. Oder ein Cigano kann vorsichtshalber den Priester bitten, seine Waffe zu segnen, »damit der Schuss den Feind tödlich trifft, statt ihn verkrüppelt zu lassen.« Die Calon-Welten sind Welten voller weltimmanenter numinoser Wesen, wie ich selbst in Bezug auf den Computer von Tico feststellen konnte, mit dem ich manchmal innerhalb der Siedlung gearbeitet habe. Aus Angst vor einem Virenbefall hat Valdinha, Ticos Ehefrau, seinen Computer lieber mit einer Decke abgedeckt, um ihn vor der Kälte der Nacht zu schützen, bevor sie selbst zu Bett ging. Auch eine weitere oft anzutreffende Idee verweist auf mehrere CalonWelten, bei denen Immanenz, philosophisch verstanden, zum Weltverstehen erscheint. Sie betrifft spezifische Agenten aus dem unmittelbaren Umfeld: Das, was in der Welt passiert, wird von jemandem oder etwas verursacht, der selbst direkt dieser Welt angehört. Es gibt kein Drinnen oder Draußen. Und wenn es so etwas gibt, dann ohne eine Oberfläche dazwischen. Es gibt für die Calen keine Agenten, die aus einer parallelen Welt agieren. Somit ermöglicht ihre Trauerarbeit den Sinti, Manusch und Calen, sich kulturell zu erneuern und als distinkte Kollektive fortzubestehen, allerdings kann sie nur innerhalb der Großgesellschaft bzw. unter Nichtciganos verrichtet werden. Wie das Schweigen und das Nichttun im Kontext von Trauer sind auch Wörter und andere Ausdrucksmittel Formen ritueller Handlungen. Doch diese Wörter können bei anderen Sinti, Manusch und Calen immer riskant sein, weil sie zur
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potenziellen Störung des Respekts bzw. Gefühls in Bezug auf die eigenen Toten und damit zu gewalttätigen, tödlichen Konflikten führen können. In diesem Buch beschäftige ich mich weniger mit der Frage, ob die Calen ihre Toten fürchten oder lieben. Inspiriert von Mauss, für wen Trauerrituale unmittelbar an der verwandtschaftlichen Organisation als totale soziale Tatsache angebunden sind (Mauss 1969 [1902], 370), beschränkte ich meine Forschung auf die Ausübung der Trauerrituale bei Calen als von ihnen institutionalisierte Praktiken, die ihre eigenen Calon-Welten koproduzieren. Das ist eine Frage der Betonung. Hier verstehe ich sentimento als eine polysemische Haltung und eine Motivation, die die Calen antreiben, ihre Leben als Calen auszuleben, und als ein untrennbarer Teil eines Sets von Werten, die die Calen als würdige Personen angesichts ihrer Gleichen und ihren anderen gegenüber konstituieren. Sentimento ermöglicht und bedingt die Calen, während die Calen es ko-definieren, gelegentlich verhandeln und anpassend modellieren. Sentimento ist der Weg der Calen. Als einen bindenden theoretischen Ansatz habe ich deswegen z.T. die Theorie der urproduktiven Gesellschaft von Bargatzky (1997 und 2007) übernommen und mit der Theorie des Respekts im Licht meiner ethnografischen Befunde kombiniert. Die Calon-Lebenden sind angebunden an das Schicksal ihrer eigenen Calon-Toten, die ihre eigenen Zentren bilden, während diese zugleich von ihren eigenen Calon-Lebenden mit sich herumgetragen werden. Wie ich mit der Zeit erfahren sollte, sieht das Verhalten im Kontext von Tod und Trauer bei den Calen in RN und in BA so ähnlich aus, dass ich zu dem Schluss gekommen bin, dass ein Vergleich zwischen beiden nicht nur möglich, sondern wesentlich wäre, um ihre jeweiligen Realitäten verständlicher zu machen. In diesem Zusammenhang benutzte ich im Laufe meiner Feldforschungsbeobachtungen die Respekt-Theorie als Objektive bzw. als eine Art vorbereitende konzeptuelle Sensibilisierung. Damit versuchte ich, mich in eine adäquate Lage so zu versetzen, dass ich diskrete Zeichen der Trauerarbeit bei einigen Calen in ihrem Alltag wahrnehmen und verstehen könnte. Es handelt sich grundsätzlich darum, das Schweigen und die Stille in Bezug auf ihre Toten nicht als leer bzw. Mangel, sondern als symbolische Praktik anzusehen, die eine laufende Geschichte, persönliche Beziehungen und dynamische soziale Struktur mitkonstituiert und von diesen umgekehrt modelliert wird. Die Respekt-Theorie bietet darüber hinaus einen neuen Wortschatz, mithilfe dessen Manusch- und Sinti-Realitäten aus ethnologischer Sicht präziser verstanden werden können. Dabei tauchen zwei komplementäre Konzepte, die auch als Kategorien dienen können, als zentral auf: der von den eigenen Toten und der von den armen/anonymen Toten (welcher in diesem Buch den Toten der anderen entspricht).
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Wie ich im vorigen Kapitel beschrieb, hätte ich einerseits wahrscheinlich niemals den Entschluss gefasst, den Erinnerungen an den Calon-Verstorbenen analytische Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich nicht von den Ethnografien von Williams und von Tauber so berührt gewesen wäre. Andererseits kann ich nun ebenfalls konstatieren, dass die Calen mir den theoretischen Ansatz von Williams und Tauber eigentlich beigebracht haben. Zum großen Teil verfolgt die vorliegende Arbeit auch das Ziel, die Verallgemeinerung des Williams’schen Ansatzes im gegenwärtigen Kontext von Ciganos im Nordosten Brasiliens zu überprüfen (vgl. Streck 2007b, 652).
4.3 BESTATTUNGSBRÄUCHE UND TRAUERARBEIT: MOTIVATIONEN, POSITIONIERUNGEN, WECHSELWIRKUNGEN Eine analytische Strategie, die ich angewandt habe, um die Bestattungsbräuche bei Ciganos zu untersuchen, bestand darin, bei Gräbern von Ciganos nach ästhetischen, symbolischen bzw. informellen Mustern zu suchen, die bei JuronGräbern nicht zu finden sind. Folglich habe ich die Cigano-Gräber oft mit denen der Jurons verglichen. Zu keiner Zeit habe ich die Möglichkeit aus dem Blick verloren, dass es zwischen den Calen mehrere verschiedene Grabmuster geben könnte, die sie nicht nur von denen der sie umgebenden Jurons, sondern auch von anderen lokalen Ciganos unterscheiden würden (so wie bspw. auch die Formen ihrer Zelt-Wohnungen variieren). Ich verglich also ebenso verschiedene Calon-Gräber miteinander. Als ich aus den Erzählungen von Jurons (meistens Leichengräbern) z.T. erfahren konnte, wer die Toten der untersuchten Gräber waren, ist mir klargeworden, dass ich mich auf die Gräber der von mir begleiteten Calon-Familien beschränken sollte. Die Art und Weise, was und vor allem wie man über die Toten erzählt, ändert sich wesentlich in Abhängigkeit davon, welche Verbindung man selbst zu den Toten hat. Patrick Williams und Elisabeth Tauber haben in ihren Studien der Trauerarbeit als Ahnendienst mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Beerdigungsritualen als Totendienst. Damit konnten sie meiner Meinung nach vermeiden, deren Trauerrituale lediglich als Reinigungsarbeit (z.B. nach Douglas 2009 [1966]) zu beschreiben, wie es von mehreren Tsiganologen sowohl in Europa als auch in Brasilien unternommen wurde (vgl. Okely 1998 [1983] und 2003; Stewart 1997; Engebrigtsen 2007 [2000]; Ferrari 2010 usw.). Durch ethnografische Indizien zu der analytischen Fruchtbarkeit und Komplexität der Trauerarbeit (als Angliede-
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rungsriten) im Vergleich zu denen in der Studie von Bestattungsbräuchen (als Trennungsriten) hat schon Arnold van Gennep Aufmerksamkeit erregt: »Bei flüchtiger Betrachtung könnte man meinen, Trennungsriten seien der wichtigste Bestandteil der Bestattungszeremonien, Umwandlungs- und Angliederungsriten dagegen lediglich schwach entwickelt. Die Analyse des ethnographischen Materials zeigt jedoch, daß es in bestimmten Fällen im Gegenteil nur wenige und sehr einfache Trennungsriten gibt, während die Umwandlungsriten so langwierig und komplex sind, daß man ihnen eine gewisse Autonomie zugestehen muß. Die Riten aber, die den Verstorbenen dem Totenreich angliedern, sind am stärksten ausgestaltet, und ihnen mißt man die größte Bedeutung bei.« (van Gennep 2005 [1909], 142)
Wie Williams und Tauber konzentrierte ich meine Untersuchung auf die Periode der Trauer, die den Beerdigungen nachfolgt, statt auf die Bestattungsbräuche an sich. Ich entschied mich für diesen Weg wegen ihrer Erfahrung und angesichts der Umstände meiner eigenen Beobachtungen: Während meiner gesamten Feldforschung war ich nie vor Ort, wenn ein Calon gerade starb. Ich hatte somit keine Gelegenheit, die Bestattungsbräuche der Calen direkt zu beobachten. Die grundsätzlichen Rituale im Kontext einiger Beerdigungen von Calon-Personen konnte ich mithilfe mehrerer Aussagen und Beschreibungen sowohl von Jurons – und dabei spielten einige akademische Monografien eine besondere Rolle – als auch von Calen selbst rekonstruieren. Am nächsten kam ich dem bei einer Messe zum 30. Todestag eines alten Ciganos, an der ich teilnahm (vgl. Vilar 2011), wobei es sich um die zweite und definitive Etappe der Beerdigung handelte, so wie Beerdigungen in Sertão von RN für gewöhnlich durchgeführt werden. Tatsächlich galt ich sowohl in RN als auch in BA als jemand, der Glück bringt und daher willkommen ist.3 Tico meinte zu mir am Anfang meiner Annäherung an die Calen in Lagoa Bela, dass ich die Siedlung nicht zu oft besuchen oder noch nicht dort einziehen sollte, sonst könnte ich sofort von den anderen Ciganos (d.h. seinen Brüdern) schuldig gesprochen werden, falls irgendein Unglück geschehe; z.B. Unfälle, Pech bei Geschäften usw. Demnach konnten die Calen meine Anwesenheit in der Siedlung potenziell direkt mit unglücklichen Geschehnissen assoziieren. Daher musste ich mich allmählich an ihr Leben herantasten. In dieser Phase besuchte ich auch insbesondere eine Calon-Siedlung im Südosten von BA, deren Einwohner mit Tico und seinen Brüdern so eng be-
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Das wurde mir persönlich von zwei Calen erzählt. Außerdem erklärte mir eine Cigana, dass sie sich auf meine Anwesenheit freuten, weil sie mit mir viel lachen könnten.
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freundet waren, dass sie sich »Cousins« (primos) nannten. Was meiner Annäherung an Tico und seine Brüder jedenfalls half, war die Tatsache, dass auch mein Vater – wie ihr Vater – vor mehreren Jahren gestorben war. Ich glaube, mein vaterloser Status förderte Empathie bzw. Resonanz (im Sinne von Unni Wikan, vgl. 1992) zwischen uns. Unter den Calen spricht man selten den Namen eines Jurons aus. Meistens sagt ein Calon: »der Juron, der« das Auto kaufen will, die Wohnung mieten möchte, ein Motorrad zu verkaufen hat usw. Zu Beginn meiner Feldforschung wurde ich selbst nie mit meinem Namen gerufen, sondern immer nur mit »Hey« oder »Du«. Wenn sich die Calen unter sich auf mich bezogen, sprachen sie in der dritten Person von »dem Juron«, selbst dann, wenn ich anwesend war. Erst im Laufe der Zeit begannen einige Calen, meinen Namen auszusprechen. Zuerst einige Kinder und danach auch einige Erwachsene, nämlich jene, denen ich am nächsten stand, zu denen ich Beziehungen pflegte und mit denen ich am häufigsten unterwegs war. Wenn sie dies taten, sprachen manche von ihnen meinen Namen gedehnt aus; also anders als ein Juron meinen Namen aussprechen würde. Ich hatte das Gefühl, allmählich eine Art Transparenzzone verlassen zu haben und in den Vordergrund gerückt worden zu sein, während meine Anwesenheit unter ihnen zugleich eine Aura von Natürlichkeit und Spontanität anzunehmen begann. Für mich hieß das, dass ich in jenem Universum überhaupt zu jemandem wurde, indem diejenigen Calen mich in ihre Kenntnis als einen eigenständigen Juron integrierten. Auch mit der Unmöglichkeit, über das Thema meiner Forschungsarbeit zu sprechen, wurde ich konfrontiert, da die Calen nicht über ihre eigenen Toten reden. Wie könnte ich ihnen dann erklären, was ich vorhatte? Das hat Tico selbst angesprochen, als er mich Roland und seinem Cousin vorstellte: »Er ist da, um das Leben des Ciganos zu studieren.« So habe ich es dann auch gehalten. Wichtiger war für mich, die Trauerarbeit einiger Calen, die in sentimento waren und über die man nicht redet, im Alltag und über eine relativ lange Zeit zu begleiten. Somit richtete ich den analytischen Fokus meiner Recherche auf die persönliche Trauerarbeit der Calon-Trauernden, was sich mehrfach auf die gesamte Arbeit auswirkte (vgl. Kuper 1980, 35). Dadurch entwickelte ich eine Vorstellung davon, inwieweit die Beziehung zu ihren Toten nicht nur im Kontext von Begräbnisfeiern als konträr in Bezug auf die umgebende Juron-Mehrheit, sondern auch als normal in Bezug auf die Ciganos im Allgemeinen erscheint. Entscheidend war für mich zu realisieren, dass die Beziehung zwischen Calen und ihren Toten bei dem Gestalten und der fraktalen Verwirklichung einer Calon-Person in vielfältigen Lebensbereichen (Feste, Reisen, Wohnen, Geschäfte, Blutrache, Hochzeiten usw.) mitwirken.
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Der Calon-Diskurs zum Trauerverhalten (»Der Verstorbene soll vergessen werden«, »Es tut viel weh…«, »Wenn man stirbt, ist es vorbei…« usw.) nimmt einen analogen Platz zu anderen Calen-Diskursen über diverse Lebensangelegenheiten (Heirat, Arbeit bzw. Beruf, Feste, Rache, Fahren-Wohnen, Ursprung unter anderen Juron-Themen) ein: Die scheinen im Allgemeinen und gemeinsam häufig als janusköpfige Rede-für-Jurons und manchmal auch für Nichtinitiierte wie die Calon-Kinder zu wirken. Da die Calen schon seit Langem an einige typische Juron-Fragen, die die Jurons ab und zu stellen, gewöhnt sind, haben sie sich für Jurons typische vorgekochte Calon-Diskurse zurechtgelegt. Dadurch kommen die Calen den Jurons wiederum zuvor. Sei es im Kontext der Abgrenzung von Jurons oder anderen Ciganos oder im Kontext der Vergemeinschaftung mit den eigenen Toten, es gilt bei den Calen eher das, was Jeanne Favret-Saada in den Bocagé im Zusammenhang mit französischen Zauberern meinte: »Es kommt also nicht so sehr darauf an, Aussagen – das, was gesagt wird – zu entziffern, als vielmehr darum [sic!], zu verstehen, wer spricht und zu wem.« (Favret-Saada 1981 [1977], 24) Im Gegensatz zum Ausdruck Trauer, oder in Trauer sein, den die Nichtcalen gewöhnlich verwenden, um einen Tod deutlich zu kommunizieren, ruft das Wort Gefühl bei Nichtcalen deswegen nicht den Gedankenan einen zwischenmenschlichen Verlust hervor, wenn ein Calon es im Kontext von Tod ausspricht; wenigstens nicht sofort. Eher klingt in den Ohren des Juron so, als ob es sich bei dem Calon um Erinnerungen handelt, die nicht entblößt werden sollen. Es geht hier auch deswegen nicht darum, Handeln und Reden voneinander zu trennen. Früher wurde dies in Ritualstudien oft gemacht, um die existierenden Diskrepanzen zwischen beidem zu untersuchen. Um Zugang zu Calon-Welten zu erreichen, sollte man aber das Reden selbst als Akt und daher als CalonHandlung betrachten. Diese ermöglicht es den Calen, sich selbst bzw. ihre eigenen Calon-Welten von Jurons und den jeweiligen Welten im Alltag konsistent abzugrenzen und abgegrenzt zu halten. Allerdings wirken Handlungen, wenn Wörter auch rituelle Handlungen sind, ebenso wie Wörter als kommunikative Gesten, die etwas aussagen, auf etwas hinweisen und die daher interpretiert werden können. Als ich im Januar 2011 für einen kurzen und letzten Besuch in die Siedlung von Tico in Lagoa Bela zurückkehrte, waren zwischenzeitlich sowohl sein Bruder Roland als auch sein Schwager Horácio mit ihren jeweiligen Familien umgezogen, größtenteils nach Encruzilhada. Und ich konnte ein neues Zelt sichten, welches Daniel und seiner Calon-Frau dienen sollte. Auch erfuhr ich, dass Grafitti, ein sehr enger Cousin von Tico, und seine Familie gerade in ein neu aufgeschlagenes Zelt in die Siedlung umgezogen waren. Ihr Zelt war auf dem beto-
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nierten Perimeter aufgeschlagen, auf dem die Bühne, Tanzfläche und Tische vom Hochzeitsfest der Tochter von Osvaldo und D’Ilhéus, seine Ruin (Ehefrau), aufgestellt waren. Zuvor wohnten Grafitti und seine Familie in einem Haus in der Nähe von beiden Calon-Siedlungen inmitten von Juron-Häusern. Das Zelt lag neben dem seines Onkels Osvaldo und dem seines Vater Nathanael. Im Moment meiner Ankunft war Grafitti selbst nicht anwesend, sondern nur seine Frau, die ich ein paar Mal bei Hochzeitsfeiern gesehen hatte. Sie unterhielt sich vor ihrem Zelt mit Duda, während ihr Sohn auf dem Siedlungsgelände mit anderen Kindern spielte. Ich ging zu ihnen und sprach sie an. Duda war hocherfreut, mich zu sehen, und ich klinkte mich in ihre Unterhaltung ein. Irgendwann im Verlauf des Gesprächs fragte ich Grafittis Frau, wie es dort gewesen war, wo sie bis vor Kurzem gewohnt hatten, und warum sie nun erst in die Siedlung gezogen seien, obwohl sie schon so oft da waren. Sie sagte dann: »Oh, Gott! Das sind so viele Erinnerungen… Es sind zu viele Erinnerungen… Wer würde das ertragen? Niemand konnte mehr damit…« Sie unterlegte dies mit viel Dramatik, als ob ihre Aussage zu einer performativen, leidenschaftslosen Wiederholung gehörte. Sie drehte dann ihren Kopf weg und hat sich dazu nicht mehr geäußert. Doch damit war schon alles gesagt, und gleich darauf wechselten wir das Thema und unterhielten uns über die Hochzeit von Daniel, die zu jenem Zeitpunkt in Vereda stattfand und zu der ich am nächsten Tag fahren würde. Hochzeiten, die von den Eltern erlaubt wurden, gelten bei den Calen als beliebtes und unverfängliches Gesprächsthema. Ähnliche Szenen, bei denen bestimmte Calen in Bezug auf den Tod einer ihrer nahen Verwandten schweigen, hatte ich bei vielen Ciganos schon mehrmals erlebt, z.B. nachdem P. (Tochter von Seu Alberto), J., Seu Z. (der Vater von Pedro), B. (die Tochter von Pirulito), die E. und L. (Großtante und Großonkel von Fabrícia) oder F. (der Sohn von Seu João) in RN gestorben waren. In BA haben Tico und seine Geschwister mit Ausnahme von Nathanael4 auch nie von ihren ermordeten Eltern oder von D. (ihrem ermordeten Bruder) gesprochen, ebenso wie ihre benachbarten Cousins in Bezug auf ihren Vater schwiegen. Vor den wenigen Fragen, die ich aber längst nicht mehr stellte, wichen alle Calen aus, entweder indem sie schwiegen oder indem sie unvermittelt weggingen. Allenfalls beteuerten sie noch: »Es tut zu weh…« [darüber zu reden, sich daran zu erinnern]. Insbesondere im Süden von BA bemerkte ich auch die Tränen einiger Calon-Männer als ein häufiges Zeichen der Erinnerung und dafür, dass verstorbene Angehörige anwesend waren.
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Jedenfalls hat Nathanael es nur auf eine angebrachte Weise getan. Siehe Kapitel fünf.
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Diskurs betrachte ich hier als eine Art rituellen Handlungsraum: Die Calen müssen stets darauf achten, ob die von ihnen gewählten Wörter den richtigen Adressaten erreichen. Das gefährliche und das sichere Sprechen bei den Calen entspricht dem, was Tauber bei den Sinti das »gemeinsame Sprechen« (Tauber 2014 [2006], 95, 161) und »Nichtsprechen« genannt hat (ebd., 40). Ein Calon muss gewisse Erkenntnisse haben, sowohl um sich durch die verschiedenen rituellen Handlungsräume zu bewegen als auch um eine gewisse Kontrolle über das Gesprochene und dadurch über die Zirkulation von Wörtern zu behalten. Ich wollte also verstehen, was die Calen mit Wörtern tun (vgl. Wikan 1992). Da Rede in der vorliegenden Arbeit auch das Nichtreden bzw. Stille (über wen und vor wem) im Kontext von Trauer als rituelle Handlung umfasst, habe ich versucht, das Schweigen von einigen Calen, damit Williams folgend, als Mittel zu betrachten, um das Heilige bei ihnen lokalisieren und kennenlernen zu können. Gregory Bateson schreibt: »[T]here are many matters and many circumstances in which consciousness is undesirable and silence is golden, so that secrecy can be used as a marker to tell us that we are approaching holy ground. Then if we had enough instances of the unuttered, we could begin to reach for a definition of the ›sacred.‹« (Bateson 2005 [1978], 81)
In diesem Sinne hielt ich es dann für sinnvoll, Thomas Bargatzkys Begriff des Weltgeschehens zu übernehmen, um das rituelle Nichtsprechen der Calen im Trauerkontext als positiv zu betonen, d.h. als rituelle Alltagshandlungen, mit denen sie ihre eigenen Calon-Welten erschaffen: »Die Gegenwärtigsetzung von Archái5 im Weltgeschehen wird in der Ethnologie und Religionswissenschaft in der Regel durch negative Kennzeichnungen beschrieben, wie z.B. ›Tabu beachten‹, ›Meidungsgebote berücksichtigen‹. ›Im Weltgeschehen Archái gegenwärtigsetzen‹ ist die positive Beschreibung desselben Sachverhalts« (Bargatzky 2007, 282).
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Archái ist die Pluralform von Arché in altgrieschischer Sprache, was »Ursprung« bzw. »Prinzip« bedeutet. Bargatzky nützt diesen Begriff im Sinne Kurt Hübner. Wie Antonia Groll erklärt: »Die Arché nach Hübner ist der heiligen Zeit zuzuordnen, in der es keinen Zeitfluss gebe, dort ist die Arché einzigartig und ewig. Abzählbar werden die Archái, wenn sie in die profane Zeit eindringen und dort zur Erscheinung kommen.« (Groll 2011, 226)
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Im Zuge dessen und als wesentlicher Teil der grundsätzlichen methodologischen Strategie, welche sich vor allem auf die Trauerarbeit der Calen und nicht lediglich auf die Calon-Begräbnisrituale fokussiert, begann ich damit, im Alltag mehrerer Calen die Erinnerungen an ihre eigenen Toten zu verfolgen. Ein wesentlicher Teil dieser Aufgabe war es, die Zirkulation und Evokation (und Nichtevokation) der Namen der Toten und daher der Lebenden zu beobachten. Dahingehend sollte ich auf weitere »instances of the unuttered« (Bateson 2005 [1978], 81) achten.6 Das tat ich, indem ich bestimmte Handlungen beobachtete, bei denen die Calen nicht unbedingt Worte benutzt haben, die sie jedoch mit Gesten kommunizierten (vgl. Williams 2003 [1993], 1ff.). Damit ging es bei meiner Forschung zum großen Teil darum, eine CalonÖkonomie der Namen kennenzulernen, da mit und von ihnen je nach moralischem und wirtschaftlichem Milieu unterschiedlich umgegangen wird (vgl. z.B. Brazzabeni 2013). Diese Ökonomie einer Calon-Person betrifft die Konstruktion von Würde in Bezug auf Nichtcalen, sie ist aber auch konstitutiv für mehrere Calon-Tauschkreisläufe. Die oben erwähnten Fälle von Grenzüberschreitungen im Kontext von Trauer gehören zu den Dingen, über die man nicht spricht. Grenzüberschreitungen erregen oft Stille, die gewisse Totalitäten offenbaren, welche ihrerseits moralische Vorschriften und Orientierungen zu Tauschmodi einschließen. Auch aus dieser Perspektive gewinnt die Figur des anderen Ciganos wiederum so viel analytisches Gewicht wie die von dem Juron. Im Laufe der Feldforschung, und wie ich in diesem Kapitel zeigen wollte, konnte ich feststellen, dass die Beziehungen zwischen Calen und Nichtcalen im Wesentlichen als Hintergrund der Handlungen präsent sind, die die meisten Calen in Bezug auf andere Calen in ihrem Alltag ausführen. Deswegen spielt das Konzept von den eigenen Toten wie auch von den eigenen Toten der anderen (wie Tauber »die anonymen Toten« nennt; vgl. Tauber 2014 [2006], 49) eine so zentrale Rolle beim Verstehen der Calon-Trauerrituale. Ähnlich wie Piasere (vgl. 1985) mit dem Konzept von aver Roma (die »anderen Roma« als Gegensatz zu »unseren Roma«, mare Roma) arbeitete, wende auch ich eine relationale Perspektivierung an: Die Calen produzieren das Leben des Ciganos einerseits durch ihren gesteuerten Kontakt zu den Jurons und andererseits durch die Anerkennung des Calon-Status, die sich andere Ciganos gegenseitig gewähren. Eine mögliche Kritik daran wäre, dass die Calen sich dann nur als das Gegenteil der Jurons verwirklichen könnten. Doch die sie umgebenden Jurons sind äußerst vielfältig, so wie sie selbst es sind.
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Siehe auch dazu Keith H. Basso 1970.
Teil III Sterben, Leben und Weiterleben
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»Die Erkenntnis haben«, »in Gefühl sein« Tauschkreisläufe, Moralitäten und Zeitlichkeiten
5.1 ZUR CALON-ERKENNTNIS Zu den Calon-Umwelten gehören verschiedene Personen, an die sich die Calen im Laufe ihres Lebens entweder annähern oder von denen sie sich distanzieren. Wie identifizieren die Calen diese Personen als Akteure und deren jeweilige Welten als Fremdwelten, die ihr Leben positiv oder negativ beeinflussen können? Wie nehmen die Calen die Wege, die sie von anderen Personen übernehmen oder re-kreieren, wahr und eventuell auf? Was kann die Art und Weise, ihre eigene Umwelt zu zeichnen, darüber aussagen, wie sich die Calen in ihrer Umgebung positionieren und wie sie mit den Toten umgehen? In diesem Kapitel möchte ich zeigen, wie die Calen ihre eigenen Welten durch das Kennenlernen ihrer eigenen Umwelt konzipieren und wie sie mit dieser interagieren. Damit ich verstehen kann, wie die Calen durch ihre Trauerrituale eine eigene Calon-Welt/Person schaffen, muss ich in Erfahrung bringen, wie ihre eigenen Welten aussehen, und diese gemäß ihrer Werte und Wahrnehmungen betrachten. Es geht hier darum zu untersuchen, wie die Calen die Komplexität der sie umgebenden Welten durch ihre vielfältigen Interaktionen mit deren Akteuren und angesichts ihrer emotionalen Einstellungen und ihres Wissens erleben und verstehen, und wie sie sich dabei gegenseitig erziehen. Dieses Ziel ist an der Aussage von Tim Ingold angelehnt, für den »Anthropology […] has the means and the determination to show how knowledge grows from the crucible of lives lived with others. This knowledge, as we are well aware, consists not in propositions about the world but in the skills of perception and capacities of judgement that develop in the course of direct, practical, and sensuous engagements with our surroundings.« (Ingold 2014, 387)
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Als Menschen, die als Minderheit leben und die ihr eigenes Zentrum sind, haben auch die Calen partikuläre Modi, die Dinge dieser Welt wahrzunehmen, zu erfahren und sie dabei zu konzeptualisieren. Ihre Art und Weise, das zu tun, markiert ihre Lebensweise als spezifisch in Bezug auf die sie umgebende Mehrheit. Die Calen zirkulieren durch und zwischen mehreren sozialen Kreisen, die eigene Zeitlichkeiten und Regeln haben und die sich durch entsprechende Tauschmodalitäten kontinuierlich entfalten. Die Erkenntnis ist das, was ein Calon braucht, um sich sicher und soweit wie möglichst integer durch und zwischen diesen weltgehörenden Kreisen zu bewegen. Die Erkenntnis soll stets gesucht und aktualisiert werden. Sie ist auch etwas, was ein Calon einem anderen gibt oder wonach er fragt. Die Erkenntnis umfasst sowohl alle Namen, die überall gefunden werden können, als auch die Wege, die einem Calon helfen, seine Integrität im Laufe seiner Bewegungen durch und zwischen verschiedenen Tauschkreisläufen zu bewahren oder neu herzustellen. Die Rolle der Erkenntnis im Leben des Ciganos war für mich aber während eines großen Teils meines Forschungsaufenthalts nicht klar.
5.2 ENTLANG DER VERKEHRSKNOTENPUNKTE INKOMMENSURABLER WELTEN Nathanael ist 59 Jahre alt und der älteste Bruder von Tico und acht weiteren Geschwistern. Geboren und aufgewachsen ist er in der südlichen Region von BA. Als junger Erwachsener verließ er die Region, lebte in verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten und kehrte 2005 wieder nach BA zurück. »Ich war überall«, sagte er und bestätigte das, was seine Frau Safira mir bereits erzählt hatte. Anfang September 2009, als er von einer Hochzeitsfeier, die sich über eine Woche hingezogen hatte, aus der zwei Stunden entfernten Stadt Vereda nach Lagoa Bela zurückkehrte, war er ziemlich erschöpft. Am nächsten Morgen, nachdem wir in seinem Zelt gefrühstückt hatten, saß ich vor dem Fernseher, während er gleich daneben in seinem Bett lag. Neben verschiedenen Themen, über die wir an jenem Morgen in Gegenwart seiner zwei jüngsten Söhne, dem zehnjährigen Romeu und dem vierzehnjährigen Alexandre, sprachen, erzählte er auch von seinen Reisen durch Brasilien, die er zusammen mit seinen Geschwistern unternommen hatte. Dabei nahm ich die Gelegenheit wahr, mit ihm eine Art offenes Interview zu führen. Das war im Grunde das einzige halboffene Interview, das ich an diesem ethnografischen Ort mit einem Calon aufgenommen habe. Eigentlich hatte ich mir gewünscht, dass er selbst von seinen Reisen, von denen Safira mir spontan er-
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zählt hatte, berichtet. Stattdessen wollte er mit mir über die Möglichkeit eines Antrages für den »Cigano Kulturförderpreis« (Prêmio Culturas Ciganas) sprechen. Dieser wird von der Regierung über das SEPPIR in unregelmäßigen Abständen an diejenigen Ciganos vergeben, die ihre Kultur durch ein eigenes pädagogisches Projekt verbreiten. Seine Idee war es, das Schreiben eines Buches als Kulturprojekt vorzuschlagen und damit das Preisgeld zu gewinnen. Damit könnte er eine Hochzeit für seine Tochter Sandrinha finanzieren, da er dann in der Lage wäre, sowohl die Mitgift auszuhandeln als auch das Fest auszurichten. Somit entwickelte sich das Gespräch, das ich als vertrauensvoll empfand, in viele verschiedene Richtungen. Die Schilderung seiner vielfältigen Reisen half mir dabei, etwas besser nachvollziehen zu können, was ich bei den Erzählungen vieler Calen, sowohl in BA als auch in RN, kaum wahrgenommen hatte, was aber immer wieder hier und dort innewohnend war. Es geht hierbei darum, was sie »die Erkenntnis« (o conhecimento) nennen, und um die unterschiedlichen Bedeutungen und Anwendungen, die dieser Ausdruck im Alltag annehmen kann. »Die Erkenntnis [zu] haben« kann als eine Voraussetzung dafür gelten, über geeignete Umgangsformen mit den verschiedensten Personen der vielfältigen Welten zu verfügen, durch die die Calen zirkulieren und aus deren Materialien sie dabei eine eigene Welt auf eigene Weise konstruieren. Eine eigene Welt zu schaffen, heißt in erster Linie zu erkennen, dass man in einer oder mehreren bereits geschaffenen und etablierten Welten des anderen und von anderen lebt, ohne unbedingt zu einer dieser anderen Welten zu gehören. Hier scheint außerdem die Erkenntnis dazu zu dienen, bei diesem stetigen Erfahren der Welten das Heilige zu erkennen und vom Unheiligen zu trennen. Daher betrachte ich die Calon-Erkenntnis hier als einen Schlüsselausdruck zum Verstehen wichtiger Aspekte der Verhältnisse sowohl zwischen Calen und Jurons als auch zwischen vielen Calen untereinander. Es handelt sich dabei um die Modi, durch die viele Calen Vorstellungen bzw. Ideen von Bewegung, Tauschmodalitäten und Grenzen in ihren vielfältigen Dimensionen mit ihren eigenen Lebenserfahrungen artikulieren und vice versa; oder, mit anderen Worten, wie die Calen ihre eigenen Welten konzeptualisieren. Gewissermaßen geht es in diesem Buch darum, nicht nur zu erforschen und zu verstehen, ob, wie und inwieweit die Calen ihre Bewegungsvorstellung bzw. -praktiken, Tauschmodalitäten und entsprechenden Moralitäten sowie ihre Lebenserfahrungen mit- oder ineinander integrieren. Mein hauptsächliches Interesse war es zu erkunden, wie sie diese innerhalb einer Juron-Welt, die ihre Kompartmentalisierung oft erzwingt, einerseits als schon integriert erhalten und welche Implikationen sich andererseits daraus ergeben. Insbesondere in diesem
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Kapitel ergründe ich die Hypothese, Calon-Lebenserfahrungen konzeptionell als eine spezifische Art Erfahrungsreligion (vgl. Bargatzky 2007, 15f., 275) zu betrachten. Mein Argument ist hierbei, dass viele Calen diese Konzeptualisierung in ihrem Alltag rituell orientiert durchführen. Wie Tico und Esmeraldo manchmal sagten, »wir« agieren nach »unserer Tradition«; oder wie man es von einigen Calen zu hören bekommt: »Jede Familie hat ihre Disziplin.« Calon-Traditionen bzw. -Disziplinen werden von der Erkenntnis, die man hat, bestimmt und daher ermöglicht, genau wie die Modi des Erwerbens dieser Erkenntnis von CalonTradition bzw. -Disziplin zugleich eingerahmt und geprägt sind. Die CalonErkenntnis, die ich auch als eine eigene Epistemologie betrachte, umfasst eine Calon-Thanatologie, die wiederum ihrerseits einer Calon-Ethik entspricht. Gregory Bateson formuliert dies wie folgt: »In the processes we call perceiving, knowing, and acting, a certain decorum must be followed, and when these quite obscure rules are not observed, the validity of our mental processes is jeopardized. Above all, these rules concern the preservation of the lines dividing the sacred from the secular, the aesthetic from the appetitive, the deliberate from the unconscious, and thought from feeling.« (Bateson 2005 [1978], 69)
Aus dieser Betrachtung lässt sich die Frage ableiten, auf welches Dekorum Nathanael achtet, wenn er von anderen Calen, von Nichtcalen oder von eigenen Calen spricht und dabei versucht, Kenntnisse über ihre jeweiligen Welten zu erwerben und zu reproduzieren. Auf welches Dekorum achtet er, wenn er von (seinen) Lebenden bzw. Toten spricht? Bevor ich auf das zu sprechen komme, was Nathanael über seine Familie und über die Lebenswege seiner Geschwister erzählt, werde ich meine Beobachtungen zu den Modi präsentieren, in denen Nathanael von den verschiedenen Akteuren und jeweiligen Welten in seinem Narrativ spricht. Die Form, in der jemand von einem anderen spricht, scheint seine jeweiligen Positionierungen aus dem Gesichtspunkt der Beteiligten eindrücklicher zu äußern, als der Inhalt seines Gesprächs, sofern dieses lediglich an sich betrachtet wird. Indem ich hier die Art und Weise betone, wie Nathanael von anderen spricht, möchte ich einige Prämissen thematisieren, nach denen die Ahnen (die eigenen Toten) bei dem Erwerb und der Aktualisierung von Erkenntnis bei vielen Calen eine wesentliche Rolle spielen, da die lebendigen Calen in ihrem Alltag bei ihren Entscheidungen bzw. Handlungsweisen direkt auf sie Bezug nehmen. Wenn Nathanael von seiner Kindheit und Jugend spricht, erinnert er sich, wie er und seine Familie zu Fuß mit ihren Tieren von einem Ort zum anderen
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zogen. Sie waren, wie er mir an jenem Morgen sagte, »Ciganos, die zu Fuß gehen« (Ciganos de andar de pé). Damals stellten sein Vater und seine Onkel mit ihren jeweiligen Familien den Kern einer mobilen Gruppe dar. Gelegentlich gab es auch einige andere Familien, die temporär mit ihnen zusammengingen und die ihre Gruppe unterwegs wieder verließen. Nathanael erzählte, seine Gruppe ging wie gewöhnlich »von einem Bauernhof zum nächsten, und schlugen dort das Lager1 für etwa vier oder fünf Monate auf, manchmal auch für 60 oder 90 Tage…« Normalerweise verließen sie einen Ort erst dann wieder, wenn sie einen anderen schon ausgewählt oder in Aussicht hatten: einen Ort, den sie bereits kannten. Die gewählten Orte lagen oft etwa »drei Kilometer, [eine] halbe Leuge2 entfernt. […] Wir hatten schon Ortskenntnisse, als wir ankamen«. Und er fügt hinzu: »Das ist das Leben, in dem ich erschaffen wurde«, das Leben, in dem Nathanael aufgewachsen ist, für das er zusammen mit seinen Geschwistern von seinen Eltern erzogen wurde. Sowohl das Leben, in dem Nathanael erschaffen wurde, als auch das gemeinschaftliche Herumziehen möchte ich an dieser Stelle besonders als Zusammengehörigkeit (Röttger-Rössler 2018) ernst nehmen und als totale soziale Tatsache (vgl. Mauss 1990 [1923]) betonen. Hier redet Nathanael von den Konturen seiner eigenen Calon-Welt, welche sich von den ihn umgebenden Juron-Welten unterscheidet. In dieser Welt wächst Nathanael auf und lernt dabei, als Calon neben seinen eigenen Calen zu leben, sich als Calon in den Welten anderer zu bewegen und, nicht zuletzt, zu altern. Ingold erinnert daran: »[H]uman babies are not born walking; rather, the ability to walk is itself an acquired skill that develops in an environment that includes walking caregivers, a range of supporting objects, and a certain terrain. How, then, can one possibly separate learning to walk from learning to walk in the approved manner of one’s society? Surely, the development of walking skills is just one aspect of the growth of the organism-person within a nexus of environmental relations, and as such is closely bound up with kinship. Walking is certainly biological, in that it is part of the modus operandi of the human organism, but it is also social […] because the walker’s movements, his or her step, gait and pace, are continually
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Arranchavam, sagt er, in etwa: Sie »schlugen ihre Zelte auf«; von Rancho abgeleitet.
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Wie auch mehrere Leute in Sertão benutzen viele Calen »alte Wörter«, die heutzutage unter den sie umgebenden Mehrheitsbevölkerungen nicht mehr üblich sind. Auf Portugiesisch bezeichnet »Leuge« eine alte Längenmaßeinheit außerhalb des internationalen Einheitensystems. Auf Portugiesisch heißt es légua. Es entspricht etwa zwei bis sieben Kilometer.
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responsive to the movements of others in the immediate environment. It is in this kind of mutual responsiveness or ›resonance‹ (Wikan 1992), not in the subjection of behaviour to categorical rules, that the essence of sociality resides. […] Real humans […] grow in an environment furnished by the presence and activities of others.« (Ingold 1998, 26)
Das Gehen kann als eine Praktik verstanden werden, die Bewegung von einer geografischen auf eine sprachliche Ebene erweitert und die so Nathanaels Interaktionen mit anderen vermittelt und ausdrückt. Abbildung 10: Zeltaufschlagen in Sertão, BA (2009)
Quelle: Eigenarchiv
In seinen Erzählungen finden sich andere Ciganos, seine Eltern und andere Verwandte, bekannte und unbekannte Jurons auf die eine oder andere Weise als miteinander vernetzt. Von jeder dieser Personen redet Nathanael aber auf unterschiedliche Art und Weise. Manchmal spricht Nathanael von sich selbst und seiner Gruppe in der dritten Person Plural, als ob diese Ausdrucksweise eine Art Gemeinschaft bildete, und von Ciganos im Allgemeinen in der dritten Person Singular, als ob er sich auf etwas Generelles, Breiteres und Unbegrenztes beziehen würde. Eine »Calon-Zivilisation« vielleicht im selben Sinne, in dem Patrick Williams (vgl. 2003 [1993]) von einer Manusch-Zivilisation schreibt. Nathanael:
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»Ihre [seine] Rancho war schon da, obwohl sie selbst noch nicht angekommen waren. Man schlug den Rancho hier [bater barraca, das Lager schlagen, arranchar], und dann reiste er drei Kilometer mehr, und arranchava wieder, eine andere kleine Leuge, dann arranchava wieder, und so weiter. So… Man hatte viel Erkenntnis.«
Es handelt sich hierbei um eine Erkenntnis, die es ihm und seiner Familie ermöglicht, den Jurons und anderen Calen zuvorzukommen; eine antizipierende Bewegung in Bezug auf diese zu machen: Nathanael und diejenigen, die mit ihm und seiner Familie zusammengingen, waren schon dort, bevor sie (selbst) ankamen. Diese verschiedenen Personen, die zu verschiedenen sozialen Kreisen (vgl. Simmel 1992 [1908]) gehören, sind ein konstitutiver Teil von Nathanaels Leben und daher auch seiner Realitätswahrnehmung. Nathanael hingegen ordnet diese Personen und ihre jeweiligen Umwelten in seinem Reden, welches auch eine Form des Handelns ist. Dieses Anderssprechen von Nathanael nehme ich hier als Unterscheidungsmodus und folglich als Mittel an, durch das man diese verschiedenen Personen und ihre jeweiligen Tauschmodi (vgl. Bloch & Parry 1989) kennenlernen kann, welche spezifische Calon-Tauschkreisläufe bilden. Die Beschreibung Nathanaels über ihr Gehen und Weitergehen ist letztlich keine bedeutungslose, freie Wiederholung. Sie ist ein Bild, das er immer dann wiedergibt, wenn er gefragt wird, wie die Dinge in der Vergangenheit waren. Ich stelle mir die Frage: Was ist anwesend und kondensiert in diesem Bild, das scheinbar nichts über Nathanael, seine Familie und ihre Vergangenheit aussagt (bzw. das eher über sie zu schweigen und etwas zu verbergen scheint), obwohl er dadurch von ihnen spricht? Drei grundsätzliche relationale Achsen einer CalonWelt, die sich überschneiden, scheinen hier als drei Sozialitätsformen und ihren jeweiligen Moralitäten und Tauschmodi erkennbar zu sein: die der Ununterscheidbaren, die der Jurons und die der anderen Calen.
5.3 DIE WELT DER UNUNTERSCHEIDBAREN Auf den ersten Blick scheint dieses Bild eines sukzessiven Bewegens und Anhaltens eher eine kontinuierliche Dauerhaftigkeit als eine dynamische Veränderung im Laufe der Zeit zu schildern. Anstelle von regelmäßigen Unterbrechungen drückt es in diesem Sinne eine statische Inertie aus: eine suspendierte, unberührte Bewegung. Dieses Bild evoziert eine Art Fluxus und ermöglicht dadurch, flüchtig eine bestehende Normalität zu sehen zu bekommen; eine Normalität, die zugleich auch ideal ist. Indem sich Nathanael an seine Kindheit erinnert, setzt er seine Calon-Welt gegenwärtig als immer dieselbe seiend: als ein konstantes, ste-
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tiges Wechseln. Beim Erzählen von der damaligen Zeit signalisiert Nathanael die Geschichtslosigkeit eines Zeitraums, der noch von seinen Eltern und vielen seiner Onkel, alle längst verstorben, bewohnt war. Dies ist ein Zeitabschnitt in seinem Leben, den er nicht historisiert und den er dadurch ununterbrochen lässt. Zumindest nicht, wenn er ihn externalisiert: Da die Erinnerungen immer wieder auftauchen, sind Gegenwart und Vergangenheit nicht voneinander zu trennen. Sie befinden sich latent in Bezug aufeinander. Die Vorstellung als Calon-Philosophie scheint auf Immanenz zu basieren; eine Immanenz, die vor allem, wenn nicht gar nur, aus persönlichen Lebenserfahrungen abgeleitet wird. Zwar kann man hier erkennen, dass er von seinen Ciganos spricht, d.h. von seinen eigenen Toten, und dass er zeigt, wie das Zusammensein bzw. Zusammengehen mit ihnen eine Bewegung in Sicherheit symbolisiert: ein fließendes Herumgehen, ein Leben im Fluss. Doch es geht nicht wirklich um Ahistorizität bzw. darum, dass die Toten von Nathanael keine Geschichte haben. Im Gegenteil, sie haben ja zahlreiche gemeinsame Geschichten. Nathanael vermied es aber, ihre gemeinsamen Geschichten zu erzählen, und damit obviiert er den Tod ihrer eigenen Toten. Dabei findet auch ein besonderer Tausch zwischen beiden statt: Nathanael behält seine eigenen Toten in der Gegenwart, während sein eigenes Leben etwas entleert, indem er hinter ihren Toten steht. Die eigenen Toten dienen sowohl als Anker als auch als Kompass im Kontext des Zeitvergehens und all seiner Unbeständigkeit und seines Wandels. Mit diesem Handeln, bei dem Nathanael diese Kontinuität als Ausdruck von Sicherheit äußert, leistet er seinen Toten gegenüber einen Schutzdienst. An erster Stelle macht er das, indem er seine eigenen Toten nicht exponiert, während er von ihnen spricht. Gefühl (sentimento) ist für die Calen auch nicht übertragbar und in Worte zu fassen. Nur derjenige kennt es, der es in sich fühlt. Das CalonSchweigen weist in einer würdigen Form auf ein zu den eigenen Toten bindendes Gefühl hin. Das Schweigen von Nathanael ist ein Zeichen von Treue in Bezug auf seine Toten und diejenigen, mit denen er zusammen geht bzw. gegangen ist. Vielleicht drückt es die Umkehrung einer gewissen Korrespondenz zwischen einer üblichen Form der Präsenz der Calen in der Welt der Jurons aus: Statt Unterwerfung heißt Schweigen hier Selbstbehauptung, während das Wort durch sein Aussprechen eher ein gewisser Bedeutungsverlust einhergeht. Angesichts des Risikos von Respektlosigkeit, das man sofort eingeht, sobald man als Lebender zu verbalisieren anfängt, stellt Nathanael in seiner Rede weder den Status noch die Würde seiner eigenen Toten infrage und damit auch nicht ihre Calonität. Stattdessen behält Nathanael seine eigenen Toten in der Stille zwischen seinen Wörtern implizit und immanent bei sich, während der Zuhörer leere
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Wörter empfängt. Er spricht von seinen eigenen Toten, ohne etwas über sie zu sagen, wenn er von den bekannten Wegen redet oder den bekannten Lagern, den bekannten Jurons, den bekannten Städten, den bekannten Landgütern, den bekannten Tieren, dem bekannten Zusammengehen, den gemeinsamen Mahlzeiten usw. Seine Toten sind hinter seinen ausweichenden, zögernden Anwendungen verbaler Äußerungen zu finden und zu begrüßen. Sie stehen vor ihm und für ihn. Der traurige Ausdruck seiner Augen verrät ihre Anwesenheit. Seine eigenen Toten sind längst nicht mehr von seinen eigenen lembranças trennbar; und dadurch auch nicht von allen Dingen, die seine Toten bei bzw. vor Nathanael evozieren; ihn selbst eingeschlossen. Genau wie die Jurons selbst sind seine eigenen Toten auf der ganzen Welt verstreut zu finden. Sie befinden sich in den Gegenständen, die sie anmahnen, an den Orten, die sich auf sie besinnen usw. In diesem Sinne können seine eigenen Toten als distributed persons bzw. »verteilte Personen« (vgl. Gell 1998, 105f.) angesehen werden. Doch Nathanael und andere um seine Eltern Trauernde sind diejenigen, durch die ihre verstorbenen Eltern einheitlich behalten werden können, indem sie ihre Integrität absichern (und darüber auch ihre eigene). Es geht um sein Gefühl, welches eine Form von Kompromiss ist. Nathanael kennt, zeigt und produziert diese Untrennbarkeit: den Kompromiss mit seinen eigenen Toten in Form eines gegenseitigen Tausches. Eine andere, explizite Weise, sich mündlich auf die eigenen Toten zu beziehen und ihnen zugleich Respekt zu zollen, besteht darin, von ihnen positiv zu sprechen. Man spricht gut über die eigenen Toten. D.h.: richtig, mit Respekt. Und es bedeutet auch, sie auf keinen Fall vor einem Gesprächspartner zu erniedrigen. Wenn Nathanael seine Toten als »Ciganos, die zu Fuß gehen«, bezeichnet, charakterisiert er sie keineswegs z.B. als »arme Leute«. Eher lobt er sie als Vorbild für Authentizität, Klugheit und Calonität (als Substanz), für Zusammenhalt bei Schwierigkeiten und angesichts von Wechselfällen des Lebens: also als Menschen voller Gefühl. Calonität – »mehr«, »richtiger«, »starker« Cigano zu sein – wird von ihm und anderen Calen stets mit der Fähigkeit assoziiert, sich unter widrigen Umständen wie ein wahrer Calon zu behaupten. Von den Toten gut zu sprechen, heißt auch und hauptsächlich, sich auf sie zu beziehen, als wären sie nicht tot. Das trifft genau das, was mir Esmeraldo in Uruçuí einmal gesagt hat, als er mir vom Tod des Vaters von Pedro erzählte: »Hast Du schon bemerkt, dass wir von den Toten immer nur in der Gegenwart reden?« Oder die von Fábio Dantas de Melo (vgl. 2008) aufgestellte Behauptung, die ein Calon-Ehepaar in Goiás ihm gegenüber geäußert hat: Für diesen Calon gilt, man spricht niemals von den eigenen Toten, und wenn man das doch tut, dann nur in der Gegenwart. Dieser Respekt vor dem Verstorbenen könnte
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sogar gestört werden, indem man Wörter ausspricht, die sich auf seinen Namen reimen. Deswegen werden entsprechende Wörter auch vermieden, genau wie es Dantas de Melo bei Calen in Goiás beschrieb: »Ein anderer Brauch […] der Familie von Dálcio [ein Calon von Goiás im Zentrum Brasiliens] ist das Verbot, über die Toten zu reden und die Gegenstände aus der Zeit des Zusammenlebens zu bewahren. Mit seiner Zustimmung erzählte mir seine Frau von ihrer Gewohnheit, die Namen derjenigen von ihnen, die gestorben waren, unter keinen Umständen auszusprechen. Manchmal wurde ein Wort, das dem Namen des Verstorbenen ähnlich klang, auch verboten, ausgesprochen zu werden. Falls es jemanden in der Bande gibt, der einen ähnlichen Namen wie der Verstorbene hat, beginnen alle anderen Mitglieder ihn mit einem neuen Spitznamen zu rufen, der auf eine persönliche physische Eigenschaft verweist (wie z.B. ›Behaarte‹, ›Kleiner‹ usw.). Auch nach dem Übergang von jenem Mitglied werden alle seine Gegenstände zurückgelassen (am häufigsten verbrannt), um eine neue Phase zu markieren und Erinnerungen zu vermeiden, die Leiden und Schmerz verursachen.« (Dantas de Melo 2008, 45)
Es gibt den gleichen Brauch bei den Calen in RN und in BA, jedoch weisen viele der Spitznamen, die eigentlich zu wahren Namen werden, auf eine gegensätzliche physische persönliche Eigenschaft: Kleine Calen werden bspw. »Großer« genannt, Calen mit sehr heller Haut nennt man »Schwarz« (wie Grafite), Männer können weibliche Namen bekommen und umgekehrt.3 Auf die eine oder andere Weise erscheint der kontinuierliche Fluss der Zeitlosigkeit in Nathanaels Äußerungen als die Wahrheit (als Absicherung) der eigenen Toten und daher als eine eigene Calon-Welt, die anderen Calon- und JuronWelten gegenüber und dazwischen koexistiert. Zugleich enthüllt und behauptet Nathanael seine unveränderliche Position als Zeichen von Treue, sodass seine Position mit der seiner eigenen Toten zusammenfällt. Aus Gefühl steht Nathanael immer hinter ihnen, er ahmt sie nach, er bleibt ein Chaburron (bzw. ein Calon-Kind), der seinen Vater und Onkel nachahmt. Im Gegensatz zu seinen verstorbenen Eltern und anderen seiner eigenen Toten, die vor Nathanael stehen, stehen die Jurons und andere Calen hinter ihm. Während Nathanael die Ersten aus Gefühl nachahmt, kommt er den Zweiten zuvor. In all diesen Fällen nehmen die eigenen Toten einen eindeutig mythischen Charakter an und werden zu Ahnen gemacht. Sei es explizit oder implizit, der
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Ähnliche Namenswechsel konnte ich auch in Skopje unter Roma und Ashkali feststellen (vgl. Vilar 2009).
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Schutzdienst,4 den Nathanael seinen eigenen mythischen Ahnen leistet, kann als eine Art Rückgabe betrachtet werden: Nathanael respektiert seine Toten und behält sie bei sich und durch ihn selbst, während seine Toten für ihn als Archái (vgl. Bargatzky 2007) wirken bzw. einen grundsätzlichen Teil schon existierender Archái anbieten.5 Was Nathanael damit auch ausdrückt, sind die gegenseitigen Bindungen zwischen ihm und seinen eigenen Toten, sein Gefühl, das als eine Gabe der perfekten Obligation (vgl. Mauss 1979 [1921a]) angesehen werden soll. Eine Arché (im Plural: Archái) kann als eine zugrundeliegende mythische Vergangenheit verstanden werden, zu der durch liturgisches Handeln immer wieder heimgekehrt bzw. auf die zurückgegriffen wird: als »das Seinsmäßige, Dauernde, Vorbildhafte, Geordnete« (Bargatzky 2007, 144) vor dem Unbestimmten: »Jedwedes liturgisches Handeln, ob als kultisches Handeln oder Weltgeschehen im Alltag, holt die Archái […] als mythische Substanz herein in die Welt des Werdens, des Unbeständigen, Abbildlichen und Chaotischen. Es ist also wahrhaft ›kulturelles Handeln‹, denn das lateinische Wort ›cultura‹ verweist ja auf das erhaltende Tätigsein, das nicht nur im Ackerbau in enger Beziehung zum Kultus steht. ›Naturbelassenes‹, Ungepflegtes, Unbeständiges, Ungeordnetes muß stets wieder von neuem aus dem Bereich des Werdens und der Veränderung in das Seinshaft-Beständige der Archái zurückgeführt werden. Liturgisches Handeln, als kulturelles Handeln im Kultus, ist daher ein sinnvolles, auf Dauer gerichtetes Handeln. Das Resultat aller Arbeit, auch der liturgischen Arbeit […] ist aber ein Produkt und dieses Produkt ist von besonderer Natur: das ›Welthaus‹, wie es durch die Archái in illo tempore produziert wurde und durch das liturgische Handeln im Hier und Jetzt gleichsam ›fortgeschrieben‹ wird.« (Ebd., 144f.)
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Gemeint ist ein verbaler Schutzdienst, der hier nicht von einer anderen Art von Schutz zu differenzieren ist, da Reden und Handeln für die meisten Calen als Erweiterungen voneinander anzusehen sind und außerdem magisch wirken können. Dieser Schutz ist auf jeden Fall immer notwendig, wenn man sich auf die eigenen Toten öffentlich (außerhalb der eigenen Beziehungen zu ihnen) bezieht. Möglicherweise sprechen die trauernden Calen auch deswegen gute Verabschiedungswörter aus und loben bei den Beerdigungen den kürzlich Verstorbenen. Diese Calon-Haltung ist weniger eine Botschaft an die eigenen Toten als an die anderen Ciganos.
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Die eigenen Toten bei sich zu halten, heißt hier deswegen auch, Transzendenz und damit Repräsentation im Sinne von Vertretung abzulehnen und stattdessen Immanenz durch Nachahmung und Vergegenwärtigung auszuüben.
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Wenn man bspw. wissen will, wie man in einer beliebigen Situation (egal ob in einer alltäglichen oder in einer besonderen Lage des Lebens) auf adäquate Weise handeln soll, greift man auch auf die Toten zurück. Im Fall von Nathanael und seinen Calen bestehen ihre Archái nicht unbedingt aus einer »Vergangenheit«, sondern aus einer gehaltenen bzw. unauflösbaren Gegenwart, wenn er diese (d.h. die Gemeinschaft ihrer eigenen Toten als seine Archái) als zeitlos trägt und bezeichnet. Ganz gleich, wohin Nathanael auch geht, er bringt so seine eigenen Toten und ihre gemeinsame Welt mit sich so wie sie in der Vergangenheit einmalig war. In diesem Sinne ist es möglich, Folgendes zu behaupten: Die Welt, in der Nathanael aufwuchs bzw. »erschaffen wurde« und die für sonst niemanden mit Ausnahme seiner eigenen Geschwister (also den Trauernden) lange schon nicht mehr existiert, wird nun von ihm nicht nur behalten, sondern auch vor allem rituell und kontinuierlich immer wieder reproduziert, erschaffen. Die eigenen Toten und ihre Spuren sind für Nathanael und viele andere Calen ein Kompromiss (im Sinne von sentimento), den man im Rahmen eigener familiären »Disziplin«, »Tradition« usw. im Alltag rituell zu folgen hat. Dieses Folgen, das auch eine Nachahmung impliziert, trägt die Kraft der Wiederholung in sich (vgl. Streck 2013, 407-413; Eliade 2007, 186-200), welche ihrerseits einerseits die Stabilisierung des Chaos und anderseits die Etablierung einer Welt ermöglicht. Doch als Nachahmen darf dieses Folgen der Spuren der eigenen Toten nicht mit der Aufnahme mehrerer »Juron-Ausdrucksweisen« verwechselt werden. Während es im ersten Fall um Gefühl geht, handelt es sich im zweiten um verbale Juron-Ornamente, die einige Calen sowohl zum besseren, opportunen Umgang mit Jurons als auch als differenzierende Bildung (im Sinne einer differenzierenden Konstruktion) der Calon-Person vor anderen Calen benutzen können. Ein besonderer Unterschied, den Nathanael während unseres Gesprächs deutlich macht, hilft dabei, sowohl diese Interpretation zu stützen als auch die Aufmerksamkeit auf einen weiteren Aspekt der Beziehungen zwischen Lebenden und Toten bei den Calen zu lenken. Beim Erzählen behauptet Nathanael, dass im Gegensatz zu dem, was einem Juron-Toten passiert, welcher nach seinem Tod i.d.R. in den Himmel kommt, die Calen niemals in den Himmel gehen. Nathanael weiß selbst nicht genau, wohin sie gehen, aber sicherlich, so meint er sehr ernsthaft: »Nicht in den Himmel!« Das behauptet er trotz seines angegebenen bzw. vermeintlichen Katholizismus. Juron-Familien trennen sich nach dem Tod, während sich diese Trennung bei Calon-Familien nicht unbedingt ergibt, weil ihre Toten bei ihnen bleiben oder noch »woanders hingehen« bzw. wie jeder andere (Lebende) frei umhergehen.
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(Verstorbene) Ciganos verlassen deshalb die anderen nie wirklich, zumindest nicht den Kreis ihrer eigenen Ciganos. Man könnte nun ergänzen: Die Toten bleiben unter ihren Lebenden, wenn die Beziehungen und Kompromisse zwischen dem Cigano und seinen eigenen Toten – als Einheit (Integrität) inmitten, zwischen bzw. unter den zahllosen anderen – durch Gefühl beibehalten werden. Daher kann die Integrität bzw. Untrennbarkeit derjenigen, die zusammengehen, abgesichert werden, solange die Lebenden vor ihren Toten Respekt zeigen. Die Immanenz und Dauerhaftigkeit der Toten wird darüber hinaus erneut behauptet und praktiziert. Die Bindungen zwischen Nathanael und seinen Toten produziert er rituell durch seine Trauerarbeit, die sowohl von eigenen Entscheidungen als auch von Kenntnis geleitet ist. Als Gegenleistung helfen die CalonAhnen ihren eigenen Calon-Lebenden dabei, in ihrem Alltag mit erwarteten und unerwarteten Ambiguitäten umzugehen, diese eventuell zu überwinden oder ihnen zumindest auszuweichen, wenn auch nur vorübergehend. Hier fallen die Toten und die Erkenntnis, die die Trauernden über ihr Leben und Handeln haben, mit der Art und Weise zusammen, wie sie leben und handeln: Es gibt keine Grenzfläche zwischen ihnen, keine Oberflächen, um Williams (vgl. 2003 [1993], 1) zu erwähnen. Dagegen lässt sich ableiten, dass, die eigenen Toten beizubehalten, bedeutet, eine fremde, von anderen erzwungene bzw. geforderte Transzendenz als Trennung zu verweigern und damit die eigene Integrität zu erhalten. Das hat auch auf politischer Ebene Folgen, so wie die Neigung, sich nicht vertreten zu lassen, üblicherweise bei Calen zu finden ist. Die Erinnerung an die eigenen Toten und deren Gegenwart (im Sinne von Präsenz und Einfluss) können nicht voneinander getrennt werden. Und beides – sowohl die lembranças als auch die Toten – scheinen oft zu zirkulieren, wobei ein lebendiger Calon kaum eine oder nur eine sehr beschränkte Kontrolle über ihre Bewegungen haben kann. Deswegen evozieren die Calen ihre eigenen Toten nicht nur, sondern werden von ihnen besucht oder überrascht, wenn diese plötzlich erscheinen. Es ist in diesem Sinne, dass Heitor, ein Cousin von Nathanael, der bei seinem Bruder Tico eine DVD von Milionário e Zé Rico (»Millionär und Sepp Reich«) – zwei Hinterlandsänger, die ein bekanntes, altes Sertanejo-Duo bilden – schaut, zu weinen beginnt, als ein bestimmtes Lied gespielt wird, während alle anderen Anwesenden schweigen und sehr ernst bleiben. Später habe ich dann erfahren, dass es um ein Lied ging, das der vor circa 25 Jahren verstorbene Vater von Heitor besonders mochte und durch das er sich an seinen Vater erinnert. 6
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Auf diese Situation und eine mögliche Bedeutung gehe ich im nächsten Kapitel ein.
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In einer anderen Situation weinte auch Roland, ein anderer Bruder von Nathanael, wie es bei seinen Geschwistern und Cousins zu beobachten war, wenn sie sich ihrer Verstorbenen entsinnen. Damals redeten wir von den Unterschieden im Leben des Ciganos zwischen früher und heute, wie auch von zwei JuronJugendlichen, die bei ihnen einmal gelebt haben bzw. mit ihnen zusammengegangen sind. Als ich Roland in einem bestimmten Moment gefragt habe, was er von früher am meisten vermisst, sind schnell Tränen in seine Augen gestiegen. Er blickte dann nach unten, flüsterte: »Meine Eltern…«, stand gleich danach auf, drehte sich um und ging zu seinem Zelt. Das Weinen eines Einzelnen, das wie im Fall von Roland (und anderen Calen) individuell ausbrechen kann, kann im Kontext von Beerdigung und Hochzeit eine kollektive Dimension annehmen. Insbesondere bei zwei Situationen konnte ich beobachten, dass das kollektive Weinen unter den Trauernden einen gleichen Rhythmus und die gleiche Intensität hat, ähnlich wie bei einem Chor (Vgl. Mello Moares Filho 1981 [1885/1886], 65); was auch einen obligatorischen Charakter zu zeigen scheint, wie Mauss [vgl. 1990 (1923)] in einem anderen Zusammenhang feststellte. 5.3.1 Exkurs: »Jaimpem« Schon im April 2009 konnte ich feststellen, dass es bei vielen Calen in BA einen Ausdruck gibt, den sie anwenden, um ein Zusammenspiel und -singen unter sich zu beschreiben: Jaimpem. Ich konnte nicht genau wiedergeben, was das Wort bedeutet. In einem gemeinsamen Netzwerk von Forschern zu Ciganos in Brasilien meinte Aline Miklos, dass dieses Wort »Gehen-und-Kommen« heiße. Wenn dem so ist, beschreibt es die Anwesenheit des Toten als latent und pulsierend. Nach Martin Fotta (persönliche Kommunikation) meinte Yaron Matras, dass Jaimpem einer korrumpierenden Nominalisierung des Wortes »Reise« entspreche. Aber ich habe die Calen es benutzen hören, wenn sie z.B. Trauerlieder zu Ehren der Calen und ihrer eigenen Toten gespielt haben.7 Tico meinte, Jaimpem »ist« (geschieht), wenn ein Cigano langsam und tief singt, meistens mit anderen, aber auch allein. Mittlerweile sind Fotta und ich zum Schluss gekommen, dass Mello Moraes Filho Endeffekt die wahrscheinlichste Übersetzung davon (jan-
7
Vgl. zu ähnlichen Praktiken Michael Stewart 1989 und 1993 sowie Tauber 2014 [2006]. Es gibt eine Szene im Film TARABATARA, die dem Bild entspricht, das mir Tico davon gegeben hat (Zakia 2007, ab Minute 16).
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har-nípen) angeboten hatte: »Bedauern, Weinen, Trauern« (Mello Moraes Filho 1885/1886 [1984], 64). Im Folgenden reproduziere ich die Definition von Jaimpem, die Bonifácio auf das Bewerbungsformular für den »Cigano Kulturpreis« schrieb. In seiner ersten Version des Titels von dem Initiativprojekt schrieb er: »Jaimpem, der traurige Gesang, der der Vorfahren oder der geliebten Mitmenschen gedenkt.« In der zweiten, mehr an die Juron-Institution angepassten Version, ändert er den Titel: »Jaimpem, der Gesang, der der Vorfahren und der geliebten Mitmenschen gedenkt oder der Autoritäten Ehre zollt«: »9.2 Beschreiben Sie detailliert, inwiefern Ihre Initiative die Cigano-Völker stärkt und kulturell aufwertet. Im Fall der Ciganos aus Bahia campen gewöhnlicherweise zwei oder mehr Familien zusammen. Die Zelte werden normalerweise sehr nah aneinander aufgebaut, sodass die Familien sehr eng beisammen sind. Es ist auch ein Brauch der Familien, sich um ein Feuer zu versammeln, um über alles zu reden. Bei diesen Anlässen erzählen sie [die Ciganos] von Vorfahren oder Freunden und Verwandten, die nicht mehr anwesend sind. Dann singen sie meistens mit Tränen in ihren Augen ein trauriges Lied nach einer schleppenden Melodie, wobei die Sätze von Sehnsucht und Bedauern und auch von Fröhlichkeit sogar sprechen; es ist das Jaimpem. Zu anderen Anlässen wie Hochzeitsfesten oder irgendeiner anderen Zelebration ist es [für uns] ganz normal, diesen Gesang zu hören, der das ganze Gefühl [sentimento] des CiganoVolkes [Povo Cigano] exponiert, der aber auch der Braut und dem Bräutigam oder anwesenden Autoritäten huldigt. Das Jaimpem kann von einer einzigen Person gesungen werden, doch meistens singt man zu zweit oder in größerer Zahl, wobei auch die Frauen teilnehmen. 9.3. Begründen Sie Ihre Projektinitiative: Mit dem Prozess der Globalisierung verlieren viele Traditionen an Stärke [força]. Das Business passt sich allmählich den neuen Umständen an. Bei den Ciganos ist dieser Vorgang nicht anders. Heutzutage leben nur wenige Ciganos vom Tierhandel (Esel, Pferde). Diese Fortbewegungs- und Transportmittel werden durch Autos, Motorräder und Lkws ersetzt, welche die fernsten Orte erreichen. In der Folge haben die Ciganos aus Bahia, die zuvor fast alle Nomaden waren und in kleinen Städten und auf dem Land vom Tierhandel lebten, ihre Geschäftsart geändert und sich in Städten niedergelassen, in denen ihre Wohnungen (Zelte oder Häuser) nicht immer nahe beieinander liegen. Aufgrund dessen geraten einige Traditionen in Vergessenheit, sodass die neue Generation von Ciganos ohne diese Bräuche lebt. Die Initiative wird die kulturellen Bünde der Ciganos verstärken, die durch das Jaimpem ihr Anhänglichkeitsgefühl an ihre Verwandten und Freunde zeigen. Die Aufnahme einer
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CD mit einigen der größten Jaimpem-Sänger Bahias kann diese Tradition unter den Jüngsten retten, was die Verstärkung der kulturellen Ausdrücke und Identität des CiganoVolkes ermöglichen wird.«
Tico hatte einige Aufnahmen von Liedern, die für dieses Projekt gemacht wurden, auf seinem Rechner. Leopoldo, der Vater von Bradóqui, ein junger Cigano von Monte Verde, mit dem und mit dessen Familien Tico, Nathanael und andere Calen in Lagoa Bela eng befreundet sind und die sich gegenseitig als »Cousins« betrachten, war unter denjenigen, die daran beteiligt waren. Dafür spielte er auf seinem unter seinen Calen berühmten Akkordeon und sang ganz melodisch und langsam. Doch das Projekt wurde nicht umgesetzt, weil die darin involvierten Calen sich entschieden, die aufgenommenen Lieder doch nicht für ein breiteres Publikum öffentlich zu machen. Sie haben dann die Aufnahmen für sich behalten. Abbildung 11: Zusammenspiel bzw. -singen bei Calen, RN (90er Jahre)
Quelle: persönliches Archiv eines anonymen Gesprächspartners
Als ich die Ciganos in RN nach dem Wort Jaimpem fragte, hatte keiner von ihnen davon gehört. Jedoch ist ihnen das Zusammensingen und -spielen sehr bekannt. Im Jahr 2010 bin ich mit Dagoberto in die Siedlung seiner Mutter und Schwester gefahren, die an einer gewaltigen Kreuzung liegt. In der Nähe des Ortes war Seu Caetano, der vor wenigen Tagen angekommen war. Er und »seine
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Gruppe« hatten das etwa 60 Kilometer entfernte Dorf Santa Clara verlassen, wo sie wohnten, bis sein Sohn gestorben war. An jenem Nachmittag kamen wir neben einem Auto zusammen. Einer der Jungen fragte nach der Gitarre. Die anderen meinten, er sollte sie holen. Zehn Minuten später erschien er mit einer gut gepflegten Gitarre, auf der sie abwechselnd spielten, während der eine oder der andere sang. Ähnliche Szenen beobachtete ich bei Calon-Hochzeitsfesten in BA und bei alltäglichen Situationen. Calon-Lebende und ihre verstorbenen Angehörigen tauschen sich nach dem Reziprozitätsprinzip und auf Augenhöhe aus, und in letzter Instanz haben die Toten recht, da sie nicht mehr doppelt existieren, während ein Calon sich gelegentlich durchaus wie ein Juron verhalten kann bzw. mit Jurons Umgang pflegen muss. Die »Calon-Toten« haben das Privileg, dies nicht mehr machen zu müssen, und deswegen bilden sie für ihre Lebenden eine vorbildliche Quelle an Integrität und Reinheit. Das kann man auch schon beim Vorgang des Älterwerdens wahrnehmen: Je älter man wird, desto weniger Kontakt zu Jurons hat man im Allgemeinen. Das konnte ich überall spüren, die ältesten Leute sprachen deutlich weniger mit mir als alle anderen. Es gibt aber auch eine Zeit des Lebens, in der man viel mehr Kontakt mit Jurons hat bzw. sucht. Doch vor der eigenen, aus der Untrennbarkeit eines Calon mit seinen eigenen Lebenden und Toten gebildeten Calon-Welt stehen die anderen zugleich als Mittel und Hindernis. Diese Welten bilden keine festen Gemeinschaften, da selbst die Trauernden unter sich in Konflikt geraten können, insofern sie weiterleben.
5.4 DIE WELTEN DER ANDEREN UND ENTSPRECHENDE TAUSCHKREISLÄUFE Der andere ist ein Sie, er ist »dasjenige Volk« bzw. »diese Leute« (essa gente) und steht einem Wir/Uns gegenüber. Jedoch ist dieses Sie selten absolut, sondern eher relativ. Alle Lebenden können prinzipiell irgendwann dazu übergehen, zu »ihnen von dort« zu gehören, wenn die Bilanz der gegenseitigen Austauschbeziehungen zwischen zwei oder mehr Calon-Individuen aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es handelt sich hierbei um eine Kluft, die sich selbst zwischen Geschwistern auftun kann und die häufig dadurch Ausdruck findet, dass man sich innerhalb der privaten Sphäre voneinander abgrenzt. Der Abstand in Bezug auf das Anderssein schließt sowohl andere Calen als auch Jurons ein und tut sich zwischen ihren jeweiligen Welten auf, die sich zwar überschneiden, aber andere Umgangsformen bzw. Tauschmodalitäten beinhalten und diese einfordern. Diese beiden Welten sind für Nathanael und seine Gruppe
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Quellen für sowohl Stabilität als auch Störung. Beide ermöglichen und behindern das Sich-in-Sicherheit-Bewegen von Nathanael und seinen angehörigen Calen. Sei es als Juron oder als anderer Calon, mit dem anderen verbindet sich immer eine Geschichte, die sich potenziell ergeben und entfalten kann; an ihn knüpfen sich Änderungen, die zu unbekannten Schicksalen führen können. Sie können die Integrität der eigenen Welt sowohl innovieren und verstärken als auch gefährden. Wenn sie als andere Veränderungen mit sich bringen, die nicht auf geeignete Weise in den eigenen Fluss bzw. nach eigener »Disziplin« bzw. »Tradition« rituell eingeführt werden, dann stellen sie potenzielle Unannehmlichkeiten aller Art dar. Ein Calon weiß daher ganz gut, dass er zurechtkommen und herausfinden muss, wie man sich zwischen diesen Welten bewegen und mit ihren jeweiligen, vielfältigen Akteuren umgehen soll. Deswegen benötigt jeder Calon die Erkenntnis, wenn er die Welten des anderen in relativer Sicherheit aufsuchen oder vermeiden will. Im Folgenden versuche ich, einige grundsätzliche Aspekte dieser weiteren Welten, insbesondere ihrer Moralitäten und spezifischen Modi des Tauschs aus einer Calon-Perspektive zu begreifen und zu präsentieren. Dabei stütze ich mich auf Nathanaels Narrativ und auf weitere eigene Beobachtungen. 5.4.1 Die Jurons Jurons werden unter Calen kaum thematisiert, die meisten Calen interessieren sich so gut wie gar nicht für das, was bei ihren Juron-Nachbarn vor sich geht. Im Allgemeinen ignorieren Calen die Jurons in ihrem Alltag, sodass sie als Personen, wie ich es während meines Feldforschungsaufenthalts häufig beobachten konnte, meistens im Hintergrund des Lebens des Ciganos auftreten. Bei allen der von Nathanael erzählten Begebenheiten, die sein Bild eines sukzessiven, kontinuierlichen Gehens-und-Haltens ausdrücken, sind Jurons in allen möglichen Formen zu finden: Sie sind die Landbesitzer, die Tiere, die Städte und Dörfer, die leeren bzw. verlassenen Gelände, die Landstraße, die Abstände, ihre Waffen, Häuser, die Autos, die Wege, die Musik, die Feste, die Haushaltsgeräte, die DVD- und CD-Player usw. Die Welten, die die Jurons erschaffen, und all das, woraus diese Juron-Welten bestehen und zwischen denen Calen überall zu finden sind, werden jedoch i.d.R. ohne den geringsten Bezug auf die Welten der Calen konstruiert. Die Jurons sind somit gewissermaßen aus dem Alltag der Calen zugleich gelöscht, obwohl oder gerade deswegen, weil sie Teil von allem sind. Wenn das alles aber in den Augen der Calen als Zeichen der Juron-Omnipräsenz ihnen gegenüber betrachtet werden kann, werden die Welten der Jurons
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von Calen umgekehrt grundsätzlich als eine Art wilde Natur angesehen und ihnen wird in der Tat auch so begegnet – vergleichbar mit Cāğe (Nichtroma bzw. Juron) bei Leonardo Piasere (vgl. 1985, 139) auf die slowakischen Roma in Italien, bei Williams (vgl. 2003 [1993]) auf die Manusch oder bei Tauber (vgl. 2014 [2006]) auf die Sinti Estraixarias bezogen. Williams fasst dies in seiner Rezension der Monografie von Piasere (vgl. 1985) wie folgt zusammen: »L. Piasere se propose en fait de décrire la conception du monde des Roma, au double sens du terme: acte de génération et acte de cognition. ›L’impératif catégorique des Roma est de rester Roma au milieu des Cāğe‹ (p. 143): ils doivent construire un monde dans lequel leur existence est possible. L’identité tsigane ne peut être perçue comme un donné immuable, garanti par un enracinement — leur terroir est toujours celui de l’Autre — ou par une mythologie: ›le monde du divin est un monde produit par les Cāğe‹ (p. 256). Les Roma répondent à cette difficulté de la manière la plus universelle qui soit, en inventant une distinction entre nature (les Autres, les Cāğe) et culture (Nous, les Roma). Le concept clé du livre est celui d’›humanité-nature‹. Plutôt qu’un milieu, Piasere désigne par là le résultat du travail symbolique qu’accomplissent les Roma pour se distinguer de la société englobante. La position centrale assignée à ce concept se révèle parfaitement efficace: tous les domaines de vie sont abordés, la cohérence des pratiques est mise au jour.« (Williams 1987, 187)
Auch wenn die Juron-Welt bei den Calen einen natürlichen Charakter annimmt, schließt diese Historizität nicht aus. Obwohl ich hier von Natur rede, um die Juron-Welt aus Calen-Sicht metaphorisch zu beschreiben, bedeutet Natur bei den Calen etwas anderes als das, was die modernen Jurons i.d.R. darunter verstehen: Natur ist nichts, was außer mir besteht bzw. von mir getrennt werden kann, und nichts, was von mir als ein Gegenstand bzw. eine Gesamtheit von Wesen vor meinem eigenen Störungspotenzial bzw. meinen produktiven Lebensaktivitäten geschützt werden soll. Natur schließt nach dem Verständnis der Calen sie selbst mit ein. Sie steht u.a. für all das, von dem man leben kann, und für das Leben selbst, einschließlich des Lebens des Ciganos als untrennbaren Teil davon. Außerdem bedeutet Natur als Diskurs eine Juron-Manifestierung und erscheint ihnen deswegen in erster Linie als konstitutiver Teil einer Juron-Welt. Während die Natur für moderne Jurons mit der Abwesenheit von Geschichte und Zeitlichkeit und stattdessen i.d.R. als zyklische Ereignisse (Leben, Reproduzieren, Sterben…) charakterisiert wird, ist die Juron-Welt für die Calen vollständig von menschlichen Attributen geprägt. Bei den Calen ist die Juron-Welt keine Welt, in der alles gegeben bzw. fertig ist und mechanisch vorhersehbar wieder-
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holt wird: Eher ist sie hier eine Welt des Unvorhersehbaren, voller Geschichte und des vielfältigen Werdens. In diesem Sinne betrachten die meisten Calen die Jurons i.d.R. sowohl als unverzichtbare Quelle, um materielle Ressourcen zu erwerben und Schutz zu suchen, als auch als zu vermeidende potenzielle, latente Gefahr. Aus Juron-Welten ziehen die Calen zahlreiche Elemente heraus, die von ihnen zunächst domestiziert (d.h. vercalonisiert) werden müssen, wobei zugleich ihre eigene Calon-Welt geschaffen wird. Diesen Vorgang des Anzüchtens von Bestandteilen aus JuronWelten bei den Calen nenne ich in der vorliegenden Arbeit Vercalonisierung. Diesen Terminus lehne ich an den Begriff der Vergesellschaftung (vgl. Simmel 1992 [1908]) und die Selbstbezeichnung der Calen als Calon bzw. Cigano an. Vercalonisierung ist also das Erschaffen einer (Calon-)Welt, indem Elemente aus Juron-Welten herausgezogen und mittels Calon-Institutionen und daher mittels ritueller Umwandlungsarbeit »zu einer lebensdienlichen Kultur« neu eingeordnet werden, um Bargatzky zu erwähnen: »In den hier betrachteten, phänotypisch äußerst vielgestaltigen menschlichen Symbioseformen geschieht diese Anverwandlung der Natur auf charakteristische Weise im Rahmen einer mythischen Weltauffassung in Form der Verschränkung der Bereiche Natur, Produktion, Gemeinwesen, Politik und Religion durch das Einhalten des ›Weges‹, wodurch Urstiftungshandlungen (Archái) übermenschlicher Wesen als ›Verfassung‹ des Welthauses gegenwärtiggesetzt werden. Dadurch erhalten diese Symbioseformen ein bestimmtes Gepräge, so daß es angemessen erscheint, zu ihrer Bezeichnung einen eigenen Terminus technicus, ›urproduktive Gesellschaften‹, zu wählen.« (Bargatzky 2007, 103)
Ich argumentiere hier, dass die Calen nur dann in der Lage sind, sich diese Juron-Materialien anzueignen, wenn sie die umgebenden Juron-Welten selbst erkunden oder wenn jemand, der sich damit auskennt, ihnen dabei als Vermittler zur Verfügung steht. Die Erkenntnis ist hier ein Navigationsinstrument, durch das man sich auf, um und zwischen bereits sozial konstituierten Wegen, bewohnten Orten, vernetzten Territorien und etablierten Bräuchen bewegen und darüber austauschen kann. Allerdings sollen die Calen, wie etwa die Manusch, auf keinen Fall als Wettbewerber der Jurons angesehen werden:Die Calen haben prinzipiell keinerlei Bedürfnis, wie die Jurons zu leben und das zu kopieren, was diese tun bzw. produzieren. Für die meisten Calen sind die meisten Jurons nichts anderes als Teile mehrerer Landschaften, zudem stehen sie nicht auf derselben Ebene, auf der sie sich selbst befinden. Doch weil die Jurons von vornherein in die Calon-Welt eingetaucht leben, muss dieser Abstand zu den Jurons von den Calen im Alltag
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immer wieder aufs Neue geschaffen und behauptet werden, indem die Calen sich auf vielfältige Weise von der großen Masse durchschnittlicher Jurons abgrenzen. Im Rahmen ihrer Grenzziehung scheinen die Calen die Jurons in zwei Kategorien einzuteilen: eine, zu der der Durchschnitt der Jurons, die große Masse, gehört; und die andere, zu der spezielle Persönlichkeiten aus der Juron-Welt gehören. Während die Ersteren von den Calen i.d.R. verachtet oder ignoriert werden, werden die Vertreter der zweiten Kategorie bewundert, respektiert und manchmal sogar nachgeahmt. Die Ersten sind die Jurons, denen man ständig im Alltag begegnet, während die Zweiten kaum persönlich zu sehen, sondern meistens im Fernsehen oder auf CDs zu hören sind. Dazu gehören z.B. berühmte Musiker, Schauspieler und entsprechende Charaktere. Im Kontrast zu den Ersten haben die Zweiten einen eigenen, starken Namen unter den Calen. Von ihnen können die Calen netterweise noch behaupten, sie seien keine Jurons, sondern sie sind wie Calen… Zu dieser zweiten Gruppe gehören letztendlich auch Gegenstände und Lebewesen aus den Calen-Welten wie Autos, Tiere, Musikinstrumente, Bäume, Bauernhöfe und Speisen unter endlos anderen, die zum Objekt der Bewunderung werden. Wenn Nathanael hier von der Kenntnis, die man hat, spricht, dann redet er auch über einen sehr konventionellen Calon-Modus der Selbstlokalisierung, Benennung und Präsentation sowohl unter Jurons als auch unter anderen Ciganos. Zu der Erkenntnis, die man hat, durch die man Geschäft machen und zugleich Schutz bzw. »Unterstützung« (apoio) organisieren kann, gehört deswegen nicht nur, andere Leute einer angegebenen Ortschaft kennenzulernen, sondern auch, unter diesen bekannt zu sein (zu werden) bzw. sich bekannt zu machen. Für die Menschen der Ortschaft, die Nathanael und seine Calen aufzusuchen planen, um ihre Zelte dort aufzuschlagen, sind sie deshalb wiederum keine wirklich Unbekannten; obwohl sie oft von Ansässigen als ewige Fremde bzw. bekannte Unbekannte angesehen werden. Dort, unter denjenigen Jurons, haben die Calen schon einen Platz, zu dem sie noch fahren werden. Nicht nur die Namen der Geschäftsleute in einer bestimmten Gegend zu kennen, sondern sich auch einen eigenen Namen in einer angegebenen Ortschaft zu machen, ist darüber hinaus eine grundsätzliche Voraussetzung, um Geschäfte machen zu können, und letztlich auch, um in der Nähe von Jurons in Ruhe zu leben. Ein eigener Name dient somit dazu, unter Jurons eine Fassade (vgl. Goffman 1959) zu etablieren, die mehreren Juron-Personen und potenziellen Geschäftspartnern bekannt ist. Deswegen haben die Calen i.d.R. einen anderen Namen, sozusagen einen Namen-für-die-Jurons, so wie dies in vergleichbaren Kontexten zu finden ist (vgl. Piasere 1985; Williams 2003 [1993]; Tauber 2014 [2006]). Unter Jurons nennt sich z.B. Tico »Giuseppe« (der Name, der auf sei-
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nem Identitätsausweis steht), Roland ist in seiner Umgebung als »Fernando« bekannt, Dagoberto heißt »Esmeraldo« oder »Francisco« und Aparecida wird in Pedrosa »Vera« gerufen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Calen, die den Nachnamen »Cigano« übernehmen, vor allem, wenn sie gewöhnliche Namen haben: Ricardo wird zu »Ricardo Cigano«; Fábio wird zu »Fábio Cigano« usw. Das Wort »Cigano« als Nachname erhält oft auch den Vorzug im Fall von Künstlernamen von Cigano-Musikern bzw. Sängern. »Die Nichtciganos«, sagt Nathanael,8 indem er sich auf sich selbst und seine Gruppe in der dritten Person bezieht, »wussten, dass diejenigen Ciganos gute Ciganos waren, keine Unruhestifter.« Darüber hinaus ist es bei manchen Calen üblich, lokale Polizeiautoritäten aufzusuchen, um mit diesen z.B. eventuell zu gewährenden Schutz bzw. gegenseitige Unterstützung auszuhandeln. Diese Polizisten können bei einigen Calen sogar einen respektvollen Namen haben, wie die Beziehung zwischen Tico und dem lokalen Polizeichef verdeutlicht: Einmal, als Horácio, ein Schwager von Tico, und ich aus seinem keh zu dem von Tico gingen, sahen wir, wie sich ein Mann von Tico verabschiedete und in einem Auto wegfuhr. Horácio hat diesen Mann noch von Weitem als Polizist erkannt und fragte Tico, ob der Polizist Ärger wollte. »Doktor Rodrigo«, antwortete Tico, indem er seinen Namen stark und langsam betonte – und dadurch Respekt signalisierte – »war nur zu Besuch«; Tico wollte von dem Kommissar Rodrigo u.a. wissen, ob seine persönlichen Calon-Feinde, die etwa 200 Kilometer entfernt wohnen, von ihm festgenommen werden könnten. Obwohl Jurons als Einzelne genommen sowohl als positive als auch als negative Vorbilder wirken können, gehen die meisten Calen prinzipiell keine moralische Verpflichtung bzw. Kompromisse mit Jurons ein, zumindest nicht auf einer kollektiven Ebene. Im Sinne von einer »Kraft« (força) den Ciganos gegenüber seien die Jurons lediglich atomisiert, fragmentär, bilden keine Einheit bzw. keine »moralische Person«, bestehen aus kleinen Familien, die gegen Ciganos (als Einheit) nichts ausrichten können, seien also kraftlose Individuen. Als Außenstehende in Bezug auf die partikularen solidarischen Calon-Netze schätzen die Calen die meisten Jurons nicht selten als schwach ein.9 Um diesen NiemandStatus zu verstärken, sprechen die meisten Calen die Namen der Jurons nicht
8
Nathanael benutzt den Ausdruck Nichtcigano hier meinetwegen, da ich diesen manchmal verwendet habe und er ihn dadurch aufgenommen hat. Andere CalonErwachsene sind bei diesem Gespräch nicht anwesend.
9
Die Polizei scheint als Körperschaft eine Ausnahme zu sein, da die Calen sie als sehr vereint und stark ansehen.
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aus, wenn sie untereinander z.B. von einem Juron reden. Sie sprechen dann eher vom »Bäcker«, dem »Arzt« … oder einfach »von dem Juron«. Die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Juron-Welten scheinen für viele Calen häufig eher von Leere und Desinteresse geprägt zu sein, obwohl es überall Jurons gibt. Sowohl die Jurons als auch ihre Lebensweise und ihre Werke sind als Gesamtheit von Kollektiven prinzipiell nicht zu respektieren und daher auch nicht nachahmenswert, vor allem, weil sie an dem System des Respekts unter den Calen nicht teilnehmen. Insbesondere eine weitere Differenzierung, den Nathanael vornimmt, kann helfen, dieses Argument zu untermauern: Für ihn liegt der Unterschied zwischen Calen und Jurons darin, dass »der Cigano handelt«, während Jurons [im Gegensatz dazu] »arbeiten«. Das Geschäftemachen bezieht Nathanael hierbei auf die Vercalonisierung fertiger (gegebener) JuronMaterialien in eine Calon-Welt, die aus der Perspektive der Toten schon geschaffen und perfekt ist, die aber aus der Perspektive der Lebenden etwas ewig im Entstehen begriffen ist. Um die Ressourcen, die ein Calon haben will bzw. braucht, aus seiner umgebenden Juron-Welt einseitig (ohne also unbedingt eine Gegenleistung erbringen zu müssen) herausziehen zu können, soll der Calon dem Juron hauptsächlich zuvorkommen, was immer auch eine Form des Löschens bzw. Abweichens ist. Das Antizipieren ist prinzipiell ein Zeichen von Kompromisslosigkeit und daher von Verachtung bzw. Respektlosigkeit, während die Nachahmung ein Zeichen von Kompromiss und daher von Loyalität, Respekt bzw. einer sympathischen Bindung ist. Die Geschäfte, die von den Calen unter Jurons betrieben werden, sind gewissermaßen lediglich Einweggeschäfte. Im Gegensatz zum totalen Austausch sind Calon-Beziehungen zu Jurons grundsätzlich auf eine oft rein kommerzielle Ebene von Austausch oder lediglich darauf beschränkt, für Sicherheit zu sorgen. Wenn die Calen mit Jurons handeln, geht es meistens also um einen modernen »einfachen Austausch von Gütern, Reichtümern und Produkten im Rahmen eines zwischen Individuen abgeschlossenen Handels«, wie Mauss es beschreibt (1990 [1923], 21). Aus einer emotionalen und relationalen Perspektive werden die JuronWelten und ihre reduzierten, beschränkten, einseitigen Beziehungen zu den Calen darüber hinaus als unfruchtbar angesehen und behandelt. Die Welt der Jurons ist völlig von ihren Wörtern (mündlich, diskursiv, aber auch schriftlich) geprägt, diese bedeuten in ihrem Übermaß für die Ciganos eigentlich wenig; auch weil diese überall zu findenden Wörter bzw. Namen in einer Calon-Welt emotional nicht verankert sind, sondern sich außerhalb davon in einseitigen, bilateralen zweifelhaften Handlungen auflösen. Das schließt allerdings nicht aus, dass ein starker Mangel an (moralischen, politischen, wirtschaftlichen) Kompromissen
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mit der Juron-Welt z.T. auch als eine Art Reaktion auf bzw. Folge von historischen, langfristigen asymmetrischen Beziehungen zwischen Jurons und Calen angesehen werden kann (vgl. u.a. Corrêa Teixeira 2007 [2000]; Borges 2007; Moonen 2008). In jedem Fall handelt es sich dabei um andere Moralitäten und entsprechende Verhaltenscodices, die die meisten Calen beachten und die ihre eigene Integrität vor den Wechselfällen der Juron-Welt zu schützen scheinen. Die Moralitäten der Calon- und der Juron-Welten differieren daher stark voneinander. Es ist nicht schwer zu erkennen, inwieweit ein Calon von vielen der zentralen moralischen Zwänge, nach denen Jurons allgemein ihr persönliches Verhalten im täglichen Leben ausrichten, nicht (unbedingt) betroffen ist, vor allem, wenn sich diese in Gegenwart von anderen Calen befinden. Prestige kann unter den Calen manchmal sogar dadurch erworben werden, dass sich ein Calon einem Juron gegenüber überheblich verhält, während sich ein Verlust an Prestige ergibt, sobald andere Ciganos erfahren, dass ein Calon mit einem Juron auf gleicher Ebene Umgang pflegt. 5.4.1.1 Vom Begrüßen und Einladen als zwei der Calon-Dinge, die keine Oberfläche haben Sowohl in Pedrosa als auch in Lagoa Bela wie in ihren jeweiligen CalonUmgebungen waren junge Calen oft in der Stimmung, auf Juron-Partys zu gehen, wo und wann immer sie stattfanden. Währenddessen bevorzugten viele ältere Calen, entweder zu Hause, in bekannten Bars oder bei kleineren Gelegenheiten, wie bspw. bei Kindergeburtstagspartys oder ähnlichen Anlässen zu trinken. Doch in dem ganzen Bundesland BA erregt von allen Generationen und Geschlechtern der Calen keine andere Party so viel Aufmerksamkeit wie ein »Cigano-Hochzeitsfest« (casamento Cigano). Ähnlich verhält es sich unter den Calen im Bundesland RN, hier jedoch ist es das »Cigano-Weihnachtsfest« (Natal Cigano). Selbst die großen Feierlichkeiten wie die vom Heiligen Johann (Festa de São João) im Juni erhalten im Vergleich dazu eine geringere Beachtung. Überall in RN, verstreut in Städten und Dörfern, ist es deshalb möglich, zahlreichen Calen zu begegnen, die gern von »dem Weihnachten der Ciganos« reden: »Du musst unbedingt zum Weihnachten der Ciganos kommen, damit Du sehen kannst, was für eine Party wir machen!« Wie einige von ihnen mir gesagt haben: »Willst Du wissen, wie die Ciganos leben? Dann komm doch zum Weihnachtsfest.« Über die Hochzeitsfeste in BA habe ich ähnliche Aussagen gehört. Viele Calen in BA sprechen von Cigano-Hochzeitsfesten häufig so, als ob sie eine Art Sehenswürdigkeit darstellten, die man unbedingt kennenlernen und erleben sollte. Diese und weitere ähnliche Aussagen habe ich zu vielen verschiedenen Anlässen hauptsächlich in den ersten Monaten meiner Feldforschung von
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mehreren Calen gehört. Es hörte sich im Endeffekt so an, als wären diese Feste eine einzigartige Gelegenheit, bei denen die Calen sich selbst zeigen können, ohne unbedingt mit den gewöhnlichen Ambiguitäten des alltäglichen Lebens umgehen zu müssen. Die Calon-Feste erscheinen dadurch als Visitenkarten, die ihre gezeigten Kulturen (vgl. Streck 2007a) am deutlichsten zum Ausdruck bringen. Später musste ich nicht mehr eingeladen, sondern lediglich davon in Kenntnis gesetzt werden. Wie ich dann erfuhr, entsprechen die zu Cigano-Festen eingeladenen Gäste i.d.R. eben jenen Personen, die von Ciganos sonst durch Namenlosigkeit ausgeschlossen bleiben bzw. die nicht zu ihrer Calon-Welt gehören. Jeder Calon kann diejenigen Jurons, zu denen er irgendeine Art von Affinität entwickelt und pflegt, zu einem Weihnachtsfest oder einer Hochzeit einladen. Auch Personen, die man kaum kennt, können eingeladen werden, soweit die Calen von ihnen einen guten Eindruck gewonnen haben. Darüber hinaus freuen sich die Calen, wenn eingeladene Gäste weitere Gäste aus eigenen Kreisen mitbringen, da ein Fest dadurch noch größer werden kann. Die Calen hingegen laden sich gegenseitig nicht ein: Nur Jurons werden zum Weihnachten der Ciganos eingeladen. Somit wirkt das Einladen von Nichtcalen unter den Calen als ein Mittel, das die Integration der Jurons als Gäste bei ihren Festen ermöglicht. Andererseits bleiben die Jurons dadurch gerade als Gäste von jeder Calon-Welt ausgeschlossen. Aus einer Juron-Perspektive mag das ein Paradox implizieren, aus Calon-Sicht ergibt es sich jedoch als natürlich und selbstverständlich. Im Gegensatz dazu werden die Calen von diesen Festen unterrichtet bzw. wird ihnen als eine Art Hinweis davon erzählt. Sie wissen schon, um wen und um was es geht. Vor allem diejenigen Calen, die den Calon-Organisatoren am nächsten stehen, werden dann etwa verpflichtet oder dazu herausgefordert, daran teilzunehmen, da ein Fernbleiben, oder manchmal selbst eine passive Teilnahme, gewissermaßen als Zeichen von Distanzierung bzw. Unfreundlichkeit gewertet werden könnte (aber nicht unbedingt muss), obwohl das selten mündlich geäußert wird. Einen Schlüssel zum Verstehen dieses Nichteinladens unter Calen als gegenseitiges Auffordern und daher als eine Calon-Haltung, die zu einem Calon-Code gehört, bietet Tauber, wenn sie die Aufforderung zum Essen bei den Sinti als analog zum Nichteinladen und zugleich als kontrastiv zum Einladen beschreibt: »Das Entscheidende im Alltag der fließenden sozialen Beziehungen [unter den Sinti] ist, sich gegenseitig zum Essen aufzufordern. Es ist eine Aufforderung, ein Imperativ, keine Einladung. Eine Einladung provoziert Fremdheit […], weil sie formal ist, sie erzeugt Kälte, es ist schon zu viel gesagt oder getan worden, und die Situation wird roh. Wenn hinge-
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gen diese selbstverständliche Aufforderung ausgesprochen wird, sind die sozialen Beziehungen zwischen den Sinti entspannt und die Beteiligten können im gemeinsamen Reden mit der Arbeit, der Auswahl, Interpretation und Reflexion über die Dinge dieser Welt beginnen.« (Tauber 2014 [2006], 113)
Die Calon-Annahmebestätigung dieser Calon-Aufforderung, die die ausgeschlossenen Jurons nicht wahrnehmen, weil diese für sie codiert ist, sichert den Calen die Entspannung, die es ihnen sowohl im Rahmen ihrer Feste als auch in ihrem Alltag ermöglicht, sich miteinander »über die Dinge dieser Welt« (ebd.) in Ruhe weiter zu unterhalten. Wie ich in diesem Kapitel auch zeigen möchte, bestehen die Calon-Feierlichkeiten aus dem zahlreichen Auf- und Abbauen von Spannungen, die durch Calon-Aufforderungen im Laufe ihrer Partys sowohl ausals auch aufgelöst werden wie bspw. beim gemeinsamen Trinken und Tanzen zwischen den Calen, da diese bei den Calen gleichfalls als ein gegenseitiges Auffordern angesehen werden können. Diese Abgrenzung zwischen Calen und Jurons durch Einladungen ist zudem vergleichbar und analog zur Nichtbegrüßung unter Calen. Das ist eine sich wiederholende Szene, die ich im Alltag mehrfach beobachtete: Wenn ein Calon sich einem Calon-Kreis nähert, sagt er im Gegensatz zu Jurons nichts, sondern setzt sich selbst schweigend hin, als ob er dort schon gewesen wäre. Williams erzählte mir persönlich einst, dass es bei den Manusch auch keine Begrüßung gebe, wenn ein Manusch von irgendwoher auftauche und sich einer Manusch-Gruppe anschließe. Übrigens schien Ähnliches bei den Calen noch in Bezug auf das Essen oder Trinken zu passieren: Man fragt nicht nach. Sicherlich wäre es möglich, diese Handlung anders zu deuten. Vielleicht geht es eigentlich nicht darum, dass es keine Begrüßung gibt, sondern darum, dass diese anders praktiziert wird. Das Sich-gegenseitig-Erblicken könnte z.B. unter Calen in Begegnungskontexten als minimale Art der Begrüßung verstanden werden, die die Jurons nicht wahrnehmen und deswegen für inexistent halten. Wie aber Williams schon angemerkt hat, werden Ciganos oft aufgrund eines Mangels an Bräuche falsch charakterisiert (und kein gegenwärtiger Forscher möchte in die gleiche Falle tappen). Wenn ich das Sich-gegenseitig-Sehen der Calen in solchen Situationen flüchtig bemerke, kann ich möglicherweise besser verstehen, was Williams meint, wenn er schreibt, dass die Dinge für die Manusch keine Grenzen haben (vgl. Williams 2003 [1993], 1). Ich stelle mir dann vor, dass ich entweder entsprechende Signale einfach nicht erfassen konnte oder dass es tatsächlich keine Grenze zwischen den ankommenden und den schon anwesenden Calen gibt: Die Calen, die an einem bestimmten Moment ankommen, hatten diejenigen, mit denen sie zusammengehen, nicht verlassen. Jedenfalls können die
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Calen dadurch Außen-stehende schneller identifizieren und damit ihre gemeinsame Grenze den Jurons gegenüber aufrechterhalten. In diesem Fall nimmt das Nichtbegrüßen unter Calen die Form eines Zeichens an, das auf ein Kontinuum zwischen Leuten hinweist, die zusammengehören oder die als Calon anzuerkennen sind. Es geht hier dann nicht nur um diejenigen Calen, die sich voneinander als ununterscheidbar betrachten und sich als solche begegnen, sondern auch um Ciganos, die sich – wie bspw. bei einigen anderen Ciganos – lediglich kennen und erkennen, und die sich in Bezug aufeinander im Zustand des Friedens befinden. Somit wird eine Zusammengehörigkeit als Kollektiv den Jurons gegenüber als Grenze ausgedrückt, praktiziert und verwirklicht. 5.4.2 Die anderen Calen Wenn dieses Bild einer an der Kenntnis orientierten und kontinuierlichen Bewegung in Sicherheit, das Nathanael flüchtig präsentiert, sich einerseits auf die Welt seiner Toten (d.h. seine sichere, stabile und zeitlose bzw. immer gegenwärtige Welt) und andererseits auf eine sich verändernde Juron-Welt im Allgemeinen (mit ihren endlosen Vernetzungsmöglichkeiten) bezieht, schlägt dasselbe Bild zusätzlich vor, dass dieses Kontinuum auch als Teil einer spezifisch zugeordneten Calon-Zivilisation und Geopolitik betrachtet werden kann: eine Zivilisation und eine Geopolitik, geschaffen inmitten von Jurons und mit Unterstützung ihrer eigenen Toten. Indem Nathanael behauptet: »Cigano hat viel Gefühl« (Cigano tem muito sentimento), betont er den gegenseitigen Kompromiss, den die Calen prinzipiell miteinander eingehen, wenn sie gemeinsam sowohl in schwierigen als auch in guten Zeiten verkehren. Wenn Nathanael die Calen als Leute definiert, die viel Gefühl haben, positioniert er die Jurons durch Exklusion zugleich und ohne Ambiguität als statuslose Außenstehende. Im Gegensatz zu Jurons stehen die Calen untereinander prinzipiell auf derselben Ebene; sie haben den gleichen Status als »Cigano«. Allerdings ist Gefühl, wenn Nathanael die Calen von den Jurons durch Gefühl abgrenzt, in Bezug auf die Calen im Allgemeinen mehrdeutig. Gefühl bedeutet nicht nur eine respektvolle Haltung und ein Zeichen von Trauerarbeit, sondern ist auch ein Ausdruck, der eine Art solidarische Wirtschaft (im weiteren Sinne) adressiert, in der diese Haltung und Trauerarbeit, und andere Formen des Zusammenlebens, als Grundsäulen wirken. Solidarität und Kollaboration zwischen Calen sind von grundsätzlicher Bedeutung innerhalb einer Welt voller Jurons, um unter den Jurons als Calon leben und ein solcher bleiben zu können. »In Gefühl [zu] sein« erscheint als Voraussetzung dazu, liturgisch zu
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handeln: »Phänomenologisch stellt sich das liturgische Handeln nicht anders dar, als durch die Reihe solcher Aktionen, die Mauss zu den Elementen des ›Systems der totalen Leistungen‹ zählt, also Tauschhandlungen aller Art wie Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Heiratsbeziehungen usw.« (Bargatzky 2007, 103f.) Nathanael bezieht sich nicht nur auf Hilfsbereitschaft und apoio, also Unterstützung, oder auf das Mitmachen und Zusammensein unter den Calen, sondern auch auf gegenseitige Treue unter den eigenen Calen – d.h. die der Ununterscheidbaren –, was diese von anderen Calen zur gleichen Zeit abgrenzt. Für die Calen sind ihre eigenen Calen (die Ununterscheidbaren) selbstverständlich mehr wert als alle (geistlich-materiellen) Dinge im Allgemeinen: Die Verbindungen zwischen den eigenen Lebenden und Toten sind wichtiger und sakraler als alles andere, was zwischen ihnen steht und i.d.R. aus Juron-Welten stammt. Wenn Nathanael jedoch von Gefühl spricht, werden auch die Calen in verschiedene (horizontale) Schichten unterteilt, sodass Gefühl relativ wird: Das Gefühl, welches die Grenze in Bezug auf Juron-Welten bildet, unterteilt auch diejenigen, die es benutzen, um diese Grenze Jurons gegenüber zu errichten. Somit entstehen unter den Calen mehrere Distanzen. Gefühl drückt bei Nathanael somit ein Paradox aus, das in verschiedenen Situationen beobachtet werden kann: Die Calen sehen die Juron-Welten als Natur an, aus der sie das Rohmaterial zum Gestalten einer eigenen Calon-Welt entnehmen, ohne dass die Jurons ihnen gegenüber als Konkurrenten (und damit also als Statuslose) auftreten. Die anderen Calen, die gleichfalls dieselbe Explorationsarbeit an den Juron-Welten verrichten und ihre jeweiligen Calon-Welten konstruieren – und daher auf demselben Niveau stehen und denselben Status als Calon besitzen –, gelten hingegen nicht nur als »Freund« (amigo), sondern auch als Gegner und manchmal gar als Erzfeind, obwohl die Calen prinzipiell an einer solidarischen Wirtschaft und gegenseitig respektvollen Haltung arbeiten. Deswegen sind die Calon-Welten gleichermaßen vielsprechend und bedrohlich, opportun und hinterhältig, sicher und gefährlich wie die umgebenden Juron-Welten selbst, aus denen und hinter deren Vordergrund sie von Calen konstruiert werden. Diese Spannung zwischen engen Solidaritäten und durchwucherndem Wettbewerb zwischen Calen werden im Rahmen von Cigano-Festen einschließlich der Calon-Beerdigungen, die ich hier als Calon-Potlatsches bezeichne, intensiv zum Ausdruck gebracht. Außerdem treten im täglichen Leben Solidaritäts- und Wettbewerbsformen auf, wie z.B. beim Geschäftemachen, was gleichfalls Tauschkreisläufe mit konstituiert. Die Gegenstände von Disputen unter Calen sind nicht »das Geld« (o radén) oder andere materielle Dinge der Juron-Welten an sich, sondern die Fähigkeit, sich diese Dinge im Alltag anzueignen und sie
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danach feierlich zugunsten ihrer eigenen Calen und neben anderen Calen opfern zu können. Das gehört zu dem, was Gefühl heißt; zum Leben des Ciganos (a vida do Cigano), wie Tico es beschreibt. Im Kontrast zum »einfachen Handel«, den man mit Jurons betreibt, drücken die Calon-Feierlichkeiten wesentliche Aspekte eines Systems der allumfassenden Leistungen aus: »Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten, seis als Gruppen auf dem Terrain selbst, seis durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auch auf beide Weisen zugleich. Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist. Schließlich vollziehen sich diese Leistungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenke, Gaben, obwohl sie im Grunde streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten oder öffentlichen Kriegs.« (Mauss 1990 [1923], 21f.)
Meist werden diese Calon-Tauschkreisläufe durch den Einsatz des eigenen Wortes ihrer Mitglieder (auch als Teil einer Gesamtheit von mündlichen Kulturen, die das Schriftliche ablehnen) im Hintergrund von anderen, koexistierenden (Juron- oder Calon-)Netzwerken gehalten. Sie basieren stark auf Vertrauen, Respekt und Komplizenschaft und bestehen aus gemeinsamen Interessen und familiären Bindungen, moralischen, ästhetischen und sprachlichen Codes sowie aus gegenseitigen rituellen Verpflichtungen. Unter allen Arten von Solidarität und Ausdrucksformen emotionaler Bindungen bzw. Kompromisse gehören zu einem Calon-Tauschkreislauf10 sowohl, zu spielen, zu scherzen, Musik zu machen, als auch viele verschiedene Arten von Wettbewerb bzw. Herausforderungen. Besonders im Rahmen von Feiern gewinnen die Grenzen zwischen eigenen Calen, anderen Calen und Jurons stärkere Konturen, da sie im Rausch der gezeigten Kultur (vgl. Streck 2003a, 2007a) sichtbarer und eindeutiger werden. Die hohen Beträge, die für große Feiern im Rahmen einer Cigano-Hochzeit, eines Cigano-Weihnachtsfestes oder bei anderen Cigano-Festlichkeiten ein-
10 Für eine vergleichbare Anwendung des Konzeptes Tauschkreislauf vgl. Lauterbach 2001, 104, und 2003, 113.
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schließlich der »Cigano-Beerdigung« (enterro Cigano)11 ausgegeben werden (d.h. vertrunken, aufgegessen, vertanzt, verwettet, verspielt, aufgeraucht, verfeiert, verfahren, zerstört, vergeben usw.), werden i.d.R. über mehrere Monate, manchmal Jahre hinweg und oft durch Handel mit Jurons spezifisch dafür erworben und zusammengespart, nicht selten auf Kosten vieler moralischer bzw. physischer Schwierigkeiten. Durch Anstrengungen, manchmal auch durch fragwürdige Handlungen (was immer auch davon abhängt, unter welchem Gesichtspunkt man es betrachtet), schaffen es die meisten Calen, sich die Mittel für ihre Zelebrierungen zu besorgen, die mit und aus Gefühl disziplinarisch gefeiert werden, und zwar durch die Erkenntnis, die man hat. Als inhärente Teile spezifischer Calon-Tauschkreisläufe entfalten sich Calon-Feierlichkeiten durch eine zyklische Zeitlichkeit. Sie beziehen sich auf die Calen in ihrem kollektiven Leben und im Gegensatz zur linearen Form, die das individuelle Leben annimmt. Mehrmals haben mir meine Bekannten unter den Calen vorgeschlagen, andere Calen in anderen Städten oder Dörfern zu besuchen, um sie kennenzulernen. »Geh nach Encruzilhada, dort sind viele Ciganos.« Dafür erklärten und rieten sie mir: »Wenn Du dort bist, gib ruhig die Kenntnis.« Das hieß oft, bei den noch Fremden die (richtigen) Namen meiner Ciganos zu adressieren und etwas über sie zu sagen; eine eventuell informelle Geschichte bzw. von persönlichen Merkmalen zu sprechen oder noch einfacher, Nachrichten zu überbringen. Ich fragte: »Wen soll ich denn suchen, wenn ich dort ankomme?« »Suche nach [X] oder [Y], erzähl von uns, sage ihnen, dass Du uns kennst und hier wohnst.« Diese kennenzulernenden Ciganos waren meistens Verwandte irgendwelchen Grades von denjenigen, die ich schon kannte und die diesen Hinweis immer wieder ausdrücklich erneuerten. Wichtiger als der Verwandtschaftsgrad zwischen bekannten und kennenzulernenden Calen war jedoch der Stand ihrer gegenseitigen Beziehungen: Während viele blutsverwandte Calen von meinen Calen als Feinde angesehen und als solche behandelt werden, werden manche nichtblutsverwandte Calen als Blutsverwandte respektiert.12 Alle Calen sind sich der Risiken durchaus bewusst, die man eingeht, wenn man die Erkenntnis (d.h. hier die Namen der guten Bekannten, Freunde und
11 Fotta erklärte mir einmal, dass ein Calon auch das Geld des Verstorbenen als »dissimuliert« (dissimulado) betrachten kann, d.h. als illusorisch. 12 Damit eröffnen sich erste Schritte für eine Betrachtung von Verwandtschaft als relationale Konstruktion statt als biologisch bestimmt, was auch mit der Gestalt des natürlichen Zigeunerbluts (sangue Cigano) als Essenz für die Calen eng zusammenhängt.
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Verwandten) in den richtigen Momenten nicht richtig weitergibt, durchaus bewuss. Etwas, was mich während einer Hochzeit oder Weihnachtsfeier überrascht hat, war die gewöhnliche Präsupposition vieler Calen mir gegenüber, dass ich alle Leute (d.h. alle Namen der Anwesenden) kannte, als ob es die natürlichste Sache überhaupt wäre (wie hätte ich sonst ein relativer Teil von diesem »Ganzen« sein bzw. daran teilnehmen können?). In solchen Kontexten, wenn sich viele Calen treffen, zeigt niemand, wer wer ist, man weist nie darauf hin, welche Calen dort drüben sind oder wie diejenigen heißen, die am selben Tisch sitzen. Und wenn sie mit dir oder untereinander reden, erklären sie auch nicht genau, wen sie meinen, weil man schon Bescheid wissen soll oder es in manchen Fällen nicht wissen darf. Obwohl die Calon-Tauschkreisläufe gewissermaßen oft regional begrenzt bleiben, wäre es nicht zutreffend, sie als komplett geschlossen zu betrachten. Angesichts ihrer Conditio als Lebende sind die Calen sowohl Calen als auch Jurons. Gerade deswegen geht es bei ihnen oft darum, sich in, zwischen und durch verschiedene Welten bewegen zu müssen. Die Calen sind konstitutiver Teil von ihnen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Weil diese Welten (der eigenen Calen, der Jurons und der anderen Ciganos) jedoch per definitionem antagonistisch sind, sollen die Calen sich bewegen, ohne unbedingt ihre jeweilige Grenze zu überschreiten, um potenzielle Konflikte und damit Trennungsbedrohungen zu vermeiden. 5.4.2.1 Grenzerkennung zwischen Calon-Tauschkreisläufen Wo liegen die Grenzen dieser solidarischen Wirtschaft und des Zusammenlebens unter den Calen? Die verschiedenen Distanzen zwischen Calen lassen sich unter drei Aspekten differenzieren: erstens auf einer regionalen, territorialen und rituellen Ebene; zweitens als Distanzen innerhalb eines gemeinsamen Tauschkreislaufs; und schließlich auf der Nachbarschaftsebene. Nathanael spricht hier von dem »System« (sistema), das er schon kennt; ihr System, das in seiner Umgebung (setor) besteht und gilt. Nathanael und seine Geschwister sprechen bspw. mit deutlicher Verachtung von den »Ciganos Mineiros«,13 von denen sie nichts wissen wollen und die sie als Feinde betrachten. »Sie sind sehr böse, sie mögen ihre Mädels nicht«, sagte er mir. »Wenn bei ihnen ein weiblicher Säugling geboren wird, geben sie das Baby weg; sie gehen zu
13 Mineiros heißen in Brasilien diejenigen Leute, die aus dem brasilianischen Bundesstaat von Minas Gerais stammen bzw. dort geboren wurden oder leben.
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irgendeinem Gesundheitszentrum und geben den Säugling weg; sie wollen nur männliche Babys haben; sie sind Feiglinge und unzuverlässig«, bestätigte mir Tico, sein Bruder. Diese Meinung war in dem Lager relativ oft zu hören. Dieser Ärger scheint verständlich zu sein, besonders wenn man erkennt, dass Mitgift eine spezifische Rolle spielt in dem System, dem Nathanael, seine Brüder, Cousins und jeweiligen Familien angehören: Wenn die Mädchen von ihren Vätern verheiratet werden, bringen sie eine Mitgift mit, die ihr Vater ihnen gibt. In der Regel ziehen die verheirateten Mädchen in die Nähe der Kernfamilie ihres Ehemannes (Rom), wo nicht selten auch seine Geschwister und Eltern angesiedelt sind. Dieses System, das von einer Minderheit unter einer Mehrheit durchgeführt wird, bei der offiziell keine Mitgift mehr geleistet wird, wie im modernen Brasilien, kann aber nur unter Teilnehmenden eines in sich geschlossenen Kreislaufs funktionieren, die auf Reziprozität achten. Damit können die Ehefrauen-Geber auch für ihre Söhne Ehefrauen bekommen, sodass das Mitgift-System die beteiligten Calen von anderen Tauschkreisläufen abgrenzt, während sie (die zugehörenden Calen) es weiter reproduzieren. Abbildung 12: Teil einer Mitgift, BA (2009)
Quelle: Eigenarchiv
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Abgesehen von den Kindern, die Neuvermählte zur Welt bringen, heißt dies: Je mehr Söhne eine diesem Tauschkreislauf angehörende Familie hat, desto mehr Mitgiften wird sie erhalten, während eine Calon-Familie desto mehr Mitgiften geben soll, je mehr Mädchen sie hat. Die Mitgift bei den Calen hat weniger mit einer Kompensierung (durch Antizipation) für die Frauen/Schwestern zu tun, die im Gegensatz zu den Männern/Brüdern üblicherweise kein Erbe bekommen, wenn ihre Eltern sterben; wie es bis vor einem Jahrhundert in Europa und in Brasilien offiziell war (vgl. Nazzari 2001 [1991]). Eher scheint die Mitgift bei den Calen u.a. dazu zu dienen, ihre Calon-Frauen innerhalb eines geschlossenen, totalen Calon-Tauschkreislaufs zu halten, sodass die Calon-Netzwerke, aus denen dieser Tauschkreislauf besteht, im Prinzip von innen nach außen expandieren können, während jemand von außen nach innen nur nach strenger Kontrolle eingeführt werden darf. Im Zusammenhang damit geht es bei der Mitgift bei den Calen auch mehr um Status als um das Geld an sich, da die Calen in manchen Fällen bis zu zehn Mal mehr für das Hochzeitsfest als für die Mitgift ausgeben. Möglicherweise deswegen, während die Mitgift im Zuge der Industrialisierung in Europa und in Brasilien verschwunden ist, hat diese bei den Calen in BA durch ihre substantielle, finanzielle Besserung im Allgemeinen (vgl. Fotta 2018) an Stärke gewonnen (für einen Vergleich dieses Arguments im Kontext der Mitgift in Indien unter dem Einfluss der Modernisierung vgl. Anderson 2003). Dieses Tauschsystem basiert also stark auf Vertrauen, zumal es nur mündlich vereinbart wird, und läuft, soweit ich es feststellen konnte, tatsächlich innerhalb eines begrenzten Territoriums und nur unter bekannten Calen ab. Deswegen werden die meisten Calon-Mädchen als eine Art Garantie vorzugsweise an einen ihrer Cousins ersten Grades vergeben. So geschah es in der großen Mehrheit der Fälle in dem Lager, in dem ich war. Auch wenn das Calon-Mitgiftsystem in BA und in vielen Gebieten Brasiliens weit verbreitet ist, besteht es nicht bei allen Calen. So gibt es z. B. bei den Calen in RN weder eine Hochzeit noch eine Mitgift, sondern eventuell eine »kleine Hilfe« (ajudinha), welche tatsächlich sehr wenig mit einer Mitgift zu tun hat. Als ich einigen Calen im Südosten von BA von den Sinti in Estraixaria erzählt habe, bei denen per Flucht geheiratet wird (vgl. Tauber 2014 [2006]), fragte mich eine Calon-Frau verwundert: »Sind sie also alle Huren?«14 Nicht aber dass es bei den
14 »Hure« ist ein Schimpfwort unter den Ciganos, das auch im Kontext von Trauer benutzt werden kann: Jacó beschimpfte seine Schwester vor mir als »Hure«, weil diese
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Calen im Süden von BA keine Fluchtheirat gäbe. Daniel, der älteste Sohn von Nathanael und später einer meiner besten Freunde, signalisierte mir einst mit einer Handgeste, dass es dort zahlreiche Fluchtheiraten gebe. Auch eine Autorität der Pastoral der Nomaden erzählte mir bei einem Gespräch, dass Fluchtheirat unter den Ciganos üblich sei. Als ich ihn danach fragte, meinte er, es handele sich um etwas, das stets passiere, ohne dass darüber geredet würde. Daher glaube ich, dass, obwohl die Vorherrschaft von bestimmten Hochzeitsmodalitäten großenteils je nach Region variiert, Fluchtheirat bei Calen in Brasilien überall als Tabu durchgeführt zu werden scheint. Zahlreiche Ereignisse während meiner Feldforschung haben darüber hinaus die territorialen Abgrenzungen vieler Calen untereinander deutlich gemacht. Einst vermutete ein Juron aus der Nachbarschaft, dass auf der anderen Seite der Stadt scheinbar Ciganos kampieren würden. Sofort hat sich Tico aufgemacht, um herauszufinden, ob die Information stimme. Nachdem er ein paar Telefonate getätigt hatte, konnte er bestätigen, dass hier ein Missverständnis vorlag, da es sich nur um »einen Camping-Platz, keine Ciganos« handele. Wäre es aber kein Falschalarm gewesen, hätten Tico, Nathanael, seine anderen Geschwister und Cousins sich versammelt, um ihr Territorium vor den anderen Calen zu verteidigen. Dazu würden sie zuerst direkt bei den unbekannten Ciganos in Erfahrung bringen, ob sie nur auf der Durchreise seien. Falls nicht, müssten sie sie aus ihrem Sektor vertreiben (siehe zum Vergleich auch Piasere 1985, 68). Abseits der »Ciganos Mineiros« und der »Baianos« gibt es auch mehrere Binnenklassifikationen, die auf geografische Territorien hinweisen. »Ciganos Mateiros« meint diejenigen, die an den Wäldern der Küste leben bzw. von dort kommen. Ich vermute, der Namen wurde von Zona da Mata bzw. Mata Atlântica (Atlantischer Regelwald) abgeleitet15. Die »Ciganos Caatigueiros« stammen aus dem tiefen Sertão vor allem in den Subregionen, die durch die CaatingaVegetation bekannt sind. Die »Ciganos Pernambucanos« kommen aus nördlicheren Regionen (also aus Bundesstaaten wie Alagoas, Sergipe und Pernambuco). Diese und weitere Subdivisionen von Ciganos nach Territorien erinnern an die Unterteilung, die Piasere in Bezug auf die Roma in Italien in den 1980er Jahren beschrieb:
ihre Trauer um die beim Autounfall verstorbene Frau von Xexéu nicht lang genug einhielt und »schon schnell auf Partys geht!« 15 Siehe dazu die Abbildung 4 in diesem Buch.
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»Les Roma d’Italie se subdivisent eux-mêmes selon la région yougoslave de provenance (réelle ou presume) d’un de leurs parents ou grands-parents; ils se définissent donc, quand il faut spécifier, slovénsko Roma (Roma slovènes), h(e)rvánsko Roma (Roma croates) et istriáni ou istriánsko Roma (Roma istriens). De petites différences lexicales et morphologiques distinguent les premiers deux groupes des Istriáni que, seuls, se définissent aussi ›Romine‹ (pour l’analyse de ces catégories ethniques […]).« (Piasere 1986, 38)
Diese Binnenklassifikationen für Ciganos sind aber keinesfalls fest und absolut, wie ich mehrmals feststellen konnte. Als ich einst darüber mit Safira und Valdinha diskutiert habe, waren sie nicht so sicher, ob ihre Roms »Ciganos Baianos« oder »Ciganos Mateiros« seien. »Ich bin eigentlich Cigana Capixaba [d.h. aus dem Bundesstaat Espírito Santo], da ich von dort komme«, meinte Valdinha. Auf einer kollektiven Ebene werden diesen unterschiedlich benannten Ciganos oft moralische Charakteristika zugesprochen: Die Mineiros seien »unzuverlässig«, die Capixabas seien die »wahren« Ciganos, die Caatigueiros seien sehr »wütend« (brabo) usw. Auf individueller Ebene ist das nicht so. Ein Bruder, der eine katholische Gemeinde in Ilha Grande, einer kleinen Stadt weiter im Süden von BA, mitverwaltet, erklärte mir im April 2009, dass Ciganos dort »das Lager einer anderen Gruppe [von Ciganos] unter Feuer gesetzt haben […]. Es sah aus, als respektierten sie sich nicht. Diejenigen, die das gemacht haben, sind auch geflohen«. Todinho, ein Calon, der in Cascavel im Bundesstaat PR in einem Lager neben einem Kalkwerk am Rande der Autobahn lebt und der mit seiner Frau aus BA zusammen Richtung Süden geflohen ist, als diese 13 Jahre alt war, sprach mir gegenüber im Mai 2008 über die »Ciganos Baianos« so,16 als seien diese »besonders gefährlich«. Als Beispiel erzählte er mir, dass »sie« einen Pfarrer einer evangelischen Mission, die als spezifisches Ziel die Konversion der Ciganos hat, überfallen hatten: »Der [Pastor] hatte etwas Geld (circa 300.000 R$) irgendwoher bekommen, um diese Mission weiter aufzubauen; nachdem er den Ciganos das Geld gezeigt hat, haben sie eine
16 Baianos heißen in Brasilien jene, die aus Bahia kommen. Doch diese Bezeichnung schließt bei Todinho Ciganos mit ein, die im Allgemeinen vom Nordosten Brasiliens in den Süden ziehen. In São Paulo wird der Terminus z.B. manchmal abwertend verwendet, um allgemein Menschen aus dem Nordosten zu bezeichnen.
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Pistole in seinen Mund gesteckt und ihm das Geld weggenommen, und er hatte Glück, dass sie geflohen sind, ohne ihn getötet zu haben; er wurde verschont.«
Wer die »Ciganos von dort« sind, ist keine selbstverständliche Frage: Wenn man in Pedrosa von den Ciganos von Paraíba als Feinde redet, ist das ähnlich wie die Art und Weise, wie Todinho in PR von den Ciganos in BA oder wie die Ciganos in Lagoa Bela über die Ciganos aus Minas Gerais reden. Die Frage ist viel komplexer und weist auf eine Kartografie mehrerer Blutsfeindschaften und damit potenziell drohender Todeskämpfe hin, die sich überall ausbreiten. So kann Pedro nur sehr schnell durch Rajada fahren, wo einige Verwandte von Sobrinho (dem Ehemann von Aparecida und sein Nachbar) leben, die aber seine Blutsfeinde sind. Hingegen sollte Tico nicht durch Trancado fahren – einer Stadt, die gleichfalls nur wenige Kilometer von Lagoa Bela entfernt liegt –, weil dort seine schlimmsten Blutsfeinde zu finden sind. Xexéu versteckt sich in Tucurutu und kann nicht mehr nach Pedrosa fahren, wo ein Großteil seiner Familie lebt, weil er sonst das Risiko eingeht, von Seu Alberto – dem Vater seiner durch den Autounfall gestorbenen Ruin (d.h. Calon-Ehefrau) – getötet zu werden. Die Erkenntnis ist hier eine Voraussetzung dafür, in relativer Sicherheit zwischen potenziellen Gefahren zirkulieren zu können. Insbesondere kann der Begriff Calon-Tauschkreisläufe in Bezug auf Mobilität und Territorium durch eine ethnologische Betrachtung der Bestattungsbräuche und Handelsmodi (Kommerz) und einem bei den Calen entsprechenden Umgang mit Raum in Zusammenhang gebracht werden. Grundsätzlich bezieht er sich auf Cigano-Orte als Räume, die durch rituell orientierte Bewegungen bzw. Handlungen innerhalb und zwischen etablierten (zugleich auch immer wieder zu etablierenden) Zugehörigkeitspunkten und -wegen inmitten einer fremd besetzten Geografie konstruiert werden. Die Mobilität der Calen (was zusammen mit ihrer Unbeweglichkeit zu sehen ist, wie am Beispiel der Gräber ihrer eigenen Toten) ergibt sich innerhalb dieser Tauschkreisläufe und sichert damit ihre Dynamik und Erneuerung ab. Zugleich aber beschränkt sich ihre Beweglichkeit nicht immer auf ihre eigenen Tauschkreisläufe, sondern hat auch die Fähigkeit, diese abhängig von den Umständen zu erweitern und damit ihre Struktur bzw. Einstellung auch von außen zu modifizieren; und außen ist immer die nächste Grenze bzw. ein anderer Calon-Tauschkreislauf.
Fragmentierte einzelne, keine Integrität
begrenzter, einseitiger Austausch
unter den Jurons
Quelle: Eigenentwurf
falsche Namen (Juron-Namen) & künstliche Namen
1. Schweigen aus ReAntizipieren spektlosigkeit Kompromisslosigkeit 2. falsches (und viel) (Gleichgültigkeit, ReSprechen spektlosigkeit bzw. 3. Antizipieren durch Einfügung von JuronVerachtung) Termini
totaler Austausch (Distinktion)
unter anderen Calen
Stetige Änderungen, latente spaltende Antriebe
wahre Namen und künstliche Namen & falsche Namen (Juron-Namen)
Respekt Nachahmung Kompromiss & Verachtung Antizipation Kompromisslosigkeit
zyklische (kollektive) rituelle Zeiten durch Feste & stetige Änderungen, latente spaltende Antriebe
kollektive als Wir-Ciganos & auch als Sie-Jurons
richtige, wahre Calon-Namen
keine Grenze
totaler Austausch (Indistinktion)
die eigenen Toten unter den Lebenden
1. Schweigen aus Sentimento (Respekt) 2. wahres (und wenig) Sprechen 3. Nachahmung bzw. Wiederholung
Nachahmung (Kompromiss: Respekt, Schweigen, Idolatrie, Hommage)
Evozierung der Namen
Zeitlosigkeit: Kontinuierliche Gegenwart, Immanenz & lineare Zeit
Sprachliche Umgangsformen
Moralitäten: Haltungsreferenz & Umgangsformen
Mutualität und Grenzen Zeitlichkeiten
Abstandsstufen
Aspekte des Tauschs Kreise
Tabelle 1: Grundaspekte des Tausches bei Calen
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5.5 VOR DEM UNBEKANNTEN Wenn sie, die Calen, sich an einem Ort befinden, von dem sie nicht die Erkenntnis haben, gehen sie Nathanael zufolge normalerweise auf die Suche nach einem unbesetzten, verlassenen Ort. Sie ziehen umher, bis sie einen Bauernhof, ein Gelände oder einen Zwischenraum in irgendeinem Gewerbegebiet bzw. auf dem Land ausmachen, und versuchen dann herauszufinden, ob es einen Besitzer gibt. Dabei lernen sie mehrere Leute in der Umgebung kennen und nehmen zu einigen von ihnen Kontakt auf. Nach Ingold ist aus vielen ethnologischen Studien deutlich geworden, dass Menschen im Allgemeinen ihr Wissen über ihre Welten durch Umhergehen innerhalb und durch eine Umwelt erwerben: »The knowledge they acquire […] is integrated not up the levels of a classification but along paths of movement, and people grow into it by following trails through a meshwork. I call this trail-following wayfaring, and conclude that it is through wayfaring and not transmission that knowledge is carried on.« (Ingold 2011, 143)
Die Calen von Nathanael bringen sich in die unbekannte Ortschaft ein und erweitern dadurch weniger ein Netzwerk, als vielmehr eine Art Maschenwerk. »Sie suchen nach ihm [dem Besitzer des Geländes] und bitten ihn um die Erlaubnis zu bleiben: ›Mein Freund, ich bin auf Reisen, ich bin Cigano. Ich wollte hier das Lager auf Ihrem Bauernhof bis morgen oder übermorgen errichten. Ich möchte, dass Sie mir dies erlauben…‹. Viele erlaubten es, viele nicht.« Wurde die Bitte abgelehnt, ziehen sie weiter, um woanders erneut zu fragen. Die Erkenntnis, die der Cigano in einer unbekannten Situation noch nicht besitzt, kann er also dadurch erwerben, dass er umhergeht und sich den umgebenden Jurons ankündigt. Seine Erkundung einer unbekannten Juron-Geopolitik und von lokalen Machtverhältnissen umfasst eine Kartografie verschiedener Beteiligter, die in der Umgebung leben bzw. agieren wie z.B. Polizisten, religiöse und politische Autoritäten, Landbesitzer, Geschäftsleute usw. Er erfährt, wann und wo welche lokalen Märkte abgehalten werden. Seine Erkundung betrifft die Namen, die persönlichen Eigenschaften dieser Agenten und ihre Beziehungen zueinander. Ich nehme an, dass für die Calen als Wanderer »the world is not presented as a surface to be traversed. In his movements he [der Wanderer] threads his way through this world rather than routing across it from point to point. […] The surfaces of the land […] are in and not of the world, woven from the lines of growth and movement of inhabitants […]. What they form […] is not a network of pointto-point connections, but a tangled mesh of interwoven and complexly knotted strands.
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Every strand is a way of life, and every knot a place. Indeed the mesh is something like a net in its original sense of an open-work fabric of interlaced or knotted cords. But through its metaphorical extension to the realms of modern transport and communications, and especially information technology, the meaning of ›the net‹ has changed. We are now more inclined to think of it as a complex of interconnected points than of interwoven lines. For this reason I have found it necessary to distinguish between the network of transport and the meshwork of wayfaring. The key to this distinction is the recognition that the lines of the meshwork are not connectors. They are paths along which life is lived.« (Ebd., 151).
Als Erforscher und Bewohner (als inhabitant im Sinne von Heidegger [1971] apud Ingold 2011, 9-10, 80-82, 166) erweitern und aktualisieren Nathanael und seine eigenen Calen ihre existierende Erkenntnis durch ihr Umhergehen (»going around«, Ingold 2011, 143) entlang der Wege unbekannter Ortschaften. Diese unbekannten Orte, die die Ciganos erkunden, werden von ihnen vor allem als loci von Erlebnissen, Erinnerungen und Gesprächsthemen in ihre Erkenntnis integriert. Sie werden also zu »topics, joined in stories of journeys actually made«. Alle Dinge bzw. Geschehnisse, die Ciganos als »wayfarers« unterwegs erfahren, »do not so much exist as occur« (ebd., 154): »Lying at the confluence of actions and responses, they are identified not by their intrinsic attributes but by the memories they call up. Thus things are not classified like facts, or tabulated like data, but narrated like stories. And every place, as a gathering of things, is a knot of stories.« (Ebd.) Das gemeinsam abgelaufene Territorium (d.h. die Leute einer Ortschaft und ihrer Umgebung) wird also zum Untersuchungsgegenstand der Calen, die ihm im Verlauf ihrer Erkundung eine Calon-Form geben, ohne dass lokale Jurons etwas davon ahnen. Wie bereits erwähnt, führen sie das nach Williams »not as competitors of the Gadzo conquest« durch (Williams 2003 [1993], 30). Indem sie sich über den Ort erkundigen, und durch ihr Interagieren mit den lokalen Jurons beginnen sie, sich in die Geschäfte hineinzufinden, und werden überdies in dem nun nicht mehr so unbekannten Juron-Territorium allmählich immer präsenter. Die Erkenntnis kann also mit Vorhersehbarkeit bzw. Klarheit, Zugang und Handlungs- bzw. Bewegungsorientierung innerhalb und zwischen den Grenzen verschiedener Tauschkreisläufe und ihren jeweiligen Agenten assoziiert werden. Doch die Erkenntnis ist gleichfalls ein Navigationsinstrument, das ein Calon dazu nutzen kann zu erfahren, wohin man nicht gehen und was man nicht tun soll. Hier enthüllt Nathanaels Rede andere Ungewissheiten und entsprechende Initiativen, die man in Betracht ziehen soll: Ohne die Erkenntnis ist es unmöglich herauszufinden, wo sich die Feinde befinden, oder ihr Ausdehnungsgebiet zu kennen, unabhängig davon, ob man sie angreifen oder meiden will.
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Das Unterlassen betrifft darüber hinaus Vermeidungen bzw. Tabus, auf die man als Calon angesichts der umgebenden Jurons achten soll, da, wie Franz Steiner gezeigt hat, Tabus grundsätzlich auf gefährliche Orte hinweisen. »Taboo gives notice that danger lies not in the whole situation, but only in certain specified actions concerning it. These actions, these danger spots, are more challenging and deadly than the danger of the situation as a whole, for the whole situation can be rendered free from danger by dealing with it or, rather, avoiding the specified spots completely. Dr Mead is looking at the relation the other way round when she say that ›a taboo takes its meaning from the definition of any experience or of those who experience it as inherently dangerous. The situation may be childbirth, handling the dead, retreat from a vision, being the eldest born or blowing a sacred flute‹. The narrowing down and localization of danger is the function of taboo […]. The dangerous situation is then defined in terms of such localization, which in its turn is meaningless without abstentive behaviour.« (Steiner 1967 [1956], 146-147)
Danger spots bezeichnen nicht nur geografische Lokalisierungen, sondern auch allgemeine und spezifische Ungewissheiten und Handlungen, wie das gefährliche Sprechen bzw. die unkontrollierte Zirkulation bestimmter Wörter. Diese soll man manchmal besser vermeiden, damit die Namen und die Integrität der eigenen Calen nicht infrage gestellt werden. Die Erkenntnis zu haben, ist folglich auch von familiärer Disziplin bzw. Tradition geprägt, sodass der kontinuierliche Fluss der eigenen Calen unberührt bleiben kann, selbst wenn Nathanael und seine Geschwister und die jeweiligen Familien ins Ungewisse gehen müssten. Wenn sie dann endlich einen Landbesitzer gefunden haben, der ihnen erlaubt, sich vorläufig auf seinem Gelände niederzulassen, wissen sie genau, was sie zu tun haben. In seinen Worten: »Sie machten das Zelt. Egal, wie schwer es war, wie es dort zu dieser Zeit regnete, sie taten es, sie schlugen das Zelt auf. [Sie] setzten die Kinder rein, das Essen wurde am Lagerfeuer gemacht – keineswegs konnte man einen Herd tragen –, man machte den Herd aus Brennholz, man machte den Kaffee. Einige hatten Geschirr zum Essen, andere nicht.«
Hier erzählt er wiederum keine Geschichte, sondern von der Art und Weise, wie der Alltag für einen Calon war. Genau wie es für sie darum geht, angesichts der ändernden, fluktuierenden Umstände erlebter Ungewissheit einen Calon-Alltag einzurichten und aufrechtzuerhalten, geht es für Nathanael in seinem Erzählen entsprechend darum, die banalen Handlungen der Calen in einer Juron-Welt zu evozieren. Er erzählt vom Leben des Ciganos und seiner eigenen Calen, während
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er ihr Leben im Fluss bewahrt. Es ist in diesem Sinne, dass Nathanael ihre Vergangenheit erneut keinesfalls historisiert; eine Vergangenheit, die immer allgegenwärtig und zeitlos ist und so bleiben soll. Hier zeigt und bestätigt er durch seine Erzählung und besondere Redeweise, diesmal aber im Kontext des Unbekannten, wie omnipräsent seine eigenen Toten in Zeit und Raum sind: Er schildert Dinge, die jeder Cigano seiner Gruppe tut, während er zugleich ihre Calonität wiederbehauptet: »Sie machten das Zelt«, egal wie hart die Umstände waren. Es geht um alltägliche Dinge, um Grundkenntnisse eines erwachsenen Calons. Bei seiner Rede fallen die Calon-Zivilisation und seine eigenen Toten (und dadurch sein eigenes Leben) zusammen. Nathanael sagt: »Das ist das Leben, in dem ich erschaffen wurde.« Ungewissheit (das Unbekannte) lässt sich daher durch gewisse (bekannte) Calon-Vorschriften, strategische Annäherungen oder Vermeidungen in Bezug auf andere umfassen und (teilweise, vorläufig) unter Kontrolle bringen. Doch die Ungewissheit und ihre Risiken beschränken sich auf keinen Fall auf das Unbekannte und können darüber hinaus endlos viele Formen annehmen, vor allem, wenn es sich um die eigenen (lebendigen) Calen handelt, da auch diese potenziell zu Blutsfeinden werden können. Da die Integrität der eigenen Calen hauptsächlich durch Gefühl inmitten zahlloser anderer zusammengehalten wird, besteht immer die Möglichkeit und daher latent vorhandene Anspannung, dass das Wort und das Schweigen unter ihnen im Laufe ihres Zusammengehens, Zukunfts- und Geschäftemachens durch und zwischen verschiedenen Tauschkreisläufen gebrochen wird.
5.6 WORTBRUCH Wenn ein unkontrollierter Umbruch (wie z.B. ein unerwartet nichtakzeptierter Heiratsantrag oder ungeeignete bzw. respektlose Trauerarbeit, Schwindel beim Geschäftemachen usw.) und daher Zeit (bzw. Historizität, Geschichte…) in ein Kontinuum bzw. in die Zeitlosigkeit der eigenen Calon-Toten introjiziert wird, wird die eigene Calon-Welt und alles darum herum diskontinuierlich und damit potenziell gefährlich. Vertrauen, Wahrheit, Erwartungen, Respekt und Gefühle können dadurch gestört werden und damit wird alles innerhalb der miteinander verwobenen Calon- und Nichtcalon-Welten und um sie herum instabil. Die folgende Geschichte zeigt etwas über die Wege, die Nathanael und seine Brüder nach dem Verlust ihres Vaters entlanggingen. U.a. verdeutlicht sie, was passiert, wenn Geschichte in den kontinuierlichen und sicheren Fluss der eigenen Toten eingegliedert wird, und welche Rolle die Erkenntnis in verschiedenen Si-
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tuationen spielt, die Strategien von Bewegung, Verhandeln und Niederlassung fördern. Die Erkenntnis ermöglicht es ihnen sowohl, eine aus den Fugen geratene Realität zumindest vorübergehend wieder unter Kontrolle zu bringen, als auch, die betroffene Würde bzw. Integrität der eigenen Toten und folglich von sich selbst wiederherzustellen. »Eines Tages«, erzählt Nathanael, »hat mein Vater jemanden getötet und wurde verhaftet.« Das war vor circa 30 Jahren. Damals ist seine Mutter gestorben und sein verwitweter Vater, war sehr verstört. Er ging in ein Bordell in einer anderen Stadt. Dort nahm er sich eine Frau, trank Bier und ging mit der Frau zusammen auf ein Zimmer. Diese Frau hatte aber mit einem Mann abgemacht, ihn zu überfallen. Dieser Mann sollte überraschend ins Zimmer kommen, wenn beide dort seien. Nathanaels Vater »hörte ein Klopfen an der Tür. Als er sie öffnete, traf er auf einen Mann, der ihn mit einem Messer bedrohte.« Er jedoch war »bewaffnet mit einer Pistole und schoss auf den Mann«, der entkommen konnte, obwohl er durch den Schuss verwundet worden war. Die Frau kam auf seinen Vater zu und er schoss erneut, dieses Mal traf er tödlich. Ein paar Tage später wurde Nathanaels Vater nicht weit entfernt, in der kleinen Stadt Trancado, verhaftet. Obwohl er in Notwehr getötet hatte, erklärt Nathanael, erhielt sein Vater von seiner eigenen Familie keine Unterstützung. Nathanael verkaufte dann einige Tiere, um seinen Vater aus dem Gefängnis holen zu können, was jedoch nicht funktionierte. Da der Vater auch nicht auf die Unterstützung der Familie zählen konnte, wurde er dann in eine Strafvollzugsanstalt in Salvador gebracht. Kurz danach ist er dort von einem gedungenen Mörder getötet worden. Mir sagte Nathanael praktisch nichts über den Tod seiner Mutter, die vor dem Kampf im Bordell gestorben war. Darüber hinaus bleibt der Grund, von wem und warum der Mord an seinem Vater beauftragt worden war, in seiner Erzählung unklar. Allerdings erhielt ich aus anderen Quellen eine ergänzende Version, die den Hintergrund dieser Ereignisse zu verstehen hilft. Damals hatte D., ein anderer Bruder von Nathanael, der als sehr impulsiv und für sein schwieriges Temperament bekannt ist, sich heftig in eine seiner Cousinen verliebt. Da ihr Onkel R. – einer der Brüder seines Vaters und Vater dieser Cousine – die Verbindung nicht akzeptierte, hat D. dann seine Tochter von ihm geraubt, um sie heiraten zu können. In dieser Situation hat der Vater von Nathanael weder seinen Bruder D. unterstützt noch ihm Recht gegeben und hat ihm außerdem befohlen, seine Cousine zu ihrem Vater zurückzubringen. Vater und Sohn gerieten dann in Streit, der in Gewalt ausartete. D. fühlte sich von seinem Vater betrogen und versuchte ihn während der heftigen Diskussion zu erschießen. Doch genau in dem Moment, als er auf ihn zielte, war seine Mutter vor
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seinen Vater gesprungen. Sie wurde tödlich getroffen und starb dort vor ihren Augen. In seiner Verzweiflung holte D. seine Cousine ab und brach mit ihr gen Sertão auf. Nach einer Weile verließ sie ihn jedoch und ging zurück zu ihrem Vater. Allein in Sertão wurde D. in einer Kneipe in irgendeinen Streit verwickelt und umgebracht. Der Vater von Nathanael hat dann seinen Bruder R. des Mordes an seinem Sohn D. beschuldigt – was in gewisser Weise ein Prinzip von Calon-Kausalität auszudrücken scheint – und ihn aufgrund dessen selbst getötet. Dies war der Hintergrund, als der Vater von Nathanael ins Bordell ging. Er war zu dieser Zeit also bereits auf der Flucht, sowohl vor seinen Neffen – die Söhne von seinem Bruder R. – als auch vor der Polizei. Nachdem Letztere ihn festgenommen und später in ein Gefängnis in der großen Stadt Salvador gebracht hatten, schickten seine Neffen einen Mörder, um den Tod ihres Vaters zu rächen. Von D. hat mir Nathanael nie etwas erzählt, auch keiner seiner anderen Brüder in ihrem Lager, geradeso, als hätte er nie existiert. Irgendwie war er jedoch immer unter ihnen. Während dieser Ereignisse und vor allem nachdem seine Eltern gestorben waren, musste Nathanael sich um seine acht jüngeren Geschwister kümmern. Fernando, der Zweitälteste unter ihnen, war zu jener Zeit noch keine 18 Jahre alt. Indem sich ihre Familie durch die Blutfehde spaltete, und die Familienmitglieder in verschiedene Richtungen segmentiert haben, verloren Nathanael und seine Geschwister die Unterstützung von einem Großteil ihrer Familie (ein Teil lebte nun grundsätzlich im Norden, der andere Teil im Süden von BA). Ohne etwas, das sie hätten verkaufen können, und »ohne Unterstützung, von niemandem«, als ob sie selbst aus ihren Cigano-Netzwerken vorläufig ausgeschlossen worden wären, nahm Nathanael ein Angebot von einem seiner anderen Onkel an. Nathanael kaufte im Auftrag dieses Onkels einen Bauernhof (bzw. eine Landwirtschaft) im äußersten Süden des Bundesstaates BA. Er sollte sich darum kümmern und es bewirtschaften. Nachdem Nathanael »die Kinder« (d.h. seine jüngsten Geschwister) und seine Frau bei seinem Schwiegervater untergebracht hatte, reiste er zusammen mit zwei seiner älteren Brüder, Osvaldo und Roland, ab. Fernando befand sich schon dort. Nach vier Monaten holte Natahnel seine Frau und die jungen Geschwister nach, wo sie zwei weitere Jahre gelebt haben. Nathanaels Tätigkeit auf dem Bauernhof bestand aus: »Weide mähen, Kaffee und Kakao ernten, den Kakao aufladen und transportieren. Darüber hinaus habe ich mich auch um die Mitarbeiter gekümmert.« Für ihn war es eine schwierige Situation und eine Zeit des Leidens. Vor allem war es ihm peinlich, da ein Cigano diese Art von Arbeit normalerweise nicht machen würde. Jedoch weiß er auch, dass er zu jener Zeit keine andere Wahl hatte, als sich dieser fremdbe-
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stimmten Situation zu unterwerfen. Wie er mehrfach betonte: Seine Verwandten hatten ihn verlassen.17 Nach etwa zweieinhalb Jahren verließ Fernando den Bauernhof und ging in Richtung Rondônia im Nordbrasilien, ganz im Westen gelegen. Kurz danach zog sich auch Nathanael zurück, bat um die Abrechnung und verließ die Region zum ersten Mal in dieselbe Richtung wie Fernando. Allerdings erinnert er sich: »Es gab kein Geld für die Fahrt… Es war ein Anfang, [in] … einem fremden Ort.« Nathanael erklärt: »Dann war es nötig, Schmuck zu machen und zu verkaufen.« Es ging vor allem um Eheringe, die sie an Jurons verkauften. Hierbei taten sie so, als ob die Ringe aus Gold wären. Es war eine neben anderen Tätigkeiten, aber der Verkauf von Eheringen war früher unter den Ciganos Mateiros, als eine besondere Tätigkeit und der Vater von Nathanael als Hersteller bekannt. Trotz aller Herausforderungen, insbesondere des Mangels an lokaler Struktur, der Schwierigkeiten beim Start der Erforschung ihrer neuen Umgebungen und bei der Gründung von potenziellen Allianzen, um neue Netzwerke aufzubauen, haben Nathanael und seine älteren Brüder es geschafft, Geld mittels Geschäften (das Geschäftemachen als liturgisches Handeln) zwischen Rondônia und Mato Grosso do Sul zu beschaffen und anzusammeln. Zumindest haben sie genug Geld zusammengetragen, um nach BA zurückzukehren und ihre zwei Schwestern dort zu verheiraten. Nach den Eheschließungen in BA gingen Nathanael und seine anderen fünf Brüder in den benachbarten südwestlichen Bundesstaat Espírito Santo, wo sie etwa acht Jahre lebten. In dieser Zeit haben alle seine fünf Brüder geheiratet und ihre ersten Kinder bekommen. Von Espírito Santo gingen Nathanael, seine Brüder und ihre jeweiligen Familien nach Santa Catarina, mitten im brasilianischen Süden gelegen, wo sie etwa zwei Jahre lebten, während sie hauptsächlich im benachbarten Bundesstaat PR Geschäfte machten. Von dort zogen sie nach Mato Grosso do Sul, wo sie nur ein halbes Jahr verbrachten, obwohl sie sich in dem Gebiet besser auskannten, und schließlich noch einmal nach BA. Dieses Mal sind sie aber nicht in ihre
17 Dieser Ausnahmezustand im Rahmen des Lebens des Ciganos erfordert das, was Bargatzky als periliturgisches Handeln schildert: Es »bewegt sich gleichsam an der Peripherie liturgischer Handlungen. Es revoltiert nicht gegen die gesetzte Ordnung. Jede realexistierende menschliche Symbioseform muß über die Möglichkeit verfügen, die u.U. strengen Gebote des liturgischen Handelns wenigstens zeitweise gleichsam auszublenden, um den menschlichen Akteuren die nötige Flexibilität für die Bewältigung des Alltags zu verschaffen.« (2007, 278-279)
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Herkunftsregion, sondern in den Westen des Bundesstaates gegangen, wo sie sich in der Stadt Correntina niederließen, die für acht Jahre ihr Zuhause wurde. Doch nach einem Konflikt mit anderen lokalen Bewohnern wurden Nathanael und seine Gruppe aus Correntina vertrieben. Da die älteste Tochter von seinem Bruder Osvaldo dem Sohn eines Cousins namens Sílvio versprochen war, haben sich beide Väter entschlossen, die Eheschließung vorzuverlegen. Sílvio (aus der Gruppe von Loca) lebte seit drei oder vier Jahren mit seiner Mutter und anderen Brüdern in einem Lager in Lagoa Bela, das sehr nah an der Herkunftsregion von Nathanael und seiner Gruppe liegt (im Süden von BA). Die Cousins Osvaldo und Sílvio haben dann das Datum für die Hochzeit vereinbart und ein paar Tage vor der Zeremonie kam die ganze Gruppe von Nathanael im Lager der Eltern des Bräutigams an, um die Hochzeit mitzufeiern. Nachdem Nathanael und seine Brüder nach der Hochzeitsfeier einen Ort für sich selbst gefunden hatten, schlugen sie ihre Zelte auf und begannen erneut, sich in dem Gebiet zu etablieren. Ihr Siedlungsvorgang (d.h. die Suche nach einem Platz und der Aufbau ihrer Zelte) aber verlief nicht ohne gewisse Probleme. Wie üblich, bevor die ganze Gruppe irgendwohin geht, um ein Lager aufzubauen, ist einer der Brüder (in diesen Fall Tico) zuerst allein nach Lagoa Bela gegangen. Einmal dort angekommen, suchte er nach einem geeigneten Ort, »wo alle reinpassen«, wie Nathanael sagt. Deshalb »muss es ein großer Platz sein«, erklärt er. »Dann kam [Tico], [und] guckte hier herum. Und, dann, er verhandelte mit dem jungen Mann, dem Ex-Besitzer. [Und er kaufte es]. Wir kamen hierher. Aber es war Sommer, die Sonne [war] zu heiß. Wie Du sehen kannst, es gibt kaum Bäume hier überhaupt. So gingen wir zu diesem Busch drüben, zu diesem kleinen Schatten [auf der anderen Seite der Erdstraße außerhalb des Geländes]. Ich habe dort mit ›den Kindern‹ gelagert. Der Kerl, der sagte, er besitzt das Gelände, aber ohne irgendwelches Dokument gebracht zu haben, gar nichts, kam mit der Polizei und hat uns entfernt.«
Aus diesem Grund kehrten Nathanael und seine Gruppe auf das Gelände, das sie gekauft hatten, zurück, in die Sonne, ohne Schatten. Und dort haben sie bei ihren Zelten, die sie aufschlugen, auch mehrere junge Bäume gepflanzt. Seitdem, seit fast acht Jahren, leben sie dort an der Grenze der Stadt, in der Nähe des Lagers ihrer Cousins. Genauer gesagt, zwischen dem Wald und dem Ende der Peripherie, direkt neben dem Eingangs- und Ausgangsschild der Stadt, also weder innen noch außen. Später hat Tico den gemeinsamen Familiennamen, den er mit den
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Cousins teilte, deren Vater seinen eigenen Vater umgebracht hat, aus seinem Ausweis gestrichen.18
5.7 »SICH ETABLIEREN« UND »ÜBERALL SEIN«: INFORMATION, VERSTREUUNG UND ZUGEHÖRIGKEIT Nathanael, seine Geschwister und seine eigenen Calen, die auf ihren Reisen entlang mehrerer von den Jurons geopolitisch vorgegebener Gebiete zusammengingen, können also im Sinne von Ingold als »wayfarers« angesehen werden. »[L]ives are led not inside places but through, around, to and from them, from and to places elsewhere […]. I use the term wayfaring to describe the embodied experience of this perambulatory movement. It is as wayfarers, then, that human beings inhabit the earth […]. But by the same token, human existence is not fundamentally place-bound […] but place-binding. It unfolds not in places but along paths. Proceeding along a path, every inhabitant lays a trail. Where inhabitants meet, trails are entwined, as the life of each becomes bound up with the other. Every entwining is a knot, and the more that lifelines are entwined, the greater the density of the knot.« (Ingold 2011, 148)
In manchen Fällen zwingen unerwartete Brüche ihres Kontinuums zu einer Vorreiterrolle: die Suche nach bzw. der Aufbau von neuen Kenntnissen; neue Länder, Leute, Kontakte, Beziehungen, Geschäftsmöglichkeiten und somit eine Erweiterung bzw. Aktualisierung der schon bekannten Netzwerke bzw. Tauschkreisläufe. Mittels der Kenntnisse, die ein Calon in Bezug auf andere hat, kann er die Nähe zu diversen Agenten einschätzen, den eigenen Abstand zu ihnen regulieren und damit eine attributive Haltung einnehmen: Entweder kommt man zuvor oder man ahmt nach, je nach Zugehörigkeit und entsprechendem Kompromissgrad. »Orte, Geschichten, Personen, Gruppen und Institutionen konstituieren sich gegenseitig. […] Ein Ort ist nicht ein Punkt, den man weder innerhalb eines abstrakten Gitters noch in einem physisch-geographischen Raum objektiv lokalisieren kann. [Ein Ort] ist vor allem ein Anker, der den im Laufe eines zeitlichen Flusses entfaltenden sozialen Interaktionen
18 Für eine Ergänzung zu dieser Geschichte s. Fotta (2012b, 152-154).
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zwischen Personen und Gruppen Sinn gibt bzw. diese einrahmt und unterstütz.« (Trajano Filho 2010, 5)
Die Calon-Erkenntnis kann sehr unterschiedlich sein. Aus einem Gespräch mit einem Juron mag ein Calon Informationen zu gewinnen versuchen, die für ihn auf die eine oder andere Weise von Vorteil sein könnten. Das kann sich auf eine Geschäftsmöglichkeit beziehen oder auf besondere Juron-Begriffe, die eventuell (vor allem bei Kontakt mit anderen Jurons) hilfreich sein können. Auf jeden Fall werden diese Informationen zur Erkenntnis, die je nach Gelegenheit angewandt, weitergegeben oder gehandelt werden kann. Ein Calon kann eine neue Information nutzen, um sich gegenüber einem anderen Calon einen Vorteil zu verschaffen (und diesem damit zuvorkommen), gleichzeitig markiert das einen Abstand zwischen beiden. Oder derselbe Calon könnte die Information teilen, um dadurch Nähe zu dem anderen Calon zu schaffen, bspw. um potenzielle Hochzeiten und Allianzen zu ermöglichen. Die Erkenntnis schließt jedoch nicht nur ein oder mehrere Klassifizierungssysteme ein, die die Welt und ihre Elemente – verschiedene Tauschkreisläufe und die jeweiligen Moralitäten – einordnen, sondern auch die eigenen Lebenserfahrungen, von denen man schweigt oder die man in Form von Erzählungen mitteilt. Genau wie das Gefühl nur zwischen Leuten, die sich gut persönlich kennen, als totaler Kompromiss geübt und ausgedrückt wird, lässt sich die kennenzulernende Welt und das Leben des Ciganos bei den Calen als immanente Erfahrungsreligion erleben. Die Calen und die von ihnen erforschten und zusammen erlebten Ortschaften hinterlassen ihre eigenen Zeichen. Vielleicht ist ein gewisser Sertanejo-Ethos am auffälligsten – d.h. eine Art und Weise zu leben und die Welt zu betrachten, die mit dem Sertão normalerweise in direkte Verbindung gebracht wird –, er wird von den Calen in Süd-BA wie auch in Goiás, São Paulo oder PR und vielen anderen Bundesstaaten verschiedener Regionen Brasiliens oft mit der Identität vom Cigano assoziiert. Die Lieder, die die meisten von ihnen hören und die auf ihren Festen gespielt werden, gehören zur Kategorie »Sertão-Lieder« (música sertaneja). Die Autos, die sie am meisten bewundern, sind große Pick-ups bzw. Offroad-Pkws, wie sie gewöhnlich im Hinterland auf zahlreichen Farmen gefunden werden und die sich überall in Brasilien rasch verbreitet haben, auch in Lagoa Bela. Dasselbe gilt für die Art und Weise, wie sie sich kleiden, vor allem zu besonderen Anlässen, wie Festlichkeiten, zu denen auch ihre Beerdigungen gehören. Und doch variieren Geschmack und Aussehen vor allem zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen.
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Ungeachtet der Unannehmlichkeiten bzw. einiger schwieriger Ereignisse freuen sich Nathanael und seine Geschwister, wenn sie von ihren Reisen durch Brasilien sprechen. Sie tun dies mit Stolz. Sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder erinnern sich daran, in welchem Bundesstaat jeder von ihnen geboren wurde, an die Kälte im Süden oder die Hitze in Sertão, die sie jeweils erlebt haben, während sie zusammen umherreisten. »Es war echt sehr kalt dort in Santa Catarina. Doch für uns war es nicht so. Die Kinder sind ganz normal herumgegangen und haben die Kälte beim Spiel kaum mitbekommen…«, erzählte mir Duda, die älteste Tochter von Nathanael und Safira, die im selben Lager im Zelt ihrer eigenen Familie wohnt. Wir saßen einmal unter dem Baum vor Ticos Zelt und haben uns mit zwei anderen Ciganas unterhalten, als Safira mir zum ersten Mal von ihren Reisen erzählte und ihre Route zusammengefasst hat. Dabei betonte sie, dass sie »überall« gewesen seien. In der Runde erzählen die Calen von ihren eigenen Abenteuern gern am Abend, wenn sie um das Feuer herumsitzen, oder tagsüber im Schatten der umstehenden Bäume auf ihrem Zeltplatz, wo z.B. zwei Cousins von Nathanael von ihrer Reise im Amazonasgebiet erzählt haben. Sie sind dort zusammen mit Osvaldo tagelang, fast zwei Wochen, mit einem Boot auf einem Fluss gewesen, ohne aussteigen und Auto fahren zu können. Damals haben sie die meiste Zeit mit Kartenspielen verbracht. Wie jede Geschichte besteht diese aus weiteren erzählbaren und nichterzählbaren kürzeren Episoden; aus Ereignissen, die offenbart werden, und anderen, die verborgen bleiben müssen. Die meisten Geschichten handeln von der Fähigkeit und der Unbefangenheit der Calen, davon, wie sie in schwierigen Situationen zurechtkommen. Das sind oft Geschichten, die die Wichtigkeit des Zusammenseins ausdrücken, als wollten sie lehren, dass Calonität in einer Juron-Welt nur dann möglich ist, wenn man auf die eigenen (treuen) Calen zählen kann. Die langjährigen Reisen der Gruppe bzw. »Leute von Tico« außerhalb von BA sind anderen Ciganos ihres Tauschkreislaufs bekannt und werden hauptsächlich von denjenigen Ciganos, mit denen Nathanael und seine Geschwister enge Beziehungen bzw. Kompromisse (einen totalen Austausch) pflegen, als Prestigesymbol angesehen, als ob es ein gewisses Reisekapital gäbe. Bradóqui, aus Monte Verde, hat mir einmal gesagt: »Wir haben schon überall gewohnt, doch wir sind nie aus Bahia weggereist. Sie aber sind im ganzen Land gewesen, sie sind echt sehr Cigano, sehr traditionell…« Merkwürdigerweise gehört die Behauptung, »überall gewesen zu sein«, zu einem Rederepertoire, das viele Ciganos benutzen, um sich auf ihre eigene Welt bzw. bekannte Ausdehnungsbereiche zu beziehen. Im Gegensatz zu den Jurons, die meist die unbekannte Welt meinen, wenn sie von »überall« sprechen, bezeichnen die Calen damit i.d.R. das ihnen
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Bekannte; siehe z.B., wie der Vater der Braut Diana in dem Dokumentarfilm DIANA E DJAVAN (Sampaio 2008) gleichfalls davon spricht. Das wurde mir erstmals etwas verständlicher, als ich den Vater von Pedro, Seu Z., in Pedrosa persönlich kennengelernt und mit ihm und seiner Frau, Dona Marília, einen Nachmittag bei ihnen auf dem Hof verbracht habe. Irgendwann habe ich ihm vom Nord- und Südpol erzählt, um ihm zu erklären, wo »a Alemanha« (Deutschland) liegt und wieso es dort Winter ist, wenn in Pedrosa Sommer ist, und vice versa.19 Ich nahm eine Kugel, um die Bewegung der Erde um die Sonne zu beschreiben. Er hörte mir ruhig zu, ignorierte aber meine Erklärung völlig und seine Frau fragte mich, ob ich mehr Kaffee haben wolle. Die meisten Jurons würden dazu neigen, darin ein Zeichen von Ignoranz zu sehen. Doch statt als Ignoranz interpretierte ich es eher als eine starke Tendenz von vielen Ciganos, sich auf das zu beschränken, was ihnen vertraut ist, auf das, was sie selbst kennen, oder auf das, was von jemandem, den sie gut kennen und dem sie vertrauen, erzählt wird. Und damals war ich noch ein unbekannter Juron, zudem viel jünger als Seu Z. Auf diese Weise schützen sie sich davor, dass ihre eigene Welt von einer (unbekannten) Fremdperspektive kolonisiert wird.20 Insbesondere, wenn Ciganos als inhabitants und als wayfarers in ihrer eigenen Welt betrachtet werden, dient die Verwendung des Ausdrucks überall auch dazu, die Erschaffung dieser eigenen bekannten Welt und das Zusammenwachsen, Leben und Sterben der Calen als ein und denselben Vorgang zu übersetzen. Ingold erzählt von einem vergleichbaren Fall: »Inhabitants can indeed be widely travelled, as David Anderson, for example, found during fieldwork among Evenki reindeer herdes in Siberia. When he questioned his hosts about the location of their original clan lands, he was told that in the past people travelled – and lived – not somewhere but everywhere (Anderson 2000, 133-135). This ›everywhere‹, however, is not ›nowhere‹. Evenki herders did not formerly live in space rather
19 Damals hatte ich nicht aufgeschrieben, wer genau mich in jenem Kontext mal gefragt hatte, wie viele Stunden mit dem Bus von Deutschland nach Pedrosa nötig wären, aber wahrscheinlich habe ich wegen einer ähnlichen Frage diese Erklärung gegeben. Das war eigentlich eine der besten Lektionen, die ich bei ihm gelernt habe. 20 Im Sinne von Milton Santos, wenn er konstatiert: »[D]ekolonisieren heißt […], die Welt mit den eigenen Augen zu sehen, an sie aus einer eigenen Perspektive zu denken. Das Zentrum der Welt ist überall. Die Welt ist das, was man aus dem Standpunkt sieht, an dem man ist« (vgl. den Dokumentarfilm ENCONTRO COM MILTON SANTOS, Tendler 2006).
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than place. The illusion that they did is a product of our own cartographic conventions that lead us to imagine the surface of the earth divided into mosaic of areas, each occupied by a named nation or ethnic group. On a map drawn according to these conventions, the few thousand Evenki appear to occupy an area almost twice the size of Europe! The Evenki people, however, did not occupy their country, they inhabited it. And whereas occupation is areal, habitation is lineal. That is to say, it takes people not across the land surface but along the paths that lead to from place to place. From the perspective of inhabitants, therefore, ›everywhere‹ is not space. It is the entire meshwork of intertwined trails along which people carry on their lives.« (Ingold 2011, 149)
Obwohl die Themen, die in dem Narrativ von Nathanael angesprochen wurden (Liebe, Transgression, Mord und Tod, Rache, das einsame Sterben, Hochzeiten und Feiern, Trinken, Geschäfte, Reisen und viele andere), Aspekte wesentlicher Elemente des Lebens des Ciganos enthüllen, werden sie nicht in jeder Situation erzählt. Während Nathanael von diesen verschiedenen Ereignissen, die innerhalb von etwa 30 Jahren aufgetreten sind, nicht in großer Runde, sondern in Anwesenheit von mir und zwei seiner Söhne erzählt, spricht er kaum oder gar nicht über ihre Nutzung von technologischen Neuerungen. Dass er und seine Geschwister und ihre jeweiligen Familien bspw. längst mit Autos fahren und dass einige von ihnen in den letzten Jahren sogar ein paar Mal mit dem Flugzeug geflogen sind,21 ist in seiner Erzählung nicht enthalten, als ob es im Laufe der Zeit keine Veränderungen gegeben hätte. Gleichfalls scheint es in der Geschichte von Nathanael so zu sein, als ob sein Bruder Fernando noch in dem Lager wohnte, obwohl er gegenwärtig im Bundesland Goiás lebt und jedes Jahr mehrmals mit dem Flugzeug nach BA reist, wenn irgendeine Tochter einer seiner Brüder oder enger Cousins verheiratet wird, um an den Hochzeitsfeiern teilzunehmen. In Nathanaels Geschichte sind eigentlich alle seine Geschwister (»die Kinder«) zusammen, als ob sie in derselben Siedlung wohnten. Später erst konnte ich verstehen, dass sie tatsächlich dort weiterleben, selbst wenn einige von ihnen nicht mehr dort wohnen, wie D., sein verstorbener Bruder. Bateson argumentiert, dass das Nichtkommunizieren, wie im Fall der Haltung von Nathanael in Bezug auf seine eigenen Toten, möglicherweise eine
21 Das ist der Fall bei Tico, seinen Neffen Daniel und auch Bradóqui, die durch ihre Beziehungen zu der Pastoral der Nomaden und dem SEPPIR als Vertreter ihrer jeweiligen Cigano-Gemeinschaften nach anderen Städten geflogen sind, um an Sitzungen teilzunehmen, welche von diesen Institutionen organisiert worden sind.
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Form des Umgangs ist, der die Risiken minimieren, welche in der potenziellen Offenbarung des Heiligen im Alltag implizit sind: »We find over and over again in different parts of the world and different epochs of religious thought a recurrent emphasis on the notion that discovery, invention, and knowledge in general must be regarded as dangerous. […] I believe […] that noncommunication of certain sorts is needed if we are to maintain the ›sacred‹. Communication is undesirable, not because of fear, but because communication would somehow alter the nature of the ideas.« (Bateson 2005 [1978], 80)
Der Modus des Sprechens bei Nathanael und mehreren Calen scheint die Möglichkeit einer wesentlichen Änderung ihrer Realität durch das Gesagte zu berücksichtigen, sodass der Calon-Verstorbene von seinen Calon-Trauernden mittels ihres selektiven Schweigens vor den Wechselhaftigkeiten der Welten anderer geschützt wird. Während dieser Fahrten, Umzüge und allgemeinen Veränderungen wurden mehrere Kinder geboren und sind bei ihren Eltern aufgewachsen, es wurden ständig Geschäfte um die Gegend ihrer Siedlungen und in benachbarten Regionen gemacht, alte Allianzen wurden wieder aufgenommen und gestärkt, neue aufgebaut sowie auch neue Feinde gemacht, wie in Correntina. Doch wenn ich an das neue Lager denke, sehe ich, dass sie es irgendwie um ihre eigenen, gemeinsamen Toten (d.h. um die Eltern all dieser dort wohnenden Geschwister) herum aufgebaut haben. Oder andersherum, dass ihre verstorbenen Eltern es so aufgebaut haben … Die große, fast absolute Mehrheit der Familien, die in diesem Lager wohnen, besteht aus direkten Geschwistern, fast alle sind Brüder, auch eine Schwester namens Miriam, die Frau von Horácio und Mutter von vier Kindern (Poeta, Macarrão, Maristela und Iracema), wohnt dort. Ihre anderen zwei Schwestern wohnen woanders, da die Frauen i.d.R. zu ihren Männern ziehen und die primäre Gesellschaft ihrer Geschwister verlassen. Das verlieh diesem Lager eine gewisse homogene Gestalt. Mit Ausnahme vom Ticos keh, welches ein Hybrid von Zelt und Haus ist, sind alle anderen Zelte praktisch nicht voneinander zu unterscheiden. Ihre verstorbenen Eltern, welche ihre gemeinsamen eigenen Toten bilden, sind in jedem ihrer großen Zelte in mehreren Formen zu finden, am sichtbarsten aber als Bild wahrzunehmen. Als ich 2008 zum ersten Mal zu Besuch kam, kurz nachdem ich sie kennengelernt hatte, sah ich Bilder ihrer verstorbenen Eltern in ihren Zelten. Die Bilder hatten die Form von Postern bzw. Bannern, mit Photoshop aus einem alten Bild erstellt. Während ihre Eltern im Vordergrund zu sehen sind, besteht der Hintergrund aus einer künstlichen, eigens hinzugefügten Landschaft, die ihrerseits eine Farm mit einer Wiese, ein paar Tieren und einem Haus
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darstellt. Als ich neun Monate später zurückkehrte, um dort eine längere Zeit zu bleiben, hatten sie alle Bilder ihrer Eltern entfernt. Erst zwei Jahre später (2011) habe ich die Bilder ihrer verstorbenen Eltern wieder in ihren Zelten gesehen. Während ich im Laufe meiner Feldforschung etwas zur Calon-Erkenntnis lernen konnte, erinnerte ich mich gelegentlich an eine Passage der Ethnografie von Williams über die Manusch in Frankreich und ihren Umgang mit ihren Toten, die ich hier als Übergang zum nächsten Kapitel widergeben möchte: »When the oldest ones are asked why they chose these areas, they answer as follows: because there was brush, because there were hedgehogs, because there was pasture for the horses, because there were rivers with trout, because the peasants were giving them hay, bacon and milk, because there were springs on the mountainsides and fountains in the villages… The younger ones answer that they stay here because their elders lived and are buried here.« (Williams 1993 [2003], 3)
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»Schau Dich an, [Du] Tote!« Über das Calon-Werden bzw. als Calon aufwachsen
6.1 DAS VERHANDELN UM CALON-WELTEN In diesem Kapitel untersuche ich die Bildung der Calon-Person in Bezug auf Zugehörigkeit und Abgrenzung als Teile einer Calon-Sozialisierung so, wie diese sich auf intergenerationeller und intraethnischer Ebene entfaltet. Dabei beschreibe ich einige Aspekte aus dem täglichen Leben der CalonKinder und fokussiere mich auf ihr Erwachsenwerden. Ich reflektiere darüber als eine Konstruktion der Calon-Person, die durch und zwischen Kindern und Erwachsenen stattfindet und, in ihrem Spannungsbereich in einer Vorstellung von Calonität verankert, von beiden stets neu verhandelt wird. Dieses Verhandeln umfasst u.a. die Aufteilung von Machtpositionen und Schutz, die Modellierung von Emotionen und die Erfüllung von Bedürfnissen, die Entwicklung von Wertvorstellungen und Moralitäten, die Setzung und Erkennung von Grenzen, den Umgang mit Konflikten und Notlagen und die Auswahl der Wege zur Selbstverwirklichung und zur mutuellen Widerspiegelung. Gelegentlich versuche ich, diese Konstruktion aus einer Perspektive der Calon-Kinder zu betonen. Die Kinder werden von den Calon-Erwachsenen in ihrem Alltag manchmal etwas provoziert, indem diese ihre Konstitution und ihre Handlungsfähigkeit als Calon-Personen infrage stellen. Trotzdem und gerade deswegen bauen die Calon-Kinder ihre eigenen Welten resilient weiter. Die Erschaffung ihrer eigenen Welten führen sie angesichts vielfältiger Personen und spannender Angelegenheiten, auf die sie selektiv Bezug nehmen und zu denen sie eine passende Nähe und Distanz finden sollen. Ich argumentiere, dass diese gegenseitige Konstruktion der Calon-Person bei Calon-Erwachsenen und -Kindern das Mitgestalten von dem Leben des Ciganos, die Aktualisierung ihrer Tauschkreisläufe und Individuationsprozesse impliziert.
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6.2 ZUM ERWECKEN DER CALON-TOTEN ALS AUSDRUCK EINER CALON-SOZIALITÄT Irgendwann während des Interviews, das ich im Laufe der ersten Wochen meines längeren Aufenthalts im April 2009 mit Pater Cleyton in Encruzilhada (BA) führte, erklärte er mir: »Die Ciganos nehmen niemanden in ihre Gemeinschaft auf. Sie leben sehr unter sich und sind vor allem sehr, sehr misstrauisch. Vielleicht fangen sie aber an, Dir zu vertrauen, wenn Du ihre Kinder für Dich gewinnst.« Ich begann, sei es wegen dieses Rates oder wegen der lauten Omnipräsenz der Calon-Kinder im Alltag, diesen, insbesondere in der Siedlung in Lagoa Bela, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ohne Zweifel bilden die Calon-Kinder unter den Calen eine Mehrheit. Auf den lateinamerikanischen Kontext bezogen hält Aleksandra Pudliszak fest, dass die hohe Anzahl von Kindern seit jeher ein durch den Staat genutztes Identifizierungsmerkmal darstellte: »According to historical records the Argentine migration officials labelled as Gypsies the immigrants who unified the combination of a set of characteristics. The main features were their Eastern-European origin (mostly Balkans; Serbia and Bulgaria), their physical (exotic) appearance, self-employed and nomadic occupations, their precarious resources or a complete lack of them, their illiteracy and the fact that they travelled in large groups with a lot of children.« (Pudliszak 2012, 5)
Untersuchungen zu Kindern in Zigeunergesellschaften werden häufig mit dem Thema der Integration und daher mit erziehenden Institutionen der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft in einen Zusammenhang gestellt. Trotz ihrer Omnipräsenz, die auch in meinem Forschungskontext zu spüren war und die darüber hinaus sicherlich zur Stereotypisierung von diesbezüglichen Gemeinschaften beigetragen hat, scheinen Kinder in der Tsiganologie bzw. den Gypsy Studies nur einen peripheren Platz einzunehmen; eine Ausnahme bietet Elisabeth Tauber (vgl. 2003), die beide analytischen Perspektiven kombiniert. Ebenfalls sind Kinder im Allgemeinen in ethnografischen Forschungen ein oft vernachlässigtes Thema. Tim Ingold zufolge: »The reasons for the anthropological neglect of children […] do not lie merely in a certain observational blindness […]. Nor do they stem from the real difficulties, practical as well as ethical, of collaborating with children in ethnographic research. To bring children back to where they belong – at the centre of our inquiries, just as they are at the centre of social life – will require more than just a different attitude on the part of ethnographers. For what
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is at stake is the very framework of theory and concepts that we bring to our scientific project« (Ingold 1998, 46).
Wäre das nicht auch der Fall bei Judith Okely, die das Verhalten von Kindern erst Jahrzehnte nach ihrem Feldforschungsaufenthalt bei den Travellers ernsthaft wahrgenommen hat? Okely ging aufgrund ihrer Beobachtungen von Kindern schließlich dazu über, ihre ethnologischen Konzeptualisierungen in neuem Licht zu überdenken. Sie verdeutlicht dies, indem sie z.B. das Verhalten der Kinder während einer Beerdigung als eines der kontrastierenden Merkmale zwischen ihrer eigenen und der von ihr untersuchten Kultur beschreibt: »Without fully recognising the intensity of my personal interest in Gypsy mortuary rites, I engaged with them with exceptional intensity. It was at the funeral that I witnessed the wondrous and admirable cultural contrast with my own culture. From the outset, I learned how Gypsy children are not screened by adults from any sudden tragedy. It is only the facts of sexuality from which they are ritually and ideally sheltered. Death and illness are matters which they are permitted to confront from infancy. They learn to be human not by guessing in exclusion, but through participation. There is no adult silencing in that and most domains. By contrast, in my past non-Gypsy British culture, from the very outset, awareness of death was made a non-subject for children, if not adults. The silence began before the approach of death and continued through the burial and beyond.« (Okely 2008, 68-69)
Im Rahmen meiner Forschung über das Leben des Ciganos in Brasilien hat das Verhalten der Calon-Kinder seit 2009 eine wesentliche Rolle gespielt. Sehr bald, nachdem ich angefangen hatte, die Calon-Kinder zu fokussieren, erfuhr ich, dass die Calon-Erwachsenen des Lagers sich auf ihre Kinder in Kombination mit ihren eigenen Calon-Namen oft als »Verstorbene« (defunto oder finado) oder »Tote« (morto) beziehen: »Wo ist der verstorbene Aldo?« »Hat der verstorbene Poeta das Spiel gewonnen?« So sprechen sie in ihrem Alltag während gewöhnlicher, kurzweiliger Handlungen wie Karten spielen, Musik hören, Geschichten erzählen, Herumsitzen oder beim Nichtstun in einer natürlichen, scheinbar sehr spontanen und nicht selten humorvollen Art und Weise. Die Explizität, Häufigkeit und Banalität dieses Handelns wirkte auf mich damals gewissermaßen etwas verwirrend, weil die Calen i.d.R. durch viele Signale deutlich machen, dass sie offensichtlich nichts mit Tod bzw. Toten zu tun haben wollen. Im Zuge dessen signalisieren sie oft, dass, sich darauf zu bezie-
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hen, eigentlich nur »schlechtes Glück« (má-sorte)1 bringen kann. Wieso verwenden sie dann Bezeichnungen wie finado und defunto (das sind Synonyma für Verstorbenen), um die Kinder des Lagers zu rufen oder zu erwähnen? Wenn ein Calon-Erwachsener irgendein Calon-Kind ganz selbstverständlich als morto (Tote) ruft oder es in seiner Abwesenheit so bezeichnet, was genau sagt er damit aus? Auf wen oder was bezieht er sich und wie sieht es dann mit den eigentlichen Verstorbenen aus? Erst als ich diese Fragen allmählich formulierte, wurde mir klar, dass ich durch eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern etwas über die Modi lernen könnte, wie die Calen in ihrem Alltag ihre eigenen Calon-Lebenden erschaffen. Nämlich, indem sie ihre Kinder als Personen erwecken. Doch neben ihren eigenen Toten können auch die Calon-Kinder ihren Calon-Erwachsenen gegenüber als regulierende Instanzen ihrer Calonität wirken. Sowohl grundsätzliche Aspekte einiger Calon-Sozialisierungsmodi ihrer Kinder als auch die Konstruktion einer eigenen Calon-Kinderwelt (vgl. Hardman 1973; Waksler 1991; van der Geest 1996; Pires 2010) können sichtbar werden. Das passiert, wenn man die von Erwachsenen und Kindern geteilte Calon-Haltung in Bezug auf diejenigen Jurons betrachtet, die zwischen allen Calen stehen und für die Calen auf eine Nichtcalon-Person verweisen. In diesem Kapitel werde ich diese Hypothese entwickeln. Dabei betrachte ich diese Untersuchung über die Beziehungen zwischen Calon-Erwachsenen und Calon-Kindern als eine Voraussetzung für das Verstehen der Modi, durch die die Calen ihre eigenen Toten erschaffen und wie sie folglich gemeinsam mit ihren Kindern eine Calon-Person/Welt in ihrem Alltag rituell konstruieren. Als Ausgangspunkt für diese Untersuchung nehme ich Christina Torens Aussage: »[C]hildren have to live their lives in terms of their understandings just as adults do; their ideas are grounded in their experience and thus equally valid« (1993, 463 apud Ingold 1998, 47). Zusätzlich möchte ich mit Edmund Leach davon ausgehen, dass »the adult’s view of the world must be tied with his childhood experiences and […] the child’s view of the world is a response to the socialising discipline he receives at the hand of the adults around him, notably his own parents [bzw. Bezugspersonen im Allgemeinen]. Inevitably this external world appears as a dangerous place, arbitrarily and un-
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Schlechtes Glück kann hier z.B. als eine Redestrategie, die sowohl bei Calen als auch bei Jurons in Brasilien zu finden ist, angesehen werden, durch die man von Pech spricht, ohne dies explizit heraufzubeschwören.
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predictable friendly and hostile, dispensing benefits at one moment and punishments the next. But, for the child, power, whether good or bad, is always ›out-there‹; the self is impotent. In adult life this childhood experience has to be grafted to a theology of life and death. There is an almost universal theory that the difference between a live creature and a dead one is that the ›life‹ or ›soul‹ has abandoned the latter. The ›soul‹ is conceived of as a kind of substance which exists on a metaphysical plane even when it is detached from the body. It is the persisting immortal part of me; the central indestructible essence of self. It follows that the living parents, who administered arbitrary and unpredictable justice when I was a child, still survive on a metaphysical plane after they are dead and continue to administer arbitrary and unpredictable justice on their descendants. This influence of the soul of the dead upon the fortunes of the living derive from the state of relationship which is felt to exist between the living ›here‹ and the dead ›out-there‹. A great deal of religious ritual has the professed purpose of altering this relationship.« (Leach 2000 [1965], 346-347)
Die Calen bilden Minderheiten, deren Beziehungen zwischen Lebenden und Toten von der hegemonischen, sie umgebenden Juron-Mehrheit öffentlich vermittelt werden. Somit besteht eine wesentliche Aufgabe der Calen darin, die Unmittelbarkeit ihrer Beziehungen zwischen Kindern, Erwachsenen und eigenen Toten selbst autonom zu halten bzw. wiederherzustellen. Hierin möchte ich argumentieren, dass die rituellen Handlungen der Calen im Kontext eines zwischenmenschlichen Verlustes dazu beitragen, die Kräfte und Auswirkungen der Praktiken von Juron-Institutionen über die Unmittelbarkeit zwischen den Calen, die zusammengehören, unter sich zu neutralisieren. Im Grunde erfüllen die Calen diese Aufgabe unter sich innerhalb ihrer privaten Sphäre im Verborgenen, sodass die gegenseitigen Bezüge von, unter und zwischen ihnen als immanent weiter erlebt und von ihnen gewissermaßen direkt reguliert werden können. Diejenigen Calen, die zueinander gehören, sind also nicht »out-there«, sondern zirkulieren: Sie sind mal dort, mal hier, mal um sie herum, unabhängig von ihrer Altersgruppe. Die Calen schaffen es, diese Immanenz ihrer gegenseitigen Beziehungen zwischen Kindern, Erwachsenen und den eigenen Toten mit ihrer eigenen weltlichen Lebenserfahrung zu artikulieren, möglicherweise indem sie politisch-religiöse Juron-Institutionen und deren jeweilige transzendentale Juron-Theologien und -Wissen davon ausschließen, selbst wenn sie offiziell als Mitglieder gelten. Nicht selten gehört die mündliche Bestätigung der Calen über ihre religiöse Filiation einem Juron gegenüber zu jenem Set von Diskursen, die von den Calen spezifisch für die Jurons formuliert wurden.
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In diesem Sinne geht es für die Calen darum, das Aufwachsen ihrer CalonKinder nach ihrer Calonität als eine spezifische Art von Sozialität zu orientieren. Sozialität verstehe ich im Sinne einer »dynamic and interactive relational matrix through which human beings come to know the world they live in and to find their purpose and meaning within it« (Long & Moore 2013, 2) und »through which persons are constituted in […] mutually constitutive ways« (ebd., 19). Diese Definition schließt jene ein, die Simmel (vgl. 1992 [1908]) als Grundlage seiner Soziologie vor einem Jahrhundert schon formuliert hatte und die Stephanie Stadelbacher zusammenfassend wie folgt erklärt: »Bei Simmel steht ein in gewisser Weise interaktionistisches Denken im Vordergrund. Gesellschaft entsteht nicht durch die Abfolge sinnhafter, intentionaler Handlungen einzelner Subjekte, sondern als Effekt von wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen der Individuen, die von einem bestimmten Zweck, Interesse, Motiv geleitet sind […] – Gesellschaft als Effekt von Interferenzen. Diese lassen, durch die Konstitution sog. sozialer Kreise, Interaktionsnetze entstehen, in die der Einzelne eingebunden ist und die durch wiederholtes soziales Handeln aufrechterhalten, erweitert oder neu erzeugt werden. Sozialität erklärt sich bei Simmel damit nicht aus individuellen Motivlagen oder aus moralischen Zwängen, sondern aus sozialer Vernetzung.« (Stadelbacher 2016, 24f.)
Die Altersgruppen bieten auch relationale Matrizen an, die die Individuen als Referenz und Mittel (z.B. für Inklusion und Exklusion) für den Umgang mit verschiedenen sozialen Kreisen ihrer Umwelt und jeweiligen Personen nutzen können. In der vorliegenden Abhandlung spielt Sozialität deswegen eine wesentliche Rolle zum Verstehen von Beziehungen zwischen den verschiedenen CalonGenerationen. Für die Calon-Erwachsenen in ihrer Position als relational matrix geht es darum, dass ihre Calon-Kinder als Teil ihres Calon-Sozialisierungsvorgangs ihren eigenen Spuren folgen und daher die Tradition ihrer eigenen Calen entsprechend übernehmen. Die Calen streben deswegen an, »die Zukunft [ihrer Kinder] zu machen«, indem sie diese einerseits unterstützen und andererseits ihren Weg zur Calon-Autonomie (d.h. das »Sichetablieren«) zeigen. Indem die Calen die Zukunft ihrer eigenen Kinder machen, koproduzieren sie sich selbst als ihre zukünftigen eigenen Calon-Ahnen, da ihre eigenen Kinder später zu CalonErwachsenen werden, so wie sie selbst irgendwann sterben werden. In diesem Zusammenhang tendieren viele Calen dazu, die dominante JuronReligion nicht vollständig anzunehmen und ihren jeweiligen Autoritäten die Rolle als Vermittler zwischen ihnen und ihren eigenen Toten auf keinen Fall zu übertragen. Eher wenden sich die Calen von der Juron-Theologie ab, um selbst die Beziehungen mit ihren eigenen Toten nach einer eigenen Calon-Ethik direkt
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pflegen zu können. Genauso wenig übertragen die Calen ihre direkten, erziehenden Beziehungen zu ihren Kindern dem Juron-Schulsystem, obwohl ihre Kinder teilweise darin eingegliedert sind. Neben dieser Aufgabe und als Teil meines Arguments exploriere ich in diesem Kapitel die Frage, ob und inwieweit die Calen einen Ausgleich bezüglich der gegenseitigen Einflüsse anstreben, die Calon-Kinder, Erwachsene und ihre eigenen Toten angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen innerhalb ihrer Tauschbeziehungen aufeinander ausüben können. So wie die Calen eine eigene Welt weder ohne die Jurons noch ohne ihre eigenen Toten einrichten können, ist es für die Calon-Kinder unmöglich, eine eigene Welt ohne ihre CalonBezugspersonen als Vorbilder und ohne die sie umgebenden Jurons als Gegenbilder zu erschaffen. Abbildung 13: »Cigano-Jungen« (meninos Ciganos)
Quelle: Mello Moraes Filho 1904, 98
Im spezifischen Fall der Calen, bei denen die eigenen Toten prinzipiell zirkulieren bzw. kommen und gehen, stellt sich die Frage: Wie betrachten sie sich und ihre Kinder in ihrem Alltag in Bezug aufeinander, wie gehen sie miteinander um und was drücken ihre Beziehungen untereinander über die Modi aus, mit denen sie ihre eigenen Toten konzipieren bzw. wie sich ihnen gegenüber verhalten? Welche Rolle spielen ihre eigenen Toten bei der Erziehung ihrer Kinder?
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6.3 ZWISCHEN AMBIGUITÄT UND EINEM GEMEINSAMEN CALON-SCHICKSAL Ein spezifisches Wort auf Chibi, welches das bezeichnet, was criança im brasilianischen Portugiesisch oder dem deutschen Begriff Kind als einer Entität an sich entspricht, kenne ich bei den Calen nicht. Stattdessen nutzen viele Calen Verwandtschaftsbezeichnungen für Sohn (d.h. chavon auf Chibi und filho auf Pt.) und für Tochter (d.h. chavin auf Chibi und filha auf Pt.). Calon-Erwachsene wählen diese Wörter aber nicht so oft, um sich auf ein Kind zu beziehen. Dafür gibt es ein anderes Wort, das sie für Kinder im Allgemeinen und häufig verwenden: Chaburron. Chaburron ist prinzipiell eine Variation ähnlicher Wörter, wie sie in vielen verschiedenen Romani-Sprachen anzufinden sind (chavolo, chavo, chaboro usw.). Doch der burron-Teil von Chaburron erweckte den Eindruck in mir, dass es sich um mehr als ein bloßes Suffix handelt. An dieser Stelle möchte ich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Chaburron bei den Calen in Brasilien aus einer Kombination von zwei Wörtern bestehen mag: chavon und burnon bzw. juron (was jeweils burro bzw. jumento auf Pt. jeweils und Esel auf Dt. heißt). Obwohl ich nicht über die Kompetenz eines Linguisten verfüge, dies beweisen zu können, möchte ich explorieren, ob das Wort Chaburron die ontologischen Grundprämissen der Calen in Bezug auf die Konstruktion der Calon-Person/Welt wiedergibt. In diesem Sinne soll dieses Wort wiederum nicht als verdinglichende Bezeichnung für Kind verstanden werden. Stattdessen kann man es als einen Ausdruck verstehen, der die Kinder einerseits als Juron, und daher im Gegensatz zu Calen, definiert, und der die Kinder andererseits als direkte Verwandte einschließt. Dadurch werden die Kinder von den Erwachsenen im Prinzip ambivalent konzipiert und haben folglich einen mehrdeutigen Status. Während Chaburron sehr allgemein verwendet wird, werden dazu Tote (morto) im Alltag öfter benutzt, um sich spezifisch auf das eine oder andere Kind zu beziehen. Für die Calen sind morto und seine Synonyme (finado, defunto und falecido) häufig nützliche und günstige Ausdrücke, um jemanden zu bezeichnen, der z.B. etwas nicht ordentlich erledigen kann, vor allem in Abgrenzung zu dem, was und wie es ein Calon tun würde. Außerdem geht es um jemanden, der überhaupt wenig oder keine Kraft (força) besitzt oder noch zu unselbstständig ist; wobei Selbstständigkeit bei Calen i.d.R. etwas anders verstanden wird als bei Jurons, wie Geschlechterrollen zeigen können (vgl. auch Fotta 2012b, 228-231). An dieser Stelle nähere ich mich der Kraft als Calon-Begriff an. Die Ausdrücke »Kraft haben« (ter força) und »starker Cigano« (Cigano forte) konnte ich
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vor allem in zwei verschiedenen Kontexten hören: erstens, um die Kraft eines Calons als Kapazität und Prestige auszudrücken, andere Leute zu mobilisieren, um eigene Interessen zu verfolgen wie z.B. für einen Kampf gegen Blutsfeinde; zweitens, als Bezeichnung für die Treue in Bezug auf die eigenen Toten und die Echtheit als Cigano wie z.B. die Disziplin, mit der ein Calon die eigenen Toten verehrt. Somit weist tot als Adjektiv auf keine Qualität, keinen Zustand oder keinen Status hin, welcher den Kindern exklusiv zugeschrieben wird. Die Calen können solche Adjektive prinzipiell ebenso anderen Erwachsenen zuordnen. Das mag passieren, wenn sie z.B. die Beschränkungen einer Person betonen wollen, gleich ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt. Es geht um eine Leblosigkeit, die bei Calon-Erwachsenen in letzter Instanz als Gegensatz zu einer notwendigen Unbefangenheit angesichts der allgemeinen Wechselhaftigkeiten eines Lebens voller alltäglicher Herausforderungen steht; eine Leblosigkeit, die prinzipiell als inkompatibel mit den Überlebensanforderungen eines CiganoLebens inmitten von Jurons und unter anderen Ciganos erscheint. Die Nutzung von tot in Bezug auf die Kinder war für mich jedoch viel auffälliger, während ich diese Bezeichnungen für ältere Leute nie hörte. Neben dieser Terminologie gibt es einen weiteren Aspekt, der die Idee der Leblosigkeit im Sinne von tot bzw. »unbeweglich sein« als Zuschreibung für Kinder verstärkt. Es ist die Art und Weise, in der Calon-Erwachsene manchmal von und über die Kinder als passive Wesen reden. Chaburrons (im Plural), so betonen sie gelegentlich, »werden gepflegt«, »versorgt«, »geschützt«, »unterhalten«, sie werden von einem Ort zum anderen »mitgenommen« bzw. »gefahren«, sie werden von ihren Eltern »verheiratet«. Und dabei wird im Grunde von ihren Vätern das organisiert und ermöglicht, was diese »die Zukunft machen« nennen. Dennoch verhalten sich z.B. die Calon-Jungen im Allgemeinen anders als die Calon-Erwachsenen: Sie verbringen viel Zeit mit den Frauen des Lagers (normalerweise mit ihren Müttern, Tanten, Schwestern und Cousinen); sie fahren zusammen mit den Frauen zu Hochzeitszeremonien in die Kirche, während die wahren Calen in der Siedlung oder auf der Hochzeitsparty unter sich bleiben. Da sie selbst kein Auto haben und keines fahren, sind die Kinder auch diejenigen, die einer Mitfahrgelegenheit nachrennen müssen, wenn ein Calon das Lager mit seinem Auto verlässt,2 und die Kinder sind diejenigen, die beim Kartenspiel nur mit Kleingeld wetten usw. Doch trotz der Inkompatibilität mit dem Cigano-
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Für die von mir aufgesuchten Calen im Allgemeinen schien ein Calon-Erwachsener, der z.B. über kein eigenes Verkehrsmittel verfügt, kaum vorstellbar zu sein.
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Leben scheint diese Leblosigkeit als Attribut für Nichtcalen notwendig für die Selbstabgrenzung und Existenz der Calen. Die Calon-Erwachsenen vergleichen ihre Calon-Kinder also nicht nur mit Wesen, die nichts mehr tun können, wie den Toten, die im Prinzip kein Agency (vgl. Sax 2013) über sie ausüben können, da sie von ihren Verwandten und der Kirche woandershin geschickt wurden und damit vorbei sind, sondern auch mit Jurons, die wiederum metaphorisch mit Esel und Maultier verglichen werden, indem sie miteinander die gleiche Bezeichnung teilen und ihre eigenen Toten nicht bei sich behalten. Und doch werden die Kinder dadurch gleichzeitig mit den Calen verwandtschaftlich als ihre eigenen Erweiterungen verbunden. Die Calon-Erwachsenen markieren somit zugleich sowohl einen wesentlichen Abstand als auch eine wesentliche Nähe zu ihren Kindern. Die Chaburrons sind oftmals diejenigen, die der Gegensatz von ihren Calon-Erwachsenen sind, und dennoch sind sie eben jene, die dazu bestimmt sind, wie ihre Calon-Erwachsenen selbst Calon zu werden, und das, obschon sie schon Cigano sind. Zum großen Teil heißt dieses Calon-Werden für die Chaburrons, den Spuren ihrer Calon-Erwachsenen zu folgen, diese nachzuahmen. Allerdings scheint ihr instabiler Status eine Spannung aufzuweisen, die jenes klassische dialektische Prinzip ausdrückt, nach dem alles, was existiert, den Keim seines Gegensatzes in und mit sich trägt (wie bei Heraklit z.B.). Wie Billie Jean Isbell Aufmerksamkeit erregt, ergreift der Begriff der Dialektik für Roy Wagner »a tension or dialogue-like alternation between two conceptions or viewpoints that are simultaneously contradictory and supportive of each other. As a way of thinking, a dialectic operates by exploiting contradictions (or, as Lévi-Strauss would call them ›oppositions‹) against a common ground of similarity, rather than by appealing to consistency against a common ground of differences, after the fashion of rationalistic or ›linear‹ logic.« (Wagner 1981 [1975], 52; auch in Isbell 1982, 353-354)
Isbell illustriert beide Modelle wie folgt: »In Western science, taxonomies and typologies employ the principle of similarity against a common ground of differences. The underlying assumption of rationalistic logic is linear causality. In sharp contrast, dialectical logic focuses upon simultaneous interdependence and contradiction. Linear causality is not assumed. For example, the most widespread dialectical concept in the American tropics is the Axis Mundi. While the cultural contents differ, the necessary tension is maintained between the opposed elements of the upperworld and the underworld. The interdependence is such that one cannot be defined without reference to the other.« (Ebd., 354)
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Die hybride Calon-Bezeichnung Chaburron ist der Begriff, der diese konstitutive Spannung ihrer Calon-Welt am stärksten auszudrücken scheint. Die Bezeichnung tot/Tote weist in diesem Kontext nicht nur auf eine gewisse Passivität im Kontrast zur Aktivität der Calon-Erwachsenen hin, sondern auch auf einen Mangel – und daher eine Spannung – an Calon-Zivilität in dem Sinne, dass die Tätigkeiten der Kinder in den Augen der Calon-Erwachsenen nicht unbedingt dem entsprechen, was das Leben eines Ciganos ausmacht, nämlich dem Set von liturgischem Handeln, welches zur Erschaffung einer Calon-Welt als ausdrücklich männlich orientierte Ordnung auf eine rituell geeignete Weise genutzt wird. Tot/Tote kann als eine Art Signum oder Titel angesehen werden, welchen die Calen an die Noch-nicht-Calen vergeben. Daher scheinen die CalonKinder von den Erwachsenen vor allem als Nichtinitiierte betrachtet und behandelt zu werden. Nach Claude Lévi-Strauss: »Das ›Nicht-initiiert-Sein‹ ist nicht einfach ein Zustand des Mangels, definiert durch Unwissenheit, Verblendung oder andere negative Konnotationen. Die Beziehung zwischen Initiierten und Nichtinitiierten hat einen positiven Inhalt. Es ist eine komplementäre Beziehung zwischen zwei Gruppen, von denen die eine die Toten und die andere die Lebenden repräsentiert. Im Laufe ein und desselben Rituals werden die Rollen übrigens häufig und mehrmals vertauscht, denn die Dualität erzeugt eine Reziprozität der Perspektiven, die sich, wie im Fall einander gegenüberstehender Spiegel, endlos wiederholen kann: Wenn die Nichtinitiierten die Toten sind, dann sind sie auch Überinitiierten; und wenn die Initiierten, wie es ebenfalls häufig vorkommt, die Geister der Toten verkörpern, um die Novizen zu erschrecken, dann obliegt es letzteren, sie in einem späteren Stadium des Rituals zu verscheuchen und ihre Wiederkehr zu vereiteln.« (Lévi-Strauss 2014 [1952], 28-29)
Wie in zahlreichen nichtwestlichen Kulturen scheint ein Chaburron aus der Perspektive eines Calon-Erwachsenen ein Nichtinitiierter im Sinne einer unvollständigen Person zu sein. Allerdings ist das, wie Marshall Sahlins schreibt, »not because he or she is born an anti-person« (2008, 100). Sahlins kritisiert hier die im Westen übliche Vorstellung einer vermutlichen menschlichen Natur, nach der der Mensch ursprünglich als böses, egoistisches Tier konzipiert ist, dessen Impulse während der Kindheit durch eine systematische, pädagogische Unterdrückung gezüchtigt werden müssen; die auffälligste und klarste Formulierung dieser Denkweise sei in den Werken Freuds zu finden. Nach Sahlins handelt es sich jedoch eher um eine Frage der Sozialität.
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»In fact, few societies known to anthropology, besides our own, make the domestication of infant’s inherent anti-social dispositions the issue of their socialization. On the contrary, the average common opinion of mankind is that sociality is the normal human condition. I am tempted to say that sociality is generally considered ›innate‹, except that the people do not regard themselves as composed of a biological substratum – certainly not an animal substratum – on or against which culture is constructed. Clearly this would be a biological fallacy for those who know themselves as reincarnations of deceased relatives, as is the common fact of infant life in West Africa, Northern North American and Northern Eurasia.« (Ebd.)3
Obwohl viele Jurons in den Augen der Calen nicht nur als Nichtcalon (wie die Juron-Nachbarn), sondern auch als Anticalon (wie z.B. die Agenten des Staates und Autoritäten institutionalisierter Religionen) angesehen werden können, sind die Calen im Prinzip kein Antijuron, sondern lediglich Nichtjuron. Ebenso wenig sind die Calon-Kinder an sich Antijurons, genauso wie die Kinder im Allgemeinen und weitgehend nicht unbedingt als Antiperson geboren werden. Wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe, sind die Jurons keine Konkurrenz für die Calen, weil sie nicht auf derselben Ebene stehen. Dagegen aber mögen die Calen selbst in Bezug auf andere Calen wiederholt als Anticalen handeln, sobald diese von ihnen als Bedrohung empfunden werden; d.h. als andere Mächte, die mit ihnen nicht assoziiert sind. Somit geht es bei den Calen also nicht darum, die inhärente Animalität bzw. die in sich tragenden und unerschöpflichen Sünden der Geborenen durch systematische, unterdrückende Erziehung zu reinigen, damit diese Menschen werden können, wie es bei vielen Jurons üblich ist. Vielmehr handelt es sich für die Calon-Erwachsenen eher darum, den Chaburrons mittels ihrer Erkenntnis und aus Gefühl beizubringen, wie sie zu Leuten wie wir werden. Wenn ich von einem gemeinsamen Calon-Schicksal spreche, möchte ich vor allem den totalen Charakter der Tauschbeziehungen zwischen den Erwachsenen und den Kindern bei den Calen betonen.
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Im Nordosten Brasiliens (besonders im Hinterland) können Kinder als »kleine Engel« (anjinhos) bezeichnet werden, wenn sie jung gestorben sind. In manchen Orten bleiben die Kinder kleine Engel bis sie fünf oder sechs Jahre alt sind, aber das kann von Ort zu Ort variieren. Weil sie keine Sünde begangen haben, glauben viele Erwachsene, dass sie gleich als Engel in den Himmel gehen. Vgl. zum Thema Nogueira (1983) und zur Banalität in Bezug auf den Tod von Kindern im Nordosten Brasiliens Koury (1994). Siehe dazu auch für den Südosten Brasiliens Lima Vailati (2002).
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Die Calon-Erwachsenen bezeichnen ihre Calon-Kinder also als unvollständige Wesen, weil diese vor ihnen nicht als ganze Personen handeln und folglich keine wahren Calen sind und keine Eigennamen besitzen. In Bezug auf eine Moralität des Tauschs und auf eine jeweilige Nivellierung von Status (vgl. Manrique 2012) bekommen die Kinder im Gegensatz zu den Calon-Erwachsenen viel mehr, als sie geben, und können auch noch nicht anders. Die Kinder bleiben vielmehr eine Cigano-Werdung als ein bereits fertig geborener Cigano, insoweit sich dieses asymmetrische Tauschverhältnis nicht ändert. Darüber hinaus achten viele Calon-Kinder noch nicht auf die Unterschiede zwischen Calen und Jurons und sind deswegen manchmal kaum von Jurons zu unterscheiden, was auch auf ein Defizit an Calon-Moralität bzw. -Scham (vgl. Ferrari 2010) hinweist. Auch die Calon-Erwachsenen sind in dem Sinne keine ganzen Personen, sondern nur in Bezug auf die Kinder selbst, sofern sie als Vorbilder gelten. Genauso wie sich die Kinder von ihren lebenden Erwachsenen führen lassen, lassen sich ihre Erwachsenen wiederum von ihren eigenen Toten führen. Deswegen kann es auch vorkommen, dass die Calon-Erwachsenen von ihren Kindern geführt und ergänzt werden, so wie ihre eigenen Toten von den Calon-Erwachsenen abhängen, die sie verehren. Diese Unvollständigkeit und Ambiguität der Kinder zeigt sich in den Augen der Calon-Erwachsenen demnach auf vielfältige Weise, häufig als fehlende Erkenntnis, Kraft oder fehlendes Gefühl oder als aufzufüllende Lücken in ihrer Calon-Zivilität. Den Kindern scheint noch die richtige Haltung zu fehlen, die als liturgisches Handeln und daher als Beitrag zur rituellen Reproduktion ihrer eigenen Calon-Welt wirkt (vgl. Koury 1999). Dieses ordentliche, richtige Agieren im Alltag betrifft ebenfalls ihre Verhaltensweise im Kontext eines zwischenmenschlichen Verlustes. In Situationen von Tod und Sterben fallen einige dieser Unvollständigkeiten bei den Chaburrons deutlicher auf, und zwar jedes Mal, wenn sie sich dabei anders verhalten als die Calon-Erwachsenen. Ein Auszug meiner Feldnotizen zur 30. Totenmesse für Pedros Vater, der woanders veröffentlicht wurde (Vilar 2011, 43), kann als weitere Illustration eines Kontrastes zwischen dem Verhalten der Calon-Kinder und dem der Erwachsenen dienen; dabei kann die Rücksichtslosigkeit der Kinder als ein Mangel an Kenntnis, Kraft und Gefühl interpretiert werden: »Die Leute treten erneut in die Kirche ein. […] Fast alle sind Calen – es gibt nur wenige Ausnahmen. Wir nehmen praktisch denselben Platz ein wie zuvor, so wie einige andere auch. Zwei Kirchenstühle vor uns sitzen die ganz in schwarz gekleidete Witwe und zwei ihrer Enkelinnen, die Zwillinge sind: Clara und Clarice. Wie die anderen anwesenden Kinder werden diese auch während des Rituals stets herumschauen, lächeln und spielen.
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Die meisten Männer sitzen ein bisschen weiter hinten, die Anzahl der Calen hat in dieser letzten Stunde noch mal zugenommen.«
Die oben erwähnten Calon-Männer sind nähere Verwandte des Verstorbenen und deswegen sind sie überhaupt drin in der Kirche. Währenddessen wartet die Mehrheit der Calon-Männer (also, andere Calen) draußen. Hier fällt die Diskrepanz zwischen der rituellen Verhaltensweise der Erwachsenen und der Gleichgültigkeit der Kinder auf, welche von den Calen als natürlich angenommen wird. Wie alle Kinder erleben auch die Chaburrons einen zwischenmenschlichen Verlust anders als die Erwachsenen und äußern sich emotional auf andere Weise. Prinzipiell kennen sie sich noch nicht mit den gemeinsamen Calon-Bestattungsbräuchen aus. Oder falls doch, dann sind sie noch nicht in der Lage, eine geeignete Trauerarbeit zu leisten, wie im Fall einer der Teenager-Töchter von Aparecida, die Bilder von ihrem Großvater und ihrer Großtante, welche verstorben sind, aus Sehnsucht im Internet gepostet hatte, diese aber löschen musste, als die Älteren das mitbekamen. Und das ist in Bezug auf die jüngsten Kinder noch komplexer. Aus einer psychologischen Perspektive betrachtet, argumentiert bspw. Jean Piaget, dass Kleinkinder den Tod nicht fürchten, weil sie grundsätzlich noch keine klare Vorstellung davon haben. Stattdessen ist der Tod für sie, mit dem Verschwinden der Eltern gleichzusetzen (vgl. Piaget 2016). In den Augen der Calon-Erwachsenen kann nur das mit den eigenen Ciganos geteilte, gemeinsame Leben die als unvollständig konzipierten Kinder auf geeignete Weise zu Calon-Personen machen. Das schließt weitere komplementäre Bedingungen, wie bspw. ein eigenes starkes Rückgrat entwickelt zu haben, nicht aus. Zugleich ist in vielen Calon-Geschichten implizit eine Lektion zu finden: Jeder Calon, der ohne seine eigenen Calen steht, ist ein Niemand. Allein wird er schwach. Einsam wird er traurig. Hat er keine Kraft, wird er den Jurons und den anderen Calen schnell schutzlos ausgesetzt sein. Die Chaburrons müssen von ihren Calon-Erwachsenen lernen, dass, genauso wie die Calen zusammenwachsen und das Leben gemeinsam feiern, sie gleichfalls zusammen sterben und begraben werden können. Obwohl die Chaburrons noch keine richtigen Calon-Personen sind, wachsen sie neben diesen auf und bilden mit ihnen eine Schicksalsgemeinschaft (communauté de destin), wie Jacques Loew (vgl. 1959 apud Bosi 1994, 38) es nannte. Somit ist den Chaburrons in gewissem Sinne ein Cigano-Schicksal vorherbestimmt. Einerseits heißt bei ihnen, zusammen zu sein und denselben Weg entlang zu gehen, unmittelbar zu der gemeinsamen Welt zugehören. Andererseits heißt es auch, als gegenseitige Erweiterung Teil voneinander zu sein, in dem
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Sinne, dass sie nicht nur mutuell zu ihrer Entwicklung und Individuation beitragen, sondern auch eine gewisse Ordnung bilden, was aus ihren Beziehungen einen ontologischen Austausch macht. Eine Geschichte, die mir von einem Juron-Leichengräber im Juli 2009 erzählt wurde, zeigte mir erneut, wie sich die Wechselhaftigkeiten des CalonLebens radikal als eine Frage von Leben und Tod entfalten können. Wir standen an einem Friedhof in Monte Verde vor den Gräbern von fünf Calen, die im Jahr 1986 am selben Tag gestorben sind, darunter vier Kinder. Er erzählte mir dann, dass 120 Kilometer von dort entfernt am Chapada Diamantina zwischen zwei Calon-Familien ein Streit ausgebrochen war. »Sie hatten irgendein Problem miteinander gehabt… Ich weiß nicht, worum es ging, aber dann riefen sie sich zu den Waffen…«, sagte mir Mariano, der Leichengräber. Eine der Familien »hat gewonnen«, während die andere fast komplett ausgelöscht wurde. Bei diesem Kampf sind die vor uns begrabenen fünf Mitglieder derselben Kernfamilie umgebracht worden: der Vater, seine drei Söhne und ein Neffe. Vom Schicksal der anderen Familie hat der Leichengräber nichts erfahren. Es scheint für die Calon-Erwachsenen am wichtigsten zu sein, dass ihre Chaburrons sie als Bezugspersonen annehmen und unter ihnen heranwachsen, sodass die Chaburrons das Bedürfnis nach Treue zu ihnen entwickeln. Dabei geht offenbar eine Anpassung vor sich, bei der die Kinder und Erwachsenen allmählich gleich voneinander abhängig werden. Die Kinder entwickeln sich zu CalonPersonen, indem sie zu einem aktiven Teil eines bedeutsamen, erfahrungsreligiösen Ganzen werden. Das kann auch durch die folgende Episode aus meinem Feldtagebuch illustriert werden. Dabei geht es um einen Streit zwischen Horácio, dem Schwager von Tico, und einem Juron, bei dem seine beiden Söhne Poeta und Macarrão, zwölf und elf Jahre alt jeweils, anwesend waren. Jeder von ihnen hat sich in Bezug auf das Geschehnis anders verhalten: »Gegen halb acht höre ich einige Schreie aus dem Zelt von Horácio. Ein Juron, der bei ihm Schulden hat, ist bei ihm mit einem Motorrad vorbeigefahren. Sie haben wegen eines Autos heftig gestritten. Vor einiger Zeit hat Horácio dem Juron ein neues Auto verkauft. Der Juron hat ihm einen Teil mit Geld und einen weiteren Teil mit Gegenständen (Herd, Autoteile usw.), jedoch nicht vollständig, bezahlt. Monatelang hat Horácio ihn wegen des Restbetrages gesucht, aber der Juron hatte nie das Geld, um komplett dafür zu bezahlen. Dann haben sie miteinander abgemacht, dass Horácio das Auto zurückkauft, da es sowieso schon z.T. bezahlt war, und dass er die Sachen, die er von dem Juron in Materialien bekommen hat, als Teil der Bezahlung behält. Horácio würde dem Juron dagegen dann 1700 R$ zusätzlich bezahlen, damit er das Auto noch mal besitzen könnte.
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Um den Juron zu bezahlen, hat Horácio mehrere Bank-Schecks von dritten Personen gesammelt, die zusammen etwa 1350 R$ betragen. Den Rest würde er dem Juron später bezahlen. Der Juron hat aber seine Schecks nicht angenommen. Auch weil Horácio das Auto noch nicht zurückbekam, haben sie dann heftig gestritten. Nachdem sie sich gegenseitig beleidigende Worte an den Kopf geworfen hatten, hat der Juron versucht, loszufahren. Als der Juron an sein Motorrad kam, stand Horácio auch auf, bat seinen zwölfjährigen Sohn Poeta um das Messer und ging drohend auf den Juron zu, der jetzt fliehen wollte. Macarrão, der andere Sohn von Horácio, der auch anwesend, aber im Zelt war, tat nichts anderes, als aus einer gewissen Ferne das Ganze passiv zu beobachten, während der Juron, der von Horácio und Poeta bedroht wurde, vom Motorrad sprang und zu Fuß wegrannte. […] Danach hat Horácio vor anderen Calen Poeta gelobt, während Macarrão von ihm ausdrücklich gedemütigt wurde.«
Die Chaburrons vervollständigen sich zu Calon-Personen offenbar vor allem durch Erlebnisse während des gemeinsamen Aufwachsens, zu dem Treueprüfungen gehören. Zusammen aufzuwachsen heißt hier zu lernen, dass man mit den eigenen Calen schicksalhaft verbunden ist und daher selbst mit den Ununterscheidbaren eine Schicksalsgemeinschaft bildet, bei der man das Leben zusammen lebt und gleichfalls zusammen stirbt. Auch hier ist die Unvollständigkeit und daher Nichtinitiiertheit von Macarrão und Poeta als Calon-Personen prinzipiell »a question of the maturity of child’s mind or soul rather than the regulation of bodily impulses. Personhood is gradually achieved through social interactions, especially those involving reciprocity and interdependence, for these comprise and teach the child’s social identities.« (Sahlins 2008, 101) Zu diesen Interaktionen gehören Konfliktsituationen, wo Gefühl, Kenntnis und Kraft gefördert werden und wo die darin involvierten Leute ihre Positionen in Bezug aufeinander aktualisieren. Eine weitere Situation, die ich diesmal in RN beobachten konnte, stützt dieses Argument: Als wir bei Aparecida einmal eines der Videos von den Weihnachtsfeiern anschauten, kommentierte jeder der anwesenden Calen gelegentlich etwas zu dem Fest. Einer bemerkte, wie toll das war. Ein anderer lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass X. dort anwesend war, aber zeitig abgehauen ist. Es war ein Cigano-Fest in Colinas, wo der Rom von Aparecida mehrere Verwandte hat. In dem Video ist viel zu sehen, u.a., wie die Calen dort die älteren männlichen Calen verehren, indem sie den Wunsch zeigen, neben ihnen porträtiert zu werden. Irgendwann kommentierte ein mitschauender Chaburron: »Dies [das Video] ist recht toll, oder? Damit kann man sich an die Alten erinnern!« Das wäre eine ganz normale Beobachtung gewesen, wenn nicht alle anwesenden Calon-Erwachsenen gleich danach plötzlich geschwiegen hätten. Der
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Chaburron hat verraten, ohne es zu bemerken (da er ein Chaburron ist), dass die Weihnachtsvideos der Erinnerungen an die Alten dienen. Die Spannung entsteht, weil die Alten (bzw. die Ältesten, os mais velhos) auch die eigenen Toten gelegentlich einschließen können. Das ist z.B. der Fall, wenn es unter den Zuschauern Calen gibt, die die im Video gezeigten toten Angehörigen als Lebenden respektvoll behandeln. Hier hat der Chaburron eine Tabuzone betreten, die in der Calon-Öffentlichkeit gemieden werden soll. Gemeint sind die Erinnerungen an die Toten, als ob das moralisch sanktioniert wäre, was nicht der Fall ist, sondern im Gegenteil: Man soll sich in einer Calon-Öffentlichkeit nicht an die eigenen Toten erinnern bzw. darüber reden. Dasselbe Video zeigt zudem, wie die auf dem Fest anwesenden Chaburrons einen für sie von den Calon-Frauen vorbereiteten Topf voller Hähnchen bekommen und schnell und in großer Zahl darauf zugehen, als der Topf auf den Boden gestellt wird. Sie greifen nach den Hähnchenstücken, als ob sie hungrig wären. Doch tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Spiel. Ähnliche Szenen, bei denen sowohl Wettbewerb unter Chaburrons – aber manchmal auch zwischen Calon-Frauen – als auch eine Art sublimierende Inszenierung eines Notzustandes (z.B. Hunger) als eingeflochten erscheinen, konnte ich später persönlich bei einigen Calon-Hochzeitsfesten in BA beobachten. Insbesondere die Art und Weise, wie die Calen dort (nicht nur die Chaburrons) auf das Essen zugehen, wenn es im Verlauf der Cigano-Party auf den zeremoniellen Tisch gelegt wird. Auf diesem Video ist auch zu sehen, wie die Calen bei dem Weihnachtsfest, das vor allem auf der Straße und vor dem keh des Gastgebers abgehalten wird, sich im Kreis stehend umarmen. Viele von ihnen stellen sich so vor der Kamera als zusammengehörig auf, während sie Rührung ausstrahlen.4 Chaburrons werden also zu Calon-Personen, indem sie als Teil der CalonWelt aufwachsen und auf diese Weise zivilisiert werden, sofern sie wie ihre eigenen Calen und für diese handeln. Dazu gehört es, auf die andere Seite zu wechseln bzw. das Verborgene ihrer eigenen Calon-Kultur kennenzulernen, was sich oft durch Initiationsrituale ergibt. Doch diese scheinen bei den Calen vielfältig, auf verschiedenen Ebenen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und wohl extrem subtil vor sich zu gehen. Es mutet an, als blieben die Calon-Kinder ungeborene Calon-Personen, bis sie von ihren eigenen Calen nicht mehr als Chaburrons angesehen werden, sodass die Bezeichnung tot für sie als stetiger Hinweis auf ihren Status dient.
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Ähnliches habe ich 2007 bei einigen Festen in Skopje während der Shutka-Exkursion vom Leipziger FTF gesehen (vgl. Vilar 2009).
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»Wenn der Tod für das kollektive Bewusstsein [conscience] in der Tat der Übergang [passage] von der sichtbaren Gesellschaft zur unsichtbaren Gesellschaft ist, dann ist er ein Vorgang, der genau jenem analog ist, durch den der Jugendliche aus der Gesellschaft der Frauen und Kinder herausgenommen und in jene der erwachsenen Männer eingeführt wird. Diese Neu-Integration, die dem Individuum die sakralen Geheimnisse des Stammes eröffnet, schließt auch eine tiefe Veränderung seiner Person sowie eine Erneuerung seines Körpers und seiner Seele mit ein, durch die er die notwendige religiöse und moralische Reife erlangt. Und die Ähnlichkeit der zwei Phänomene ist so grundlegend, dass sich diese Veränderung sehr oft durch den vorgeblichen Tod des Aspiranten vollzieht, auf den dann seine Wiedergeburt in einem höheren Leben folgt.« (Hertz 2007 [1907], 156)5
Als Teil des gemeinsamen Aufwachsens bei den Calen, sowie bei Chaburrons aller Altersgruppen, besteht die Möglichkeit, dass etwas nicht so vor sich geht, wie es sollte, solange die Natur der Chaburrons noch nicht als mehrdeutiges, inkonstantes wildes Wesen bestimmt ist. Mehrere Bedingungen und Strategien werden dann von den Erwachsenen in Gang gesetzt, damit die Chaburrons Calen werden und als solche zusammenhalten können. Die Calon-Erwachsenen haben also Anteil daran, die Zukunft der Chaburrons als Calen zu fördern. Das findet als Austausch statt: Es geht auch um ihre eigene Zukunft als (Nicht-)Tote. Im Zusammenleben der Calen wird also eine implizite Calon-Ideologie ausgedrückt, nach der die Kinder es nur dann schaffen können, echte Calen zu werden, wenn sie entweder Jurons meiden bzw. ihre Calonität unter den Jurons praktizieren und ausbilden, was am häufigsten der Fall zu sein scheint. Doch abgesehen von mehreren koexistierenden Calon-Disziplinen und angesichts der ständigen Kontakte zu Juron-Kulturen, in deren Rahmen die Calen leben und eigene Welten durch rituell kontrollierte Annäherungen und Distanzierungen selektiv konstruieren, darf die hier sogenannte Calon-Zivilisation auch immer als ein fuzzy system (vgl. Bargatzky 2007, 264) betrachtet werden. Oder noch als ein
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Siehe dazu auch Lévi-Strauss (2014 [1952], 24) und Bernhard Streck: »Die Kulturgeschichte kennt aus allen Zeiten und Räumen Initiationsrituale, in denen aus unverschleierten ›Wilden‹ verschleierte ›Zivilisierte‹ oder – in globalen Termini – aus outsiders insiders gemacht werden. Im Zentrum dieser Einführung steht häufig der Schwur, nie und niemals die Geheimnisse der Gruppe an Außenstehende zu verraten. Die gebotene Verschwiegenheit setzt Selbstbeherrschung und Sprechdisziplin voraus. In vielen Gesellschaften wird dies Kindern und – leider – auch Frauen nicht abverlangt. Sie bleiben Außenseiter in der ›eigenen Kultur‹, wenn sie sich selbst nicht formieren« (Streck 2007a, 9).
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»Labyrinth, durchzogen von allerlei Fluchtwegen und Sackgassen. Damit wird dieses Gebilde aus Menschenhand weniger zum ›stählernen Gehäuse‹ (Max Weber) als vielmehr letztlich wieder zum Garten (lat. cultura), den man pflegen oder vernachlässigen kann, den man einzäunt, ohne damit den Samenflug verhindern zu können, und in dem Pflanzen aus aller Welt gedeihen, auch wenn sie für ureigene Gewächse gehalten werden.« (Schubert & Streck 2007, 4)
An der Pflege des eigenen Gartens beteiligen sich Calon-Männer (Roms) und Calon-Frauen (Ruins) unterschiedlich. Soweit ich es beobachten konnte, schienen die Calon-Mütter u.a. dafür verantwortlich, die Kinder zu bestrafen, die Calon-Väter hingegen tadelten, insbesondere ihre eigenen Kinder, so gut wie nie, wenn diese Grenzen überschritten. Dagegen können die Calon-Männer aber gelegentlich ihre Calon-Frauen bedrohen bzw. maßregeln. Jedenfalls wirken die Calon-Männer den Kindern gegenüber als Hauptvorbilder männlicher Calonität. 6.3.1 Exkurs: Wenn Chaburrons und »kleine Engel« sterben In ihrer Monografie zu Ciganos in Rio Grande do Sul, im Süden von Brasilien, beschreibt Maria de Lourdes Sant’Ana zwei Beerdigungen, die ich hier wiedergeben möchte, um mein Argument bezüglich des Statusunterschieds zwischen Kindern und Erwachsenen zu stärken. In ihrer ersten Beschreibung berichtet sie von der Beerdigung eines Säuglings: »Wir beobachteten, dass eine Mutter bei der Beerdigung ihres Säuglings unter seinen Körper im Sarg Windeln, Babyklamotten, kleine Schuhe, zwei oder weitere Stücke seiner Babyausstattung gelegt hatte. Nur die jüngsten Verwandten des Vaters des verstorbenen Kindes sind erschienen, während seine ältesten Verwandten (seine Eltern und die Onkel) […] kaum Wert auf die Tatsache [den Tod des Säuglings bzw. seine Beerdigung] zu geben schienen. In einem Zimmer der Klinik Santo Antônio, in dem der kleine weiße Sarg aufgebahrt wurde, blieben nur der Vater und die Mutter des Babys, während sich die anderen Leute im Hof über die vielfältigsten Themen unterhielten. Alle warteten die Ankunft des ältesten Bruders des Kindsvaters ab, der sowohl die Kosten für das Krankenhaus als auch die weiteren Kosten für die Beerdigung übernehmen sollten. Der Leichnam wurde in die Kirche gebracht und vom Priester gesegnet. Auf dem Friedhof warfen alle Anwesenden eine Handvoll Erde auf den Sarg, sobald dieser in die Grube des Grabes hineingelegt wurde. Gleich danach haben sie nach einem Wasserhahn gesucht, um sich ihre Hände und das Gesicht zu waschen und sich damit von dem Kontakt zu reinigen, den sie mit dem Toten hatten. Nach der Beerdigung sind sie zu einer Kneipe gefahren, um dort zu Ehren des Toten zu essen. Sie warfen Teile des Essens und des Getränks zu Ehren des toten Kindes
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zu Boden. Die geringe Bedeutung, die sie dieser Beerdigung durch eine einfache Zeremonie zugesprochen haben, verdankt sich der Tatsache, dass es sich um ein Kind handelt, welches noch keine herausragende Rolle in [ihrer] Gesellschaft hatte.« (Sant’Ana 1983, 114-115)
Diese Beerdigung kontrastiert Sant’Ana mit der eines »großen Ciganos«. Im Jahr 1967 wurde die Beerdigung eines »Bosses der Ciganos« bis zum Friedhof zu Fuß begangen, so seine Verwandten. Die Männer wechselten sich beim Tragen des Sarges ab, der von »Ciganos von überall aus Brasilien, einer Musikband und wichtigen städtischen Autoritäten [bzw. Beamten] sogar« begleitet wurde. Alle haben diesen Verstorbenen sehr beweint, da er »ein guter Mann, von großer Weisheit« war. (Ebd., 115-116) In der Fußnote zu dieser Stelle schreibt Sant’Ana: »Die Totenwache kann mehrere Tage dauern. Das Ritual des Weinens, das in Wirklichkeit ein Ausdruck von großem Schmerz und Hoffnungslosigkeit ist, wird hauptsächlich von den Frauen ausgeführt, die sich schreiend auf den Boden werfen, während sie ›sich ihre Haare herausziehen‹. […] Wir beobachteten auch, dass der Besuch des Grabes des Verstorbenen all seiner eigenen Verwandten in der Stadt üblich ist; dieser Besuch findet anlässlich des Todestages statt, bei dem sie sein Grab reinigen und verschönern. Auch am Jahrestag des Todes erinnert die Familie in einer Hommage an den Toten durch ein reichliches Essen, von dem ein Teil auch wieder ihm angeboten wird. Ist das Essen beendet, wird ›der Rest des Essens in den Fluss geworfen‹. Abgesehen von der Position, die der Tote in seiner Familie und Gruppe hatte, wird er weiter als abwesende Persönlichkeit erinnert und hat Einfluss auf die wichtigen Entscheidungen im Leben der Einzelnen. Ihm wird als Vorbild gefolgt und seine Nachkommen müssen so wie er selbst handeln, indem sie sich an die Regel der Gruppe halten, ›damit die Tradition des Ciganos nicht verloren geht.‹« (Ebd.)
6.4 DAS, WAS EINEN WAHREN MANN AUSMACHT Es war ein regnerischer später Nachmittag in der Calon-Siedlung in Lagoa Bela Ende Mai 2009. In dem keh von Tico hielten sich außer ihm und mir Nathanael und Heitor, einer ihrer Cousins aus der benachbarten Calon-Siedlung, sowie auch mehrere Calon-Kinder (Vito, Romero, Romeu, Enrico, Aldo und andere) auf. Valdinha, Ticos Frau, war auch kurz dort, bevor sie sich anderen Calins anschloss, um sich getrennt von den Männern auf den Besuch des Hochzeitsfestes
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vorzubereiten, das schon seit circa zwei Wochen in der benachbarten CalonSiedlung im Gange war. Heitor, der am Tisch neben Tico saß, hatte einige DVDs von música sertaneja mitgebracht. Die Konzerte, die da gezeigt wurden, waren von bekannten Sängern. Während wir sie schauten, waren die Calen sehr konzentriert. Sie achteten sehr auf die Details, hörten zu und kommentierten oft die Lieder, hauptsächlich die Texte. Die Calen studierten sie und die Performanz der Sänger. Man sang leise mit oder zitierte dann ein paar Zeilen eines anderen Liedes. Manchmal schwiegen fast alle. Einige der Kinder bildeten eine Ausnahme. Die Fernbedienung landete mal in der Hand von Romero, mal in der von Enrico. Letzterer fragte, ob er die DVD vorspulen könne. Die Erwachsenen sagten ihm: »Noch nicht.« Irgendwann sprach Heitor von den »Capixabas«, d.h. von den Calen aus dem benachbarten Bundesstaat Espírito Santo, aus dem Valdinha stammt und wo der größte Teil ihrer Familie lebt. Er wandte sich insbesondere Nathanael zu und behauptete: »Sie [die Calen aus Espírito Santo, die Capixabas] haben den Baianos [den Calen aus BA, hier sprach Heitor von ihnen selbst] sehr viel zu lehren… Sie halten ihre Traditionen hoch. Die Baianos [schaffen das] nicht.« Im Zuge dessen erzählte er eine kurze Geschichte von einem Mann, der ein Haus in Espírito Santo gebaut und den Söhnen überlassen hat. Der Mann wollte, dass sie das Haus für immer behalten. Seine Söhne und Neffen haben diesem Wunsch entsprochen. Schließlich sagte er dann: »Wenn es hier gewesen wäre, wäre das Haus schon längst verkauft worden: Die Söhne hätten es wegen des Geldes schnell getan. Dagegen hat die Familie dort drüben noch das Haus…« Beim Erzählen dieser kurzen Geschichte ließ Heitor den Tod des Vaters an sich davon weg, obwohl sich alles darin um seinen Tod bzw. ihn selbst dreht. Sodass der Tod des Vaters in seinem Narrativ implizit und grundlegend eingeflocht worden ist, und so bleibt, anstatt deutlich zu werden. Beim Erzählen und Hören entsteht irgendwie ein Gefühl, dass das Festhalten an dem Haus des Vaters von seinen eigenen Calen (d.h. seinen Söhnen und Enkeln) mit dem Festhalten an dem Vater selbst nach dem Tod zusammenfällt, sodass eine Kontinuität zwischen dem Vater und seinen eigenen Calen ermöglicht wird. Das Bewahren des Hauses symbolisiert das Bewahren dieser Kontinuität mittels eines geeigneten, respektvollen Tausches: Während die Söhne das Haus (die Erinnerung an ihren Vater) bewahren und pflegen, spielt das Haus (die Anwesenheit des Vaters) eine schützende Rolle als Arché unter den Söhnen. Diese Kontinuität wird weiter bewahrt und gewinnt noch mehr an Wirklichkeit, indem Heitor den Tod des Vaters obviiert. Weil Heitor den Tod nicht als gegenwärtig gesetzt hat, schien dieser keine Macht über den Vater bzw. über
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sein Leben haben zu können. Das Leben des Vaters transsubstantialisierte in das Haus und liegt nun in den Händen seiner Söhne und Neffen. Es ist das Haus, das vor den Hinterbliebenen steht. Dass seine Söhne und Neffen das von ihm für sie speziell gebaute Haus behalten, deutet an, dass der Vater von seinen eigenen Calen nicht vergessen wird. Indem sich die Söhne und Enkel respektvoll um das Haus kümmern, kümmern sie sich in geeigneter Weise um den verstorbenen Vater und vice versa. Gefühl (sentimento) wird in der vorbildhaften Erzählung als Teil einer rituellen Handlung praktiziert, d.h. das respektvolle Beibehalten des Hauses als Mittel, um die Kontinuität zwischen toten und lebenden Angehörigen bei Calen angemessen zu perpetuieren. Außerdem weist es auf die emotionale und moralische Haltung hin, die man als Voraussetzung für Calonität berücksichtigen soll. Die eigenen Calen des verstorbenen Vaters wären im Endeffekt keine richtigen Männer, hätten sie den Wunsch des Vaters nicht erfüllt, wenn sie also Geld (Juron) statt Gefühl (Calon) bevorzugt hätten. Irgendwann, während wir uns die Konzert-DVD weiter ansahen, fing Heitor plötzlich an zu weinen. Es schien mir, als ob er es unterdrücken wollte, aber dass es ihm nicht gelang. Stattdessen wurde sein Weinen stärker, als er versuchte, die Tränen mit seinen Händen zurückzuhalten. Wie ich später herausfand, handelte es sich bei jenem Moment um eine Erinnerung, die Heitor übermannte, als eines der Lieblingslieder seines vor Jahrzehnten verstorbenen Vaters im Fernsehen zu sehen war. Da spielten Milionário und Zé Rico das Lied Meu velho Pai (»Mein alter Vater«), welches Léo Canhoto und Robertinho (»Leo-Linkerhand und kleiner Robert«), ein anderes Sertanejo-Duo, geschrieben hatten. Kurz nachdem Heitor die Geschichte des Mannes erzählt hatte, wandte er sich an mich und sagte: »Ein Mann, der kein Mann ist, legt keinen Wert auf irgendetwas. Das Geld kann ja alles kaufen. Doch von allem, was es gibt, können etwa zwei oder fünf Prozent niemals gekauft werden.« Die anderen stimmten ihm zu. Was ist also das, was für Heitor unverkäuflich ist? Worauf legt ein richtiger Mann Wert? Was umfasst diese »zwei oder fünf Prozent« von »allem«, was es gibt? Was bedeutet dieses »alles«? Heitor präsentiert somit die 95 oder 98 Prozent von allem, was es gibt, als handelbar. Doch gerade weil sie handelbar sind, sind sie »wertlos«: Daran ist kein Gefühl gebunden. Meiner Meinung nach drückt diese Zahl daher seine Vorstellung über die Menge und Omnipräsenz der Jurons aus, unter denen die Calen leben, die als Minderheit nach seiner Rechnung zwei bis fünf Prozent umfassen. Wenn Heitor die Baianos kritisiert, was gewissermaßen auch eine Selbstkritik ist, meint er, dass sie das Risiko eingehen, selbst wertlos zu werden, wenn sie wie Jurons denken, fühlen und handeln. D.h., wenn man an erster Stelle an Geld
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denkt und agiert, um mehr Geld zu beschaffen, ohne Rücksicht auf die eigenen Calen zu nehmen. Dagegen sind diese zwei bis fünf Prozent von allem, was es gibt, unverhandelbar; und zwar nicht, weil diese keinen Wert haben, sondern eher, weil daran Gefühl gebunden ist. In diesem Bild von Heitor sehe ich diese zwei bis fünf Prozent als die Welt der Ununterscheidbaren, die diese durch Gefühl gegenseitig kultivieren. Das umfasst die bekannte Welt, das Überall. D.h. das Bei-sichBleiben als einen für andere unerreichbaren Ort, wo die eigenen Toten sind: Heitor redet hier von der Calon-Welt, die er mit seinen eigenen Calen teilt. Diese kann nicht nur nicht eingetauscht werden, sondern wird noch nicht einmal Gegenstand von Verbalisierung. Heitors Geschichte zeigt grundsätzlich, dass Geld als eine Juron-Erfindung für einen richtigen Calon angesichts von Gefühl an sich keine Bedeutung hat und dass richtige Männer deswegen, wenn sie handeln, vor allem immer besonders auf das Zweitgenannte statt auf das Erstgenannte achten. Die Geschichte und Aussage von Heitor bricht somit wiederum mit der westlichen Idee der Person als ein universell egoistisches Wesen, das immer nur das sogenannte Selbstinteresse zu erreichen anstrebt. Seine Aussage hat mindestens drei kosmologische Implikationen: Erstens, die Idee des Menschen als natürlichegoistisch entspricht nicht der Realität der Calen und verliert daher ihre anspruchsvolle universelle Gültigkeit. Zweitens, diese Idee spiegelt die Ethik der Umwelten wider, in denen sie entstanden ist und wo sie Resonanzen zum Weiterwachsen gefunden hat: nämlich, in den Juron-Welten. Drittens, diese Ethik ist für die Calen gefährlich und unmoralisch und wirft die Calen aus der Bahn eines gemeinsamen Calon-Schicksals. Eine vierte Konsequenz – diesmal eine, die direkt die Calen betrifft – ist die Umkehrung von gewöhnlichen Juron-Attributen, nach denen Ciganos natürliche Räuber sind bzw. nur daran denken, Geld zu beschaffen. Ein doppeltes Image bezüglich Calen und Jurons als Gegensätze wird dadurch umgekehrt: Wenn die Calen für viele Jurons durch ihre Inklination zur bedingungslosen Suche nach Geldgewinn (z.B. durch vortäuschende Mittel) gekennzeichnet sind, während die Jurons ihren Lebensunterhalt als ordentliche Leute verdienen, drückt Heitor mit seiner Geschichte eine gegensätzliche Ideologie aus. Diese Calon-Ideologie, die durch die von mir in dem vorangegangenen Kapitel eingeführten Calon-Tauschmodi Ausdruck findet, entspricht auch bspw. dem, was Leonardo Piasere bei Roma in Italien gefunden hat: »Like everything else coming from the outside Gaĝe world and not produced by the Roma themselves, money is potentially culturally contaminating and dangerous, and it is by inverting the methods of producing and utilizing wealth that the Roma establish their identi-
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ty as an independent group. Not surprisingly the attitudes of the Roma towards the production and use of wealth are the opposite of those of the Gaĝe. Let us briefly note that the primary function of money amongst the host society, of which the Roma are acute observers, is that of introducing distinctions. When money is acquired, it is most often used to modify social position by modifying personal appearance, dress and living habits. The Roma, on the other hand, notoriously do not use their money to better their personal appearance, living habits, or social position. Even those with very large bank accounts tend to dress in the same cast-off clothing, live in the same roullotes, and carry out their days in exactly the same fashion as their less wealthy relatives. The role of money in the Roma society is to draw a line between the Roma and the Gaĝe, while at the same time avoiding the conceptual error of dividing that which must remain unified – the Roma culture. If the Gaĝe use money to introduce distinctions between social classes, the Roma must be careful to separate Roma from Gaĝe and not Roma from Roma. Wealth must therefore be a transitory category and numerous mechanisms are necessary to insure its periodic destruction. The division of the Roma into social classes would directly threaten their survival, supplanting and confusing the one basic fundamental distinction upon which their cognitive structure rests, the Rom/ Gaĝo dichotomy.« (Piasere & Zatta 1990, 166)
Scheinbar lehrt die Geschichte, die Heitor erzählt, dieses Wertprinzip den CalonKindern. Außerdem erleben diese in der Praxis sowohl durch rituelle Zerstörungen von Überfluss während Calon-Festlichkeiten und -Beerdigungsfeiern als auch in Krisenzeiten durch die Solidarität unter den eigenen Calen. Dass Heitor im Kontext des Todes des wahren Mannes von einem Haus redet, bedeutet nicht, dass er dasselbe meint, was Jurons meinen, wenn sie davon und unter ähnlichen Umständen reden würden: Das Haus ist für die Hinterbliebenen kein Erbe, aus dem die Calen z.B. Profit ziehen können. Das Haus ist eher die Aufrechterhaltung einer laufenden Beziehung, die nicht vom Tod unterbrochen wird und die die Söhne und Neffen des wahren Mannes als Verantwortung übernehmen. Sie müssen sich »für immer« darum kümmern. Meistens wohnt kein Calon in einem Haus, in dem ein anderer Calon gewohnt hat, nachdem dieser gestorben ist. Es gehört i.d.R. zu den Erinnerungen an den frisch Verstorbenen, die der Calon-Welt entzogen werden sollen (vgl. Kapitel sieben). Bei der Geschichte von Heitor spielt das aber keine Rolle, da es nicht darum geht, darin zu wohnen. Es ist möglich, dass weder der Vater vor seinem Tod noch seine Familie danach dort gewohnt haben. Die Calen handeln zwar mit allem, und dazu gehören auch Immobilien, finanzielles Interesse als bloße Suche nach Profit erscheint aber in seiner Geschichte als eine JuronEigenschaft – und vor allem als Gegensatz zu einer Calon-Haltung, die auf Gefühl basiert und als liturgisches Handeln wirkt – und wird daher als peripher und
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sekundär verkündet. Deswegen hat das Geschäftemachen bei den Calen eine ganz andere Bedeutung als bei Jurons. Wie haben sich die anwesenden Kinder verhalten, als Heitor weinte, als jenes Lied in jenem Moment gespielt wurde und bei ihm die Erinnerung an seinen Vater hervorrief? Die Kinder, die allmählich »mehr Calon« werden, blieben still, genau wie die anwesenden Erwachsenen, die wussten, worum es ging und um wen (ihren Onkel, einen ihrer eigenen, gemeinsamen Verstorbenen). Währenddessen hat insbesondere der fünfjährige Vito, Ticos Sohn und jüngster Anwesender, noch weitergesprochen, gerade in jenem Moment, als Heitor seinen Vater durch seine Tränen begrüßt und sein Gefühl vor ihm durch Schweigen zum Ausdruck gebracht hat. Anders gesagt, lehrt die Geschichte nicht nur ein CalonPrinzip: Sie trägt auch dazu bei, die Juron-Aspekte der Anwesenden zu entblößen. Als unvollständige Calon-Personen, undefinierte Wesen, halb Juron, unentfaltetes Calon-Projekt, teils unbekannt, sind die Chaburrons mehreren verschiedenen potenziellen Schicksalen exponiert. Durch solche Geschichten und Verhaltensweisen haben sie die Chance, von ihren Calon-Vorbildern den Weg zu lernen, durch den sie wertvolle Menschen werden können. Doch wenn die Calon-Kinder für die Erwachsenen Tote sind, sind die Calon-Erwachsenen gleichfalls Tote für ihre eigenen Calon-Ahnen, die ihrerseits die einzigen Lebenden darstellen.
6.5 DER CALON-AHN ALS ANTI-VERGANGENHEIT UND »DAS MACHEN DER ZUKUNFT« Mehrere Aspekte der Art und Weise, wie die Calen ihre Kinder bezeichnen – also als Tote im Sinne von Unvollständigen, Nichtinitiierten –, weisen auf eine hintergründige Konzeptualisierung einer vordergründigen Calon-Person hin, die ihrer eigenen Toten als Calon-Ahnen entspricht und deren zu suchende Würde als Vorbild unaufhörlich ausstrahlt. Am Ende ihres klassischen Aufsatzes stellt Williams folgende Behauptung auf: »A Mānuš can be at once a Mānuš and an ordinary individual, a person just like everyone else. Only the dead are Mānuš who can only be Mānuš. But of them, very soon, nothing more can be said.« (Williams 2003 [1993], 86) So wie bei den Manusch läuft ein Calon nach seinem Tod nicht mehr Gefahr, ganz oder zwiespältig zu agieren bzw. sich zwischen richtigen und unrichtigen, wahren und unwahren Begebenheiten zurechtfinden zu müssen. Gewissermaßen sind die Chaburrons tatsächlich Tote, die noch nicht als Calen geboren sind, während die
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Calon-Verstorbenen Lebende darstellen, die nicht mehr sterben und dadurch nicht zu Toten werden können. D.h., die Calon-Verstorbenen können nicht mehr wie ein Juron handeln. Wenn die eigenen Toten nicht mehr als Juron agieren, bleibt das Problem der Ambiguität bei den Hinterbliebenen, also bei den eigenen Lebenden. Und diese müssen im Verlauf ihres Lebens inmitten von Jurons und anderen Calen danach streben, Cigano zu bleiben, und wenn nötig, selbst »mehr Cigano (zu) sein!« (ser mais Cigano!). Doch das wird von den Calen nicht unbedingt als Identitätsfrage, sondern aus Gefühl und daher auch als eine Frage von Selbstrespekt praktiziert. Somit ist Ambiguität bei den Toten zu vermeiden, auch weil die Toten keine Werdenden mehr sind, während die inhärente Ambiguität der Calon-Kinder als Provokationsgegenstand gegen und für sie selbst von den Erwachsenen gelegentlich benutzt wird. Damit wird das, was ich die Wahrheit der eigenen Toten nenne, zu keiner Zeit infrage gestellt, während die Kinder noch keine Wahrheit haben, so wie sie keinen Eigennamen besitzen. Stattdessen wird lediglich die Treue der Erwachsenen durch ihren Ausdruck entsprechender Emotionen und ritueller Handlungen praktiziert, um einen anständigen Respekt vor den eigenen Toten zu gewährleisten; also in Abgrenzung zu der Art und Weise, wie Jurons das tun. Eschatologisch betrachtet, gehen die Toten der Jurons in ihren stark christlich geprägten Welten – und das umfasst alle Formen der in Brasilien existierenden christlichen Varianten wie z.B. Spiritismus – i.d.R. ins Jenseits oder sie verschwinden einfach, sei es in den Himmel oder in irgendeine Parallelwelt (vgl. Streck 2011a, 1-2). Das Jenseits kann für einen Juron der ideale Ort für die Toten sein. Entsprechend stellt die Vergangenheit die ideale Zeit für die Toten als unerreichbar dar, während die Zukunft noch bevorsteht. Das drückt auch die Juron-Bezeichnung für die Toten als Vorfahren (antepassados) bzw. als Ahnen (ancestrais) aus. Das portugiesische Wort antepassado ist ein Kompositum aus ante und passado. Ante heißt »vor« und passado heißt »Vergangenheit« bzw. »vergangen«. Antepassados gehören zur Vorvergangenheit; die Vergangenheit der Vergangenheit. Damit stehen die Toten der Jurons also hinter den Juron-Lebenden. Aus einer Calon-Perspektive stellt diese Juron-Positionierung von Lebenden und Toten ein Problem dar, weil die Lebenden dadurch – metaphorisch ausgedrückt – ihren eigenen Toten den Rücken zukehren. Der Umgang der Jurons mit ihren eigenen Juron-Toten ist in diesem Sinne also unwürdig: Wie kann man die eigenen Toten respektvoll in das Leben integrieren (also bei sich und als Lebende), wenn sie woandershin geschickt werden und man nicht wünscht, dass sie zurückkehren? Die Toten der Calen bleiben dagegen in ihrer Nähe und mitten unter ihren Calon-Hinterbliebenen. Von den Toten anderer Ciganos zu reden,
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kann vielleicht auch als ein Mittel angesehen werden, mit dem die Calen die eigenen Toten anderer Calen von sich selbst fernhalten können. Für die Calen, die wie Sinti und Manusch den lembranças als Spuren ihrer eigenen Toten als private Ahnen im Verborgenen folgen und sich ihrer Anwesenheit und Vivazität aus Gefühl immer wieder versichern und diese aktualisieren, gehören ihre Ahnen also nicht zur Vergangenheit, sondern zu einer ständigen Zukunft, als konstante Erweiterung und unaufhörliche Entfaltung der Gegenwart. Die Calen, die ihren eigenen Toten folgen, gehen mit ihnen also nicht in den Tod, sondern bleiben mit ihnen am Leben und richten sich nach ihnen. Nach einer Calon-Eschatologie stehen ihre eigenen Toten vor ihnen. Um ihren Spuren folgen zu können, müssen die Calon sich hinter ihren eigenen Toten befinden. Wenn ein Calon-Ahn im Gegensatz zu den Juron-Toten eine Person ist, die unter ihren eigenen Calen bleibt, statt woandershin (einem Totenland, in den Himmel, in die Vergangenheit usw.) zu fahren, sollte er dann nicht, wie bei den Juron-Toten, als Vorfahr (antepassado), sondern eher als Gegenfahr (antipassado bzw. »Antivergangener«) verstanden werden? Die eigenen Toten stehen nicht hinter ihren eigenen Lebenden, sondern vor ihnen, von wo sie die Schritte ihrer eigenen Calen lenken und nicht aus ihrem Blick verloren gehen können. Somit kommen die eigenen Toten ihren eigenen Lebenden zuvor. Die Calen können sich auch vor ihren eigenen Toten schämen bzw. diese fürchten. Die Obviation seitens der Toten der Calen, die ein antizipierendes Handeln ihren eigenen Calon-Lebenden gegenüber impliziert, besteht darin, dass sie als Archái von ihren eigenen Lebenden nicht unbedingt aus einer separaten und abgegrenzten Parallelwelt (wie z.B. Himmel, Vergangenheit, Jenseits, Totenwelt usw.) im Weltgeschehen gegenwärtig gesetzt werden müssen. Eher bringen und führen sie ihre eigenen Lebenden in die Gegenwart: Ohne ihre eigenen CalonToten, die als lebend behandelt werden sollen, sind die eigenen zugehörenden Lebenden immer noch neben anderen Calen und mitten im Leben der Jurons so gut wie tot. Die eigenen Toten befinden sich schon in der Gegenwart ihrer eigenen Lebenden und schützen diese vor allen unerwünschten Wechselhaftigkeiten des Lebens. Die verstorbenen Calen leben immanent als Teile ihrer eigenen Lebenden weiter; d.h. derjenigen, die sie als Lebende respektieren und daher von ihnen nicht als Tote sprechen. Weil sie sich durch die Verehrung ihren eigenen CalonLebenden in der Gegenwart bewegen, erscheinen und wirken sie den JuronAhnen gegenüber als und wie Kontrapunkte.
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6.6 DAS GEMEINSAME LEBEN DER CALEN UNTER ANDEREN Der Ahnendienst vieler Calen, der nur privat durchgeführt wird, spiegelt die Zugehörigkeit wider und reproduziert sie dadurch auf einer vertikalen Ebene, hier die Jurons (statuslos und nichtzugehörig), dort die Calen (Ciganos). Zugleich aktualisiert derselbe Ahnendienst auch verschiedene Positionen zwischen den Calen und ihren eigenen Toten – mögen dies Kinder oder kürzlich Verstorbene sein –, und zwar auf einer relativ hierarchischen und doch zugleich horizontalen Ebene.6 Während die Calen ihre Kinder häufig und offensichtlich erwähnen, und auch so, als ob diese Tote wären, reden sie von ihren eigenen Toten kaum, sprechen nie ihre Namen aus, und wenn doch, dann nur als seien sie am Leben, aus Gefühl. In ihrem Alltag stellen die Calon-Erwachsenen die Gruppen ihrer eigenen Toten und die ihrer eigenen Kinder damit nicht nur als sukzessive und komplementäre, sondern auch als antagonistische Pole gegenüber. Das versuche ich, in der TABELLE 2 aus einer relational-dialektischen Perspektive zu illustrieren. Diese Gesamtheit intergenerationeller, bildender (gegenseitiger und komplementärer) Beziehungen bei den Calen soll nicht in der üblichen linearen Reihenfolge gelesen werden, wie man dies in Bezug auf Nichtcalen nach dominanter Logik normalerweise tut (d.h. die folgende Ordnung: Thesis Æ Antithesis Æ Synthesis). Der Beginn der Calen, falls man davon überhaupt reden kann, ist als Ablehnung und Gegensatz (also als Antithesis) zum Juron-Sein zu sehen. Während die Chaburrons vor allem in Bezug auf ihre eigenen CalonErwachsenen Chaburrons sind, sind die Erwachsenen für die Chaburrons ihre Gegenfahren bzw. eigenen Calon-Ahnen. So wie es die Chaburrons nur so als chavons bzw. Calon-Kinder aushalten, insoweit sie sich an ihre eigenen Erwachsenen als ihre Vorbilder, d.h. als Referenz zu einem Calon-Werden unter vielen anderen und Säule für ihre eigene Calonität, anhängen, können sich die CalonErwachsenen ebenfalls nur als Calen halten, soweit sie den Spuren ihrer eigenen Toten folgen. Diese Spuren liegen wie auch immer in der gemeinsamen Welt verstreut. Die Beziehungen zwischen Calon-Kindern, Calon-Erwachsenen und eigenen Calon-Toten werden aber oft von anderen vermittelt, die in ihrer Nähe leben und die ihre gegenseitigen Bezüge eventuell stören könnten. Das schließt z.B. diejenigen Personen mit ein, denen die Calen angesichts der Anforderungen an die
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Zu linearer Logik vs. dialektischem Denken vgl. u.a. Lévi-Strauss (1973), Wagner (1981 [1975] und 2010), Bateson (1958 [1936] und 2000 [1940]) und Ingold (2011).
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Calonität bzw. eines Mangels an Respekt Leblosigkeit zusprechen und die von den Calen i.d.R. folglich als negative Vorbilder für sie selbst und ihre Kinder angesehen und entsprechend behandelt werden. Wie ich zeigte, ist es vor allem die Figur des Jurons, welche von den Calen mit Toten assoziiert wird und als hauptsächliches Gegenbild bzw. ontologischer Maßstab zur Selbstbehauptung der Calen dient: je weniger Juronität, desto mehr Calonität und umgekehrt, da beide Attribute sich gegenseitig ausschließen. Deswegen konstruieren sich die Chaburrons als differenzierende Calon-Personen vor allem den Jurons (oder Toten) gegenüber, wie es auch ihre Calon-Erwachsenen auf ihre Art und Weise tun. Dabei lernen die Chaburrons sowohl von den Calon-Erwachsenen als auch untereinader, einen adäquaten Abstand in Bezug auf die Jurons zu suchen und diesen im Alltag liturgisch zu verwalten. Tabelle 2: Calon-Status und intergenerationelle Positionalitäten Chaburrons inkomplett in Bezug auf Erwachsene
Calen inkomplett in Bezug auf die eigenen Toten
die eigenen Toten (Mulon) komplette Personen
Antithesis
Synthesis
Thesis
Ambiguität tot, gestorben
Integrität Bereitschaft zu Sterben
niemand, aussprechbar
lebendig Namen, unaussprechbar
Verehrung bzw. Nachahmung (Wiedergabe) in Bezug auf die Calen; ihnen sind die eigenen Toten ihrer Eltern bzw. Bezugspersonen unbekannt
Verehrung bzw. Nachahmung (Wiedergabe) in Bezug auf die eigenen Toten; ihnen sind ihre eigenen Kinder als Chaburrons bekannt
Absicherung der Integrität ihrer eigenen CalonLebenden
Nicht-Person & Calon-Werdende
Personen & inkomplette Calon-Personen
Komplette CalonPersonen
Verehrer-Vorbilder-Beziehung
Trauernden-Verstorbenen-Beziehung
Tote (Kinder, vermutlich inkomplett) - Lebende (Erwachsene, vermutlich komplett)
Tote (Erwachsene) - Lebende (Tote) (Umkehrung)
Quelle: Eigenentwurf
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Leonardo Piasere und Jane Dick Zatta illustrieren ein ähnliches Verhältnis bei Roma in Italien, indem sie das Roma-Rauben unter Gadgen [d.h. Jurons] als liturgisches und daher als (Roma-)personbildendes Handeln mit der Erziehung der Roma-Kinder verbindet: »Undoubtedly the most important difference between theft as practised by the Gaĝe and theft as practised by the Roma is that Roma theft is discriminating whereas Gaĝe theft is not. In Gaĝe society, anyone is a potential victim of theft, but in Roma society the predestined victim of theft is the Gaĝo, and all Gaĝe are potential victims. Anyone who may be robbed without loss of honour is a Gaĝo and all Gaĝe may be robbed. This is an especially important lesson for children who learn at an extremely young age not only who it is possible to rob and who not, but whom is possible to speak about theft to and from whom it must be concealed. At an incredibly young age children are able to distinguish to whom the truth must not be told. In general children equate the Romano language with the prohibition of theft and the Gaĝikano language with the possibility of theft. […] ›Why don’t you go steal a caravan and come to live with us?‹ lisps a tiny girl of 3 ½. In the same way, theft is a constant reminder to a Rom of the differences that divide him from the Gaĝe he is closest to, and where the risk of confusion is the greatest. Robbing the Gaĝo he [sic!] is one way to reaffirm the unbridgeable distance that separates him from the Gaĝo, no matter how close circumstances may bring them. It is no coincidence that exactly those Gaĝe who have had the closest relations with the Roma, such as teachers, priests and social workers, are the most often robbed.« (Piasere & Zatta 1990, 168).
Das selektive, ontologisch-differenzierende Rauben bildet aber nur eine unter weiteren Modalitäten des Handelns, die Diskontinuitäten in die Juron-Welt einführen. Wie ein Juron zu handeln bzw. als einer beschimpft zu werden, kann für einen Calon deswegen auch peinlich sein, selbst wenn man sich im Kontext eines periliturgischen Handelns befindet. Gerade aus diesem Grund scheinen die Calon-Erwachsenen die Lebenden, vor allem diejenigen, die noch kein Calon geworden sind, zu provozieren, indem sie ihre Kraft anzweifeln. Dieses Risiko gehört zum Alltag, wie mehrere abwertende, gegenseitige Vergleiche illustrieren, die sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern geäußert werden: »Du siehst wie ein Juron aus!«, oder: »Er hat seine Haare wie eine Juron geschnitten…«, oder auch: »Er isst wie ein Juron!« – das sind u.a. typische Vergleiche, die man im Alltag und bei Cigano-Festen hören kann. Möglicherweise werden diese Provokationen zum großen Teil in dem, was Jurons »Jugend« nennen, in einer »Calon-Kindheit« geübt. Später, wenn die Kinder zu Erwachsenen geworden sind, nimmt die Provokation durch eine andere Art von
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Wettbewerb andere Dimensionen an, wie z.B. jene Dispute, die im Kontext von Cigano-Potlatsches, bei denen Überfluss rituell zerstört wird, angezettelt werden.
6.7 DAS ZU ERWÄRMENDE BLUT DER TOTEN UND DIE CALEN ALS VORBILDER Wie die eigenen Toten, die auf die Calon-Trauernden als eigene mythische Ahnen wirken und mit denen sie aus Gefühl in konstantem, respektvollem Austausch stehen, strahlen auch die Calon-Erwachsenen eine vergleichbare, mythische Aura in Bezug auf ihre eigenen Calon-Kinder aus. Dieser Aspekt des Calon-Erziehungsmodells scheint prinzipiell ein weltweit verbreitetes Phänomen zu sein. Bateson meint: »Indeed almost every culture of the world has its mythical figures and forces the children to look directly at these figures to learn that they do not have the same reality as pots and pans or even persons.« (Bateson 2005 [1978], 77) Diese Konzipierung des Sozialisierungsvorgangs ist nicht neu. Schon Johann Gottfried von Herder achtete bspw. diesbezüglich auf dieselbe Richtung, als er schrieb: »Worauf sollen wir also unsre jugendliche Einbildungskraft richten, damit sie ihres Ziels nicht verfehle und in der gehörigen Laufbahn bleibe? Jedermann sagt: auf Beispiele des Guten und Edlen; allein wo sind diese? Wären sie im gemeinen Leben vor uns, wären sie auf allen Straßen, in allen Handlungen und Geschäften so zahlreich, daß wir nicht anders, als sie überall sehen, und ihnen gleichförmig handeln müßten, so lebten wir freilich in einer wahren Tugendschule: denn nichts wirkt, auch ohne daß wir es gewahr werden, auf unser jugendliches Gemüt mehr, als das Beispiel derer, mit denen wir leben.« (Herder 2007 [1786], 8)
Ein Merkmal der Calen ist, dass die Calon-Ahnen ihre mythische Agency über weitere, kommende Generationen hinaus nicht ausüben können. Soweit die Calon-Ahnen nur als Antivergangene bzw. Gegenfahren existieren, haben sie nur auf ihre eigenen Calon-Trauernden Einfluss. Der Versuch der Calon-Erwachsenen, sich ihren Kindern gegenüber immer wieder als Vorbilder zu behaupten, um dadurch ihr Werden beeinflussen zu können, scheint mindestens innerhalb von drei Spannungsfeldern stattzufinden, deren Kombination dem Leben des Ciganos einen vielleicht singulären Charakter verleiht: erstens, eine Spannung zwischen immanisierenden rituellen CalonHandlungen und ständigen transzendierenden politisch-religiösen Juron-Pressi-
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onen; zweitens eine Spannung zwischen genealogischer Bedingung der Calonität (mythologische Ontologie) und der Interpretation dieser genealogischen Bedingung als akkumulierte Geschichte (d.h. als A-posteriori-Konstruktion von Zugehörigkeit, Verwandtschaft und Calonität) und als Schicksalsgemeinschaft (a priori); und schließlich eine Spannung zwischen einer etablierten Calon-Prämisse von Geben als Prinzip von Superiorität und Empfangen als Prinzip von Inferiorität und der latenten Gefahr ihrer Umkehrungen als potenzielle Subversion einer intergenerationellen Calon-Ordnung. 6.7.1 Calon-Immanenz und Juron-Transzendenz Ein Unterschied bei der Verehrung mythischer Ahnen zwischen Calen und Jurons liegt vielleicht im intergenerationellen Abstand zwischen Vorbildern und ihren Verehrern. Calon-Erwachsene lehren ihre Kinder nicht, ihre eigenen Calon-Ahnen zu verehren. Sie reden kaum von ihnen und ihr Ahnendienst findet im Verborgenen statt. Somit wird er nicht von einer Generation auf die nächste übertragen; und folglich von der nächsten Generation nicht übernommen. So wie die eigenen Calon-Toten als mythische Ahnen bei ihren Calon-Eltern wirken, sind die Calon-Erwachsenen als Vorbilder der Kinder unmittelbar Teil von einem Selbst und daher nahe und erreichbare Vorbilder. Das kontrastiert sowohl mit der Verehrung von persönlich unbekannten mythischen Ahnen und Urahnen innerhalb einer Juron-Familie – i.d.R. patrilineares Lineage – in ihrer Umgebung als auch mit allgemeinen, öffentlichen und nichtverwandtschaftlich bezogenen mythischen Ahnen als Outsider-Idolen, deren Geschichten über dritte – z.B. von religiösen Institutionen (vgl. Halbwachs 1985 [1925], 243-296) – vermittelt werden und mit denen man nicht direkt gemeinsam zusammenlebt. Die mythischen Ahnen der Calen – diejenigen, zu denen ihre eigenen Toten werden – entstehen im Laufe ihres Lebens als konkrete, unmittelbare, persönliche, geteilte, selbst erlebte Erfahrung. Als ihre eigenen Toten kommen die Calon-Ahnen nicht aus einem mythischen Ursprung, der in einer unerreichbaren Vergangenheit bzw. Urgeschichte zu finden wäre. Und dieselben mythischen Calon-Ahnen bzw. die eigenen Toten fahren nicht zu einem imaginären, originalen Ursprung zurück. Eher bleiben sie dort, wo sie hingehören: d.h. sowohl bei den eigenen Lebenden als Heimat als auch als Erweiterungen von diesen als Zukunft. Statt ihren eigenen Vorfahren entgegenzufahren, wie es bei Juron-Toten üblich ist, bleiben die eigenen Calon-Toten bei ihren eigenen Lebenden; d.h. bei denjenigen, die um sie trauern. Sie werden dadurch als Mitgefährten in der Gegenwart kontinuierlich erlebt. Sie wirken einflussreich (manchmal zwangs-
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mäßig) direkt über ihre eigenen Lebenden, ohne dass andere davon etwas ahnen. Das geteilte, gemeinsame Leben ist daher bei den Calen eine Voraussetzung zum Gedeihen von Gefühl zwischen den Lebenden und ihren Ahnen oder Toten (Kindern). Bekräftigt wird dieses Argument durch eine weitere Bezeichnung für Verstorbene (also für niemand), die man einem Kind oder Erwachsenen auf eine witzige Weise zuteilt oder als ein Schimpfwort sagen kann: »Vater meines Opas« (pai do meu avô).7 Dieser Ausdruck illustriert den emotionalen Abstand zwischen relativ fernen Generationen, wie zwischen Urenkeln und Urgroßvätern. Für den Urenkel ist und bleibt sein Urgroßvater eine andere, unbekannte Person, da sie nicht zusammen aufgewachsen sind. Es scheint also eine Abwesenheit von Gefühl als Zeichen für einen Kompromiss zwischen Calen zu geben, die sich persönlich nicht kennengelernt haben, obwohl sie aus einer Juron-Perspektive prinzipiell eine direkte verwandtschaftliche Beziehung durch eine Ahnentafel haben und sich respektieren sollten. Im Zusammenhang damit fragte ich einst, was Enkel auf Chibi heißt. Meine Gesprächspartner mussten erstmal etwas überlegen und haben mir dann geantwortet: »der Sohn des Sohnes«, o chavon do chavon (puron Rom bedeutet lediglich »alter Ehe/Mann«). 6.7.2 Calon-Blut und Calon-Geschichte Es scheint darüber hinaus eine Vorstellung bei einigen, eventuell auch vielen Calen zu geben, nach der die Calonität (das Cigano-Sein) im Blut der CalonMänner zu finden ist. Das erzählte mir Esmeraldo, als wir in Uruçuí mit dem Auto unterwegs waren und über Religion im Allgemeinen sprachen, so, als ob es für mich selbstverständlich sein müsste. Esmeraldo lernte verschiedene Konfessionen kennen, fand aber keine besonders ansprechend. Obwohl ich etwas in der Art geahnt hatte, wurde mir das erst am Ende meiner Feldforschung klar, und ich hatte später nicht mehr die Gelegenheit, bei anderen Calen nachzufragen. Nach vielen Überlegungen und komparativer Recherche habe ich mich dennoch dazu entschlossen, es als eine ernste grundsätzliche Referenz einer Calon-Weltkonzipierung anzunehmen und daher als Zeichen eines Modus, durch den sie ihre Essenz und Superiorität inmitten der sie umgebenden Juron-Welten konstruieren (vgl. auch Piasere 1985, 52-53). Die Idee von Esmeraldo ist ein Vorschlag, um z.B. zu begreifen, warum Calon-Männer auf ei-
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Den Ausdruck hörte ich selbst nicht, aber wurde darauf 2011 von Martin Fotta bei einem persönlichen Gespräch aufmerksam gemacht.
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nem ideologischen Niveau als superior gegenüber Calon-Frauen (Ruins) und Kinder (Chaburrons) angesehen werden. Einige Indizien, die ich während der Feldforschung gesammelt habe, stützen dieses Prinzip. Es gibt eine Wahrnehmung der Calen in RN in Bezug auf ihre EndogamieExogamie-Beziehungen, die damit assoziiert werden kann. Zwar leben sie relativ oft mit Nichtcalen zusammen und haben auch Kinder. Doch es handelt sich in diesen Verbindungen meistens um Calon-Männer, die Juron-Frauen informell geheiratet haben, indem sie zusammengezogen sind. Währenddessen lebten die Calon-Frauen nur mit Calon-Männern. Dieser Diskurs, der sich wie ein Brauch anhört, stößt in der Gegend auf mehrere, allen Nachbarn bewusste, auffällige Widersprüche, da es eindeutig einige Calon-Frauen gibt, die mit Jurons zusammenleben und mit ihnen Kinder haben und die darüber hinaus inmitten anderer Calon-Kinder undifferenziert als Ciganos aufwachsen. Trotz der wenigen Beispiele, auf die ich in BA gestoßen bin, gibt es dort einen ähnlichen Diskurs, wie Nathanael mir bei einem Gespräch mitteilte: »Die Calon-Männer dürfen Juron-Frauen heiraten, einige wenige machen das; aber das Gegenteil geht nicht, Calon-Frauen heiraten nur Ciganos.« Der einzige Fall, von dem er mir erzählte, war der von einer Calin, die zusammen mit einem Juron nach São Paulo gezogen ist und von der ihre Familie nie wieder gehört hat. So eine Geschichte schien mir allerdings eher als eine Art indirekte Drohung an die Calon-Mädchen zu dienen, da das Schicksal von der Calin, die ihre Familie verlassen hat, unbekannt ist. Es ist jedoch zu fragen, ob diese Heiratsorientierung bzw. -ideologie eine Calon-Vorstellung von Calonität ausdrückt, so, als ob diese durch das Blut übertragbar wäre. Es gibt auch bei Tico und seinen Geschwistern einige Anzeichen für die Präsenz einer ähnlichen Vorstellung von Calonität als hämatologisch-genetisch vererbter Status. Einmal erzählte er mir, dass es einen Mann gibt, der die Calen seit vielen Jahren kennt und der häufig auf den Cigano-Hochzeitspartys erscheint. Er trinkt mit ihnen, er kleidet sich auch wie ein Cigano und verhält sich genauso wie einer: Er wollte immer ein Cigano sein, sagte mir Tico. Doch es sei nicht möglich, erklärte er mir, weil es dafür nötig ist, »als Cigano geboren zu sein.« Diese Aussage von Tico hat größeres Gewicht, da die Calen bei ihm im Süden von BA kaum Jurons als Verwandte haben, im Gegensatz zu vielen Calen in RN. Die ethnologische Untersuchung von Nathalie Manrique (2009 und 2012) bei Gitanos im Süden von Spanien, in der eine ähnliche Idee in Bezug auf eine besondere Kraft des Blutes der Gitano-Männer beschrieben wird, wirft die Frage auf, ob die Interpretation von Esmeraldo als Variation eines breiteren, transkontinentalen Phänomens gestützt werden kann. Manrique fasst wie folgt zusammen:
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»Among the Gypsies of San Juan and Morote (southern Spain), the links between individuals and groups are conceived of as gift relationships in which givers are superior to receivers. This dialectic orders groups and individuals into hierarchical categories inherited at birth. […] Within each category, statuses fluctuate and are periodically readjusted by means of material or symbolic reciprocal transactions (taking place notably on the occasion of marriages). […] The relationship between spouses is consistent with this at once static and performative representation of social relations. During sexual intercourse, a man pours his ›blood‹ into the body of women who becomes impregnated, such that, after several years of marriage, a women’s body is deemed to have become very similar to that of her spouse; she and her husband become blood relatives.« (Manrique 2012, 1)
Daraus lassen sich mehrere Implikationen ableiten. Es sind die Calon-Männer, die dafür verantwortlich sind, die Calonität an ihre Nachfolger biologisch weiterzugeben, und zwar auf eine substantielle Weise bzw. durch ihr Calon-Blut. Das bedeutete u.a., dass die Calon-Männer von vornherein mehr als die CalonFrauen auf natürliche Weise eine Position als Vorbilder besäßen. Folglich bestünde auch eine Grenze zwischen Calon-Jungen und Calon-Mädchen. Außerdem übertragen die Calon-Männer die Voraussetzung einer Cigano-Werdung auf die Kinder; die Calon-Erwachsenen wären in diesem Sinne eine Art CalonKulturstifter bzw. -Feuerträger für die Kinder innerhalb einer gefährlichen Welt voller Jurons und anderer Calen. Diese Vorstellung über den Wert des CiganoBlutes koexistiert jedoch neben der starken Calon-Vorstellung, nach der ein Calon zum Calon wird, solange er unter, neben und mit Calen aufwächst, zusammenlebt und gemeinsame Lebenserfahrungen sammelt. Diese Kraft im Blut der Männer bzw. das Blut der Männer als Kraft ist als Gottesgabe und daher nicht als ein reines körperliches Erbe anzusehen. Ich glaube, es handelt sich eher um ein Phänomen, das analog zum Erwerb der ChibiSprache zu sehen ist. Die Sprache sowie der Status als Cigano werden oft als eine Gabe von Gott beschrieben und daher als etwas Heiliges, das nicht weiter übertragen werden kann. Doch sowohl die Sprache als auch die zunehmende Calonität entfalten sich als Teile einer Calon-Werdung, die ein Calon nur bei seinen Calen lernt, und als »Gabe« (dom) erhält. Diese Erfahrung gehört zum Erwerben der Erkenntnis, die man hat und die gleichermaßen von vertrauten Leuten nicht unbedingt übertragen, sondern gegeben wird; so wie viele Calen davon reden, die Erkenntnis zu geben bzw. darum zu bitten; dar o conhecimento; pedir o conhecimento. Die Generierung dieser Calonität ähnelt dem Tauschmodus, durch den die Calen dazu kommen, Chibi zu sprechen, die aber zugleich den Kindern im Prinzip »eingeboren« sei.
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Es besteht für die Calen, im Gegensatz zu den Jurons, also kein Widerspruch zwischen beiden. Daher und angesichts des Calon-Lebens als Erfahrungsreligion fand ich es angebrachter, ihre Calon-Denkweise über einen Obviationsansatz zu verstehen, statt sie als Ausdruck einer aufklärenden Juron-Dichotomie zwischen Natur und Kultur zu interpretieren. »Whereas an advocate of complementarity might assert that the human being is not merely a biological organism nor merely a social person, but the compound of one thing plus the other, the obviation approach asserts that humans are indeed all organisms, as indeed they are all person, for in the final analysis organism and person are one and the same, and there is nothing mere (that is, residual or incomplete) about either […]. An obviation approach to the study of kinship […] would begin by recognizing that behavioral dispositions are neither preconstituted genetically nor simply downloaded onto the passively receptive individual from a superior source in society, but are rather formed in and through a process of ontogenetic development within a specific environmental context. Kinship is about the ways in which others in the environment contribute – through their presence, their activities and the nurturance they provide – to this process.« (Ingold 1998, 24-25)
Die Erklärungsprinzipien zu einer endo-exogamischen Calon-Regel spiegelt im Grunde eine existierende Prominenz der Männer als Vorbilder zur Reproduktion der Calon-Welt wider. Indem diese Vorstellung sich als Metasprache und aus einer Perspektive von Obviation übersetzen lässt, lässt sich eine Ideologie der Dominanz von Calon-Männern in Bezug auf Calon-Frauen und -Kinder erkennen, die mit einem natürlichen Prinzip begründet wird. Eine Erweiterung davon findet Echo in dem von ihr mitgegründeten Unterschied zwischen CalonJungen und -Mädchen. 6.7.3 Geben und Bekommen Während ihrer Kindheit müssen die Chaburrons von ihren Calon-Erwachsenen versorgt werden: Sie erhalten alles, was sie brauchen, um leben zu können. Diese Position, die von den Calon-Erwachsenen als eine Position von Bedürfnissen angesehen wird, aktualisiert ihre Rolle als Vorbilder für die Kinder zyklisch. Sie erfüllen ihre Rolle, indem sie geben. Doch das, was gegeben wird, scheint von den Erwachsenen angepasst zu werden, je nach Alter ihrer Kinder. Das ist mir aufgefallen, als ich im März 2012 Benjamin, meinen damals einjährigen Sohn, zu einigen meiner Calen in Pedrosa mitgebracht habe. Im Dezember und Januar war ich auch in Lagoa Bela, Rio de Pedras und Vereda, doch
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statt meines Kindes habe ich den Calen einige Bilder von ihm gezeigt. Schon da konnte ich wahrnehmen, dass die Calen begannen, sich mir gegenüber anders, respektvoller zu verhalten als zuvor. Benjamin hat von Antonia (der Tochter von Jacó) einen Osterhasen und ein Körbchen bekommen, während andere Chaburrons mit ihm gespielt haben. Das war das erste Mal, dass ich sah, wie jemand von einer Calon-Person ein Geschenk bekommt. Statt Geschenken z.B. in Form von Spielzeug scheinen die älteren Kinder neben Essen und Getränken hauptsächlich moralische Beispiele in Form von Erzählungen zu erhalten. Dass ein Calon im Lager in Lagoa Bela z.B. Essen nach Hause brachte oder dass die Calon-Frauen den Einkauf vom lokalen Supermarkt nach Hause trugen, war stets ein Akt des Teilens, der zugleich einen Austausch von Geben-Bekommen wie auch ein Calon-Ethos von Mutualität im Alltag ausstrahlte. Die Calon-Erwachsenen behaupten sich als Vorbilder ihrer Kinder also dadurch, dass sie ihren Kindern hauptsächlich geben, als dass sie etwas von ihnen bekommen. Während Geben eine Ausübung von Superiorität ist, heißt Bekommen (eher als Nehmen) eine Form der Erniedrigung. Damit antizipieren Calon-Erwachsene oft den Chaburrons, wie sie sich in Bezug auf Jurons allgemein zu verhalten haben. Wie ich im vorangegangenen Kapitel gezeigt habe, heißt, einer Person zuvorzukommen, die Machtverhältnis zu dieser Person umzukehren, sodass sie erniedrigt wird. Jedoch gibt es bei dieser Antizipation einen substantiellen Unterschied, je nachdem, ob sie zwischen einem Calon-Erwachsenen und einem Chaburron oder einem Calon und einem Juron stattfindet: Statt aus den Kindern etwas herauszuziehen, um sie danach in ihre eigene Calon-Welt in angebrachter Weise rituell hineinzuführen, wie es bei Jurons der Fall ist, bringen die Calon-Erwachsenen den Chaburrons immer irgendetwas bei, sodass die Calon-Zivilität von den Calon-Erwachsenen in Richtung der Chaburrons verlängert wird. Sie werden mit der Tradition ihrer CalonErwachsenen bedeckt. Im ersten Fall wird eine Grenze verstärkt, beim zweiten wird eine abgeschwächt, bis die Chaburrons irgendwann mehr chavon (Calon) als burron (Juron) sind. In der hier beschriebenen Calon-Welt hat offenbar keines von beiden Priorität: weder die diachronische Konstruktion des Calon-Lebens im Laufe eines geteilten Lebens mit der kontrollierten Vermeidung von Entfremdung, welche Aspekte einer Calon-Epistemologie enthüllt, noch die zuvor geschaffene Voraussetzung für dieselbe Konstruktion als schicksalhafte Calon-Essenz, welche Aspekte einer Calon-Ontologie enthüllt. Diese dynamisierenden Spannungen werden ausgedrückt, indem die Calon-Erwachsenen ihre Kinder in ihrer Position als Vorbilder teilweise vernachlässigen und sie gleichzeitig als Teil von sich selbst behandeln, sodass die Bezeichnung Chaburron provozierend wirkt.
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Als Teil der stimmulierenden Provokation übertragen die Calon-Erwachsenen den Chaburrons des Lagers keine große Verantwortung und keine großen Aufgaben. Die Erwachsenen scheinen darüber hinaus so zu tun, als ob sie von ihren Kindern nichts zu erwarten hätten, und daher neigen sie – vor allem die Väter – selten dazu, ihren Chaburrons z.B. etwas zu vermitteln bzw. sie zu erziehen. Die Calon-Erwachsenen setzen ihr Gefühl in Bezug auf die Calon-Kinder nicht auf diese Weise voraus, sodass die Calon-Erwachsenen sich von JuronEltern dadurch in manchen Fällen unterscheiden. Und zwar habe ich dies selten, wenn überhaupt beobachtet. Eher hat ein Calon-Vater seinen chavon um irgendetwas gebeten. Vielleicht kann die folgende Erfahrung von Roland in diesem Licht gesehen werden: Roland erzählte mir einst von den zwei Jungen, die er zu verschiedenen Zeitpunkten adoptiert hat. Der Erste ist irgendwann plötzlich weggegangen. Der andere ist bei Roland und seiner Familie geblieben. Doch Roland hatte ihn nach circa einem Jahr weggeschickt, da er »im Laufe der Zeit angefangen hat, den Kindern Befehle zu erteilen«. Das weist darauf hin, dass man einem Chaburron nicht sagen soll, wie dieser zu agieren habe, schon gar nicht, wenn man ein Juron ist. Eher hatte ich den Eindruck, als sei Treue für sie grundsätzlich das Wichtigste und alles andere eine Folge davon. Wenn sich Calon-Erwachsene von den Kindern grundsätzlich unterscheiden, z.B. indem sie die Kinder als finado oder Chaburron bezeichnen, rufen sie dies am häufigsten denjenigen zu, zu denen sie in großer Nähe leben und mit denen sie eng befreundet bzw. verwandt sind. Wenn die Erwachsenen sich so auf die Kinder beziehen, tun sie es oft nicht ernsthaft, sondern eher mit Humor, während sie zugleich Zuneigung und Nähe ausdrücken. Durch ihre Regulierung der Spannung zwischen Abstand und Nähe scheinen die emotionalen Bindungen zwischen beiden Calon-Generationen erneut bestätigt und verstärkt zu werden. Das bildet u.a. einen Modus, durch den die Erwachsenen ihre Kinder zum Leben des Ciganos und als Ciganos herausfordern. Die Kinder sehen sich in ihrem täglichen Leben mit dieser Herausforderung seitens der Erwachsenen des Lagers, die sie direkt und indirekt ständig an ihren Zustand erinnern, konfrontiert. Da Calon-Erwachsene ihre Calon-Kinder sowohl von Kindern im Allgemeinen als dem Namen nach auch kaum von Maultieren und Eseln unterscheiden, indem die Erwachsenen sie also alle der gleichen Terminologie unterwerfen – und sie daher als Nichtinitiierte markieren –, müssen die Calon-Kinder das selbst tun. Aber sie machen es manchmal auch, indem sie die Calonität ihrer Calon-Erwachsenen infrage stellen und sich dadurch von unten selbst nivellieren. Im Gegensatz zu ihren Calon-Erwachsenen scheinen die Calon-Kinder sich selbst nicht als Juron oder Tote oder irgendein unvollständi-
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ges Wesen zu betrachten, sondern eher als komplette und wahre Ciganos. Damit die Calon-Kinder aber als solche handeln können, müssen sie das Vorbild ihrer eigenen Calon-Erwachsenen als ihren Weg annehmen und größtenteils wie diese agieren.
6.8 CHABURRONS ALS VEREHRER UND TRICKSTER Kaum hatte ich mich auf den Stuhl gesetzt, als sich mir der zwölfjährige Rócky näherte, um mit mir ein »Geschäft zu machen«: »Willst Du Dein Handy gegen meine Armbanduhr tauschen? Zeig es mal her…«, fing er an, und so blieb er während der nächsten Viertelstunde und gelegentlich im Laufe des Tages, um mit mir Handel zu treiben. Rócky hat sich mir gegenüber so verhalten, als ich zum ersten Mal in der Siedlung von Monte Verde war. Später hat er nicht mehr darauf insistiert, obwohl er scheinbar immer dazu bereit war, mit mir ein Geschäft zu machen. Als ich ihm und allen anderen in der Siedlung noch unbekannt war, hat er mich respektlos bzw. lediglich als Juron behandelt. Obwohl ich ein Juron bin, hat sich sein Verhalten verändert, nachdem sich alle an mich bzw. an meine Besuche gewöhnt hatten und ich zu einigen von ihnen – vor allem zu Bradóqui und zu seinem Vater, der mit Tico jaimpen spielte – eine nähere Beziehung aufgebaut hatte. Die Haltung der Calon-Kinder, wenn sie versuchen, mit Jurons Geschäfte zu machen, ist analog zu der Haltung der Calins, wenn diese unter Jurons mangeln gehen: Da diejenigen, die von den Calins angesprochen werden, i.d.R. Jurons sind, wird jeder, der sie anspricht, automatisch als Juron markiert. Die Calins in RN haben bei mir nicht versucht zu betteln, weil sie mich kannten und wussten, dass ich mit Calen zusammen unterwegs war. Als Tico, Enrico und ich von der Siedlung in Lagoa Bela nach Vão das Almas und Niquelândia gefahren sind, um dort bei einigen Jurons das ihnen von Tico geliehene Geld zurückzufordern, nahm Enrico auch die Gelegenheit wahr, unterwegs mit Jurons Geschäfte zu machen, indem er ihnen Eheringe zum Verkauf anbot. Das machte er vor allem in zwei Situationen: erstens, als wir in einer Schlange auf das Boot warteten, um damit mit dem Auto auf die andere Seite des Flusses überzusetzen; zweitens, während der Überfahrt mit dem Boot, auf dem wir warten mussten, bis wir das andere Ufer erreicht hatten. »Ich habe drei geschafft!«, sagte er Tico, als wir wieder ins Auto einstiegen. Indem Calon-Kinder versuchen, mit Jurons Geschäfte zu machen, differenzieren sie sich von ihnen, während sie zugleich ihren Calon-Erwachsenen grund-
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sätzlich ähneln. Das ist eine Tätigkeit, die als liturgisches Handeln angesehen werden kann, welches zugleich Calonität verlangt. Abbildung 14: Auf der Geburtstagsparty eines Juron-Mädels, BA (2009)
Quelle: Eigenarchiv
Als Teil dieser täglichen Differenzierungsarbeit wenden die Kinder diese Bezeichnungen unter sich selbst sehr oft an, was auch eine Form der Nachahmung in Bezug auf die Erwachsenen widerspiegelt. Während die Kinder miteinander bspw. Karten spielen und ein Spieler vom anderen irgendwie erwischt wird, nachdem er versucht hat, etwas zu tun, was er vermutlich nicht hätte machen können bzw. sollen (wie z.B. dem Gegner gegenüber mit wagemutiger Dreistigkeit beim Spiel zu handeln), hört er von dem Gegner oft: »Schau Dich an, [Du] Tote!« Obwohl das häufig passiert, ist dieser Ausdruck auch in weiteren Kontexten – vor allem in Kontexten von Wettbewerb wie z.B. bei anderen Spielen – mit derselben Konnotation zu finden. Bemerkenswert war die Disposition der Chaburrons, mit Säuglingen herumzuspazieren, als ob sie deren Eltern wären: Sie tragen sie und spielen mit ihnen, machen ihnen kleine Geschenke und wollen oft neben den Säuglingen auf Bildern posieren. Sie scheinen eine emotionale Nähe zu den Säuglingen aufzubauen, während sie zugleich eine Rolle als Calon-Erwachsene spielen.
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Jenseits vom Geschäftemachen, Kartenspielen und Aufbauen von Beziehungen zu Säuglingen tun Calon-Kinder weitere Dinge, die Juron-Kinder i.d.R. nicht, ihre Calon-Erwachsenen dagegen durchaus, tun, wie z.B. die Autos der Calon-Erwachsenen zu fahren (selbst, wenn es nur innerhalb ihrer Siedlung oder auf den Nebenstraßen ist), an Cigano-Festen teilzunehmen und dabei zu tanzen, zu trinken bzw. sich zu betrinken oder sich wie die Calon-Erwachsenen zu kleiden. Selten führen sie all diese Handlungen exakt wie die Calon-Erwachsenen aus, sondern vielmehr in anderen Proportionen: Sie fahren das Auto nicht zu weit aus dem Gebiet heraus (obwohl sie das in Pedrosa mit Motorrädern oft machen) und parken die Autos oft aus Spaß um; sie trinken auch nicht dieselbe Menge alkoholischer Getränke bei den Feiern, obwohl die meisten von ihnen, die trinken, relativ schnell betrunken werden; und sie können auch nicht beim Kartenspiel um hohe Geldsummen wetten, wie es bei Calon-Erwachsenen üblich ist. Bei allen diesen differenzierenden Aktivitäten scheint es bei den CalonKindern oft jedoch besonders wichtig zu sein, Stärke und Klugheit (vielleicht als Kompensation) zu zeigen, und dazu gehört das Zeigen geeigneter emotionaler Haltungen. 6.8.1 Als Teil von Calon- und Juron-Umwelten aufwachsen Differenzierungsmittel, die viele Chaburrons benutzen, um sich von anderen abzugrenzen und dadurch ihren Calon-Erwachsenen zu ähneln, gehören zum großen Teil zu den allgemeinen Lebensbedingungen und -weisen, die die eigene Calon-Siedlung charakterisieren, wie z.B. die Frage der Räumlichkeit und Bewegung. Ganz anders als ihre Juron-Nachbarn leben die Chaburrons räumlich prinzipiell unbeschränkt: Sie teilen dieselben Plätze wie alle andere Generationen und zu jeder Zeit, weil es bei ihnen prinzipiell keine spezifischen Plätze für Kinder gibt; sie leben sozusagen überall. Calon-Kinder teilen also die gleichen Räume, die die Calon-Erwachsenen besetzen. Das bedeutet auch, dass das Leben der Chaburrons i.d.R. nicht von Calon-Erwachsenen kompartimentalisiert wird; zumindest nicht auf dieselbe Weise, wie Eltern von Juron-Kindern es praktizieren. Chaburrons bewegen sich nicht innerhalb und zwischen Plätzen, Häusern, Gebäuden und Räumen verschiedener Art, die von ihren Calon-Erwachsenen exklusiv für sie eingerichtet wurden, so wie die Jurons spezifische Kinderplätze für Juron-Kinder installieren, z.B. zum Spielen oder um erzogen, bestraft und geehrt zu werden, sodass die Juron-Kinder von den Juron-Erwachsenen etwas entfernt aufwachsen. Die Dauer und die Räume, in denen sie sich befinden, werden strenger von den Juron-Erwachsenen
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bestimmt; nicht selten von Erwachsenen, mit denen sie keine verwandtschaftliche Beziehung haben und die sie kaum persönlich kennen. Die Calon-Kinder benötigen grundsätzlich keinen Kindergarten, da die Gemeinschaft anwesender Calen und der jeweiligen Familien selbst eine Art eigenen Kindergarten bilden und sie ihren Kindern mindestens dasselbe bieten wie ein vorbildlicher Kindergarten. Die Calon-Siedlung ist in sich selbst ein unbeschränkter Spielplatz für sie. Zumindest habe ich nie gehört, dass ein CalonErwachsener einem Kind verboten hat, an einem bestimmten Ort zu verweilen, da es für Kinder prinzipiell keinen verbotenen Ort in der Siedlung zu geben scheint. Wenn etwas in einem Zelt passiert (wenn z.B. jemand kommt oder es laut wird), sind die Chaburrons verschiedener kehs diejenigen, die als Erste erscheinen. Sie gehen in den verschiedenen Zelten ein und aus, als hätten sie mehr Autorität als die Calon-Erwachsenen selbst. So wie die auffälligen Differenzen zwischen der Calon-Siedlung und den Juron-Häusern besteht ein weiterer kontrastierender Aspekt zwischen den von Chaburrons angeeigneten Räumen und den für Juron-Kinder üblich gebauten Räumen darin, dass die Ersteren plastischer sind als die Letzteren, die ihrerseits oft als fest eingerichtet charakterisiert werden. Die Chaburrons bewegen sich dagegen innerhalb und zwischen verschiedenen Calon- und Juron-Orten freier als die Jurons; ihre Calon-Erwachsenen kontrollieren weder ihre Zeit noch ihren Raum (schon gar nicht die Väter). Während die Chaburrons sich durch alle für sie erreichbaren Räume bewegen, als ob sie selbst keine Menschen, sondern Geister (bzw. Tote) wären, improvisieren sie häufig vorläufig ihre eigenen Spielorte in, um und jenseits der Siedlung, bevor diese schnell danach wieder aufgelöst werden. Es scheint z.T. zu einem Spiel bzw. einer Aufgabe der Chaburrons als Cigano-Werdende zu gehören, sich aus anderen Räumen bzw. Orten einen eigenen zu schaffen, sie in Beschlag zu nehmen, wie ich in mehreren Situationen beobachten konnte. Am sichtbarsten war dies im Rahmen von Juron-Ritualen, wie z.B. während der hier schon erwähnten Messe zum 30. Tag des Todes von Z., aber auch bei zahlreichen Hochzeitszeremonien, bei denen die Kinder genau dort und in dem Moment spielen, in denen die Jurons etwas für sakral halten und sich seriöser und stiller verhalten als sonst. Nach mündlichen Beschreibungen passiert dasselbe bei Calon-Beerdigungen. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Chaburrons im Zusammenhang mit dem Versuch seitens der Calon-Erwachsenen, ihr Werden zu einem vollständigen und eindeutigen Wesen zu beeinflussen, schon früh die Initiative zu ergreifen scheinen, sich von anderen Kindern und Toten allgemein (bzw. Eseln aller Art) abzuheben. Oft demonstrieren sie das, indem sie in Bezug auf
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andere allgemein Abstände markieren bzw. mehrere Diskontinuitäten einführen, sodass sie in Bezug auf ihre Calon-Erwachsenen als Vorbilder in einen Zustand der Mutualität gelangen und dadurch einen respektvollen Status erreichen (bzw. antizipieren) können. Hier erscheinen die Chaburrons den Jurons gegenüber – genau wie ihre Calon-Erwachsenen – als Trickster, von deren Handlungen man i.d.R. nicht weiß, was man erwarten kann. 6.8.2 Die Welt der Chaburrons als riskante Ordnung unter den Calen Doch damit sich die Chaburrons an ihre lebendigen, erreichbaren Vorbilder annähern und diese widerspiegeln können, müssen diese im Alltag tatsächlich als Vorbilder handeln, um ihre Verehrung zu verdienen. Dem ist aber nicht immer so. Diese gelegentlichen Risse bzw. Lücken ermöglichen es den Chaburrons, dass sie opportun versuchen, Calon-Erwachsene als unvollständige bzw. mehrdeutige Wesen spiegelverkehrt darzustellen, indem sie z.B. Aspekte von deren Calonität (durch Albern, Scherzen, gelegentliche Provokationen und Umkehrungen von Rollen usw.) anzweifeln, sodass Chaburrons eine Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen ihnen und ihren Calon-Erwachsenen (auch durch Antizipation) bewirken können. Das eindrücklichste Beispiel für mich im Rahmen meiner Feldforschung boten diesbezüglich die Beziehungen zwischen einem der Brüder von Tico, Erasmo, und einigen seiner Neffen. Erasmo wurde von einer Handvoll Chaburrons – besonders von Romeu (dem Sohn von Nathanael) und Romero (dem Sohn von Tico) – veralbert, selbst wenn er nicht in der Siedlung wohnte. Diese Chaburrons meinten, dass er etwas langsam bzw. etwas »verrückt« (doido) sei. Als Erasmo schließlich wieder in die Siedlung zog, nachdem er eine lange Zeit in Mato Grosso neben Fernando, einem anderen Bruder von Tico, gewohnt hatte, wurde er fast jeden Tag von Romeu ohne jegliches Mitleid veralbert. Erasmo hat, im Gegensatz zu allen anderen Onkeln von Romeu, keine eigene Familie mehr, er hatte überhaupt nur für eine sehr kurze Zeit eine, bevor seine Frau ihn verließ, was nun schon einige Jahre zurücklag. Seitdem hat er keine andere Calin geheiratet und somit auch keine Kinder gezeugt. Das wird im Vergleich zu seinen Brüdern als Schwäche angesehen. Dazu kamen andere Faktoren, wie die Tatsache, dass sein Schweigen von den Calon-Kindern oft mit Dummheit assoziiert wurde und dass er selbst per Ansprache explizit Respekt von ihnen eingefordert hat, was bei den Chaburrons das Gegenteil bewirkte. Luís, der Schwiegervater von Duda, wurde auch ein paar Mal zur Zielscheibe von Streichen einiger weniger Chaburrons, z.B. als Aldo ihn mit einer Videoka-
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mera aufnahm. Er saß im Kreis neben anderen Calen bei Duda und verbat sich ausdrücklich, dass Aldo ihn weiter filmt. Aldo hat ihn dann veralbert, ihn mehr als die anderen aufgenommen und noch dazu etwas Lustiges gesagt, was die anderen zum Lachen brachte, bevor er blitzschnell verschwand. Im Gegensatz zu Erasmo aber wird Luís von den Chaburrons sehr wohl respektiert und ist oft in der Siedlung, obwohl sein keh in der benachbarten Calon-Siedlung steht.8 Solche Situationen scheinen u.a. zu verdeutlichen, dass ein Calon-Erwachsener potenziell zur Zielscheibe für die Scherze und Streiche von Chaburrons werden kann, wenn er in einer gewissen Situation darin scheitert, seine eigene Calonität überzeugend zu aktualisieren (d.h. sich wie ein richtiger, respektvoller Calon zu verhalten); sein Respekt kann gestört und seine relative Autorität infrage gestellt werden, indem er von Chaburrons ausgetrickst wird. Es ist wegen der Calon-Kinder, dass Valdinha in der Nacht den Computer zudeckt, bevor sie ins Bett geht, damit dieser sich nicht »erkältet«, »da die Jungs sagen, er kann sich Viren einfangen, nicht wahr?« Doch darüber lachen die Chaburrons, ohne dass Valdinha dies bemerkt. Ein weiteres Beispiel kann dieses Argument bekräftigen. Beim Kartenspiel ist die Energie und Stimme, mit der die Kinder gegeneinander spielen, besonders auffällig. Wenn Calon-Kinder Karten spielen, zeigen sie manchmal viel Aggressivität. Sie versuchen, sich so weit wie möglich gegenseitig einzuschüchtern. Die Karten werden nicht nur auf den Tisch gelegt, sondern auch oft herausfordernd mit breiten Armbewegungen geworfen, während man zugleich in imperativen Sätzen den Gegner anschreit: »Ich nehme es nun!«; »Jetzt hast Du keine Chance!«; »Zeig, was Du hast!« usw. Unter sich spielen Calon-Erwachsene dagegen ohne äußere Aggressivität, schon deshalb, weil die Gefahr eines potenziellen echten Streits bzw. einer dramatischen Trennung (Bruch von Kompromiss, Mutualität usw.) viel zu groß wäre. Wenn Calon-Erwachsene dann einwilligen, mit Chaburrons Karten zu spielen, werden sie ähnlichen Herausforderungen und Provokationen ausgesetzt, die die Chaburrons unter sich selbst zeigen. Einmal hatte Nathanael beim Spiel gegen einen Chaburron einen Fehler gemacht, dies aber nicht sofort erkannt und ruhig darauf bestanden, gewonnen zu haben, während sein Chaburron-Gegner lautstark das Gegenteil behauptete. Doch Grafitti, der neben ihm zusammen mit anderen Chaburrons das Spiel be-
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In Monte Verde hat Rócky oft seinen Großvater genervt. Die Gründe dafür habe ich nie richtig verstanden. Er sah sich dazu veranlasst, ihn zu ärgern, weil sein Großvater sehr alt und blind war und deswegen nicht mehr ganz selbstständig bzw. autonom handeln konnte. Doch kein Calon der anderen Kehs hat ihn aufgrund dessen reguliert.
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gleitete, wies ihn diskret darauf hin, dass der Chaburron tatsächlich Recht und gewonnen habe. Nachdem Nathanael ein bisschen überlegt hatte und währenddessen die Ausgangssituation wiederherzustellen schien, gab er es zu und dem Chaburron einen kleinen Betrag. Bei einem anderen Kartenspiel, an dem Sandrinha, Romeu, Aldo und Miriam – die einzige Calon-Erwachsene in der Runde und die Tante von ihnen allen – teilnahmen, brach plötzlich ein Streit aus: Romeu diskutierte heftig mit seiner Schwester Sandrinha; währenddessen hat Miriam 2 R$ verloren und behauptete, bestohlen worden zu sein. Sofort verlangte sie von demjenigen, der es genommen hat, es zurückzugeben. Sie meinte dann sehr aggressiv, es sei Romeu gewesen, und forderte ihn mit einem Messer heraus, während sie ihn laut anschrie. Er und Sandrinha sind aus Miriams Zelt langsam in verschiedene Richtungen innerhalb der Siedlung weggegangen, ohne das Geld zurückgegeben zu haben. Wenige Minuten später setzten die Kinder das Spiel fort, diesmal bei Duda. Darüber hinaus beeinflussen die Chaburrons die Handlungen und Entscheidungen ihrer nahen Calon-Erwachsenen durch emotionale Äußerungen bzw. Wünsche. Ein Beispiel wurde mir von Martin Fotta persönlich erzählt: Ein Vater war seit mehreren Jahren in Trauer und ließ währenddessen seinen Bart wachsen; doch seinem dreijährigen Sohn gefiel sein Bart nicht, weil er ihm Angst machte. Irgendwann war es so weit, dass der Dreijährige begann, sich von seinem Vater ein bisschen zu distanzieren. Sein Vater hat sich dann entschieden, seine Trauerzeit zu beenden, und seinen Bart abgenommen. In solchen Situationen treten die Chaburrons den Calon-Erwachsenen gegenüber als Trickster – und somit als Trickster der Trickster oder als Überinitiierte (vgl. Lévi-Strauss 2014 [1952]) – auf. Indem sie ihren Zustand als undefiniertes Wesen (d.h. als etwas, das sich in keine Form bringen lässt und daher multiple Gestalten annehmen kann) ausnutzen, schaffen sie es, ihren eigenen Status so zu inszenieren, dass der von den Calon-Erwachsenen transformiert wird, sodass beide Status (von Chaburrons und von Calen) wenn auch nur vorläufig umgekehrt werden: Die Chaburrons fangen dann an, Witze über die Erwachsenen zu machen; sie prüfen auf provozierende Weise ihre Agency und Kraft bzw. ob und inwieweit sie ordentlich auf geeignete Weise handeln usw. Die Calon-Erwachsenen werden von Chaburrons dabei nicht nur nach unten gezogen – vor allem, wenn sie sich auf ihr Spiel einlassen –, damit alle gleich werden: Bei derselben Bewegung steigen die Chaburrons auf die Ebene der Calon-Erwachsenen auf (und zwar auf deren moralische Kosten). Wie Ingold in Bezug auf die Fähigkeit der Kinder im Allgemeinen behauptet, tragen auch die Calon-Kinder durch ihre Anwesenheit und Aktivitäten in ihren Calon- und Juron-Umwelten zu Wachstum und Entwicklung der sie umge-
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benden Calon-Erwachsenen bei, »just as they contribute to its own« (Ingold 1998, 47). 6.8.3 Auf eine eigene Weise als Calon aufzuwachsen Schließlich lernen und üben Calon-Kinder, auch in Bezug auf jeden einzelnen Calon einzigartig zu agieren, was auch zur Etablierung eines eigenen Rufes beiträgt. Somit scheint die Erschaffung von einem erkennbaren Selbst bei den Calen eine wichtige Rolle zu spielen, paradoxerweise auch als Teil der Nachahmung, da jeder respektvolle Calon einzigartig und unersetzbar ist. Es war die Verhaltensweise der Calen auf den Hochzeitsfesten, die mich auf diesen Gedanken gebracht hat, und dann versuchte ich, Ähnliches bei den Chaburrons zu entdecken. Oft beobachten die Calen, die an einer Tanzfläche stehend (noch) nicht mittanzen, diejenigen, die (schon) tanzen. Dabei achten sie besonders auf die Art und Weise, wie getanzt wird. Der Blick fällt oft auf kleine Details, wie die Tanzenden z.B. ihre Ellbogen, Fersen oder Hüften bewegen, ob sie lange oder kurze Schritte machen. Außerdem sieht jeder, was der eine oder der andere bevorzugt trinkt: Grafitti, Nathanael und Tico lieben Whisky, Horácio mag Cachaça gern, während Daniel bei Bier bleibt. Die Calon-Frauen beobachten die Einzelheiten ihrer Kleidung, reden auch über Tanzweisen, Schönheit, Attraktivität und anderes. Zudem sind die Einzelheiten und Vorlieben, die die einzelnen Chaburrons im Alltag entwickeln, den meisten der Siedlung bekannt. Welche Spiele sie am besten spielen, die Musik, die sie hören, welche Calen sie am liebsten als Vorbilder mögen usw. Artur, der Sohn von Roland, Bruder von Aldo, mag gern Michael Jackson, weshalb er ihn imitiert. Währenddessen ist Romero Fan von Ronaldinho aus der brasilianischen Nationalmannschaft und somit spielt er gern Fußball. Auch wenn sie Tätigkeiten ausüben, die denen der Calon-Erwachsenen ähneln, hinterlassen sie dabei doch immer eine eigene, persönliche Note, das, was sie tun, wie sie es tun, wird an ihnen erkennbar wie ein Autogramm. Nach João de Pina-Cabral: »[A]s humans are in the world socially, the project-nature of instituting is necessarily coextensive with sociality. The world’s diffuse multiplicity is the basic, and ever recurring condition; singularity and its partibilities are what human life produces. Instituting is a process of shared intentionality carried out by persons who, being mutually constituted, are in the process of becoming singular persons […]. What gives rise to the expectation of singularity is the overlap of memories between the persons involved. As such, the condition of instituting is mutuality.« (Pina-Cabral 2011, 492)
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In diesem Sinne entwickeln die einzelnen Chaburrons im Ablauf eines Individuationsvorgangs ihre eigenen Merkwürdigkeiten bzw. individuellen Identitäten als Personen, während sie alle zugleich als Calon-Personen zusammen aufwachsen. Sie instituieren ihre eigenen Calon-Namen aus denen, die ihnen von den CalonErwachsenen gegeben wurden, wieder. Dabei produzieren sie auch Erinnerungen, die sie miteinander zu jeder Zeit bzw. für immer affektiv teilen können. Abbildung 15: Porträt einer Calon-Familie, BA (1970er Jahre)
Quelle: Persönliches Archiv eines anonymen Gesprächspartners
Zu diesem Individuationsvorgang unter den Calen gehört für die Chaburrons untrennbar die sanktionierte Inklusion von Elementen der sie umgebenden JuronWelt (Charakter, Geschichten, Getränke, Spiele, Verhaltensweisen, Symbole, Klamotten usw.) in ihre gemeinsame Calon-Welt. Die Modi, mit denen ein Chaburron durch seine Calonität mehrere dieser Juron-Elemente ablehnt, aufnimmt bzw. anpasst, beeinflussen das Mitgestalten der Calon-Welt, die es verwirklicht und die es als Calon-Person verwirklicht.
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Das »Vergessen« der »Namen, die für immer sind« Von einem verstorbenen Cigano zu einem Calon-Ahnen
7.1 ZUR CALON-DIFFERENZIERUNG IM KONTEXT VON TOD UND TRAUER Im vorliegenden Kapitel möchte ich zeigen, wie die Calen mit ihren Toten im spezifischen Kontext von Bestattungsbräuchen und im Laufe einer individuellen Trauerarbeit umgehen. Dabei beschreibe ich einige Differenzierungsstrategien der Calen auf einer inter- und einer intrakulturellen Ebene. Es geht hier darum, wie die Calen spezifisch im Kontext einer Beerdigung und von Trauerarbeit ihre Integrität auf verschiedenen Ebenen bewahren. Dazu exploriere ich insbesondere die folgende Frage: Wie konzeptualisieren die Calen und wie gehen sie mit dem um, was sie nach dem Tod eines geliebten Menschen »Erinnerungen« nennen, und was meinen sie, wenn sie in Bezug darauf von »Vergessen« sprechen? Williams (vgl. 2003 [1993]) und Tauber (vgl. 2014 [2006] und 2008) betonen, dass der Begriff Erinnerung wesentlich sei, um die Realitätskonstruktionen von Manusch und Sinti zu verstehen: »There is a Mānuš memory but it is a memory that shuns speechmaking, a memory that isn’t aimed at exploring the past and accumulating knowledge. ›Respect,‹ ēra, is, for the Mānuš, the form taken by what we call memory.« (Williams 2003 [1993], 12). Auch bei den Calen scheint dies der Fall zu sein. Inwieweit können die Calon-Termini (Erinnerungen, Vergessen, Schmerzen…) als Ausdrücke einer distinktiven Lebensweise (das Leben des Ciganos) und einer entsprechenden Cigano-Kultur angesehen werden? Indem ich an diese Fragen herangehe, möchte ich verstehen, inwieweit und wie die Trauerrituale der Calen und ihre entsprechende Konstruktion einer Calon-Person in der Konstruktion von Mutualität und Unterschieden direkt involviert sind. Hier gehe ich davon aus, dass eine spezifische Untersuchung über die
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Calon-Erinnerungen und das Calon-Vergessen zu verstehen hilft, wie individuelle Verluste und Trauererlebnisse bzw. -arbeit einerseits und kollektive Vorschriften andererseits im Rahmen von Ritualprozessen miteinander zusammenhängen. Wie ich festgestellt habe, spielen Vergessen und Erinnerung eine zentrale Rolle bei der Calon-Konstruktion einer eigenen Calon-Person/Welt zwischen anderen. Diese Calon-Konzepte lassen sich in ihrer Komplexität z.T. begreifen, wenn Erinnerungen und Vergessen als Weltgeschehen im Zusammenhang mit ihren Tauschkreisläufen in Betracht gezogen werden.
7.2 LEBENSZYKLEN, TODESZYKLEN Das einzelne Leben jedes Ciganos, ob als Mann, Frau, Kind oder im Alter, kann gewissermaßen auch metaphorisch zeitlich immer wie eine Linie betrachtet werden: Sie werden geboren, dann wachsen sie als Chaburrons (chavons bzw. chavins) auf, später leben sie als Roms oder Ruins, dann altern sie als purons (Alte) bis sie endlich zu Mulons (Toten) werden.1 Ihre Leben als Linie entfalten sich entlang mehrerer Umwandlungen existentieller Zustände, die spezifische (intergenerationelle, geschlechtliche, statusbezogene usw.) Lebensbedingungen aufweisen (vgl. Hertz 2007 [1907]; van Gennep 2005 [1909]). Im Laufe dieses individuellen Entfaltens, das auch als Aufwachsen (vgl. Azevêdo 2004, 247-317; Ingold 1998 und 2011) betrachtet werden kann, findet stets das statt, was Bloch & Parry »short-term order of exchanges« (vgl. Bloch & Parry 1989, 23-30) nennen. Dieser Tauschmodus wird darüber hinaus von einzelnen Calen häufig in Form von periliturgischem Handeln (vgl. Bargatzky 2007, 278-279) als Mittel zur Kontinuität ihrer einzelnen Leben bzw. ihres Unterhalts durchgeführt, wenn sie »wie Jurons« handeln. Noch bei diesem Sichentfalten bzw. Aufwachsen wird das Cigano-Leben jedes Calon-Individuums zugleich von Ereignissen durchkreuzt und geprägt. Diese treten zyklisch auf, auch weil sie einen kollektiven Charakter wie z.B. in Form von regelmäßigen Festlichkeiten haben (vgl. Leach 2000 [1953], [1955b]). Von Zeit zu Zeit treffen sich die Calen, sodass sie eine Calon-Mehrheit in Bezug auf die sie umgebenden Jurons bilden, wobei die Positionen der und Beziehungen
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Hier meine ich nicht die Selbst- oder Fremd-Darstellung (im Sinne von Repräsentation) des Lebens einer Person z.B. durch eine Biografie, wie es das Thema bei Bourdieu (vgl. 1986) ist, sondern im Sinne von Ingold, z.B. wenn er von Maschenwerk spricht (Ingold 2011, 42-43, 149, 155, 191).
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zwischen den Teilnehmern aktualisiert werden. Diese Aktualisierungen umfassen nicht nur die Anerkennung der Calen als Calen und die Bestätigung von Jurons als Jurons, sondern u.a. auch die Allianzen und Feindseligkeiten unter den Calen selbst. Da die Calon-Feste als Potlatsches angesehen werden können, übersetzen und schließen sie gleichfalls »long-term order of exchanges« ein (vgl. Bloch & Parry 1989, 23-30; auch Brockmann 2014, 120). Ich betrachte diesen Austausch als die sichtbarsten Verlängerungen von demjenigen liturgischen Handeln (vgl. Bargatzky 2007, 277), das die Calen in ihrem Alltag zeigen und das in seiner Gesamtheit als Mittel zur Aktualisierung und Kontinuität des Lebens des Ciganos bzw. ihres Unterhalts verstanden werden kann. In diesem Sinne erscheinen diese Calon-Zusammenkünfte als Ausdruck und Verschärfung eines totalen Tausches. Sie finden auf allen Ebenen und sowohl zwischen Calen als Einzelnen als auch zwischen Calen als Kollektive statt, und daher nehmen sie die Form eines Systems der totalen Leistung an. Im Gegensatz zur ewigen Vergegenwärtigung (und damit kosmologischen Atemporalität) der eigenen Calon-Ahnen, die von ihren eigenen Calon-Trauernden bei ihnen selbst innewohnend geschützt bleiben und für sie als Archái stehen, neigen lineare und zyklische Geschehnisse im Laufe des Lebens des Ciganos dazu, ihren jeweiligen Fluss nicht lange aufrechtzuerhalten: Das Leben des Ciganos, das sich hier und dort als »o Cigano« – ob als das Leben der einzelnen Calen oder als das der Ciganos als Kollektiv – fraktal verwirklicht, ändert sich. Das Leben des Ciganos ist aus verschiedenen Gründen von mehreren Diskontinuitäten und Neuanfängen geprägt, u.a. weil sich die Calen immer unter anderen befinden, die sie in ihre eigenen Geschichten einbeziehen und dadurch berühren bzw. treffen können. So ist das auch im Kontext des Todes eines Calons. Wenn ein Calon stirbt, setzen sich diejenigen Calen, die um ihn trauern bzw. ihm am nächsten stehen, mit einer Vielzahl anderer Personen auseinander, die in ihren Trauerritualen auf die eine oder andere Weise involviert sind. Die Calen werden sowohl mit den sie umgebenden Jurons als auch mit anderen Calen (bspw. mit nichttrauernden Calen) konfrontiert,2 sodass die Calon-Trauernden innerhalb und zwischen mindestens zwei antagonistischen Welten situiert sind und mit ihren jeweiligen Codes kommunizieren sollen. Als gezeigte Kulturen sollen die Beerdigungspraktiken den Erwartungen vielfältiger Audienzen entsprechen, deren jeweiliges Verlangen und jeweilige
2
Mit dem Tod selbst scheinen sich die Calen auseinanderzusetzen, soweit dieser von einem Juron und anderen Calon-Personen verkörpert wird; z.B., wenn es sich um einen gewaltsamen Tod handelt.
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Ängste selbst variieren. Zugleich bieten die Calon-Beerdigungen genauso wie die verschiedenen Calon-Feste rituelle Rahmen an, bei denen die verschiedenen Tauschmodalitäten und jeweiligen Eigenschaften zwischen diesen Agenten, Publika bzw. Personen an Sichtbarkeit gewinnen. Sie können als Gelegenheiten angesehen werden, bei denen die Beteiligten ihre jeweiligen Zugehörigkeiten und ihre Reputation aktualisieren. Die Aktualisierungen der Grenzen und Vergemeinschaftungen im Kontext des Todes eines Calons ermöglichen jedem Calon die Verwirklichung des Lebens des Ciganos (als eine fraktale Person) und somit die Erneuerung jeder Calon-Welt (die Disziplin bzw. Tradition jeder Calon-Familie). Dabei müssen die Calen mit Jurons zurechtkommen. Da jeder Tod von der sie umgebenden dominierenden Mehrheitsgesellschaft kulturell verwaltet wird, sind die Beerdigungen der Calen in Brasilien ebenfalls eine institutionelle JuronAngelegenheit. Daran sind rechtlich-staatliche, medizinisch-sanitäre, moralischreligiöse und lokal-gemeinschaftliche Juron-Einrichtungen gemeinsam beteiligt. Die Beerdigungen der Calen finden mithin, wie jede andere Beerdigung auch, i.d.R. als offene Ereignisse statt, an denen bekannte und unbekannte Jurons direkt und indirekt und in verschiedenen Rollen teilnehmen. Die CalonBeerdigungen sollen also als ein Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, so wie sie sich durch ihre differenzierenden Bestattungsordnungen manifestieren, betrachtet werden. Die Calen gehören zu einer Cigano-Minderheit, deren eigene Erfahrungsreligion (das Leben des Ciganos) insbesondere im Kontext einer dominanten, hegemonialen christlichen Doktrin einer umgebenden Mehrheitsbevölkerung praktiziert werden soll, die ihrerseits Transzendenz und Kompartimentierung (und dadurch einen Verzicht der Verwaltung eigener Integrität) von ihren Mitgliedern als Inklusionsvoraussetzung auf mehreren Ebenen verlangt. Die christlichen Bestattungsbräuche der Juron-Mehrheitsgesellschaft sind prinzipiell als ein legitimes bzw. religiös anerkanntes Ritual organisiert, das i.d.R. allen Toten einen sicheren transzendentalen – also einen trennbaren – Übergang von der Erde in den Himmel, von der Welt der Lebenden in die der Toten, vom Diesseits in das Jenseits zu ermöglichen hat (vgl. Ariès 2009 [1977]). Innerhalb des Horizonts des Möglichen 3 und nach der Wertvorstellung eines Calons figuriert diese Trennung zwischen Leuten, die sich als mutuell einander zugehörig verstehen, als ein Zeichen für Abbruch und Kompromisslosigkeit (d.h.
3
Für das Konzept eines »Horizonts des Möglichen« vgl. bspw. Sigaud, Rosa & Macêdo (2008, 120-121) und Sigaud (2004, 151).
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als respektlos, als Juron). In diesem Sinne besteht die Herausforderung der Calen zum großen Teil darin, im Rahmen der sie umgebenden Juron-Bestattungsbräuche einen eigenen Calon-Weg zu finden bzw. zu gestalten, durch den sie ihre eigenen Toten (d.h. Vorbleibenden bzw. Antipassado/Antivergangenen) als Calon-Ahnen unter sich behalten und verehren können. Die Calen schaffen das aber, ohne in Konflikt mit den Jurons zu geraten, auch weil sie keinen Anspruch darauf haben, ihre eigenen Calon-Trauerrituale bei anderen durchzusetzen (vgl. Williams 2003 [1993]; Tauber 2014 [2006]; Streck 2009). Deswegen spielen die Calen z.B. während einer Beerdigung das soziale Juron-Spiel teilweise mit. Zudem müssen die Calen miteinander auskommen. Die Calon-Trauernden bilden nach dem Tod eines Angehörigen eine Minderheit unter den Calen selbst, die um den gemeinsamen Verstorbenen entsteht und die meistens nur für einen Calon wahrnehmbar ist. Diese Minderheit ist allerdings nicht immer und unbedingt als eine Gemeinschaft (vgl. Tönnies 1991 [1887]) anzusehen. Außer den nahen Verwandten, die den Todesort verlassen, um gemeinsam in einem keh zu wohnen, gibt es weitere Calon-Trauernde, die mit ihren jeweiligen Familien zusammenleben. Was die verschiedenen Calon-Trauernden verbindet, ist sowohl der gemeinsame Verstorbene wie die Tatsache, dass sie alle wenigstens eine Zeit lang als communitas (vgl. Turner 2008 [1969]) leben. Aus einer intrakulturellen Perspektive gehören die Calon-Trauernden als Besitzer bzw. Träger ihres CalonStatus zu einer Calon-Gesellschaft, deren rituellen Vorschriften sie im Kontext von Tod und Trauer folgen müssen, wenn sie als wahre Calen unter Jurons in den Augen anderer Ciganos weiterleben möchten. Die Calon-Vorschriften erwarten von den Calon-Trauernden grundsätzlich, dass sie sich in der Calon-Öffentlichkeit nicht an ihre eigenen Toten entsinnen: Die eigenen Toten müssen vergessen werden. Dazu gehören die CalonVorschriften, nach denen die Calon-Trauernden der sichtbaren, offenbarten Calon-Welt alle erdenklichen Erinnerungsanlässe an ihre eigenen Toten entziehen. Das soll von den Calon-Trauernden selbst wie eine Art Reinigungsarbeit ausgeführt werden, sodass die meisten ihrer rituellen Handlungen im Rahmen einer Beerdigung und in Bezug auf die Calon-Öffentlichkeit zum großen Teil darin bestehen, die eigenen Toten keinesfalls vor anderen Ciganos zu evozieren. Während sie diese Vermeidungstaktiken praktizieren, steht ihre eigene Reputation (vgl. Bailey 1971) und die ihrer eigenen Toten, welche nicht mehr ganz voneinander zu differenzieren sind, auf dem Spiel. Ein anderer Calon stellt einem Calon-Trauernden deswegen und im Gegensatz zu einem Juron keine Fragen nach seinen eigenen Toten. Die Calen können sich unter sich zwar über die Toten von anderen Jurons und anderen Calen unterhalten. Doch nach der Beerdigung will kein Calon etwas über die Toten ande-
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rer Calen hören, wenn die eigenen Calon-Trauernden des Verstorbenen ihm etwas zu sagen haben. Daher konnte ich über die eigenen Toten derjenigen Calen, die ich begleiten durfte, hauptsächlich etwas von ihren jeweiligen Ehefrauen erfahren, da i.d.R. die eigenen Toten nicht von allen gemeinsam verehrt werden. Abgesehen von den Großeltern oder eigenen Geschwistern scheinen die meisten eigenen Calon-Ahnen der Calen, die ich kennengelernt habe, ihre eigenen Eltern zu sein. In den meisten Fällen ist es nicht möglich, neben der Zerstörung der persönlichen Gegenstände des Verstorbenen auch alle anderen potenziellen Erinnerungsanregungen zu beseitigen. Wie sollte z.B. der Ort, an dem ein Calon stirbt, weggeschafft werden? Wie alles, dem der Verstorbene seine persönliche Note aufgedrückt hat, ist auch der Sterbeort eine lembrança. Die Wichtigkeit des Sterbeortes für die Hinterbliebenen wurde in der brasilianischen Literatur zu Ciganos erwähnt. Nach Sant’Ana (vgl. 1983) bspw. muss für die Kalderasch in Campinas das Begräbnis gleich dort stattfinden, wo der Tod eingetreten ist. So ist es auch bei den Calen (vgl. dazu auch Locatelli 1981). Weil man jedoch den Ort nicht zusammen mit den anderen Erinnerungen beseitigen kann, bleibt den Calon-Trauernden nichts anderes übrig, als sich ihm zu entziehen. Und d.h. umziehen (mudar), was bei den Calon-Hinterbliebenen die Regel ist und zudem auf eine Art besonderer Mobilitätskultur hinweist. Bei den Jurons kommt es manchmal auch vor, dass sie nach einem Todesfall aus einem Ort oder einer Wohnung weg- bzw. ausziehen, was für die meisten Leute in Brasilien verständlich ist. Allerdings ist das keine Regel, wie man sie bei den Calen finden kann. Eine Ausnahme stellt eine Calon-Familie dar, die, statt aus dem Haus auszuziehen, in dem ein Verwandter gestorben ist, die Wände ihrer Wohnung mit einer anderen Farbe gestrichen hat, um dort weiterleben zu können. Eingeengt zwischen zwei Mehrheiten, wie sie es sind – den vorherrschenden Jurons, die die Toten von ihren Familien trennen und sie woandershin schicken, und den anderen Calen, vor denen sie ihre Erinnerungen an ihre eigenen Toten unter keinen Umständen evozieren dürfen –, was können die Calon-Trauernden tun, um ihre eigenen Toten als Calon-Ahnen unter sich als Lebende zu behalten? Wie können die Calon-Trauernden ihre eigenen Toten trotzdem in ihre eigenen Calon-Ahnen (die Antivergangenen bzw. Vorbleibenden) umwandeln? Und wie können ihre Calon-Ahnen darüber hinaus ihre eigene Calon-Welt mitgestalten? Meiner Meinung nach können die Calen ihre eigenen Toten nur so als Archái immanent beibehalten, indem sie sowohl die Bestattungsordnungen der Jurons als auch die der Calen transgredieren (vgl. Köpping 2001), jedoch nur so, dass sie trotzdem weiterhin beiden Welten angehören können: Sie müssen aus Transgression ein legitimes Verhalten schaffen. Das scheint für mich möglich, indem
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sie Antizipation in Bezug auf Jurons mit Nachahmung in Bezug auf ihre eigenen Toten zu kombinieren. Notwendig dafür ist die Kenntnis, die man hat. CalonTrauernde schaffen es also, ihre eigenen Toten einerseits vor transzendentalisierenden Kräften und andererseits vor der endgültigen Vernichtung durch Vergessen zu schützen und sie bei sich aus Gefühl zu behalten, wenn sie sowohl den Jurons als auch anderen Calen zuvorkommen, indem sie den Spuren ihrer eigenen Toten mittels ihrer Trauerarbeit im Verborgenen folgen (vgl. Tauber 2014 [2006]). Abbildung 16: Trauerzug eines Calons, RN (2000)
Quelle: de Oliveira Silva 2012, 73
Als Mittel dafür stehen den Calon-Trauernden gerade die einzigartigen, unverwechselbaren Erinnerungen an ihre eigenen Toten, die selbst als Calon-Personen eigene Institutionen bilden, als Rohmaterial und ihr Vergessen als rituelles Handeln zur Verfügung. Diese Antizipations- und Nachahmungshandlungen werden von den Calon-Trauernden sowohl im Rahmen von Beerdigungen als auch im Laufe der Zeit, die auf einen Todesfall folgt, durchgeführt; also im Verlauf der Trauerarbeit, die die Calon-Trauernden im Alltag praktizieren. Im Folgenden entwerfe ich die Modi, mit denen diese Antizipationen und Nachahmungen bei Calen im Kontext von Beerdigungen als rituelle Handlungen ethnologisch konzeptualisiert werden können. Um die wesentlichen Aspekte der komplexen Calon-Bestattungsbräuche zu verdeutlichen, also ihre rituellen Calon-Praktiken und -Arbeitsweisen im Kontext von Sterben und Tod, sollen
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nachfolgend die drei Ebenen von Bestattungsordnungen idealtypisch vorgestellt werden: erstens die Bestattungsordnung der lokalen Jurons; zweitens diejenige der Ciganos, die Elemente einer transkontinentalen Kultur aufweist; und drittens die der Person des Verstorbenen selbst als eine Entität, die die Beerdigung und die Trauermodalitäten der Hinterbliebenen mitgestaltet. Die Bestattungsordnungen, die ich hier beschreibe, bilden aufgrund dessen keine absoluten Einheiten und können daher auf das verweisen, was Geertz »structures of signification« nennt (Geertz 1973, 9).
7.3 ZUR LOKALEN JURON-BESTATTUNGSORDNUNG Abgesehen von den Fällen mittelloser Unbekannter bzw. Fremder4 verläuft keine einzige Beerdigung absolut identisch zu einer anderen, weder bei Ciganos noch bei Jurons. Allerdings ist es möglich, ein generelles Muster zu identifizieren, das den meisten Menschen im gegenwärtigen Nordosten Brasiliens und daher in RN und BA als Vorbild für die Durchführung von Beerdigungen von Erwachsenen dient.5 Es geht hierbei um ein Alignement zwischen rechtlichen, medizinischen und religiös anerkannten Calon-Einrichtungen wie auch zwischen diesen und den mehrheitlich vertretenen umgebenden Bräuchen, die auch die Bestattungsvorschriften betreffen. Dieser Ordnung und ihren lokalen Variationen sind die Calen wie jede andere Person auch prinzipiell unterworfen. Ein Teil der Bestattungsbräuche, die ein Calon-Trauernder nach einem Verlust befolgt, besteht in diesem Sinne darin, seinen Schmerz in der Öffentlichkeit der lokalen Umgebung auf eine für die Jurons adäquate Weise auszudrücken. Das ist nur möglich, indem er sich durch gemeinsame Codes äußert bzw. emotional kommuniziert. Gemeint sind hiermit Codes, die er mit den lokalen Jurons teilt. Der öffentliche Charakter des Begräbnisses, für das auch viele Verwandte und Freunde aus anderen Regionen anreisen, die Teilnahme an der Totenwache,
4
Damit sind nicht nur arme, sondern auch unbegleitete Personen gemeint, Personen, zu denen keiner in der Umgebung Bezug hat, die nicht identifizierbar sind, nicht selten namenlose Personen.
5
Über Trauerrituale in spezifischen Gebieten in Brasilien siehe u.a. Silva (2007) und Reis (1991) in BA, Nascimento de Melo (2000), Rodrigues dos Santos (2005) und Bezerra Freire (2006) in RN, Riedl (2002) und Santiago Galeno (1969) in Ceará. Über die brasilianische Gesellschaft insgesamt vgl. z.B. da Silva Queiroz (1983), Mattedi & Pereira (2007) und Koury (1993, 1994, 1999 und 2003).
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das Tragen von schwarzer Kleidung als Zeichen eines Trauerzustandes, der von Jurons schon vorausbestimmte Weg, den der Leichnam nehmen muss (Krankenhaus/von zu Hause/Bestattungshaus/Instituto Médico Legal Æ Totenwache Æ Kirche Æ Friedhof), sind Beispiele von Handlungen, die sich an der lokalen Bestattungskonvention sowohl in RN als auch in BA orientieren. Wenn also ein Calon angesichts eines Verlustes gemäß der lokalen Ordnung agiert, unterscheidet er sich unter diesem Gesichtspunkt nicht von den Jurons. Er muss die staatlichjuristischen, religiösen und traditionellen Bestattungsbräuche seiner Ortschaft berücksichtigen. Wie ich im ersten Kapitel dargelegt habe, bestehen diese lokalen Juron-Bestattungsbräuche selbst aus mehreren selektierten Elementen verschiedener Kosmologien bzw. Welten; wie z.B. die Beerdigung in der Hängematte, die heutzutage nur noch selten und nur im Nordosten aufzufinden ist und die europäische Siedler früher vor allem von indianischen Bestattungsbräuchen übernommen haben (vgl. Câmara Cascudo 2003 [1957], 122-124).6 Die sofort greifenden legalen bzw. gesetzlichen Verfahren und Vorschriften werden gleich nach dem Tod eines Calons und an dem Ort, wo er gestorben ist, von autorisierten Vertretern ausgeführt. Gleich, wo der Tod eingetreten ist, wird der Leichnam des Verstorbenen unter der Vormundschaft einer vom Staat autorisierten Institution aufgenommen (Krankenhaus und Bestattungshaus). I.d.R. wird der Leichnam im Grunde von dem Moment des Todes an zu einer Angelegenheit von entsprechenden Fachleuten, bevor er in einen Sarg gebettet und nach einer speziellen Vorbereitung für die Totenwache freigegeben wird. Die Professionellen, die sich darum kümmern, sind allesamt Jurons. Im Fall eines gewaltsamen Todes entwickelt die Juron-Aufnahme des Leichnams dramatischere Konturen, da er dem Instituto Médico Legal7 bzw. Leichenbeschauer für eine Autopsie übergeben werden muss. Dasselbe ergibt sich zumindest offiziell, wenn jemand zu Hause und nicht im Krankenhaus stirbt, da der Verstorbene nicht unter der Aufsicht einer dafür verantwortlichen rechtlich-medizinischen Autorität stand.
6
An mehreren Orten, in denen ich meine Feldforschung durchführte, werden moderne Alternativen zu den alten Bestattungsbräuchen bevorzugt, wie die sogenannten Parkoder Gartenfriedhöfe (cemitérios parques und cemitérios jardins).
7
Das ist die Juron-Institution, an der klinische Autopsien von ausgebildeten JuronPathologen durchgeführt werden.
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Gleich nachdem der Leichnam von der jeweiligen Juron-Institution vorbereitet8 und vorübergehend an die Familie des Verstorbenen zurückgegeben worden ist, kann diese die Totenwache in Gesellschaft der nahen Verwandten und Freunde durchführen. Die Totenwache kann sowohl zu Hause stattfinden, wie es in Pedrosa und in sehr kleinen Städten bzw. früher üblicher war, aber auch in Kapellen oder in Räumen, die dafür speziell gebaut wurden (wie z.B. Bestattungshäuser), wie es heutzutage in größeren Städten wie Lagoa Bela, Rio de Pedras und Vereda in BA oder Ferrugem, Araguacema oder Cocalim in RN üblich ist. Diese Schritte und Vorbereitungen vollziehen sich zügig und die Totenwache fängt normalerweise entweder noch am Todestag oder am darauffolgenden Tag an. Die meisten Beerdigungen finden gleich an dem Tag nach dem Tod statt. Als übliche Erklärung dafür wird vor allem das tropische Klima der nordöstlichen Region angeführt, da der Leichnam angesichts der hohen, beständigen Hitze zu schnell zu verwesen beginnt. Die Verwandten, die woanders wohnen, verlassen ihre Ortschaften und reisen an, um die Trauernden zu besuchen, um an dem Zeremoniell teilzunehmen und dabei ihre Solidarität, ihren Respekt und ihre Hommage zu zeigen. Heutzutage wird diese Hommage mit Diskretion geleistet. Aufgrund der knappen Zeit, ist Eile geboten. In manchen Fällen – z.B. wenn es für eine große Familie zu kurzfristig ist, dass alle reisen – kommt nur ein Vertreter der Familie (scheinbar meistens der Familienvater). Im Verlauf der Totenwache beten viele Anwesende gemeinsam. Manchmal beten oder stehen selbst diejenigen, die sich nicht als religiös betrachten, Hand in Hand neben denjenigen, die beten, was oft im Kreis ausgeführt wird. Es ist üblich, bei der Totenwache salzige und süße Köstlichkeiten und alkoholfreie Getränke wie Wasser, Kaffee, Tee und Saft anzubieten. Wenn es so weit ist, bilden die Anwesenden einen Trauerzug, der an der lokalen Kirche vorbeiführt und von dort seinen Marsch Richtung Friedhof fortsetzt: Von dem Ort der Totenwache wird der Sarg zum lokalen Friedhof gebracht, auf dem der Verstorbene begraben wird. Auf dem Weg zum Friedhof kann es sein, dass der Trauerzug für eine letzte Segnung an der Kirche hält. Auf dem Friedhof werden die Calen unter den mehrheitlichen Jurons bestattet und die letzten Abschiedsworte werden ausgesprochen, bevor der Trauerzug sich auflöst. Nach einer Woche findet die »7-Tage-Messe« (Missa de 7. Dia) und später, nach einem Monat, die »30-Tage-Messe« (Missa de 30. dias) statt. Zu beiden la-
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Als Teil der Vorbereitung auf die Totenwache wird der Leichnam im Bestattungshaus bspw. gewaschen und geschminkt.
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den die Hinterbliebenen Verwandte, Freunde und manchmal auch die Öffentlichkeit ein. Die potenziell Teilnehmenden erhalten eine schriftliche Einladung, sie erfahren darüber aus einer Anzeige in der lokalen Zeitung, was heutzutage das übliche Vorgehen ist, oder durch ihre sozialen Netzwerke im Internet. Nach katholischer Vorstellung inszeniert die Zeremonie den Übergang der Seele des Verstorbenen in die Welt der anderen; die Welt der Toten. Aus einer CalonPerspektive heißt das vor allem eine Trennung zwischen dem Verstorbenen und seinen nahen Trauernden, die nicht unbedingt Verwandte sind, jedenfalls nicht entsprechend der Klassifikation durch Jurons. Im Hinterland von RN stellt die »Messe des 30. Tages« eine symbolische Fortsetzung und den Abschluss der Beerdigung dar. Dieser Brauch ist im ganzen Hinterland des Nordostens ziemlich weit verbreitet. Daran nehmen mehrere Leute teil, die weder bei dem Begräbnis noch bei der »Messe des siebten Tages« anwesend sein konnten, z.B. weil sie zu weit weg wohnen. Statt des Sarges trägt man diesmal ein Grabschild oder ein Holzkreuz, auf das der offizielle Name des Verstorbenen, sein Geburts- und Todesdatum und manchmal eine kurze Botschaft geschrieben wurden, von der Kirche zum Grab auf dem Friedhof. Am Ende der Messe des 30. Tages verlassen die Anwesenden die Kirche mit dem gesegneten Grabschild bzw. Holzkreuz. Wie nach der Totenwache bilden die Anwesenden erneut einen Trauerzug und gehen zum Friedhof. Dort wird das Holzkreuz mit der Identifizierung des Verstorbenen am Kopf seines Grabes eingebracht. Mit dem Absenden des Toten ins Jenseits (wie in den Himmel z.B.) oder aus dem Gedächtnis (als Träger des Todes an sich, der weggeschickt werden soll, damit der Tod die Hinterbliebenen nicht ansteckt) findet das Ganze seinen Abschluss. Der Tote wird somit nach den spezifischen katholischen Ritualen der Ortschaft begraben, in der er und seine Familie wohnen. Der Calon-Tote unterscheidet sich dadurch grundsätzlich nicht von anderen Toten. Die Calen machen das alles zwar neben den Jurons mit. Sie gehen durch das gesamte Juron-Ritual. Was jedoch die Jurons hierbei nicht haben bemerken können, ist die Tatsache, dass die ganze Beerdigung aus einer Calon-Perspektive für einen Juron-Namen eingerichtet und durchgeführt wurde. Diese Vermutung hatte ich, als ich an der 30-Tage-Messe nach dem Tod von Seu Z., dem Vater von Pedro, teilnahm (vgl. Vilar 2011), und dies bestätigte sich allmählich, nachdem ich gelernt hatte, die Calon-Gräber zu lesen. Es geht um eine andere, unwahre Person, die begraben und betrauert wird, also nicht um jene, die von den Calen im Kontrast gleichzeitig explizit gefeiert, verehrt und von den Calon-Trauernden spezifisch im Verborgenen beibehalten wird.
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7.4 ZUR UNNIEDERSCHREIBBARKEIT DER WAHREN NAMEN: WIE DIE CALEN DIE JURONS AUSTRICKSEN I.d.R. zeigen die zahlreichen Gräber von verstorbenen Ciganos im Nordosten Brasiliens, die ich während meiner Feldforschung besuchte, dass sie sich (ethnisch) nicht von denen der sie umgebenden Jurons unterscheiden, zumindest nicht, wenn sie mit Juron-Augen betrachtet werden. Die Ausnahmen, denen ich begegnet bin, beschränken sich auf zwei Fälle. Über den ersten – »Das Grab des Ciganos« – habe ich im ersten Kapitel berichtet. Da ging es um das Grab in Cachoeira dos Índios, auf das ein oder mehrere Jurons nach einem lokalen Einwohner das Wort »Cigano« eingraviert haben. Bei der zweiten Ausnahme aber handelt es sich um ein Grab, auf das die eigene Calon-Familie des Verstorbenen neben seinen Familiennamen das Wort »Cigano« durch eine hohe Geldzahlung auf eine professionelle Weise von Jurons eingravieren ließ. Auf diesen zweiten Fall und seine mögliche Bedeutung werde ich in diesem Kapitel noch eingehen. Zunächst wende ich mich jedoch den üblichen Grabstätten zu. Es ist also auf den ersten Blick kein Element erkennbar, das allen CiganoGräbern gemeinsam wäre und sie folglich von Juron-Gräbern abgrenzen würde. Im Gegensatz dazu spiegeln die Calon-Gräber die soziale Position der CalonFamilien innerhalb bzw. als Teil ihrer Juron-Umwelt einigermaßen als integriert wieder.9 Wie die Bestattungsstätten der Jurons verweisen die der Calons zusätzlich in unterschiedlicher Weise auf verwandtschaftliche Zugehörigkeiten zwischen Familienmitgliedern bzw. Angehörigen, die auf demselben Friedhof begraben sind, wie z.B. durch die Verwendung desselben Materials für den Grabstein, eines selben Musters, einer bestimmten Farbe. Hier scheint die Landschaft der Friedhöfe die lokalen Landschaften der Lebenden um sie herum als Mikrokosmos widerzuspiegeln. Wenn die Familie nicht über genügend Geld verfügt, begraben sie ihre Toten zwischen armen Jurons, während Ciganos mit Geld ihre Toten zwischen den Gräbern von Reichen beerdigen lassen. Den meiner Meinung nach wesentlichsten Unterschied zwischen Gräbern von Jurons und Calen konnte ich erst erfassen, als ich die Gräber zwischen bekannten und unbekannten Calen verglichen habe, d.h., dass ich speziell den Gräbern der Calen, deren Angehörige ich selbst persönlich kenne oder von denen ich
9
Wie im Fall eines Friedhofes in Monte Verde: Dort werden die Ciganos wie jeder andere je nach Geschlecht in verschiedenen Feldern neben Jurons begraben, was selbst für Brasilien sehr ungewöhnlich ist.
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von anderen Calen direkt erfahren konnte, eine besondere Aufmerksamkeit schenkte: Gerade wenn man die Calen kennt, die dort begraben sind, nimmt man schnell wahr, dass ihre wahren Calon-Namen auf ihren Gräbern nicht zu finden sind. Wenn auch nicht immer, da manche Cigano-Gräber auch komplett namenlos bleiben, werden dagegen eher die Juron-Namen (d.h. die Namen, die auf dem Juron-Ausweis stehen), also die unwahren Namen der Calon-Verstorbenen, auf den Gräbern am häufigsten vermerkt. Das sind nicht diejenigen Namen, durch die der Calon-Verstorbene unter den engsten Verwandten und Freunden gerufen wird und manchmal selbst bekannt ist. Die Juron-Namen eines Calons sind die Namen, die der Verstorbene genutzt hat, um unter den anderen und zwischen ihren jeweiligen Welten zu zirkulieren. Manchmal ist der Juron-Name auf dem Grab vollständig zu lesen. Manchmal steht nur eine Abkürzung darauf. Niemals fand ich das Grab eines Calons, auf dem sein Calon-Name stand. Die nahen Verwandten eines Verstorbenen müssen ab und zu vor mehreren Jurons den Namen des Verstorbenen angeben, und zwar gleich nach dem Tod. In dieser Situation sind sie daran gewöhnt, einfach den Namen für den Juron zu nennen: den Namen, der auf einer Geburtsurkunde steht, der für sie selbst kaum einen Wert hat, aber der für unbekannte Juron-Beamte manchmal das Wichtigste ist. Diese Grenze lässt sich auch im Alltag beobachten. Einst musste Jaguar, der Sohn von Jacó, bekannt als einer der besten CalonSänger in der Umgebung, seinen Juron-Personalausweis suchen, um seinen Juron-Namen zu erfahren. Er musste ihn damals bei einer amtlichen (Juron)Angelegenheit angeben, hatte ihn aber vergessen. Gleichermaßen wusste kein Calon so richtig, von wem der Priester bei der Totenmesse für Seu Z. sprach, da er ihn nur bei seinem Juron-Namen nannte. Einige Calon-Kinder in der Siedlung von Tico und seinen Geschwistern kannten auch nicht alle offiziellen JuronNamen voneinander, sondern meistens nur ihre Calon-Namen. Die Geburtsurkunde ihrer Chaburrons – ein Juron-Dokument – ließen die Calen in BA erst viel später und aus pragmatischen bzw. bürokratischen Gründen von JuronInstitutionen ausstellen. Als ich einst eines der Chaburrons in der Siedlung in Lagoa Bela nach »Romero« fragte, musste es noch überlegen, bis es lachte und sagte: »Ach, Du meinst Cavalo [Pferd]!« So ist es auch mit den Gräbern bzw. bei dem Begräbnis. Gräber sind in diesem Sinne als Juron-Dokumente zu betrachten, die in der und für die JuronÖffentlichkeit stehen. Sowohl das Grab als auch weitere Juron-Dokumente gelten offiziell als Nachweise der Identität einer Person. Jedoch werden diese beiden Arten von Juron-Dokumenten von den Calen zugleich explizit und im Verborgenen profaniert, indem sie wie in vielen anderen Situationen bei den Calen
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gerade das verbergen, was sie nach einer Juron-Logik prinzipiell exponieren sollten: die Cigano-Person. Allerdings offenbaren solche Dokumente bzw. Juron-Ausweise wiederum die stille Omnipräsenz der Ciganos als Kollektiv unter den Jurons. Diese Art Calon-Haltung in Bezug auf Nichtcalen10 stützt mein Argument, dass die Jurons unter den Calen i.d.R. keinen Namen haben. Nichtcalen bzw. Nichtciganos als Juron zu benennen, diente in diesem Zusammenhang zur Verstärkung bzw. Wiederbehauptung dieser Machtumkehrung bzw. einer Regulierung von historischen Asymmetrien auf alltäglicher Basis, indem diese CalonTerminologie Nichtciganos als namenlos (bzw. als niemand) adressiert.11 Hier wiederum löschen die Calen die Präsenz der Jurons in ihrer Welt: Die Calen kommen den Jurons erneut zuvor, indem sie diejenigen Namen, die die Jurons als offiziell und daher als wahr annehmen, als falsch betrachten und behandeln, während die Calen diejenigen Namen, die die Jurons lediglich als Spitznamen ansehen, für die wahrsten halten und als solche behandeln. Anders gesagt, gewöhnliche Juron-Namen bezeichnen einen Niemand. Andererseits hat man einen eigenen (verschiedenen und differenzierenden) Namen je nach Kreis, durch den bzw. innerhalb dessen man zirkuliert. Die Wahrhaftigkeit der eigenen verschiedenen Namen, die ein Calon in verschiedenen Tauschkreisläufen benutzt und durch die er von verschiedenen (entsprechenden) Leuten erkannt wird, entspricht vielleicht in etwa der emotionalen Beziehung zu den Leuten und dem jeweiligen Grad an Treue für jene, mit denen er in diesen spezifischen Zirkulierungsräumen (die Leute und Gesamtheiten von Beziehungen, Sachen/Gegenständen, Institutionen usw.) Kontakt hat, vor allem mit denen ein Calon zusammen aufwuchs. Der lokale Juron-Mythos der Niederlassung der Ciganos in Pedrosa sowie das Calon-Grab der Familie von Tico und seinen Geschwistern können diese Calon-Handlung wie auch die darin eingebettete Calon-Ethik veranschaulichen.
10 Darunter sind keine Personen zu finden, die einen Namen haben und nicht unbedingt als Calen zu betrachten sind, wie z.B. berühmte Charaktere in Fernsehserien oder bekannte, beliebte Musiker wie die Band Gargantas de Ouro oder Michael Jackson. Einer der Gründe dafür ist, dass diese Charaktere als Vorbilder für die Calen gelten: Sie finden eine Art Calon-Resonanz bei ihnen. 11 Eine weitere Beobachtung kann dieses Argument vielleicht stützen: Im Lager in Lagoa Bela, in dem ich gelebt habe, gab es zwei Hunde. Beide hatten denselben Namen: Bidu. Ich versuchte herauszufinden, ob das einfach Hund auf Chibi bedeutete. Aber die Calen meinten, nein, das seien einfach die Namen der Hunde.
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7.4.1 Eine Stadt voller Franciscos: Vom Juron-Mythos über die Niederlassung der Ciganos in RN als ein Calon-Kunstgriff Wie ich in Kapitel drei erwähnt habe, kursiert unter vielen Jurons in Pedrosa eine Geschichte über die Ankunft und Sesshaftwerdung der Ciganos in der Stadt zwischen 1981 und 1982. Damals wurden einigen Calon-Familien mehrere Grundstücke am Ende der Stadt, wo es aber im Grunde nur Busch gab, vom Bürgermeister Pater Sandivar übertragen. Was ich aber in Kapitel drei nicht erwähnt habe, ist die Tatsache, dass wenigstens vier der Calen, die ein Grundstück bekommen haben, mit offiziellem Vornamen Francisco hießen, wie die Unterlagen des Rathauses belegen (vgl. de Oliveira Silva 2001, 57-58, 60, 62). Die Anträge wurden von Jurons im Auftrag der Franciscos 1981 unterschrieben, da diese nicht alphabetisiert waren und somit nicht bestätigen konnten, dass es in dem Gebiet nichts gab. Abgesehen von der Straße und der Calon-Weide auf der anderen Seite befand sich um diese Grundstücke herum nur »freies Gelände« (terreno vago). Was ihre Familiennamen betrifft, so haben sie drei verschiedene angegeben, zu denen praktisch alle Ciganos von Pedrosa gehören, wie viele lokale Jurons erklären. Ähnlich verhält es sich mit Francisco, er gilt bei den Ciganos in Pedrosa ebenfalls als einer der am häufigsten angegebenen Vornamen, sodass vermutlich fast alle Calen in RN für die Jurons Francisco heißen! Verschiedene Einwohner erklärten mir, dass der Vater von Dagoberto sowohl »aus Dankbarkeit« für die Häuser bzw. Grundstücke, die von Pater Sandivar den Ciganos »geschenkt« wurden, als auch als Zeichen von »Devotion« der katholischen Ciganos eine kleine Kapelle für den Heiligen Franziskus gebaut habe. Wie ich jedoch in einer anderen Abhandlung beschrieben habe (vgl. Vilar 2011), kennen sich die lokalen Calen nicht mit den grundsätzlichen Vorschriften der katholischen Kirche aus und nur der ein oder andere von ihnen wurde dort getauft. Währenddessen wird die »Kirche der Ciganos« (igreja dos Ciganos) vor allem als Treffpunkt von den jungen Ciganos benutzt. Die Gründe dafür, dass Pater Sandivar den Ciganos die Grundstücke gab, werde ich hier nicht erörtern. Allerdings gibt es eine Episode, die ich selbst bei den Calen in Uruçuí erlebt habe, die zum Verständnis der Haltung von Pater Sandivar in Bezug auf die Ciganos in Pedrosa beitragen kann. Als Dagoberto und ich bei seinem Cousin Gonzaguinha (bzw. Aninha) waren, nahmen wir hinter uns auf dem Hügel etwas Ungewöhnliches wahr. Ein junger Cigano kam und erzählte, dass ein Politiker gerade Grundstücke an die Leute verschenke. Wir sind gleich dorthin gegangen und haben gesehen, wie einige anwesende Leute die Grenzen mehrerer kleiner Grundstücke markierten, auf denen jeweils ein
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Haus Platz finden würde. Gonzaguinha beeilte sich und sicherte für sich selbst ein Grundstück, indem er mehrere Gegenstände auf die Grenzen legte. Als die Leute sich besprochen und gegenseitig Zeugen herbeigeholt hatten, kehrten wir zu ihm zurück. Diese Geschichte zeigt, dass die Calon-Gräber und die CalonWohnungen analog sein können.12 Keines der Gräber von den Calen, die ich in RN gesehen habe, informiert über den Calon-Namen desjenigen, der dort begraben wurde. Wahrscheinlich weil die einzigen, die dort begraben sind, Jurons sind. Währenddessen bleiben die namenlosen Cigano-Gräber i.d.R. (und wie die Franciscos bzw. alle mit Juron-Namen benannten Calen) unsichtbar in der Masse der Juron-Gräber, so wie dies auch außerhalb des Friedhofes oft der Fall ist. Über eine Ausnahme zu dieser Regel und eine mögliche Bedeutung dazu schreibe ich nun. 7.4.2 Die (Un)Sichtbarkeit des Heiligen Einmal schlug mir Valdinha vor, das Grab der Familie von Tico zu besuchen. »Der Vater von Tico ist in Rio de Pedras begraben. Fahr mal dorthin, um das Grab der Familie zu besuchen, es ist sehr schön!«, sagte sie mir, als wir von Ticos Onkel und einer kürzlich an Hautkrebs verstorbenen Cigana redeten. Sie hat sich daran erinnert, wie schmerzlich es für Tico, seine Brüder und Cousins vor ein paar Monaten war, die Knochen seines Onkels in die Schublade zu bringen: »Sie haben es mit ihren eigenen Händen genommen und in die Schublade übertragen, es war so traurig, alle weinten so viel…« Das konnte sie mir aber nur erzählen, weil ihre eigenen Toten andere sind als die ihres Mannes. Ich nahm ihren Vorschlag an und fuhr nach Rio de Pedras. Auf einem der ältesten und bekanntesten Friedhöfe der Stadt fand ich ein monumentales Familiengrab mitten unter den reichsten Gräbern vor (ABBILDUNG 17, auf der rechten Seite in Schwarz und Marmor). Daneben waren auch ähnliche kleinere CiganoGräber, die aus demselben teuren dunklen Marmor errichtet worden waren, sodass sie verwandtschaftliche Bezüge aufwiesen: Sie gehören alle zusammen. Wie bei den meisten Gräbern anderer Ciganos, die ich in anderen Städten besuchte, erhalten auch die Gräber der Ciganos in Rio de Pedras Familienbotschaften an den Verstorbenen, manchmal auch Fotografien.
12 Malta (vgl. 2005, 22) berichtet vom Erwerb eines Grundstücks in Vereda (BA) seitens eines Ciganos durch Kauf bei einem Juron, der mittels Freundschaft realisiert wurde. Darauf schlugen mehrere Ciganos ihre Zelte auf, sodass sich eine Siedlung bildete.
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Abbildung 17: Mausoleum einer Cigano-Familie, BA (2011)
Quelle: Eigenarchiv
Auf den ersten Blick sind sie nicht von Juron-Gräbern zu unterscheiden, allerdings gibt es ein Detail: Auf dem Grabschild von einem kürzlich verstorbenen Onkel von Tico (ABBILDUNG 18) stand das Folgende: »Sobrenome Cigano Querido Pai, os grandes homens deveriam ser eternos como os nomes, que são para sempre.« »Familienname Cigano Lieber Vater, die großen Männer sollten ewig sein wie die Namen, die für immer sind.«
Dieses Epigraf gibt keine gewöhnliche Botschaft wieder, wie der Satz gleich darunter – »in ewiger Sehnsucht von seiner Ehefrau, Söhne und Enkeln« (Saudades eternas de sua esposa, filhos e netos) –, welcher sehr häufig auf Gräbern zu finden ist. Dies gab mir einen Schlüssel für die Entzifferung von weiteren CalonGräbern an: Das, was auf dem Grab nicht gezeigt wird, ist das Wahrste; und damit das Ewige, das Heilige; der wahre Name bzw. die Person selbst. Doch gerade deswegen, weil der Calon-Name heilig ist, bleibt er für Nichtinitiierte bzw. für andere verborgen.
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Abbildung 18: »[D]ie Namen, die für immer sind«, BA (2011)
Quelle: Eigenarchiv
7.4.3 Von dem Ursprung, der sich nicht entfremden lässt und den man mit sich führt Sowohl im Lebensalltag als auch im Kontext von Tod respektieren die Calen gegenüber den Jurons eine unüberschreitbare Grenze, z.T. indem sie ihnen gegenüber ihre wahren Namen verschweigen, während die Ununterscheidbaren unter sich zusammenbleiben. Außer dem Juron-Namen des Verstorbenen stehen manchmal auf den Grabschildern auch weitere übliche Informationen, wie z.B. Geburts- und Todesdatum, und manchmal auch ein Porträt bzw. eine Familienbotschaft oder einen Abschiedssatz, wie z.B. »niemals werden wir Dich vergessen« (nunca te esqueceremos) oder »in ewiger Sehnsucht« (saudades eternas). Solche Art Informationen sind für die Calen nicht unbedingt wichtig. Bei mehreren Anlässen mussten Calen sich an die Daten auf ihren Ausweisen bzw. Geburtsurkunden erst wieder erinnern, vor allem die Ältesten unter ihnen. Solche Dokumente sind für sie nur insofern von Bedeutung, als sie ihnen dazu dienen, mehr Stoff aus der Juron-Welt herausziehen zu können, mit dem sie ihre eigenen Calon-Welten weiter gestalten können: Sie können als Werkzeug für ihre Konstruktion einer gemeinsamen eigenen Welt und daher als Instrument für liturgisches Handeln dienen.
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Doch Informationen über den Verstorbenen brauchen von Bedeutung nur diejenigen Leute, die Fremde sind bzw. den Verstorbenen nicht kennen, wie andere Ciganos und Jurons. Diesen erzählen die Cigano-Gräber nur sehr wenig, wenn überhaupt etwas, über den Verstorbenen. Die meisten Calon-Gräber sagen über die dort Begrabenen nichts aus, wie viele Informationen sie auch geben mögen. Und in diesem Sinne neigt das Gezeigte wie in den meisten Situationen bei den Calen eher dazu, viel mehr zu verbergen als offenzulegen. Safira, Nathanaels Frau, habe ich z.B. einmal gefragt, wie ihre Eltern heißen. Sie waren schon gestorben und ich wollte überprüfen, ob sie ihre Namen vor mir aussprechen würde oder nicht. Zu meiner Überraschung hat sie ohne Weiteres ihre vollständigen Namen genannt. Erst später musste ich erkennen, dass meine Frage eine falsche bzw. eine Juron-Frage war und dass sie mir lächelnd nur die Juron-Namen ihrer Eltern mitgeteilt hat. Wie das Nichtaussprechen schützt das Nichtniederschreiben des »wahren« (Calon-)Namens des Verstorbenen den Verstorbenen sowohl vor möglichen Beleidigungen von anderen als auch vor ungeeignetem Umgang seitens seiner eigenen Calon-Trauernden und ermöglicht außerdem die magische Perpetuierung seiner Ewigkeit unter diesen. Darüber hinaus tricksen die Calen zumindest z.T. bei der Frage ihres Ursprungs: Obwohl die Informationen, die auf dem Grab stehen, wenn überhaupt, von den Calen nichts außer ihrer stetigen Präsenz unter den Jurons verraten, können sie dazu dienen, die Neugier der Jurons in Bezug auf die Herkunft der Ciganos etwas zu befriedigen. Damit werden diejenigen Jurons, die sich über ihre Herkunft erkundigen möchten, dahin geschickt, wo die Calen selbst nicht sind. Die Calon-Gräber werden somit vorrangig weder für die Toten noch als Erinnerung für ihre Calon-Trauernden errichtet, sondern für die anderen Hinterbliebenen. Die Ciganos sind sich sehr wohl darüber bewusst, dass ihre Gräber in der Öffentlichkeit stehen und was dies zu bedeuten hat: Die Calon-Gräber sind zusammen mit der Calon-Beerdigung Teil ihrer von ihnen offenbarten Kultur. Deswegen sprechen die Calen von den Beerdigungen manchmal in ähnlicher Weise wie sie von Hochzeits- und Weihnachtsfesten reden: Sie heben häufig die Größe der Veranstaltung hervor, indem sie z.B. die Anzahl der teilnehmenden Leute erwähnen.13
13 Die Wirkung davon auf die Vorstellungen der lokalen Jurons ist ziemlich stark, wie die Erinnerungen von mehreren Juron-Leichengräbern zeigen. Ob in BA (Valdinha
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Wie bei jedem Juron-Dokument oder wie bei der Antwort, die mir Safira gab, enthält das Cigano-Grab außerdem etwas, was die Ciganos den Jurons geben bzw. hinterlassen. Da Friedhöfe und Gräber grundsätzlich Teile bzw. weitere Kompartimente der Juron-Welt (wie bspw. Schulen, Gefängnisse, Spielplätze, Fabriken bzw. Büros) und daher auch Teil der Juron-Tauschkreisläufe mit ihren jeweiligen Juron-Einrichtungen sind, geben die Ciganos den Jurons lediglich den Juron-Teil ihrer eigenen Toten zurück, also etwas, was den Jurons selbst gehört: Juron-Geburtstagsdatum, Juron-Namen, Juron-Abschiedssätze usw. Der Tausch der Calen mit den Jurons ist einseitig und steril und reproduziert daher die geeigneten Tauschmodi, durch die Calen mit Jurons auf eine angemessene Weise umgehen sollen. Durch Antizipation kommen die Calen den Jurons wie in den meisten Bereichen des Lebens auch hier wieder zuvor. Dabei wandeln die Calen den Status der Gräber als Teile der Juron-Welt zugleich um: Sie eignen sie sich an und transformieren sie ins »Cigano-Grab« (túmulo Cigano bzw. cova de Cigano), genau wie alles andere auch, was aus der Juron-Welt stammt und in die Calon-Welt übertragen bzw. umbenannt wird. In diesem Sinn spiegelt die Gräbersymbolik der Calen ihre CalonLebensethik im Todeskontext wider. Die verschiedenen Namen eines Ciganos entsprechen verschiedenen Tauschkreisläufen und den jeweiligen Moralitäten. Daher sind die Gräber der Jurons, die für die Toten gemacht sind, kein geeigneter Ort, an dem die Ciganos ihre wahren Cigano-Namen hinterlassen sollen. Durch das Nichtniederschreiben des wahren Calon-Namens auf dem Grab ihrer Verstorbenen erhalten die Calen die Trennung ihrer eigenen Welten von denen der Jurons aufrecht, während sie zugleich und paradoxerweise ihre Präsenz in der Juron-Welt mittels Abwesenheit markieren. Diese Handlung (als Weltgeschehen) offenbart erneut die Heiligkeit der Calon-Welt gegenüber der Juron-Welt. In Bezug auf die Manusch erklärt Williams dieses Paradox als die Fähigkeit der Manusch, die Welt der Gadze (bzw. der Jurons) als Totalität zu entblößen (2003 [1993]). Ich würde sagen, dass die Calen das schaffen, indem sie die Juron-Welt als Welt der Namenlosigkeit betrachten. Das Aufrechterhalten der im Leben schon existierenden Trennung wird also auch nach dem Tod ermöglicht, indem die Calen ihre eigenen Toten weiterhin bei sich behalten, während an ihrer Stelle unter den Jurons nur ihre Juron-Sachen bleiben. Das, was die Jurons als eine Trennung und eine Passage sehen, ergreifen die Calen als eine Gelegenheit, durch die sie ihre Verstorbenen von ihren weltli-
bspw.) oder in RN (Dona Marília bspw.), sie betonten mir gegenüber immer die Anzahl der Anwesenden bei den Calon-Beerdigungen.
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chen Juron-geprägten Gestalten (bzw. der Juronität) reinigen bzw. befreien können. Während das Grab eines Ciganos für einen Juron ein Grab ist, in dem ein Cigano beigesetzt ist, wirkt es aus einer Calon-Perspektive eher wie eine Markierung, welche die Calen in der Juron-Welt hinterlassen, ohne dass die Jurons dies bemerken – genau wie jeder, dem die Calen zuvorkommen, von ihnen markiert wird. Gewissermaßen können die Calon-Gräber als eine Art widerspiegelnde Maske angesehen werden, die den davorstehenden Jurons zeigt, dass dies der Tote ist, dass sie das aber nicht wissen. Statt des Calon-Namens ist es also der Juron-Name der Ciganos, der unter den Jurons weiter zirkuliert (ausgesprochen, kommentiert, gelobt oder kritisiert, verfolgt, erwähnt wird usw.) als Teil eines Tauschkreislaufs, bei dem die Ciganos einseitig, nicht auf Reziprozitätsbasis handeln. Da die Calon-Trauernden sozusagen einen Fake begraben haben, den man kaum kannte, haben sie es geschafft, keine wirkliche Erinnerung an ihre eigenen Toten in der Öffentlichkeit zu hinterlassen. Damit verstoßen die CalonTrauernden nicht gegen die Cigano-Vorschriften. Und zu diesen komme ich nun.
7.5 WEITERE ASPEKTE DER VERCALONISIERUNG DER JURON-BESTATTUNGSORDNUNG Bis der Leichnam begraben wird, folgen die Calen bei der Beerdigung üblicherweise mehreren Juron-Vorschriften. Doch die Jurons werden auch Augenzeugen von für sie unverständlichem Verhalten seitens der Ciganos. Das Foto auf ABBILDUNG 19 wurde von dem ehemaligen Bürgermeister der Stadt gemacht; er ist ebenfalls an der Calon-Kultur interessiert und hat sich mir während meiner Feldforschung als Gesprächspartner zur Verfügung gestellt. Der Ex-Bürgermeister fragte sich, ob die Calen anders beten als die Nichtcalen. So wie er mir 2008 erzählte, erregte vor allem die Haltung einer Calin seine Aufmerksamkeit, weil sie während der gesamten Messe nach hinten geblickt hat. Pater Carvalho erzählte mir gleichfalls 2008 von einem ähnlich »seltsamen Verhalten« bei Calen in São Paulo. Allerdings fand ich auf dem Bild besonders relevant, was dort nicht zu finden ist: Die Calon-Männer sind nicht da, sondern woanders. Das erinnert mich an die Haltung der Männer während der Hochzeitszeremonie in der Kirche vor einem Priester von zwei Calen, die »sich nicht mögen«: Die Calon-Männer betreten die Kirche nicht, die dagegen von den Chaburrons und Calins besetzt wird, nur die nächsten Calon-Männer der Braut und des Bräutigams sind anwesend. Jedenfalls kommen die Calen bei solchen Juron-Zeremonien wie Beerdigung und Hochzeiten nur in beschränkter Zahl in die Kirche.
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Während der Leichnam seinen Weg durch die von Jurons vorausbestimmten Bestattungsszenarien nimmt, wie bei jeder Beerdigung üblich, führen die Calen ein Set von abweichenden und expliziten Handlungen ein, die stark mit der Bestattungsordnung der Jurons kontrastieren. Das Nichtniederschreiben des wahren Namens des Verstorbenen gehört zu diesem Set von rituellen Praktiken, die die Calen dazu befähigen, den Tod zu vergessen. Abbildung 19: Calen bei einer Beerdigungsmesse, RN (1998)
Quelle: Persönliches Archiv eines anonymen Gesprächspartners
Todesankündigung. Schon in dem Moment, wenn ein Calon stirbt, beginnen die Calins, die sich in der Nähe befinden, lautstark zu schreien und zu weinen. Die Aufmerksamkeit der Juron-Nachbarschaft wird dadurch unmittelbar auf den kürzlich eingetretenen Tod gelenkt. Die Calon-Frauen führen diese Todesankündigung auf diese Weise durch, gleich ob der Tod vorhergesagt war bzw. sich durch natürliche Ursachen – wie im Fall einer Erkrankung eines alten Calons – oder ob er sich unerwartet, gewaltsam und plötzlich ergab – wie dies im Zug einer Blutrache geschieht. Gewissermaßen scheint ihre rituelle Todesankündigung zu vermeiden, dass der Tod eines Ciganos zu einem banalen Event wird. D.h., sie verhindern, dass der Tod eines Calons zum Tod irgendwelcher unbekannten Personen bzw. eines Niemands (bzw. eines Jurons) wird. Früher war es üblich, Klageweiber (carpideiras) bei den Juron-Beerdigungen zu haben. Das waren Frauen, die gegen Honorar die Toten beweinten und für sie bei der Totenwache beteten, ohne einen Bezug zu ihnen zu haben. Diese Art bezahlter Tätigkeit ist im Nordosten mittlerweile verschwunden. Zu ihren Aufga-
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ben gehörte es auch, den Tod durch lautes Schreien anzukündigen. Die Calins scheinen hier dieselbe Rolle zu spielen, während sie den verstorbenen Calon dadurch zugleich von anderen differenzieren: Wenn die Jurons sterben, wird ihr Tod dagegen still angenommen. Die Ankündigung des Todes wird von vielen Jurons als »übertrieben«, »skandalös« bzw. »dramatisch« empfunden.14 Wegschaffen der Dinge des Verstorbenen. Darüber hinaus wird oft ein Feuer improvisiert, während einige der Trauernden, die dem Verstorbenen am nächsten stehen, seine Sachen und persönlichen Gegenstände zusammentragen, um sie ins Feuer hineinzuwerfen, sodass diese als Erinnerungen an ihren Verstorbenen ausgelöscht werden. »Hast Du nie gesehen, wie sie ganz auffällig vor allen Leuten die Sachen des Verstorbenen herschleppen, um sie ins Feuer zu werfen, gleich nachdem einer von ihnen gestorbenen ist?«, fragte mich einst Pater Cleyton in Bezug auf die Ciganos im Süden von BA. Ein katholischer Bruder aus Ilha Grande, einem kleinen Dorf, das im Süden wenige Kilometer von Lagoa Bela entfernt liegt, bestätigt dasselbe Verhalten bei zahlreichen Ciganos dort. Mehrere mündliche und schriftliche Beschreibungen illustrieren ähnliche Szenen für die Ciganos in RN und in anderen brasilianischen Bundesstaaten. Dazu wird prinzipiell alles, was man mit der verstorbenen Person assoziiert bzw. was die Erinnerung an sie hervorrufen kann (d.h. von persönlichen Gegenständen, Besitztümern und Vorlieben bis hin zu Wörtern, die sich mit seinem Namen reimen), tabu. Das gilt vor allem unter den Trauernden und für eine unbestimmte Zeit. Um das Tabu in Bezug auf einen bestimmten Toten und entsprechende Spuren zu wahren, sprechen die Calen von Erinnerungen. Die Erinnerungen an den (bzw. des) Verstorbenen sollen bei und unter den Calen verschwinden, unzugänglich oder unerreichbar werden. Meistens werden diese von denjenigen Personen entsorgt, mit denen der Verstorbene engsten Kontakt hatte bzw. in deren Angelegenheiten er sich mehr eingebracht hat, oder auch von denen, die dem Verstorbenen auf irgendeine Art und Weise mit größerer Intimität verbunden waren – von denjenigen also, von denen der Verstorbene am meisten markiert wurde und bei denen er seine eigenen Zeichen hinterließ: den CalonTrauernden.
14 Möglicherweise ist dies auch der Fall bei den Zigeunern von Stewart (1993, 1997), bei denen es keinen natürlichen Tod gibt. Auch hier geht es nicht unbedingt darum, dass es für die Calen keinen natürlichen Tod gibt, sondern darum, dass kein Tod als lediglich natürlich behandelt wird.
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Alles, was an den Verstorbenen erinnern könnte, muss durch Feuer oder auf irgendeine andere Weise ausgelöscht bzw. unzugänglich gemacht werden, was oft während der Totenwachen in der Öffentlichkeit geschieht. Und hierin findet man einen Aspekt, der Beziehungen der Calen zu Jurons und zueinander besonders erhellt: Neben anderen Modi können die Erinnerungen an den CalonVerstorbenen auch dadurch entzogen bzw. zerstört oder entsorgt werden, indem sie von den Calen an die Jurons weitergegeben werden. Einige Kleidungsstücke und andere persönliche Gegenstände des Toten wie Radios, Fernseher oder Handys werden den anwesenden Juron-Nachbarn im Verlauf einer CalonBeerdigung geschenkt. Auch der Leichnam, der im Endeffekt auch zu einer Erinnerung an den Verstorbenen wurde, wird an die Jurons verschenkt: Den Leichnam in die Erde zu legen, bedeutet auch, ihn der Calon-Öffentlichkeit zu entziehen, und stellt eine Form der Calon-Rückgabe an die Jurons dar. Daraus können einige grundsätzliche Implikationen gewonnen werden, die stark und eng miteinander verlinkt sind. Erstens zeigt dies, dass die Jurons sich dadurch den Calen gegenüber mehr erniedrigen. Erinnerungen an den Toten werden lediglich an Jurons verschenkt, ohne dass diese unbedingt wahrnehmen, dass sie dadurch von den Calen ausgeschlossen werden. Hier werden sie erneut als Jurons markiert, indem sie die Sachen eines Verstorbenen annehmen, genauso wie sie markiert werden, wenn sie zu Cigano-Festen eingeladen werden, indem sie bei den Festen anders tanzen oder die Calen anders begrüßen. Dasselbe passiert, wenn die Calon-Frauen betteln gehen, da sie dies nur unter Jurons unternehmen. Nie bei anderen Calen. Zweitens zeigt es, dass die Sachen des Verstorbenen – also, seine Erinnerungen – der Welt der Jurons nicht entzogen werden sollen, sondern aus einer gemeinsamen Calon-Öffentlichkeit. Ein großer Teil der Erinnerungen des CalonVerstorbenen (wenn nicht die meisten von diesen) bleiben in den umgebenden Juron-Welten verstreut, weil sich diese nicht auf seine persönlichen Gegenstände beschränken, sondern auch praktisch alle persönlichen Gewohnheiten und Vorlieben des Toten umafassen; wie im Fall seiner beliebten Lieder und Orte, an denen er sich am häufigsten aufhielt, aber auch gewisse Vorlieben für die Ernährung. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Gesamtheit der Erinnerungen an den Verstorbenen nie vollständig zerstört werden kann. Das ist ein wichtiges Alibi für die Calon-Trauernden, wie ich später zeigen möchte. Eine dritte Implikation besteht darin, dass die Ciganos durch diese Form von Abgrenzung als Einheit an Sichtbarkeit gewinnen: Ciganos sind alle diejenigen, die nicht wie Jurons handeln (d.h. wie diejenigen, die die Erinnerungen an den Verstorbenen annehmen). Trotz der Verwirrung erscheinen die Calen in den Augen der Jurons als Einheit, da sie von den Ciganos reden. Diese Homogenität
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verstärkt den zwanghaften Charakter des Vergessens unter den Calen als differenzierendes Calon-Ritual, das diese den Jurons gegenüber als Kontrastkultur praktizieren. Die Zerstörung der persönlichen Habe des Verstorbenen ist andererseits keinesfalls eine rituelle Handlung, die exklusiv bei Calen, Sinti, Manusch und anderen vergleichbaren Minderheiten gefunden werden kann. Dieselbe rituelle Handlung im Kontext von Bestattungsbräuchen wurde bereits von Lévy-Bruhl (vgl. 1927, 318ff.) über südpazifische Gesellschaften berichtet (vgl. auch Venbrux 2007, 5, 9). So kann vermutet werden, dass es eine Beziehung zwischen diesem Akt und der Reproduzierung von urproduktiven Gesellschaften gibt. Im Fall der Calen scheint dieser Akt als Verwirklichung einer Calon-Ethik, nach der z.B. das Geld des Verstorbenen »dissimuliert« (dissimulado) wird bzw. unter den Ciganos selbst an Wert verliert. Das weist auf die Geschichte von Heitor über den Vater und das Haus in Kapitel sechs. Weitere rituelle Handlungen, die einzelne Calon-Trauernde im Verlauf ihrer Trauerarbeit nach der Beerdigung – also in ihrem Alltag – durchführen, scheinen zu dieser Calon-Aufgabe des Vergessens der eigenen Toten zu gehören: das Wegziehen vom Todesort; das Fasten und die konsequente Nichtnennung des Namens des Verstorbenen; die Leibhygiene in Bezug auf die Kopfhaare (abschneiden bei Frauen, wachsen lassen bei Männern). Die trauernden Calen sind den Jurons und anderen Calen immer einen Schritt voraus und einen Schritt hinter ihren eigenen Toten. Der Umzug. Indem die Trauernden die lembranças bzw. Spuren des Verstorbenen (sein Essen, seine Getränke, seine Lieder, seine Kleidung, seine Bilder, seine Orte usw.) auf die eine oder andere Weise ihrem Kreis entziehen (vgl. Tauber 2014 [2006]), wird der Verstorbene selbst dem öffentlichen Zirkulierungsraum entzogen. Die Calon-Trauernden selbst aber sind Erinnerungen an ihre eigenen Toten. Am Ende der Beerdigung verlassen die nahen Calen – diejenigen, die dem Toten am nächsten stehen und um ihn trauern – die Ortschaft. Falls der Verstorbene in einem Juron-Haus gewohnt hat, wird dies irgendwann einem Juron verkauft (Araújo Souza 2011, 114-20; de Oliveira Silva 2001, 32-33, und 2012, 7273; dos Santos Medeiros 2001, 18-19). Beerdigung als Fest und das Saufen. Nach einem Todesfall beginnen die Calen zu feiern und dabei viel zu trinken, sodass anwesende Jurons i.d.R. davon immer wieder schockiert sind, wie viele von ihnen mir besonders in RN erzählten. Der Trauerzug wird zu einer bewegenden Feier.
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Die wachsende Zahl an Menschen, die an der Beerdigung teilnehmen, vermittelt unabhängig von ihrem emotionalen Abstand zu und damit von ihrem Kompromiss mit dem Verstorbenen das Prestige, das dieser bzw. seine angehörenden Calon-Lebenden haben. Diese Menge bestätigt die Kraft, die der Verstorbene besitzt; vor allem was die Fähigkeit angeht, viele Leute um sich zu versammeln. Deswegen wird die Anwesenheit von Juron-Autoritäten (wie z.B. von Bürgermeistern, Großgrundbesitzern bzw. von Polizeichefs) bei den Beerdigungen von Calen oft als Symbol von Distinktion erwähnt. Das Feiern der Calen im Kontext einer Beerdigung kann gewissermaßen mit jenem verglichen werden, was sie im Rahmen ihrer Weihnachts- und Hochzeitsfeste durchführen. Calon-Feste als Calon-Institutionen sind immer von denjenigen Eigenschaften geprägt, mit denen Mauss (vgl. 1990 [1923]) die Systeme der totalen Leistungen charakterisiert: Totaler Austausch und Solidaritäten, gleichermaßen Prestigeerwerb, Wettbewerb, Zerstörungsökonomie usw. So darf man von CalonWeihnachtsfesten, Hochzeitsfesten und Beerdigungen als besonderen Ausdruck von Cigano-Potlatsches sprechen: Sie können als die höchsten, schärfsten bzw. sichtbarsten Manifestierungen eines dauerhaften Charakters dieses totalen Austausches betrachtet werden, die zwischen bzw. unter verschiedenen CalonPersonen auch im Alltag und im Verborgenen stattfinden und die zugleich die Verwirklichung der Beteiligten als Cigano-Personen überhaupt ermöglichen und aktualisieren. Zudem gehören die Calon-Beerdigungen als offenbarte Kultur zu einer Gesamtheit von Calon-Ereignissen, bei denen die Calen die übliche Wahrnehmung zu ihren alltäglichen Realitäten bzw. Lebensbedingungen so manipulieren, dass sie wie im Kontext von Festen, »Forderung« (cobrança) oder Rache in Bezug auf die sie umgebenden Jurons als Ciganos zu Mehrheiten werden. Zu denjenigen Personen, die an diesem totalen Austausch beteiligt sind, gehören auch die eigenen Calon-Toten. Dabei scheint der Verstorbene selbst in Zusammenarbeit mit den bei seiner Beerdigung anwesenden Calen diejenigen Eigenschaften anzunehmen, die Wagner einem great-man zuspricht: »The task of the great-men […] would not be one of upscaling individuals to aggregate groupings but of keeping a scale that is person and aggregate at once, solidifying a totality into a happening. Social form is not emergent but immanent. [T]he fractal conception of a great-man begins with the premise that the person is a totality, of which any aggregation is but a partial realization. The totality is, in other words, rather conceptual than statistical. The great-man, non gender-specific, is great as a particular instantiation or configuration of a conceptual totality; one can have kinds of great men as one can have variants of a myth.« (Wagner 1991, 172-173)
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Die Art und Weise der Ankündigung des Todes eines Ciganos (durch Schreien bzw. lautstarkes Weinen der Calins), das Einsammeln seiner persönlichen Gegenstände und ihre öffentliche Zerstörung, das Fest bzw. Trinken, das Wegziehen seiner Familie von seinem Haus und die Meidung von mit ihm verbundenen Gegenständen z.B. durch Meidung derjenigen Orte und weiterer spezifischer Erinnerungen, die mit ihm assoziiert werden, lassen sich nicht nur in ganz Brasilien bei verschiedenen Ciganos finden. Sie sind vielmehr Beispiele von Handlungen im Zusammenhang mit Bestattungsordnungen, die bei ähnlichen Minderheiten weltweit gefunden werden können. Für mich bleibt die Frage offen, ob diese Praktiken einer transnationalen Bestattungsordnung zugeordnet werden können. Wie es oft passiert, wenn die Ciganos bestimmte Abweichungen und Diskontinuitäten in die Juron-Normalität einführen, werden auch hier zentrale Aspekte der Juron-Bestattungsordnungen vernebelt bzw. überschattet, während die Calen andere (für Jurons peripherische oder gar nichtexistierende) Ritualelemente in den Vordergrund rücken, sodass sie die konventionelle Juron-Bestattungsordnung in eine Calon-Beerdigung verwandeln. Tabelle 3: Vercalonisierung von Juron-Bestattungsbräuchen Juron-Bestattungsbräuche als Totendienst bzw. Verabschiedung von allen Anwesenden
Calon-Bestattungsbräuche als Totendienst bzw. Verabschiedung von anderen Calen
offen, sichtbar
offen, sichtbar
Vergemeinschaftung
Calen als Mehrheit
Diskretion und Beten
Reden und Feiern
Mündliche Erinnerungen an den Verstorbenen werden geäußert.
Mündliche Erinnerungen an den Verstorbenen werden geäußert, obwohl seine Erinnerungen in der Öffentlichkeit vernichtet werden.
hegemoniale Mehrheitskultur
Kontrastkultur in Bezug auf Jurons
Tun als Nichttun: Die Beerdigung des Juron-Teils des verstorbenen Calons: Die Calen kommen den Jurons zuvor.
Tun als Nichttun: Die Wörter sind leer/unwahr: Die Calon-Trauernden kommen den Nichttrauernden Calen zuvor.
Trennungs- und Übergangsriten
Trennungsriten
Quelle: Eigenentwurf
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Diese gemeinsamen Vorgehensweisen kultureller Aneignungen können nur im Kontext des kulturellen Kontakts durchgeführt werden. Sie bestehen sowohl aus mehreren gegenwärtigen Juron-Bräuchen, die von Ciganos anders (auf eine Cigano-Weise) ausgeübt werden, als auch aus älteren Juron-Bräuchen, die die Ciganos heutzutage aber ebenfalls auf eine Cigano-Weise praktizieren. In beiden Fällen besteht diese Cigano-Weise oft in einer Art Umkehrung bzw. ReArrangement ritueller Handlungen, die es den Calen ermöglicht, diejenigen symbolischen Praktiken, die für Jurons normalerweise zentral sind oder die für sie einmal zentral waren, als peripherisch bzw. sekundär zu behandeln, und diejenigen, die für Jurons normalerweise peripherisch bzw. sekundär sind oder einmal peripherisch waren, als zentral zu behandeln. Durch diese rituellen Calon-Handlungen können die Calen die hegemoniale Juron-Bestattungsordnung und weitere Juron-Aktualisierungsformen kultureller Selbstbehauptung in eine Calon-Beerdigung neutralisieren und verwandeln, sodass sie es schaffen, gegenüber den Jurons ihre kulturelle Souveränität zu wahren, ohne mit den etablierten Juron-Institutionen zu konkurrieren. Gemeint ist eine kulturelle Souveränität, die auf das verweist, was für die Calen einem würdigen Leben und daher einem respektvollen Tod als Zeichen einer differenzierenden Calon-Ethik in Bezug auf die Juron-Welten entspricht. Deswegen kann man behaupten, dass die Bestattungsbräuche bei den Calen nicht nur darin bestehen, den Schmerz eines rezenten zwischenmenschlichen Verlustes mittels gemeinsamer Codes, die mit den Jurons ihrer lokalen Umgebung geteilt werden, zum Ausdruck zu bringen, sondern auch darin, gleichzeitig die Cigano-Person im Kontrast zu der lokalen Juron-Bestattungsordnung zu vergessen. Die Trauerarbeit vieler Calen wird von ihnen in diesem Sinne oft als eine Arbeit des Vergessens den Jurons gegenüber vorgestellt. Die direkte Abweichung seitens eines Calon-Trauernden vom Prinzip des Vergessens als Grundlage für das Verhalten im Kontext von Tod und Trauer führt zur Isolierung seitens der Calon-Kollektiv. Der Zwangscharakter des Vergessens als Calon-Trauerarbeit kann sichtbar werden, indem man beobachtet, wie die anderen Calen in Bezug auf Devianz handeln.
7.6 EIN DEVIANZFALL »Die Beerdigung jenes Mädchens war die größte Beerdigung, die es hier in Pedrosa jemals gab«, kommentierte mir Dona Marília, die Mutter von Pedro, als ich ihr erzählt habe, dass ich am Abend zuvor Pirulito besucht hätte. Pirulito ist die Mutter von B., die vor Kurzem auf tragische Weise gestorben war.
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Die meisten Versionen, die ich über ihren Tod gehört habe, sowohl von Jurons als auch von Calen, vor allem von Bruno, mein wichtigster Juron-Gesprächspartner, Dagoberto und Aparecida, stimmen in den folgenden Punkten überein: B. war hochschwanger und stand kurz vor der Entbindung. An dem Abend, nachdem sie mit dem zukünftigen Vater ihres Kindes heftig gestritten hatte, ging es ihr schlecht. Sie konnte nicht richtig atmen und wurde mitten in der Nacht von zu Hause von einigen ihrer nahen Verwandten als Notfall in die Gesundheitsstation gebracht. Der Notarzt befand sich aber nicht vor Ort und musste von lokalen Mitarbeitern gerufen werden. Noch auf seinem Weg zur Gesundheitsstation hat sich die Atemnot von B. rasch verschlechtert und die Krankenschwestern mussten für sie dringend einen Sauerstoffzylinder besorgen. Doch sie haben keinen gefunden. Als der Arzt dann nach 40 Minuten endlich eintraf, war B. schon gestorben. Da sie hochschwanger war, versuchte der Arzt noch, ihren Säugling zu retten. Leider gelang ihm dies nicht. Das noch nicht geborene Baby war im Mutterleib gestorben. Später wurde bekannt, dass mehrere Sauerstoffzylinder im Keller gelagert waren. Sobald die Ciganos vom Tod der beiden erfahren hatten, brach ein immenser Tumult los. Die meisten Calen wollten genau wissen, was passiert war, und viele Jurons haben sich ihnen solidarisch angeschlossen. Für einige trug der lokale Arzt die Schuld, sodass dieser regelrecht nach Hause fliehen musste und selbst dort keine Ruhe fand, da mehrere Leute vor seinem Haus ausharrten. Er benötigte deswegen für den Rest der Nacht Polizeischutz. Andere meinten, dass die Krankenschwestern für den Tod von B. verantwortlich seien, denn, wenn sie einen der Zylinder gefunden hätten, die dort im Keller standen, wären das Mädchen und ihr Kind noch am Leben. Allerdings sahen dies die meisten Calen anders: Viele von ihnen sprachen die Schuld ihrem Ex-Freund und Kindsvater zu, da es B. erst nach ihrem Streit mit ihm schlecht ging. Als sich diese letzte Erklärung in der kleinen Stadt verbreitet hat, sind nicht nur der Ex-Freund von B., sondern auch seine gesamte Familie (Eltern, Geschwister, Cousins usw.) aus der Stadt aufgebrochen, um der Rache der Ciganos zu entgehen. Die Aufregung hielt in den nächsten Wochen an. Der Tod von B. wurde zu einer lokalen Zeitungs- und Radionachricht. Die ganze Stadt diskutierte, wer die Verantwortung zu übernehmen habe sowie über das öffentliche Gesundheitswesen und die Munizipalität. Bruno, der B. seit seiner Kindheit kannte, war von ihrem Tod sehr berührt und hat im Internet auf einem Blog mit einem Rundfunksprecher heftig gestritten, sodass die langjährige Freundschaft zwischen beiden darüber zerbrach. Während der Beerdigung von B. machte Bruno einige Fotos
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sowohl von ihrem Leichnam als auch von dem tot geborenen Säugling. Er lud einige von ihnen im Internet hoch, als eine Art Hommage und zugleich als Protest. Allerdings musste er sehr schnell sämtliche Bilder wieder entfernen, nachdem die Ciganos das von ihm verlangt hatten. Doch auch Pirulito hat sich für eine Calin nicht angemessen verhalten, weil sie nicht aufhören konnte, mit mehreren Calen von ihrer Tochter und dem Baby zu reden. Pedro meinte, dass der Vorfall ein zu großer Schmerz für sie sei und dass sie etwas verrückt sei. Andere Calen reden kaum über sie, wenn überhaupt. Alle Calen meiden sie, sodass sie vor allem bei zwei Jurons Zuflucht gefunden hat, bei denen sie mehrere Bilder ihrer Tochter auf einer CD-Slide-Show wiederholt anschaut und die Musik, die sie mochte, ununterbrochen hört.15 Zuerst wohnte sie bei Neninha, einer Jurin, die an der Calon-Weide wohnt, bei der ich mehrmals war, und wo sie mir eine Slide-Show von ihrer Tochter gezeigt hat, während sie viel von ihr redete. Danach hat sie mir eine Kopie davon geschenkt, weil ich ihre Tochter kannte. Später wohnte sie bei einem Juron im benachbarten Dorf im Gebirge ziemlich isoliert. Als ich sie dort mit anderen Calen besucht habe, war ich der einzige, der in das Haus eintrat und mit ihr redete. Währenddessen blieben die anderen draußen am Auto und ich sollte mich beeilen. Wie könnte Pirulito aufhören, sich vor jedem, ob Juron oder Calon, an ihre Tochter zu erinnern, wenn diese ihr im Traum erschien und sie darum bat, sie niemals zu vergessen, wie mir Dona Flores erzählte? Die Jurons verlangen, dass die Toten im Allgemeinen – und daher auch die eigenen Toten der Calen – die Welt der Lebenden verlassen und dass sie den Tod selbst mit sich mitnehmen. Die Calen dagegen leben nicht in einer Welt, in der Lebende und Tote voneinander getrennt sind. In ihren Calon-Welten, in denen Lebende und Tote neben- und miteinander wirken, verlangen die Calen aber we-
15 Die Situation ähnelt derjenigen, die Okely beschreibt: »This [Gypsy] woman of my age, explicitly said how she sympathised with me because she had had a similar problem when first coming as house dweller after marriage, albeit of Gypsy parentage, but now knowing her way around. She chaperoned me through awkward moments and context. Simultaneously I was beneficial to her. Grief stricken after the accidental death of her toddler, she described how neighbours and relatives could no longer listen to her. I was supportive listener into the early hours, alone in an old van, complete with internal coal fireplace. I was the stranger therapist who listened without judgement and with minimum intervention« (Okely 2011, 39).
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nigstens, dass die eigenen Toten von anderen Ciganos (die anonymen [namenlosen] Toten) nicht in ihre eigenen Welten eintreten, wo ihre eigenen Toten sind. Die Toten der anderen müssen draußen bleiben. Das Calon-Problem bestünde somit darin, die eigenen Toten auf angemessene Weise zu verehren bzw. ihnen gegenüber Ahnendienst leisten zu können, ohne mit anderen in Konflikt zu geraten, während man zugleich verhindert, dass die eigenen Toten bzw. Ahnen von anderen Calen in die eigene Calon-Welt eindringen. Die meisten Calon-Trauernden gestalten nämlich die ganze Beerdigung mit anderen Ciganos als Vercalonisierung der Juron-Beerdigung, wie es jeder Calon, der ein wahrer Calon ist, machen würde. Jedoch, wie könnten die CalonTrauernden dann ihre eigenen Toten (bzw. Calon-Ahnen) bei sich behalten, wenn die anderen Ciganos von ihnen erwarten, dass sie die Erinnerungen an ihre eigenen Toten auslöschen? Wenn die Calon-Trauernden anfangen, gleich nach dem Tod eines ihrer eigenen Angehörigen seine persönlichen Sachen (seine Erinnerungen) zu sammeln, um sie öffentlich (vor allem vor den anderen Calen) zu vernichten, setzen sie damit auch schon an, einige von seinen Erinnerungen im Schweigen zu erhalten; genau wie Adriana, wie Nina, die Travellerin von Okely, Pedro Cigano oder wie jeder Juron, der sich Erinnerungen an seine eigenen Toten bewahrt. Der Unterschied hierbei ist, dass sie das vor all den anderen Ciganos verbergen. Das, was die abweichende Haltung der Calon-Trauernden in den oben genannten Beispielen für Devianzen betrifft, ist also öfter unter den Calen zu finden, als man vermuten könnte. Was die Beispiele selbst zeigen, ist, dass nicht alle Abweichungen des Vergessensprinzips bestraft werden. Tatsächlich werden die meisten dieser Transgressionen gewissermaßen sogar erwartet. Das ist der Fall beim Ahnendienst, der aber von den Calon-Trauernden nur im Verborgenen praktiziert wird. In diesem Sinne gewinnt die regelwidrige Haltung des Festhaltens an Erinnerungen an die eigenen Toten – d.h. das Folgen der Spuren der eigenen Toten – als rituelle Praktik der Calon-Trauernden einen heiligen Aspekt: Wenn das Beibehalten besonderer Erinnerungen an die eigenen Toten seitens der CalonTrauernden eine gewöhnliche Transgression des Calon-Prinzips von Vergessen impliziert, ist es möglich zu behaupten, dass ihre Transgressionen ebenfalls Teile jener Art Calon-Sakrileg sind, die einer höheren Ordnung angehören (vgl. Caillois 1959 [1939], 114f.)16.
16 Das ist vergleichbar mit der Rolle von Transgression im Kontext von Festlichkeit in traditionellen polynesischen Kulturen (vgl. Köpping 2001, 135). Nach Roger Callois:
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Außerdem implizieren die Praktiken der Calon-Trauernden einen differenzierenden Symbolismus, den sie als Minderheit diesmal in Bezug auf andere Calen als Mehrheit, d.h. in Bezug auf die Calon-Welt als Konvention, transgredierend ausüben. Es geht also um die für die Calon-Trauernden höhere Ordnung, die ihre eigenen Calon-Ahnen bilden und die paradoxerweise sowohl der CalonÖffentlichkeit subsumiert wird als auch sich dieser gegenüber aufhebt, genau wie die Calen durch ihre Trauerrituale die Juron-Ordnung schweigend durchlaufen.
7.7 DIE ERINNERUNGEN ALS HIEROPHANIEN UND TABUS: WIE DIE CALEN SICH GEGENSEITIG AUSTRICKSEN Wie Williams im Fall der Manusch gezeigt hat, die mit den Erinnerungen an ihre eigenen Toten auf ähnliche Weise verfahren wie die Calen, sind diejenigen Erinnerungen, die von den Calon-Trauernden im Verborgenen und Schweigen erhalten werden, verstreut unter den Jurons und in ihren Welten (nicht) zu finden. »And yet, except for their final destinations [d.h. ihre Zerstörung, ihr Entziehen], there is nothing that differentiate mulle objects [d.h. die lembranças] from ordinary ones in the
»This interlude of general confusion that the festival connotes appears to be a time in which the order of the universe is suspended. That is why excesses are then permitted. It is a matter of contradicting the rules. Everything is done in reverse. In the mythical epoch, the course of time was reversed. One was born an old man and died a child. Two reasons coincide in these circumstances to make debauchery and extravagance appropriate. To be more certain of recapitulating the conditions of existence in the mythical past, one tries to do the opposite of what is customarily done. Also, all exuberance signifies an increase in strength that can bring nothing but abundance and prosperity in the coming spring. Either reason leads to the violation of taboos and immoderate behavior, in order to profit by the suspension of the cosmic order so that the forbidden act may be performed, and so that the order may be permissibly and unrestrainedly abused. Also, all the prescriptions that protect the natural and social welfare are systematically violated. However, these transgressions still are deemed sacrilegious. They are an attack upon the traditional rules that on the morrow will become holiest and most inviolate. They truly involve major sacrilege.« (1959 [1939], 114f.)
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course of everyday life. They are mixed with others without any distinguishing mark. There is no clue to differentiate a mullo dog sleeping among all the other dogs under the trailer. In the same way, how could we know that those fiberglass chimney-sweeping sticks so sought after by the practitioners of the trade and which have been set down across the V-shaped hitch of a parked trailer are mulle? The widow lays them out this way at each stop and only those who knew her husband well can guess their nature. This is because there is no specific way of handling mulle objects, as they are not usually referred to as such. Mānuš do not announce that such and such a thing is mulli. This is not silence in response to an outsider’s curiosity, that of an ethnographer, for example, but it is indeed a silence at play among members of the group.« (Williams 2003 [1993], 5-6)
So setzte Pedro Cigano circa 16 Monate nach dem Tod seines Vaters seine sehr bekannte Kappe ab und begann, einen alten Hut zu tragen. Nur einige wissen oder merken, dass dieser Hut früher seinem Vater gehörte und dass dieser alte Hut deswegen eine Erinnerung an seinen Vater ist. Nur wer seinen Vater kannte, sieht das. Die Calon-Trauernden behalten also Erinnerungen, mit deren Hilfe ihre Toten in ihrer privaten Sphäre von ihnen evoziert werden und daher durch ihre vielfältigen Manifestierungen bei ihnen erscheinen können. Ob materiell oder immateriell, diese Erinnerungen können verschiedenartig sein: eine Fotografie, ein Tuch, Kleidungsstücke, Orte, Tiere, Gerüche, Wörter, Vorlieben (wie Marken von Produkten), spezifische Eigenschaften usw. Also alles, was mit dem Verstorbenen besonders assoziiert werden kann und seine Einzigartigkeiten aus einer Masse von Anonymen hervorhebt. Die Ähnlichkeit zwischen der Beschreibung von Williams (vgl. ebd.) über den Zustand der Erinnerungen (mulle objects) als verstreut in der Welt und als unsichtbar für die Nichtinitiierten und der Beschreibung von Mircea Eliade über den heiligen Status von Gegenständen als Hierophanien ist augenscheinlich: »Indem er [d.h. der Stein, der Baum] das Heilige offenbart, wird der Gegenstand zu etwas ›ganz anderem‹ und bleibt doch weiterhin er selbst, denn er hat weiterhin teil an seiner kosmischen Umwelt. […] Ein heiliger Stein bleibt nichtsdestoweniger ein Stein; scheinbar (genauer: von einem profanen Gesichtspunkt) unterscheidet ihn nichts von allen anderen Steinen. Für diejenigen aber, denen sich ein Stein als heilig offenbart, wird seine unmittelbare Realität in eine übernatürliche Realität verwandelt. Mit anderen Worten: für die Menschen, welche ein religiöses Erlebnis haben, kann die ganze Natur sich als kosmische Sakralität offenbaren. Der Kosmos in seiner Ganzheit wird zur Hierophanie.« (Eliade 1957, 8-9)
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Im Sinne von Eliade können die Erinnerungen an den Verstorbenen unter den Calen und Manusch daher in erster Linie als Hierophanien verstanden werden, d.h. als Manifestierungen des Heiligen. Das Heilige ist aber nur für jene heilig, die es als heilig erkennen bzw. sehen und die damit aus diesem Grund auf eine geeignete Weise umgehen können. Für die Calon-Trauernden sind ihre eigenen Toten das Heilige selbst sowohl aus Gefühl als auch, weil diese ihnen ermöglichen, ihr Leben als vida Cigana zu führen. Um die Erinnerungen an die eigenen Toten und das Lebens des Ciganos als heilig anzusehen, bedarf man der Erkenntnis, die man hat und welche großenteils auch darin besteht, zu Menschen statt zu Ideen treu zu stehen (vgl. z.B. Hart 2016). Überdies, wie Williams oben meinte: »[T]here is no specific way of handling mulle objects, as they are not usually referred to as such« (Williams 2003 [1993], 6). Daher müssen die Calen das, was sie für (heilige und daher gefährliche) Erinnerungen halten, in jedem Fall anders behandeln als weltliche Dinge. Das müssen sie also mit einer Calon-Distinktion tun, indem sie mit ihren Erinnerungen an ihre eigenen Toten anders verfahren, nämlich die Calon-Trauernden die Erinnerungen an ihre eigenen Calon-Ahnen respektvoll zu Kultusgegenständen transformieren. Diese Verwandlung wird von den Calon-Trauernden mittels einer Veränderung sowohl ihrer Wahrnehmung als auch – als koextensiv davon – ihrer eigenen Handlungen durchgeführt. Im Rahmen von Kultus erklärt Eliade: »Der heilige Stein, der heilige Baum werden nicht als Stein oder als Baum verehrt – sie werden verehrt, weil sie Hierophanien sind, weil sie etwas zeigen, was nicht mehr Stein oder Baum ist, sondern das Heilige, das ›ganz andere‹.« (Eliade 1957, 8) Esquecer (Vergessen) ist die Calon-Bezeichnung für die rituellen Praktiken, die diese Verwandlung ermöglichen, bei der ein toter Cigano zu einem wahren Calon-Lebenden wird, ohne jemals tot gewesen zu sein. Somit ist Gefühl eine Calon-Voraussetzung für diese rituelle Verwandlung: Die Erinnerungen offenbaren sich nur denjenigen als heilig, die das geteilte Cigano-Leben mit den eigenen Toten als religiöse Erfahrung (bzw. »religiöses Erlebnis«, ebd.) erleben. Folglich macht es aus dem Leben des Ciganos eine Erfahrungsreligion. Zu diesem rituellen Vorgang, im Rahmen dessen die Verwandlung stattfindet, gehört auch Obviation: Die Calon-Trauernden kehren das Juron-Konzept von Vergessen um und wenden es, ohne zu zögern bzw. als Selbstverständlichkeit, in einer Calon-Weise an. Vergessen wird von ihnen dadurch obviiert. Das Vergessen wird darüber hinaus zu einer klassifizierenden, rituell orientierten Handlung, vergleichsweise im selben Sinne wie das Töten (killing) nach Edmund Leach ebenfalls eine klassifizierende Handlung ist (vgl. Leach 2000 [1965], 351). Die Erinnerungen werden von den Calon-Trauernden nicht nur
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zerstört – d.h. unzugänglich gemacht –, sondern je nach Tauschkreislauf geordnet. Scheinbar sind die meisten der Dinge, die im Verborgenen bewahrt werden, für Jurons prinzipiell wertlos: eine Kassette, ein alter Hut, eine alte Gitarre, persönliche Bilder usw. Sie haben einen persönlichen Wert. Die Erinnerungen errichten somit eine grundsätzliche Grenze zwischen der Calon-Welt als heilig und der Juron-Welt als profan, doch auch zwischen den Calen selbst: Die Calon-Trauernden sind kontaminiert, markiert bzw. verzaubert, an erster Stelle wegen ihrer unmittelbaren Verbindung zu ihren eigenen Toten, aber auch weil sie als agglutinierende Agenten der Erinnerungen ihrer eigenen Toten mitwirken, indem sie ihre Spuren heimlich kultivieren. Aufgrund dessen müssen sich die Calon-Trauernden als communitas (vgl. Turner 2008 [1969]) i.d.R. im Gegenzug zu anderen Menschen anders verhalten und einen angemessenen Reinigungsprozess durchlaufen. Die Calen bewahren sich dennoch gegenseitig respektvolle Abstände eben wegen derselben Erinnerungen. Als Hierophanien werden die Erinnerungen bei den Calen sowohl während der Calon-Beerdigung als auch während der folgenden Trauerperioden unterschiedlich behandelt. Für die anderen Calen, die an der Calon-Beerdigung teilnehmen, gelten die Erinnerungen explizit und hauptsächlich als schmutzige oder gefährliche Tabus. Schon für die Calon-Trauernden sind die Erinnerungen (sowie auch alle Spuren der Toten) als Index ihrer Idole bzw. Vorbilder (vgl. Gell 1998, 96-154) – obwohl nicht offensichtlich – und daher als Weltgeschehen (vgl. Bargatzky 2007) anzusehen. Der Doppelcharakter der Calon-Beerdigungen wie auch der Erinnerungen an einen verstorbenen Calon ist aus zwei Gründen nicht deutlich erkennbar: erstens, weil die Calon-Beerdigung an die Juron-Bestattungsbräuche angepasst werden muss und es ob dieser Anpassung zu verwirrenden Reibungen kommen kann, sodass die Doppeldeutigkeit der Beerdigung sich auch für die Calen etwas verfinstert; zweitens, weil die Verehrung des kürzlich Verstorbenen von den einzelnen Calon-Trauernden hauptsächlich nach der Beerdigung über ihre Trauerarbeit im Verborgenen geschieht. Wenn die Calon-Trauernden einerseits von anderen Ciganos selbst teilweise als Erinnerungen an ihre eigenen Calon-Toten und daher als profan und schmutzig betrachtet werden, gelten sie gleichfalls gerade aus diesem Grund aus der Perspektive ihrer ungestörten Verbindung zu ihren eigenen Toten als heilig und erleuchtet. Die Calon-Beerdigungen, die nach einer Cigano-Bestattungsordnung (als antistrukturelle Paraordnung in Bezug auf die Juron-Bestattungsordnung) durchgeführt werden, haben somit einen Doppelcharakter unter den Calen selbst: Während die anderen Calen an der Calon-Beerdigung als Totendienst (im Sinne von
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Trennungsriten bzw. Reinigungsritual) teilnehmen, führen die Calon-Trauernden dieselbe gleichzeitig als Ahnendienst (Angliederungsriten bzw. Beibehaltungsritual) durch. In diesem Sinne agieren die Calon-Trauernden nach ihren eigenen Toten, die in Bezug auf die anderen Calen eine eigene antistrukturelle CalonParaordnung (vgl. Streck 2011a; 2011b) bilden, bei der die anderen nichts zu suchen haben. Tabelle 4: Calon-Verjuronisierung von Calon-Bestattungsbräuchen Calon-Bestattungsbräuche als Totendienst von anderen Calen
Calon-Trauerarbeit als Ahnendienst von Calon-Trauernden
offen, sichtbar
geschlossen, geheimnisvoll
Calen als Mehrheit
Calon-Trauernde als Minderheit innerhalb einer Mehrheit von anderen Calen
Reden und Feiern
Nichtreden und Fasten
Mündliche Erinnerungen an den Verstorbenen werden geäußert, obwohl seine Erinnerungen in der Öffentlichkeit vernichtet werden.
Erinnerungen an die Verstorbenen werden im Verborgenen als Kultus verehrt.
Kontrastkultur in Bezug auf Jurons durch Entziehen von Erinnerungen
Kontrastkultur in Bezug auf die anderen Calen durch Beibehalten von Erinnerungen
Tun als Nichttun: Die ausgesprochenen Wörter sind leer: Die Calon-Trauernden kommen den nichttrauenden Calen zuvor.
Nichttun (Fasten, Schweigen usw.) als Tun (Weltgeschehen): Die Stille der Wörter nimmt an Wahrhaftigkeit zu.
Trennungsriten
Angliederungsriten
Quelle: Eigenentwurf
Somit geht es hier erneut um verschiedene abgrenzende Tauschkreisläufe, die miteinander durch Rituale vernetzt sind. Die Calon-Beerdigung als Calon-Fest bringt die sichtbarsten Aspekte und Zeitabschnitte mehrerer totaler Tauschaktionen zum Ausdruck, die auch im Alltag beständig zwischen mehreren CalonPersonen durchgeführt werden. Im Fall der Calon-Trauernden findet der totale Austausch zwischen ihnen und ihren eigenen Toten nach der Beerdigung im Rahmen ihrer eigenen Trauerarbeiten weiterhin statt. Sie sollen aber die anderen Calen nicht in gleicher Weise vernachlässigen und führen deshalb teilweise bzw. scheinbare Trennungsriten durch.
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Zwar hören die Calon-Trauernden auf, sich auf ihre eigenen Toten zu beziehen, indem sie alle oder fast alle Erinnerungen an sie auslöschen bzw. unzugänglich machen. Doch das machen sie nur innerhalb der Calon-Öffentlichkeit, während es dasselbe Verbot in der Juron-Welt – d.h. der Welt der Namenlosen – nicht gibt, sodass die Calon-Trauernden dort eventuell eine Zuflucht vor anderen Calen finden können, genau wie es im Alltag oder in Notsituationen passieren kann. Der Tod einer nahestehenden Person bringt die Trauernden dazu, das Ziel ihrer Liturgie zu modifizieren. Ihre Trauerarbeit im Verborgenen dient jetzt nicht mehr den Ciganos als distinkt von Jurons (z.B. als eine Calon-Bruderschaft, Calon-Kaste bzw. eine Calon-Zivilisation usw.), sondern den eigenen Calon-Ahnen als untrennbar von sich selbst. Es ergibt sich also eine Umkehrung der Umkehrung: Die Trauerrituale der Calen als offenbarte Kultur werden den anderen Ciganos gegenüber zu einer unwahren, leeren Performanz, soweit die CalonTrauernden ihren eigenen Calon-Ahnen treu bleiben. Um ihr Gefühl ausüben zu können, handeln die Calon-Trauernden wie die Juron-Trauernden, allerdings mit einem Unterschied: Statt ihre eigenen Toten öffentlich zu verehren (also nach außen), verehren die Calon-Trauernden sie im Verborgenen (also nach innen). Gleichzeitig beginnt das, was für die anderen Ciganos als unrein gilt, von den Calon-Trauernden als heilig erachtet zu werden. Auf den ersten Blick scheint dies ein Spaltungsprinzip zu reproduzieren, das eine Doppelseitigkeit in Bezug auf Gefühl selbst begleitet. Während die Calon-Bestattungsbräuche die Calen als Einheit einerseits realisieren und wiederbehaupten, indem sie in Bezug auf die Jurons eine Mehrheit bilden, führen sie andererseits zu einem unvermeidlichen Bruch und folglich zu einer repositionierenden Segmentierung unter den Calen selbst, die sowohl von inkommensurablen Loyalitäten als auch von unterschiedlichen Trauermodalitäten in Bezug auf spezifische Bindungen zu den eigenen Calon-Toten handeln; also »Tradition«, »Disziplin« oder das »System« jeder Calon-Familie. Das Dilemma, dem die Calon-Trauernden begegnen, scheint in diesem Sinne ähnlich wie dasjenige zu sein, dem ein junges Sinti-Pärchen begegnet, wenn es entweder als Paar miteinander leben möchte und dadurch ihre Leben riskieren muss oder wenn es lieber den Respekt vor den eigenen Toten innerhalb ihrer jeweiligen Familien bewahrt und dadurch voneinander getrennt lebt. »Die Sinti Südtirols verbieten ihren Kindern von vorneherein, Außenbeziehungen aufzunehmen. So bleibt den Jungen und Mädchen nichts anderes übrig, als das Sakrileg zu begehen und der Gemeinschaft zu entfliehen. Damit ist die Kleingruppe, die unter allen Umständen bewahrt werden sollte, gründlich zerbrochen. Die Zurückgebliebenen wechseln
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zwischen Wut und Trauer. Die Toten sind in Unruhe geraten. Die Welt ist durch die fuga [Flucht] aus den Fugen.« (Streck 2009, 46)
Darüber hinaus ist zu vermuten, dass die Zwanghaftigkeit des Vergessens als Calon-Ethik, nach der die Calen ihre Trauerarbeit verrichten, mit derjenigen vergleichbar ist, die man unter den Calen in Bezug auf das Heiratsverbot sowohl in RN als auch in BA finden kann. In beiden Fällen werden die Transgressionen als Tabu erkannt, sie sind zu vermeiden. »Taboo is an element of all those situations in which attitudes to values are expressed in terms of danger behaviour, and with the warning that all the things discussed under the heading of taboo cannot be seen in terms of a single problem […]. Social relations are descridable in terms of danger; though contagion there is social participation in danger. And we find expressed in the same term, those of taboo, two quite separate social functions: (i) the classification and identification of transgressions (which is associated with […] processes of social learning), and (2) the institutional localization of danger, both by the specification of the dangerous and by the protection of society from endangered, and hence dangerous, persons.« (Steiner 1967 [1956], 147)
7.8 ZUR PLASTIZITÄT UND SOUVERÄNITÄT DES CALON-HANDELNS IM VERLAUF EINER BEERDIGUNG Die Bestattungsbräuche der Calen im Nordosten Brasiliens sollen nicht als geschlossene Rituale angesehen werden, weder so, als seien sie lediglich Spuren von Mehrheitsbräuchen aus einer vergessenen Vergangenheit, an der sich die Mehrheitsbevölkerung in der Gegenwart nicht mehr erkennt, noch so, als seien sie isolierbar bzw. getrennt von anderen Ritualen, die meistens mit anderen Sphären des Lebens assoziiert werden (wie Festlichkeiten, der Wirtschaft, der Politik, der Sexualität, endo-exogamischen Haltungen usw.). Dagegen bildet eine Calon-Beerdigung, wie praktisch alle feierlichen Rituale, die eine große Zahl von Teilnehmenden durch verschiedene Mittel und aus verschiedenen Gründen anziehen, ein Spannungsfeld, bei dem man darauf achten soll, wie man als Calon und auch als Nichtcalon agiert. Eine akzeptable und opportune Haltung bzw. Führung des Rituals wird stets von einer angebrachten Berücksichtigung auf grundsätzliche Regeln und Referenzen zum geeigneten Umgang bzw. richtigen Weg im Todeskontext abhängen. Dazu gehören sowohl nicht nur nichtschriftlich festgelegte Haltungscodices als auch emotionale Hand-
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lungsbedingungen und Dispositionen, zu denen und für die verschiedene Rituale teils definierte und daher offene Rahmungen anbieten. Wie fast alle Übergangsrituale bestehen auch Bestattungsbräuche aus selektiv aufgenommenen (seien es geerbte, adoptierte, geliehene usw.) Riten und Traditionen, die von bestimmten Akteuren immer wieder in der Gegenwart und unter partikulären Umständen aktualisiert werden. Doch es geht nicht wirklich um Übergang, wenn man die Bestattungsrituale aus der Perspektive der CalonTrauernden betrachtet, da diese eher ihren eigenen Toten als den Lebenden bei sich zu behalten suchen. Hier werden die Ähnlichkeiten eines Cigano-Umgangs mit den eigenen Toten bspw. zwischen den Calen, Sinti und Manusch erneut bestätigt: »Zigeuner, so können wir nach Williams und Tauber definieren, sind die Teile einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen Toten nicht haben wegnehmen lassen« (Streck 2009, 43). Diese Aktualisierung und die Realisierung des Bestattungsrituals werden damit oft durch mehrere Spannungen zwischen partikularen und kollektiven Akteuren und jeweiligen Perspektiven und Ansprüchen durchgeführt. Niemand und nichts scheint die komplette Kontrolle über einen solchen Vorgang zu haben; schon gar nicht, solange er andauert, überall und bei allen Involvierten. In diesem Sinne neigen die Bestattungsbräuche, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit eine gewisse Form annehmen, dazu, solche Spannungen zwischen partikulären Perspektiven, die Realitäten und viele Aspekte der gegenseitigen Beziehungen, aus denen sie konstruiert werden, widerzuspiegeln.17 Die
17 Basierend auf ihren Untersuchungen am Schwarzen Meer schreiben Elena Marushiakova et al. zur kreativen Aufnahme von verschiedenen, neuen Elementen bei Minderheiten im Kontext von Tod: »Es gibt […] auch wirklich neue Bestandteile im heutigen Ritualleben der Zigeuner, z.B. das Errichten aufwendiger Grabmäler, die besonders ehemals nomadisierende Gruppen früher nicht kannten, und die außerdem Ausdruck eines neuen Wohlstandes sind. Die auf den Grabsteinen eingravierten Daten zeigen deutlich, dass diese Sitte sich erst seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Die Tschokenari, Kelderari, Kardaraschi und Kischinjowci haben früher ihre Toten dort begraben, ›wo man den Tod angetroffen hat‹, also im nächstgelegenen Friedhof, zu dem man selten oder nie zurückgekehrt ist. Jetzt aber lassen die zu Wohlstand gekommenen Zigeunerfamilien imposante Grabmäler errichten, mit einem Betonsockel und mit Marmor bedeckt. Die Großleute bekommen Mausoleen, innen mit teurem Stoff tapeziert und kostbaren Teppichen ausgelegt. An den Wänden werden Fernsehapparat, Tonbandgerät, Videoplayer, Anzüge, Flaschen mit importiertem Alkohol und Zigaretten deponiert. Selbst Computeranlagen
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Regeln und Referenzen der verschiedenen Bestattungsordnungen, aus denen eine Calon-Beerdigung gemacht wird, sind nicht selten konträr und daher inkommensurabel. Sie dienen als Anleitungen für die Handlungen bei den meisten Calen, die versuchen, bei einer Calon-Beerdigung zwischen ebenfalls richtigen Wegen ein passendes, entsprechendes Benehmen zu entwerfen. Trotz aller Einführungen von kontrastierenden Diskontinuitäten in dominanten Juron-Ritualen seitens der Calen als Teil ihrer vielfältigen kulturellen Aneignungen und obwohl es dadurch zwischen Calen und Jurons hier und da Reibungen geben mag, üben die Calen ihre kulturelle Souveränität als kollektiver Akteur in Bezug auf die umgebenden Jurons konfliktlos aus. Wie ich im Kapitel fünf schrieb, haben Calen und Jurons differenzierte Status und daher auch verschiedene Ansprüche. Deswegen stehen sie nicht auf einer gleichen Tauschebene und sind keine Rivalen. Soweit ich es erkennen konnte, geht es nicht darum, die verschiedenen Bestattungsordnungen bzw. Wege miteinander harmonisch zu vereinen oder sie komplett voneinander zu trennen. Die Calen bewegen sich von einem in das andere, aber auch zwischen ihnen. Das wird verständlicher, wenn man Grenzen statt als Blockaden als Mutationskanäle betrachtet, bei denen die CalonBestattungsbräuche als rituelle Vorgänge, bei denen verstorbene Calen in CalonAhnen verwandelt werden, eine Rolle als Filter spielen. Doch während die Calon-Trauernden im Verlauf der Bestattungsrituale ihre eigenen Toten bei sich behalten, agieren sie unter den anderen, um dort zu bleiben, wo sie schon sind. Die Calen kommen sowohl den anderen Calen als auch den Jurons zuvor, so wie ihre eigenen Toten ihnen selbst zuvorkommen. Indem ein Calon zwischen gegenseitigen Ritualordnungen navigiert, entsteht deswegen auch bei den Calen der Eindruck von einem »›Gleichgewicht an der Grenze‹ (équilibre à la frontière)« (Williams 2011a, 49). Es vollzieht sich vielleicht etwa so wie bei der trauernden Mutter von Heitor und seinen Geschwistern, der Tante von Nathanael, Tico, Roland, Osvaldo und Ehefrau ihres geliebten Onkels. Sie war auf den Cigano-Hochzeitsfesten zu sehen. Sie saß, wie auf dem Bild auf der Titelseite dieses Buches, ging herum, tanzte ein wenig, trank aber keinen Alkohol… Stattdessen trug sie noch komplett schwarz und zeigte ihre Haare nicht (möglicherweise hatte sie sie nie wieder wachsen lassen), und so lebt sie bereits seit circa 25 Jahren, seitdem ihr Rom gestorben ist. Dadurch war sie selbst eine stetige Erinnerung an ihn.
werden dem Toten mitgegeben. Im Sarg selbst finden sich Kamm, Spiegel, Feuerzeug, Zigarettenetui, goldene Ketten, Ringe […] etc.« (Marushiakova et al. 2005, 33)
Teil IV Schlussbetrachtung und Ausblick
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Von Resonanzen als die Macht des Abwesenden
8.1 FAZIT In meiner Studie ging es darum zu verstehen, wie mehrere Calen als Minderheiten im Nordosten Brasiliens den Tod auf eigene Weise domestizieren und welche Implikationen ihre Beziehungen zu den Toten für ihre Erschaffung einer eigenen Calon-Welt haben. Im Rahmen eines langfristigen Forschungsaufenthalts bei verschiedenen Calon-Familien und unter direkter Mitwirkung mittels eines regen Austauschs unter Kollegen, die den Verlauf meiner gesamten Forschungsarbeit prägten, verfasste ich eine ethnografische Theorie über die Trauerrituale der Calen und ihre Konstruktion einer distinkten Person. Die vorliegende Abhandlung ist das Hauptergebnis davon. Indem ich eine direkte vergleichende Untersuchung zwischen Calon-Ritualen durchführte, konnte ich Zusammenhänge zwischen den Trauerritualen der Calen und ihrer Konstruktion und Aktualisierung einer eigenen Calon-Welt in ihrem Alltag als wesentlicher Teil »das Lebens des Ciganos« (a vida do Cigano) erfassen. Vor allem begleitete ich im Hinterland von RN und im Süden von BA mehrere Calen, die sich in Trauer befanden. Mein Bestreben war dabei, CalonTrauerrituale kennenzulernen, die sowohl mit der Aktualisierung ihrer kulturellen Souveränität im Kontext von Sterben und Tod inmitten der sie umgebenden Juron-Mehrheitsgesellschaft als auch mit der Ausübung eines Zollens von »dem Gefühl« (o sentimento) in Bezug auf die Toten unter den Calen selbst zusammenhängen. Meine Aufmerksamkeit richtete ich somit auf den Umgang von Calen mit ihren Toten sowohl in verschiedenen Situationen in Gegenüberstellung zu Jurons als Mehrheitsmitglieder als auch unter den Calen selbst auf intrakultureller Ebene. Dabei lernte ich Narrative, Verhaltensweisen und Schlüsselkonzepte kennen, die die Calen im Kontext ihrer vielfältigen Beziehungen mit eigenen und fremden Toten, anderen Ciganos und unterschiedlichen Jurons in Form von
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»der Erkenntnis« (o conhecimento) artikulieren, die sie nutzen, um ihre eigene Welt wahrzunehmen und diese erneuernd zu objektivieren. »Die Erkenntnis zu haben«, erscheint im Kontext von intra- und interkulturellen Kontakten und im Austausch als eine Bedingung für das Sichbewegen zwischen und durch verschiedene Welten. Die Namen, das Benennen und Umbenennen von Juron- und Calon-Namen, spielen hierbei eine zentrale Rolle, um auf das hinzuweisen, was für die Calen heilig ist. Daher habe ich auch, in Anlehnung an Patrick Williams (vgl. 2003 [1993]), die Namen verfolgt, sodass ich die verschiedenen Tauschkreisläufe, ihre jeweiligen Tauschmodalitäten und Moralitäten kennenlernen konnte. Meine methodologische Strategie bestand darin, das soziale Hervorbringen von Ähnlichkeiten und Unterschieden im Laufe ritueller Prozesse zwischen der Calon-Minderheit und der sie umgebenden JuronMehrheit zu beobachten, die auch im Alltag stattfinden. Analytisch wollte ich dadurch substantielle Einsichten in die Lebens- und Arbeitsweisen der Calen als Teil ihrer Welterschaffung durch selektive Hybridität gewinnen. Bei meiner Untersuchung fing ich an, Rituale als regulatorische Instanzen zu betrachten, durch die Calon-Welten aufkommen. Gewöhnlich wird die Konstruktionsmöglichkeit einer Calon-Welt einer kulturellen Wiederaneignung und Modifizierung spezieller Symbole, Sitten, Werte und weiterer Elemente der sie umgebenden hegemonialen Juron-Mehrheit und ihrer Darstellungspraktiken zugeschrieben. Eines meiner Hauptargumente in diesem Buch ist, dass den Calen Rituale als wirksame Wege dabei dienen, solche Verwandlungen realisieren und somit eine eigene Welt innerhalb der Welten von anderen konstruieren zu können. Zwar gehören Rituale zu bestimmten Kontexten (vgl. Wagner 1978, 2010 und 2018), die konventionell von Jurons definiert werden, wie z.B. Hochzeiten, Weihnachten und Begräbnisse, aber auch zu alltäglichen Tätigkeiten wie kommerziellen Handlungen oder Spielen. Indem ein Calon aber seine eigene Welt durch obviierende Praktiken liturgisch mitgestaltet, werden die von Jurons definierten Kontexte zu seiner geteilten Calon-Welt, wie z.B. Cigano-Hochzeit, Cigano-Weihnacht, Cigano-Frühstück usw. Die Gesamtheit von Praktiken (Vorschriften, Rituale, Diskurse usw.), welche die Grundlage des sozialen Handelns in Situationen von Tod bildet, wird von Jurons normativ etabliert und durchgeführt, d.h. von der Mehrheitsgesellschaft und durch ihre Institutionen: rechtliche und medizinische Systeme, dominante Religion, vorherrschende Sprache, lokale Bräuche usw. Dennoch finden die meisten Calen ihre eigenen Wege, um ihre Calon-Trauerrituale auszuführen, indem sie sich nach einer anderen Ethik und den jeweiligen kontrastierenden Prinzipien richten. Da diese Calon-Ethik sich auf alle Bereiche des Lebens eines Ciganos erstreckt, hielt ich es für sinnvoll, die Calon-Konstruktion einer Calon-Person in
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den Fokus zu rücken. In einem mit anderen angefüllten Alltag ist die CalonPerson als eine distinkte Entität präsent, die die Calen – ob auf individueller oder kollektiver Ebene – immer als fraktale Manifestierungen eines Selbst bzw. als Nichtjuron wieder verwirklicht. Diese Annahme findet ihre Begründung in theoretischen Ansätzen, die Rituale nicht als Kontrapunkt zu Alltagsgeschehnissen verstehen, sondern sie als deren Erweiterungen ansehen. Das Konzept vom liturgischen Handeln wende ich hierbei explizit an, um die Zusammenhänge zwischen der alltäglichen Konstruktion einer Calon-Welt und den rituellen Praktiken der Calen besser deuten zu können. Mehrere Aspekte der kulturellen Aneignungen der Calen, die sie nach einer eigenen Calon-Ethik durchführen, lassen sich ebenfalls im Kontext ihrer CalonFestlichkeiten beobachten. Beide Calon-Feste (die Cigano-Weihnacht und die Cigano-Hochzeit), die i.d.R. bei ihren kehs bzw. Calon-Siedlungen stattfinden, unterscheiden sich sehr stark von Weihnachten oder von Hochzeiten der Jurons. Im Rahmen der Calon-Feste werden diejenigen Elemente, welche die Jurons normalerweise für symbolisch zentral halten, als peripherisch betrachtet, während diejenigen, welche die Jurons für unwichtig erachten, als symbolisch zentral gelten. Diese Festlichkeiten spielen bei den Calen in RN und in BA eine Schlüsselrolle sowohl bei ihren internen sozialen Organisationen als auch in Bezug auf ihre Verhaltensstrategien zu den sie jeweils umgebenden Juron-Mehrheitsgesellschaften, wie der gemeinsame Namenszusatz Cigano zeigt. Beim Selektieren und Kombinieren inkommensurabler Elemente aus Calonund Juron-Trauerritualen nach der Erkenntnis, die sie von unterschiedlichen Tauschkreisläufen haben, schaffen es die Calen, ihre Verbindungen zur JuronMehrheitsgesellschaft aufrechtzuerhalten, während sie es zugleich aus sentimento vermeiden, wie Jurons zu handeln bzw. zu leben. Einige Calon-Trauernde weigern sich z.B., von ihrem kürzlich Verstorbenen lediglich als einem verstorbenen Calon zu sprechen. In diesem Zusammenhang beschreibe ich die Beziehungen zwischen Calon-Erwachsenen und ihren Kindern, die von ihnen als moralisch unvollständige Menschen bezeichnet werden, indem die Calen von ihren Kindern als »Toten« sprechen. Wenn man diese Haltung der Erwachsenen in Bezug auf ihre Kinder im Licht einer Calon-Ethik bzw. Calon-Wirtschaft der Namen betrachtet, hilft dies nachzuvollziehen, wieso man als Calon nicht die Namen der eigenen Toten aussprechen soll. Zwei Calon-Handlungen können hier beobachtet werden. Erstens wird bei den Calen das, was nach dem Verständnis der Jurons als Tote und Lebende bezeichnet wird, umgekehrt: Die Lebenden sind die Toten, während man die Toten – vor allem die eigenen – aus Gefühl als lebendig behandelt. Zweitens sind die Ahnen diejenigen, die »die Toten« als richtige Calen (lebendig) ausmachen. Oh-
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ne ihre eigenen Toten sind die Calen keine Calen. Calon zu sein heißt zum großen Teil, mit den eigenen Toten unmittelbar verbunden zu sein und in einer respektvollen Austauschbeziehung – vor allem in Calon-Umgebungen – zu stehen. Die dafür notwendige Calonität zu entwickeln gelingt nur denjenigen, die bei und mit ihren eigenen Toten auf(ge)wachsen (sind). Die Anwesenheit und Wirkungskräfte der Calon-Toten beim Gestalten des alltäglichen Lebens der Ciganos können als Resonanzen erkannt und verfolgt werden. Durch ihre eigenen Trauerrituale, die sowohl Bestattungsbräuche als auch Trauerarbeit einschließen, verwandeln (oder verewigen durch rituelle Verwandlung) trauernde Calen ihre gerade Verstorbenen in ihre eigenen CalonAhnen, die mit bzw. bei ihnen weiterleben. Doch weil ihre Trauerarbeit zum großen Teil darin besteht, den Spuren der eigenen Toten zu folgen, bedeutet dies, dass die Toten den Weg der Trauernden als Teil einer Reziprozität von Perspektiven (vgl. Wagner 2018) zwischen Lebenden und Toten bei den Calen bestimmen. Dies macht eine wesentliche Calon-Haltung, die in allen CalonLebensbereichen zu finden ist, offensichtlich: Während die Calen diejenigen, die sie respektieren wie z.B. ihre eigenen Toten, nachahmen, kommen sie den anderen wie z.B. Jurons und anderen Calen zuvor. Indem sie nach diesem Unterschied handeln, richten die Calon-Trauernden ihr eigenes Leben nach dem Verlust neu aus. Durch ihre Trauerarbeit bewähren sich die Calon-Trauernden als respektvolle, integrale Personen. Nach der Calon-Ethik bleibt eine Person integer, wenn sie als Individuum inmitten von anderen lebt, ohne sich von ihren eigenen Toten zu trennen. Die Integrität des Verstorbenen und die seiner hinterbliebenen Lebenden als Cigano-Personen scheinen sich durch die Trauerrituale zu ermöglichen und zu ergänzen, sich demnach als total zu koproduzieren. Die Konstruktion der Calen von einer Calon-Person fällt mit ihren Trauerritualen zusammen. Weil diese mutuelle Konstruktion in der Welt der Jurons stattfindet, kann sie von der Suche der Lebenden nach den Spuren ihrer eigenen Toten inmitten von anderen (sowohl Jurons als auch anderen nichttrauernden Calen) fremdvermittelt und dadurch neu angepasst werden. Dazu benötigen die Calen die Erkenntnis über die Tauschkreisläufe von diesen anderen. Außerdem soll eine Calon-Welt, wenn sie aus mehreren Wiederaneignungs- und Verwandlungsprozessen von Juron-Materialien (Moralitäten, Wirtschaft, Lebensmittel, Kunst usw.) besteht, sich zugleich auch weiter aus sich selbst reproduzieren. Was durch die Trauerrituale der Calen (re)produziert wird, ist ihr Leben selbst, ihr vida Cigana. Wenn das Erkennen und Errichten der Grenzen einer gegebenen Calon-Welt nur durch ihre multiplen Verbindungen zu und Austausche mit anderen, koexistierenden Welten möglich sind, laufen diese Prozesse von selektiven Hybriditä-
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ten und kulturellen Aneignungen nicht spannungsfrei ab. Statt z.B. die Erinnerungen ihrer eigenen Toten in der Öffentlichkeit vollständig zu zerstören, wie es die Calon-Vorschriften für jeden Calon zwecks gesellschaftlicher Anerkennung seines Calon-Status gewöhnlich zur Bedingung machen, halten viele CalonTrauernde an einigen dieser persönlichen, bedeutsamen Erinnerungsstücke fest. Weil die Calen, die in Trauer sind, deswegen stets das Risiko eingehen, mit üblichen Jurons komparabel zu werden, die die Erinnerungen an ihre Ahnen offen kultivieren, praktizieren die Calon-Trauernden das Gedenken an ihre eigenen Toten nur in ihrer Privatsphäre und im Verborgenen oder metasprachlich durch Musik und Geschichtenerzählung. Indem die Calen so handeln, erfinden sie sich selbst mithilfe ihrer als Archái beständig anwesenden eigenen Toten über ihre geeigneten Trauerrituale im Alltag neu, während sie sich den Nichtcalen gegenüber und im Schatten anderer Calen als Cigano resilient wiederbehaupten. Als Schlussbetrachtung exploriere ich im Folgenden potenzielle Aspekte und Auswirkungen des Tausches insbesondere zwischen Calon-Trauernden und ihren eigenen Calon-Ahnen für das gegenseitige Mitgestalten einer Calon-Mitwelt.
8.2 WELTEN, DIE FÜR SICH STEHEN: VON GRENZEN ALS MUTATIONSKANÄLE Die Konstruktion einer eigenen Calon-Welt innerhalb der Welten von anderen besteht größtenteils aus mehreren Calon-Aufnahmen und Verwandlungen der sie umgebenden Elemente der Juron-Welt. Ich nehme an, dass die Grenzen zwischen Juron- und Calon-Welten als Filter und damit als Mutationskanäle verstanden werden können, statt als Mittel zur Kontaktvermeidung oder auch lediglich zur Bewahrung irgendeines Selbst (als Bewahrung der Integrität einer Person als kollektive Entität). Kontakt muss oft gesucht werden, wenn man die eigenen Grenzen bewahren und aktualisieren will. Der Übergang von Gegenständen, Kapital, Personen, Etiketten, des Wortschatzes und von Geschichten sowie besonders von Erinnerungen, Perspektiven usw. von einer Grenze zur anderen ist innerhalb von etablierten Institutionen im Ablauf nicht frei. Der Verkehr von diesen und anderen Elementen ergibt sich eher oft aus bestimmten Normen, die ihrerseits häufig die Integrität bestimmter Grenzen bewahren, indem sie auf Einmischungs- und Trennungsvorgänge zwischen diesen Elementen achten. Im Zusammenhang damit kommt es normalerweise im Rahmen von Ritualen vor, dass soziale Personen die Zirkulation, den Kontakt und den Austausch von Fremdelementen je nach Anpassungsmöglichkeit regulieren. Dadurch dürfen sich die Elemente und Agenten unterschiedlicher
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Welten – als Bestandteile von partikulären Realitätskonstruktionen – rituell und daher legitim bewegen und bewegt austauschen und ausgetauscht verwandeln und verwandelt werden. In diesem Sinne können Rituale hier als Kontroll- und Vermittlungsplattformen betrachtet werden, die zwischen verschiedenen Personen gleichermaßen als filtrierende Grenzflächen stehen. Durch Rituale wird das Austauschen zwischen verschiedenen Welten und ihren jeweiligen Agenten und Elementen mittels bestimmter Übergangsmittel und diesbezüglicher Umgangsweisen möglich. Rituale sind daher zugleich Wege, Grenzen, Treffpunkte, Verhandlungsräume und Ströme. Das gehört zur Definition von Ritual als einem produktiven und transformativen Vorgang, den man im Kultus und im Alltag auch beim Gestalten des Lebens des Ciganos durchführt. Durch Rituale findet alles Eingang in die CalonWelt und tritt aus dieser in kontrollierter Weise wieder heraus; so ist es mit Geld, Autos, Landschaften, Tieren, Geschichten, Menschen und Musik. Die Juron-Elemente, wie Gegenstände, Musik, Bräuche und Verhaltensweisen oder Wörter, werden von den Calen also durch einen Calon-Weg rituell in die Calon-Welt eingeführt und reorganisiert. Allerdings müssen sie auch stabilisiert werden, damit sie als vercalonisierte Elemente nicht nur Calon bzw. Cigano werden, sondern auch solche bleiben können. Die Aufnahme und Verwandlung eines aus der Juron-Welt stammenden Elements in einen Bestandteil einer Calon-Welt muss daher innere Gültigkeit und Anerkennung erwecken. Im Zusammenhang damit werden nicht nur die Dinge der Juron-Welt bewahrt, sondern auch die Prädisposition der Calon-Mitglieder ein und desselben Tauschkreislaufes, ihre Aufnahme und Veränderung als legitime neue CalonErfindung von Selbst anzunehmen, wenn diese Veränderungen auf rituelle Weise angemessen durchgeführt werden. Das schließt das Teilen als Mittel und Ende eines liturgischen Handelns ein, was die Konstruktion der Calon-Öffentlichkeit fördert. Es muss also unter anderen Calen als »Cigano« zirkulieren und wirken, um es unter sich aufzuteilen. Zugleich erkennen die anderen Calen durch ihre Teilnahme am Aufteilen der Dinge der Juron-Welt innerhalb ihrer und zwischen ihren Tauschkreisläufen den Status der nun vercalonisierten Elemente als Cigano an. Das, was die Calen unter sich in und aus der Juron-Welt teilen, umfasst jenseits von gemeinsamen Affekten – im Sinne von Jeanne Favret-Saada (vgl. 2012) – ihre gemeinsamen Erlebnisse, Gefühle und Erinnerungen.1
1
Dadurch schließen die Calen viele Jurons aus ihrer Calon-Welt aus, die gern Ciganos sein bzw. werden möchten oder die glauben, sie seien Ciganos. Weil »Ciganos aus Seele« (Ciganos de alma), viele Sympathisanten oder z.B. eine Entität wie die Pom-
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Anders gesagt: Wenn interkultureller Kontakt und selektive Hybridität zwischen Calen und Jurons grundsätzliche Voraussetzungen für diese kulturellen Wiederaneignungs- und Transformationsvorgänge (vgl. Sahlins 1997; Williams 2011a, 2011b) sind, können die geeignete Einführung und die Stabilisierung von Juron-Elementen in die Calon-Welt jedoch nur unter den Calen selbst mittels Gefühl und Erkenntnis wirksam durchgeführt werden. Das stetige Calon-Suchen und -Aufnehmen von Juron-Elementen, ihre rituellen Verwandlungen in Calon-Elemente und ihre kreative Stabilisierung durch rituell anerkennende Rezeptivität (als Bedingung für ihre Wirkung) unter anderen Calen, finden in unterschiedlichen Lebensbereichen statt. Die selektive Auswahl und Einordnung dieser vielfältigen, verfügbaren Elemente – demnach auch die Betonungen eines oder die Vernachlässigung von anderen, die Etablierung einer Reihenfolge und die Einführung besonderer Zeitlichkeiten und Verhaltenscodices durch das Unterbrechen von (Juron-)alltäglichen Kontinua und rituellen Vorschriften – trägt dazu bei, Aspekte partikulärer Realitäten auf privilegierte Weise und oft als universell darzustellen und zugleich Aspekte anderer Realitäten zu ignorieren, zu verbergen oder auch abwertend zu erwähnen.2 Damit lassen sich eine eigene Calon-Welt in der sozialen Produktion einer Parallelkultur bzw. Kontrastkultur, einem eigenen Wertesystem und einer eigenen Prestigeskala, einer spezifischen Sprache und in der Existenz von Mechanismen der Selbstregulierung in Bezug auf Nichtciganos manifestieren und in Bezug auf andere Ciganos realisieren. Die Calen obviieren die sie umgebenden Juron-Welten durch ih-
ba-Gira Cigana nicht als Nichtjuron anerkannt werden, bestehen sie bei den Calen selbst existentiell nicht weiter. Zu dieser gegenseitigen Resonanz, die intern unter Calen eingehalten werden soll, während nach außen vor allem in Bezug auf Nichtcalen Kontrastkultur herrscht, gehört die Suche nach einer gewissen Legitimität und Kohärenz, was diejenigen gemeinsamen Bräuche betrifft, die »aus der individuellen Entscheidung eine kollektive Angelegenheit« machen, um noch einmal Tauber (2014 [2006], 39) in Erinnerung zu rufen. 2
Auf jeden Fall stellen diese Elemente auf die eine oder andere Weise, meist durch kulturelle Übersetzungsarbeiten, eine oder mehrere Ordnungen dar. Selbst diese Einordnung lokaler und universeller Elemente, die die geeigneten Umgangsformen mit dem Tod und mit den Toten mitgestaltet, kann als eine Art Porträt des Universums, wie aus der partikulären Perspektive betrachtet, bestimmter Kollektive oder Akteure angesehen werden (vgl. Wagner 2010). Dieses Porträt entwickelt und gewinnt seine sichtbaren Konturen durch Rituale und kann deswegen durch rituelle Spuren erforscht werden.
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ren differenzierenden Symbolismus, soweit sie sich für ihre differenzierende Konstruktion einer eigenen Calon-Welt kontinuierlich engagieren. Dieses fortdauernde Engagement lässt sich als das Leben des Ciganos übersetzen. Insbesondere zwei Tauschaspekte scheinen das Herausziehen, die Verwandlung, Einführung und Stabilisierung von Juron-Elementen in die Calon-Welten als differenzierenden Symbolismus zu bedingen. Erstens mutet die oben erwähnte Verwandlung z.T. realisierbar an, indem die Calen ein Ideal von Gleichheit unter sich und anderen Calen (vor allem soweit es den Status als Nichtjuron betrifft) verbreiten und ihm auf eigene Weise zu folgen versuchen. Zweitens soll es gleichfalls einen Platz für die Akzeptanz und Assimilierung des Fremden bzw. des Neuen geben. Ich argumentiere, dass das Neue bzw. Fremde für die Calen schon bei ihnen selbst sein muss, bevor es ankommt, indem die Calen sich bei ihren eigenen Alten in mehreren verschiedenen Formen absichern; so wie die versprochene, vereinbarte Trauer, die implizit gleich mit dem Aufbau einer Freundschaft entsteht 3, dem Tod selbst in diesem Sinne zuvorkommt. Die Rolle, die die Chaburrons spielen, unterstützt diese Obviation. In diesem Buch umfasst das Neue das Austricksen zwischen den Calen selbst. Die Obviation, die folgt, verwandelt Transgression in Regel, Nichtsein in Sein. Die Calen können den Jurons erst dann zuvorkommen, wenn sie ihre eigenen Toten zuvorkommen lassen. 8.2.1 Zur Gabe der Calon-Ahnen: Trauerarbeit als mutuelles Welterschaffen Die gemeinsame Calon-Ethik, nach der die Calen ihre eigenen Toten als Lebende ansehen und behandeln und diese bei sich behalten, schafft Verbindungen zwischen den verschiedenen Calon-Tauschkreisläufen. Das wird möglich, indem die Calen als Mittel für ihre gegenseitige Anerkennung von Calonität fungieren: Die eigenen Toten dürfen andere Ciganos jenseits ihrer eigenen Lebenden nicht beeinflussen oder stören. Das Calon-Prinzip des Nichtevozierens der eigenen Toten vor Gleichen, die Calon-Status haben (bzw. vor den anderen Calen), scheint eine ähnliche, wenn nicht gar dieselbe Ethik wie bei den Sinti und den Manusch zu bewirken, wie dies Elisabeth Tauber in Bezug auf Manusch und Sinti zusammenfasst:
3
Wie Jacques Derrida (vgl. 2001) meint, wenn er von Trauerarbeit als einem impliziten Kompromiss schreibt, der gleich dem Erschließen einer Freundschaft gebildet wird: Der Erste, der stirbt, wird von demjenigen, der hinterbleibt, betrauert.
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»Patrick Williams analysiert den Respekt (era) vor den Toten als das, was die Integrität der Mānuš schlechthin repräsentiert. Keine Einheit der Mānuš, weder im Frieden noch im Krieg, konstituiert sich ohne die Toten. Die Mānuš bewerten die Nähe oder Distanz zu anderen Zigeunergruppen über den Respekt, den diese ihren Toten zollen. Aber genauso bewerten sie das Verhalten der Mitglieder innerhalb der eigenen Gemeinschaft über den Respekt für die Toten. Wegen dieses Respektes für die Toten werden keine Fragen gestellt und die eigenen Handlungen werden nicht kommentiert oder erklärt, die Mānuš sprechen nicht darüber.« (Tauber 2014 [2006], 28)
Das öffentliche Vergessen seitens der eigenen Calon-Trauernden wirkt hier als Mechanismus des Gleichhaltens und Gleichungssuchens, so wie dieser im Fall von Rache als Calon-Ethik ausgeübt wird. Jeder Anspruch auf Autorität eines Calons gegenüber einem anderen Calon, der z.B. auf Deszendenz beruht, wird bei den Calen ohne Weiteres disqualifiziert. Dagegen kann man annehmen, dass der Tausch in den umgebenden Juron-Umwelten grundsätzlich als eine Suche nach Antivalenz (»a quest for non-equivalence«) betrieben wird, sodass die Jurons im Prinzip dazu neigen, »principles of calculated disequilibrium or unequal exchange (as in the substitute of human lives for wealth)« (Strathern 1991, 1) zu inkorporieren; wie es bei Schadensersatz in modernen Gesellschaften der Fall ist. Außerdem soll man hier auch das Hobbes’sche Leviathan-Prinzip des Verzichts auf eigene Gewaltanwendung angesichts einer zentralisierten Macht betrachten, die im Namen von allen Vertragspartnern, die die Gesellschaft bilden, das Monopol legitimer Gewaltanwendung besitzt. Dieses System kann prinzipiell nur dann funktionieren, wenn alle betroffenen Bürger sich daran beteiligen, was somit eine Zwangsintegration erfordert. In klarem Kontrast scheint der Tausch bei den Calen besonders stark auf »mechanisms designed to restore equilibrium (wealth for wealth, life for life)« (ebd.), gegründet zu sein, wie z.B. das Blutrachesystem, durch das die Calen eine gestörte Integrität wiederherzustellen versuchen. Ein richtiger Tausch, wie derjenige zwischen Gleichen, hat bei den Calen auch deswegen einen totalen (im Sinne von integralen) Charakter. »The implications, [Maurice Godelier] argues, go beyond the nature of exchange. Where things substitute for human life, the reproduction of social relations (including relations of kinship) comes to depend upon the accumulation of material wealth. This feature of bigmen systems is absent from great-men systems. There, since the circulation and redistribution of wealth is not an essential factor in social reproduction, it is not essential to relations of domination between people and local groups. Domination is achieved through the ritual and other powers that great men have at their disposal, and through a male ideology promulgated in initiation rites that sets men’s general power against women’s.« (Ebd.)
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Ob Juron-Gesellschaften grundsätzlich als zentrale Aspekte eines Big-menSystems gelten können, während Calon-Netzwerke als diejenigen eines Greatmen-Systems charakterisiert werden, bleibt eine offene Frage. Vielleicht können Ciganos aber als great-men betrachtet werden, insofern sie sich gegenüber den Jurons als Ciganos verwirklichen (vgl. Wagner 1991, 172-173). Die Logiken, Typologien bzw. Bezeichnungen, die Godelier & Strathern (vgl. 1991) heranziehen, um über Macht und Personifizierung in Polynesien zu diskutieren, scheinen jedenfalls mit jener Calon-Logik, die ich im Verlauf meiner Feldforschung unter den Calen kennengelernt habe, merkwürdigerweise zusammenzupassen: Bei den Calen wird Reichtum einer Calon-Ethik im Leben des Ciganos wiederholt, sei es in besonderen Situationen oder im Alltag durch liturgisches Handeln rituell subsumiert. Die Abwesenheit von Erbe als Juron-Institution bei Calen, so wie die zerstörerische Ausgabe von Geld bei ihren Calon-Festen und anderem, stützen dieses Argument. In beiden Kontexten von Tod und Fest können die Calen finanziell ruiniert werden, wie am Beispiel der Mutter von Pedro nach dem Tod seines Vaters und von Ronaldo, der nach den Kosten des Hochzeitsfestes seiner Tochter bankrott war, deutlich wird. Die Calen, die ihnen am nächsten stehen und die an ihren Angelegenheiten teilhaben – ihre Verwandten gewissermaßen –, sind davon emotional und finanziell direkt betroffen. Gleichheit in Form von Bruderschaft, Verein, Ethnie usw. wird bei den Calen insofern aufrechterhalten, als dass die Calen selbst neben einer gegenseitigen Anerkennung ihres Calon-Status diese Gleichheit stets zu praktizieren versuchen. Doch Rituale wie die kontrollierte Hochzeit und das Vergessen als CalonBestattungsbräuche werden nicht selten transgrediert. Somit nähere ich mich dem zweiten Aspekt, den ich weiter oben erwähnte: Die Rolle der eigenen Toten bei der Akzeptanz des Neuen und beim Mitgestalten der eigenen Calon-Welt. Wie bereits erläutert, dienen Rituale als Übergangsmittel zwischen zwei oder mehreren menschlichen Kollektiven, wie Gruppen, Nationen, Ethnien usw., die miteinander aus irgendwelchen Gründen in Kontakt kommen. Sie sind wichtig, damit verschiedene Elemente, wie Menschen, Dinge, Ideen, Kapital, Bilder usw., zwischen diesen Kollektiven auf eine akzeptable und regulierte Weise verkehren können. Diese verschiedenen Elemente können während ihrer Übergänge durch Rituale nicht nur selbst verändert werden, sondern auch die Gestaltung dieser Übergangsmittel und diesbezüglichen Umgangsweisen legitim neu modifizieren. Hier offenbart sich erneut die Agency der Erinnerungen an die Toten als Handlung der eigenen Toten selbst bei den Calen.
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Einerseits wird die Juron-Bestattungsordnung von den Calen vercalonisiert, indem diese ihre eigene Bestattungsordnung notwendigerweise durch die der Jurons mittels Einführung mehrerer Diskontinuitäten und Umkehrungen durchführen. Andererseits wird die in Bezug auf Jurons transgredierende Calon-Bestattungsordnung von den Calon-Trauernden und ihren eigenen Toten als Vergessenheitsarbeit selbst auch transgrediert, indem diese entlang des Weges ihrer Trauerarbeit als Calen den Sinn des Vergessens umkehren. Während die Erinnerung der Calon-Trauernden an ihre Calon-Toten in der Calon-Öffentlichkeit verboten (und damit unmitteilbar) ist, verehren die Calon-Trauernden ihre eigenen Calon-Toten im Verborgenen in ihrem privaten Leben. Weil die Calon-Trauernden nicht von ihren eigenen Toten reden und nichts von ihnen teilen, entsteht kein Gedächtnis bzw. keine Geschichte einer Gruppe oder Gemeinschaft, wie dies Williams bei den Manusch beobachtete. Williams beschreibt die Bindung zwischen den Toten und ihrer Gesellschaft wie folgt, wobei das Manusch-Wort für Respekt (era) zugleich das bezeichnet, was die Jurons bzw. Gadze »Gedächtnis« nennen: »[T]he dead construct the community without its having to go through the construction of a history of the community. I would like to argue that what the Manuš call ›the respect for the dead‹ is actually integrity, the integrity of the social group at all its levels.« (Williams 2003 [1993], 13) In ähnlicher Weise werden die Trauerrituale der Calen von vornherein stark von der Agency der Toten geprägt. Das Begräbnis wird von den CalonLebenden oft nach Einzelheiten bzw. persönlichen Eigenschaften des Toten gestaltet. Während die Beerdigung sich nach dem Toten als einer Calon-Person richtet, wird er auch zu einer Calon-Institution durch seinen Individuationsvorgang. Nicht nur werden seine von ihm geliebten Lieder bei den Feiern gespielt. Es sind seine Erinnerungen, die gesammelt und zerstört bzw. entzogen werden. Seine Eigenschaften bzw. Marken werden im Laufe des Trauerzugs oder vor seinem Grab offen gelobt. Es gibt keine Kritik oder doppeldeutige Reden, nur Lob oder Schweigen. Überdies wird die einzelne Trauerarbeit der CalonTrauernden nach der Einzigartigkeit des Verstorbenen ausgerichtet: Das Fasten, die Vermeidungen, das Nichttun offenbaren die Anwesenheit und die Konturen der eigenen Toten. Auf intrakultureller Ebene drücken die Calon-Trauernden Gefühl in Bezug auf ihre eigenen Toten mittels ihrer Trauerarbeit aus, die ihrerseits bei ihren Calon-Trauernden als Archái wirken. Somit handeln die eigenen Toten auch als religiöse Autorität bzw. numinose Wesen bei der Gestaltung und Durchführung der einzelnen Trauerarbeiten. Der Tote setzt Zeichen, schickt Botschaften, kommuniziert direkt mit dem Trauernden, manifestiert sich potenziell in Form
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von Omen usw.: Die Attribute und Beschränkungen seiner Erinnerungen fallen mit seinen persönlichen Attributen zusammen, die die Calon-Trauernden in Betracht ziehen, während sie die Modalität ihrer Trauer ausprobieren. Die rituelle Durchführung der Calon-Trauerarbeit wird durch eine Suche auf den Spuren der eigenen Toten realisiert, und diese Spuren sind die Erinnerungen selbst, seien sie materiell oder immateriell. So wie Alfred Gell »works of art, images, icons« als Personen ansieht, sollen meiner Vermutung nach die Erinnerungen deswegen als »sources of, and targets for, social agency« (Gell 1998, 96) betrachtet und behandelt werden. Daher sind für die Calon-Trauernden die Erinnerungen an ihre eigenen Toten Idole, »not depictions, not portraits, but (artefactual) bodies« (ebd., 98). Nach Gell: »[I]f ›appearances‹ of things are material parts of things, then the kind of leverage which one obtains over a person or thing by having access to their image is comparable, or really identical, to the leverage which can be obtained by having access to some physical part of them; especially if we introduce the notion that persons may be ›distributed‹, i. e. all their ›parts‹ are not physically attached, but are distributed around the ambience, like the discarded ›gossamer coats of cicadas‹ in Lucretius’ memorable instance, which are both images and parts of the living creature.« (Ebd., 105-106).
Im Gegensatz zu den Elementen, die aus Juron-Welten herausgezogen, aufgenommen, verwandelt und in die Calon-Welt überführt werden, kommen die Erinnerungen an die eigenen Calon-Toten unmittelbar und ungefiltert von diesen zu ihren eigenen Calon-Trauernden. In diesem Sinne sind sie nicht nur unmitteilbar, sondern auch unteilbar, während sie paradoxerweise zugleich auch verstreut sind. Oder besser gesagt: Unteilbar ist bei den Calen die Bindung zwischen Lebenden und Toten. Die Erinnerungen als Hierophanien sind die einzigen Elemente, aus denen die eigenen Calon-Welten bestehen, die ursprünglich Calon und daher Nichtjuron sind. Ihre Substanz oder Sakralität besteht in gemeinsamen Calon-Erlebnissen bzw. darin, das Leben gemeinsam als Calon zu leben. Diese reine Basis für das Aufbauen der eigenen für sich stehenden CalonWelt ist die Gabe der eigenen Calon-Ahnen als Antivergangenheit: Durch ihre von den Calon-Trauernden gegenwärtig gesetzten Erinnerungen wirken die Calon-Ahnen an dem Aufbau der Calon-Mitwelt mit. Im Zusammenhang damit können die Erinnerungen als Hierophanien ebenfalls als körperliche Erweiterungen des Verstorbenen angesehen werden, die in der Welt verstreut sind: Sie sind die Anwesenheit und affektierenden Teile der Toten selbst unter den Lebenden, die Art und Weise ihres neuen Existenzmodus. Die Erinnerungen sind also nicht nur Manifestierungen der eigenen Toten, sondern Teil von ihnen selbst und da-
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her ebenfalls ihre eigenen Mittel zum Zirkulieren und Agieren unter ihren eigenen Calon-Lebenden. Die Erinnerungen an die eigenen Toten gehören somit zu ihrer Agency, sodass die eigenen Toten Agency in Bezug auf ihre CalonTrauernden ausüben, die sie in Form von Erinnerungen respektieren und behalten. »It is not just that the person represented in an image is ›identified‹ with that image via a purely symbolic or conventional linkage; rather, it is because the agency of the person represented is actually impressed on the representation [also auf die Erinnerungen der CalonAhnen]. I am the cause of the form that my representation takes, I am responsible for it.« (Ebd., 102)
Die Erinnerungen an die eigenen Toten setzen den einzigen nicht aus der JuronWelt kommenden Stoff zusammen, aus dem die eigene Calon-Welt bzw. das Leben des Ciganos besteht. Im Gegensatz zu dem Stoff, der aus der Juron-Welt kommt und der deswegen rituell vercalonisiert werden muss, sind die Erinnerungen also schon im Voraus Calon-Stoff einer Calon-Welt und als solche sollen sie ohne Weiteres aus sentimento bzw. Respekt so gehalten werden, wie sie sind: Sie sollen bzw. dürfen nicht unter den Calen geteilt werden. Aus und mittels Gefühl sollen die Erinnerungen Calon-Erinnerungen bleiben, sodass die Integrität der eigenen Calon-Welt nicht z.B. durch Veränderungen umgeräumt und daher bedroht werden kann. Allerdings impliziert dieses Bewahren der Erinnerungen, wie sie sind, in ihnen das Neue zu suchen und dieses mit Calonität aufzunehmen. Zu den Erinnerungen an die eigenen Toten gehört das Sichbewegen, das Erkundigen und das Ausprobieren, was ihrerseits sowohl die Aufnahme des Neuen als auch die Anpassungsfähigkeit der eigenen Calen unter anderen umschließt. Indem die CalonTrauernden auf die Erinnerungen ihrer eigenen Toten als Calon-Elemente Bezug nehmen, dienen diese als Filter für ihren Umgang mit Juron-Elementen; die lembranças setzen den Calon-Trauernden Grenzen und eröffnen ihnen durch ihre regulatorische Wirkung zugleich Möglichkeiten. Die Erinnerungen an die eigenen Toten bedingen bei den Calon-Trauernden also das Aufnehmen, Verwandeln und Stabilisieren von Juron-Elementen. Die Calen bewahren den kontinuierlichen Fluss ihrer eigenen Toten, indem sie diese ständig neu erfinden. Die Erinnerungen an die eigenen Toten der Calen können deswegen ohne viele Schwierigkeiten aus den Calon-Welten in die der Jurons repositioniert werden. Meistens scheinen sie in der Tat schon dort zu sein, bevor sie von Calon-Trauernden übertragen wurden, sodass die Juron-Welt als Erweiterung der Calon-Welt erscheint, und nicht wie üblich umgekehrt. Die Erinnerungen an die
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eigenen Toten aber – und dadurch die Calen selbst – bleiben nur dann in Freiheit und Ruhe, wenn sie entweder unzugänglich gemacht wurden oder wenn sie sich unter Jurons befinden. Abgesehen davon, dass die Trauernden den Namen ihrer Toten als Erinnerungen – also in ihrem Gedächtnis – tragen, ist der Verstorbene nicht nur überall, seine Calon-Trauernden sind gleichfalls Erinnerungen und daher ebenfalls Indexe von ihm. Damit sind die Calon-Trauernden als direkte, immanente Teile bzw. gegenseitige Erweiterungen ihrer eigenen Verstorbenen anzusehen.
8.3 VON PERSONEN AUS PERSONEN: WIE DIE CALEN DEN TOD AUSTRICKSEN Das Leben, Sterben und Weiterleben einer Calon-Person ist jedes Mal die lokale Realisierung einer ganzen Calon-Welt, die deswegen spezifisch von Calonität geprägt und gekennzeichnet wird. Welt und Person sind nicht voneinander zu trennen. Bei dieser Prägung von Calonität spielt das Benennen und Umbenennen als rituelle Handlung eine besondere Rolle. Mehrere Calen benennen das, was sie in ihrem Alltag machen, als »Cigano«. Virtuell kann alles, was aus JuronWelten stammt, von Calen als »Cigano« etikettiert werden (vgl. auch dazu Williams 2011a, 44-46). Währenddessen haben die Erinnerungen an die eigenen Toten eher einen Eigennamen und fordern zugleich das Schweigen von CalonTrauernden als Voraussetzung für ihre Inklusion in das Leben des Ciganos. Dagegen bleiben die Jurons bei den meisten Calen namenlos und damit als solche ausgeschlossen. Den Juron namenlos zu halten, schien mir einerseits eine der wichtigsten Formen einer Machtumkehrung, die viele Calen im Alltag rituell durchführen, um ihre asymmetrischen Beziehungen zu den meisten von ihren benachbarten, umgebenden Jurons, wenn schon nicht zu überwinden, dann doch wenigstens, um ihre Omnipräsenz zu neutralisieren. Es scheint, dass die Calen dadurch Platz finden, um sich den Jurons gegenüber über die Namenlosigkeit zu verwirklichen. Andererseits ist es für einen Calon nur dann möglich, als Calon zu leben, wenn er einen eigenen Namen innerhalb seiner Calon-Mitwelt hat, während ein CalonTauschkreislauf umgekehrt aus mehreren verknüpften Calon-Namen besteht. In beiden Fällen wirkt die Namenlosigkeit der Jurons als Kontrapunkt zur Bildung der Calon-Person, die sich immer und unabhängig von ihrer Variabilität grundsätzlich als Nichtjuron fraktal realisiert bzw. manifestiert. Nach Wagner:
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»A fractal person is never a unit standing in relation to an aggregate, or an aggregate standing in relation to a unit, but always an entity with relationship integrally implied. Perhaps the most concrete illustration of integral relationship comes from the generalized notion of reproduction and genealogy. People exist reproductively by being ›carried‹ as part of another, and ›carry‹ or engender others by making themselves genealogical or reproductive ›factors‹ of these others. A genealogy is thus an enchainment of people, as indeed persons would be seen to ›bud‹ out of one another in a speeded-up cinematic depiction of human life. Person as human being and person as lineage or clan are equally arbitrary sectionings or identifications of this enchainment, different projections of its fractality. But then enchainment through bodily reproduction is itself merely one of a number of instantiations of integral relationship, which is also manifest, for instance, in the commonality of shared language.« (Wagner 1991, 163)
Nach meiner ethnografischen Erfahrung deute ich die (wahren) Calon-Namen in diesem Sinne ebenfalls als »instantiations of integral relationship«. In der Tat gehören die Calon-Namen (d.h. ihre wahren Namen) der CalonIndividuen sozusagen zu ihrer gemeinsamen Geheimsprache, dem Chibi – selbst wenn die Calon-Namen aus portugiesisch-brasilianischen Wörtern bestehen. Viele Jurons wissen nicht genau, was einige Calen meinen, wenn sie unter sich Wörter wie »Tabak« (Charuto), »Pferd« (Cavalo) oder »Schleife« (Laço) sagen, nämlich, dass die Calen dann von bestimmten Calon-Individuen sprechen. Sie erwähnen sie durch ihre (wahren) Calon-Namen, die nur Resonanz bei denjenigen hervorrufen können, die sie kennen. Die Calon-Trauernden behalten die Calon-Namen in ihrem Umfeld, da sie auch Erinnerungen sind: Sie tragen ihre eigenen Toten als Erinnerungen in ihren eigenen Erinnerungen auf eine reproduzierende Weise, wobei und wofür die wahren Namen zugleich Mittel und Ziel sind. Indem die Calon-Trauernden die Namen ihrer eigenen Toten angemessen vor dem Verschwinden bewahren und sie verehren (also durch den richtigen Calon-Weg des Trauerns: aus sentimento), produzieren sie ihre eigenen CalonAhnen, während sie als Teil von ihren eigenen Toten von diesen reproduziert werden. Jedoch werden die Calon-Namen der eigenen Calon-Ahnen von ihren Calon-Trauernden nicht dem Kontakt von anderen ausgesetzt. Im Gegensatz dazu reden die anderen Ciganos von anderen Toten, aber nicht von ihren eigenen. Irgendwie scheint dieses Schweigen um die (bzw. das Nichtaussprechen der) Namen der eigenen Calon-Toten den Transzendierungsprozess des Verstorbenen (seine Trennung von seinen eigenen trauernden Calon-Lebenden) zu vermeiden. Doch dies wirkt auch als Instrument oder Trick, damit die Calon-Trauernden ihren eigenen Toten bzw. Calon-Ahnen immanent bei sich behalten, indem sie ihn nicht (her)aussprechen.
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Wie dargelegt, werden die wahren (also Calon-)Namen der eigenen Toten (wie von den eigenen Lebenden) von den eigenen Calen nicht in Form schriftlicher Aufzeichnung registriert oder zur falschen Zeit und am falschen Ort ausgesprochen. Dies ist nichts, worüber man mit anderen sprechen soll. Besondere Geschichten – also gewisse Wörter und dadurch besondere Personen bzw. starke Namen – bleiben besser zwischen den Ununterscheidbaren, wie die Verstorbenen unter ihren eigenen Trauernden selbst, während leere Worte der Calon-Welt an die Jurons verschenkt werden können. Wenn also ein Calon Namen und Wörter mit anderen Personen austauscht, indem er sie anderen gegenüber ausspricht, muss er stets genau wissen, bei wem die von ihm ausgetauschten Wörter und Namen landen und verbleiben. Das gilt auch für andere Manifestierungen der Person, wie z.B. Fotografien. Gewissermaßen können die Wörter selbst, und daher die Namen, vor allem als Material angesehen werden (oder wenigstens als analog zu dem, was Jurons als materiell betrachten), weil diese von den Calen als solches behandelt werden. Die Calen nehmen ihr Chibi und daher die Wörter, die dazu gehören, im Wesentlichen als heilig und gefährlich wahr: das Chibi muss mit einer CalonDistinktion sowohl als Weltgeschehen unter den Calen als auch als Tabugegenstand in Bezug auf Jurons im Allgemeinen behandelt werden. Zur Erinnerung: Es handelt sich um eine Calon-Geheimsprache, die an die Jurons nicht weitergegeben werden darf. Im Endeffekt sind es die Lebenden, die, während die Toten auf Chibi reden, gerade durch das Reden sprechen. Woher sonst sollte das Chibi kommen, wenn nicht von (all) den wahren Calen, die nun Ahnen (und daher Calon-Lebende) sind? Das Chibi der Calen kann aufgrund dessen als Gabe der anonymen Calen gedeutet werden. Wie die Erinnerungen an die Calon-Ahnen neutralisiert das Chibi gleichfalls die Doppeldeutigkeit des Alltagslebens des betroffenen Calons. Die stetige Mühe, die Erinnerungen an den Verstorbenen zu meiden, führt paradoxerweise gerade dazu, die stetige Präsenz und den richtigen Platz des Verstorbenen unter den Lebenden aufrechtzuerhalten. Es scheint nur dann möglich, die eigenen Toten bzw. Calon-Ahnen dauerhaft zu meiden, wenn man beständig an sie denkt bzw. ihre Namen bei sich behält. Und ihr richtiger Platz liegt bei ihren eigenen Calon-Lebenden, die unter sich selbst ihre eigenen Toten aus Respekt bzw. sentimento als Lebende ansehen, rufen und behandeln. Beim gegenseitigen Gestalten von den Calon-Trauernden und von ihren Toten als eine distinkte Calon-Person fungieren die Erinnerungen nicht nur als Brücke zwischen diesen beiden (also zwischen Unheiligem und Heiligem), sondern sie spielen, wie gezeigt, auch als verkörperte Agency (vgl. Gell 1998) der eigenen Toten eine zentrale Rolle.
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8.3.1 Trauer als Arbeit Die rituelle Verwandlung der Realitätswahrnehmung im Kontext von Sterben und Tod impliziert die erneuernde Produktion einer Welt in jeder Kultur mittels geeigneter Trauerrituale, die den Praktizierenden bzw. Ritualisten (ob als Trauerndem oder irgendeiner religiösen Autorität) zur Verfügung stehen; unabhängig davon, ob diese Praktizierenden bzw. Ritualisten bewusst oder unbewusst nach so einem Ziel (der Verwandlung) suchen. Hier folge ich Edmund Leach, insoweit er als allgemeine Regel annimmt, »that the social anthropologist is never justified in interpreting action as unambiguously directed towards any one particular end« (Leach 2000 [1954], 224). Insbesondere weil zum Verlauf dieser Verwandlungsarbeit, die durch Rituale ermöglicht wird, häufig Obviation (vgl. Wagner 2010, x-xi, 103-156) gehört, geht es hier weniger um die sogenannte Bedeutungslosigkeit von Ritualen (vgl. Staal 1979; Michaels 2013). Eher handelt es sich um die Ausdrücke, die individuelle Trauerarbeiten als Weltgeschehen (bzw. liturgisches Handeln) annehmen, und darum, inwieweit diese Trauerarbeit dadurch als rituell produzierende Tätigkeit (vgl. Bargatzky 2007) mit dem Leben ihrer Praktizierenden und der Calen im Allgemeinen zusammenfällt. Bei seinem Versuch, »to replace the end-directed or teleonomic conception of the life-process with a recognition of life’s capacity continually to overtake the destinations that are thrown up in its course« (Ingold 2011, 3-4), charakterisiert Ingold Produktion nicht bloß als eine Tätigkeit mit der Intention, eine Finalität bzw. klare Absicht zu erreichen, sondern eher als offenen Vorgang, der »not confined within the finalities of any particular project« ist (ebd., 6).4 Um sein Argument zum weltoffenen (oder lebensoffenen) bzw. entfesselten Charakter des Produktionsprozesses als nicht beschränkt auf eine spezifische, rigide, transzendentale Absicht zu bekräftigen, erwähnt Ingold das, was Marx & Engels in der Deutschen Ideologie formulierten: »Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren.« (Marx & Engels 1962 [1845/1846], 21). Dabei hebt Ingold insbesondere das Was und das Wie der Produktion hervor (apud Ingold 2011, 6). Statt durch eine angebliche, kontinuierliche Intention bestimmt, sieht Ingold Produktion eher als von unkontinuierlicher Aufmerksamkeit geführt. Der produzierende Vorgang »does not start with an image and finish with an object
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Sartre hat Ähnliches behauptet, indem er meinte, dass jedes Projekt zum Scheitern bestimmt ist, sobald es entworfen ist (Lévy & Sartre 1991 [1980]).
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but carries on through, without beginning or end, punctuated – rather than initiated or terminated – by the forms, whether mental or ideal, that it sequentially brings into being« (ebd.). In diesem Sinne ahnt Ingold: »Perhaps, […] the essence of production lies as much or more in the attentional quality of the action – that is, in its attunement and responsiveness to the task as it unfolds – and in its developmental effects on the producer [im Fall der vorliegenden Abhandlung: den Trauernden], as in any images or representations of ends to be achieved that may be held up before it.« (Ebd.)
Daher schlug er übrigens vor, das Verb »produzieren« (to produce) am Beispiel von Verben wie »aufwachsen« (to grow) und »wohnen« (to dwell) und im Gegensatz zu Verben wie »planen« (to plan), »machen« (to make) und »bauen« (to build) als intransitive Verben zu verwenden. Im Kontext von Tod berühren insofern die entwickelnden Auswirkungen einer Trauerarbeit als produzierender Vorgang sowohl den Toten als auch den Trauernden selbst: Beide erfahren als Personen eine Veränderung; beide ändern sich gegenseitig. Nach Ferrari (vgl. 2010, 247-256) bezeichnen mehrere Calen ihre Trauerarbeit als »Arbeit«. Das ist es, was sie meinen, wenn sie angeben, dass sie oder jemand anderer »in der Arbeit« ist. Wenn man Trauer bzw. Trauerarbeit (vgl. Derrida 2001) als Arbeit im Sinne von Marx & Engels (1962 [1845/1846]) versteht, ist es möglich, Ingolds Denken wie folgt zu interpretieren: Wenn ein Trauernder seine Trauerarbeit leistet, sind »not only the materials [d.h. der Tote und seine Erweiterungen und Manifestierungen in Form von Erinnerungen] with which he works that are transformed. The worker [der Trauernde], too, is changed through the [rituell-religiöse] experience [bzw. durch die Erfahrung des Verlustes und des Calon-Trauerns]. Latent potentialities of action and perception are developed [Die Calon-Trauernden sehen die Erinnerungen an ihren eigenen Toten als heilig, weil diese ihre Präsenz und Agency erneut beweisen]. He becomes, even if ever so slightly, a different person [eine Calon-Person].« (Ingold 2011, 6)
Der Calon-Trauernde schenkt im Verlauf seiner Trauerarbeit demjenigen Aufmerksamkeit (attention), um den er trauert, und zwar immer dann, wenn er an ihn denkt. Aufmerksamkeit ergibt sich also im Laufe des Sicherinnerns bzw. Vergessens als Kultus (vgl. Bargatzky 2007) an sich selbst nicht kontinuierlich, sondern in interkalierter Weise (punctuated, intercalated) und ihre Intensität
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wird durch Widmung bestimmt.5 Als eine Arbeit (in der Calon-Mitwelt als Welthaus) findet die Trauer in Form von Widmung und mittels der darauf bezogenen Rituale und folglich Verwandlungen interpunktiert statt, ohne unbedingt ein festgelegtes Ziel, einen Ausgangs- und einen Ankunftspunkt zu haben. Die Calon-Trauernden lernen und versetzen sich damit in eine Lage, die es ihnen ermöglicht, die Erinnerungen an ihre eigenen Toten zu erkennen und ihnen in angemessener Weise Gefühl zu gewähren. Sie verändern sich dadurch, indem sie von denjenigen Erinnerungen kontaminiert werden, die sie als heilig behandeln, und daher werden sie selbst heiliger als die anderen. Was wird also produziert, wenn der Trauernde Trauerarbeit leistet? Was entsteht durch die einzelne Trauerarbeit mehrerer Calen? Indem die Calen den Tod durch ihre Trauerarbeit in Bezug auf ihre eigenen Toten kulturell domestizieren, werden sie selbst kulturell gezüchtigt. Ich argumentiere diesbezüglich: Dadurch, dass die Calon-Lebenden versuchen, ihre Bindungen zu ihren eigenen Toten durch ihren Ahnendienst als unberührbar zu bewahren, verändern sie sich selbst als Person. Wie bei Manusch und Sinti trifft die Trauerarbeit vieler Calen vor allem ihre eigenen Lebensentwürfe, die immer auch Auswirkungen auf das Leben von anderen haben. Dieser Vorgang geschieht innerhalb einer Realität, die immer von weiteren radikalen, unerwarteten Änderungen bedroht ist: Die Trauerarbeit, die die Calen im Verborgenen durchführen, wird durch ihre Offenheit als Produktionsprozess den Welten anderer Lebender und jeweiligen Geschichten ausgesetzt. Indem die Calen ihre eigenen unersetzbaren Verstorbenen in private Calen (bzw. Calon-Ahnen) umwandeln und sich selbst dadurch gleichfalls als CalonPerson (also als wertvolle, kräftige Calen unter anderen Calen) behaupten, ohne auf ihre Integrität (Zusammenhalt bzw. Immanenz) zu verzichten, die von den
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In der Einführung zu Derridas Buch The Work of Mourning erklären Brault & Nass, die Herausgeber, Folgendes: »Derrida suggests that it is only ›in us‹ that the dead may speak, that it is only by speaking of or as the dead that we can keep them alive. ›To keep alive, within oneself,‹ asks Derrida, ›is this the best sign of fidelity?‹ […], and he seems to answer in the affirmative, so long as we understand that this ›within oneself‹ is always already a response to the friend we mourn. ›Each time,‹ writes Derrida, we must acknowledge ›our friend to be gone forever, irremediably absent… for it would be unfaithful to delude oneself into believing that the other living in us is living in himself […]. Fidelity thus consists in mourning, and mourning – at least in a first moment – consists in interiorizing the other and recognizing that if we are to give the dead anything it can now be only in us, the living.‹« (Brault & Naas 2001, 9)
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Juron-Welten durch transzendierende Kräfte und anderen Calen durch Vergessenheit beständig bedroht wird, ermöglichen sie es, ihre eigene Calon-Welt zu etablieren. In diesem Sinne denken sie nicht beständig an ihre Toten, sondern sie sind Teil von ihnen, und Teil von ihnen zu sein heißt auch, sie an sich selbst als solche anzuerkennen. Die Calen tricksen den Tod aus, indem sie sich von ihren eigenen Toten als Zukunftmacher erschaffen bzw. koproduzieren lassen. Der Calon-Lebende erscheint dann als kulturelles Werk seines eigenen Calon-Toten.
8.4 ZUR GETEILTEN CALON-INTEGRITÄT Die Umgangsmodi bzw. Praktiken, die Menschen als Lebende überall entwickeln, um ihre Toten vermenschlicht aufzunehmen,6 bestehen großenteils darin, mehrere Elemente ihrer eigenen Umgebungen durch selektive Einordnungen rituell zu arrangieren und miteinander zusammenzufügen. Diese Elemente sind vielfältig, von den Ausdrücken und Sensibilitäten lokaler emotionaler Repertoires bis hin zu allen existierenden Entitäten und Symbolen über die Dinge, durch die sich eine gewisse Umwelt bezeichnen lässt. Dieses selektive Zusammenfügen verfügbarer Elemente und seine Entfaltung nehmen unter bestimmten Umständen und angesichts der Machtverhältnisse während eines gewissen Zeitraums die stabile Form von Trauerritualen an. Zusammengenommen spiegeln Trauerrituale einerseits die Realitäten derjenigen wider, die daran teilnehmen, während ihre Entfaltung andererseits eine andere erweiterte Welt als aquarellartig ontoepistemologische Lebensassemblage zu ermöglichen scheint. In diesem Sinne zeigte ich im Verlauf der vorliegenden Studie, wie sich bei den Calen als Minderheiten im Nordosten Brasiliens im Kontext von Sterben und Tod wesentliche Aspekte sowohl der Calon-Trauerrituale als auch ihrer alltäglichen Leben als stetige Suche und Flucht, Vergemeinschaftung und Abgrenzung, allerdings hauptsächlich als kreativ-rituelle Assimilation und Rekonstruktion von Differenz gegenseitig entblößen, übersetzen und ko-konstruieren. Die Umgangsweisen der Calen mit einem zwischenmenschlichen Verlust implizieren – wie in mehreren Bereichen ihres Lebens als Minderheit unter Nichtcalen – eine differenzierende symbolische Konstruktion einer eigenen Calon-Welt. Diese entfaltet sich also aus der Aneignung und Verwandlung vielfältiger Elemente der umgebenden Juron-Welt als Gegenwelt, und doch strebt sie, gerade deswegen,
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D.h. die Suche nach passenden Antworten und einer kohärenten Verhaltensweise, um mit dem Tod und den Toten umgehen zu können.
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danach, für sich selbst zu stehen. Aufgrund dessen ging es in meiner Forschung nicht nur darum zu fragen, wie die Calen mit dem Tod und den Toten (ihren und denen von anderen) umgehen, sondern auch darum, wie sich die Hinterbliebenen angesichts eines Todes in Bezug zueinander verhalten. Das sind zwei Aspekte derselben Fragestellung, die voneinander so abhängig sind, wie sich Leben und Tod ohne Bezug aufeinander nicht definieren lassen. Während die Trennung zwischen beiden für die meisten Jurons heutzutage oft ein selbstverständlicher Imperativ ist, scheint das bei den Calen, die ich kennenlernte, nicht unbedingt der Fall zu sein. Die Jurons bemühen sich, eine moralisch angebrachte Verabschiedung von den Toten im Allgemeinen mittels ihrer Trauerrituale durchzuführen, welche auch die Toten der Calen als Minderheiten einschließen und von den trauernden Calen (anderen Ciganos) nicht das Vergessen jedes verstorbenen Ciganos verlangen. Hingegen sorgen die Calon-Trauernden eher dafür, dass ihre eigenen Toten bei ihnen weiterverbleiben. Die Art und Weise wie die Calon-Trauernden das schaffen, besteht grundsätzlich darin, die Positionierungen zwischen Lebenden und Toten in der Juron-Welt umzukehren. Diese Umkehrung fällt mit der Umkehrung der Positionierungen zwischen Calen (als Lebenden) und Jurons (als Toten) selbst zusammen. Indem die Calen, die einander gehören, sich mutuell vor und nach einem Tod aus sentimento respektieren, halten sie gegenseitig am Leben des Ciganos fest. Durch ihre Trauerarbeit agglutinieren die Calon-Trauernden gerade die in den Juron-Welten verstreuten und teils vergessenen Erinnerungen von bzw. an ihren eigenen Toten, die sich unwahrnehmbar inmitten unendlicher Elemente befinden. Wie alle Elemente, die an den Trauerritualen teilnehmen, besitzen auch die Erinnerungen Agency, sodass die von ihnen selbst agglutinierten Erinnerungen bzw. ihre eigenen Toten sie selbst als wahre Calen repositionieren, wenn die Calon-Trauernden sie agglutinieren. Beide Prozesse, Agglutination und Repositionierung, wirken wie die zwei Hände derselben fraktalen Calon-Person, welche eine gemeinsame Calon-Welt inmitten von anderen weiterwebt. Durch diesen Tausch zwischen den Calon-Trauernden und ihren eigenen Toten bzw. Erinnerungen wird die Integrität sowohl von den Trauernden als auch von den Betrauerten inmitten Nichttrauernder als geteilt verwirklicht. Kein anderer (als Nichttrauernder) kann einen ähnlich gearteten Tausch leisten, insofern er nicht zusammen mit dem verehrten Calon-Ahnen (bzw. Vorbleibenden) ausreichend lange aufgewachsen ist, um die dafür notwendig affektive Erkenntnis und das orientierende Gefühl zu entwickeln. Das Gefühl des Ciganos erscheint einerseits als Ausdruck des Kompromisses, welchen die Calon-Trauernden mit ihren eigenen Toten durch ein fortwäh-
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rendes Andenken (den Ahnendienst) als Ausdruck eines stetigen, atemporalen und daher allumfassenden, jedoch nicht bedingungslosen, Austausches realisieren können. Gleichzeitig drückt sentimento den Kompromiss der Calen (als Calen) mit anderen Calen aus – d.h. ihre Abmachung, die eigenen Toten öffentlich nicht zu ehren –, obwohl es üblicherweise zur Konstitution einer Cigano-Person gehört, Kompromisse nur mit denjenigen einzugehen und einzuhalten, mit denen man zusammengeht. In Bezug auf die umgebenden Jurons erscheint sentimento als eine widersprüchliche Cigano-Handlung: Während die Calen Emotionen in Bezug auf ihre Toten stark ausdrücken, beeilen sie sich zugleich, ihn zu vergessen. Auf jeden Fall versuchen andere – d.h. Personen, die an dem Gefühl nicht beteiligt sind –, die Trauerrituale der Calon-Trauernden zu regulieren. Der Himmel oder selbst das Nichts, zu dem die meisten Toten der Jurons – oder die meisten Jurons als Tote – zu gehen wünschen, und das Jenseits als eine vom Leben getrennte Dimension sind nicht weniger als die Schule, das Krankenhaus, die Grammatik, das Finanzsystem, das Gefängnis und der Friedhof, eben alle Juron-Institutionen. Wieso würden die Ciganos wollen, dass ihre eigenen Toten dort im Himmel bzw. woanders von ihnen getrennt und auf ewig eingesperrt bleiben, wenn sie als Ciganos – also zusammen mit ihren eigenen Calen – frei umhergehen können? Der Himmel wäre für einen Calon-Ahnen in diesem Sinne ähnlich wie diejenigen Juron-Wohnorte, die nicht an einem Verkehrsknotenpunkt liegen: »erstickend«. Indem die Calen ihre eigenen Toten durch ihre geeigneten Trauerrituale als Cigano-Personen behandeln – also als würdige Menschen, welche ihr eigenes Leben bis in ihren Alltag weiter transformieren –, unterstützen ihre eigenen Calon-Ahnen sie darin, sich als distinkte Personen in Bezug auf die namenlosen Jurons und andere Ciganos zu verwirklichen. Damit die Calen weder von Jurons noch von anderen Ciganos weiterhin gestört werden, können sie nur beiden gegenüber so handeln, als ob ihre eigenen Toten tatsächlich entweder im Jenseits oder ausgelöscht wären. So erhalten die Calon-Trauernden ihre Ruhe und den Respekt, geradeso wie ihre eigenen Toten selbst. Währenddessen sind ihre eigenen Calon-Ahnen als im Alltag verbleibende und mit ihnen lebende Personen und zugleich als Teil der Calon-Trauernden selbst dort pulsierend zu finden, wo jede ihrer Erinnerungen liegt: nämlich überall und nirgendwo.
Nachwort
Wer das Verhältnis gesellschaftlicher Minderheiten zur dominanten Mehrheit nur als Asymmetrie kennt, die von ausgrenzenden Stereotypen und Gewalt nicht ausschließenden Gängeleien von oben nach unten geprägt ist, wird die Studie Márcio Vilars über brasilianische Zigeuner als Offenbarung empfinden. Sie widerspricht dem herrschenden Diskurs der viktimologischen Fixierung in vielfacher Hinsicht und darf daher eine Bedeutung für sich in Anspruch nehmen, die die Fachgrenzen von Tsiganologie, Ethnologie oder Kultur- und Sozialanthropologie nachvollziehbar überschreitet. Doch auch für die Fachwelt selbst, die angesichts von Globalisierung und Weltmigration in ihren kulturrelativistischen Fundamenten erschüttert wird, zeigt der Autor, dass eine unvoreingenommene Thanatologie immer noch als Königsweg zum tieferen Verständnis kultureller Gemeinschaften taugt. Der spezifische Umgang mit dem Tod berührt nicht nur den Kern jeder Lebensphilosophie, er eignet sich auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext als sicheres Mittel zur kollektiven Abgrenzung und Eigenprofilierung. Es ist das Verdienst der Tsiganologen Patrick Williams und Elisabeth Tauber, die Bedeutung der »eigenen Toten« bei Zigeunergruppen Europas entdeckt und im Sinne einer besonderen Vergemeinschaftung erläutert zu haben. Márcio Vilars Untersuchungen in Brasilien verdanken diesen Pionierarbeiten sehr viel, dasselbe gilt den über viele Jahre geführten Diskussionen innerhalb des Forum Tsiganologische Forschung am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig. Hauptthema von Vilars Darstellung sind die Unterschiede im Trauerverhalten zwischen Zigeunern und Nichtzigeunern. Zwar gilt die Funktion des Rituals im Sinne einer Domestizierung des Unkontrollierbaren auf beiden Seiten, die hohe Relevanz der psychosozialen Anstrengung bietet aber zugleich die Gelegenheit zur Abgrenzung im Sinne einer Kontrastkultur (vgl. Streck 2003a). Das Problem der konstruierten Differenz durchzieht viele tsiganologische Untersuchungen, auch die im »Westen« wenig bekannte Literatur über brasilianische Ciganos, die erst spät sich zu einer Art Schule verfestigt zu haben scheint. Beobachtete Differenzierung über Trauerrituale ist aber auch im multiethnischen Kon-
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text Brasiliens eher Neuland. Der Autor nutzt das in vielen Traditionen der Ethnologie angelegte relationale Kulturverständnis, das den konkurrierenden Konzepten von Inselkulturen und konstanten Traditionswegen oft überlegen ist und kulturelle Kreationen immer auch als Antwort auf soziale Herausforderungen begreift. »Selektive Hybridität« zeichnet das Leben in geteilten Räumen und Zwischenräumen aus, und die Abgrenzung besteht hauptsächlich aus partiellen Anleihen und ihrem souveränen Gebrauch. Márcio Vilar hat sich auf einer Forschungsreise 2008 einen Überblick über die sehr verschiedenen Zigeunergruppen Brasiliens verschafft und sich dann für stationäre Untersuchungen in Rio Grande do Norte (Pedrosa) und im Süden Bahias entschieden. In beiden Regionen distanzierten sich die Calen (Ciganos, Zigeuner) von den Juron (Mehrheitlern), aber nicht auf dieselbe Weise. Eine fast noch intensivere Qualität hat, wie die Studie zeigt, die Abgrenzung von anderen Zigeunergruppen, weil diese in die alltäglichen Konfliktfelder und hartnäckigen Racheketten einbezogen sein können. Von Juron kann man sich sprachlich (durch das »Para-Romani« Chibi) und räumlich (durch Flucht) separieren, von rivalisierenden Calen aber nicht so ohne weiteres. Die ständige »Fluchtbereitschaft« der Calen gründet, wie Vilar ausführt, damit eher in Konflikten zwischen den Minderheiten als im Gegensatz zur Mehrheitsbevölkerung. Aus der Perspektive der Juron sind die Calen-Gemeinschaften Randgruppen, die zwischen den Städten und den Latifundien, bzw. Industriearealen leben. Das acampamento Cigano ist aus der Binnensicht, die eine ethnologische Feldforschung über mikroperspektivische Beobachtung immer nachzuvollziehen versucht, aber Weltzentrum, in dem vor allem über exzessive Festlichkeiten Selbstbehauptung demonstriert wird. Dazu gehört insbesondere das leidenschaftliche Bekenntnis zum Gefühlsüberschuss in Trauer wie in Freude – ein Markenzeichen der Zigeunerkultur weltweit. Die in Brasilien mit dem Begriff sentimento zusammengefasste Seelenlage voll emotionaler Wahrnehmung und Ausdruck schließt die allgegenwärtige Bedrohung durch Tötung mit ein. Da diese Seite des bewusst kultivierten Gefühlslebens viel mit Schweigen verbunden ist, war der Weg zum Verständnis für den Forscher in besonderer Weise blockiert. Neben sentimento erwies sich conhecimento (Erkenntnis, Erfahrung, Einsicht) als Schlüsselbegriff dieses spezifischen Selbstverständnisses mit seinen ritualistischen und ethischen Implikationen. Die eigenen Toten, deren Namen nicht ausgesprochen werden dürfen, erwiesen sich als Klammer der kleinen Fahr- und Siedlergemeinschaften. Tote gelten als »reine Calen«, weil sie nicht mehr durch Juron und deren »Arbeit« verunreinigt werden können. Damit kommt ihnen eine Vorbildfunktion zu, die sich in den Festen wie Natal Cigano (Zigeunerweihnachten) in Pedrosa oder casamento
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Cigano (Zigeunerhochzeit) in Süd-Bahia auslebt – vor allem in der selbstverständlichen Teilnahme der nicht im Streit liegenden »Ununterscheidbaren«. Zu fremden Menschen (Zigeuner oder Nichtzigeuner) bestehen allenfalls Geschäftsbeziehungen. Und doch auch diese stellten sich für den Forscher uneinheitlich dar, die verschiedenen Außenbeziehungen der Sozialeinheiten ließen sich nur auf einem weiten Spektrum zwischen Übervorteilung und Unterordnung lokalisieren: »Entweder kommt man zuvor oder man ahmt nach, je nach Zugehörigkeit und entsprechendem Kompromissgrad.« (S. 188) Bedeutsam erscheint hier der weit verbreitete Stolz aufs Reisen überall in Brasilien; dieses weite Raumgefühl zeigte sich in der Forschung als wesentlicher Bestandteil der »Calonität«, die auf überregionale Vernetzung angewiesen ist. Die der Juron-Welt zu verdankenden Mobilitätserleichterungen (Auto, Flugzeug) und Fürsorgeunterstützungen (durch Pastoral dos Nomades und Seppir) werden dabei verschwiegen. Die größte Überraschung für den Autor wie für den Leser ergab zweifelsohne die genauere Untersuchung des Verhältnisses der Calen zu ihren Toten: Das Bindeglied zwischen Lebenden und Toten sind die Neugeborenen und Kinder, die finado, defunto oder morto gerufen werden. Es ist dieses Bündnis zwischen Erwachsenen, Kindern und Toten, das gegen die immer drohende Vereinnahmung (oder »Integration«) durch die hegemoniale Juron-Kultur hilft. Kinder und Tote bildeten das »passive« Kapital der Zigeunergemeinschaft, das unaussprechbar und unverhandelbar ist, weil beide nicht korrumpiert und zu keinen Kompromissen mit der Juron-Kultur bereit sind. Deswegen entlässt man, wie der Autor erklärt, seine Toten nicht in die Transzendenz, sondern hält sie in der Immanenz. Sie garantieren die zigeunerische Unabhängigkeit, wie die Kinder, die ohne Vorschriften und Befehle aufwachsend überall stören, aber als Verkörperungen der Unbegrenztheit Verehrung verdienen (und deswegen schon früh Auto fahren und um Geld spielen dürfen). Die Untersuchung der Trauerrituale ergab aber auch, dass die Ciganos zunächst in die Ritualistik der Juron zurückkehren müssen. Die Beförderung vom Diesseits ins Jenseits ist von den Übermächten Kirche und Mehrheitsgesellschaft vorgeschrieben (Totenmesse nach 7 und nach 30 Tagen, dann endgültiger Abschied). Die Calen haben keine eigenen Rituale, die sie gegen diese umfassende Dominanz setzen könnten. Was sie als Eigenleistung beisteuern, ist das rasche Vergessen, das wie eine Reinigung vom Verstorbenen aussieht. Die Calen schreiben auf das Holzkreuz nur den offiziellen Namen des Toten, nicht den Calon-Namen, der auch nicht genannt werden darf: »Das, was auf dem Grab nicht gezeigt wird, ist das Wahrste; und damit das Ewige, das Heilige – der wahre Name bzw. die Person selbst« (S. 259), schlussfolgert Márcio Vilar. Der JuronTeil der Toten wird den Juron zurückgegeben, die Calon-Person, manifest in den
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intern gebrauchten Namen, bleibt der Gemeinschaft. Die Vielnamigkeit der »multikulturellen« Zigeuner spiegelt ihre Vielseitigkeit und Wendigkeit: »Die verschiedenen Namen eines Ciganos entsprechen den Tauschkreisläufen und den jeweiligen Moralitäten.« (S. 262) Das Begräbnis, so das Resüme von Vilars Untersuchung, stellt sich für die Calen als Reinigungsvorgang dar; die Kompromisse mit der Juron-Kultur wie der offizielle Namen werden vom Verstorbenen abgestreift. Das vorgeschriebene Totenritual kann dabei von emotionalen Exzessen unterbrochen werden, die Habe des Verstorbenen werden ostentativ verbrannt, sein Name wird tabuisiert, seine Erinnerung radikal gelöscht. Wertvolle Hinterlassenschaften wie Fernseher oder Mobiltelefon können auch Juron-Nachbarn geschenkt werden. Selbst die Leiche gilt als der sozialen Umwelt geschenkt, weil man schnell wegzieht. Die Frauen schneiden sich die Haare ab, die Männer rasieren sich nicht. Trotzdem werden Riesenfeste wie an Weihnachten und bei Hochzeiten veranstaltet. Der Autor spricht von »Cigano Potlatschs«, also Vergeudungsorgien, wie die Ethnologie sie vor allem aus indianischen Kontexten kennt. Indem die Calen sich spektakulär von ihrem Toten trennen, vereinnahmen sie ihn heimlich. Der Ahnendienst der brasilianischen Zigeuner ist ein Geheimkult. Er erlaubt immer währenden Verkehr mit den Toten, während die Dominanzkultur Vergessen fordert. Schließlich hat diese herausragende und immer wieder überraschende Studie auch noch weitere »Widersprüchlichkeiten« der Calon-Thanatologie zutage gefördert. Sie gehören alle zu jener »selektiven Hybridität«, also dem eingeübten Nebeneinander von Anpassung und Ablehnung, das das ambivalente Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit charakterisiert. Márcio Vilar spricht von »ritueller Calonisierung« im Trauerablauf, womit aus Juron-Sicht wohl kaum mehr als eine Störung, Vernachlässigung oder gar Karikierung der vorgeschriebenen Riten und erwarteten Einstellungen zu verstehen ist. Für den Autor ist damit aber eine Kritik an gängigen Ritualtheorien der Ethnologie begründet, die den Festablauf als Kontrast zum Alltagsgeschehen begreift. Mit Bargatzky (2007) sieht Vilar im Ritual weder Staals Bedeutungslosigkeit (1979) noch Durkheims Heiligkeit (1981 [1912]), sondern einen produktiven Akt, der Welt, bzw. Teilwelten schafft: »Die Calen tricksen den Tod aus, indem sie sich von ihren eigenen Toten erschaffen bzw. koproduzieren lassen. Der Calon-Lebende erscheint dann als ein kulturelles Werk seines eigenen Calon-Toten.« (S. 304f.) Durch die immer neu gesuchte Identifizierung mit den Toten, die als eigentliche Akteure die Lebenden lenken, ohne dass dieses Abhängigkeitsverhältnis diskursiver Gegenstand werden kann, ziehen die Calon den definitiven Graben zwischen sich und der Mehrheitsgesellschaft. Deswegen teilen sie mit dieser
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auch nicht den Jenseitsglauben, da sie im »Himmel« nicht schon wieder von den Juron majorisiert werden wollen. Der Tod gilt ihnen als Befreiung von den Zwängen, die die dominanten Kulturvorschriften ihnen auferlegen. Tote sind bereits Befreite und damit Geleiter bei den notwendigen Kompromissen und Garanten der Verheißung, einst von diesen Auflagen einer wohl immer asymmetrischen Beziehung erlöst zu sein. Márcio Vilars Deutung dieser komplexen Thanatologie geht sogar so weit, dass nach ihm die Calen das bei den Jurons gültige Verhältnis von Lebenden und Toten umkehren: »Was nach dem Verständnis der Jurons als Tote und Lebende bezeichnet wird, wird bei den Calen umgekehrt: Die Lebenden sind die Toten, während man die Toten – vor allem die eigenen – aus Gefühl als lebendig behandelt.« (S. 287) Die Ahnen werden damit zum Träger der lebendigen Kultur, die Lebenden haben ihnen zu folgen. Wer stirbt, wird zur Archái – ein Begriff, den Bargatzky von C.G. Jung übernommen hat und mit dem ein Archetyp als – modern gesprochen – agency gemeint ist. Diese mit jedem Todesfall erneuerte Re-Orientierung an den Ahnen geschieht aber im Geheimen, ist Teil der verborgenen Kultur (vgl. Streck 2007a), die nicht nach außen gezeigt und erklärt wird. Wie die Geheimsprache Chibi gehört die Zwiesprache mit Toten zum unberührbaren Tabubezirk einer Kultur, auch Teilkultur, Sinndomäne oder Subkultur. Es ist das große Verdienst des Autors, in diese unsichtbare Region der brasilianischen Zigeunerkultur sich Einblick verschafft zu haben, und es zeugt von der Großzügigkeit seiner Gastgeber, ihm nach langer Einarbeitungszeit und beharrlichem Vertrauenserwerb solchen Einblick gewährt zu haben. Die in diesem spannenden Buch ausgebreitete Geheimwelt brasilianischer Zigeuner kann als Sondervariante der Tod-Lebensgemeinschaft begriffen werden, wie sie die Ethnologie bei vielen Ethnien, so z.B. Leo Frobenius (vgl. 1913) bei afrikanischen Stammesgesellschaften feststellte. Diese bisher bekannt gemachten Hauptzeugen des weltweit verbreiteten Manismus leben aber oft in der kulturellenIsolation, an den Inselbergen des Sudangürtels, in Rückzugsgebieten, abseits von den Hauptströmen der Zivilisations- und Religionsgeschichte, während Zigeuner immer Teil einer heterogenen Großgesellschaft sind und mit dieser in ständiger Auseinandersetzung leben. Martin Fotta hat vor wenigen Jahren mit Erfolg versucht, dieses asymmetrische Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit auf dem Gebiet der Geldwirtschaft – als »Bankers of the Backland« (2012b) – oder als Geldverleiher im Informellen Sektor Brasiliens sichtbar zu machen. Mit Márcio Vilars Buch ist eine thanatologische und sozialpsychologische, ja auch pädagogische Ebene beleuchtet worden, die im Kontext der dominanten Konzepte der modernen Wissenschaft und heutigen »Weltgesellschaft« als Herausforderung empfunden werden muss. Tsiganologie und Ethnologie lie-
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gen mit ihren Befunden oft quer zur konsensuellen Hauptströmung des öffentlichen Bewusstseins mit ihrer politisch begründeten »Weltethik«. Immer häufiger ziehen es Forscher vor, unbequeme Ergebnisse deswegen geheim zu halten oder umzudeuten; oft scheitern sie aber einfach an der Vielschichtigkeit der untersuchten Wirklichkeit. Márcio Vilar ist es gelungen, das komplexe Verhältnis von Offizialkultur und Insiderkultur am ebenso komplexen Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitengruppen zu beschreiben. Das bis 2010 an der Universität Leipzig etablierte Forum Tsiganologische Forschung hat mit Vilars Arbeit einen weiteren Pfeiler erhalten, der den einschlägigen Untersuchungen über die Verhältnisse auf dem Balkan, im Nahen Osten, oder in Mittelasien (s. Jacobs & Ries 2008; Jacobs & Jacobs 2011; Günther 2016; Schwanke 2018) ebenbürtig zur Seite gestellt werden kann. Der Leitbegriff dieser auf zigeunerische Gruppen fokussierten Ethnologie lautet »Souveränität«, die auch unter widrigen Umständen behauptet wird. Mit Márcio Vilars Studie ist ein passender Schlüssel zum Verstehen solcher Vielschichtigkeiten gefunden worden. Es bleibt zu hoffen, dass man ihn auch richtig gebraucht.
Bernhard Streck
Homberg an der Ohm, 27.07.2018
Literatur und Filmografie
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Vollständiges Inhaltsverzeichnis
Teil I: Einleitung 1
Ein undomestiziertes Image Oder: Vor anderen Augen sterben | 19
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Von einer Calon-Distinktion | 19 Calon, Cigano, Zigeuner und ihre Gegensätze | 23 Cigano-Bestattungsbräuche als Juron-Problem | 27 »Das Grab des Ciganos«: Von der Namenlosigkeit | 37 »Das Leben des Ciganos«: Eine ethnografische Theorie | 46 Die Struktur dieses Buches | 51
Teil II: Begegnungen, Verschiebungen, Eingrenzungen
2.3
Theoretische Subsidien | 59 Trauerrituale, Welterschaffung, kultureller Kontakt und Austausch | 59 Zum Tod des anderen in Brasilien: Überblick über riskante Ordnungen | 65 Zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit | 71
3
Eintritt ins Feld | 79
3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
Zur Erfahrung der teilnehmenden Beobachtung | 79 Suchen und gefunden werden | 80 Von den Calen als Lehrer | 85 Zum Entwerfen einer Vergleichsstudie im Laufe ihrer Durchführung | 87 Grundaspekte der sozialen Organisationen von Ciganos in Rio Grande do Norte (RN) und Bahia (BA) | 92 Von der gegenseitigen Anerkennung zwischen Calen | 92 Von anderen Mächten | 96 Blutrache und Tabu als organisatorische Praktiken | 100 Juron-Blicke, Calon-Haltungen: Kontrastkultur und Unsichtbarkeit | 105 Exkurs: Ein Juron-Mythos der Akkulturation von Ciganos | 111
4
Von Grenzen als Heim | 119
4.1
Annäherung an ein Cigano-Ethos: Versuch eines Perspektivwechsels | 119
2
2.1 2.2
334 | Calon-Welten
4.2 4.3
Sentimento als Weg: Zur Bildung der Cigano-Person/-Welt | 125 Bestattungsbräuche und Trauerarbeit: Motivationen, Positionierungen, Wechselwirkungen | 133
Teil III: Leben, Sterben und Weiterleben 5
»Die Erkenntnis haben«, »in Gefühl sein« Tauschkreisläufe, Moralitäten und Zeitlichkeiten | 143
5.1 Zur Calon-Erkenntnis | 143 5.2 Entlang der Verkehrsknotenpunkte inkommensurabler Welten | 144 5.3 Die Welt der Ununterscheidbaren | 149 5.3.1 Exkurs: »Jaimpem« | 156 5.4 Die Welten der anderen und entsprechende Tauschkreisläufe | 159 5.4.1 Die Jurons | 160 5.4.1.1 Vom Begrüßen und Einladen als zwei der Calon-Dinge, die keine Oberfläche haben | 166 5.4.2 Die anderen Calen | 169 5.4.2.1 Grenzerkennung zwischen Calon-Tauschkreisläufen | 173 5.5 Vor dem Unbekannten | 180 5.6 Wortbruch | 183 5.7 »Sich etablieren« und »überall sein«: Information, Verstreuung und Zugehörigkeit | 188 6
»Schau Dich an, [Du] Tote!«. Über das Calon-Werden bzw. als Calon aufwachsen | 195
6.1 6.2
Das Verhandeln um Calon-Welten | 195 Zum Erwecken der Calon-Toten als Ausdruck einer Calon-Sozialität | 196 Zwischen Ambiguität und einem gemeinsamen Calon-Schicksal | 202 Exkurs: Wenn Chaburrons und »kleine Engel« sterben | 213 Das, was einen wahren Mann ausmacht | 214 Der Calon-Ahn als Anti-Vergangenheit und »das Machen der Zukunft« | 219 Das gemeinsame Leben der Calen unter anderen | 222 Das zu erwärmende Blut der Toten und die Calen als Vorbilder | 225 Calon-Immanenz und Juron-Transzendenz | 226 Calon-Blut und Calon-Geschichte | 227 Geben und Bekommen | 230
6.3 6.3.1 6.4 6.5 6.6 6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3
Vollständiges Inhaltsverzeichnis | 335
6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3
Chaburrons als Verehrer und Trickster | 233 Als Teil von Calon- und Juron-Umwelten aufwachsen | 235 Die Welt der Chaburrons als riskante Ordnung unter den Calen | 237 Auf eine eigene Weise als Calon aufzuwachsen | 240
7
Das »Vergessen« der »Namen, die für immer sind«. Von einem verstorbenen Cigano zu einem Calon-Ahnen | 243
Zur Calon-Differenzierung im Kontext von Tod und Trauer | 243 Lebenszyklen, Todeszyklen | 244 Zur lokalen Juron-Bestattungsordnung | 250 Zur Unniederschreibbarkeit der wahren Namen: Wie die Calen die Jurons austricksen | 254 7.4.1 Eine Stadt voller Franciscos: Vom Juron-Mythos über die Niederlassung der Ciganos in RN als ein Calon-Kunstgriff | 257 7.4.2 Die (Un)Sichtbarkeit des Heiligen | 258 7.4.3 Von dem Ursprung, der sich nicht entfremden lässt und den man mit sich führt | 260 7.5 Weitere Aspekte der Vercalonisierung der Juron-Bestattungsordnung | 263 7.6 Ein Devianzfall | 270 7.7 Die Erinnerungen als Hierophanien und Tabus: Wie die Calen sich gegenseitig austricksen | 274 7.9 Zur Plastizität und Souveränität des Calon-Handelns im Verlauf einer Beerdigung | 280
7.1 7.2 7.3 7.4
Teil IV: Schlussbetrachtung und Ausblick Von Resonanzen als die Macht des Abwesenden | 285 8.1 Fazit | 285 8.2 Welten, die für sich stehen: Von Grenzen als Mutationskanäle | 289 8.2.1 Zur Gabe der Calon-Ahnen: Trauerarbeit als mutuelles Welterschaffen | 292 8.3 Von Personen aus Personen: Wie die Calen den Tod austricksen | 298 8.3.1 Trauer als Arbeit | 301 8.4 Zur geteilten Calon-Integrität | 304 8
Abbildungen und Tabellen
Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19:
Titelseite des Buches Os Ciganos no Brasil (1886) | 31 Vorbereitung auf Beerdigung in der Hängematte (1958)1 | 40 Das Grab des Ciganos, PB (2009) | 41 Karte von Brasilien | 90 Porträt einer versprochenen Calin, BA (2008) | 94 Calon-Siedlung im hohen Sertão, BA (2009) | 107 O Cigano von José Modesto de Azevêdo, RN (o.J.) | 116 O Cigano von José Modesto de Azevêdo, RN (o.J.) | 116 Brücke über den Cigano-Fluss (2010) | 121 Zeltaufschlagen in Sertão, BA (2009) | 148 Zusammenspiel bzw. -singen bei Calen, RN (90er Jahre) | 158 Teil einer Mitgift, BA (2009) | 174 »Cigano-Jungen« (meninos Ciganos) | 201 Auf der Geburtstagsparty eines Juron-Mädels, BA (2009) | 234 Porträt einer Calon-Familie, BA (1970er Jahre) | 241 Trauerzug eines Calons, RN (2000) | 249 Mausoleum einer Cigano-Familie, BA (2011) | 259 »[D]ie Namen, die für immer sind«, BA (2011) | 260 Calen bei einer Beerdigungsmesse, RN (1998) | 264
Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4:
1
Grundaspekte des Tausches bei Calen | 179 Calon-Status und intergenerationelle Positionalitäten | 223 Vercalonisierung von Juron-Bestattungsbräuchen | 269 Calon-Verjuronisierung von Calon-Bestattungsbräuchen | 278
Das Reproduktionsrecht wurde von João Cândido Portinari freundlicherweise eingeräumt. Direito de reprodução gentilmente concedido por João Cândido Portinari.
Über den Autor
Márcio Vilar ist 1978 in Recife, Brasilien, geboren. Er studierte Soziologie, Anthropologie und Politikwissenschaften an der Universidade Federal da Paraíba (UFPb) und der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ). 2017 promovierte er im Fach Ethnologie an der Universität Leipzig mit einer Dissertation zu Trauerritualen, Person und Tauschkreisläufen bei Ciganos, deren überarbeitete Version dieses Buch darstellt. Zurzeit forscht Márcio Vilar an der Schnittstelle von Medizinanthropologie und Science and Technology Studies. Seit 2019 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Márcio Vilar ist Mitglied der Associação Brasileira de Antropologia (ABA), der Arbeitsgemeinschaft Ethnologie und Medizin (AGEM), der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA), der European Association of Social Anthropologists (EASA), und der Society for Social Studies of Science (4S).
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