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German Pages 317 [320] Year 1795
C. M. W I E L A N D S
SÄMMTLICHE WERKE D R E Y Z E H N T E R
N A C I I L A SS D E S GEDANKEN
ÜBER
DIOGENES EINE
ALTE
B A N D
VON
SINOPE.
AUFSCHRIFT.
L E I P Z I G bey
Georg
Joachim
Göschen.
»795.
V O R B E R I C H T DES
HERAUSGEBERS.
Geschrieben
im J a h r e
1769.
Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, in einer gewissen Abtey B***** Ordens in S * * Bekanntschaft zu machen, welche, Dank sey dem Genius des zwölften und dreyzehnten Jahrhunderts, der sie d o t i e r t , und dem ökonomischen Geiste, der sie bisher verwaltet hat, reich a
IV
genug
V o B B E B I C H T .
ist, siebzig bis
achtzig
wohl
genährte Erdensöhne in einem durch verjährte Vorurtheile ehrwürdig gemachten Müfsiggang, und in tiefer Sorglosigkeit über alles, was aufserhalb ihrer Gerichte und Gebiete vorgeht, zu unterhalten.
l
)
i ) Zur Steuer der Wahrheit können wir nicht verhalten, dafs seit den fünf und zwanzig Jahren, da alles hier gesagte historische Wahrheit war, auch in dem Reichsstifte, wovon die Rede ist, (so wie in S. überhaupt) die Gestalt der Sachen sich so mächtig geändert hat, dafs es dem i n q u i s i t i v s t e n
Reisenden
unmöglich seyn würde, das ehmahlige Urbild von dem hier aufgestellten Gemähide ausfündiff zu machen.
V O R B E R I C H T .
V
Vermöge einer wohl hergebrachten Gewohnheit
hat
das
Kloster
einen
Bücherschatz, welcher sich mehr durch Weitläufigkeit empfiehlt.
als
gute
Einrichtung
Von neuen Büchern wer-
den höchstens nur eine gewisse Art von Kanonisten, Asceten und Ordensgeschichtschreibern angeschafft. Von allen andern, besonders von den Werken des Genies, ist die Rede nicht.
Diesen letztern wird
der Zutritt gar nicht gestattet: und wofern sich eines derselben durch irgend einen unglücklichen Zufall in so heterogene Gesellschaft verirren sollte; so hat der Pater Bibliothekar nichts angelegners, als es sogleich in einen besondern Schrank, der allen seines gleichien zum
YI
V o H B E R I C H T .
Gefängnifs bestimmt ist, einzuschliefsen, und zu mehrerer Sicherheit in Ketten schmieden zu lassen. Zum Gebrauch, den diese würdigen Männer von ihrer Bibliothek machen, haben sie auch in derThat keine guten Bücher, und, wenn wir die Wahrheit sagen sollen, überhaupt keine Bücher vonnöthen; welches denn vermuthlich der Grund ist, warum die Vermehrung derselben in ihren Augen unter die überflüssigen Ausgaben gehört, welche ein Abt, der den Ruhm eines guten Haushalters hinterlassen will, dem Kloster ersparen mufs.
In der That vermuthe ich,
dafs blofs eine Art von Gefälligkeit gegen die Motten, welche man in ihrem unfürdenklichen Besitze zu stören Bedenken
V O R B E R I C H T .
VII
trägt, oder vielleicht die Furcht, dafs sie sich, wenn sie daraus
vertrieben
würden, ihres Schadens auf eine unsern guten
Mönchen
weniger gleichgültige
Art erhohlen möchten, der Beweggrund ist, warum man die so genannte Bibliothek immer Stande,
ungefähr
in
demjenigen
worin man sie gefunden hat,
den Nachkommen zu hinterlassen sucht.
Dem sey wie ihm wolle, das unbegreifliche Schicksal wollte, dafs ich in dieser nehmlichen Bibliothek etwas fand, was ich am wenigsten da gesucht hätte, und was in der That so aufserordentlich scheint,
dafs ich besorge,
meine
ganze Erzählung dadurch verdächtig zu
VIII
V O R B E R I C H T .
machen, — einen vernünftigen und wissensbegierigen Bibliothekar. Sache
Um die
einiger Mafsen begreiflich zu
machen, mufs ich sagen, dafs er dem Ansehn nach kaum dreyfsig Jahre haben mochte.
Meine Freude über diesen
Fund war, wie billig, aufserordentlich; wir wurden in wenigen Minuten gute Freunde, und ich fand, dafs der wackere Pater das Recht, seine Gefangenen so oft er wollte von ihren Ketten los zu schliefsen und sich mit ihnen in seinen Nebenstunden zu unterhalten, ziemlich wohl zu benutzen wufste.
Er war noch
nicht was man eigentlich einen aufgehellten Kopf nennen kann; aber es fing doch wirklich an in seinem Kopfe Tag
V O R B E I V I C H T .
IX
zu werden, und ich machte mir gute Hoffnung, bey einem zweyten Besuch im Kloster einen beträchtlichen Theil desselben schon beleuchtet zu finden. Aber ich fand mich in meiner Erwartung sehr betrogen.
Seine Obern, was
sie auch sonst seyn mochten, waren doch nicht so dumm, dafs sie nicht etwas von demjenigen wahrgenommen haben sollten, was diesen Mann in meinen profanen Augen schätzbar machte. erschrak darüber.
Man
Seit sieben oder acht
Jahrhunderten hatte sich der Fall nicht ein einziges Mahl begeben, dals ein Mönch dieses Klosters hätte klüger seyn wollen als seine Mitbrüder. Was für Folgen konnte eine solche Neuerung haben! W L E L A S D S w . XIII. B.
b
X
V O R B E R I C H T .
Man übersah sie beym ersten Blick, man erschrak davor, und glaubte nicht schnell genug eilen zu können, einem so grofsen Übel vorzubauen. Mit Einem Worte, der ehrliche * * wurde plötzlich zu einem andern Amte befördert, und der Pater
Küchenmeister
wurde — B i b l i o t h e k a r .
Man hätte keine glücklichere Wahl treffen können; er war die beste, dümmste, und mit sich selbst und ihrer Dummheit vergnügteste Seele von der Welt, Aufser seinem Brevier und M a r x R ü m p e l s Kochbuche hatte er in seinem Leben nichts gelesen; auch könnt' er nicht begreifen, wie es Leute geben könne,
V
O R B £
R 1 C H
T,
XI
die sich mit dem unnützen Bücherlesen die Augen verderben mögen.
Weil man
doch von allem gern eine Ursache angiebt, so half er sich damit, dafs er behauptete, die Wissensbegierde und die daher rührende Liebe zum Bücherlesen sey weder mehr noch weniger als einer von den subtilen Fallstricken, wodurch der leidige Satan die Seelen in seine Gewalt zu ziehen suche.
Unwissenheit
war, seiner Meinung nach, der wahre Stand jener seligen Einfalt und Armuth an Geiste, welchen die herrlichste Belohnung in jener Welt versprochen ist; und er pflegte zu sagen, dafs ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr, als ein Gelehrter in das Himmelreich eingehen könnte.
XII
V
O H B E m
C H
T,
Kurz, man hätte vielleicht die Hälfte von Europa durchsuchen können, ohne noch einen Bibliothekar,
wie dieser
war, anzutreffen.
Meine angeborne Neigung zu allen Leuten, die in ihrer Art
ungemein
sind, machte, dafs ich gar bald mit dem neuen Bibliothekar eben so gut bekannt war als mit seinem Vorfahrer.
Ich
6chmählte auf den F e b r o n i u s ,
und
lobte das alberne
Buch des
Herrn
von * * *; mehr brauchte es nicht, mich bey ihm in die beste Meinung von der Welt zu setzen.
Ich hatte aber, die
Wahrheit zu sagen, noch eine andere Absicht, ohne welche ich vielleicht so
V O R B E R I C H T .
gefällig nicht gewesen wäre.
XIII
Es standen
ein paar Schränke voll Handschriften in der Bibliothek, unter denen, der Sage nach, einige rare Stücke seyn sollten. Ich konnte mir vorstellen, was ich ungefähr zu erwarten haben möchte; allein ich wollte doch sehen.
Ich machte den
P. Bibliothekar, der in der That ein gutherziges Geschöpf war, so gefällig, dafs er mir seine Schranke aufschlofs.
Ich
fand was ich mir eingebildet hatte, schön geschriebene Gebetbücher,
Legenden,
magre Kroniken von Erschaffung der Welt an, Quaestiones mctaphysicales de principio individuatioiüs, bus, etc. tiaruin,
de
formalitati-
Commentarios in libros senteiv• in parva Naturalia
Aristotelis,
XIV
V o n
B E R I C H T .
Abbreviationes Decretorurrty und hundert andre dergleichen Leckerbissen, welche mich nicht sehr lüstern machten, mehr als die Titel davon zu entziffern.
Ich
war im Begriff alles weitere Suchen aufzugeben, als mich das moderige Ausseheil eines dünnen Kodex in Quartformat, oder vielmehr der nehmliche Instinkt, welchen S o k r a t e s seinen Gen i u s zu nennen pflegte, auf eine beynahe blofs maschinenmäfsige Art antrieb, ihn hervor zu ziehen, u m zu sehen was es seyn möchte,
Das Buch hatte weder
Anfang noch Ende; aber der Nähme D i o g e n e s , und einige andre die ich nicht darin gesucht hätte, machten mich, ungeachtet des schlechten Lateins, auf-
V O R B E R I C H T .
merksam.
X V
Ich überlas eines oder zwey
von den kleinsten Kapiteln, und war nun vollkommen überzeugt, dafs ich vermuthlich auf die beste unter allen diesen Handschriften gestofsen sey.
Da ich mir Gewalt genug anthat, um dem ohnehin wenig auf mich Acht gebenden Kerkermeister dieses litterarischen Gefängnisses nicht merken zu lassen, wie wichtig mir dieser Fund war, so kostete mir es wenig Mühe, die Erlaubnifs von ihm zu erhalten, es auf etliche Tage zum Durchlesen mitzunehmen.
Und nun weifs der geneigte Leser
so gut als ich selbst, wie ich zu der alten Handschrift gekommen bin, davon
XVI
V O R B E R I C H T .
ich ihm hiermit eine Art von Übersetzung vorlege.
Ich nenne sie eine a l t e Handschrift, ungefähr aus eben dem Grunde, womit der A n t i q u a r , dessen L a d y W o r t h l e y in ihrem dreyzehnten Briefe gedenkt, ihren Einwurf gegen das Alterthum der Münzen in dem damahligen kaiserlichen Kabinet ablehnte: S i e nug, weifs, Jahre
sagte er; sind her
denn sie
immer
s i n d a l t geso v i e l i c h
diese da
vierzig gewesen.
So viel getraue ich mir zu behaupten, dafs sie wenigstens nicht viel jünger ist, als einige Ubersetzungen von Aristotelischen Büchern
aus
dem Arabischen.
V O R B E I V I C H T .
X V I I
Denn so viel ich aus dem noch übrigen Bruchstücke der Vorrede ersehen konnte, giebt der Verfasser vor, dieses Werkchen aus einer A r a b i s c h e n
Handschrift,
die er in der Bibliothek zu F e t z gefunden und abgeschrieben habe, in so gutes Latein, Salamanka
als
man damahls
zu
zu lernen pflegte, gedol-
metschet zu haben.
Da ich fand, dafs ein beträchtlicher Theil dieser Handschrift aus Gesprächen des Diogenes mit sich selbst und mit andern bestehe, so erinnerte ich mich aus dem D i o g e n e s L a e r t i u s , dafs D i o g e n e s v o n S i n o p e , genannt d e r H u n d , unter andern auch D i a l o g e n geschrieW L E T A B D J w . x m . B.
€
XVIII
V O R B E R I C H T .
ben haben sollte. Und nun brauchte ich nichts weiter als von den Regeln der Verwandlung des Möglichen ins Wirkliche einen kleinen Gebrauch zu machen, um mir einzubilden, dafs diese Dialogen ohne Zweifel unter den Griechischen Handschriften gewesen seyen, welche der berühmte K a l i f A l - M a m o n zu Bagdad mit grofsen Kosten zusammen suchen und ins Arabische übersetzen liefs; dafs ein Exemplar dieser Arabischen Ubersetzung in der Folge in die prächtige Bibliothek gekommen sey, welche unter der Regierung des Maurischen Sultans A l - M a n s u r errichtet worden seyn soll; und dafs dieses Exemplar Adelleicht das nehmliche gewesen,
aus welchem
V O R B E R I C H T .
X I X
mein Ungenannter seine Ubersetzung verfertiget habe.
Wenn ich ein Liebhaber von Dissertazionen ü b e r
Dinge,
die
man
n i c h t w i s s e n k a n n , wäre, sollt' es mir eben nicht schwer fallen, mir selbst eine Menge Einwürfe gegen diese Hypothese zu machen.
Der beträchtlichste
würde indessen doch immer derjenige seyn, der von dem Karakter, welchen Diogenes in diesen Dialogen und übrigen Aufsätzen behauptet, hergenommen werden kann.
Es ist nehmlich der gewöhnliche Begriff, den man sich, den Nachrichten
X X
V O R B E R I C H T .
des Diogenes Laertius und dem Athenäus zu Folge, von unserm D i o g e n e s v o n S i n o p e zu machen pflegt, von demjenigen, den wir aus diesem Werke von ihm bekommen, nicht weniger verschieden, als die Komödie von dem Possenspiel, der ironische Sokrates von dem zügellosen Aristófanes, der Harlekin des Marivaux von dem Hanswurst des alten Wiener Theaters, und ein launiger, aber feiner und wohl gesitteter Spötter der menschlichen Thorheiten
von
einem
schmutzigen und ungeschliffenen Misanthropen unterschieden ist.
Wenn dem unkritischen Kompilator der Lebensbeschreibungen der Filo-
V O R B E R I C H T .
X X I
sofen, und dem waschhaften Grammatiker, der in seinem G e l e h r t e n - G a s t m a h l e den alten Weisen so viele ungereimte Geschichtchen anheftet, zu glauben wäre, so müfste D i o g e n e s
der
C y n i k e r der verachtenswürdigste, tolleste, unfläthigste und unerträglichste Kerl gewesen seyn, menschliche
der jemahls die
Gestalt verunziert hätte;
und es wäre solchen Falls nichts unbegreiflicher, als wie eben dieser hündische Mensch so vernünftige Dinge, als die Alten von ihm melden, hätte s a g e n und t l i u n
können,
und woher die
Hochachtung gekommen seyn sollte, welche selbst die Weisesten unter ihnen für ihn geheget haben.
XXII
VOJBERICHT,
Aber zum Glücke für sein Andenken verdienen die vorbemeldeten Schriftsteller, welche uns ein so häfsliches Bild von diesem Schüler und Nachfolger des S o k r a t i s c h e n A n t i s t h e n e s machen, nicht Glauben genug, um die Gründe zu entkräften, womit die bessere Meinung
unterstützt
ist,
welche einige
neuere Gelehrte von ihm gefafst haben. W e r diese Sache umständlich erörtert lesen will, kann seine Wissensbegierde in demjenigen,
was H e u m a n n
und
B r u c k e r hierüber geschrieben haben, befriedigen.
Uns genüget hier dem
schwachen Ansehen jener beiden alten Griechen (deren anderweitiger Werth uns sonst ganz wohl bekannt ist) das
V O R B E R I C H T .
XXIII
ungleich gröfsere Gewicht zweyer weiser Männer des Griechischen Alterthums entgegen zu setzen, welche uns einen ganz andern Begriff von unserm Diogenes geben.
Der eine ist A r r i a n , ein Mann, den seine persönlichen Verdienste unter dem Kaiser H a d r i a n zur Statthalterschaft von Kappadocien beförderten, und der, was noch mehr als diefs ist, ein Schüler und Freund des weisen E p i k t e t , und in der That der
Xenofon
dieses z w e y t e n S o k r a t e s war.
Ich
schreibe nicht gern ab: Leser, welche die Quellen selbst besuchen können, mögen das zwey und zwanzigste und
X X I V
V O R B E R I C H T .
vier und zwanzigste Kapitel des dritten Buches seines E p i k t e t nachlesen, um zu sehen, was für ein grofses und sogar liebenswürdiges Bild er von unserm Filosofen macht.
Sie werden finden, dais
er in dem ersten der angezogenen Kapitel — worin er von dem e c h t e n Cyn i s m u s handelt, und denselben gegen die Vorwürfe, welche von den Sitten einiger After-Cyniker hergenommen zu werden pflegen, ausführlich rechtfertiget — an verschiedenen Stellen deutlich zu erkennen giebt, dafs D i o g e n e s ein solcher Mann gewesen sey, wie er den w a h r e n C y n i k e r schildert; — und dafs er in andern, wo er sich über den
eigenen
Karakter
des Diogenes
VORBERICHT.
XXV
umständlicher ausbreitet, ihm eben diese Liebe zur Unabhängigkeit, eben diese Freymüthigkeit und Stärke der Seele, eben diese Güte des Herzens, eben diese Gesinnungen
eines
Menschenfreundes
und Weltbürgers zuschreibt,
2
) durch
welche er sich in seinem gegenwärtigen N a c h l a f s , bey aller seiner Singularität und Launenhaftigkeit, unsrer Zuneigung bemächtigt.
Und gesetzt auch,
wie wir gern gestehen, dafs ihn A r r i a n
2) Ayi,
Aio-ysviji 5' OVK s(piXst ouSeva; 6; ovrcu;
tjfxegos >)v
Kal
TOUTO
Y )
IRAAA.
Ö'
etc.
(ptXavSQiwKOS, etc. — 5/a IRARPIF
YV
susnu
Arrian.
L.
JXOVUI,
T^aioszo;
III. c. 24.
p. m. 582. WIELANDS
W . XIII. B.
d
XXVI
V O R B E U I C H T .
nur von der s c h ö n e n Seite gemahlt hätte: so bleibt doch immer so viel gewifs, dafs er in dem wirklichen historischen Karakter des Diogenes den Grund dazu gefunden haben mufste; denn man wählt keinen T h e r s i t e s zum Urbilde, wenn man einen schönen Mann mahlen will.
Die zweyte Autorität, welche ich den Verleumdern unsers Weisen entgegen stelle, ist der Filosof D e m o n a x , dessen Karakter uns L u c i a n (ein sehr glaubwürdiger Mann wenn er Gutes von jemand sagt, denn das begegnet ihm selten genug) in einer eignen Abhandlung mit Xenofontischem Geist und
V O B B E R I C H T .
XXVII
Plutarchischer Naivität geschildert hat. Wenn dieser weise Mann gleich kein Sektenstifter noch ein grofser Verehrer metafysischer Spekulazionen
war,
so
wird doch niemand, der gelesen hat was uns Lucian von ihm erzählt, in Abrede seyn, dafs er das günstige Urtheil verdiene, das dieser scharfe und mifstrauische Beurtheiler des moralischen Werths der menschlichen Dinge von ihm fällt. Ist aber das Ansehen dieses Demonax festgesetzt, so mufs auch sein Urtheil von Diogenes Gewicht genug haben, alle die elenden Mährchen und Gassenanekdoten zu überwiegen, auf welche die abschätzige Meinung, die man gemeiniglich von ihm hegt,
gegründet ist.
XXVIII
V O R B E R I C H T .
L u c i a n führet etliche Züge an, welche die ungemeine Hochachtung des Demonax für den Diogenes beweisen.
Wir
begnügen uns zwey davon abzuschreiben.
Die Rede war einst von den alten
Filosofen, und welcher unter ihnen am meisten Hochachtung verdiene.
Ich
meines Orts, sagte Demonax, ich verehre
den S o k r a t e s ,
bewundere
den D i o g e n e s , und l i e b e den Aristippus.
Und da man ihm zu Olympia
eine Bildsäule aufrichten lassen wollte, lehnte er diese Ehre aus dem Grunde ab: „Damit es ihren Vorfahren nicht zur Schande gereiche, w e d e r dem Sok r a t e s n o c h d e m D i o g e n e s Bilds ä u l e n g e s e t z t zu
haben."
V o R B E R T C H T .
XXIX
Wenn gegen solche Zeugnisse noch immer der Einwurf übrig bleibt: man könne doch, ohne die ganze Autorität des Alterthums wider sich zu haben, nicht läugnen, dafs Diogenes überhaupt unter seinen Z e i t g e n o s s e n in schlechtem Ansehen gestanden und vielmehr für einen n ä r r i s c h e n
Sonderling
als für einen w e i s e n M a n n gehalten worden sey; so können wir dieses zugeben, ohne dafs er das geringste von der Achtung verlieren soll, die uns das günstige Urtheil d e r k l e i n e r n Z a h l für ihn gegeben hat.
Was für einen Begriff
müfsten wir uns von S o k r a t e s s e l b s t machen, wenn wir ihn nach demjenigen, den Aristófanes in seinen Wolken auf
X X X
V O R B E R I C H T .
die Schaubühne brachte, oder nach der Anklage des A n y t u s und nach dem Endurtheil seiner Richter beurtheilen wollten!
Man müfste wenig Kenntnifs
der Welt haben, wenn man nicht wüfste, dafs etliche wenige Züge von Sonderbarkeit und Abweichung von den gewöhnlichen Formen des sittlichen Betragens hinlänglich sind, den vortrefflichsten Mann in ein falsches Licht zu stellen. Wir haben an dem berühmten Hans Jakob
Rousseau
von
Genf
(einem
Manne, der vielleicht im Grunde nicht halb so sonderbar ist als er scheint) ein Beyspiel, welches diesen Satz ungemein erläutert.
Und in den vorlie-
genden Aufsätzen werden wir den Dio-
V O R B E K I C H T .
XXXI
genes selbst über diesen Gegenstand an mehr als Einem Orte so gut räsonieren hören, dafs schwerlich jemanden, der sich nicht zum Gesetz gemacht hat nur seine eigene Meinung gelten zu lassen, ein unaufgelöster Zweifel übrig bleiben wird.
Bey allem dem gestehe ich doch gern, dafs d e r D i o g e n e s , der in diesen Aufsätzen spricht, mir selbst ein ziemlich
idealischer
Diogenes
zu
seyn scheint: es sey nun, dafs ihn der Lateinische Ubersetzer wirklich aus dem Arabischen, und der Arabische aus einem Griechischen Original gedolmetschet habe, oder dafs einer von den vorgeblichen
XXXII
V O R B E R I C H T.
Übersetzern selbst der Urheber dieses Werkchens sey.
Die Verschönerung
einiger Züge fällt in die Augen; und, um alle mögliche Aufrichtigkeit gegen den Leser zu gebrauchen, kann und soll ich ihm nicht verhalten, dafs auch ich, eben so wohl als die beiden Übersetzer meine Vorgänger, vielleicht eben so viel aus Nothwendigkeit als aus Vorsatz, mehr Antheil daran habe, wenn dieses kleine Werk der Urschrift ziemlich unähnlich seyn sollte, als mit der Treue bestehen kann, die man ordentlicher Weise von einem Dolmetscher fordert. Ohne Umschweife, ich besorge, sie habe beynahe das nehmliche Schicksal gehabt, welches die Geschichte des S c h a u m -
VüKBERICHT. löffels,
nach der Erzählung
Französischen Herausgebers, haben soll.
XXXIII seines
betroffen
Es ist mehr als zu wahr-
scheinlich, dafs der erste Arabische Ubersetzer, gesetzt auch, dafs er alle mögliche Geschicklichkeit gehabt habe, doch in der Unendlichen Verschiedenheit seiner Sprache von der Griechischen eine unüberwindliche
Schwierigkeit
gefun-
den, ein Werk von dieser sonderbaren Art gut zu übersetzen.
Es wird also
vermuthlich von ihm geheifsen haben: Ex Graecis bonis fecit Arabicas non bonas.
Ich denke, es sey dem Lateini-
schen Dolmetscher nicht besser gegangen.
Die Wahrheit zu sagen, seiner
Schreibart nach
mufs er ein
W l E L A N U « W . XIII. B.
armer e
XXXIV
V O R B E R I C H T .
Stümper gewesen seyn; ungeachtet er, als ein M a g i s t e r n o s t e r auf einer neu angehenden Universität, ( w i e Sal a m a n k a damahls w a r ) in der Vorrede die Backen ziemlich aufzublasen scheint. Er scheint, nach Art unsrer meisten neuern Übersetzer, weder die Sprache, a u s welcher, noch die, in welche er übersetzte, am allerwenigsten aber den G e i s t s e i n e r U r k u n d e recht verstanden zu haben. Man merkt an unzähligen Orten, dafs da vermuthlich ein feiner Gedanke, oder eine glückliche Wendung, oder
V O R B E R I C H T .
X X X V
irgend eine andere seines gleichen unsichtbare Schönheit unter seinen plumpen Händen verloren gegangen
seyn
müsse; an vielen Stellen ist er sogar gänzlich unverständlich, ohne sich das mindeste darum zu bekümmern,
was
seine Leser dazu sagen würden.
Ver-
muthlich hat er sich nicht vorgestellt dafs er Leser haben würde, oder ( w i e ein ehmahliger Französischer Übersetzer der M u s a r i o n ) nur für sich und seine guten Freunde, und nicht für das Publikum — schlecht übersetzt.
Dem sey
wie ihm wolle, so viel ist gewifs, dafs ich der Welt das elendeste Geschenk, dafs sich denken läfst, gemacht haben würde, wenn ich mich durch die Ehre,
X X X V I
V O R B E R I C H T .
der Herausgeber einer alten Lateinischen Handschrift zu seyn, hatte verleiten lassen, die seinige, so wie sie war, abdrukken zu lassen.
Ich gab mir also, weil doch dieser Diogenes so viel zu verdienen schien, lieber die Mühe, ihn ganz umzuschmelzen, und, nach meinem besten Können und Wissen, s o
D e u t s c h reden zu
lassen, wie ich mir einbildete, dafs ihn wenigstens ein erträglicher Griechischer Sofist aus Alcifrons Zeiten möchte haben G r i e c h i s c h reden lassen.
V O R B E R I C H T .
XXXVII
Z U S A T Z .
Dieses kleine Werk erschien im Jahre 1 7 7 0 zum ersten Mahle unter dem Titel D i a l o g e n des D i o g e n e s . das
Wort
Dialogen
Man hat
hauptsächlich
defswegen unschicklich gefunden, die
eigentlichen
den wenigsten Theil
Gespräche
weil nur
des Ganzen aus-
machen; als welches meistens aus zufäl-
XXXVIII
ligen
V O R B E R I C H T .
Träumereyen,
Anekdoten,
Selbstgesprächen,
dialogisierten
und Aufsätzen,
Erzählungen
worin Diogenes blofs
aus Manier oder Laune abwesende oder eingebildete Personen
apostrofiert,
zusammen gesetzt ist.
Der Herausge-
ber, der jenem Tadel nichts erhebliches entgegen zu setzen hatte, fand also für gut, bey
gegenwärtiger Ausgabe
von
der letzten Hand den Titel der alten Lateinischen Sino-pensis ein T i t e l ,
Handschrift, Reliqua,
Diogenis
beyzubehalten;
wozu dieses Werkchen ein
desto gröfseres Recht hat, weil in der That ( d a die unechten B r i e f e , die dem Diogenes angedichtet worden sind, nicht in Betrachtung kommen) aufser dem-
V O R B E R I C H T .
XXXIX
selben sonst nichts von diesem berühmten Cyniker übrig ist.
Der ehmahlige G r i e c h i s c h e Tit e l *LwxgotTr)$ (icuvofievog QSocrates delirans, e i n a b e r w i t z i g g e w o r d e n e r S o k r a t e s ) ist aus dem zweyfachen Grunde weggeblieben, erstlich weil er Griechisch ist, und dann weil dieser halb ehrenvolle halb spöttische Spitznahme, welchen P l a t o dem Diogenes .gegeben haben soll, auf d e n Diogenes, der sich uns in diesen Blättern darstellt, ganz und gar nicht zu passen scheint.
Dieser ist
zwar ein S o n d e r l i n g , aber ein so gutherziger, frohsinniger und {mit Erlaubnifs zu sagen) so vernünftiger Sonder-
X L
V O R B E R I C H T .
ling als es jemahls einen gegeben haben mag; und gewifs, wer nicht A l e x a n d e r ist, könnte sich schwerlich etwas besseres zu seyn wünschen als ein solcher
Diogenes.
NACHLASS D E S
D I O G E N E S VON
AUS
N N I N
WISLA »D»
VV.
AI.TEN
XIII.
B.
SINOPE.
HANDSCHRIFT.
1
W i e ich auf den Einfall komme, meine Begebenheiten , meine Beobachtungen, meine Empfindungen, meine Meinungen, meine Träumereyen, — m e i n e Thorheiten, — e u r e Thorheiten, und — die W e i s h e i t , die ich vielleicht a u s b e i d e n gelernt habe, zu Papier zu bringen, das — sollte gleich das erste seyn, was ich euch sagen wollte, wenn ich nur erst Papier hätte, worauf ich schreiben könnte. — Doch Papier könnten wir leicht entbehren, wenn wir nur Wachstafeln oder Baumrinden, oder Häute, oder Palmblätter hätten! — und in Ermanglung deren möcht* es weifses Blech, Marmor, Elfenbein, oder gar Backsteine thun; denn auf alle diese Dinge pflegte man ehmahls zu schreiben, als es noch mehr darum zu thun war dauerhaft als viel zu schreiben. — Aber unglücklicher Weise hab' ich von allen diesen Schreibmaterialien nichts; und wenn ich sie auch hätte, so wiird' ich sie nicht gebrauchen können, weil ich
4
NACHLASS
DES
DIOGENES
weder Feder noch ' Griffel, noch irgend ein anderes Werkzeug dazu habe, als dieses Stückchen Kreide. Es ist ein schlimmer Handel! — Aber wie macht' ichs, wenn gar nichts von allen diesen Dingen in der Welt wäre? N i c h t schreiben wäre wohl das kürzeste Mittel; aber schreiben w i l l ich nun, das ist beschlossen! In den Sand schreiben ? — Es ginge an; ich kenne zwey bis drey hundert junge und alte Schriftsteller, (nichts von einigen T a u s e n d e n zu sagen, die ich n i c h t kenne) denen ich, weil sie doch nun einmahl schreiben w o l l e n — oder schreiben m ü s s e n — diese Methode bestens empfohlen haben wollte. Allein sie hat bey allem dem ihre Unbequemlichkeiten. — Dummkopf! dafs ich mich nur einen Augenblick besinne, eh' ich sehe dafs meine T o n n e geräumig genug i s t , eine ganze I i i a d e zu fassen, in so fern ich klein genug schreiben könnte. An meine Tonne will ich schreiben! — Ihre Seitenwände sind ohnehin so nackt, ohne Schnitz werk, ohne Vergoldung, ohne Tapeten, ohne Mahlereyen; — in der That gar zu kahl. — Bin ich nicht so gut als der W u r m , aus dessen gesponnenem Schleime man diese Gewebe macht, womit unsre n e u e n
V O N
S l T i O P E .
5
A r g o n a u t e n ihre Sälile behängen? 1 ) — Der Wurm spinnt sich sein Haus selbst; ich beneide ihn darum; das ist mehr als ich kann. Aber ich kann doch mein Haus mit meinen eignen H i r n g e s p i n s t e n tapezieren , und das w i l l ich , wenigstens so lange dieses Stückchen Kreide dauert. In der That, es sollte mich verdriefsen, wenn unter allen zweybeinigen Thieren ohne Federn auf diesem Erden r u n d , oder Erdeney, oder Erden t e i l er — was es ist, mögen die Herren ausmachen, die sonst nichts zu thun haben, und nicht müfsig seyn können — ein einziges w ä r e , das w e n i g e r Bedürfnisse hätte als ich. Es ist eine vortreffliche Sache, k e i n e B e d ü r f n i s s e zu haben; oder, wenn man nun einmahl nicht umhin kann e i n i g e zu h a b e n , doch wenigstens n i c h t m e h r zu haben, als man schlechterdings haben m u f s , und sich so wenig damit zu thun zu machen als nur immer möglich ist. Anfangs, in so i ) W i r können es keinem Kenner der Griechischen Sitten und Gebräuche in den Zeiten des Diogenes verdenken, wenn er an der Echtheit dieser Stelle zweifelt.
Freylich ist es nicht die einzige in diesem Werke,
die zu einem solchen Zweifel Anlafs giebt — Aber desto schlimmer! werden die Kenner sagen.
6
NACHLASS
DES
DlOGENES
fern ihr nicht dazu g e b o r e n seyd, kostet« einige Mühe. — Aber wie viel Mühe macht sich der Thor, der sich in den Kopf gesetzt hat r e i c h z u s t e r b e n ? Wie viel Mühe giebt sich der Thor F ä d r i a s , sein Mädchen erst zu g e w i n n e n , hernach zu b e f r i e d i g e n , dann zu h ü t e n ? Wie viel kostets einem andern Thoren, um aus einem Gerber oder Gewürzhändler ein V a t e r d e s V a t e r l a n d e s zu werden? Oder einem andern, sich in die Gunst eines S a t r a p e n einzuschmeicheln ? — Die doppelten- Narren! Mit der Hälfte der Mühe, die sie anwenden, sich tausend wirkliche und eingebildete Plagen zu den natürlichen , denen sie ohnehin nicht entgehen können, zu erkaufen, könnten sie sich auf ihr ganzes Leben in den Besitz einer Glückseligkeit setzen , die so nahe als möglich an die göttliche reicht. Denn dafs die seligen Götter es d a r u m seyen, weil sie nichts zu thun haben als sich ewig mit Ambrosia zu füllen, ewig in Nektar zu berauschen, und den Weihrauch in die Nase zu ziehen, den wir ihnen zu Ehren verbrennen, — das glauben ihre Priester — wie ich. Sie sind selig, w e i l s i e n i c h t s b e d ü r f e n , nichts fürchten, nichts hoffen, nichts wünschen, alles in sich selbst finden; — und so bin i c h s auch, so viel es ein armer Schelm von einem
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n
Erdensohne seyn kann, der Brot oder Wurzeln haben mufs, um zu leben, einen Mantel, um nicht zu frieren, eine Hütte oder wenigstens ein Fafs, um sich ins Trockne legen zu können, und — ein Weibchen seiner Gattung, wenn er Menschen pflanzen wilL Bey allem dem bin ich zufrieden, es so weit gebracht zu haben, dafs ich gegen Hunger und Durst n u r Wurzeln, gegen die Blöfse n u r einen Mantel von Sackleinewand, gegen Wind und Wetter i i u r mein Fafs nöthig habe. Was den vierten Artikel betrifft, davon hören eure ernsthaften Leute nicht gern sprechen, und ein weiser Mann denkt so wenig daran als er k a n n ; — und m u f s er daran denken , n u n , so hat unsere gute Mutter Natur auch dafür Rath geschafft; wie ich euch mit einem hübschen Beyspielchen beweisen könnte, wenn ich nicht besorgte, ihr möchtet — eifersüchtig werden.
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NACHLASS
DES
DlOGENES
2.
W e n n sich jemand in den Kopf setzen wollte, andern Leuten zu Gefallen weise zu werden, — als, zum Beyspiele, sein Glück dadurch zu machen, oder sich bey der Welt in Achtung zu setzen, oder sich ihrem Tadel zu entziehen, — so wollte ich ihm unmaßgeblich gerathen haben, sich hinzusetzen und es bleiben zu lassen. Denn ich will meine Tasche und meinen Stecken, das ist, mein ganzes Vermögen, gegen eine PufFbohne (in so fern ihr keine P y t h a g o r ä e r seyd) setzen, dafs ihr eure Mühe dabey auf die eine oder die andere Art verlieren würdet. Entweder werdet ihr euch die Hochachtung der Welt erwerben; und dann müfste mich alles betrügen, oder ihr werdet diese Ehre euerm Gelde, oder euerm Stande, oder euerm Amte, oder eurer Frau, oder eurer Schwester, oder eurer guten Miene , oder eurer Kunst zu singen, zu tanzen, die Flöte zu spielen , durch einen Reif zu springen, Hirsenkörner durch einen Fingerring zu werfen,
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k u r z , eher allem andern in der W e l t als eurer W e i s h e i t zu danken haben: — oder ogelangt c ihr, durch des Himmels Gunst, "wirklich zu Weisheit; so wird siclis die Welt nicht ausreden lassen, euch für eine Art von N a r r e n zu halten; welchen Falls ihr wohl thun werdet, es (wofern ihr könnet) wie Diogenes zu machen — nehmlich, gerade weil Diogenes weise i s t , so ist Diogenes kein Narr und bekümmert sich (darum. D e n n , meine g u t e n F r e u n d e , wenn er e u r e n B e y f a l l s u c h t e , e r , der euch keine Gnaden auszutheilen, keine Gastmähler zu geben, keine Persischen Weine und keine schöne Frau vorzusetzen h a t , — so miifste er eure Handmühlen drehen, oder in euern Bergwerken graben, oder eure Nymfen ins Gehäge treiben, oder eure Verdauung durch seine Schwanke befördern; u n d , mit eurer Erlaubnifs, von allem diesem und was dem ähnlich ist, findet er für gut sich selbst zu dispensieren, weil er das Mittel ausgefunden hat eures Beyfalls e n t b e h r e n zu können. Mit den g u t e n F r e u n d i n n e n hat es schon eine andere Beschaffenheit. Auch ohne eben schön oder reich oder von Stande oder in Purpur und Byssus gekleidet zu seyn, oder nach Lavendel zu riechen, oder einen frisierWlElAKDsW. XIII. B. 2
lO
N ACHLASS
DES
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ten Kopf, oder überhaupt einen Kopf (in so fern Witz darein gehört) oder irgend ein Talent zu haben, das ein Frauenzimmer auch haben kann , giebt es — Dank sey eurer Gutherzigkeit, ihr angenehmen Geschöpfe! — ein unfehlbares Mittel euren Beyfall zu verdienen, und — kurz, wir verstehen einander, denke ich: und wenn jemahls meine Feinde ihre Bosheit so weit treiben sollten, mir durch gewisse Verleumdungen eure gute Meinung entziehen zu wollen; so hoffe ich, es werden immer noch einige unter euch edelmüthig genug seyn, mich in ihren Schutz zu nehmen, und ihren Schwestern in die Ohren zu lispeln, dafs Diogenes — nicht ohne alle Verdienste sey.
VON
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3.
Übrigens, und was die W e i s h e i t betrifft, meine Herren von K o r i n t h , Athen, Sparta, Theben, Megära, Sicyon, u. s. w . — und ihr, welche ich Ehren halben zuerst hätte nennen sollen, meine werthen Mithürger von S i n o p e , — so erlaubet mir euch zu sagen, dafs ich die Ehre, von Einem Stamme mit euch allen zu seyn, viel zu stark empfinde, um an m e h r Weisheit Anspruch zu machen, als so viel ich zu meinem eignen nothdürftigen Gebrauche nicht entbehren kann. Sollte davon auch etwas zu euern Diensten seyn können, so gestehe ich offenherzig, dafs ich es lediglich den Beobachtungen zu danken habe, zu denen ihr mir Gelegenheit gabt, wenn ich euch h a n d e l n sah. Ich bemerkte gemeiniglich in der Folge, was ich euch, ohne ein O d i p zu seyn, hätte vorher sagen können: „dafs es euch hinten nach g e r e u t e so gehandelt zu haben;" — und daraus schlofs ich schlechtweg: „ihr würdet besser gethan haben, es anders zu machen."
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NACHLASS
DES
DlOGENES
Ich habe mir daraus einige Anmerkungen gesammelt, wovon ich euch gelegenheitlich so viel zukommen lassen werde, als ich glaube dafs ihr auf Einmahl tragen könnet. Inzwischen aber, und u m auf die Veranlassung zu dieser ganzen Betrachtung zurück zu gehen, kann ich nicht u m h i n , d e n E i n f ä l t i g e n z u m B e s t e n zu erinnern: dafs — seitdem es meinem Freunde P i a t o n gefallen h a t , mir die 'Ehre zu erweisen, mich den r a s e n d e n S o k r a t e s zu nennen — einige Halbköpfe in den Vorstädten von Korinth, und vielleicht auch in der Stadt selbst, sich eine ordentliche Angelegenheit daraus zu D
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machen scheinen, eine Menge Narrheiten von ihrem eigenen Gewächs auf meine Rechnung zu setzen, und denjenigen, wozu ich mich wirklich bekenne, eine Gestalt zu geben, worin ich sie nicht f ü r m e i n erkennen kann. Es sollte mir leid t h u n , wenn das, was ich davon sagen werde, ihnen unangenehm seyn könnte. Denn ich merke w o h l , dafs sie bey dieser kleinen Kurzweil eine grofse Absicht haben. Sie können in ernsthafter Beurtheilung der Narrheiten, die sie mir andicht e n , ihre Vernunft, oder in Verspottung derselben, ihren Witz desto bequemer sehen lassen. Sie geniefsen dabey des Vortheils, den
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derjenige hat, der sich den Gegner, den er überwinden w i l l , s e l b s t m a c h t : er kann ihn gerade so schwach und ungeschickt machen, als er ihn nöthig hat, um den Sieg davon z u tragen. Da es nun unfreundlich w ä r e , sie in dieser kleinen Ergetzlichkeit beunruhigen zu •wollen: so soll alles, was ich bis zu Num. 4. sagen "werde, ohne einigen Nachtheil ihrer diefsfallsigen Zuständigkeiten, und blofs zum Besten derjenigen gesagt seyn, "welche mich gerne kennen möchten, und die Gelegenheit nicht haben defswegen nach Korinth zu reisen. Ich gestehe also, dafs ich vor vielen Jahren ausdrücklich darauf studiert habe, „ w i e ich mich so unabhängig machen könnte als möglich wäre." Ich fand, „dafs diefs unter gewissen Bedingungen ganz "wohl angehe, " u n d , „dafs diese Bedingungen in meiner Gewalt lägen." Ich bedachte mich also nicht lange. Meine T h e o r i e war nicht so bald gefunden, als ich that, "was die wenigsten von euren Sittenlehrern thun. Ich fing an sie in A u s ü b u n g zu bringen, und kam darin, ohne R u h m z u melden, binnen zwanzig Jahren so "weit, dafs i c h , wie ihr sehet, sehr bequem in einer Tonne w o h n e , von Bohnen und Wurzeln Mahlzeit
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NACHLASS
DES
DlOCEKES
halte, und meinen Nektar dazu, in Ermanglung eines Bechers, mit der hohlen Hand aus dem nächsten Brunnen schöpfe. Dafür aber geniefse ich auch die V o r t h e i l e der Unabhängigkeit. Ich habe nicht nöthig e u c h zu betrügen, und bin sicher, dafs i h r mich eben so wenig betrügen werdet. Ich e r w a r t e nichts von euch, ich f o r d r e nichts von euch, ich b e s o r g e nichts von euch. — Denn was für ein armer Teufel müfste der seyn, der mir meinen Stecken und meine Tasche voll Bohnen und Brotkrumen stehlen wollte! Sollte sich, wider Vermuthen, jemand hervorthun , der arm genug wäre in eine solche Versuchung zu fallen, so bin ich bereit, ihm beides gutwillig abzutreten. Ich werde im nächsten Walde wieder einen Stecken finden, und mir aus einem Zipfel meines Mantels eine andere Tasche machen, so ist der Abgang ersetzt. — K u r z , ich sehe nicht, warum wir nicht die besten Freunde seyn sollten. Wornach ihr immer streben möget, findet ihr den Diogenes n i e in euerm Wege. Bewerbt euch , wenn ihr w o l l t , — rathen werde ich euch nie dazu — um eine Archontenstelle, um eine Priesterstelle , um eine Feldherrnstelle, um eine Stelle in dem Bette einer schönen Frau, oder einer reichen Matrone, oder einer Dame, die euch für eine
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Hand voll Drachmen thut, was Piatons P e n i a dem schlafenden P l u t u s , — bewerbt euch um die Gunst eines Satrapen, oder eines Königs , oder einer Königin, oder um eine Krone selbst, oder gar um einen Platz unter den Göttern — (ihr wifst dafs auch d e r zu kaufen ist) — kurz, bewerbt euch warum ihr wollt, Diogenes wird nieniahls euer Nebenbuhler seyn. Diogenes ist der unschädlichste, unbedeutendste Mensch von der Welt, — ausgenommen, dafs er euch bey Gelegenheit die W a h r h e i t s a g t ; und wenn er auch gleich dadurch nichts zu euerm V e r g n ü g e n beyträgt, so dächte ich doch, er verdiente immer, dafs ihr ihm Luft und Sonnenschein unentgeldlich angedeihen liefset, und erlaubtet, sich unter einen Baum hinzulegen, den vielleicht sein Grofsvater gepflanzt hat.
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NACHLASS
DES
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4-
Sagte ich euch nicht vorhin, dafs D i o g e n e s , des I k e t a s Sohn von S i n o p e , — dessen Narrheiten ich übrigens nicht besser zu machen begehre als sie sind — nicht ganz so närrisch s e y , als die Herren und Damen im K r a n e o n aus einigen Zügen seiner Denkungsart zu folgern belieben? „Der Mensch affektiert ein S o n d e r l i n g zu seyn," sprechen sie: — und Sie, meine Herren und Frauen, affektieren ehrlich und tugendhaft zu seyn. „Er hat seinen hölzernen Becher weggeworfen , da er einen Bettler sah, der aus der hohlen Hand trank." -— Dieser Zug ist, mit Ihrer Erlaubnifs, ein wenig verzeichnet. Der Becher mufste weggeworfen werden, weil er einen Leck bekommen hatte; und da man nicht gleich einen andern fand, so sah man zu gutem Glück einen ehrlichen Sohn der
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Erde , von dem man ohne Becher trinken lernte. Ein weiser Mann findet immer Gelegenheit etwas zu lernen; und ich versichre Ihnen, Madam, dafs ich von Ihrem S c h o o f s h ü n d c h e n die ganze Filosofie des A r i s t i p p gelernt habe. Aber, gesetzt ich hätte den Becher weg geworfen, weil ich ihn en t b e h r e n konnte?—• K l e o n , der jetzt aus einem goldnen Becher trinkt, weil er den unschuldigen Nikias verurtheilen half, würde noch ein ehrlicher Mann seyn, wenn er aus der hohlen Hand trinken könnte wie ich. „Diogenes ist ein M i s o g y n . " ha, ha
—
Ha,
—
„Er nimmt sich heraus, allen Leuten zu sagen was sie nicht gern hören." — Ist es m e i n e Schuld, wenn sie die W a h r h e i t nicht hören mögen? „Er wohnt in einem Fasse." — Es ist, w i e Sie sehen, eine T o n n e ,
und für einen
Mann ohne Familie, der nichts zu thun hat, geräumig genug.
Gesetzt nun, dafs ich eine
P r o b e hätte machen
Avollen,
dafs im Noth-
fall auch die engste Wohnung für einen ehrlichen Mann grofs genug ist? — W I I U S D S
w.
X I I I . B.
Ich weifs 5
Iß
NACHLASS
DES
DIOGENES
es, g u t e r X e n i a d e s , dafs, wenn mich jemahls Alter oder Krankheit einer bequemern Wohnung b e d ü r f t i g machen sollte, Diogenes unter deinem freundschaftlichen gastfreyen Dache' sein Kämmerchen bereitet finden wird. Jetzt, da ich es noch n i c h t bedarf, sey, in diesen heitern Sommertagen, der grüne Wasen mein Faulbettchen, mit •weichem Gras und Blumen gepolstert, und eine Cypresse breite gesunde Schatten um mich her! Da sauge ich den erfrischenden Athem der Natur ein; der umwölbende Himmel ist meine Decke; und indem ich so liege, und mein Blick seine endlosen Tiefen durchschweift, ist mein Gemüth offen, still und unbewölkt wie er. „Aber, was für eine Grille, sagen sie, die Wände eurer Tonne zu einer Schreibtafel zu machen?" — Gut! Es s o l l eine Grille seyn: haben S i e etwa keine Grillen? Oder sind m e i n e Grillen nicht eben so gut weil Sie die m e i n i g e n , als I h r e Grillen weil sie die I h r i g e n sind? Indessen sehen Sie hier diese S c h r e i b t a f e l ? Es ist eine hübsche Schreibtafel von Elfenbein , in vergoldetes Leder gebunden, deren ich mich, aus Mangel einer schlechtem , künftig vielleicht bedienen werde.
VON
SlNOPE.
»9
So eigensinnig bin ich nicht , die Bequemlichkeit zu fliehen wenn sie mich s u c h t , und ich ihr nichts bessers aufopfern mufs. Der gute X e n i a d e s , dem sie zugehört, glaubt, dafs sie desto besser seyn werde, wenn ich sie ihm beschrieben zurück gebe. — Du sollst deinen Willen haben, guter Xeniades.
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NACHLASS
DES
DlOG'ENES
5-
Sie
lag,
einem spielte,
ein
kleinen
wenig zurück gebogen, Throne
w i e ich sagte,
von
auf
Polstern ,
und
mit ihrem Schoofs-
liündchen. Gegen über safs ein junger Mensch, von dem die Natur beym
viel versprach, —
Xenokrates
müsse d i e
Augen
und der
gehört hatte,
zuschliefsen,
man wenn
man sich nicht stark genug fühle, einer schönen Versuchung mit offnen Augen Trotz
zu
bieten. Der junge Mensch hatte den Muth nicht, die seinigen g a n z zu schliefsen; aber er sah auf den B o d e n , —
und da fiel ihm
(zum
Unglück) ein kleiner Fufs in die Augen, w i e man sich den Fufs einer aus dem Bade steigenden Grazie einbilden kann,
jedoch
wenig über die Knöchel aufgedeckt.
nur
VON
SlNOPE.
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Es war N i c h t s f ü r — euch oder mich; aber es war s e h r v i e l für den jungen Menschen. Schüchtern und verwirrt zog er die Augen zurück, sah die Dame a n , dann ihren Sclioofshund, dann wieder den Fufsteppich; aber der schöne kleine Fufs hatte sich inzwischen unsichtbar gemacht. Er bedauerte es. Er sprach, mit stotternder Stimme, von allem andern — als was er fühlte. Die Dame streichelte ihren Sclioofshund. Das Hündchen liebkosete ihr hinwieder, zerrte mit seiner, kleinen Pfote an ihrem Halstuche, sah sie dann mit schalkhaftem — Lächeln, hätte ich gesagt, wenn Hunde lächeln könnten — an, zerrte wieder an ihrem Tuche, und entfesselte unter diesem Spiele — (die Dame betrachtete eben eine L e d a von P a r r h a s i u s, die etwas rechter Hand gegen über hing) — die Hälfte eines sehr weifsen und sehr reitzend geriindeten Busens. Der junge Mensch blinzelte, erröthetebis an die Ohrenläppchen, und schnappte nach Luft. Das Hündchen stand mit den Hinterpfoten auf ihrem Schoofse, schmiegte sein rechtes
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NACHLASS
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Vorderpfötchen an den schönen Busen an, und sah mit halb offnem Munde — dem Ausdruck des Verlangens — zu ihren Augen hinauf. Sie küfste das Hündchen, nannt' es ihren kleinen Schmeichler, und steckte ihm den Mund voll Honigplätzchen. Der junge Mensch hatte keine Kraft mehr auf den Boden zu sehen, und — Ich schlich mich fort. Unterwegs sah ich A r i s t i p p e n , mit Bosen bekränzt und ganz Arabien um sich her düftend, von einem Gastmahle des reichen Klinias wohl bezecht zurückkehren. Er schwamm in einem weiten seidenen Gewände, schimmerte um und um von der Beute, die er vor einiger Zeit von D i o n y s e n z u Syr a k u s gemacht hatte: ein kleiner Hof von muntern Jünglingen schwärmte um ihn her, und, wie Bacchus unter Faunen und Satyrn , ging er in ihrer Mitte und lehrte sie — seine Weisheit. B e y m A n u b i s , dem Schutzgott aller Schoofsliündchen! ich will meinen Stecken und meine Tasche verloren haben, wenn A r i s t i p p seine Weisheit nicht von D a n a e n s S c h o o f s h u n d e gelernt hat!
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Schmeichelt der Eitelkeit der Reichen und Grofsen, liebkoset ihren Leidenschaften, oder befördert ihre geheimen Wünsche, ohne zü thuii als ob ihr sie merket; — so werden sie euch den Mund mit Honigplätzchen füllen: das ist das ganze Geheimnifs. „Nichts mehr als das?" — Kein Jota!
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NACHLASS DES
Diogenes
6.
Glaubet mir, K l i n i a s , C h ä r e a , D e m a r chus, Sardanapalus, Midas, Krösus, •und wie ihr alle heifset, — es ist nicht aus N e i d — oder aus V e r z w e i f l u n g dafs ich euch niemahls werde gleichen können, oder aus S t o l z , der sich durch Verachtung dessen, was er nicht haben kann, leichter zu machen sucht; — ich habe mich genau darüber geprüft — es geschieht aus einer i n n e r n Ü b e r z e u g u n g , welche sich nichts von mir einreden läfst, dafs ich meinen Freunden unmöglich ratlien kann, sich um eine Glückseligkeit, wie die eurige, zu bewerben. Eure Paläste sind geräumig, bequem, schön gebaut, mit den auserlesensten Werken der Kunst geschmückt, mit den wollüstigsten Geiäthscliaften der Üppigkeit angefüllt; — eure Gärten gleichen den Gärten des Alcinous und der Hesperidenj — eure Sähle dein Sahl, wo Homers unsterbliche Götter sich in Nektar
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1
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selig trinken; — eure Knaben sind schön w i e Ganymed, eure Sklavinnen wie die Gespielen der Liebesgöttin; — euer Leben ist ein immer währendes Gastmahl, mit Musik, Tänzen und Spielen abgesetzt; — euch ist keine Schöne spröde, keine Danae unzugangbar; Riegel, Mauern, hütende Drachen, nichts hält euch a u f ; euer Gold überwindet alles. Ein Sofist würde vielleicht viel gegen alle diese Vortheile einzuwenden haben — aber von m i r habt ihr keine Schikane zu besorgen. Ich bin kein Verächter des Schönen, kein Feind des Vergnügens, wie mich die Sträufsermädclien im Kraneon beschuldigen. Ich hasse schwache Gründe. „ D i e Wollust e n t n e r v t , " sagt X e n o k r a t e s : — die Tugend auch, sag' i c h ; denn sonst würde F r y n e nicht so mifsvergnügt von dir aufgestanden seyn. — War A l c i b i a d e s nicht t a p f e r ? Könnt'er nicht, wenn es seyn mufste, eben so gut auf hartein Boden unter freyem Himmel schlafen, als im Schoofse der schönen N e m e a ? Liefs ersieh nicht die s c h w a r z e S u p p e der Spartaner eben so gut schmecken als die niedlichen Gerichte des üppigen T i s s a f e r n e s ? — Keine Einwürfe, ich bitte euch, die nur von E i n e r Seite wahr sind, und die man mit tausend Beyspielen widerlegen kann! — Gestehen w i r die reine Wahrheit! Guter Wein aus Cypern Wielands
W . XIII. B.
4.
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NACHLASS
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schmeckt, in so fern ihr niclit d u r s t i g seyd, besser als Brunnenwasser, die strengen Sittenlehrer mögen einwenden Avas sie wollen; und eure Tänzerinnen aus Ionien, oder eure Mädchen von Skio sind, mit allem dem, ganz artige Geschöpfe. Eure Gallerie mit den Gemählden der Zeuxis und Polygnotus, der Parrhasius und Apellen behangen, bezaubert ungelehrte Augen, und befriedigt den verweilenden Kenner. — Solltet ihr denn nicht glücklich seyn? Sollten wir nicht alle nach euerm Zustande streben ? Der Genufs alles Schönen und Angenehmen sollte nicht glücklich machen? Ich habe nur einen einzigen Zweifel, — es ist, däucht mich, m e h r alsein Zweifel — aber ich besorge euch verdriefslich zu machen wenn ich ihn sage. Er würde zu E r ö r t e r u n g e n führen, und mein Zweck ist verfehlt, so bald ich euch lange Weile mache. — Ihr habt zu thun wie ich sehe? — einen Besuch bey der schönen F i l ä n i o n abzulegen, oder bey der jungen Gemahlin des alten S t r e p s i a d e s ? — Ich will euch nicht aufhalten; ich lege mich indessen dort in den Schatten hin, und träume was, bis ihr wiederkommt.
VON
S I X O P u.
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Diesen Augenblick ertappe ich mich bey einer häfslichen Unart. — O Sohn des Iketas, wie weit bist du noch entfernt so w e i s e zu s e y n , als du n ä r r i s c h a u s s i e h e s t ! — Ungeduldig darüber zu werden, dafs du von einem Menschen, der dir Ehre anzuthun glaubt, und nicht zu wissen schuldig ist dafs du eben träumen willst, in deinen Träumereyen gestört wirst! — F y ! das hättest du von einer langbeinigen Spinne, von einer Wespe oder Hornisse leiden müssen. — Ich will euch den ganzen Handel erzählen. „ D u bist müfsig, Diogenes ? " sagte er. Nach meiner Gewohnheit, antwortet' ich. „So setze ich mich zu dir." Wenn du nichts bessers zu thun hast. „ A u f der Welt nichts, — auf dem Markte seyn sollte.
aufser dafs ich Die Sache des
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armen L a m o n wird entschieden. Sein Vater war ein guter Freund unsers Hauses. Ich denke, er wird Mühe haben, seinen Feinden diefsmahl zu entwischen. Ich bedaure ihn. Ich hatte mir gestern vorgenommen, für ihn zu sprechen; — aber ich bin heute gar nicht aufgelegt. " Nicht aufgelegt ? Und L a m o n s Vater war ein Freund deines Hauses? — und der arme L a m o n ist in Gefahr? „Wie ich dir sagte, mein Kopf ist heute xu nichts gut. Wir schmauseten gestern beym K 1 i n i a s. Es währte die ganze Nacht durch. W i r hatten Wein der Götter, Tänzerinnen, Mimen, Filosofen, die sich erst zankten, hernach besoffen, hernach den Tänzerinnen — genug, wir hatten alles was zu einer vollständigen Kurzweil gehört. — " Das ist alles ganz hübsch, wenn willst — a b e r d e r a r m e L a m o n !
du
„Wer kann sich helfen ? Er dauert mich, wie ich sage. E r ist ein ehrlicher Mann, — und hat eine tugendhafte Frau, — eine sehr tugendhafte F r a u ! " Und eine s c h ö n e Frau vermuthlich ?
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„Sie 1vie man mit zehn tausend Bedürfnissen glücklich seyn könne; oder, dafs es eine so herrliche Sache sey als ihr euch einbildet, eine so ungeheure Menge Bedürfnisse zu haben. Blofs aus dieser Überzeugung hab' ich mich verbunden gesehen, den Einwohnern meiner Republik, da ich sie machen konnte wie ich wollte, so viel Bedürfnisse zu ersparen als möglich war. Ich hätte keine Nacht ruhig schlafen können, wenn ich mir den Vorwurf hätte machen müssen: • War' es nicht besser gewesen sie gar nicht zu machen, als sie unglücklich zu machen ? Zu Folge dieser Zärtlichkeit für meine Geschöpfe, und damit ich ihnen, so viel an mir ist, alle Gelegenheit ihre V e r v o l l l c o m m b a r k e i t zu entwickeln abschneide, — kann ich demnach nicht umhin, zu ihrem Besten noch einen Schlag mit meiner Zauberruthe zu thun, und die ganze Insel auf immer und ewig — u n s i c h t b a r zu machen. Alle Mühe, die sich eure Seefahrer jemahls um ihre Entdeckung geben möchten, würde verloren seyn; sie werden sie in Ewigkeit nicht finden!
G E D A N K E N
ÜBER EINE ALTE AUFSCHRIFT
» 7 7 2.
SIE HEDEN
WAS SIE WOLLEN;
MÖGEN SIE DOCH REDEN!
WAS KÜMMERTS MICH? 1)
Gewöhnlicher Weise sehen wir zwey Arten von Personen mit Gleichgültigkeit gegen das, was die Welt von ihnen spricht, erfüllt, — diejenigen, welche durch i h r e G r ö f s e über das Urtheil andrer Menschen hinweg gesetzt zu seyn vermeinen, — und diejenigen, welche so wenig Forderungen als nur immer möglich ist an die Gesellschaft machen, und das Vergnügen sich unabhängig zu glauben allen Vortheilen vorziehen, die mit Bestrebungen um den Beyfall der Welt verbunden seyn können.
G E D A N K E N
D i e s e ist die Gleichgültigkeit eines Cyn i k e r s ; j e n e die Gleichgültigkeit eines Desp o t e n — vom Kaiser von M o n o m o t a p a a n , bis zu dem Ideinen K a 1 i g u 1 a zweyer oder dreyer unglücklicher Dörfchen, der, unter dem Schutze seiner Reichsunmittelbarkeit, von der Höhe einer alten Gothischen Burg mit allem Übermuth eines Sultans auf seine Unterthanen, und mit aller Selbstgenügsamkeit der Dummheit auf die übrige Welt herab sieht. Es ist eben nicht unmöglich, dafs ein Sultan ein weiser und guter Fürst sey; so wie es möglich ist, dafs ein der Welt unbekannter Edelmann des Platzes eines S ü l l y würdig seyn könnte. Aber wenn wir die Geschichte fragen, so wird sie uns unter zehn Sultanen leichter drey B a j a z e t gegen sieben S c h a c h - B a h a m , als einen einzigen A l m a m o n zeigen. Ein Despot verlebt ordentlicher Weise sein Daseyn in der tiefsten Sorglosigkeit über den Beyfall seiner Zeitgenossen und der Nach-
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
233
Er sieht sich von lauter Sklaven um-
weit.
geben, bey welchen sein Wink die Kraft eines Gesetzes hat; unzählige Geschöpfe, die nur um seinetwillen da sind, eifern in die Wette allen seinen Begierden zuvor zu kommen; alle Welt bezeigt ihm eine. Verehrung, die.er durch keine Anstrengung, keine Tugend, kein Verdienst zu erkaufen nöthig hat.
Der Gedanke, dafs
er etwas bedürfe, und in der That noch mehr von andern abhange als andre von ihm, die Bemerkung
des
unendlichen
zwischen äufserlichen
Unterschiedes
Ehrfurchtsbezeigungen
und e m p f u n d e n e r H o c h a c h t u n g , können
keinen
Zugang
in seine
Seele
finden.
Alles hat sich zusammen verschworen, das Gefühl seiner natürlichen Schwäche in ihm zu vernichten; alles vereinigt sich, ihn z u bereden dafs er unabhängig sey. Sultan kann nicht jeder seyn
Aver
Lust
dazu hätte; aber die Glückseligkeit sich übe» die Urtheile der Welt hinweg zu setzen, das. stolze Glück sich unabhängig z u
glauben,
ist in der Gewalt des abschätzigsten sohnes.
Eiden-
Er darf nur den Muth haben
den
M a n t e l d e s K r a t e s umzuhängen, oder .in YV l E L A N D i VY. XIII. B.
30
G E D A N K E N
234-
d a s F a f s d e s D i o g e n e s zu kriechen, und, als ein echter Kostgänger der Natur mit dem Wenigsten was
sie ihm aufsetzt
nichts von den Grofsen, nichts
zufrieden, von seinen
Mitbürgern, nichts von der ganzen Welt verlangen: und ist er fähig den cynischen Heldenmuth bis auf den hohen Grad zu treiben, auf welchem man selbst gegen die Verachtung und die Mifshandlungen der Welt unempfindlich ist; so sehe ich nicht, wie wir ihm den Vortheil absprechen wollen, sich selbst f ü r so grofs und unabhängig, oder wohl noch ein wenig unabhängiger zu
halten,
als irgend
einen Sultan des Erdkreises. Ein solcher Mann würde ein Narr seyn, sagt man. Immerhin!
Er ist nichts desto weniger
Horazens K ö n i g d e r
Könige,
2
) und es
kann Gelegenheiten geben, wo er es die Könige, die es im Ernste sind, fühlen lassen kann.
Waren nicht ehmahls die gröfsten Für-
sten in Europa dem c y n i s c h e n P e t e r v o n A r e z z o 3) zinsbar?
Und war dieser A re-
t i n e r besser als das verächtlichste unter allen
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
235
Mitgliedern der hündischen Sekte, über welchen jemahls die Peitsche Lucians geschwebet hat? Ich sage diefs nicht, um irgend einem Weltbürger seine Ansprüche an diese Art von Unabhängigkeit streitig zu machen, oder ihm, wenn er sich zum Cynismus berufen fühlte, defswegen schlimmer zu begegnen, so lang' er selbst die Gesetze der Duldung gegen uns beobachtet.
Es mufs in eines jeden Wahl
stehen, ob er, um bey der allgemeinen Geschäftigkeit nicht allein müfsig zu seyn, wie Diogenes ein leeres Fafs auf und nieder wälzen, oder ob er an den Trauerspielen, Lustspielen, Pantomimen und Tragi - Komi - Lyriko - Pastoral - Possenspielen,
die auf diesem
grofsen Weltschauplatze gespielt werden, nähern Antheil nehmen will.
Die meisten, wo nicht
alle, welche sich im letztern FrJle befinden, wissen w a r u m
sie es thun; und es giebt
gewifs wenige, welche T u g e n d genug hätten, die untliätige Rolle eines Sultans, wenn es in ihrer Gewalt stände, nicht der Bemühung vorzuziehen, irgend ein gröfseres oder kleineres Rad in der allgemeinen Maschine der Welt herum zu treiben.
Aber wenn wir
G E D A N K E N
an uriseim Tlieile so billig sind, als wir uns (im Nahmen aller biedern Leute, wie wir hoffen) erklärt haben: so werden hingegen auch diese unabhängigen Herren billig genug seyn, nicht mehr von uns zu fordern als wir von ihnen.
Ansprüche an unsern Reyfall, an unsre
Hochachtung, an irgend eine Art von Belohnung zu machen, wodurch die Gesellschaft die Gabe ihr zu gefallen, oder die Bemühung ihr nützlich zu seyn, aufmuntert, diefs würde eben so lächerlich heraus kommen, als das hohe Ansehen das sich ein verdienslloser Geck von -Stande gegen Leute giebt, welche
seinem
S t a m m b a u m nichts als i h r e e i g e n e n V e r d i e n s t e entgegen zu setzen haben. D O
Es giebt ( i m Vorbeygehen gesagt) Leute, welche sich sehr betrügen, wenn sie sich die äufserlichen Zeichen der Ehrerbietung zueignen , die man ihrem Kleide, oder irgend einem T a l i s m a n den sie bey sich tragen, erweiset; und sie müssen sichs gefallen lassen, wenn sich der Fabeldichter die Freyheit nimmt, sie an die Geschichte des Esels, der das Bild der I s i s trug, zu erinnern.
Von alten Rittern
abstammen —- oder geerbt haben, ist zuwei-
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
237
len ein V o r t h e i l , aber niemahls ein V e r dienst.
Die Gesellschaft erwartet nicht ohne
Grund von denen, die sich in dem einen oder andern Falle belinden, dafs sie die Vortheile, welche sie vor andern haben, zu Erwerbung einiger Verdienste anwenden: ö
auch giebt es O
so vielerley Arten von Verdiensten, und die Welt läfst sich meistens mit so wenigem abf i n d e n , dafs schwerlich ein Mensch unglücklich genug geboren wird, um nicht zu irgend einer Rolle tauglich zu seyn.
Wer keinen
Ritter vorstellen kann, wird vielleicht einen guten Knappen machen; und fehlt alles, nun so wird er doch zum Lichtputzer gut genug seyn.
Einer ist ein vortrefflicher Leiermann;
ein andrer versteht die Kunst aus einer kleinen Stadt eine grofse zu machen, sagte T h e m i s t o k l e s ; und wer keines von beiden gelernt hat, verdient mit Füfsen aus der Schöpf u n g hinaus gestofsen zu werden, setzt S w i f t hinzu; — ein strenges Urtheil, welches ich, zu Gunsten so vieler die dadurch in den l e e r e n Raum
verstofsen
würden,
dahin
mildern
möchte: der hat kein Recht, auch nur von dem letzten
aller Holzhacker
in
der Welt
persönliche Achtung zu fordern.
Zugestan-
«58
G E D A N K E N
den hingegen, dafs es ihm erlaubt sey sich nicht darum z u bekümmern;
denn auch der
elendeste Mensch hat, so gut als jeder Erdenw u r m , ein angebornes Recht nach seiner eigenen Weise glücklich zu seyn. Der
eigentliche
Cyniker
kann
noch
einen Schritt weiter gehen, als derjenige, der sich blofs begnügt keine Verdienste zu haben. Ihm ist nach seinen Grundsätzen erlaubt, sich Viber alle Gesetze des Wohlstandes, über alles was blofs von der Meinung andrer abhängt, hinweg zu setzen. Kaiser J u l i a n
Er darf, wenn er will, w i e
mit ungekämmtem Haar und
blofsen Füfsen herum wandeln, seinen Strumpf zur Mütze machen,
seinen Bart und seine
Nägel nach Belieben wachsen lassen, auf der Strafse essen, aus der hohlen Hand trinken, und zwanzig andre Dinge thun, welche kein Mensch thun wird dem etwas an der Achtung seiner
Mitbürger
gelegen
ist.
Alles
kommt darauf an dafs er sich einmalil auf diesen Fufs gesetzt habe, und in so fern sein Bei ragen nur einiger Mafsen leidlich ist, wird, so bald man weifs wer er ist, niemand etwas dagegen einzuwenden O O
haben.
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
£59
Ob der ungenannte Verfasser der Inschrift, welche uns zu dieser Betrachtung veranlafst hat, von c y n i s c h e n
oder
Gesinnungen
bewogen
worden sey,
Beurtheilern
eine
seinen
so dreiste Erklärung
t h u n , ist uns unbekannt. auch wohl
sultanischen zu
Indessen könnte er
einen Beweggrund
dazu gehabt
haben, der aus einer ganz andern Quelle entspringt, und ohne die mindeste Beleidigung der gesellschaftlichen Pflichten blofs die Erfüllung einer wesentlichen Pflicht gegen sich selbst zur Absicht hat.
Er könnte nehmlich bey der aufrichtigsten Bemühung sich um die Welt
verdient
zu machen, — bey aller möglichen Achtung für ihre richterliche Befugnifs, „einen entscheidenden "Ausspruch zu t h u n , in wie weit er seinen Zweck erreicht habe," — und bey der vollkommensten Ehrerbietung gegen die Gesetze des Wohlstandes, eigenen
Sicherheit
blofs
um
willen
seiner es
dahin
gebracht haben, „sich ruhig um seine Achse herum zu drehen,
ohne von dem Lob oder
Tadel des gröfsern Tlieils seiner Zeitgenossen
S4-O
G E D A N K E N
jemahls auf eine merkliche Art aus dem Gleichgewichte gesetzt zu werden." Wenn diefs der Fall war worin er sich befand/ so getrauen wir uns zu behaupten, dafs ihm diese Gleichgültigkeit nicht nur mit keinem Recht übel ausgedeutet werden könne; sondern dafs es in der That nicht weislich von ihm gehandelt gewesen wäre, wenn er seine Glückseligkeit von den Meinungen andrer Leute hätte abhängig machen wollen. Für ein vernünftiges Wesen läfst sich keine Glückseligkeit ohne Z u f r i e d e n h e i t m i t s i c h s e l b s t denken. Sollte er sich im Genufs dieser Zufriedenheit dadurch unterbrechen lassen, dafs Andere nicht mit ihm zu* frieden sind ? „Aber wenn diese Andern h a b e n es nicht zu seyn?"
Ursache
Unfehlbar werden sie, wenn sie* es nicht sind, allemahl glauben Ursache dazu zu haben. Aber seine Eigenliebe. miifste ihre Schuldigkeit schlecht thun, wenn sie ihn nicht (in
ÜBER
EINK
ALTE
AUFSCHRIFT.
24.1
den meisten Fällen) überzeugte,
dafs
Unrecht
glauben.
haben
diefs
zu
sie
Und wer soll nun R i c h t e r
zwischen
ihm
und seinen T a d 1 e r n seyn ?
Ich sehe keinen
andern W e g als, in Ermanglung eines Delfischen Apollo, d i e S a c h e zu
unentschieden
lassen. Aber der Mann von dem die Rede ist
kann in keinem unentschiedenen Gemüthszustände bleiben.
Er mufs mit sich selbst zu-
frieden seyn, oder er mufs es n i c h t seyn. Das letzte ist ein sehr unbehaglicher Zustand. Soll er seinen Tadlern glauben, welche ihn unzufrieden machen, oder seinem eignen Gefühl, welches ihn beruhigt ? —. Die Antwort giebt sich von
selbst.
Und
fehlt es ihm
etwann an Gründen sie zu unterstützen ? Wer kennt ihn besser als er sich selbst kennt ? Wer kann richtiger von seinen Gedanken, Absichten und Handlungen urlheilen als er selbst? Wer kennt den ganzen Zusammenhang davon so gut als er?
Wer weifs so gut als er, wie
viel Mühe er sich gegeben hat,
in diesem
oder jenem Falle recht zu handeln? W l E U S D i w . XIII. B.
31
24-2
G e d a n k e n
Und wer sind am, Ende diese Richter, welche sich anmaßen über ihn zu sprechen? Die Welt ist ein Zusammenfluß einer unendlichen Menge von Personen, deren jede sich selbst für berechtigt hält, über alles was ihr vorkommt zu urtheilen. Gesteht man ihnen dieses Recht zu, (und was half es, sich dagegen zu sträuben? sie würden es sich doch niemahls nehmen lassen) so ist eine nothwendige Folge davon, dafs man ihnen auch zugestehen mufs, n a c h ihren eigenen Vorstellungen und M e i n u n g e n zu urtheilen. Das Gebiet des M e n s c h e n v e r s t a n d e s umfafst alles was in die Begriffe des S c h ö n e n und G u t e n eingeschlossen ist, folglich alle gegenstände des G e s c h m a c k s und der S i t t l i c h k e i t . Jeder glaubt darüber urtheilen zu können, weil er sich bewufst ist, die dazu gehörigen W e r k z e u g e mit auf die Welt gebracht zu haben. Man bedenkt nicht, dafs diese Werkzeuge, ehe man sich ihrer mit Sicherheit und gutem Erfolge bedienen kann,
ÜBER
EINE
ALTE
AI/FSCHRIFT.
24.3
a u s g e a r b e i t e t und p o l i e r t seyn müssen; und dafs es auch alsdann noch auf die der
Anwendung,
geschickter
und auf
Handgriffe
Art
eine Menge
ankommt,
ohne
welche sie entweder unbrauchbar sind, oder gar schädlich werden.
Was nützt der feinste
Grabstichel in der Hand eines Ungeschickten? Und wie wahrscheinlich ists, dafs ein Kind mit einem scharfen Messer Schaden thun wird! Jedermann glaubt Geschmack und Einsichten genug zu haben,
um zu sagen, diefs ist
s c h ö n , diefs e d e l ,
diefs r e c h t , jenes u n -
r e c h t , h ä f s l i c h , l ä c h e r l i c h , u. s. w. Der unerfahrenste Fähndrich urtlieilt über die Mafsregeln seines Generals; der geringste Schuhflicker
über die Landesregierung;
der
einfältigste Leser über den Werth eines Schriftstellers; der lächerlichste Geck über den Mann von Verdiensten.
Unter Tausenden, welche
sich täglich die Freyheit nehmen, in Vorzimmern und Kaffeehäusern, beym Aufstehen der Grofsen und beym Putztische der Damen, in Versammlungen
und auf Spaziergängen, an
öffentlichen Wir thstafeln und in Wochenstuben,
G e d a n k e n
244
über — Alles in der Welt abzusprechen, findet sich oft kaum Einer, der jemahls in seinem Leben überlegt hat, was dazu gehöre, um von irgend einer Sache, irgend einer Person oder irgend einer Handlung r i c h t i g zu urtheilen. Die meisten haben ihre L o g i k in der e r s t e n K i n d h e i t gelernt; eine unvermerkt erlangte Fertigkeit wird endlich mechanisch; und sie urtheilen im dreyfsigsten Jahre auf eben die Weise wie sie im dritten urtheilten. K i n d e r gründen ihre Urtheile entweder auf sinnliche Gefühle von Lust und Unlust, oder auf einzelne Bemerkungen und zufällige Ähnlichkeiten, oder sie sprechen blofs nach, was sie von andern gehört haben; und was thun die meisten unter uns ihr ganzes Leben lang anders ? Der U n w i s s e n d e findet tausend Dinge sonnenklar,
die
dem
Gelehrten
dunkel
scheinen; tausend den W e i s e n unauflösliche Aufgaben z e r s c h n e i d e t
er ohne die ge-
ringste Mühe, und kann gar nicht begreifen^ wie man ihre A u f l ö s u n g so schwierig finden
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
245
könne. Umgekehrt giebt es eine Menge Fragen, die dem Verständigen leicht zu beantworten sind, da es hingegen unmöglich ist sie der Dummheit oder dem Vorurtlieil begreiflich zu machen. Ein kleiner Geist, der in dem kleinen Kreise, den er mit seiner Nase um sich her beschreibt, das kleinste Stäubclien wahrnimmt (eine andre Eigenschaft der kleinen K i n d e r ) sieht nichts mehr, so bald er einen grofsen Umfang, eine Menge verschiedener Gegenstände, ein aus vielen Theilen zusammen gesetztes Ganzes übersehen soll. 4) Leute, welche gewohnt sind, sich blofs mit s i n n l i c h e n Gegenständen zu beschäftigen, sehen nichts in Gegenständen, welche nur g e d a c h t werden können. Andre, welche sich allein bemühen ihre s y m b o l i s c h e und w i s s e n s c h a f t l i c h e Erkenntnifs zu erweitern, sehen oft falsch oder gar nichts in Dingen, die eine geübte E m p f i n d s a m k e i t erfordern. Ein Adler sieht ungeblendet in die Sonne; eine Motte wird von einem Talglicht geblendet — sagt Gracian.
G E D A N K E N
Wie viele und tiefe Kenntnisse erfordert die leichteste p o l i t i s c h e oder m o r a l i s c h e Aufgabe, wenn sie, unter b e s t i m m t e n Umständen, gründlich aufgelöset werden soll! Wie genau müssen alle Umstände gekannt, geprüft und abgewogen werden, ehe man im Stand ist von der sittlichen Güte irgend einer Handlung zu urtheilen! Wie schwer ist es, auch alsdann wenn man alles weifs, was der höchste Grad der menschlichen Aufmerksamkeit an einer Person entdecken kann, auch alsdann wenn man diese Person in den verschiedensten Umständen des Lebens ans allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, und ihre verschiedenen Seiten aufs sorgfältigste mit einander verglichen hat, wie schwer bleibt es noch immer von d e n B e w e g Urs a c h e n ihrer Handlungen zu urtheilen! Und gesetzt wir hätten diejenigen ausfündig gemacht, welche diese Person s e l b s t dafür hält; wie weit sind wir noch immer von der Kenntnifs der wahren Triebfedern entfernt, die so tief in dem dunkeln Theil unsrer Natur verborgen liegen, dafs sie auch dem schärfsten Beobachter seiner selbst in den meisten Fällen unsichtbar bleiben!
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
24.7
Und gleichwohl mit welchem Leichtsinn, mit welcher Verwegenheit urtheilt man tag* lieh über Gegenstände dieser Art!
Der klein*
ste Schein, die flüchtigste Kenntnifs einer verwickelten Thatsache, wenige oft nur zufällige Umstände einer Begebenheit, blofse Vermuthungen , die ihre ganze Wahrscheinlichkeit von willkührlichen Voraussetzungen empfangen, werden für hinreichend angesehen, um mit der
gröfsten Dreistigkeit
den Karakter
einer Person festzusetzen, ihr Tugenden abzusprechen, oder Fehler und Schwachheiten zuzuschreiben, und oft (wenigstens auf einige Zeit) das öffentliche Urtheil von ihr zu bestimmen. Weise Leute, welche geneigt mögliche
Behutsamkeit
gegen
sind alle
ihre
Schwäche und gegen fremde Thorheit
eigene oder
Bosheit zu gebrauchen, pflegen sich zum Gesetze zu machen, „ihre Urtheile niemahls nach fremden
Urtheilen oder Nachrichten, son-
dern lediglich nach den H a n d l u n g e n einer Person zu bestimmen."
Eine vortreffliche Re-
gel, welche uns niemahls irren lassen würde, wenn wir — d i e U 11 pa r t e y l i c h k e i t und d i e A u g e n einer G o t t h e i t hätten.
248
G E D A N K E N
Aber da wir nur Menschen sind, kann sie uns so wenig als irgend ein anderes Mittel vor den Irrthümern schützen, denen wir durch die Schranken unsers Verstandes, durch unsre Eigenliebe
und andre Leidenschaften,
neben tausend äufserlichen Zufällen, die oft wider unsern Willen unser Urtheil verfälschen, ausgesetzt sind. Ich urtheile blofs nach Handlungen, heifst es. — Gut! Aber (gesetzt auch, dafs ich alles durch mich selbst sehen könnte, und nicht in den meisten Fällen g e n ö t h i g t wäre mich fremder Augen zu bedienen) was sehe ich von diesen Handlungen als was davon in die Augen fällt?
Oft, bey aller möglichen Scharf-
sichtigkeit, nur so viel als man mir davon sehen lassen will! Entscheidet nicht oft der B e w e g g r u n d den innern Werth einer Handlung? und wie will ich diesen allemahl mit Gewifsheit angeben ? Bin ich immer gewifs, irgend e i n k l e i n e r
dafs mir nicht
Umstand
unbekannt
UBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
24.9
geblieben ist, welcher der ganzen Sache eine andre Gestalt geben würde? — oft die Richtigkeit
Hängt nicht
eines grofsen
Entwurfs,
die Zweckmässigkeit einer langen Folge von Veranstaltungen von einem solchen Umstände ab ?
Bin ich immer gewifs, dafs ich die Sache
in dem e i n z i g e n G e s i c h t s p u n k t
gefafst
habe, woraus sie gesehen werden mufs? Bin ich immer gewifs, dafs keine v o r gefafste
Meinungen
—
eine Art
von
Federn, deren Spiel auch den Weisesten unmerklich zu seyn pflegt —
mich verhindert
recht zu sehen ? Habe ich mir
Zeit
g e n u g dazu ge-
nommen ? Habe ich keinerley Art von g e h e i m e m V o r t h e i l die Sache so und nicht anders anzusehen ? Geschieht es nicht oft, unsrer
dafs wir blofs
Scharfsichtigkeit
zu
Ehren
genöthigt sind, die Augen gegen das Licht, das man uns geben* w i l l , zu verschliefsen? — W l E L A N I X
W . XIII.
B,
Ein 5 2
250
G E D A N K E N
Fall worin vorzüglich solche Personen nur allzu oft befinden, deren S t a n d P l a t z nicht zu gestalten scheint, dafs sie nur stillschweigend eingestehen sollten geirret zu haben.
sich oder auch sich
Wenn Personen von seltnen Verstandeskräften, von tiefster Kenntnifs des menschlichen Herzens, von geübtem und geschmeidigem Geiste, sich nichts desto weniger oft in irgend einem dieser Fälle befinden; was sollen wir von dem grofsen Haufen sagen ? Wie viele sehen wir, die keinen andern Beruf haben ihre Meinung von einer Sache zu sagen, als das Selbstvertrauen, das ihnen ihre Geburt, ihr Rang, ein Kreuz, ein Ordensband, ein D. oder M. vor ihrem Nahmen einfiöfst! Wie viele, die ihr ganzes Verdienst dem Frisierer, Sticker und Schneider zu danken haben, geben jetzt als eben so viele Apollo's ihre Urtheilsspriiche in Gestalt von Orakeln von sich, da sie ohne jene Vortheile stummer als Bildsäulen seyn würden!
ÜBER
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
251
Wie mancher würdiget seinen Vorrath von kleinen Hof - oder Stadt-Intriguen, ärgerlichen Geschichtchen und Vorzimmer-Neuigkeiten mit dem stolzen Nahmen K e n n t n i f s d e r W e l t , und glaubt kraft
derselben
eine
wichtige
Stimme bey allen Sachen zu haben, Beurtheilung
Kenntnifs
der W e l t
deren und
d e s M e n s c h e n fordert! Wie mancher urtheilt zuversichtlich von Dingen wovon er nichts versteht, blofs weil er gewohnt ist seinem Urtheil in andern Dingen zu trauen, von denen er Kenntnifs und Erfahrung hat! Wie mancher, dem sein Verstand nicht einmahl so viel Licht giebt, als vonnöthen wäre um in das u n e n d l i c h e D u n k e l hinaus zu sehen, welches auf dem öden L e e r e n seiner Seele ruhet,
hat keinen andern Titel
seineStimme zu geben als s e i n e D u m m h e i t ! Wie viele urtheilen blofs weil sie lange geschwiegen haben, und weil sie es der Anständigkeit gemäfs halten, auch wieder den Mund aufzuthun!
G E D A N K E N
Wie
viele,
weil
sie noch
von
ihrer
Kindheit her gewohnt sind immer etwas zu plappern! Und wie viele sind blofs der Nachhall von andern! Aber auch bey der immer noch beträchtlichen Anzahl derjenigen,
welche Verstand,
"Witz oder Geschmack genug hätten, in einem gegebenen Falle richtig zu urtheilen, wie selten ist es, dafs nicht -Vorurtheile, Interesse, Parteylichkeit, Eifersucht, Neid, oder andere Leidenschaften ihnen die Gegenstände in einem f a l s c h e n L i c h t , und mit andern als ihren e i g e n e n F a r b e n zeigen! Wie allgemein sind die Vorurtheile der Völker gegen einander; und wie gewöhnlich ist sogar bey der nehmlichen Nazion die gegenseitige
Verachtung
einzelner
Provinzen,
Städte, u. s. w. Wie schwer ist es unparteyisch von denjenigen zu urtheilen, welche andern G r u n d s ä t z e n zugethan sind, oder zu einer Klasse,
ÜBER
E I N E
ALTE
AUFSCHRIFT.
253
einem Orden, einer Gemeinheit gehören, deren Vortheile den unsrigen im Lichte stehen! Wie selten ist es, gerecht gegen Talente und Vorzüge zu seyn, welche das gewöhnliche Mafs übersteigen! Auch alsdann, wenn kein besonderes Interesse unsere Aueen für höhere Verdienste zuschliefst, ist es oft schon genug, dafs ein andrer (der doch am Ende nur uns e r s g l e i c h e n oder auch wohl, in andern Rücksichten, u n t e r u n s ist) Verdienste haben soll, die uns persönliche Hochachtung für ihn a b z u n ö t h i g e n scheinenj uns, die wir uns vielleicht bewufst sind, dafs wir alle Ansprüche an s e i n e Achtung blofs auf äufserliche Zufälle gründen können. Man wendet, so lang' es nur immer möglich ist, alles an, die Vorzüge einer solchen Person zu verkleinern: und sind sie so allgemein anerkannt, dafs wir, zur Ehre unsrer eigenen Urtheilskraft, Bedenken tragen müssen sie zu mifskennen; so tröstet man sich wenigstens damit, ihre Schranken ausfündig gemacht zu haben. Mit gierigen Blicken, mit bewaffneten Augen spürt man
£54-
G e d a n k e n
alles auf -was wirklich fehlerhaft ist, oder wenigstens, von einer gewissen Seite betrachtet, Stoff zu nachtheiligen Anmerkungen und boshaften Muthmafsungen geben kann. Ist es unmöglich einer solchen Person von der Seite ihrer T a l e n t e beyzukommen; so findet man Mittel ihre G r u n d s ä t z e zu vergiften, und ihren sittlichen Karakter unter die öffentliche Hochachtung zu erniedrigen. Daher zum Beyspiel der Vorwurf des E i g e n d ü n k e l s und der R u h m s u c h t , welcher oft keinen andern Grund hat, als das Bewufstseyn unsrer eigenen Einbildung auf unsre kleinen Vorzüge; ein Schlufs von uns auf andere, der in diesem Falle um so seltner richtig ist, je gewisser es ist, dafs grofse Talente und Einsichten ihre Besitzer natürlicher Weise b e s c h e i d e n e r machen, als es der Eigenthümer des eingeschränktesten Verstandes oder Verdienstes seyn kann. Denn j e n e , welche zur Bestimmung der Grade jeder Vollkommenheit ein i d e a l i s c h e s M a i s zu gebrauchen gewohnt sind, sehen sich selbst immer weit unter dem Grade von Vortrefflichkeit, den sie d e n k e n können:
ÜBER
diesen
E I N E
ALTE
AUFSCHRIFT.
255
hingegen ist kein andres Mafs be-
kannt als die M e i n u n g die sie v o n
sich
s e l b s t haben; und sie sind eben so unfähig sich von irgend einem Grade von Vollkommenheit, der über dem i h r i g e n
steht, den
mindesten Begriff zu machen, als ein Mensch unfähig ist, sich zu einer anschauenden Vorstellung von einem Geist ohne Körper, oder von den Wirkungen solcher Geister in einander zu erheben. Ich berufe mich auf diejenigen, welche die Menschen in der Geschichte und durch ihre eigene Erfahrung am längsten und genauesten beobachtet haben, ob es nicht wahr sey: dafs man an den
vollkommensten
Personen immer die meisten und gröfsten Fehler findet, und zu eben der Zeit, da man ihnen ü b e r h a u p t die glänzendsten Vorzüge eingesteht,
stückweise
wieder so viel davon
abzuziehen weifs, dafs ihnen am Ende kaum so viel übrig bleibt, als der alltäglichste Mensch vonnöthen hat um erträglich zu seyn. derlich genug!
Wun-
Sollen wir etwann glauben,
dafs diese Personen, deren Vortrefflichkeit man so willig eingesteht, wirklich mit aller dieser
256
G E D A N K E N
ungeheuern Menge von Fehlern belastet seyen ? Es ist wenigstens nicht w a h r s c h e i n l i c h . Es scheint dem o r d e n t l i c h e n L a u f e d e r N a t u r nicht gemäfs, dafs eine Person von grofsem Verstand und edler Seele so unzählige Mahl schlecht denke, klein, verkehrt und verachtenswürdig handle, als sie thun müfste wenn man ihren Tadlern glauben wollte. Es ist wenigstens ungleich wahrscheinlicher, dafs man die meisten dieser Fehler nur darum sieht, weil man sie sehen w i l l , oder weil man sie durch das vergröfsernde Auge der E i f e r s u c h t und der g e d e m ü t h i g t e n Eig e n l i e b e betrachtet. Es ist immereine Art von Entschädigung, welche diese dafür erhalten, fremde Vorzüge mit dem öffentlichen Beyfall gekrönt sehen zu müssen. Man hat längst bemerkt, dafs die geringem Klassen eines Staats gemeiniglich eine merkliche Freude bey den Unglücksfällen der Grofsen äufsern. Die Freude über die Entdeckung der Fehler an Personen von vorzüglichen Verdiensten scheint aus einerley Quelle zu fliefsen. Der Neid ist eine von den unnatürlichsten Leidenschaften, pflegt man zu sagen;
UBEIY
EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
denn was gewinnt er dabey,
wenn er die
Vorzüge anderer verkleinert? — sehr viel dabey. zu zerstören,
257
E r gewinnt
E r hat das Vergnügen etwas
das ihn nöthigen würde gerin-
ger von sich selbst zu denken;
er befindet
sich in dem Falle jenes Atheners, der keinen andern Grund
anzugeben hatte,
warum
er
zur Verbannung des A r i s t i d e s seine Stimme gab, als weil Aristides sich den Beynahmen d e s G e r e c h t e n erworben hatte. Es ist öfters,
nicht allemahl
Bosheit;
es
ist
und vielleicht in den meisten Fällen,
eine n a t ü r l i c h e
U n m ö g l i c h k e i t anders
zu handeln, was unsern Urtheilen von andern einen Schein der Bosheit giebt. beynahe
Woher diese
allgemeine Geneigtheit,
wenn man
den H a n d l u n g e n einer Person nichts anhaben kann,
ihr wenigstens
Beweggründe
anzudichten,
wodurch ihr das Verdienst edel
und
gehandelt
schön
wird?
Warum
sucht
zu
man zu
m¿klugen That eigennützige Woher glauben
dieser
entzogen
jeder grofs-
Absichten
anscheinende Widerwille,
—
Wienands
haben
W . X I I I . B.
auf? zu
a
G e d a n k e n
58
„Dafs man Gutes thun könne um Gutes zu t h u n ? Dafs lieben
Freunde
können,
einander ohne
zärtlich
durch
andre
Bande als ihre gemeinschaftliche Liebe zum Schönen und Guten verbunden zu seyn? Dafs eine reine Freundschaft
zwi-
schen Personen von verschiedenem Geschlechte Statt finden könne? Dafs man
Thorheiten,
menschliche Natur
welche die
verunzieren,
bräuche, welche der
Gesellschaft
Mifsver-
derblich sind, b e s t r e i t e n könne, ohne die Absicht zu haben einzelne Personen zu k r ä n k e n ? Dafs man auch gegen seine liebsten Freunde unparteyisch seyn könne? Dafs man von einem Grofsen Gutes sagen könne, seyn ? "
ohne ein Schmeichler zu
ÜBER
EINE
ALTE
Mit Einem
AUFSCHRIFT.
Worte,
woher
diese
25g
bey-
nahe allgemeine Abgeneigtheit, in irgend einem besondern Falle an d i e T u g e n d
zu
glau-
b e n ? — Woher anders als von der Nothwendigkeit,
in welche uns die N a t u r
selbst
gesetzt hat, von andern n a c h u n s z u u r t h e i len, und nicht anders als mit äufserster Mühe, und
auch alsdann
nur
mit
schwankenden
Zügen und leblosen Farben, uns eine Vorstellung von Vollkommenheiten zu machen, wovon wir das Urbild nicht in uns selbst finden ? 5)
Oft sagt der Tadel,
eine Person belegt,
womit man
nichts anders,
als dafs
diese Person nicht dazu aufgelegt ist,
oder
nicht für gut befindet,
von
u n s zu seyn.
6
)
eine
Kopey
Sie denkt anders als wir;
sie handelt anders als wir an ihrem Platze gehandelt geben,
haben
würden.
Ihr
Recht
wäre eben so viel als u n s
zu verurtheilen.
zu
selbst
Wenn eines von beiden Un-
recht haben mufs, was ist natürlicher als die Parteylichkeit für uns selbst? Aber aus welcher Eigenschaft des menschlichen Herzens sollen wir eine andre Thatsache erklären , welche nicht weniger gemein ist
s6o
G E D A N K E N
als jene: „die Gewohnheit in allen Fällen,' wo eine Handlang z w e y S e i t e n zu gleicher Zeit zeigt, sich vorzüglich b e y d e r häfsl i c h e n aufzuhalten; ja, auch alsdann, -wenn die vortheilhafte Seite am ersten in die Augen fallt, die nachtheilige mit allem Fleifs a u f z u s u c h e n , und sein Urtheil von der Sache b l o f s a u f d i e s e zu gründen?" — Sollte sich unser Herz auch hier von der Anklage der Bosheit frey sprechen lassen? Sollen wir glauben, dafs blofs die Erinnerung, wie oft in solchen Fällen unsre gute Meinung von andern betrogen worden, der wahre Grund sey, warum der gröfste Theil der Personen, die eine Zeit lang in der Welt gelebt haben, sich zur Regel gemacht zu haben scheint, alle Handlungen andrer von der schlimmsten Seite und im nachtheiligsten Lichte zu betrachten? Hat man etwa zu oft gesehen dafs d i e F r ö m m i g k e i t nur die Maske eines T a r t ü f f e n war, um sich erwehren zu können, einen jeden, der einen besondern Schein dieser ehrwürdigen Tugend von sich wirft, bis auf nähern Beweis für einen Tartüff zu halten? Hat man so viele gesehen welche d i e F r e y h e i t d e r F i l o s o f i e zum Deckmantel
ÜBER
E I N E
ALTE
AUFSCHRIFT.
fl6l
der R u c h l o s i g k e i t gebraucht haben, dafs man
den sichersten Weg zu gehen
wenn man einen jeden,
der jene
glaubt, Freyheit
behauptet und ausübt, f ü r einen gefahrlichen Mann,
und zum wenigsten f ü r einen heim-
lichen Gönner des Unglaubens und
Epikuri-
scher oder ruhestörender Grundsätze hält? — Es mag seyn!
Indessen geschieht es oft genug,
dafs Unschuldige das Opfer von solchen Schlüssen werden, die sich blofs auf eine V e r m u t h u n g stützen, welche die Quelle der gröfsten Unbilligkeit wird, irgend
einem
Falle
so bald man sie in zum
Grund
eines
S c h l u s s e s macht.
Das Feld, worin wir diese Betrachtungen angestellt haben, ist unermefslich, würde
statt
einiger
schreiben müssen,
und man
Blätter v etliche
Bände
wenn man vom Allgemei-
nen zum Besondern herunter steigen , und sich über die unzählbaren Ungerechtigkeiten ausbreiten wollte, welche jeder besondere Stand, jede besondere Abtheilung der Mitglieder der Gesellschaft von den Urtheilen der Welt zu leiden hat.
G E D A N K E N
Je gröfser die Rolle ist, die wir spielen; je mehr wir durch das Verhältnifs, -welches uns Stand, Beruf oder Talente gegen die Ge» sellschaft geben, dem öffentlichen Auge ausgesetzt sind: desto gewisser dürfen wir darauf rechnen, dafs wir von der gröfsern Zahl weder Gerechtigkeit noch Nachsicht zu gewarten haben. Tausend Augen sind in keiner andern Absicht auf uns geheftet, als um Fehler an uns zu finden; und wehe dem, welcher nicht die Klugheit hat, wie A l c i b i a d e s , zuweilen eine Thorheit zu sagen oder zu thun, u m d e n G e n i u s d e r V e r l e u m d u n g d u r c h ein f r e y w i l l i g e s O p f e r zu besänftigen! Wehe d e m , der ihn durch die sorgfältigste Bemühung n i c h t z u f e h l e n zu besänftigen hofft! Der weiseste, der tugendhafteste, der tadelfreyeste Mann (sagt P l a t o ) wäre gerade derjenige, gegen den sich endlich die ganze Welt zusammen verschwören würde; — und niemahls, göttlicher Plato, hast du eine gröfsere Wahrheit gesagt! Meine Absicht ist erreicht, wenn'ich die Leser auf den Weg gebracht habe, ihre eige-
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EINE
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nen Betrachtungen über diesen Gegenstand fortzusetzen. Auch das Wenige , was ich davon gesagt habe, scheint mir hinreichend, unsern ungenannten A l t e n , in so fern er vielleicht ein Mann von wirklichen Verdiensten war, wegen seiner Gleichgültigkeit gegen den Tadel der Welt zu rechtfertigen.
Aber wenn dieser Tadel nicht wichtig genug ist, zu verdienen dafs man um seinetwillen s c h l e c h t e r von sich selbst denke: sollte man wohl Ursache haben, b e s s e r von sich selbst zu denken, weil man von andern gelobt und gepriesen wird? — A n g e n e h m e r ist es gelobt als getadelt zu werden, diefs ist gewifs: l ) aber wenn wir die Sache genauer erwägen, sollten wir nicht finden, dafs die Welt selten mehr Gehör verdient wenn sie lobt, als Avenn sie tadelt? Die nehmliche Leichtsinnigkeit, der nehmliche Unverstand, die nehmlichen Vorurtheile, Leidenschaften und Nebenabsichten, welche sich bey ihrem T a d e l geschäftig zeigen, theilen gewöhnlich ihren B e y f a l l aus. Wie sollte d e r loben können, der nicht tadeln kann?
G E D A N K E N
Wie selten ist die Hochachtung, die man andern zeigt, g e f ü h l t e Hochachtung! Wie selten ist das H e r z die Quelle des Lobes, das von unsern Lippen sprudelt! Wie oft ist der Beyfall, den man einem andern ertheilt, nur e i n e f e i n e W e n d u n g um sich s e l b s t zu l o b e n ! Wie oft blofse niedrige S c h m e i c h e l e y oder eigennützige B e s t e c h u n g ! Wie oft gesteht man dem andern gewisse Vorzüge nur darum z u , um den Beschuldigungen, wodurch man seinen Ruhm zu verwunden d e n k t , den Schein der Unparteylichkeit zu geben! Keine Art von Leuten hat weniger Ursache auf das, Avas man a l l g e m e i n e n Beyf a l l nennt, stolz zu seyn als die S c h r i f t s t e l l e r . Allgemeiner Beyfall ist gemeiniglich das Antheil der M i t t e l m ä f s i g k e i t . H o r a z begnügte sich an w e n i g e n L e s e r n ; und w e n i g e hat er bis auf den heutigen Tag, wiewohl er in jedermanns Händen ist.
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KIKE
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Schriftsteller seiner Art dürfen sichre Rechnung darauf machen, Werke,
dafs der G e i s t
ihrer
oder gerade das was das Schönste
und Beste darin ist, f ü r die meisten Leser verloren geht. Wie
wenige
bringen zu Lesung eines
Buches den bestimmten Grad von Kenntnissen, von "Vernunft, Witz, Geschmack, und Empfindsamkeit m i t , den der Verfasser voraus setzt! W i e wenige lesen bey heiterm Kopfe; in derjenigen Gemüthsstimmung und mit derjenigen Absicht, welche erfordert werden, wenn sie sich d e s E i g e n e n Verfassers
in der Denkart des
bemächtigen,
und
mit
seiner
Absicht zusammen treffen sollten! Wie viele haben ein Buch,
wovon sie
urtheilen, ein Buch, welches zweymahl gelesen zu werden verdiente, find
nur
flüchtig
nur durchblättert,
über einzelne Stellen hin-
geglitscht, nach deren halb verstandenem Inhalte sie mit einer Unverschämtheit,
die nur
an kritischen Tagelöhnern erträglich ist, über das Ganze absprechen! Wienands
W.
X I I I . B.
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Immittelst geben einige Leute den Ton an; der grofse Haufe stimmt ein; unvermerkt wird es Mode einen Schriftsteller zu loben, ungeachtet weder er selbst noch sonst jemand eigentlich sagen könnte, wie er zu dieser Ehre gekommen ist. Man lobt ihn, weil man gehört hat dafs er b e r ü h m t ist, u n d , unter tausend, die ihn gelobt haben, sind vielleicht acht hundert in dem Falle, nicht zu wissen wer er i s t , oder was er geschrieben hat. Und gesetzt, dafs unter seinen wirklichen Lesern die Hälfte aus B e w u n d e r e r n bestehe, Himmel! was für Bewunderer! — Dieser lobt gerade das, was der "Verfasser selbst in seinem Werke vernichten zu können wünscht. — Jener findet einen Gedanken vortrefflich, weil E r einen Sinn hinein legt, an den der Verfasser gar nicht dachte; der wohl gar das Gegentheil von dem ist, was er sagen m u f s t e um nicht U n s i n n zu sagen. — Ein andrer findet eine gewisse Stelle herrlich , und bey genauerer Nachfrage zeigt. sich, dafs es eine I r o n i e war, die er f ü r E r n s t nahm. — Die meisten loben blofs
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EIÑE
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um e i n z e l n e r Gedanken und Wendungen, um wirklicher oder vermeinter A n s p i e l u n g e n , oder um irgend eines z u f ä l l i g e n U n i s o n o willen, den eine Bemerkung des Verfassers mit ihrer eigenen Erfahrung macht. Wenige haben einen Sinn für die feinern Schönheiten, zu deren Entdeckung und Genufs mehr gehört als die fünf Sinne, die wir mit den Thieren des Feldes gemein haben; die allerwenigsten überschauen d a s G a n z e , oder sind vermögend sich d e n P l a n eines Werkes vorzuzeichnen. Dieser Plan darf nur ein wenig versteckt seyn, um o f t , zugleich mit den feinsten Kunstgriffen des Verfassers, für den gröfsten Theil der Gelehrten selbst verloren zu gehen. Eine Menge von Reflexionen drängt sich l>ey diesem Gegenstand auf mich z u ; aber es ist zu gefährlich sich lange dabey zu verweilen. Ich würde in Versuchung kommen, zu zeigen, was für unwürdigen Leuten schon mit dem lautesten öffentlichen Beyfall. zugejauchzet worden; durch was für verächtliche Wege dieser Beyfall von den meisten bald e r s c h l i c h e n bald e r z w u n g e n wird; wie
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leicht es ist, mit den wenigsten Talenten berühmt und mit den gröfsten wieder vergessen zu werden; und wie oft unzeitiges, albernes oder übertriebenes Lob demjenigen, der das Unglück hat damit verfolgt zu werden, nachthciliger ist als alles was man mit Recht an ihm tadeln könnte. Ich würde durch Beyspiele — Sed Cynthius aurem vellit et admonuit. Ich habe schon genug gesagt, um zu beweisen, dafs der Ungenannte (er mag nun ein Staatsmann oder ein Schriftsteller, ein Günstling des Kriegesgottes oder der friedsamen Musen, ein Cäsar oder — Nichts gewesen seyn) gute Ursache hatte zu sagen: S i e r e d e n w a s sie wollen. Lafst sie r e d e n ! Was k ü m m e r t s mich? Glückselig ist der Mann, der, mehr bemüht den Beyfall der Menschen zu v e r d i e n e n als besorgt ihn wirklich zu e r h a l t e n , seine Pflichten gegen sie erfüllt, ohne seine Zufriedenheit von i h r e r Zufriedenheit, Gerechtigkeit oder Dankbarkeit abhängig zu machen. Getreu seiner eigenen Überzeugung,
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EINE
ALTE
AUFSCHRIFT.
gebilligt von seinem eigenen Herzen,
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