Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion [1 ed.] 9783428431113, 9783428031115


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German Pages 311 Year 1974

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Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion [1 ed.]
 9783428431113, 9783428031115

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FRIEDRICH·CHRISTIAN SCHROEDER I BORIS MEISSNER

Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion

Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion

Herausgegeben von

Friedrich-Christian Schroeder und

Boris Meissner im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin

DUNCKER &

HUMBLOT /

BERLIN

Das Erscheinen des vorliegenden Bandes wurde durch einen Druckkostenzuschuß des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, ermöglicht

Alle Recltte vorbehalten

@) 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei Bartholdy & Klein, I Berlin 65

Printed in Germaoy ISBN 3 428 031113

Vorwort Die nationale Vielfalt ist eines der Kardinalprobleme des Sowjetstaates, das er seit der Oktoberrevolution mit großem theoretischem Aufwand und immer neuen Experimenten in der Praxis zu bewältigen sucht und bis heute nicht bewältigt hat. Die Versuche und Erfahrungen der Sowjetunion auf diesem Gebiet sind um so interessanter, als auch zahlreiche andere Staaten mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. In einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland schließlich geht es zwar nicht mehr um die Bewältigung akuter Schwierigkeiten; auch hier befindet sich aber das Problem des Föderalismus in einer lebhaften Diskussion, da die Bewältigung der wachsenden Gemeinschaftsaufgaben zu einem Abbau der föderativen Elemente tendiert. Diese Aktualität und ferner der 50. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion waren für die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes der Anlaß, die Tagung 1972 der Fachgruppe Recht der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Maria Laach unter das Thema "Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion" zu stellen. Der vorliegende Band gibt die auf dieser Tagung gehaltenen Referate wieder. Die überwiegend sehr fruchtbare Diskussion, an der sich neben den Herausgebern und Referenten u. a. Prof. Dr. Georg Brunner (Würzburg), Dr. Ivo Lapenna (London), Prof. Dr. Vasyl Markus (Rom), Prof. Dr. Laszlo Revesz (Bern), Dr. Henn-Jüri Uibopuu (Salzburg) und Ministerialrat Dr. Albrecht Zorn (Bonn) beteiligten, konnte dagegen leider nicht im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes wiedergegeben werden. Jedoch sind die Ergebnisse der Diskussion zum Teil in die Referate eingearbeitet worden. Die Einführung in das Thema bildet ein grundsätzlicher Beitrag von Boris Meissner über Entstehung, Fortentwicklung und ideologische Grundlagen des Sowjetföderalismus. Die folgenden Beiträge behandeln von unterschiedlicher Sicht her Einzelfragen des sowjetischen Föderalismus. Zunächst untersucht Jürgen Arnold die staatsrechtliche Stellung der nationalen Gebietseinheiten der UdSSR. Die in vielem typische, in manchem aber auch spezifische Verfassungsentwicklung der baltischen Unionsrepubliken wird von Lothar Schultz untersucht, während Hans Bräker die sowjetische Religionspolitik in den zentralasiatischen Unionsrepubliken darstellt, in denen der Islam eine große Rolle spielt. Es folgen drei Referate, die der Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Unionsrepubliken auf wichtigen Einzelgebieten nachgehen, nämlich

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Vorwort

der Wirtschaftsverwaltung (Andreas Bilinsky), der Rechtspflege (Martin Fincke) und dem Arbeitsrecht (Klaus Westen). Auch die zwei folgenden Beiträge stehen in einem gewissen inneren Zusammenhang. Georg Geilke untersucht den Schutz der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten in der Sowjetunion im allgemeinen, während Leon Boim die Rechtslage der jüdischen Volksgruppe in der Sowjetunion behandelt. Den Abschluß des Bandes bildet ein Referat, in welchem Eberhard Schütz dem sowjetischen Föderalismus als Alternativmodell den jugoslawischen Föderalismus gegenüberstellt, was um so aufschlußreicher ist, als Jugoslawien ebenfalls einen sozialistischen Staat darstellt. Regensburg-Köln, im November 1972

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Entstehung, Fortentwicklung und ideologische Grundlagen des sowjetischen Bundesstaates Von Boris Meissner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur staatsrechtlichen Stellung der nationalen Gebietseinheiten der Sowjetunion Von Jürgen Arnold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Die Verfassungsentwicklung der baltischen Unionsrepubliken Von Lothar Schultz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Religionsproblematik und Nationalitätenpolitik. Zur sowjetischen Zentralasienpolitik und ihrem außenpolitischen Aspekt Von Hans Bräker ........ . .... . ........................................ 113 Die Zuständigkeit der Union und der Unionsrepubliken auf dem Gebiet der Wirtschaftsverwaltung von 1922 - 1972 Von Andreas Bilinsky ....... .. .................... ... ................. . 131 Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Unionsrepubliken auf dem Gebiet der Rechtspflege von 1922 bis 1972 Von Martin Fincke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Unionsrepubliken auf dem Gebiet des Arbeitsrechts. Am Beispiel der RSFSR Von Klaus Westen ............. . ................. .. ................... 201 Der Schutz der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten nach der sowjetischen Gesetzgebung Von Georg Geilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Die Rechtslage der jüdischen Volksgruppe in der Sowjetunion Von Leon Boim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Der Föderalismus in Jugoslawien und der Sowjetunion. Ein Vergleich Von Eberhard Schütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Zur Person der Herau sgeber und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

Entstehung, Fortentwicklung und ideologische Grundlagen des sowjetischen Bundesstaates Von Boris Meissner I. Die Entwicklung der föderalistischen Idee in Rußland und der Wandel in der Einstellung Lenins zum Föderalismus Bereits im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Frage einer föderativen Organisation des Russischen Reiches eine bedeutende Rolle gespielt. Der gewaltige territoriale Umfang des Imperiums und sein Charakter als Vielvölkerstaat legten eine solche Organisationsform nahe 1• Zunächst stand der Gedanke einer Gliederung des Reichsgebietes in große eigenständige Territorien im Vordergrund. Er fand seinen Ausdruck im Verfassungsentwurf von NovosiZ'cev, des Vertrauten Kaiser Alexander 1., aus dem Jahre 18192. Der Artikel I des Entwurfs sah vor, daß das Russische Reich mit allen seinen Gebieten, also auch Finnland und Polen, in zehn Statthalterschaften eingeteilt werden sollte. Unter den Dekabristen ging Muravev in seinem Verfassungsentwurf von einer Gliederung des Reiches in dreizehn autonome Staaten (deriavy) nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika aus3 • Seit Mitte des 19. Jahrhunderts geht die föderalistische Idee eine Verbindung mit dem Nationalitätenprinzip und dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker ein. Für eine föderative Gliederung des Russischen Reiches unter besonderer Berücksichtigung des Nationalitätenprinzips traten außer Bakunin vor allem der aus der Ukraine stammende Historiker Dragomanov und Cernysevskij ein4 •

Dragomanov knüpfte bei seinen Überlegungen an die Verfassungspläne Novosil'cevs an. Cernysevskij, der sich ebenso wie seine Vorläufer 1 Vgl. G. v. Rauch: Rußland : Staatliche Einheit und nationale Vielfalt, München 1953. 2 Vgl. G. Vernadsky: La charte constitutionelle de !'Empire Russe de l'an 1820, Paris 1933; derselbe: A history of Russia, New Haven 1948; A. Fateev: La constitution russe de 1819. Bulletin de l'association russe a Prague II, 1935. 3 Vgl. P. Gronskij: L'idee federativ chez les decabristes, Le monde slave, Juin 1926; A. G. Mazour: The flrst Russian Revolution, Berkeley 1937. ' Vgl. Rauch, a.a.O., S. 98 ff.; V. G. Sokurenko: Demokraticeskie ucenija o gosudarstve i prave na Ukraine vo vtoroj polovine XIX veka (Demokratische Lehren vom Staat und Recht in der Ukraine im 19. Jh.), Lvov 1966.

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Herzen und Bakunin eingehend mit den amerikanischen Verfassungs-

einrichtungen befaßt hatte, leitete die Notwendigkeit einer föderalistischen Lösung aus der von ihm angestrebten demokratischen Ordnung ab5• "Demokratie fordert Selbstregierung und diese drängt zum Föderalismus." Das zaristische Regime hielt bis zu seinem Untergang an der Konzeption des "einheitlichen und unteilbaren Rußland" fest und lehnte daher das Nationalitätenprinzip und die föderalistische Idee entschieden ab. Es waren auf der Gegenseite starke Kräfte in den sozialistischen Parteien, die sich um die Jahrhundertwende herausbildeten, die eine föderative Neuordnung des Russischen Reiches im Zeichen des Selbstbestimmungsrechts der Völker und auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips anstrebten. Sie sind dabei wesentlich durch die föderalistischen Vorstellungen der Österreichischen Sozialdemokraten beeinfl.ußt worden, die für eine weitgehende nationale Autonomie der einzelnen Völker des Habsburger Reiches unter Anwendung des exterritorialen Personalitätsprinzips eintraten. Im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der russischen Sozialdemokraten waren es vor allem die Sozialrevolutionäre und die nationalen sozialistischen Gruppierungen, angefangen vom "Bund", dem jüdischen sozialdemokratischen Verband, die bereits vor der Februarrevolution eine föderalistische Lösung der Nationalitätenfrage befürworteten6 • Der Kongreß der Völker Rußlands, der vom 8. bis 15. September 1917 in Kiew stattfand, sprach sich im Sinne der austromarxistischen Konzeption für die Errichtung einer "Demokratischen Föderativen Republik Rußland" auf der Grundlage einer engen Verbindung des Personalitäts- und Territorialitätsprinzips aus. Die auf dem Kongreß hauptsächlich vertretenen nationalen sozialistischen Parteien hatten sich bereits am 29. Mai 1917 in Petersburg zu einem Rat zusammengeschlossen und dabei die folgende Entschließung über das "Recht eines jeden Volkes auf nationale Selbstbestimmung" angenommen7 • "IV. Die sozialistischen nationalen Parteien werden für das Recht eines jeden Volkes auf jede beliebige der nachstehenden Erscheinungsformen des politischen Selbstbestimmungsrechts eintreten: a) national-territoriale Autonomie, b) national-personale (exterritoriale) Autonomie, c) Ausgestaltung der nationalen Gebiete auf föderativen Grundlagen

Zitiert nach E. Hölzle: Rußland und Amerika, München 1953, S. 230. Vgl. R . Pipes: The Formation of the Soviet Union, Cambridge Mass. 1954, s. 30 ff. 7 Wortlaut: S. M. Diman§tejn (Hrsg.): Revoljucija i nacional'nyj vopros (Die Revolution und die nationale Frage), Bd. 3, Moskau 1930, S. 451 ff. 5

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innerhalb des Russischen Staates, soweit diese Forderung nach dieser oder jener Form des staatlichen Daseins den richtig und demokratisch zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung des ganzen Gebiets (und bei exterritorialen Volksgemeinschaften) des ganzen Volkes und nicht nur den Willen einzelner Parteien darstellt. Der richtige und demokratisch zum Ausdruck gebrachte Wille des Volkes oder Gebiets wird entweder durch die (verfassungsgebende oder gewöhnliche) Vertreterversammlung dieses Volkes oder Gebiets, die auf Grund des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts nach dem proportionalen System gebildet wird, oder durch eine allgemeine Volksabstimmung (Referendum) des betreffenden Volkes oder Gebiets bestimmt." Von dem Petersburger Parteienrat und dem Kiewer Völkerkongreß wurde angeregt, ein Nationalitätenministerium und einen Nationalitätenrat als ständige Vertretung der Interessen der Nationalitäten zu errichten8. Ferner sollte beim Außenministerium ein besonderes Gremium zur Beratung von Nationalitätenfragen geschaffen werden. Diese Vorschläge sollten später von der Sowjetregierung in einem bolschewistischen Sinn verwirklicht werden. Am 27. September 1917 war von der Provisorischen Regierung unter Kerenskij Rußland in eine Republik umgewandelt worden. Nicht zuletzt unter dem Druck der Kiewer Kundgebung entschloß sie sich, durch eine feierliche Erklärung "allen Nationalitäten das Recht der Selbstbestimmung auf einer Grundlage, die von der Konstituierenden Versammlung ausgearbeitet würde", zuzubilligen9 • Diese Erkenntnis kam zu spät, um die Zunahme der partikularistischen und separatistischen Bestrebungen unter den nichtrussischen Völkern zu verhindern. Lenin hatte sich früh für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auf seine Initiative 1903 in das Parteiprogramm der SDAPR aufgenommen wurde 10, und damit für eine Berücksichtigung des Nationalitätenprinzips beim Staatsaufbau ausgesprochen. Er hielt aber das Personalitätsprinzip mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker für nicht vereinbar und lehnte bis 1917 eine föderalistische Lösung für Rußland entschieden ab11 • Dies geht aus seinem bekannten Schreiben an Schaumjan vom 6. Dezember 1913 und seiner Arbeit "Kritische Bemerkungen zur natlonalen s Vgl. Rauch, a.a.O., S. 206, 209. 8 Wortlaut: Dimanstejn, a .a.O., S. 56. 10 Wortlaut: B. Meissner: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, s. 115 ff. 11 Vgl. Pipes, a.a.O., S. 36.

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Frage" vom Oktober, Dezember 1913 deutlich hervor, in der er sagt12 : "Aber- solange und soweit verschiedene Nationen einen Einheitsstaat bilden, werden die Marxisten unter keinen Umständen das föderative Prinzip oder die Dezentralisation propagieren. Ein zentralisierter Großstaat ist ein gewaltiger Schritt vorwärts auf dem Wege von der mittelalterlichen Zersplitterung zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt, und einen anderen Weg zum Sozialismus als über einen solchen (mit dem Kapitalismus unlösbar verknüpften) Staat gibt es nicht und kann es nicht geben." Unter dem Selbstbestimmungsrecht verstand Lenin von vornherein nur das Recht einer territorial genau bestimmten Nation, sich für das Ausscheiden oder das Verbleiben im bisherigen Staatsverband zu entscheiden d. h. sich für die Möglichkeit nationalstaatlicher Unabhängigkeit oder territorialer Autonomie auszusprechen13• Die Ablehnung der national-kulturellen Autonomie auf der Grundlage des exterritorialen Personalitätsprinzips war hauptsächlich durch Lenins Befürchtung vor einem föderativen Aufbau der Parteiorganisation nach österreichischem Vorbild und der damit verbundenen Dezentralisierung der Parteiführung bedingt. Sie widersprach seiner seit 1902 bedingungslos vertretenen Forderung einer straff zentralisierten Ordenspartei von Berufsrevolutionären. Diese Grundeinstellung veranlaßte Lenin, 1913 Stalin und Schaumjan, die vom Kaukasus her mit der Nationalitätenfrage vertraut waren, zu beauftragen, sich mit den Forderungen nach Föderation und Kulturautonomie kritisch auseinanderzusetzen, wie sie vor allem von österreichischer Seite vertreten worden waren. Stalin, der an der Seite Lenins zum führenden Nationalitätenpolitiker aufrücken sollte, kam diesem Auftrag in einer in Wien verfaßten Schrift "Nationale Frage und Sozialdemokratie" nach, die später unter der Bezeichnung "Marxismus und nationale Frage" verbreitet wurde. Er setzte sich dabei hauptsächlich mit den Gedankengängen von Karl Renner und Otto Bauer als den beiden führenden Nationalitätenpolitikern der Österreichischen Sozialdemokratie auseinander. Ihrer Vorstellung vom Volk als Personalverband stellte er seine Begriffsbestimmung entgegen, die von der Nation als einem Territorialverband ausging. Er definierte die Nation als "eine historisch entstandene, stabile Gemeinschaft von Menschen, die durch Gemeinsamkeit der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Kulturgemeinschaft offenbarenden psychischen 12 Vgl. W. I. Lenin: Werke, Bd. 19, Berlin (Ost), S. 494 ff. W. I. Lenin: Zur nationalen Frage, Berlin (Ost), o. J., S. 53. 13 Vgl. B. Meissner: Lenin und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Osteuropa, 20. Jg., 1970, S. 247; A. D. Low: Lenin on the question of Nationality, New York 1958, S. 36.

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Eigenart geeint werden" 14• Nur wenn diese vier Merkmale vorliegen, ist für Stalin die Nation als Realität gegeben. Die Hinzuziehung eines fünften Merkmals, nämlich des Staates, ist von ihm bei der Begriffsbestimmung der Nation ausdrücklich abgelehnt worden. Diese Auffassung ist von Lenin, der sich über diese Schrift Stalins lobend geäußert hat, geteilt worden. Für ihn waren damals der Nationalstaat oder die nationalterritoriale Autonomie die beiden Hauptformen, in denen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirklicht werden konnte. Mit der bolschewistischen Machtergreifung in der Oktoberrevolution siegte die Forderung nach einer revolutionären Lösung der Nationalitätenfrage über die konstitutionellen Reformbestrebungen und das Territorialitätsprinzip über die Vorstellung vom Volk als Personalverband. Die revolutionäre Lösung führte sehr bald zu einer Zurücksetzung des Nationalitätenprinzips gegenüber dem Klassenkampfgedanken, während das Territorialitätsprinzip Rußland im Rahmen des bolschewistischen Einparteisystems zu einer Föderation von nationalen Gebietseinheiten mit beschränkten Selbstverwaltungsbefugnissen und nicht zu einem wirklichen Bund freier und völlig gleichberechtigter Völker werden ließ. Die Selbstbestimmungskonzeption, wie sie seit der VII. Allrussischen (April-) Konferenz der SDAPR(B) Anfang Mai (Ende April) 1917 von der Mehrheit der bolschewistischen Partei im Sinne des Programmentwurfs Lenins und dem Referat Stalins über die nationale Frage vertreten wurde15, fand in der "Deklaration der Rechte der Völker Rußlands vom 15. (2.) November 1917 ihren Niederschlag16• Die Deklaration, die von Lenin und Stalin gemeinsam unterzeichnet worden war, proklamierte in Punkt 2: "Das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines unabhängigen Staates." 14 J. Stalin: Nacional'nyj vopros i social-demokratija (Nationale Frage und Sozialdemokratie), in: Prosvescenie (Aufklärung), 1913, Nr. 3, S. 54. Diese Begriffsbestimmung ist von Stalin beim Wiederabdruck seiner Abhandlung 1939 geringfügig verändert worden. Die Definition lautet seitdem in deutscher übersetzung: "Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart." Vgl. J. Stalin: Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Berlin (Ost), 1950, S. 32 (Übersetzung der russischen Originalausgabe von 1939); derselbe: Werke, Bd. 2, Berlin (Ost) 1953, S. 272 (übersetzung der russischen Originalausgabe 1946). u Vgl. Meissner: Parteiprogramm der KPdSU, a.a.O., S. 25; J. Stalin: Werke, Bd. 3, Berlin (Ost) 1951, S. 45 ff. u Wortlaut: D. A. Gaidukov, V. F. Kotok, S. L. Ronin (Hrsg.): Istorija Sovetskoj Konstitucii (Geschichte der Sowjetverfassung), 1917 - 1957, Moskau 1957, S. 19 ff.; E. B. Genkina: Obrazovanie SSSR (Die Bildung der UdSSR) 1917-1924, Moskau/Leningrad 1949, S. 19 ff.; deutsche übersetzung: W. Uljanow-Lenin: Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, Berlin (West) 1970, S. 36.

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Im Einklang mit dieser Deklaration bildeten sich seit Ende 1917 auf dem Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches bis zu vierzig mehr oder weniger stabile national-territoriale Gebilde heraus. Einzelne unter ihnen wie Polen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Weißrußland, die Ukraine, Nordkaukasien, Georgien, Armenien, AserbaidZan, konstituierten sich als unabhängige Nationalstaaten. Die Sowjetunion erkannte am 31. Dezember 1917 die Unabhängigkeit Finnlands unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht an. Sie war aber nicht bereit, das gleiche im Falle der Ukraine zu tun. Um einem weiteren Zerfall Rußlands vorzubeugen, sah die bolschewistische Parteiführung keine andere Möglichkeit, als auf den Föderalismus, den sie bis dahin scharf abgelehnt hatte, zurückzugreifen. Lenin hatte diese Wendung gedanklich vor allem in seiner am Vorabend der Oktoberrevolution verfaßten Schrift "Staat und Revolution", die noch heute eine der Hauptquellen der sowjetischen Staatslehre darstellt, vorbereitet17. Es gibt eine Reihe weiterer Äußerungen Lenins nach der Februarrevolution, und zwar in der Zeit von April bis Juni 1917, die bereits vor dieser Schrift auf eine positivere Einstellung gegenüber den föderalistischen Bestrebungen hinweisen. Über das Verhältnis Lenins zum Föderalismus und seine Entscheidung für einen föderativen Aufbau Rußlands sind in der Sowjetunion seit dem Tode Stalins zahlreiche Bücher und Aufsätze erschienen18. Dabei werden von den einzelnen Autoren drei unterschiedliche Auffassungen Vgl. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 11, Berlin (Ost) 1953, S. 212 ff. Vgl. G. V. Aleksandrenko: Marksizm-leninizm pro deciavnu federaciju (Der Marxismus-Leninismus über den Föderativstaat), Kiew 1960; S. B. Batyrov: Formirovanie i razvitie socialisticeskich nacij v SSSR (Die Bildung und Entwicklung der sozialistischen Nationen in der UdSSR), Moskau 1962; I. Camerjan: Sovetskoe mnogonacional'noe gosudarstvo ego osobennosti i puti razvitija (Der sowjetische multinationale Staat. Seine Besonderheiten und Entwicklungsphasen), Moskau 1967; derselbe: Teoreticeskie problemy obrazovanija i razvitija sovetskogo mnogonacional'nogo gosudarstva (Theoretische Probleme der Bildung und Entwicklung des sowjetischen multinationalen Staates), Moskau 1973; A. E. Kaichanich: Leninskaja teorija i programma po nacional'nomu voprosu (Die Theorie und das Programm Lenins zur nationalen Frage), Minsk 1962; A. N. Mnacakanjan: Lenin i resenie nacional'nogo voprosa v SSSR (Lenin und die Lösung der nationalen Frage), Erevan 1970; V. Parkoszade: Marksizm-leninizm o federacü (Der Marxismus-Leninismus über die Föderation), Tbilisi 1967; P. G. Semenov: Marksistko-leninskoe ucenie o forme socialisticeskogo gosudarstva (Die marxistisch-leninistische Lehre von den Formen des sozialistischen Staates), Moskau 1955; E. V . Tadevosjan: V. I. Lenin o gosudarstvennych formach resenija nacional'nogo voprosa v SSSR (W. I. Lenin über die Staatsformen für die Lösung der nationalen Frage in der UdSSR), Moskau 1970; D. A. Cugaev: V. I. Lenin-osnovatel' sovetskogo mnogonacional'nogo gosudarstva (W. I. Lenin, der Begründer des multinationalen Sowjetstaats), Moskau 1970; D. L. Zlatopol'skij: 17

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vertreten19• Die eine Gruppe geht davon aus, daß Lenin seit 1903 mit der Möglichkeit einer föderalistischen Lösung für Rußland gerechnet hat. Sie beruft sich dabei vor allem auf seine Arbeit "Die nationale Frage in unserem Programm" 20 , die in diesem Jahr erschienen war. Die zweite Gruppe legt den Hauptnachdruck auf die Äußerungen Lenins zu dieser Frage in der Zeit vom April bis Juni 1917. Die dritte Gruppe sieht im Einklang mit der herrschenden Auffassung in der späten StalinZeit in der im August 1917 verfaßten Schrift "Staat und Revolution" die ideologische Begründung der Entscheidung für einen föderativen SSSR - Federativnoe gosudarstvo (Die UdSSR- ein föderativer Staat), Moskau

1967; F. Ju. Burmistrova: Iz istorii bor'by Lenina za principy nacional'noj

politiki partii (Aus der Geschichte des Kampfes Lenins für die Prinzipien der Nationalitätenpolitik der Partei), Voprosy istorii KPSS, 1965, Nr. 2, S. 40 ff.; N. P. Farberov: 0 nekotorych spornych voprosach teorii Sovetskogo gosudarstvennogo prava (Über einige strittige Fragen der sowjetischen Staatsrechtstheorie), Sovetskoe gosudarstvo i pravo (Sowjetstaat und Recht) - abgekürzt SGP -, 1961, Nr. 9, S. 138 ff.; derselbe: Nekotorye voprosy sovetskogo federalizma (Einige Fragen des Sowjetföderalismus), in: Torlestvo leninskoj nacional'noj politiki (Der Triumph der Leninschen Nationalitätenpolitik), Moskau 1963, S. 233 ff.; A. Kaichanidi: Marksizm-leninizm o principe gosudarstvennoj federacii (Der Marxismus-Leninismus über das Prinzip der staatlichen Föderation), Sbornik naucnych rabot Belorusskogo universiteta (Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten der Weißrussischen Universität), 1. Folge, 1958, S. 61 ff.; M. I. KuliCenko: V. I. Lenin o federacii i ee roli v stroitel'stve Sovetskogo mnogonacional'nogo gosudarstva (W. I. Lenin über die Föderation und ihre Rolle im Aufbau des multinationalen Sowjetstaats), Voprosy istorii KPSS, 1961, Nr. 5, S. 57 ff.; I. D. Levin: Sovetskaja federacija- gosudarstvennopravovaja forma razresenija nacional'nogo voprosa v SSSR (Die sowjetische Föderation- die staatsrechtliche Form zur Lösung der nationalen Frage in der UdSSR), in: Voprosy Sovetskogo gosudarstva i prava (Fragen des Sowjetstaats und -Rechts), Moskau 1957, S. 213 ff.; A. I . Lepe§kin: Nekotorye voprosy leninskoj teorii sovetskogo federalizma v svete novoj Programmy KPSS (Einige Fragen der Leninschen Theorie des Sowjetföderalismus im Lichte des neuen Programmes der KPdSU), SGP, 1973, Nr. 5, S. 60 ff.; B. L. Manelis: Razvitie V. I. Leninym vzgljadov marksizma na federaciju (Die Entwicklung der Ansichten des Marxismus-Leninismus über die Föderation durch W. I. Lenin), SGP 1962, Nr. 4, S. 17 ff.; S. M . Ravin: Sozdanie teorii sovetskogo federalizma (Die Entstehung der Theorie des Sowjetföderalismus), Ucenye zapiski LGU (Gelehrte Aufzeichnungen der Leningrader Universität), Rechtswissenschaftliche Serie, 10. Folge, 1958, Nr. 225, S. 36 ff.; L. Sagaj: K voprosu o priznanii federacii kak formy gosudarstvennogo ustrojstva socialisticeskogo gosudarstva v trudach V. I. Lenina (Zur Frage der Anerkennung der Föderation als Form des Staatsaufbaus des sozialistischen Staates in den Arbeiten von W. I. Lenin), Ucenye zapiski Aserbajdzanskogo un-ta (Gelehrte Aufzeichnungen der Aserbaidshanischen Universität), Rechtswissenschaftliche Serie, 1966, Nr. 1, S. 65 ff.; derselbe: Formy sovetskoj socialisticeskoj federacii (Formen der sozialistischen Sowjetföderation), ebenda, 1967, Nr. 2, S. 42 ff.; P. G. Semenov: Gosudarstvennopravovye formy resenija nacional'nogo voprosa v SSSR v proizvedenijach V. I. Lenina (Die staatsrechtlichen Formen der Lösung der nationalen Frage in der UdSSR in den Veröffentlichungen von W. I. Lenin), in: Voprosy gosudarstva i prava v trudach V. I. Lenina, Dusanbe 1963; A . I. Spasov: V. I. Lenin o socialisticeskoj federacij (do Velikoj Oktjabr'skoj socialisticeskoj revoljucii) - W. I. Lenin über die sozialistische Föderation (vor der großen sozialistischen Oktoberrevolution), Ucenye zapiski Leningradskogo in-ta zelesnodoroznogo transporta (Gelehrte Aufzeichnung des Leningrader Eisenbahntransportinsti-

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Aufbau Rußlands, die erst nach der Oktoberrevolution gefallen sei. Die Autoren der zweiten Gruppe dürften der Wahrheit am nächsten kommen; allerdings fragt es sich, ob Lenin vor der Oktoberrevolution bereits von der Notwendigkeit und nicht nur von der Möglichkeit eines föderativen Aufbau Rußlands überzeugt war. Die endgültige Entscheidung ist mit dem "Manifest an das Ukrainische Volk und ultimative Forderungen an die Ukrainische Rada" vom 17. (4.) Dezember 1917 gefallen, in dem es hieß21 : "Deshalb erkenen wir, der Rat der Volkskommissare, die Ukrainische Volksrepublik sowie ihr Recht an, sich von ganz Rußland zu trennen oder mit der Russischen Republik einen Vertrag über föderative oder ähnliche Beziehungen zu schließen." Stalin erklärte als Volkskommissar für Nationalitätenfragen Anfang Dezember 1917 auf einer Pressekonferenz zu den föderalistischen Bestrebungen der Ukrainer22 : "Wenn der Volkswille sich zugunsten einer föderalistischen Republik äußert, dann kann sich der Rat der Volkskommissare dem nicht widersetzen; das ist das Recht jeder Nation, und die Regierung wird dies in Betracht ziehen." Bald darauf schränkte er diese Erklärung wesentlich ein, indem er sie auf den Willen der "werktätigen Bevölkerung" abstellte. tuts), Bd. 31, 1. Folge, 1957, S. 165 ff.; E. V. Tadevosjan: V. I. Lenin o gosudarstvennoj federacü (dooktjabr'skij period) - W. I. Lenin über die staatliche Föderation (Voroktober-Periode) -, Voprosy Istorii KPSS, 1961, Nr. 2, S. 43 ff.; derselbe: Leninskij etap v marksistskom ucenie o federacii (Die Leninsche Etappe in der marxistischen Lehre von der Föderation), SGP, 1962, Nr. 12, S. 37 ff.; derselbe: V. I. Lenin o gosudarstvennych formach socialisticeskogo razresenija nacional'nogo voprosa. (W. I. Lenin über die staatlichen Formen der sozialistischen Lösung der nationalen Frage), Voprosy filosofti, 1964, Nr. 4, S. 27 ff.; derselbe: Sovetskaja nacional'naja gosudarstvennost' (Die sowjetische nationale Staatlichkeit), Moskau 1972; D. A. Cugaev: Obrazovanie SSSR (Die Bildung der UdSSR), Moskau 1972; D. L. Zlatopol'skij: Sovetskaja federacija i nacional'nyj vopros (Die Sowjetföderation und die nationale Frage), SGP, 1972, Nr. 11, S. 10 ff. 1& Vgl. G. Hodnett: The Debate over Soviet Federalism, Soviet Studies, Vol. XVIII, 1967, S. 468 ff.; A. I. Lepeskin: Nekotorye voprosy leninskoj teorü sovetskogo federalizma v svete novoj programmy KPSS (Einige Fragen der Leuinsehen Theorie des Sowjetföderalismus im Lichte des neuen Programms der KPdSU), SGP, 1963, Nr. 5, S. 61. Die Auffassungen der drei Gruppen lassen eine unterschiedliche Einstellung zum Sowjetföderalismus erkennen. Während die beiden erstgenannten Gruppen durch Betonung der Kontinuität den Föderalismus zu stärken versuchen, stehen ihm die Autoren der dritten Gruppe wesentlich reserviertl!r oder teilweise ablehnend gegenüber. 20 W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. V, Wien- Berlin 1930, S. 478 ff. 21 W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. XXII, Zürich 1934, S. 122. Der Aufruf war von Lenin am 16. (3.) Dezember 1917 verfaßt worden. 22 Pravda vom 7. 12.1917. Vgl. S. M. Schwarz: Self-Determination under the Communist Regime, Problems of Communism 1953, Nr. 5; deutsche Übersetzung: Ost-Probleme, 6. Jg., 1954, S. 36.

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II. Die Entstehung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik Dieser grundsätzliche Wandel in der Einstellung der bolschewistischen Partei zum Föderalismus sollte infolge des Bürgerkrieges nur im begrenztem Maße eine Integrationswirkung entfalten. Der Bürgerkrieg wurde hauptsächlich dadurch ausgelöst, daß die nach der Oktoberrevolution gewählte Konstituierende Versammlung d. h. die Verfassungsgebende Nationalversammlung, in der die gemäßigten sozialistischen Parteien über die überwiegende Mehrheit verfügten, auf Befehl Lenins gewaltsam auseinandergetrieben wurde. Die rechten Sozialrevolutionäre, die bereits vor der Revolution den Föderalismus befürwortet hatten, verfügten in der Konstituante allein mit 370 Sitzen über die absolute Mehrheit23 • Die Konstituierende Versammlung erklärte vor ihrer Auflösung am 19. (6.) Januar 1918 im Einklang mit der Forderung des Kiewer Völkerkongresses Rußland zu einer Demokratischen Föderativen Republik24 • Durch den Staatsstreich Lenins erfolgte die endgültige Errichtung einer Minderheitsdiktatur und die Ersetzung der demokratischen Republik durch eine sozialistische Sowjetrepublik. Die Staatsgewalt wurde vom III. Allrussischen Sowjetkongreß usurpiert, von dem am 25. (12.) Januar 1918 das erste Mal und am 31. (18.) Januar 1918 nach seiner Erweiterung das zweite Mal die von Lenin entworfene "Deklaration des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" angenommen wurde25 • In ihrem ersten Artikel war vorgesehen, daß die Sowjetrepublik Rußland "auf der Grundlage eines freien Bundes freier Nationen, als Föderation nationaler Sowjetrepubliken" errichtet werden soll. Zusammen mit der am 28. (15.) Januar 1918 angenommenen "Resolution über die Föderativen Institutionen der Russischen Republik" 26 bildete die Deklaration die Vorverfassung der "Russischen Sowjetrepublik", die in der Resolution "Russische Sozialistische Sowjetrepublik" bezeichnet wurde.

23 Vgl. 0. H . Radkey: The Elections to the Russian Constituent Assembly of 1917, Cambridge/Mass. 1950, S. 21.

Vgl. Rauch, a.a.O., S. 215. Wortlaut: Gaidukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 44 ff.; Genkina, a.a.O., S. 29 f.; deutsche übersetzung, Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, a.a.O., S. 87 jf. D~r Entwurf von Lenin vom 16. (3.) Januar 1918 (Wortlaut: Sämtliche Werke, Bd. XXII, Zürich 1934, S. 175 ff.) lag dem Vorschlag der bolschewistischen Partei zugrunde, der am 18. (5.) Januar 1918 der Konstituierenden Versammlung vorgelegt, von ihr aber abgelehnt wurde. Vgl. Gaidukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 46. 2& Wortlaut: Gaidukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 47; Genkina, a.a.O., S. 34 f .; deutsche übersetzung, Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, a.a.O., S. 95 f. 24 25

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Der Resolution lag ein Entwurf von Stalin zugrunde27 , der durch einen Vorschlag der linken Sozialrevolutionäre28, der in den Punkten 6 und 7 seinen Niederschlag fand, ergänzt wurde. Im Punkt 6 wurde betont, daß die zentrale Sowjetmacht verpflichtet ist, "auf die Einhaltung der Grundlagen der Föderation zu achten" und daß bei der Durchführung gesamtstaatlicher Maßnahmen durch die zentralen Behörden "die Rechte der einzelnen der Föderation beigetretenen Gebiete nicht verletzt werden dürfen". Im Punkt 7 wurde vorgesehen, daß das Zentrale Exekutivkomitee dem nächsten Sowjetkongreß einen Verfassungsentwurf unter Berücksichtigung dieser "grundlegenden Bestimmungen" vorlegen sollte. Aus der "Resolution über die Föderativen Institutionen der Russischen Republik" war zu ersehen, daß die RSFSR anfangs als gesamtrussische Föderation gedacht war, deren Subjekte teils selbständige nationale Sowjetrepubliken, teils autonome Gebietseinheiten sein sollten. Aus dem Beschluß des III. Sowjetkongresses zur Nationalitätenpolitik der Sowjetregierung vom 28. (15.) Januar 1918 ging deutlich hervor, daß die RSFSR das ganze ehemalige Reichsgebiet erfassen sollte. In dem Zustimmungsbeschluß hieß es29 : "Der Kongreß drückt die tiefe Überzeugung aus, daß die weiteren Schritte der Sowjetmacht in dieser Richtung dazu beitragen werden, daß sich das ehemalige Russische Reich, das einzelne Völkerschaften durch Unterdrückung und Gewalt in seinen Grenzen hielt, in einen Bruderbund der freiwillig auf föderativer Grundlage vereinigten Sowjetrepubliken Rußlands verwandeln wird." Infolge der Auseinandersetzung über den Brest-Litowsker Friedensvertrag ist die Verfassungskommission unter Vorsitz von Sverdlov erst am 8. April 1918 gebildet worden30• Ihr gehörten außer den Anhängern Lenins, wie Sverdlov und Stalin, auch einige "linke Kommunisten (Bucharin, Pokrovskij, Reisner) und Vertreter der linken Sozialrevolutionäre (Magerovskij, Srejder) und ein Sozialrevolutionär-Maxi27 Wortlaut: J. W. Stalin: Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1951, S. 28. Vgl. hierzu auch das Referat Stalins zur nationalen Frage und sein Schlußwort, ebenda, s. 26 ff. 28 Vgl. Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, a.a.O., S. 95 Anmerkung. 29 Gaidukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 48; deutsche übersetzung, Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, a.a.O., S. 97. 30 Zur Arbeit der Verfassungskommission vgl. G. GurviC: Istorija Sovetskoj Konstitucii (Geschichte der Sowjetverfassung), Moskau 1923; S . L. Ronin: Pervaja konstitucija (K istorii razrabotki konstitucii RSFSR 1918 goda) Die erste Verfassung (zur Geschichte der Ausarbeitung der Verfassung der RSFSR von 1918), Moskau 1948; W. Pietsch: Revolution und Staat, Köln 1969, s. 80 ff.

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malist (Berdnikov) an31 • Diese Gruppen strebten überwiegend eine territoriale Föderation oder eine Föderation auf gewerkschaftlicher Grundlage an32• Der Stellv. Justizkommissar Rejsner (Reissner) wollte nur eine "kulturelle Selbstbestimmung der Nationen" gelten lassen und trat in seinem Grundsatzreferat vom 10. April 1918 für eine ökonomischterritoriale Gliederung der Sowjetföderation ein33• Dem föderativen Aufbau des Sowjetstaates sollten nicht die nationalen Sowjetrepubliken und nationale Gebietseinheiten, sondern Verbände sozial-wirtschaftlichen Charakters (Gewerkschaften, Produktionsgemeinschaften), kommunale Verbände und politische Organisationen, wie Gesetzgebungsund Verwaltungsorgane, zugrundeliegen. Von Rejsner wurde auch der Plan des Privatdozenten Rejngart (Reinhart) befürwortet3', der als Subjekte der Föderation fünf Gewerkschaften vorsah (Landwirte, Industriearbeiter, Handelsangestellte, Staatsangestellte [Beamte], HausangesteHte). Im Ergebnis wurde von Rejsner ein föderativer Kommunestaat als Verband von Oblast'republiken vorgeschlagen, den er als Russische Sowjetische Sozialistische Föderative Republik bezeichnete. Stalin warf Rejsner vor, mit seinem Vorschlag gegen den Beschluß des III. Sowjetkongresses verstoßen zu haben, der von der Diktatur des Proletariats und dem Nationalitätenprinzip bestimmt war. Am 19. April 1918 legte er "Die allgemeinen Grundsätze der Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik" (Rossijskaja Socialisticeskaja Federativnaja Sovetskaja Respublika, abgekürzt RSFSR) vor35, die von einer national-territorialen Gliederung ausgingen. Nachdem sich die Mehrheit der Verfassungskommission für die Thesen StaZins ausgesprochen hatte, wurden sie der weiteren Arbeit am Verfassungsentwurf zugrunde gelegt. Lenin gehörte der Verfassungskommission nicht an. Er hat aber mit seinen Thesen über "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", die er zwischen den 13. und 26. April1918 konzipierte, die Arbeiten der Verfassungskommission wesentlich beeinflußt und außerdem an der Redaktion der Schlußfassung als Vorsitzender der Sonderkommission der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewisten) -abgekürzt KPR (B)- mitgewirkt. st Weitere Mitglieder der Verfassungskommission waren Avanesov, Bogolepov, Gurvic, Lacis, Sklanskij, A. P. Smirnov, Steklov. Vgl. Gurvic, a.a.O., S. 5, Anm. 1. Pokrovskij war Stellv. Vorsitzender, Avanesov Sekretär der Kommission. 32 Vgl. N. N. Alexejew: Die Staatsverfassung, in: Das Recht Sowjetrußlands, Tübingen 1925, S. 43 ff. Für einen "geographischen Föderalismus" trat Lacis ein. 33 Vgl. Ronin, a.a.O., S. 75 ff.; Pietsch, a.a.O., S. 81 f. 34 Vgl. Zlatopol'skij: SSSR-Federativno gosudarstvo, a.a.O., S. 54, Anmerkung 1. 35 Wortlaut: Genkina, a.a.O., S. 48 ff.; deutsche Übersetzung, Stalin, Werke, Bd. 4, a.a.O., S. 69. 2"

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Sowohl aus dem Entwurf der Thesen über "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" vom 28. März 191836, als auch aus der Skizze eines Programmentwurfs vom 9. März 191837 ist zu ersehen, daß Lenin zwischen dem "demokratischen Zentralismus" und dem Föderalismus keinen Gegensatz erblickte, da für ihn die Föderation eine Übergangsform zu einem zentralisierten Einheitsstaat darstellte. "Das Beispiel der Sowjetrepublik Rußland", schrieb er, "zeigt besonders anschaulich, daß jetzt die Föderation, die wir einführen und einführen werden, der sicherste Schritt ist zur dauerhaftesten Vereinigung der verschiedenen Nationalitäten Rußlands zu einem einheitlichen demokratischen zentralisierten Sowjetstaat38." Stalin erklärte in einem "Pravda"-Interview vom 3./4. April 191839 , daß dem Föderalismus in Rußland nur beschieden sei, "eine Übergangsstufe zum künftigen sozialistischen Unitarismus" zu bilden. Dieser "sozialistische Unitarismus" trug für ihn im Unterschied zu Lenin, wie die spätere Entwicklung zeigen sollte, deutlich großrussische Züge. Die oppositionellen Kräfte, die sich in der Verfassungsdiskussion bemerkbar gemacht hatten, waren sehr viel stärker von anarcho-syndikalistischen Vorstellungen bestimmt, die mit dem revolutionären Ursprung der Sowjets aufs engste verbunden waren. Für sie bedeutete die Föderation als ein dezentralisierter Staat den unmittelbaren Übergang zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Der Gedanke einer Vergewerkschaftlichung des Staates sollte sich später bei der "Arbeiteropposition" wiederfinden. Unter Einbeziehung der "Deklaration des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" wurde die erste Verfassung der RSFSR am 10. Juli 1918 vom V. Allrussischen Sowjetkongreß angenommen40, kurz nach dem die linken Sozialrevolutionäre aus der Sowjetregierung, die bis dahin den Charakter einer Koalitionsregierung besaß, ausgeschieden waren. Sie sollte zum Vorbild aller späteren Sowjetverfassungen werden. Im Artikel 11 der Verfassung war vorgesehen, daß sich "die Sowjets der Gebiete, die sich durch eine besondere Lebensweise auszeichnen, zu autonomen Gebietsverbänden zusammenschließen können", die "auf der Grundlage der Föderation" der RSFSR angehören würden. Diese Wortlaut: Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XXII, a.a.O., S. 461 ff. Wortlaut: Ebenda, S. 405 ff. 38 Ebenda, S. 466. 39 Wortlaut: Stalin, Werke, Bd. 4, a.a.O., S. 58 ff. 40 Vgl. außer der Schrift von Ronin die Abhandlung von P. G . Semenov: Konstitucija RSFSR 1918 goda - pervaja Sovetskaja Konstitucija mnogonacional'nogo federativnogo gosudarstva (Die Verfassung der RSFSR von 1918 - die erste Sowjetverfassung des multinationalen Föderativstaates), Moskau 36

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Bestimmung ermöglichte die Errichtung autonomer Gebietseinheiten auf der Grundlage der "territorialen Autonomie". Sie bildete im Grunde nur den Ansatz zu einem föderativen Aufbau. Im Rahmen der RSFSR sollten sich bald eine Reihe von Autonomen Republiken (ASSR), autonomen Gebieten und nationalen Kreisen herausbilden41. Zur ältesten Gründung des Sowjetföderalismus gehörte die im Oktober 1918 errichtete Arbeitskommune der Wolgadeutschen, die im weiteren Verlauf als autonomes Gebiet organisiert und dann in eine Autonome Republik verwandelt wurde42 • Infolge der Ablehnung des Personalitätsprinzips war eine gemeinsame Vertretung aller Rußlanddeutsehen nicht vorgesehen. Iß. Die Herausbildung eines sowjetischen Staatenbundes in Gestalt einer "Vertragsföderation" Frühzeitig hat sich die bolschewistische Parteiführung darum bemüht, über den in der RSFSR zusammengefaßten Kernraum hinaus Einfluß auf die neuen Staaten, die auf dem ehemaligen russischen Reichsgebiet entstanden waren, zu gewinnen und dieselben mit der RSFSR zu einerneuen staatlichen Einheit zu verbinden. Lenin war sich dessen bewußt, daß dieses nur gelingen konnte, wenn der unitarische Aufbau der bolschewistischen Partei bei gleichzeitiger föderativer Struktur des Gesamtstaates gewahrt blieb. Der Föderalismus als staatliches Aufbauprinzip wurde im zweiten Parteiprogramm der bolschewistischen Partei(ll, das vom VIII. Parteikongreß der KPR (B) im März 1919 angenommen wurde, ausdrücklich bejaht. Die "föderative Vereinigung der nach dem Sowjettypus organisierten Staaten" wurde im Sinne der Leninschen Auffassung "als eine der Übergangsformen auf dem Wege zur völligen Einheit" bezeichnet. u Zur Entstehung und Fortentwicklung der RSFSR vgl. A. M. Chalilov: RSFSR - socialisticeskoe federativnoe gosudarstvo (RSFSR - der sozialistische Föderativstaat), Kasan 1967; V. G. Filimonov: Obrazovanie i razvitie RSFSR (Die Bildung und Entwicklung der RSFSR), Moskau 1963; 0. I. Cistjakov: Stanovlenie Rossijskoj Federacii (Die Errichtung der russischen Föderation), 1917-1922, Moskau 1966; Rozdenie Rossijskoj Sovetskoj Respubliki (Die Geburt der Russischen Sowjetrepublik), SGP, 1967, Nr. 11, S. 58 ff.; D. A. Cugaev: Istorija nacional'nogosudarstvennogo stroitel'stva v SSSR (Geschichte des nationalstaatliehen Aufbaus in der UdSSR), Bd. I (-zitiert Istorija [I] -) 1967-1936, Moskau 1968, S. 20 ff.; 93 ff.; 233 ff.; D. L. Zlatopol'skij: Nacional'naja gosudarstvennost sojuznych respublik (Die nationale Staatlichkeit der Unionsrepubliken) - zitiert Zlatopol'skij (II) -, Moskau 1968, S. 51 ff. 42 Vgl. M. Langhans: Die Wolgadeutschen, ihr Staats- und Verwaltungsrecht in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1929; R. Schultze-Mölkau: Die Grundzüge des wolgadeutschen Staatswesens im Rahmen der russischen Nationalitätenpolitik, München 1931; W. Kolarz: Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion- zitiert Kolarz (II)- Frankfurt a. M. 1965, S. 85 ff. 43 Wortlaut: Meissner, Parteiprogramm der KPdSU, S. 121 ff.

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Gleichzeitig wurde in einer Resolution des VIII. Parteitages "zur organisatorischen Frage" das föderative Prinzip in der Parteiorganisation entschieden abgelehnt. In der Resolution hieß es44 : "Zur Zeit bestehen in der Ukraine, Lettland, Litauen und Weißrußland besondere Sowjetrepubliken. Auf diese Weise ist in diesem Moment die Frage der Formen staatlicher Existenz entschieden. Dieses bedeutet aber nicht, daß die RKP ihrerseits auf der Grundlage der Föderation gleichberechtigter Kommunistischer Parteien reorganisiert werden soll. Der Achte Parteitag beschließt: "Notwendig ist das Vorhandensein einer einheitlichen zentralisierten Kommunistischen Partei mit einem einheitlichen ZK, das die Arbeit der Partei in allen Teilen der RSFSR leitet. Alle Entscheidungen der KPR und ihrer führenden Institutionen sind für alle Teile der Partei, unabhängig von ihrer nationalen Zusammensetzung, unbedingt bindend. Die Zentralkomitees der ukrainischen, lettischen, litauischen Kommunisten besitzen die Rechte von Gebietskomitees der Partei und sind in vollem Umfang dem ZK der KPR unterstellt." Diese Regelung wurde gegen den Widerstand der oppositionellen Kräfte in der Kommunistischen Partei der Ukraine durchgesetzt, die seit ihrer Gründung in zwei Fraktionen, die "linksufrige" Charkower und die "rechtsufrige" Kiewer Parteigruppe, gespalten war45 • Die eine strebte eine ökonomisch-territoriale Autonomie, die andere eine größere national-staatliche Eigenständigkeit ein. Den ersten Schritt auf dem Wege zur Vereinigung der einzelnen, miteinander durch das gemeinsame Band der bolschewistischen Partei verbundenen, aber formal unabhängigen Sowjetrepubliken bildete das Dekret des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees "über die Vereinigung der Sozialistischen Sowjetrepubliken Rußland, Ukraine, Lettland, Litauen, Weißrußland zum Kampf mit dem Weltimperialismus" 4' Wortlaut: Kommunisticeskaja Partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov (Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in den Revolutionen und Entschließungen der Kongresse, Konferenzen und ZK-Plenartagungen), 7. Aufl., Bd. 1 (1898 -1924), Moskau 1954,

S.433.

45 Vgl. R . V. Daniels: Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrußland, Köln- Berlin 1962, S. 124 ff. Zu den Anfängen der Fraktionsbildung vgl. D. Heinzig: Der Kampf der Bolschewisten um die Bildung der ersten ukrainischen Sowjetregierung im November/Dezember 1917, in: Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, Köln 1965, S. 95. Die Untersuchung Heinzigs läßt erkennen, daß die von Daniels getroffene Unterscheidung zwischen Charkower "Zentralisten" und Kiewer "Autonomisten" für die Anfangsphase der Entwicklung der ukrainischen Sowjetrepublik nicht zutrifft und auch für die spätere Entwicklung in der Lenin-Zeit ungenau ist.

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vom 1. Juni 191946 • Das Dekret sah die Zusammenfassung des Wehrwesens, der Wirtschaft, der Finanzen und des Verkehrswesens in den Händen gemeinsamer Staatsorgane vor. Diese Zielsetzung konnte zunächst nur in begrenztem Maße verwirklicht werden, sollte sich aber als ein Vorbild für die spätere Entwicklung erweisen. Das Dekret wurde erlassen, nachdem sich in Weißrußland und der Ukraine die Sowjetmacht gefestigt hatte47 und noch die Hoffnung bestand, das Baltikum und Finnland darüber hinaus Polen für die Sowjetföderation zu gewinnen. Infolge der Rückschläge im Bürgerkrieg und im Kampf mit den ausländischen Interventionsmächten sollten sich diese Erwartungen nicht erfüllen. Die RSFSR sah sich gezwungen, in den Friedensverträgen mit Estland (2. Februar 1920}, Litauen (12. Juli 1920}, Lettland (12. August 1920}, Finnland (14. Oktober 1920) und Polen (18. März 1921) die Unabhängigkeit dieser Staaten anzuerkennen. Die Friedensverträge mit den baltischen Staaten48 und Finnland nahmen auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausdrücklich Bezug (Estland Art. 1; Litauen Art. 1; Lettland Art. 2; Finnland Präambel). Nicht so erfolgreich wie bei den baltischen Nationen verliefen die Unabhängigkeitsbestrebungen der transkaukasischen Völker49 • 48 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 119; Genkina, a.a.O., S. 126. Zu der Bedeutung des Dekrets vom 1. Juni 1919 vgl. Istorija (I), a.a.O., S. 196 ff.; M. I. Kulil!enko: Bor'ba Kommunisticeskoj Partii za resenie nacional'nogo povrosa v 1918 - 1920 godach (Der Kampf der Kommunistischen Partei für die Lösung der nationalen Frage in den Jahren 1918 -1920), Charkov 1963; G. P. Makarova: Osuscestvlenie leninskoj nacional'noj politiki v pervye gody sovetskoj vlasti (Die Verwirklichung der Leninschen Nationalitätenpolitik in den ersten Jahren der Sowjetmacht) 1917 - 1920, Moskau 1969. 47 Zur Entwicklung der Ukraine und Weißrußland vgl. Pipes, a.a.O., S. 114 ff.; Kolarz, a.a.O., S. 147 ff.; Istorija (I), a.a.O., S. 54 ff.; 161 ff.; Zlatopot'skij, a.a.O., S. 103 ff.; 141 ff. Siehe ferner: J. Lawrynenko: Ukrainian Communism and Soviet Russian Policy toward the Ukraine. An Annoted Bibliography, New York 1953; J. S. Reshetar: The Ukrainian Revolution 1917-1920, Princeton 1952; N. P. Vakar: Belorussia, Cambridge, Mass.1956. 48 Vgl. B. Meissner: Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht, Köln 1956, S. 3 und die dort aufgeführten Quellenangaben. Von der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurden gesonderte Friedensverträge mit Litauen am 14. Februar 1921 und Lettland am 3. August 1921 abgeschlossen, die sich inhaltlich an die Friedensverträge der RSFSR anlehnten. Zur Entwicklung Estlands, Lettlands und Litauens vgl. G. v. Rauch: Geschichte der baltischen Staaten, Stuttgart 1970. 49 Zur Entwicklung Georgiens, Armeniens und Azerbaid.Zans vgl. Pipes, a.a.O., S. 193 ff.; Kotarz, a.a.O., S. 245 ff.; Istorija (I), a.a.O., S. 219 ff.; Zlatopol'skij (II), a.a.O., S. 251 ff.; 286 ff.; 472 ff. Siehe ferner J. Buchan: The Baltic and Caucasian States, Boston 1923; G. Jäschke: Transkaukasien, Osteuropa, 11. Jg., 1935/36, S. 22 ff.; K. Kautsky: Georgien, Wien 1921; Ph. D. Kazemzadeh: The Struggle for Transcaucasia (1917 -1921), New York 1951; J. Missakin: A Searchlight of the Armenian Question (1878- 1950), Boston 1950; H. Munschi: Die Republik Azerbeidschan, Berlin 1930; G. I. Uratadze: Obrazovanie i konsolidacija Gruzinskoj Demokraticeskoj Respubliki (Errichtung und Konsolidierung der Georgischen Demokratischen Republik), München 1956; W. A. Woytinski: La Democratie Georgienne, Paris 1921.

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Im Südkaukasus hatte sich am 15. November 1917 ein Transkaukasisches Komitee gebildet, das am 22. April 1918 die Unabhängigkeit der "Transkaukasischen Föderativen Republik" ausrief. Diese löste sich schon im Mai 1918 in die drei Republiken Georgien (26. Mai 1918), A.Zerbajdzan (26. Mai 1918) und Armenien (28. Mai 1918) auf. Die RSFSR erkannte im Friedensvertrag vom 7. Mai 192050 auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker die staatliche Unabhängigkeit Georgiens an, um sie im März 1921 durch die gewaltsame Umwandlung in eine sozialistische Sowjetrepublik faktisch zu beseitigen. Die Besetzung A.Zerbajdzans und Armeniens und ihre Umwandlung in sozialistische Sowjetrepubliken war bereits 1920 vorausgegangen. Die Wendung im Bürgerkrieg zu Gunsten des Sowjetregimes veranlaßte Lenin, einen neuen Vorstoß zu einer Vereinigung der Sowjetrepubliken zu unternehmen, die jetzt auf vertraglicher Grundlage erfolgen sollte. In dem ursprünglichen Entwurf der Thesen "zur nationalen und zur kolonialen Frage" 51 vom 5. Juni 1920, den Lenin für den zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale vorbereitete, unterschied er deutlich zwischen den föderalen Beziehungen der RSFSR zu anderen Sowjetrepubliken und der Stellung der nationalen Gebietseinheiten innerhalb der RSFSR. Im Anschluß an die erneute Feststellung, daß die Föderation eine Übergangsform zur völligen Einheit der Werktätigen verschiedener Nationen ist, schrieb er52 : "Die Föderation hat bereits in der Praxis ihre Zweckmäßigkeit bewiesen, sowohl in den Beziehungen der RSFSR zu anderen Sowjetrepubliken (der Ungarischen, der Finnischen und der Lettischen in der Vergangenheit; der A.Zerbajdzanischen und der Ukrainischen in der Gegenwart) als auch innerhalb der RSFSR in bezug auf die Nationalitäten, die früher weder eine eigene staatliche Existenz noch eine AutoWortlaut: Sbornik dejstvujus~ich dogovorov, soglasenij i konvencij, zakRSFSR s inostrannamy gosudarstvami (Sammlung der geltenden Verträge, Abkommen und Konventionen, die von der RSFSR mit ausländischen Staaten abgeschlossen worden sind), Bd I, Petrograd 1921, S. 27 ff.; englische übersetzung: L. Shapiro (Hrsg.): Soviet Treaty Series, Vol. I (1917- 1928), Washington 1950, S. 44 ff. Der Friedensvertrag mit Georgien ist bezeichnenderweise in die von einer Kommission unter Vorsitz des derzeitigen Außenministers der UdSSR Gromyko herausgegebene Sammlung: Dokumenty Vnesnej Politiki SSSR (Dokumente der Außenpolitik der UdSSR)- zitiert Dokumenty - nicht aufgenommen worden. Zur internationalen Stellung Georgiens vgl. Z. Avalov: Nezavisimost'Gruzii v mezdunarodnoj politike (Die Unabhängigkeit Georgiens in der internationalen Politik) 1918 - 1921, Paris 1924. 51 Wortlaut: W. I. Lenin: Werke, Bd. 31, Berlin (Ost) 1959, S. 132 ff. 52 Ebenda, S. 135. 50

lju~ennych

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nomie hatten (z. B. die Baskirische und die Tatarische Autonome Republik in der RSFSR, die 1919 bzw. 1920 gegründet worden sind) ... Wenn man die Föderation als übergangsform zur völligen Einheit anerkennt, muß man ein immer engeres föderatives Bündnis anstreben und dabei berücksichtigen: erstens, daß es ohne ein ganz enges Bündnis der Sowjetrepubliken unmöglich ist, deren Existenz zu behaupten, denn sie sind von den militärisch unvergleichlich stärkeren imperialistischen Mächten der ganzen Welt umgeben; zweitens, daß ein enges wirtschaftliches Bündnis der Sowjetrepubliken notwendig ist, weil anders die Wiederherstellung der durch den Imperialismus zerstörten Produktivkräfte und die Sicherung des Wohlstands der Werktätigen nicht durchführbar ist; drittens, daß die Tendenz zur Schaffung einer einheitlichen, nach einem gemeinsamen Plan vom Proletariat aller Nationen zu regelnden Weltwirtschaft als Ganzes, eine Tendenz, die bereits unter dem Kapitalismus ganz deutlich zutage getreten ist, unter dem Sozialismus unbedingt weiterentwickelt und der Vollendung entgegengeführt werden muß." Interessant ist, daß Stalin, dem Lenin seinen Entwurf zur Stellungnahme zugesandt hatte, nicht bereit war, der Unterscheidung zwischen zwei Formen der Sowjetföderation zuzustimmen. In einem Schreiben vom 12. Juni 1920 erklärte er53 : "In Ihren Thesen machen Sie einen Unterschied zwischen dem baskirischen und dem ukrainischen Typus der föderativen Verbindung; in Wirklichkeit gibt es diesen Unterschied nicht, oder er ist so gering, daß er gleich Null ist." Lenin vermerkte am Rand des Schreibens Stalins: "Es gibt verschiedene Typen der Föderation." Diese prinzipielle Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Stalin sollte später in der Diskussion über die künftige Form einer größeren Sowjetföderation eine maßgebende Rolle spielen. Die Ausführungen Lenins lassen erkennen, daß er von einer Entwicklung ausging, die auf der staatlichen Ebene von vertraglichen Beziehungen zwischen den Sowjetrepubliken zu einer engeren Form der Vereinigung führen sollte, die sich von einer Föderation auf der Grundlage der Autonomie wesentlich unterscheiden würde. Es galt jetzt für die RSFSR im Rahmen dieser Konzeption die bestehenden Bindungen zur Ukraine, Weißrußland und den transkaukasischen Sowjetrepubliken auszubauen sowie Turkestan und den Fernen Osten stärker an sich zu binden. Dies geschah durch bilaterale Bündnisverträge, die seit Ende 1920 als "Sojuznij rabocij-krestjanskij dogovor" (Arbeiter- und Bauernsa

w. I. Lenin: Socinenija (Werke), 3. Aufl., Bd. XXV, S. 624.

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Bündnisverträge) bezeichnet wurden und den Charakter von Unionsverträgen aufwiesen. Solche Verträge wurden von der RSFSR mit der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik am 28. Dezember 192054 und der Sozialistischen Sowjetrepublik Weißrußland am 16. Januar 192!55 abgeschlossen. Mit diesen Verträgen wurden gemeinsame Organe in Gestalt der vereinigten Volkskommissariate als Vorläufer der späteren unions-republikanischen Volkskommissariate geschaffen. Die herbeigeführte Vereinheitlichung war militärischer und wirtschaftlicher, aber nicht außenpolitischer Natur. Einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Union bildete die Vereinheitlichung der Verfassungen nach dem Vorbild der RSFSR. Die Bündnisverträge mit den transkaukasischen Sowjetrepubliken erfolgten größtenteils auf der gleichen Grundlage. Von der RSFSR wurde mit der .AZerbajdzanischen Sowjetrepublik bereits am 30. September 1920 ein militärisch-wirtschaftlicher Bündnisvertrag abgeschlossen56. Der Abschluß eines Arbeiter- und Bauern-Bündnisvertrages mit der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien erfolgte am 21. Mai 192!57 • Mit Armenien, das erst Anfang Dezember 1920 in eine Sozialistische Sowjetrepublik umgewandelt worden ist, wurde am 30. September 1920 nur ein Abkommen über Finanzfragen abgeschlossen. Lenin trat frühzeitig für einen Zusammenschluß der selbständigen transkaukasischen Sowjetrepubliken zu einer Transkaukasischen Föderation ein. Unter Zugrundelegung seines Schreibens vom 14. April 1921 "An die Genossen Kommunisten Azerbajdzans, Georgiens, Armeniens, Daghestans und der Bergrepublik" 58 wurde vom Kaukasus-Büro des Zentralkomitees des KPR (B) am 3. November 1921 der Beschluß über die Bildung der Transkaukasischen Föderation gefaßt59• Ein von Lenin verfaßter Entwurf einer Verordnung über die Bildung der Transkaukasischen Föderation80 wurde am 29. November 1921 vom Politbüro der KPR (B) bestätigt. Im Einklang mit dieser Verordnung erfolgte am 12. März 1922 der Abschluß eines Unionsvertrages zwischen den drei selbständigen transkaukasischen Republiken über die Errichtung einer "Föderativen Uni54 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 141 f.; Dokumenty, Moskau 1939, S. 433 ff. 55 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S . 143 f.; Dokumenty, a.a.O., S. 475 ff. ss Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 132 f.; Dokumenty, a.a.O., S. 222 f. 57 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 161 f.; Dokumenty, a.a.O., S. 130 f. 5s Wortlaut: W. I. Lenin, Werke, Bd. 32, Berlin (Ost) 1961, S. 327 f. 69 Vgl. Zlatopol'skij, a.a.O., S. 140. 60 Vgl. W . I. Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin (Ost) S. 110.

Bd. 111, Bd. 111, Bd. 111, Bd. IV,

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on der Transkaukasischen Sozialistischen Sowjetrepubliken" (Federativnyj Sojuz Sovetskich Socialisticeskich Respublik Zakavkazja, abgekürzt FSSSRZ)61 • Im Art. 13 des Gründungsvertrages war vorgesehen, daß die Transkaukasische Föderation ihre Wechselbeziehungen zur RSFSR auf der Grundlage eines Bündnis- bzw. Unions-Vertrages regeln sollte. Vor der Errichtung der Sowjetunion im Dezember 1922 wurde die Föderative Union in eine Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (Zakavkazskaja Socialisticeskaja Federativnaja Soveskaja Respublika, abgekürzt ZFSFR)62 umgewandelt. Diese Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat erfolgte gegen den Widerstand Georgiens. Der Konflikt Stalins, der von Ordshonikidse unterstützt wurde, mit der georgischen Parteiführung63 sollte bei der Entscheidung über die Form einer engeren Vereinigung der selbständigen Sowjetrepubliken, auf die noch einzugehen sein wird, eine wesentliche Rolle spielen. Die als Militär- und Wirtschaftsunion errichtete Vertragsföderation (dogovornaja federacija) zwischen den sozialistischen Sowjetrepubliken stellte eine teilweise Eingliederung der nichtrussischen Staaten in die RSFSR dar und führte damit über einen normalen Staatenbund hinaus64. Allerdings unterschieden sich die vereinigten Volkskommissariate, die für die gemeinsamen Verwaltungsbereiche zuständig waren, von den späteren unions-republikanischen Volkskommissariaten darin, daß die Verbindung zu den Moskauer Kommissariaten auf der Grundlage der Koordination und nicht der Subordination erfolgte. Außerhalb der Militär- und Wirtschaftsunion behielten die nichtrussischen Staaten ihre staatlichen Organisation uneingeschränkt bei. Die Entwicklung in Turkestan65 ist durch die gleichen Tendenzen bestimmt gewesen wie in dem übrigen Lande, wenn sich auch hier die endgültigen staatlichen Formen erst nach der Errichtung der Sowjetunion herausbilden sollten. Russisch-Zentralasien, d . h. das westliche Turkestan, bestand zur zaristischen Zeit aus dem Generalgouvernement der Steppengebiete, 61

Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 189 f.; Genkina, a.a.O., S.

288 f.

62 Diese Umwandlung erfolgte mit der Annahme der Verfassung der ZSFSR am 13. Dezember 1922. 63 Vgl. Daniel, a.a.O., S. 211. 64 Vgl. 0. I . Cistjakov: Vzaimootnosenija sovetskich respublik do obrozovanija SSSR (Die Wechselbeziehungen der Sowjetrepubliken bis zur Bildung der UdSSR), Moskau 1955; V. M. Kuricyn: Die staatliche Zusammenarbeit zwischen der Ukrainischen SSR und RSFSR 1917 - 1922, Moskau 1957. 65 Zur Entwicklung Turkestans vgl. B. Hayit: Turkestan im XX. Jahrhundert- zitiert Hayit (I)- Darmstadt 1956; derselbe: Sowjetrussischer Kolonialismus und Imperalismus in Turkestan - zitiert Hayit (II) - Oosterhout 1965; G. v. Mende: Der nationale Kampf der Rußlandtürken, Berlin 1936; R. O'lzscha, G. Kleinow: Turkestan, Leipzig 1942.

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dem Generalgouvernement Turkestan und den Vasallenstaaten Chiwa und Buchara. Ein Kongreß der Mohammedaner Turkestans sprach sich im November 1918 für die Errichtung einer "Turkestanischen Föderativen Sowjetrepublik" im Rahmen der RSFSR aus66 • Nachdem die Versuche zu einer selbständigen turkestanischen Staatsgründung gescheitert waren, wurde die aufgrund der Verordnung vom 30. April191867 neu konstituierte" Turkestanische Föderative Sowjetrepublik" in eine "Turkestanische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik" umgewandelt68• Die Umbenennung der Turk ASSR in eine Türkische Republik (Tjurskaja Respublika) wurde von der bolschewistischen Parteiführung in einer Verordnung vom 29. Juni 1920 entschieden abgelehnt69 • Neben der Turkrepublik wurde mit Dekret vom 26. August 192070 die Autonome Kirgisische Sozialistische Sowjetrepublik, welche die größtenteils von Kasachen bewohnten Teile des ehemaligen Steppengouvernements umfaßte, errichtet. Das Chanat Chiwa wurde am 1. Februar 1920 in Chorezm umbenannt und in eine sowjetische Volksrepublik umgewandelt, die aufgrund des Bündnisvertrages vom 13. September 192071 enger mit der RSFSR verbunden wurde. Die gleiche Entwicklung erfolgte beim Emirat Buchara, das am 5. Oktober 1920 in eine sowjetische Volksrepublik umgewandelt wurde. Eine engere Bindung an die RSFSR erfolgte durch den Bündnisvertrag vom 4. März 192172 • Auch im Fernen Osten gelang es dem Sowjetregime die alten Grenzen des Russischen Reiches wiederherzustellen. Aus außenpolitischen ErWortlaut: Hayit (II), a.a.O., S. 19 ff. Wortlaut: Genkina, a.a.O., S. 49 f. es Vgl. A. A. Gordienko: Obrazovanie Turkestanskoj ASSR (Die Bildung der Turkestanischen ASSR), Moskau 1968; Hayit (1), a.a.O., S. 81 ff.; Pipes, a.a.O., S. 179 ff.; S. z. Nrazaev: Turkestanskaja ASSR - pervoe socialisticeskoe gosudarstvo v srednej azii (Die Turkestanische ASSR - der erste sozialistische Staat in Zentralasien), Moskau 1961; A. Agzamchodzaev, S. Urazaev: SSSRsocialisticeskoe gosudarstvo sovetskich narodov (Die UdSSR- der sozialistische Staat der sowjetischen Völker), Taskent 1972, S. 72 ff. 69 Vgl. Gordienko, a.a.O., S. 292; Hayit (II), a.a.O., S. 33. 10 Wortlaut: Genkina, a.a.O., S. 175 ff. 71 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 85 ff.; Dokumenty, Bd. 111, a.a.O., S. 178 ff.; deutsche übersetzung, Hayit (I), a.a.O., S. 150 ff. Ergänzt wurde der Bündnisvertrag durch ein militär-politisches und ein Wirtschaftsabkommen vom 13. September 1920. Wortlaut: Dokumenty, Bd. III, a.a.O., S. 185 ff. Vgl. hierzu Istorija Bucharskoj i Choremzkoj narodnych sovetskich respublik (Geschichte der sowjetischen Volksrepubliken Buchara und Chorezm), Moskau 1971. 72 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 145 ff.; Dokumenty, Bd. III, a.a.O., S. 563 ff. Ergänzt wurde der Bündnisvertrag durch ein Wirtschaftsabkommen vom 4. März 1921. Wortlaut: Dokumenty, Bd. III, a.a.O., S. 569 ff. 88

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wägungen begnügte sich die bolschewistiSche Parteiführung zunächst mit einem Pufferstaat, der am 6. April 1920 in Gestalt der FernostRepublik errichtet wurde73 • Ihren Grenzen wurden im Vertrag mit der RSFSR vom 15./30. Dezember 192074 festgesetzt. Durch den Vertrag über die wirtschaftliche Union vom 17. Februar 192275 wurde ein Bundesverhältnis mit der RSFSR hergestellt. Mit Dekret vom 15. November 192276, d. h. am Vorabend der Errichtung der Sowjetunion, erfolgte dann die Eingliederung des Staatsgebiets der Fernost-Republik in die RSFSR. IV. Die Entstehung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Auseinandersetzung zwischen Lenin und Stalin über die Form des sowjetischen Bundesstaates Bis 1922 war der Prozeß des "Sammelns der russischen Erde" unter sowjetischen Vorzeichen im wesentlichen abgeschlossen. Es galt dem wiederhergestellten Imperium eine neue föderative Form zu geben. Vor allem machte die Aufnahme von Beziehungen zu bürgerlich-kapitalistischen Staaten eine einheitliche Regelung der auswärtigen Angelegenheiten notwendig. Als erster Schritt auf diesem Wege wurde am 22. Februar 1922 ein Abkommen in der Form eines Protokolls zwischen den acht Sowjetrepubliken, unter Einschluß der Fernost-Republik, geschlossen, dem eine Erklärung der RSFSR beigefügt wurde71 • Dieses Abkommen, das von sowjetischer Seite als "diplomatische Union" bezeichnet wurde78, sah eine einheitliche Vertretung und den Schutz der Interessen aller Sowjetrepubliken auf der bevorstehenden Konferenz in Genua vor. Die Vollmachten, die dem Außenminister der RSFSR Cicerin erteilt wurden, bezogen sich nur auf die Beschlüsse der Konferenz. Infolgedessen konnte er den Vertrag von Rapallo mit dem Deutschen Reich vom 16. April1922 79 nur im Namen der RSFSR unterzeich73 Vgl. H. K. Norton: The Far East Republik of Sibiria, London 1923; W. Kolarz: Rußland und seine asiatischen Völker - zitiert Kolarz (II) - Frankfurt a. M. 1956, S. 10 ff.; S. Kaplin: Bolseviki na Dal'nem Vostoke (Die Bolschewisten im Fernen Osten) 1918-1922, Moskau 1960; P. S. Parjenov: Borba za

Dal'nij Vostok (Der Kampf um den Fernen Osten), 1920-1922, Leningrad 1928;

V. N. Nazimok: Bor'ba sovetov protiv buciuaznych organov samoupravlenija

na Dal'nem Vostoke (Der Kampf der Sowjets gegen die bürgerlichen Selbstverwaltungsorgane im Fernen Osten), Tomsk 1968. 74 Wortlaut: Dokumenty, Bd. III, a.a.O., S. 384 f. 75 Wortlaut: Sbornik, Bd. III, Moskau 1922, S. 23 ff.; englische übersetzung, Shapiro, Bd. I, a.a.O., S. 161. 7& Vgl. Genkina, a.a.O., S. 269. 77 Wortlaut: Dokumenty, Bd. V, Moskau 1961, S. 110 ff. 78 Vgl. das Interview Stalins in der "Pravda" vom 18. 11. 1922, I. W. Stalin: Werke, Bd. 5, Ost-Berlin 1952, S.124. 79 Wortlaut: Russischer Urtext in: Dokumenty, Bd. V, a.a.O., S. 223 ff.; deutscher Urtext in: 0. Hoetzsch: Der Europäische Osten, Leipzig/Berlin 1933, S. 35 ff.

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nen. Die anderen Sowjetrepubliken, mit Ausnahme der Volksrepubliken Chorezm und Buchara, wurden erst durch den Vertrag vom 5. November 192280 in den Rapallo-Vertrag einbezogen. Diese Schwierigkeiten im internationalen Verkehr dürften die Bestrebungen, die Sowjetrepubliken zu einer geschlossenen föderativen Einheit zusammenzufassen, verstärkt haben. Über die künftige Form und die inhaltliche Gestaltung dieser Einheit gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Lenin und StaZin. Während Lenin für die Bildung eines Bundesstaates auf der Grundlage der formellen Gleichberechtigung der sozialistischen Sowjetrepubliken eintrat, befürwortete Stalin im Sinne der Konzeption der Autonomisierung ihre Eingliederung in die stärker zentralisierte RSFSR. Seine Auffassung, daß zwischen den einzelnen Arten der Sowjetföderation keine wesentlichen Unterschiede bestehen würden und daß sie im Grunde nur verschiedene Formen der Sowjetautonomie darstellten, hatte er in seiner Ausarbeitung "Die Politik der Sowjetmacht in der nationalen Frage in Rußland", die in der Pravda vom 10. Oktober 1920 veröffentlicht wurde, deutlich zu erkennen gegeben. StaZin schriebs1 • "Die Sowjetautonomie ... läßt die verschiedenartigsten Formen und Stufen ihrer Entwicklung zu. Von der engen, administrativen Autonomie (Wolgadeutschen, Tsuvasen, Karelier) geht sie zu der umfassenderen, politischen Autonomie über (Baskiren, Wolgatataren, Kirgizen), von der umfassenden, politischen Autonomie zu ihrer noch breiteren Form (Ukraine, Turkestan) und schließlich vom ukrainischen Typus der Autonomie, zum Vertragsverhältnis (AZerbajdZan)." Seine Thesen "über die nächsten Aufgaben der Partei in der nationalen Frage82 ", die für den X. Parteikongreß der KPR (B) im März 1921 bestimmt waren, ließen erkennen, daß er diesen Standpunkt nicht geändert hatte. In der bolschewistischen Partei machten sich aber auch unitarische und partikularistische Strömungen bemerkbar88• Es gab eine Richtung, die eine unitarische Konzeption vertrat und nach der Eingliederung der Sowjetrepubliken in die RSFSR die föderative Struktur beseitigen wollte. Es gab auch zwei partikularistische Gruppen. Die eine, zu der einige georgische, baskirische und tatarische Funktionäre gehören, wollten die bestehenden Föderationen auflösen und die Sowjetrepubliken, einschließlich der Autonomen Republiken, unmittelbar dem Bund unterWortlaut: Dokumenty, Bd. V, a.a.O., S. 658 ff. Wortlaut: Stalin, Werke, Bd. 4, a.a.O., S. 312. 82 Wortlaut: StaUn, Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 13 ff. 83 Vgl. V. V. Pentkovskaja: Rol' V. I. Lenina v obrazovanii SSSR (Die Rolle W. I. Lenins bei der Bildung der UdSSR), Voprosy istorii, 1956, Nr. 3, S. 16. 80

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stellen. Die andere Gruppe wollte den Staatenbund und damit an der staatlichen Unabhängigkeit der einzelnen sozialistischen Sowjetrepubliken feshalten. Auf Grund eines Beschlusses des Politbüros der KPR (B) vom 10. August 1922 wurde vom Orgbüro am 11. August 1922 eine Kommission gebildet, die Vorschläge für eine Vereinigung der selbständigen Sowjetrepubliken ausarbeiten sollte. Ihr gehörten außer Stalin, Kujbysev, Ordzonikidse, Rakovskij, Sokolnikov, auch Vertreter der betroffenen Republiken, darunter Agamali-ogly (AZerbajdZan), A. F. Mjasnikov (Armenien), Mdivani (Georgien), Petrovskij (Ukraine), Cervjakov (Weißrußland) an84• Ende August wurde von Stalin der erste Entwurf einer Resolution "über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der RSFSR und den unabhängigen Republiken" vorgelegt, dem seine Konzeption über die Autonomisierung zugrunde lag85• In ihm wurde vorgeschlagen, die nichtrussischen sozialistischen Sowjetrepubliken der RSFSR einzuverleiben, während das Schicksal der sowjetischen Volksrepubliken Chorezm und Buchara und der Fernost-Republik offen blieb. Das Verhältnis zu ihnen sollte weiterhin auf vertraglicher Grundlage beruhen. Der Entwurf wurde im Herbst 1922 in den führenden Parteigremien der in Frage kommenden Sowjetrepubliken erörtert86 • Von diesen sprachen sich nur die armenischen und azerbajdzanischen Zentralkomitees und das Präsidium des Transkaukasischen Gaukomitees (16. September 1922) eindeutig für den Entwurf aus. Das georgische Zentralkomitee, in der die nationalkommunistische Fraktion unter Mdivani überwog, lehnte den Entwurf mit dem Hinweis auf seine Verfrühtheit und dem Wunsch nach Erhaltung der staatlichen Unabhängigkeit ab. Das weißrussische Zentralkomitee verhielt sich in seinem Beschluß vom 16. September 1922 zurückhaltend. Es schlug vor, die zwischen der RSFSR und der Ukrainischen SSR bestehenden engen gegenseitigen Beziehungen zum Vorbild für die Vereinigung der selbständigen Sowjetrepubliken zu nehmen. Das ukrainische Zentralkomitee äußerte sich erst am 3. Oktober 1922 bewußt unklar, erklärte, daß die "taktische zentrale Leitung" der selbständigen Republiken auf der Parteiebene zufriedenstellend erreicht 84 Vgl. V. I. Lenin: Polnoe sobranie socinenij (Gesammelte Werke), Bd. 45, 5. Aufl., Moskau 1964, S. 556. 85 Ebenda, S. 556. Der erste Entwurf Stalins ist bisher nicht veröffentlicht worden. Sein Inhalt ist aus der Resolution der Kommission vom 24. September 1922, die auf ihm beruht, zu ersehen. 86 Vgl. Pentkovskaja, a.a.O., S. 17 f.; S. Jakubovskja: Rol' V. I. Lenina v sozdanii Sojuze Sovetskich Socialisticeskich Respublik (Die Rolle W. I. Lenins

bei der Entstehung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), Kommunist, 1956, Nr. 10, S. 36.

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werden könnte, und gab damit mittelbar seine ablehnende Haltung zu erkennen. Auf der Tagung der Kommission des Orgbüros unter Vorsitz von Molotov am 23. und 24. September 1922 wurde der Entwurf Stalins mit geringfügigen Änderungen gegen die Stimme Mdivanis gebilligt und die Auffassung des georgischen Zentralkomitees zurückgewiesen. In der Resolution der Kommission vom 24. September 192287 wurde im Punkt 1 im Einklang mit dem Entwurf Stalins die formelle Eingliederung der Sowjetrepubliken Ukraine, Weißrußland, AZerbajdZan, Georgien und Armenien in die RSFSR vorgesehen. Die Verordnungen des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) sollten für die "Zentralen Institutionen", die Verordnungen des Rats der Volkskommissare und des Rats für Arbeit und Verteidigung für die vereinigten Volkskommissariate der bisher selbständigen Sowjetrepubliken verbindlich sein. Vor allem sollten die "Organe zum Kampf mit der Konterrevolution" der GPU der RSFSR unterstellt werden. Die Volkskommissariate für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel, Wehrwesen, Verkehr- und Nachrichtenwesen der betreffenden Republiken sollten mit den entsprechenden Volkskommissariaten der RSFSR verschmolzen werden.

Lenin, der sich infolge seiner Krankheit in Gorki aufhielt, wurden die Materialien der Kommission am 25. September 1922 zur Kenntnis gebracht. Zu ihnen gehörte der Entwurf Stalins, die Stellungnahmen der drei transkaukasischen Zentralkomitees, die Sitzungsprotokolle und die Resolution der Kommission. Letztere wurde vom ZK-Sekretariat ohne vorherige Beteiligung des Politbüros an demselben Tage auch den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees zur Vorbereitung des ZK-Plenums am 5. Oktober 1922 übersandt. Lenin hatte der Konflikt Stalins mit den georgischen Kommunisten hellhörig gemacht. Der Autonomisierungsplan Stalins widersprach seiner eigenen Konzeption. Er sah in ihm den Ausdruck eines großrussischen Chauvinismus, der die nationalen Spannungen verschärfen und damit sein Lebenswerk gefährden mußte. In einem Gespräch mit Stalin, der ihn am 26. September 1922 in Gorkij aufsuchte, gelang es ihm, diesen zu veranlassen, von seinem Autonomisierungsplan abzurücken88• In einem Schreiben an Kamenev vom gleichen Tage89, das für die Mitglieder des Politbüros bestimmt war, berichtete Lenin über die Ergebnisse der Aussprache und entwickelte dabei seinen Plan eines sowjetischen Bun87 88 89

Wortlaut: Lenin: Polnoe sobranie socinenij, Bd. 45, a.a.O., S. 557. Vgl. Pentkovskaja, a.a.O., S. 19. Wortlaut: Lenin: Polnoe sobranie socinenij, Bd. 45, a.a.O., S. 211 ff.

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desstaates in Gestalt einer "Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens". Dieser Bundesstaat sollte auf der formellen Gleichberechtigung seiner Gliedstaaten beruhen, die in der Errichtung eines "Gesamtföderalen VCIK" und einer stärkeren Berücksichtigung der Meinung der Zentralen Exekutivkomitees der Sowjetrepubliken zum Ausdruck kommen sollte. Auf der Bundesebene sollten "Gesamtföderale Volkskommissare" geschaffen werden, zu denen auch die Volkskommissariate für Finanzen, Verpflegung, Arbeit und Volkswirtschaft gehören sollten. Durch die Errichtung einer "neuen Etage, der Föderation gleichberechtigter Republiken, sollte ihre Unabhängigkeit nicht vernichtet werden.

Lenin schrieb: "Meines Erachtens ist die Frage von größter Bedeutung. Stalin neigt etwas zur Hast ... Ein Zugeständnis zu machen, war Stalin schon bereit. In § 1 an Stelle ,Eintritts' in die RSFSR zu sagen ... "Formelle Vereinigung zusammen mit der RSFSR zur Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens". Der Geist dieses Zugeständnisses ist, hoffe ich, klar. Wir erkennen uns als gleichberechtigt mit der Ukrainischen SSR und den anderen an und treten zusammen und gleichberechtigt mit ihnen in eine neue Union, eine neue Föderation ein, in die "Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens". Die geographische Festlegung im Namen des geplanten Bundesstaates deutet darauf hin, daß Lenin von vornherein auch die asiatischen Sowjetrepubliken an der Union zu beteiligen gedachte, wobei er gegen die Eingliederung der Fernost-Republik in die RSFSR sicher nichts einzuwenden hatte. Lenin betonte, daß seine Vorschläge vorläufiger Natur wären und gegebenenfalls ergänzt und geändert werden könnten. Vom Besuch Mdivanis und weiteren Gesprächen erhoffte er sich offenbar weitere Erkenntnisse. Aus dem Schreiben war zu ersehen, daß er für seinen Plan vor allem mit seiner Unterstützung durch Kamenev und Zinov'ev rechnete. Daneben wird noch Rykov genannt. In Beantwortung des Lenin-Briefes verfaßte Stalin am 27. September 1922 ein Schreiben, das an Lenin, Kamenev sowie an Zinov'ev, Kalinin, Molotov, Rykov, Tomskij und Trotzkij gerichtet war90• In ihm erklärte er sich mit der Schaffung eines Bundesstaates einverstanden, den er "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Europas und Asiens" bezeichnete, womit er Buchara und Chorezm als nichtsozialistische Staaten und die Fernost-Republik mit der eigenartigen Begründung, daß sie nicht "sowjetisiert" sei, von der Beteiligung an der Union ausschloß. 90 Erstmals veröffentlicht in Osteuropa, 22. Jg., 1972, A 808 ff.; Original im Trotzkij-Archiv der Harvard University.

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Stalin sträubte sich aber entschieden gegen die Schaffung eines "Gesamtföderalen VCIK" und behauptete, daß dies die Umwandlung der autonomen Republiken der RSFSR in Gliedstaaten der Union und die Bildung eines rein russischen VICK zur Folge haben würde. Er lehnte eine Erweiterung der Zahl der gesamtföderalen Volkskommissariate ab und bezichtigte Lenin nicht nur der "Übereiltheit", sondern auch des "nationalen Liberalismus". Stalin war sich bewußt, daß er sich gegen Lenin im Zentralkomitee nicht durchsetzen würde. Infolgedessen arbeitete er den Entwurf der Kommission im Sinne der Vorschläge Lenins um, wobei er dessen Urheberschaft verschwieg und die entscheidenden Unterschiede zwischen seinem Autonomisierungsplan und dem von Lenin vertretenen Plan eines Bundesstaates auf der Grundlage der formellen Gleichberechtigung der Gliedstaaten zu verdecken versuchte. Der neue Entwurf der Kommission9 1, der von Stalin, Ordzonikidse, Mjasnikov und Molotov unterzeichnet wurde, wies zwei Änderungen auf, die den Grundvorstellungen Lenins entsprachen, von ihm aber in seinem Schreiben an Kamenev nicht vertreten worden sind. Erstens wurde der angestrebte Bundesstaat jetzt nur "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" bezeichnet. Zweitens wurde den Gliedstaaten das Recht zum Austritt aus der Union zugestanden. Eine weitere Änderung dürfte eindeutig auf Stalin zurückzuführen sein, der inzwischen Maßnahmen zur Unterdrückung der georgischen Kommunisten und zur Umwandlung der Transkaukasischen Föderation in einen Bundesstaat in die Wege geleitet hatte. Infolgedessen sollten jetzt die transkaukasischen Sowjetrepubliken nur über die Transkaukasische Föderation an der Union beteiligt werden.

Lenin konnte wegen seiner Krankheit am CK-Plenum am 6. Oktober 1922, auf dem der neue Entwurf gebilligt wurde, nicht teilnehmen. In einer Notiz für Kamenev 92 erklärte er dem "großrussischen Chauvinismus den Kampf auf Leben und Tod". Er wollte ihn sofort nach seiner Gesundung aufnehmen. Gleichzeitig regte er im Vorsitz des Allunionistischen CIK ein Turnussystem der beteiligten Gliedstaaten an, dem das ZK-Plenum zustimmte. Auf dem Oktober-Plenum wurde vom Zentralkomitee eine Kommission eingesetzt, welche die Grundlagen für die Vereinigung der Sowjetrepubliken zu einem Bundesstaat ausarbeiten sollte93 • Wortlaut: Lenin: Polnoe sobranie socinenij, Bd. 45, a.a.O., S. 559. Ebenda, S. 214. 93 Zu der Tätigkeit dieser Kommission vgl. S. I. Jakubovskaja: Stroitel'stvo Sojuznogo Sovetskogo Socialisticeskogo Gosudarstva (Der Aufbau eines sowjetischen sozialistischen Bundesstaates), 1922 - 1925, Moskau 1960, S. 159 ff. 91

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Auf der Sitzung der Kommission am 21. November 1922 wurde der Vorschlag von Kalinin angenommen, einen allunionistischen Sowjetkongreß als höchstes Organ der Union vorzusehen. Diese Entscheidung bedeutete eine Stärkung des Bundeselements, da die allunionistische CIK jetzt durch den Sowjetkongreß der UdSSR gebildet werden sollte. Zur Ausarbeitung einer Deklaration, eines Unionsvertrages und der wichtigsten Bestimmungen der Bundesverfassung wurde eine Unterkommission unter Leitung Cicerins eingesetzt. Diese ging auf ihrer Sitzung am 25. November 1922 von der Bezeichnung "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Europas und Asiens" aus94 • Der Vorschlag Kamenevs, die Bezeichnung "Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik" für den Bundesstaat zu übernehmen, wurde auf der Plenarsitzung der Kommission am 28. November 1922 abgelehnt95 • Dafür sprach sich die Kommission auf ihrer Plenarsitzung am 16. Dezember 1922 erneut für die Bezeichnung "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Europas und Asiens" aus96 • Von dem ZK-Plenum wurde am 18. Dezember 1922 der Entwurf des Unionsvertrages gebilligt und eine Kommission unter StaUn zur Redaktion der Schlußfassung der erarbeiteten Dokumente und zur Vorbereitung des ersten allunionistischen Sowjetkongresses eingesetzt. Von der Kommission wurde auf der Sitzung vom 20. Dezember 1922 unter Abänderung des früheren Beschlusses die endgültige Bezeichnung des Bundesstaates festgelegt97 • Er sollte jetzt wieder "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" (Sojuz Socialisticeskich Sovetskich Respublik) - abgekürzt UdSSR (SSSR) oder Sowjetunion (Sovetskij Sojuz) heißen. Von den im Dezember 1922 tagenden Sowjetkongressen der einzelnen Sowjetrepubliken wurden die erarbeiteten Entwürfe im Grundsatz gebilligt und die Bildung eines Bundesstaates beschlossen. Auf dem X. Allrussischen Sowjetkongreß erstattete Stalin am 26. Dezember 1922 den Bericht "über die Vereinigung der Sowjetrepubliken"98 • Der am 30. Dezember 1922 zusammengetretene I. Sowjetkongreß der UdSSR, bei dem es sich nur um den durch die Vertreter der anderen Sowjetrepubliken erweiterten Bestand des X. Sowjetkongresses der RSFSR handelte, bestätigte die Deklaration über die Bildung der Union99 und den am Vgl. Jakubovskaja, a.a.O., S. 161. Ebenda, S. 162. 98 Ebenda, S. 163. 97 Ebenda, S. 164. 98 Wortlaut: Stalin: Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 128 ff. 99 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 214 f.; Genkina, a.a.O., S. 332 f.; I. I. Grosev: Bratskoe sodrt1Zestvo narodov SSSR (Die brüderliche Zusammenarbeit der Völker der UdSSR), Moskau 1964, S. 46 ff. 94 95

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gleichen Tage abgeschlossenen Unionsvertrag100 und wählte das aus zwei Kammern bestehende Zentrale Exekutivkomitee der UdSSR sowie dessen Präsidium. Gründungsmitglieder des Bundesstaates waren gemäß dem Unionsvertrag die RSFSR, die Ukrainische SSR, die Weißrussische SSR und die TSFSR, als deren Gliedrepubliken die Azerbajdshanische SSR, die Georgische SSR und die Armenische SSR in Klammern aufgeführt wurden. Die Vorgeschichte der Entstehung des sowjetischen Bundesstaates läßt erkennen, daß die ihm zugrunde liegende föderalistische Konzeption eindeutig auf Lenin und nicht StaUn zurückgeht. Lenin war sich dessen bewußt, daß diese Konzeption nur verwirklicht werden konnte, wenn es gelang, die nichtrussischen Nationalitäten vor den unitarischen Bestrebungen des russischen Nationalismus zu schützen und ihre verfassungsrechtliche Eigenständigkeit im Rahmen der Union zu sichern. Daher erfüllte ihn die Zuspitzung des Konflikts mit den georgischen Nationalkommunisten, der Ende Oktober 1922 zum Rücktritt des bisherigen georgischen Zentralkomitees führte, mit tiefer Sorge. Ein Gespräch mit Dzierzynski am 12. Dezember 1923, der an der Spitze einer vom Politbüro eingesetzten Kommission die Vorgänge in Georgien untersucht und sich auf die Seite Stalins und Ordzonikidses gestellt hatte, bestärkte ihn in dieser Besorgnis101. Infolge seines zweiten Schlaganfalls am 16. Dezember 1922 war er nicht in der Lage, bei der Gründung der Sowjetunion anwesend zu sein. Seinen Befürchtungen über die Entwicklung der Nationalitätenfrage und damit des Sowjetföderalismus gab er in einer dreiteiligen Aufzeichnung Ausdruck, die er am 30. und 31. Dezember 1922, d. h. während des I. Sowjetkongresses der UdSSR diktierte102. Er gab ihr die Überschrift "Zur Frage der Nationalitäten oder der ,Autonomisierung"', nachdem er zunächst an einem Artikel "Über die nationale Frage oder den Internationalismus" gedacht hatte. Lenin verfaßte diese Aufzeichnung nach seinen Bemerkungen über die personelle Situation in der Parteüührung vom 24./25. Dezember 1922, die später als sein "Testament" bezeichnet worden sind, denen er am 4. Januar 1923 eine Nachschrift hinzufügte, in der er die Absetzung Stalins als Generalsekretär fordertetoa. too Wortlaut: Gajdukov-Kotok- Ronin, a.a.O., S. 215 ff.; Genkina, a.a.O., S. 333 ff.; Grosev, a.a.O., S. 48 ff. 101 Vgl. Lenin: Polnoe sobranie socinenij, Bd. 45, a.a.O., S. 596. 10 2 Wortlaut: "Kommunist, 1956, Nr. 9, S. 22 ff.; deutsche tlbersetzung, in: W. I. Lenin: über die Nationalitätenpolitik und den proletarischen Internationalismus, Moskau 1969, S. 150 ff. 103 Wortlaut: Kommunist, 1956, Nr. 9, S. 17 f.; deutsche übersetzung, OstProbleme, 8. Jg., 1956, S. 964 f. Die Nachschrift wurde von Lenin nach dem Zusammenstoß zwischen Stalin und der Krupskaja, über den diese ihrem Schreiben an Kamenev am 23. Dezember 1922 berichtete, verfaßt. Wortlaut: OstProbleme, 8. Jg., 1956, S. 868 f.

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Lenin leitete seine Aufzeichnung mit der Feststellung ein, daß er sich vor den Arbeitern Rußlands sehr schuldig gemacht habe, weil er sich "nicht mit genügender Energie und Schärfe in die ominöse Frage der Autonomisierung eingemischt habe, die offiziell ... als Frage der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bezeichnet wird". Er warf Stalin, Ordzonikidse und Dzierzynski vor, sich im georgischen Fall aufgrund ihres großrussischen Chauvinismus, der bei assimilierten Russen schlimmer sei als bei den Russen selbst, falsch verhalten zu haben. Die Rechtfertigung ihres Vorgehens mit dem Argument, daß die Einheit des Apparats nötig sei, wäre unberechtigt, da er von demselben "russischen Apparat" stammen würde, "den wir ... vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt haben". Durch das Übergewicht dieses Apparats würde dem Recht auf freie Sezession in der Sowjetunion der Boden entzogen. Lenin schrieb104 : "Unter diesen Umständen ist es ganz natürlich, daß sich die ,Freiheit der Austritts aus der Union' mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist." Er betonte den Unterschied zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden und einer unterdrückten Nation sowie einer großen und einer kleinen Nation, der im Falle der Sowjetunion beim besonderen Charakter des russischen Nationalismus eine stärkere Berücksichtigung der Interessen der nichtrussischen Nationalitäten erfordere, da eine formelle Gleichheit nicht genügen würde.

Lenin forderte abschließend, nicht nur Ordzonikidse exemplarisch zu bestrafen sowie Stalin und Dzierzynski für die "großrussisch-nationalistische Kampagne" verantwortlich zu machen, sondern auch eine Reihe von Maßnahmen einzuleiten, welche die Stellung der nichtrussischen Nationalitäten verbesseren sollten. In diesem Zusammenhang befürwortete er eine genaue Kodifizierung der Rechte der nichtrussischen Nationalitäten und schloß die Möglichkeit einer teilweisen Rückbildung des Bundesstaates zu einem Staatenbund nicht aus. Die Union sollte in diesem Falle nur in militärischer und diplomatischer Hinsicht bestehen bleiben, sonst aber die volle Selbständigkeit der einzelnen Volkskommissariate wieder hergestellt werden. Lenin war der Auffassung, daß die Zersplitterung der Volkskommissariate und die fehlende Koordinierung ihrer Arbeit mit Moskau und den anderen Zentren "durch die Autorität der Partei ausreichend wett104

Lenin: über die Nationalitätenpolitik, a.a.O., S. 152.

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gernacht werden kann". Der Schaden, der für den Sowjetstaat entstehen würde, wenn die nationalen Apparate mit dem russischen Apparat nicht vereinigt würden, schätzte er gering ein. Sehr viel größer wäre der andere Schaden, "der nicht nur uns erwächst, sondern auch der ganzen Internationale, den Hunderte Millionen zählenden Völker Asiens, denen in der Zukunft bevorsteht, nach uns in das Rampenlicht der Geschichte zu treten". Lenin warnte die Partei, "in imperialistische Beziehungen zu den unterdrückten Völkern" hineinzuschlittern und dadurch "unsere ganze prinzipielle Aufrichtigkeit, unsere prinzipielle Verteidigung des Kampfes gegen den Imperialismus" völlig zu untergraben." Lenin hatte die Absicht, von dieser prinzipiellen Position aus, die er in seiner Aufzeichnung entwickelt hatte, ein Referat auf dem XXII. Parteikongreß der KPR (B) zu halten105. Die erneute Verschlechterung seines Krankheitszustandes machte dieses unmöglich. Am 5. März 1923 bat er Trotzkij in einem Schreiben, die .,Verteidigung der georgischen Sache" im Zentralkomitee der Partei zu übernehrnen106. Am nächsten Tag ließ er ihm auch seine Aufzeichnung zugehen in der Hoffnung, daß ihn dieser in der Auseinandersetzung mit Stalin unterstützen würde, was nicht in der erhofften Weise der Fall war107. Gleichzeitig übersandte er an die georgischen Kommunistenführer ein Schreiben mit folgendem Wortlaut108: "An die Genossen Mdivani, Macharadze und andere (Abschrift für die Genossen Trotzkij und Karnenev) Werte Genossen, ich stehe in dieser Angelegenheit mit ganzem Herzen bei Euch. Ich bin empört über die Arroganz Ordzonikidses und Stalins sträfliches Einverständnis. Ich bereite Schriftstücke und eine Rede zu Eurer Verteidigung vor. Mit Hochschätzung Lenin" Foteeva, die Sekretärin Lenins, sagte zu Trotzkijl 09 : "Iljitsch traut Stalin nicht. Er will sich vor der ganzen Partei offen gegen ihn aussprechen. Er bereitet eine Bombe vor." 105 Zu diesem Zweck forderte er arn 24. Januar 1923 das Material der Kommission Dzierzynski an, mit dessen Bearbeitung er am 3. Februar 1923 die Fotieva beauftragte. Vgl. Lenin: Polnoe sobranie socinenij, Bd. 45, a.a.O., s. 476 ff. 108 Wortlaut: L. Trotzky: Stalin, Köln 1952, S. 463; Ost-Probleme, 8. Jg., 1956, S. 971. Am gleichen Tag veranlaßte ein erneuter Zusammenstoß zwischen Stalin und der Krupskaja Lenin ein Schreiben an Stalin zu richten, indem er ihm mit dem Abbruch der persönlichen Beziehungen drohte. Wortlaut: Ost-Probleme, 8. Jg., 1956, S. 869. 107 Zum Verhalten Trotzkijs, der die Möglichkeit zu einer entscheidenden Auseinandersetzung mit Stalin nicht nutzte, vgl. Daniels, a.a.O., S. 217 ff. 1os Trotzky, a.a.O., S. 462 f. 109 Ebenda, S. 463.

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Zur Explosion dieser Bombe sollte es nicht mehr kommen, da der dritte Schlaganfall, den Lenin am 9. März 1923 erlitt, ihn aus dem politischen Geschehen völlig ausschaltete. Am 16. April 1923 übersandte Foteeva die Aufzeichnung über die Nationalitätenfrage über Kamenev dem Politbüro, das eine Verteilung an die Mitglieder des Zentralkomitees und die Parteitagsdelegierten vorsah, aber von einer Veröffentlichung abzusehen beschloß 110• Lenins Ausführungen stärkten die Opposition in ihrer Auseinandersetzung mit den unitarischen Bestrebungen, konnten aber die weitere Entwicklung der Sowjetunion, die mit dem Aufstieg Stalins zur Macht verbunden war, nur wenig beeinflussen. Seine Befürchtungen sollten sich bereits bei der Schaffung der Organisation des neuen Bundesstaates als zutreffend erweisen. An der Ausarbeitung der ersten Bundesverfassung der UdSSR war eine Kommission des Politbüros unter Leitung Stalins und eine am 10. Januar 1923 errichtete Verfassungskommission des allunionistischen CIK, die seit dem 27. April1923 in einer erweiterten Zusammensetzung von Kalinin geleitet wurde, maßgebend beteiligt111 • Stalin verstand es, unterstützt von Kalinin, eine wesentliche Erweiterung der Kompetenzen des Bundes gegenüber den Gliedstaaten und eine Erhöhung der Zahl der allunionistischen und vereinigten, d. h. unions-republikanischen Volkskommissariate auf Kosten der republikanischen Volkskommissariate durchzusetzen. Vergeblich versuchte Rakovskij als Vertreter der Ukrainischen SSR, die ebenso wie die Weißrussische SSR einen eigenen Verfassungsentwurf vorgelegt hatte112, den Unionsrepubliken mehr Rechte, eine Beteiligung an der Ausübung der Auswärtigen Gewalt und eine größere Anzahl von Volkskomissariaten zu sichern113• Auch in der Frage der Zusammensetzung einer zweiten Kammer in Gestalt des Nationalitätenrates konnte sich Rakovskij nicht durchsetzen. Stalin hatte die Forderung nach einem besonderen Bundesorgan, in dem die Nationalitäten vertreten sein sollten, im November 1922 strikt abgelehnt114• Er machte sich diese Forderung erst in seinen Thesen "Die nationalen Momente im Partei- und Staatsaufbau" 115, die für den XII. Parteikongreß der KPR(B) bestimmt waren und mit Änderungen vom ZK-Plenum Vgl. hierzu die Dokumente in Ost-Probleme, 8. Jg., 1956, S. 971. Vgl. außer Jakubovskaja, a.a.O., S. 191 ff. G. S. Gurvic: Istorija sovetskoj konstitucii (Geschichte der Sowjetverfassung), Moskau 1923; V. I. Ignat'ev: Sovetskij stroj (Der Sowjetaufbau), Moskau 1928; D. A. Magerovskij: Sojuz Sovetskich Socialisticeskich Respublik (Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), Moskau 1923. 112 Wortlaut: Ignat'ev, a.a.O., S.123 ff. 113 Vgl. Pipes, a.a.O., S. 281; Jakubovskaja, a.a.O., S. 212, 219, 228, 230. 114 Vgl. Stalin, Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 126/7. m Wortlaut: Ebenda, S. 159 ff. 110 111

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am 24. Februar 1923 gebilligt wurden, zu eigen. An Stelle der von Rakovskij angestrebten gleichmäßigen Vertretung der Unionsrepubliken in einem Art "Bundesrat" mit einem eigenen Präsidium, schlug Stalin die Aufteilung des allunionistischen CIK in zwei Kammern, den Unionsrat und den Nationalitätenrat, vor, wobei an der Institution des einheitlichen Präsidiums festgehalten wurde. Im Nationalitätenrat sollten "auf der Grundlage der Gleichheit" alle nationalen Gebietseinheiten und nicht nur die Unionsrepubliken vertreten sein, womit der RSFSR von vornherein ein Übergewicht gesichert wurde. In dem Entwurf seiner Thesen hatte Stalin den großrussischen Chauvinismus in seiner Gefährlichkeit mit dem lokalen Nationalismus gleichgesetzt. Auf Veranlassung des ZK-Plenums wurde in der geänderten Fassung die Abweichung des großrussischen Nationalismus als besonders "schädlich und gefährlich" bezeichnet. Gleichzeitig wurde beschlossen, die Thesen über die nationalen Momente Lenin zur Stellungnahme zuzuleiten und zur Behandlung seiner Gegenvorschläge gegebenenfalls ein Sonderplenum einzuberufen. Infolge des dritten Schlaganfalls Lenins am 9. März 1923 ist es dazu nicht mehr gekommen. Stalin war infolgedessen in der Lage, auf dem XXII. Parteikongreß der KPR(B) im April 1923 in der Auseinandersetzung mit Mdivani und Macharadze auf der einen Seite116 sowie Rakovskij, der von Bucharin unterstützt wurde, auf der anderen Seite117, seine Linie durchzusetzen. In der erweiterten Verfassungskommission und auf der "Vierten Beratung des ZK mit den verantwortlichen Funktionären der nationalen Republiken und Gebieten" im Juni 1923, auf der Stalin über die vom Politbüro am 4. Juni 1923 beschlossene Plattform zur nationalen Frage berichtete, ging die Auseinandersetzung mit Rakovskij und Skrypnik, die als Sprecher der ukrainischen Opposition auftraten, weiter118• Stalin warf ihnen dabei vor, die Sowjetunion als Staatenbund organisieren zu wollen.

Stalin sagte119 : "War es etwa ein Zufall, daß die ukrainischen Genossen bei der Prüfung des bekannten Verfassungsentwurfs ... den Satz gestrichen haben, daß die Republiken ,sich zu einem Bundesstaat vereinigen'? War das 116 Vgl. Stalin, Werke, Bd. 5, S. 199ff.; Daniels, a.a.O., S. 221/2; Jakubovskaja, a.a.O., S. 209 ff. 117 Vgl. Stalin, ebenda, S. 231 ff.; Pipes, a.a.O., S. 281; Daniels, a.a.O., S. 282; Jakubovskaja, a.a.O., S. 212. 118 Vgl. Daniels, a.a.O., S. 223; Jakubovskaja, a.a.O., S. 228 ff.; Genkina, a.a.O., S. 388. 119 Stalin, Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 293. Rakovskijs Formulierung lautete, daß die Republiken "einen Bund (sojuz) sozialistischer Republiken bilden".

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etwa ein Zufall, und haben sie das etwa nicht getan? Warum haben sie diesen Satz gestrichen? War es etwa ein Zufall, daß die ukrainischen Genossen in ihrem Gegenentwurf vorschlugen, das Volkskommissariat für Außenhandel und das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten nicht zu verschmelzen, sondern in die Kategorie der Direktiven erteilenden überzuführen? Wo bleibt da der einheitliche Bundesstaat, wenn jede Republik ihr eigenes Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten und für Außenhandel hat? War es etwa ein Zufall, daß die Ukrainer in ihrem Gegenentwurf die Macht des Präsidiums des ZEK auf Null reduzierten, indem sie auf zwei Präsidien der zwei Kammern verteilten? Alle diese Änderungsanträge Rakovskijs wurden von der Kommission des ZK-Plenums festgehalten, analysiert und abgelehnt. Wozu wiederholt man sie also hier noch einmal? Ich erblicke in dieser Hartnäckigkeit gewisser ukrainischer Genossen den Wunsch, den Charakter der Union dahingehend zu bestimmen, daß ein Mittelding zwischen Konföderation und Föderation, mit einem Überwiegen der Konföderation, entsteht." Nach der Beratung gelang es Stalin, weitere Änderungen zur Stärkung der Bundesorgane durchzusetzen. Auf dem ZK-Plenum am 26./27. Juni 1923 erstattete er den abschließenden Bericht über den Entwurf der Verfassung, die als "Grundgesetz (Verfassung) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" bezeichnet wurde. Am 6. Juni 1923 wurde die Verfassung vom allunionistischen CIK einstimmig angenommen und damit in Kraft gesetzt120• Endgültige verfassungsrechtliche Verbindlichkeit erlangte sie aufgrundder Bestätigung durch den II. Sowjetkongreß der UdSSR am 30. Januar 1924121 • Da zu dieser Zeit ein klarer Unterschied in der Rechtskraft der einzelnen Gesetzgebungsakte nicht bestand, ist es richtiger von der Unionsverfassung von 1923/24 und nicht von 1924 zu sprechen, wie dies im sowjetischen staatsrechtlichen Schrifttum geschieht. Wesentliche Veränderungen in der Zusammensetzung der Sowjetunion fanden nach Inkraftsetzung der Bundesverfassung durch die staatliche Aufteilung des zentralasiatischen Raumes statt122 • Dadurch wurde von Stalin die staatliche Vereinigung ganz Turkestans verhindert. no Vgl. die Verordnung vom 6. Juli 1923, Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 114; Genkina, a.a.O., S. 394. 121 Wortlaut der ersten Bundesverfassung: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 226 ff.; Genkina, a.a.O., S. 422 ff.; deutsche Übersetzung: Die Verfassungsgesetzgebung des Sowjetstaates, a.a.O., S. 31 ff. 122 Vgl. Hayit (1), a.a.O., S. 215 ff.; A. A. Gordienko: Sozdanie sovetskoj nacional'noj gosudarstvennosti v Srednej Azii (Die Bildung der sowjetischen nationalen Staatlichkeit in Zentralasien), Moskau 1959; D. L. Zlatopol'skij: SSSR-Federativnoe gosudarstvo (Die UdSSR- ein föderativer Staat), Moskau 1967, S. 155 ff.; Cugaev (1), a.a.O., S. 390 ff.

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Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch die Umwandlung der sowjetischen Volksrepubliken Chorezm und Buchara im Oktober 1923 und September 1924 in Sozialistische Sowjetrepubliken, nachdem es dem Sowjetregime gelungen war, die Basmaci-Bewegung niederzuwerfen. Im Mai 1924 sprachen sich der VIII. Kongreß der Kommunistischen Partei Turkestans und anschließend die Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien von Buchara und Chorezm sowie das mittelasiatische Büro des ZK der KPR(B) für eine nationalstaatliche Aufgliederung Zentralasiens aus. Die Aufteilung der bestehenden staatlichen Gebilde erfolgte aufgrund der Verordnungen des CIK der Turkestanischen SFSR vom 16. September 1924123, des Sowjet-Kurultajs (Sowjetkongresses) von Buchara vom 18. September 1924124 und des Sowjet-Kurultajs von Chorezm vom 29. September 1924125 • Sie wurden anschließend durch die Verordnung des CIK der UdSSR über die nationalstaatliche Aufgliederung Zentralasiens bestätigtne. Im Ergebnis dieser Umgestaltung wurden errichtet: 1. Die Turkmenische SSR am 27. Oktober 1924127 ;

2. Die Uzbekische SSR am 27. Oktober 1924128 zusammen mit der am 14. Oktober 1924 gebildeten Tadzikischen ASSR; 3. Die Kazachische ASSR der RSFSR, die aus der am 26. August 1920 gegründeten Kirgizischen ASSR hervorgegangen ist, mit dem am 16. Februar 1925 gebildeten Kara-Kalpakischen Autonomen Gebiet, das später als ASSR der Uzbekischen SSR angegliedert wurde; 4. Das Kara-Kirgizische Autonome Gebiet der RSFSR am 14. Oktober 1924, das am 1. Februar 1926 in eine Kirgizische ASSR umgewandelt wurde. Der III. Sowjetkongreß der UdSSR stimmte mit Verordnung vom 13. Mai 1925 dem Beitritt der Turkmenischen und Uzbekischen SSR zur Sowjetunion zu129• Wortlaut: Gro§ev, a.a.O., S. 72 ff. Wortlaut: Ebenda, S. 75 f. 125 Vgl. G. Nepesov: Iz istorii chorezmskoj revoljucii (Aus der Geschichte der Chorezmischen Revolution), 1920 - 1924, Taschkent 1962, S. 301. 12e Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 238 f. 127 Zur Entwicklung der Turkmenischen SSR vgl. Kolarz (I), S. 343 ff.; ZlatopoL'skij (li), a.a.O., S. 503 ff. 128 Zur Entwicklung der Uzbekischen SSR vgl. Kolarz (I), S. 324 ff.; Zlatopol'skij (II), a.a.O., S. 182 ff. 129 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 426; Gro§ev, a.a.O., S. 79 ff. 123

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Die Tad.Zikische ASSR wurde am 16. Oktober 1929 in eine Tad.Zikische SSR umgewandelt130, deren Beitritt zur Sowjetunion mit Verordnung des CIK UdSSR vom 5. Dezember 1929 bestätigt wurde13 1 • Bei der Kazachischen und der Kirgizischen SSR erfolgte diese Rangerhöhung erst mit der Annahme der neuen Bundesverfassung der UdSSR am 5. Dezember 1936132, Wir sahen, daß die Bezeichnung des sowjetischen Bundesstaates lange umstritten war. Schließlich einigte man sich darauf, die regionale Begrenzung auf Europa und Asien wegzulassen. Diese regionale Begrenzung entsprach auch nicht der ideologischen Grundeinstellung Lenins. Das Fernziel, das er mit Hilfe der Weltrevolution anstrebte, waren die "Vereinigten Staaten der Welt", d. h. der sozialistisch-kommunistische Weltstaat als Vorstufe zu einer klassenlosen und damit herrschaftsfreien kommunistischen Weltgesellschaft. Daher hatte er 1915 die Forderung nach "Vereinigten Staaten von Europa", für die er zunächst nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges eingetreten war, bekämpft133• Für ihn bildete die Sowjetunion seit ihrer Begründung die antizipierte Form des von ihm angestrebten sozialistisch-kommunistischen Weltstaates. In diesem Sinne wurde der neue Bundesstaat in der Deklaration als "neuer entscheidender Schritt auf dem Wege der Vereinigung aller Länder zur Sozialistischen Weltrepublik der Sowjets" bezeichnet. Die Sowjetföderation war in den Augen Lenins dazu berufen, alle übrigen Staaten nach einer revolutionären Umgestaltung ihrer inneren Struktur schrittweise in sich aufzunehmen. Gegen diese Auffassung hatte sich Stalin in einem bemerkenswerten Brief vom 12. Januar 1920 gewandt134. Er erklärte, daß die Form des "zentralisierten Sowjettypus der 130 Wortlaut: Grosev, a.a.O., S. 110 ff. Zur Entwicklung der TadZikischen SSR vgl. G. Cleinow: Die neue Bundesrepublik Tadschikistan, Osteuropa, 5. Jg., 1929/30, S.116 ff.; N. P. Karadze-Iskrow: Die Bildung der neuen Sowjetrepublik Tadshikistan, Ztschr. für Ostrecht, 1930, S. 389 ff.; Kolarz (I), a.a.O., S. 334 ff.; S. Radzanov: Tadzikskaja SSR - suverennoe sovetskoe gosudarstvo (Die TadZikische SSR- ein souveräner Sowjetstaat), Stalinabad 1959; Zlatopol'skij (II), a.a.O., S. 477 ff. m Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 280 f. 132 Zur Entwicklung der Kazachischen und der Kirgizischen SSR vgl. Kolarz (I), a.a.O., S. 310 ff.; 320 ff. Zlatopol'skij (II), a.a.O., S. 215. 1" Vgl. W. I . Lenin: "Ober die Losung der Vereinigten Staaten von Europa", in: Socialdemokrat vom 23. 8. (5. 9.) 1915 (Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 306, Ausgewählte Werke, Bd. 1, S. 750 ff.). In seinem Artikel "Der Krieg und die russische Sozialdemokratie", in: Socialdemokrat vom 1. (14.) 9. 1914 (Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 76 ff.; Ausgewählte Werke, Bd. 1, S. 737 ff.) war Lenin für die Gründung von "republikanischen Vereinigten Staaten von Europa" eingetreten. 134 Der Brief ist inStalins Werken nicht veröffentlicht worden. Der Wortlaut findet sich in: W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. 25, Wien!Berlin 1930, S. 737, Anm.138.

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Föderation" als "Weg zur internationalen Einheit" für Nationalitäten mit eigenständiger staatlicher Tradition, vor allem, wenn sie niemals zum altenRußland gehört hatten, nicht gangbar sei. Als Beispiele solcher künftiger Sowjetstaaten nannte er im europäischen Bereich Sowjet-Deutschland, Sowjet-Polen, Sowjet-Ungarn, Sowjet-Finnland. Im asiatischen Bereich erwähnte er die Sowjet-Türkei und Sowjet-Persien als mögliche Beispiele. Stalin war der Auffassung, daß für diese Nationalitäten die annehmbarste Form einer Staatenverbindung die Konföderation, d. h. ein Staatenbund sein würde. Später erlaubte ihm die 1929 vorgenommene Unterscheidung zwischen kapitalistischen und sozialistischen Nationen eine weitere Vorstufe auf dem Wege zum kommunistischen Weltstaat in Gestalt eines kommunistischen Staatensystems vorzusehen. Ähnlich wie in der Frage der Entscheidung Lenins für den Föderalismus werden in der Beurteilung des Verhältnisses von Lenin und Stalin bei der Entstehung des sowjetischen Bundesstaates unter den sowjetischen Autoren seit dem Tode Stalins drei unterschiedliche Auffassungen vertreten135• Die erste Gruppe sieht zwischen beiden Konzeptionen keinen wesentlichen Unterschied. Die zweite Gruppe, der die meisten Autoren angehören, weist auf die prinzipielle Bedeutung des Konflikts zwischen Lenin und Stalin vor der Gründung der Sowjetunion hin, behauptet aber, daß Stalin später loyal die Weisungen Lenins eingehalten habe. Von der dritten Gruppe, die eine besondere proföderalistische Haltung aufweist, wird diese Behauptung mit Recht angezweifelt und an Hand von Beispielen widerlegt. In welchem Maße die sowjetischen Autoren in stalinistischen Denkkategorien befangen sind, zeigt sich darin, daß die georgischen Kommunistenführer Mdivani und Macharadze ebenso wie Rakovskij als "Separatisten" diffamiert werden, was sie zweifellos nicht gewesen sind136• V. Der föderative Aufbau der Sowjetunion und die Entwicklung des Sowjetföderalismus unter Stalin Die erste Bundesverfassung der UdSSR von 1923/24 bestand aus zwei Teilen: der "Deklaration" und dem "Unionsvertrag". Die "Deklaration" bildete als erster Abschnitt aufgrund ihres ideologischen Charakters gleichsam die Präambel der Unionsverfassung. Der "Unionsvertrag" leitete den zweiten Abschnitt ein, der die verfassungsrechtlichen Bestimmungen enthielt, die sich auf die Organisation der Bundesgewalt, die Regelung des Verhältnisses von Bund und Gliedstaaten und die Kompetenzregelung bezogen. Besondere Kapitel waren dem Obersten Gericht Vgl. Hodnett, a.a.O., S. 464 und die dort aufgeführten Beispiele. Selbst einige sowjetische Staatsrechtler, wie z. B. die Jakubovskaja, wollen den Unterschied zwischen Partikularisten und Separatisten nicht wahrhaben. 135

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der UdSSR und der Vereinigten Staatlichen Politischen Verwaltung (OGPU), d. h. der politischen Polizei, gewidmet. Da ein Grundrechtsteil fehlte, stellte die erste Bundesverfassung ihrem Typus nach ein staatlichinstitutionelles Organisationsgrundgesetz dar137• Der Sowjetföderalismus kam nicht nur in der formellen Gleichstellung der Unionsrepubliken, sondern auch in der Vertretung der einzelnen nationalen Gebietseinheiten in der zweiten Kammer des Zentralen Exekutivkomitees, dem Nationalitätenrat, zum Ausdruck. Dieser war im wesentlichen aus der am 9. Juni 1920 errichteten gleichnamigen Institution bei dem von Stalin bis zu seiner Auflösung geleiteten Volkskommissariat für nationale Angelegenheiten der RSFSR entwickelt wordentas. Die Gründung der Sowjetunion machte im Rahmen der durch die Unionsverfassung abgesteckten Bundeszuständigkeit die Überhöhung des bisherigen Aufbaus der Sowjetverwaltung durch neue Bundesbehörden notwendig. Es gab nunmehr drei Arten von Volkskommissariaten: 1. Allunionistische, d. h. zentralisierte Volkskommissariate; 2. vereinigte, d. h. unions-republikanische Volkskommissariate; 3. republikanische, d. h. dezentralisierte Volkskommissariate. Zu der ersten Gruppe gehörten die Volkskommissariate für Auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung, zur zweiten Gruppe der GOSPLAN und das Volkskommissariat für Justiz, zur dritten Gruppe die Volkskommissariate für Innere Angelegenheiten und für Volksbildung. Der Aufbau des Behördenapparats und die Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bund und den Gliedstaaten ließen von vornherein deutlich das übergewicht des Bundeselements erkennen. Der sowjetische Außenminister Cicerin hat infolgedessen 1924 die Sowjetunion als einen "konzentrierten Bundesstaat" bezeichnet. Richtiger dürfte es sein, die Sowjetunion aufgrund der bei ihrer Gründung bestehenden Verfassungslage als einen in föderative Formen gekleideten Einheitsstaat zu charakterisieren. Das autokratisch-totalitäre Herrschaftssystem, das sich im Verlauf von Stalins "Revolution von oben" seit 1928/29 herausbildete139, ließ die zentralistischen und damit unitarischen Züge des Sowjetstaats immer stärker hervortreten. Sie wurden durch die zweite Bundesverfassung der 13 7 Vgl. B. Dennewitz, B. Meissner: Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. I, Harnburg 1947, S. 132. 13 8 Vgl. die Dokumente bei Genkina, a.a.O., S. 198 ff. 139 Vgl. L. Shapiro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Frankfurt a. M. 1961, S. 401 ff.; B. Meissner: Sowjetgesellschaft im Wandel, Stuttgart 1966, S. 35 ff.

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UdSSR vom 5. Dezember 1936140, die noch heute Geltung besitzt, nur geringfügig verdeckt. Die föderalen Formen wurden beibehalten, wobei der Nationalitätenrat des Obersten Sowjets der UdSSR an die Stelle der gleichnamigen zweiten Kammer des Zentralen Exekutivkomitees trat. Auch die Zahl der Unionsrepubliken nahm aufgrund der Auflösung der TSFSR, und der Umgestaltungen im zentralasiatischen Bereich wesentlich zu. Der Sowjetunion gehörten jetzt elf Unionsrepubliken an: Die RSFSR, die jetzt ungekürzt Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialisticeskaja Respublika bezeichnet wurde, die Ukrainische SSR, die Weißrussische SSR, die AzerbajdZanische SSR, die Georgische SSR, die Armenische SSR, die Turkmenische SSR, die Uzbekische SSR, die TadZikische SSR, die Kazachische SSR, die Kirgizische SSR. Im Zuge der Expansionspolitik Stalins sind 1940 fünf weitere Unionsrepubliken hinzugetreten: die Estnische SSR, die Lettische SSR und die Litauische SSR aufgrundder Annexion der bis dahin unabhängigen drei baltischen Staaten141 , die Anfang August 1940 abgeschlossen wurde142, sowie die Finno-Karelische SSR143 und die Moldauische SSR144 durch Umwandlung der um die neugewonenen finnischen und rumänischen Gebiete vergrößerten bisherigen Autonomen Republiken zu Unionsrepubliken am 31. März und 2. August 1940. Außerdem wurden die Ukrainische und die Weißrussische SSR am 1. November 1939 um die von Polen abgetrennten Gebiete mit vorwie140 Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S . 345 ff.; deutsche Übersetzung (Fassung 1941), in: B. Dennewitz, B. Meissner: Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. I, Harnburg 1947, S. 191 ff. 141 Vgl. B. Meissner: Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht, Köln 1956. Zur Entwicklung der baltischen Unionsrepubliken vgl. L. Schultz: Die Entwicklung des Verfassungsrechts in den baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen seit 1940, Jb. d. öff. Rechts der Gegenwart, N.F., Bd. 12, 1963, S. 295 ff.; Kolarz (I), a.a.O., S. 125 ff.; vom sowjetischen Standpunkt: Ocerki razvitija gosudarstvennosti sovetskich pribaltijskich respublik (Grundzüge der Entwicklung der Staatlichkeit der baltischen Sowjetrepubliken), Tallinn 1965; D. A. Cugaev: Istorija nacional'no-gosudarstvennogo stroitel'stva v SSSR (Geschichte des nationalstaatliehen Aufbaus in der UdSSR) zitiert Cugaev (II) -, Moskau 1970, S. 56 ff.; Zlatopot'ski:i (II), a.a.O., S. 316 ff.; -536ff. 142 Vgl. den Wortlaut der Gesetze vom 3., 5. und 6. August 1940 über die Aufnahme der Litauischen, der Lettischen und der Estnischen SSR: GajdukovKotok-Ronin, a.a.O., S. 396 ff. 143 Vgl. C. Graf Stamati: Die Karelische Frage zwischen Finnland und der Sowjetunion, Nation und Staat, 15. Jg., 1941/42, S. 83 ff.; Kolarz (II), a.a.O., S.l22 ff. 144 Vgl. A. Makarov: Die Eingliederung Bessarabiens und der Nordbukowina in die Sowjetunion, Zeitschrift für ausländisches öff. Recht und Völkerrecht, 10. Jg., 1940, S. 336 ff.; KoZarz (I), a.a.O., S. 179 ff.; vom sowjetischen Standpunkt: A. M. Lazarev: Vossoedinenie Moldavskogo naroda v edinoe Sovetskoe gosudarstvo (Die Wiedervereinigung des moldauischen Volkes in einem Sowjetstaat), Kisinev 1965; A. A . KarZov : Moldavskaja SSR - suverennoe sovetskoe gosudarstvo v sostave SSSR (Die Moldauische SSR - ein souveräner Sowjetstaat im Bestand der UdSSR), Kiew 1968; Cugaev (II), a.a.O., S. 45 ff.; ZZatopoZ'skij, a.a.O., S. 361 ff.

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gend ukrainischer und weißrussischer Bevölkerung vergrößert145• Die Schwächung des Sowjetföderalismus in der neuen Bundesverfassung der UdSSR kam in der weiteren Stärkung des Bundeselements und darin zum Ausdruck, daß die Garantie des Gebietsstandes der Unionsrepubliken und ihres Rechts zum freien Austritt aus dem Bundesstaat, das von vornherein nur einen fiktiven Charakter besaß, wegfiel. Der Vorschlag, die Bestimmung über das Austrittsrecht in der Verfassung (Art. 17) zu streichen, wurde von StaZin abgelehnt146• Die Zuständigkeit des Bundes wurde wesentlich ausgeweitet und die Zahl der Bundeskommissariate, zu denen jetzt auch die Volkskommissariate für Innere Angelegenheiten (NKVD) und für Justiz gehörten, wurde weiter vermehrt. In der Verfassungswirklichkeit kam die Aushöhlung des Sowjetföderalismus, von den besonderen Wesenszügen des diktatorischen Herrschaftssystems abgesehen, vor allem in der zunehmenden Stärke und ideologischen Rechtfertigung eines großrussischen Nationalismus sowie in einer drakonischen Nationalitätenpolitik, die sich rücksichtslos über die verfassungsrechtlichen Bestimmungen hinwegsetzte, zum Ausdruck. Lenin glaubte, daß es möglich sein würde, die zwangsweise Einheit des Zarenreiches durch eine Union gleichberechtigter Nationen und Völker zu ersetzen. Er war sich dabei der Gefahren, die einer solchen Konstruktion vom großrussischen Nationalismus drohten, wie wir sahen, durchaus bewußt. Unter ihm ist infolgedessen der großrussische Nationalismus im Vergleich zu dem Nationalismus der nichtrussischen Völker stets als die weitaus gefährlichere Abweichung von der Parteilinie bekämpft worden. Lenin wußte, daß die Wiederherstellung des Imperiums unter sowjetkommunistischen Vorzeichen in vielen Fällen unter Verletzung des Selbstbestimmungsprinzips erfolgt war. Er sah im Nationalismus der einzelnen Völker daher in erster Linie eine Reaktion auf ihre Unterdrückung durch die Sowjetbürokratie, in der bereits bei der Gründung der Sowjetunion das großrussische Element überwog. Indem Lenin die anfangs noch von wirklicher internationaler Gesinnung erfüllte marxistische Zielsetzung mit dem Gemeinwohl des überwiegend russischen us Vgl. J. A. Armstrong: Ukrainian Nationalism 1939 -1945, New York 1955; C. A. Manning: Ukraine under the Soviets, New York 1955; N. P. Vakar: Belorussia, Cambridge, Mass. 1956; vom sowjetischen Standpunkt: S. N. Belousov: Vossoedinenie ukrainskogo naroda v edinom Ukrainskom Sovetskom gosudarstve (Die Wiedervereinigung des ukrainischen Volkes in einem ukrainischen Sowjetstaat), Moskau 1950; T. S. Gorbunov: Vossoedinenie belorusskogo naroda v edinom Sovetskom socialisticeskom gosudarstve (Die Wiedervereinigung des weißrussischen Volkes in einem sozialistischen Sowjetstaat), Moskau 1948; N. N. Petrovskij: Vossoedinenie ukrainskogo naroda v edinom Ukrainskom Sovetskom gosudarstve (Die Wiedervereinigung des ukrainischen Volkes in einem ukrainischen Sowjetstaat), Moskau 1944. ue Vgl. R. Maurach: Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S. 105 ff.; B. F. Halajczuk: Das Sezessionsrecht -Art. 17 der Verfassung der UdSSR, Jb. für Ostrecht, Bd. IX, 1. Hj ., 1968, S. 123 f.

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Staatswesens verband, legitimierte er die bolschewistische Einparteiherrschaft in nationaler Hinsicht gegenüber einem großen Teil der Bevölkerung. An dem Kampf gegen die ausländische Intervention, insbesondere aber im Krieg mit Polen, entzündete sich zum erstenmal ein Sowjetpatriotismus147, in dessen Verhüllung der russische Nationalismus neben dem marxistischen Sozialismus zu einer bestimmenden Kraft der weiteren Entwicklung der Sowjetunion werden sollte.

Stalins Lehre "vom Sozialismus in einem Lande" bildete den Rahmen, in dem sich dieser Reichspatriotismus weiter entfalten konnte. Indem Stalin 1929 "sozialistische Nationen" entdeckte148, die von längerer Dauer sein sollten, schuf er die zweite Voraussetzung für die Amalgamation zwischen dem Sowjetkommunismus und dem großrussischen Nationalismus, die sich seit diesem Jahr unaufhaltsam vollzog149• Gleichzeitig verschob sich die bisherige Bewertung der beiden nationalistischen Abweichungen. War zunächst noch ein gewisses Gleichgewicht in ihrer Bewertung festzustellen, das sich bereits zugunsten des Großrussenturns auswirkte, so galt seit dem Beginn der Großen Säuberung 1934 der Nationalismus der nichtrussischen Völker, dessen bürgerlich-kapitalistischen Charakter man anprangerte, als die Hauptgefahr. Zur gleichen Zeit wurde unter wesentlicher Mitwirkung des Parteisekretärs Zdanov 150 , der auch an der Gestaltung der sowjetischen Außenpolitik maßgebenden Anteil hatte, der Sowjetpatriotismus zu einem integralen Bestandteil der Sowjetideologie151• Im Verlauf des Krieges gegen die Deutschen, der als "Großer Vaterländischer Krieg" gekennzeichnet wurde, erlaubte der Rückgriff auf das russisch-nationale Erbe, den Bestand des Imperiums zu waren. Gleichzeitig führte die Entwicklung zu einem solchen übergewicht des russischen Nationalismus in der Verhüllung des Sowjet147 Vgl. W. Markert: Marxismus und russisches Erbe im Sowjetsystem, in: Der Mensch im kommunistischen System, Tübingen 1957, S. 63. 148 Diese Änderung der Nationslehre erfolgte in einem Schreiben "Die nationale Frage und der Leninismus", das erstmalig 1949 im elften Band der russischen Originalausgabe der gesammelten WerkeStalins und in deutscher Übersetzung im Sammelband "Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage", Berlin (Ost) 1950, S. 323 ff. veröffentlicht wurde. Vgl. hierzu auch M. Kammari: Tovarisc Stalin o nacijach burluaznych i socialisticeskich (Genosse Stalin über die bürgerlichen und die sozialistischen Nationen), Bolsevik 1949, Nr. 16, S. 27 ff.; W. Koslow: Bürgerliche und sozialistische Nationen, Moskau 1954. 149 Vgl. G. v. Rauch: Geschichte des bolschewistischen Rußland, Wiesbaden 1955, s. 309 ff. 150 Vgl. B. Meissner: Sowjetrußland zwischen Revolution und Restauration, Köln 1956, S. 43 ff. 151 Vgl. F. C. Barghoorn: Soviet Russian Nationalism, New York 1956; K. Mehnert: Weltrevolution durch Weltgeschichte, Kitzingen 1950; E. Oberländer: Sowjetpatriotismus und Geschichte, Köln 1967.

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patriotismus, daß damit die letzten Hemmungen gegenüber den vom Selbstbestimmungsrecht gewiesenen Grenzen wegfielen. Dieser entscheidende Umbruch, der die zaristische Idee eines "einheitlichen und unteilbaren Rußland" im sowjetischen Gewande wiederersteden ließ und damit der föderalistischen Idee den Boden entzog, fand in der Wiederbelebung vorrevolutionärer Institutionen sowie in der Hervorhebung der führenden Rolle der großrussischen Nation durch Stalin seinen Ausdruck152• Symbolisch war in dieser Hinsicht der Wortlaut der neuen Nationalhymne der Sowjetunion von 1944 anzusehen, welche auf der staatlichen Ebene die "Internationale" als Hymne der Arbeiterbewegung der ganzen Welt ablöste. Hinter ihren Worten: "Unzerstörbare Union freier Republiken, auf immer geeint durch das große Rußland", versank das marxistische Ursprungskonzept, ohne daß die universelle Zielsetzung damit aufgegeben worden wäre. Die ideologische Begründung für diese These von den Großrussen als der "führenden Nation der Sowjetunion" bildete die von Stalin im Verlauf der Linguistik-Diskussion 1950 entwickelte Lehre von der "Revolution von oben" 153 • Stalin erklärte in seiner Schrift "Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft", die dieser Diskussion zugrunde lag, abweichend von seinen früheren Aussagen, daß bei der Kreuzung von Sprachen niemals eine neue, qualitativ verschiedene Sprache entstehen könne. Es würde sich immer eine der beteiligten Sprachen als Sieger durchsetzen154• Er verwies dabei auf die russische Sprache, von der er behauptete, daß sie im Sprachenkampf immer als Sieger hervorgegangen sei. Von ihm wurde damit eine Perspektive aufgezeigt, die zum Aufgehen aller zu dem sowjetischen Machtbereich gehörenden Völker in einer einheitlichen großrussischen Nation mit einer großrussischen Einheitssprache führen mußte, also genau das, was er selbst 1930 als "eine nationalchauvinistische Theorie, eine antileninistische Theorie" verurteilt hatte. Es war die Rechtfertigung eines Programms des nationalen Imperialismus, das ebenso wie die hegemonial-imperiale Auslegung des Begriffs des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" 155 nach innen und außen in 15 2 Vgl. Rauch, a.a.O., S. 439 ff. Die führende Rolle der großrussischen Nation wurde von StaUn beim Empfang der Heerführer der Roten Armee am 24. Mai 1945 besonders betont. Vgl. J. Stalin: über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Moskau 1946, S. 222 f. 153 Vgl. B. Meissner: Rußland im Umbruch, Frankfurt a. M. 1951, S. 18 f. 154 Vgl. J. Stalin: Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Stuttgart 1953, S. 36. 155 Zum Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" im sowjetischen Vielvölkerstaat vgl. S. L. Ronin: Princip proletarskogo internacionalizma v sovetskom socialisticeskom prave (Das Prinzip des proletarischen Internationalismus im sozialistischen Sowjetstaat), Moskau 1956; E. A. Bagramov: Dialektika nacional'nogo i internacional'nogo v uslovijach socializma (Die Dialektik des Nationalen und Internationalen unter den Bedingungen des Sozialismus), Voprosy filosofii, 1970, Nr. 4, S. 121 ff. 4 Schroeder/Meissner

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einem eindeutigen Widerspruch zur Selbstbestimmungskonzeption Lenins stand. Auf dem Hindergrund dieser Entwicklung sind die drakonischen Maßnahmen zu sehen, die von Stalin gegen eine Reihe von Nationalitäten in Verbindung mit dem deutsch-sowjetischen Kriege ergriffen wurden. Auf dem Dekretwege wurden die ASSR der Wolgadeutschen156, der Krimts7, der Kalmücken158, der Cecenen-Ingusen sowie das autonome Gebiet der Karacajer aufgelöst159. Eine weitere Autonome Republik wurde in ihrer nationalen Zusammensetzung verändert, indem die ASSR der Kabadiner-Baikaren in eine ASSR der Kabadiner umgewandelt wurde160. Die einzelnen Völker und Volksgruppen, die Subjekte dieser nationalen Gebietseinheiten gewesen waren, die fast ausnahmslos eine eigene Staatlichkeit im sowjetischen Sinne besaßen, wurden in den asiatischen Teil der Sowjetunion, insbesondere nach Kasachstan und Westsibirien deportiert161. Von Chruscev sind diese verfassungswidrigen Maßnahmen in seiner Geheimrede gegen Stalin auf dem XX. Parteikongreß der KPdSU im Februar 1956 scharf verurteilt worden. Er machte dabei die Mitteilung, daß Stalin am liebsten ähnliche Maßnahmen auch gegen die Ukrainer ergriffen hätte. Chruscev sagte162 : 156 Vgl. das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 "über die Umsiedlung der Deutschen des Wolgagebietes", Vedomosti Verchovnogo Soveta SSR (Anzeiger des Obersten Sowjets der UdSSR),- zitiert VVS SSSR -, 1941,Nr.38; deutsche übersetzung,in: R.Maurach: Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S. 84 und das Dekret vom 7. Dezeinher 1941, VVS SSSR 1941, Nr. 40; Sobranie zakonov SSSR i ukazov prezidiuma SSSR (Sammlung der Gesetze und der Dekrete des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR) -zitiert Sbornik Zakonov -, 1938 - 1967, Bd. I, Moskau 1968, S. 164. 157 Vgl. das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR vom 25. Juni 1944 über die Aussiedlung, bestätigt durch Gesetz des Obersten Sowjets der RSFSR "über die Auflösung der Cecenisch-Ingusischen ASSR und der Umwandlung der Krim ASSR in ein Krim-Gebiet im Bestand der RSFSR" vom 25. Juni 1946, Wortlaut, Izvestija vom 26. 6. 1946; deutsche Übersetzung, Maurach, a.a.O., S. 350 und das die Krim betreffende Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 30. Juni 1945, Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 166; E. Kirimal: Der nationale Kampf der Krimtürken, Emstetten 1952. 158 Die Aussiedlung der Kalmücken und die Auflösung der Autonomen Republik fand Ende 1943 statt. Der Wortlaut des Deportationserlasses ist nicht bekannt. 159 Durch Gesetz der RSFSR vom 25. Juni 1946 - siehe Anmerkung 157 wurde die bereits im Februar bzw. März 1944 erfolgte Aussiedlung der Cecenen und Ingusen bestätigt. 160 Die Aussiedlung der Karacajer fand Ende Dezember 1943, der Baikaren im April1944 statt. Der Wortlaut der Deportationserlasse ist nicht bekannt. 161 Vgl. R. Conquest: The Soviet Deportations of Nationalities, London 1960. 162 Ost-Probleme, 8. Jg., 1956, S. 886.

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"Mit Recht wird die Sowjetunion als mustergültiger Vielvölkerstaat angesehen, weil wir in der Praxis die Gleichheit aller in unserem Vaterlande freundschaftlich zusammenlebenden Völker sichergestellt haben. Um so ungeheuerlicher sind die Taten, die auf Veranlassung Stalins begangen wurden und schwere Verstöße gegen die fundamentalen leninistischen Grundsätze der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates darstellen. Wir meinen die Massendeportationen ganzer Völkerschaften mitsamt allen Kommunisten und Komsomolzen, ohne jede Ausnahme. Diese Deportationen waren durch keinerlei militärische Überlegungen diktiert. So wurde bereits gegen Ende des Jahres 1943, als sich im großen Vaterländischen Kriege durch die Durchbrüche unserer Armee an den Fronten das Blatt zugunsten der Sowjetunion wendete, ein Beschluß über die Deportation sämtlicher Karacajer aus ihrer angestammten Heimat gefaßt und durchgeführt. Im gleichen Zeitraum Ende Dezember 1943, ereilte die gesamte Bevölkerung der Autonomen Kalmückenrepublik dasselbe Schicksal. Im März 1944 wurden sämtliche Cecenen und Ingusen deportiert, und die Autonome Republik der Cecenen und Ingusen wurde aufgelöst. Im April1944 wurden alle Baikaren aus dem Gebiet der Autonomen Republik der Kabardiner und Baikaren in entlegene Gebiete verschleppt und die autonome Republik selbst wurde in Autonome Kabardinische Republik umgetauft. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal lediglich deshalb, weil sie zu zahlreich sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können. Sonst hätte er auch sie deportiert." Die Gebietsveränderungen, die mit dem Ausgange des Zweiten Weltkrieges verbunden waren, haben die Zahl der bestehenden Unionsrepubliken zunächst unberührt gelassen und nur zur Erweiterung des Territoriums einiger Unionsrepubliken geführt163. Bereits im Oktober 1944 wurde die selbständige Volksrepublik Tannu Tuwa annektiert und in ein Autonomes Gebiet der RSFSR umgewandelt164, die sich 1945 im Fernen Osten auch japanische Gebiete aneignete165. Außerdem wurde 1946 das nördliche Ostpreußen mit Königsberg, 163 Vgl. B. Meissner: Die Verfassungsentwicklung der Sowjetunion seit dem zweiten Weltkrieg (li), Jb. für int. u. ausl. öff. Recht, 2. Jg. 1949, S. 773 ff. Zu der Grenzziehung und den Gebietsveränderungen der Unionsrepubliken untereinander vgl. Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 141 ff. 164 Vgl. das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Aufnahme der Tuvinischen Volksrepublik in den Bestand der UdSSR vom 11. Oktober 1944, Sbornik Zakonov, Bd. 1, a.a.O., S. 162; Ch. M. Seifulin: Obrazovanie Tuvinskoj avtonomnoj oblasti RSFSR (Die Bildung des Tuvinischen Autonomen Gebiets der RSFSR), Kyzyl1948. 165 Vgl. H. Shibuya: Die territoriale Frage zwischen Japan und der Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg, in: Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, Köln 1965, S. 209 ff.

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das in Kaliningrad umbenannt wurde, im Widerspruch zum Potsdamer Abkommen von der Sowjetunion annektiert und als Enklave der RSFSR angegliedert166• Die Tschechoslowakei war in einem Zessionsvertrag vom 29. Juni 1945167 gezwungen, die Karpaten-Ukraine an die Sowjetunion abzutreten, die mit der Ukrainischen SSR vereinigt wurde168• Eine begrenzte Wiederbelebung sollte der Sowjetföderalismus durch die Verfassungsreform von 1944 und vor allem durch die Reformmaßnahmen von Chruscev erfahren. Durch die Verfassungsnovellen vom 1. Februar 1944168 wurde den Unionsrepubliken die Befugnis eingeräumt, im Rahmen der vom Bund festzulegenden Ordnung unmittelbare Beziehungen mit ausländischen Staaten zu unterhalten und autonome Truppenformationen zu bilden170 • Zu diesem Zweck wurden die Volkskommissariate für Auswärtige Beziehungen und für Verteidigung aus allunionistischen in unions-republikanische Volkskommissariate umgewandelt. Durch diese Reform wurde den Unionsrepubliken eine, wenn auch sehr beschränkte Beteiligung an der Ausübung der Auswärtigen Gewalt171 und der Wehrhoheit zugestanden172. Partielle Völkerrechtssubjektivität haben als Folge dieses Verfassungsaktsallerdings nur diejenigen Unionsrepubliken gewonnen, die nachher von anderen Staaten als Rechtssubjekte im völkerrechtlichen Sinne anerkannt worden sind. Dies ist nur bei der Ukrainischen und der Weißrussischen SSR als Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen der Fall gewesen. Stalin gelang es auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 nicht, den gleichen Status für die Litauische SSR zu erreichen, da 166 Vgl. das Dekret "über die Bildung des Königsherger Gebiets" vom 7. April 1946 und das Dekret "Über die Umbenennung der Stadt Königsberg in die Stadt Kaliningrad und des Königsherger Gebiets in das Kaliningrader Gebiet" vom 4. Juli 1946; Sbornik Zakonov, Bd. 1, a.a.O., S. 177. 167 Wortlaut: B. Meissner: Das Ostpakt-System, Frankfurt a. M. 1955, S. 51 f. 168 Vgl. J. W. Brügel: Der Fall Karpathorußland, Europa-Archiv, 8. Jg., 1953, S. 6021 ff.; V. Markus: L'Incorporation de !'Ukraine Subcarpatique a !'Ukraine Sovü!!tique 1944 - 1945, Löwen 1956. 1&e Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S . 405 f.; deutsche übersetzung, Dennewitz-Meissner, Bd. I, a.a.O., S . 214 ff. 170 Vgl. A . Makarov: Die Verfassungsreform vom 1. Februar 1944, Ztschr. f. ausl. öff. Recht und Völkerrecht, 12. Jg. 1944, S . 106 ff.; R. Maurach: Wandlungen im Wehrwesen und der Außenvertretung, Zeitschrift für Osteuropäisches Recht, N.F., 11. Jg., 1944, S. 33 ff.; B. Meissner: Die Verfassungsentwicklung der Sowjetunion seit dem zweiten Weltkrieg (1), Jb. für int. u. ausl. öff. Recht, 1. Jg., 1948, S. 161 f. 171 Vgl. V . V. Aspaturian: The Union Republics in Soviet Diplomacy, Geneva 1960. 172 B. Meissner: Das sowjetische Vielvölkerheer, in: Vielvölkerheere und Koalitionskriege, Darmstadt 1952, S . 17 ff.

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die Vereinigten Staaten und Großbritannien eine Anerkennung der Annexion der baltischen Staaten ablehnten173 • Eine für die Nationalitätenpolitik Stalins charakteristische Neufassung erfuhr der Artikel 13 der Bundesverfassung von 1936 durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 25. Februar 1947174, in dem die durch ihn veranlaßten Änderungen in der nationalterritorialen Gliederung der Sowjetunion ihren verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden haben. Durch sie wurde die Reihenfolge und damit in gewisser Hinsicht die Rangfolge der 16 Unionsrepubliken geändert. War bis dahin die Aufzählung der Unionsrepubliken nach dem Zeitpunkt ihres Beitritts und ihrer regionalen Zugehörigkeit erfolgt, so fand sie jetzt nach der Bevölkerungsstärke der einzelnen Republiken statt. Damit wurde die bisher im Artikel13 in Erscheinung getretene raummäßige Geschlossenheit der nichtslawischen Völker des Kaukasus, Turkestans und des Baltikums formell beseitigt, um in dem so gewonnenen bunten Verfassungsbild das Gewicht der slawischen Völker mit der großrussischen Nation an der Spitze en bloc stärker zu betonen. VI. Der Wandel in der sowjetischen Nationalitätenpolitik und die Entwicklung des Sowjetföderalismus unter Chruscev Nach dem TodeStalins 1953 machte sich ein Wandel in der Nationalitätenpolitik bemerkbar, der die Bereitschaft der neuen Sowjetführung erkennen ließ, in stärkerem Maße die Interessen der nichtrussischen Nationalitäten zu berücksichtigen175• Den Wendepunkt stellte der XX. Parteikongreß der KPdSU im Februar 1956 dar, auf dem sich Chruscev mit der drakonischen Nationalitätenpolitik Stalins scharf auseinandersetzte, wobei er von der Kenntnis der Aufzeichnung Lenins "Zur Frage der Nationalitäten oder der Autonomisierung" vom Dezember 1922 aus173 Vgl. Meissner: Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht, a.a.O., S. 129. Zur völkerrechtlichen Stellung des Ukrainischen und der Weißrussischen SSR vgl. A. Verdroß: Die Völkerrechtssubjektivität der Gliedstaaten der Sowjetunion, Österreichische Zeitschr. für öff. Recht, N.F., 1. Jg., 1946, S. 212 ff.; vgl. B. Halajczuk: The Soviet Ukraine as a Subject of International Law; The Annals of the Ukrainian Academy of Artsand Seiences in the US", 1941, Nr. 1- 2; R. Yakemtschouk: L'Ukraine en droit international, Louvain 1954; S. R. Vicharev: Suverenitet Belorusskoj SSR v sostave SSSR (Die Souveränität der Weißrussischen SSR im Verband der UdSSR), Minsk 1958; I. I. LukaAuk: Die Völkerrechtssubjektivität der sowjetischen Unionsrepubliken, Osteuropa-Recht, 15. Jg., 1969, S. 333 ff.; Ju. P. Brovko: Sojuznaja respublika - sub-ekt mezdunarodnogo prava (Die Unionsrepublik - Subjekt des Völkerrechts), SGP, 1972, Nr. 12, S. 36 ff. m Wortlaut: Gajdukov-Kotok-Ronin, a.a.O., S. 414 ff.; deutsche übersetzung, Dennewitz-Meissner, Bd. I, a.a.O., S. 216 ff. m Vgl. B. Lewytzkyj: Die sowjetische Nationalitätenpolitik nach Stalins.Tod (1953 -1970), München 1970. Zur Rolle Berijas bei dieser veränderten Nationalitätenpolitik vgl. B. Meissner: Nach Stalins Tod, Osteuropa, 3. Jg., 1953, S. 282 ff.

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gehen konnte, die an die Parteitagsmitglieder verteilt worden war176• In der Entschließung des XX. Parteitages zu dem von Chruscev erstatteten ZK-Bericht wurde festgestellt17 7 : "In ihrer Nationalitätenpolitik ging und geht die Partei von der Leninschen These aus, daß der Sozialismus die nationalen Unterschiede und Besonderheiten nicht beseitigt, sondern im Gegenteil eine allseitige Entwicklung und Blüte der Wirtschaft und Kultur aller Nationen und Nationalitäten sichert. Die Partei muß auch künftighin diese Besonderheiten in ihrer gesamten praktischen Politik überaus aufmerksam beachten." Unter Chruscev wurde es üblich, die Großrussen als den "älteren Bruder" der anderen Völker der Sowjetunion, unter denen er die Ukrainer besonders hervorhob, zu bezeichnen, während die These von der "führenden Rolle" des Großrussenturns in den Hintergrund trat. Um die Achse Moskau-Kiew zu festigen, wurde das Krimgebiet mit Dekret vom 19. Februar 1954178 von der RSFSR an die Ukrainische SSR übertragen. Im Ausgleich erhielt die RSFSR die Karelo-Finnische Unionsrepublik, die aufgrund des Gesetzes vom 16. Juli 1956 in eine Karelo-Finnische ASSR umgewandelt wurde179 • Damit verringerte sich die Gesamtzahl der Unionsrepubliken von sechzehn auf fünfzehn.

Chruscev war gleichzeitig bestrebt, durch Beseitigung der Auswüchse der Nationalitätenpolitik Starins sowie Erweiterung der Rechte der Unionsrepubliken eine Wiederbelebung des Sowjetföderalismus herbeizuführen. Er hat zunächst die kleineren Nationalitäten im nordkaukasischen Raum rehabilitiert. Durch Dekret vom 9. Januar 1957, das durch Gesetz vom 11. Januar 1957 bestätigt wurde180, ist die territoriale Autonomie für die Völker der Balkaren, Cecenen, lngusen, Karacajer und Kalmücken in einer teilweise veränderten Form wiederhergestellt worden. Im Rahmen der RSFSR wurde die Kabardinische ASSR wieder in eine KabardinischBalkarische ASSR umgebildet, die Cecenisch-Ingusische ASSR wiederhergestellt, ein Kalmückisches Autonomes Gebiet gebildet und das Cerkessische Autonome Gebiet in ein Karacajer-Cerkessisches AutoVgl. Ost-Probleme, 8. Jg., 1956, S. 963 und 968 ff. Vgl. B. Meissner: Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt a. M. 1956, S. 167. 178 VVS SSSR 1954, Nr. 4, Art. 64; Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 187. Das Dekret wurde durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 26. April 1954 bestätigt. Wortlaut: VVS SSSR 1954, Nr. 10, Art. 211. 179 VVS SSSR 1956, Nr. 15, Art. 331, Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 163; bestätigt durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 16. Juli 1956, VVS SSSR 1956, Nr. 15, Art. 332. 180 VVS SSSR 1957, Nr. 4, Art. 78; bestätigt durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 11. Februar 1957, VVS SSSR 1957, Nr. 4, Art. 80. Vgl. hierzu W. Kolarz: Die Rehabilitierung der liquidierten Sowjetvölker, 7. Jg., 1957, S. 414 ff. 17&

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nomes Gebiet umgewandelt. Mit Dekret vom 29. Juli 1958181 wurde dem Kalmückischen Autonomen Gebiet wieder der Rang einer Autonomen Republik zuerkannt. Die Teilrehabilitierung der Wolgadeutschen erfolgte durch Dekret vom 29. August 1964182 kurz vor seinem Sturz. Die Teilrehabilitierung der Krim-Tataren fand erst durch Dekret vom 28. April 1967183 statt. Den Wolgadeutschen und den Krimtataren wurde die Rückkehr in ihre alten Heimatgebiete nicht gestattet184• Auf die national-territoriale Gliederung der Sowjetunion sollte sich auch die Verschärfung des Konflikts zwischen Peking und Moskau auswirken. Um chinesischen Forderungen vorzubeugen, wurde dem Tuwinischen Autonomen Gebiet mit Dekret vom 10. Oktober 1961 185 der Rang einer Autonomen Republik verliehen. Aus dem gleichen Anlaß war vorher die Burjät-Mongolische ASSRaufgrund des Dekrets vom 7. Juli 1958 in eine Burjätische ASSRumbenannt worden1sa. Nach dem Sturz Chruscevs haben in der Zusammensetzung der nationalen Gebietseinheiten keine weiteren Veränderungen stattgefunden. Die Sowjetunion setzt sich zur Zeit aus 15 Unionsrepubliken, 20 Autonomen Republiken, 8 Autonomen Gebieten und 10 Nationalen Kreisen zusammen. Verändert hat sich unter den Nachfolgern Chruscevs nur die Vertretungsquote der Unionsrepubliken im Nationalitätenrat von 25 auf 32 Deputierte, die aufgrund des Verfassungsänderungsgesetzes vom 181 VVS SSSR 1958, Nr. 17, Art. 292; Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 164; bestätigt durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 25. November 1958, VVS SSSR 1959, Nr. 1, Art. 18. 182 VVS SSSR 1964, Nr. 52, Art. 592; Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 165 f., deutsche übersetzung, Jb. für Ostrecht, Bd. VI/1, 1965, S. 58 f. Der mit Dekret vom 29. August 1964 erfolgten Abänderung des Dekrets vom 28. August 1941 war das Dekret vom 13. Dezember 1955 "Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in getrennter Ansiedlung befinden", vorausgegangen. Vgl. den russischen Wortlaut und die deutsche übersetzung, Internationales Recht und Diplomatie, 3. Jg., 1958, S. 524 f. 183 Mit dem Dekret vom 28. April 1967 "über die Bürger tatarischer Volkszugehörigkeit, die auf der Krim gelebt haben, VVS SSSR 1967, Nr. 36, Art. 493; Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 166 f. deutsche übersetzung, WGO, 9. Jg., 1967, S. 320, war das Dekret vom 5. Dezember 1967 "über das Verfahren bei der Anwendung des Artikels 2 des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 27. April 1956, VVS SSSR 1967, Nr. 36, Art. 494, Sbornik Zakonov, Bd. I, a.a.O., S. 167, verbunden. 184 Vgl. G. Geilke: "Rehabilitierung" der Wolgadeutschen?, Jb. für Ostrecht, Bd. VI/1, 1965, S. 52 ff.; derselbe: Rehabilitierung der Krim-Tataren in der Sowjetunion, WGO, 9. Jg., 1967, S. 301, 320. 185 VVS SSSR 1961, Nr. 42, Art. 431, bestätigt durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 8. Dezember 1961, VVS SSSR 1961, Nr. 50, Art. 506. 18 6 VVS SSSR 1958, Nr. 14, Art. 279, bestätigt durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 25. Dezember 1958, VVS SSSR 1959, Nr. 1, Art. 18.

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3. August 1966187 erfolgte. Damit sollte das zahlenmäßige Gleichgewicht mit dem Unionsrat, das durch die Bevölkerungszunahme notwendig geworden war, wiederhergestellt werden. Die Vertretungsquoten der Autonomen Republiken (11), Autonomen Gebiete (5) und Nationalen Kreise (1) haben sich dagegen nicht geändert. Unter Chruscev sind die Rechte der Unionsrepubliken auf dem Gebiete der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der inneren Verwaltung erweitert worden188. Diesem Zweck diente auch die Auflösung der Ministerien für Justiz und Innere Angelegenheiten (MVD) auf der Bundesebene. Diese Entwicklung ist unter seinen Nachfolgern rückläufig gewesen189. Es wurden nicht nur die Ministerien für Justiz und Innere Angelegenheiten als unionsrepublikanische Ministerien wiederhergestellt, sondern auch ein unions-republikanisches Ministerium für Bildung geschaffen, durch das den Unionsrepubliken ein Bereich entzogen wurde, der fast 49 Jahre lang zu ihrer ausschließlichen Zuständigkeit gehört hatte. Die gleiche Tendenz zu einer verstärkten Zentralisierung macht sich auf dem Gebiete der Wirtschaftsverwaltung, wenn man von der Erweiterung der Betriebsautonomie absieht, bemerkbar. Die Schaffung von regionalen Volkswirtschaftsräten aufgrundder Reform der Wirtschaftsverwaltung durch Gesetz vom 10. Mai 1957110 hatte zunächst zu einer Stärkung der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der nichtrussischen Unionsrepubliken und damit der föderativen Struktur der Sowjetunion geführt. Die entgegengesetzte Tendenz machte sich bereits seit 1960 bemerkbar. Sie führte nach dem Sturz Chruscevs zu einer Wiederherstellung des vertikalen Leitungssystems der Ministerien, wie es für die Stalin-Ära charakteristisch gewesen ist. Diese Tendenz zu einer verstärkten Zentralisierung ist seit dem von Chruscev auf dem XXI. Parteikongreß der KPdSU im Januar 1959 verkündeten Beginn des umfassenden Aufbaus des Kommunismus in der Sowjetunion mit zunehmenden Russifizierungsbestrebungen verbunden gewesen. VVS SSSR 1966, Nr. 32, Art. 693. Vgl. B. Meissner: Rußland unter Chruschtschow, München 1960, S. 18; derselbe: Wandlungen im Herrschaftssystem und Verfassungsrecht der Sowjetunion, in: E. Boettcher, H . J. Lieber, B. Meissner (Hrsg.): Bilanz der Ära Chruschtschow, Stuttgart 1966, S. 156 ff. 189 Vgl. B. Meissner: Wandlungen im Regierungs- und Verwaltungssystem der Sowjetunion, in: R. Maurach, B. MeiSsner (Hrsg.) : Sowjetstaat und Sowjetrecht nach Chruschtschow, Stuttgart 1971, S. 16 ff. 190 VVS SSSR 1957, Nr. 11, Art. 257; bestätigt durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 10. Mai 1957, VVS SSSR 1957, Nr. 11, Art. 276. 1B7

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Die ideologische Begründung für die Kursänderung in der Nationalitätenpolitik wurde in dem neuen Parteiprogramm der KPdSU191 gegeben, das vom XXII. Parteikongreß der KPdSU im Oktober 1961 angenommen wurde. In ihm wird einerseits festgestellt, daß die Nationen im Sozialismus aufblühen und ihre Souveränität festigen würden. Andererseits wird erklärt, daß die "neue Etappe" in den nationalen Beziehungen "durch die weitere Annäherung der Nationen und die Erreichung ihrer völligen Einheit" charakterisiert sein würde. Im Verlauf des "Aufbaus des Kommunismus" sollen sich "gemeinsame Züge der Kultur, der Moral und der Lebensweise" herausbilden und eine allen Sowjetnationen gemeinsame "internationale Kultur" entwickeln, die durch die russische Sprache zu einer Einheit integriert würde. Allerdings wird im Parteiprogramm betont, daß das Verschwinden der nationalen Unterschiede, besonders der Unterschiede in der Sprache ein Prozeß sei, "der wesentlich längere Zeit in Anspruch nimmt als das Verschwinden des Klassenunterschiedes". Diese Feststellung bezog sich auf die angestrebte Verschmelzung der Völker und Volksgruppen in der Sowjetunion zu einer Einheitsnation mit russischer Sprache. Vorsichtiger äußerte sich Chruscev in seinem Referat "Über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" am 18. Oktober 1961. Er sagte 192 : "In unserem Lande vollzieht sich der Prozeß der Anäherung der Nationen, verstärkt sich ihre soziale Gleichartigkeit. Im Verlauf des umfassenden Aufbaus des Kommunismus wird eine völlige Einheit der Nationen erreicht werden. Aber auch nachdem der Kommunismus im wesentlichen aufgebaut sein wird, wird es verfrüht sein, von einem Verschmelzen der Nationen zu sprechen. Bekanntlich hat Lenin darauf hingewiesen, daß die staatlichen und nationalen Unterschiede noch lange nach dem Sieg des Sozialismus in allen Ländern bestehen werden." Beim Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus wurden von

Chruscev zwei Tendenzen unterschieden.

Auf der einen Seite würde eine "stürmische und allseitige Entwicklung" der Nationalitäten stattfinden. Daraus ergebe sich die Forderung des Parteiprogrammes "die Folgen der nationalen Staatlichkeit der Sowjetvölker vollständig auszuwerten und zu vervollkommnen" und zugleich neue Maßnahmen zur "Erweiterung der Rechte der Unionsrepubliken" bei "noch engerer Verbundenheit und gegenseitiger Hilfe" zu treffen. 191 Wortlaut: Meissner, Parteiprogramm der KPdSU, a.a.O., S. 143 ff. Zu den Aufgaben der Partei auf dem Gebiet der nationalen Beziehungen vgl. ebenda, s. 222 ff. 192 N. S. Chruschtschow: Kommunismus Frieden und Glück der Völker, Berlin (Ost) 1963, S. 496.

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Auf der anderen Seite würde der Annäherungsprozeß auf der Grundlage des proletarischen Internationalismus und des Sowjetpatriotismus weiter vorangetrieben. Zur Beschleunigung dieses Prozesses würden beigetragen: die Entwicklung der russischen Sprache zur "zweiten Muttersprache", der verstärkte Austausch von nationalen Kadern und die Schaffung der im Parteiprogramm vorgesehenen "einheitlichen Wirtschaftsorgane für jeweils mehrere Republiken", mit deren Aufbau in der großen Verwaltungsreform vom November 1962 begonnen wurde. Im Ergebnis würde die beschleunigte Annäherung (sblizenie) der Nationalitäten, verbunden mit einem engeren Zusammenschluß (splocenie), die Vermischung (smesivanie) der Bevölkerung der Sowjetrepubliken fördern sowie zu einer Verwischung (stiranie) ihrer Grenzen und damit einer allmählichen Verschmelzung (slijanie) führen. Die These vom "Absterben der Grenzen" zwischen den Republiken und damit von dem schrittweisen Abbau ihrer Staatlichkeit hatte Chruscev interessanterweise in einer Rede auf der "Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz" in Leipzig am 7. März 1959 aufgestellt. Chruscev erklärte, daß mit dem Siege des Kommunismus im Weltmaßstabe auch die Staatsgrenzen absterben würden. Zeitweilig würden nur noch ethnographische Grenzen bestehen bleiben. Dieses lasse der Prozeß erkennen, der bereits in der Sowjetunion vor sich gehen würde. Ersagte193 : "Alle Völker der Unions- und der Autonomen Republiken unseres Landes sind durch die gemeinsamen Lebensinteressen zu einer einheitlichen Familie vereint und gehen einem Ziel entgegen: dem Kommunismus. Daher verliert die Frage der Grenzen zwischen den der Sowjetunion angehörenden Unions- und Autonomen Republiken allmählich ihre frühere Bedeutung. Mit dem Fortschreiten unseres Landes zum Sozialismus verwischten sich im Grunde genommen gleichsam die Grenzen zwischen den einzelnen nationalen Republiken. Dieser Prozeß verstärkte sich mit der Angleichung des Entwicklungsniveaus der nationalen Republiken." Um den Annäherungs- und Verschmelzungsprozeß voranzutreiben, wird im Parteiprogramm gefordert, "alle Erscheinungen und Überbleibsel jedes Nationalismus und Chauvinismus, die Tendenzen zur nationalen Beschränktheit und Exklusivität, zur Idealisierung der Vergangenheit und zur Vertuschung der sozialen Gegensätze in der Geschichte der Völker sowie die den kommunistischen Aufbau hindernden Sitten und Gebräuche unversöhnlich zu bekämpfen". Diese Formulierung war eher geeignet, den Russifizierungsprozeß zu fördern als ihm entgegenzuwirken. 193

Internationales Recht und Diplomatie, 4. Jg., 1959, S. 245.

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Aus der Unterscheidung zwischen einer Entwicklungs- und einer Assimilationspolitik ergab sich der zwiespältige Charakter des Nationalitätenprogramms Chruscevs und zugleich sein ambivalentes Verhältnis zum Sowjetföderalismus. Die von ihm betriebene Entstalinisierung kam daher den nichtrussischen Völkern und Volksgruppen nur in begrenztem Maße zugute. VII. Die Stellung der Sowjetführung unter Brernev und der "demokratischen Opposition" zum Sowjetföderalismus Die Nachfolger Chruscevs ließen nach seinem im Oktober 1964 erfolgten Sturz zunächst eine stärkere Zurückhaltung in der Nationalitätenfrage erkennen194• Die von ihm geschaffenen zentralasiatischen und transkaukasischen Büros des Zentralkomitees der KPdSU, die den Annäherungsprozeß beschleunigen sollten, wurden aufgelöst.

Breznev sprach auf dem XXIII. Parteikongreß der KPdSU im März/ April 1966 nur von einer "Annäherung" der Völker der Sowjetunion und vom Erstarken ihrer Einheit und Geschlossenheit195 • Er betonte gleichzeitig den unitarischen Aufbau der Partei. Die Entschließung des XXIII. Parteitages zum ZK-Bericht enthielt ein Bekenntnis zur "Leninschen Nationalitätenpolitik", verbunden mit der Forderung nach einer Erziehung aller Sowjetmenschen "im Geiste des Sowjetpatriotismus" und einer Bekämpfung jeglicher Erscheinungen von Nationalismus und Chauvinismus196• In einer Festrede in Kiew am 23. Dezember 1967 anläßlich des fünfzigsten Jahrestages der Ukrainischen SSR197 betonte Breznev, daß die Annäherung der Nationen ein vielschichtiger historischer Prozeß sei. Daher sei weder eine gedankenlose Überhastung (toroplivost) noch eine künstliche Behinderung (sderzivanie) noch Untätigkeit (samotek) amPlatze. Seit dem XX. Parteitag der KPdSU gab es eine rege Diskussion über den Sowjetföderalismus, an der sich hauptsächlich Historiker und Juristen beteiligten. Es ging dabei anfangs um die bereits behandelte Stellung Lenins zum Föderalismus und die Rolle Lenins und Stalins bei der Entstehung des sowjetischen Bundesstaates. Ferner wurde das 194 Vgl. V. St. Vardys: Altes und Neues in der sowjetischen Nationalitätenpolitik seit Chruschtschows Sturz, Osteuropa, 18. Jg., 1968, S. 81 ff. 195 Vgl. XXIII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Moskau 1966, S. 163 ff. 196 Ebenda, S. 340 f. m Wortlaut: Pravda vom 27. 12. 1967.

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Verhältnis zwischen dem Bund und den Gliedrepubliken im sowjetischen Staats- und Verfassungsrecht näher untersucht198• 1os I. Camerjan: Sovetskoe mnogonacional'noe gosudarstvo, ego osobennosti i puti razvitija (Der multinationale Sowjetstaat, seine Besonderheiten und Entwicklungsphasen), Moskau 1958; derselbe: Razvitie nacional'noj gosudarstvennosti narodov SSSR (Die Entwicklung der nationalen Staatlichkeit der Völker der UdSSR), Voprosy filosofli, 1956, Nr. 3; Ost-Probleme, 8. Jg., 1956, s. 1123 ff.; M. G. Kiricenko: Vyssie organy gosudarstvennoj vlasti sojuznych respublik (Die obersten Staatsorgane in den Unionsrepubliken), Moskau 1958; I. D. Levin: Sovetskaja federacija - gosudarstvennopravovaja forma razresenija nacional'nogo voprosa v SSSR (Die Sowjetföderation - die staatsrechtliche Form der Lösung der nationalen Frage in der UdSSR), in: Voprosy Sovetskogo gosudarstva i prava (Fragen des Sowjetstaates und -Rechts) 1917 bis 1957, Moskau 1957, S. 213 ff.; L. I. Mandelstam, V. A. Kirin: Vopros rassirenija prav sojuznych respublik (Die Frage der Erweiterung der Rechte der Unionsrepubliken), SGP, 1958, Nr. 3, S. 32 ff.; Ja. E. Cadaev: Rassirenie prav sojuznych respublik tvorceskoe razvitie leninskich principov demokraticeskogo centralizma (Die Erweiterung der Rechte der Unionsrepubliken - eine schöpferische Entwicklung der Leninschen Grundsätze des demokratischen Zentralismus), SGP, 1960, Nr. 11, S. 14 ff.; Ju. G. Sudnicyn: Nacional'nyj suverenitet v SSSR (Die nationale Souveränität in der UdSSR), Moskau 1958. Aus dem Schrifttum nach dem XXII. Parteitag zur Frage des Verhältnisses von Bund und Gliedrepubliken vgl. I. S. Muksinov: Sovet ministrov sojuznoj respubliki (Der Ministerrat der Unionsrepubliken), Moskau 1969; M. A. Safir: Kompetencija SSSR i sojuznoj respubliki (Die Kompetenz der UdSSR und der Unionsrepublik), Moskau 1968; R. A. Tuzmuchamedov: Nacional'nyj suverenitet (Die nationale Souveränität), Moskau 1963; M. S. Dzunusov: 0 sovetskoj avtonomii i perezitkach nacionalizma (Über die Sowjetautonomie und die Überreste des Nationalismus), Istorija SSSR, 1963, Nr. 1, S. 30; B . L. Manelis: Saatnasenie konstitucionnogo zakonodatel'stva Sojuza SSR i sojuznych respublik (Die Wechselbeziehung zwischen der Verfassungsgesetzgebung der UdSSR und der Unionsrepubliken), Obscestvennye nauki v Uzbekistane (Gesellschaftswissenschaften in Usbekistan), 1965, Nr. 1; derselbe: Edinstvo suvereniteta Sojuza SSR i suvereniteta sojuznych respublik v period razvernutogo stroitel'stva kommunizma (Die Einheit der Souveränität der UdSSR und der Unionsrepubliken), SGP, 1964, Nr. 7, S. 17 ff.; M. 0 . Mnacakanjan: Dejatel'nost KPSS po rassireniju prav sojuznych respublik (Die Tätigkeit der KPdSU bei der Erweiterung der Rechte der Unionsrepubliken), Voprosy istorii KPSS, 1963, Nr. 10, S. 3 ff.; S. Radzabov, S Urazaev: Obscee i Osobennoe v nacional'no- gosudarstvennom stroitel'stve (Das Allgemeine und das Besondere in dem nationalstaatliehen Aufbau), SGP, 1966, Nr. 2, S. 21 ff.; M. A. Safir: Federativnye nacala v strukture organov Sojuza SSR (Die föderativen Grundlagen in der Struktur der Organe der UdSSR), SGP, 1968, Nr. 11, S. 36 ff.; V. S. Sevzov: Suverenitet v Sovetskom sojuznom gosudarstve (Die Souveränität im sowjetischen Bundesstaat), SGP, 1972, Nr. 6, S. 49 ff.; I. 0. Bi§er: Ministerstva sojuznych respublik: nazrevsie problemy (Die Ministerien der Unionsrepubliken: Akute Probleme), SGP, 1972, Nr. 5, S. 28 ff.; M. A . Safir: Kompetencija Sojuza SSR i sojuznych respublik v Sovetskom gosudarstve (Die Kompetenz der UdSSR und der Unionsrepubliken im Sowjetstaat), SGP, 1972, Nr. 10, S. 9 ff.; A. I. Lepdkin: Osnovnye principy socialisticeskoj avtonomii i ich osuscestvlenie v SSSR (Die Grundprinzipien der soziasiltischen Autonomie und ihre Verwirklichung in der UdSSR), SGP, 1972, Nr. 11, S. 18 ff.; A. E. Lunev: Federativnoe nacalo v sovetskom gosudarstvennom upravlenii (Die föderative Grundlage in der sowjetischen Staatsverwaltung), SGP, 1972, Nr. 11, S. 26 ff.; A. A. Agzamchodzaev: Socialisticeskij federalizm i princip ravnopravija narodov (Der sozialistische Föderalismus und das Prinzip der Gleichberechtigung der Völker), SGP, 1972, Nr. 12, S. 52 ff.

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Nach dem XXI. Parteitag der KPdSU rückte die "neue Etappe" in den nationalen Beziehungen in den Vordergrund der Diskussion199 . Dabei traten drei Richtungen in Erscheinung, die sich in ihrer Einstellung zum Föderalismus deutlich voneinander unterschieden200. Die erste Gruppe vertrat die Auffassung, daß die "neue Etappe" sowohl durch das "Aufblühen" als auch durch die "Annäherung" der Nationalitäten bestimmt sei. Dagegen könne von einer "Verwischung" der nationalen Unterschiede und damit dem Beginn einer "Verschmelzung" keine Rede sein201. 199 I. P. Camerjan: Novyj etap v razvitii nacional'nych otnosenii v SSSR (Die neue Etappe in der Entwicklung der nationalen Beziehung in der UdSSR), Moskau 1962; S. N. Stepin: Nacional'nyj vopros v programme KPSS (Die nationale Frage im Programm der KPdSU), Minsk 1963; M. D. Kammari: K. polnomu edinstvu (Zur vollen Einheit), Moskau 1962; V. I. Kozlov: Vsemernoe ukreplenie Sojuza SSR i soversenstvovanie nacional'noj gosudarstvennosti narodov SSSR v svete istoriceskich resenii XXII s-ezda KPSS (Die allgemeine Festigung der UdSSR und die Verbesserung der nationalen Staatlichkeit der Völker der UdSSR), SGP, 1963, Nr. 4, S. 40 ff.; A. I. Lepe§kin: Nekotorye voprosy leninskoj teorii sovetskogo federalizma v svete novoj programmy KPSS (Einige Fragen der Leninschen Theorie des Sowjetföderalismus im Lichte des neuen Programms der KPdSU), SGP, 1963, Nr. 4, S. 60 ff.; P. G. Semenov: Programma KPSS o razvitii sovetskich nacional'nogosudarstvennych otnosenii (Das Programm der KPdSU über die Entwicklung von national-staatlichen Beziehungen), SGP, 1961, Nr. 12, S. 15 ff.; E. V. Tadevosjan: Dal'neisee sblizenie socialisticeskich nacii v SSSR, Voprosy filosofii, 1963, Nr. 6, S. 3 ff.; M . F. Valeev: Bratskoe sotrudnicestvo i sblizenie narodov SSSR v bor'be za pobedu kommunizma (Die brüderliche Zusammenarbeit und die Annäherung der Völker der UdSSR im Kampf für den Sieg des Kommunismus), in: Iz opyta partijnych organizacej po vypolneniju recenija XX. i XXI. s-ezdov KPSS (Auf der Erfahrung der Parteiorganisation bei der Erfüllung der Beschlüsse des XX. und XXI. Parteikongresses der KPdSU), Moskau 1961. Zur Frage des Annäherungsprozesses nach dem Sturz Chruscevs vgl. F. G. Allachjarov: Sblizenie kul'tur sovetskich socialisticeskich nacii v period stroitel' stva kommunizma (Die Annäherung der Kulturen der sowjetischen sozialistischen Nationen in der Periode des Aufbaus des Kommunismus), Baku 1966; A. M. Egiazarjan: Ob osnovnych tendencijach razvitija socialisticeskich nacii SSSR (Von den Grundtendenzen der Entwicklung der sozialistischen Nationen der UdSSR), Erevan 1965; A. M. Grindin, S. G. Markin: 0 nekotorych osobennostjach novogo etapa v razvitii druzby narodov SSSR (Über einige Besonderheiten der neuen Etappe in der Entwicklung der Freundschaft der Völker der UdSSR), Voprosy istorii KPSS, 1965, Nr. 2, S . 14 ff.; P. G. Semenov: Suverenitet sovetskich nacii (Die Souveränität der sowjetischen Nationen), Voprosy istorii- zitiert V I, 1965, Nr. 12, S. 22 ff.; E. A . Bagramov: Leninizm i nekotorye aspekty nacional'nogo voprosa v sovremennuju epochu (Der Leninismus und einige Aspekte der nationalen Frage in der gegenwärtigen Epoche), VP, 1970, Nr. 3, S . 17 ff.; derselbe: Die Annäherung der Nationen - eine Gesetzmäßigkeit des kommunistischen Aufbaus, Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1972, Nr. 10, S. 1029 ff.; E. V. Tadevosjan: Sovetskaja nacional'naja gosudarstvennost' (Die sowjetische nationale Staatlichkeit), Moskau 1972. 200 Vgl. Hodnett, a.a.O., S. 468. 201 Vgl. I. P. Camerjan: Razvitie nacional'nych otnosenii v period razvertnutogo stroitel'stva kommunizma (Die Entwicklung der nationalen Beziehungen in der Periode des umfassenden Aufbaus des Kommunismus), Voprosy

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Die zweite Gruppe glaubte eine teilweise "Verwischung" der nationalen Unterschiede, aber noch keine Anfangsphase der "Verschmelzung" feststellen zu können202 • Die dritte Gruppe erblickte dagegen in der "neuen Etappe" nicht nur einen fortgeschrittenen Grad der "Annäherung", sondern auch der beginnenden "Verschmelzung" 203. Während die Vertreter der beiden ersten Gruppen einen Ausbau der föderativen Struktur der Sowjetunion und eine Erweiterung der Rechte ihrer Gliedrepubliken befürworteten, waren die Vertreter der dritten Gruppe der Ansicht, daß sich der Föderalismus überholt habe und daß die national-territoriale Struktur der Gliedstaaten noch vor dem Gesamtstaat absterben würde. Vor dem XXIII. Parteitag wandte sich die Diskussion dem Begriff der Nation zu. Sie fand vor allem in der historischen Zeitschrift "Voprosy istorii" statt, in der vom Januar 1966 bis zum November 1968 25 größere Aufsätze und zwei Berichte über weitere der Redaktion vorliegende Beiträge erschienen sind2o4. Den Ausgangspunkte bildete ein Aufsatz von Rogacev und Sverdlin "Über den Begriff der ,Nation"' im Januar-Heft 1966, der auf einer vorbereitenden Redaktionssitzung im Mai 1965 zuerst erörtert worden ist2o5. Die Diskussion, an der neben Historikern auch Juristen, Philosophen, Soziologen und Ethnographen teilnahmen206, war darauf gerichtet, die Begriffsbestimmung Stalins aus dem Jahre 1913 durch eine moderne Definition der Nation zu ersetzen. In ihrem Rahmen fand die Auseinfilosofti, 1959, Nr. 7, S. 40; derselbe: Sovetskoe mnogonacional'noe gosudarstvo, a.a.O., S. 262; B. G. Gafurov: Nekotorye voprosy nacional'noj politiki KPSS (Einige Fragen der nationalen Politik der KPdSU), Moskau 1959, S. 78. Nach dem XXII. Parteitag modifizierte Camerjan seinen Standpunkt im Sinne der zweiten Gruppe. Vgl. I. P. Camerjan: Zakonomemosti vozniknovenija i razvitija sovetskogo mnogonacional'nogo gosudarstva (Die Gesetzmäßigkeiten der Entstehung und Entwicklung des multinationalen Sowjetstaates), Voprosy,ftlosofti, Nr. 11, 1962, S. 46 f.; derselbe: Novyj etap v razvitii nacional'nych otnosenii v SSSR, a.a.O., S. 65. 202 Vgl. Tadevosjan: Dal'nejsee sblizenie socialisticeskich nacij v SSSR, a.a.O., S. 12. 203 Vgl. Semenov: Programma KPSS o razvitii sovetskich nacional'no gosudarstvennych otnosenij, a.a.O., S. 25; Vataev, a.a.O., S. 54 ff. 204 Vgl. E. Obertänder: Der sowjetische Nationsbegriff. Zur gegenwärtigen Diskussion, Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" vom 20. 3. 1968, S. 3 ff.; derselbe: Der sowjetische Nationsbegriff heute, Osteuropa, 21. Jg., 1971, S. 273 ff.; G. Hodnett: What's is a Nation, Problems of Communism, Sept./Okt. 1967, s. 2 ff. 205 D. M. Rogacev, M. A. Sverdlin: 0 ponjatii "nacija" (Über den Begriff "Nation"), VII, 1966, Nr.1, S. 33 ff.; deutsche Vbersetzung, Ost-Probleme, 19. Jg.; 1967, S. 45 ff. Vgl. hierzu ferner die Schrift von D . M. Rogacev, M. A. Sv erdtin: Nacii- narod- celovecestvo (Nationen - Volk - Menschheit), Moskau 1969.

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andersetzung zwischen den Anhängern der Entwicklungs- und Assimilationspolitik ihre Fortsetzung. Das Verhältnis von Nation und Staat, das für den Sowjetföderalismus von besonderer Bedeutung ist, war in der Diskussion besonders umstritten. Die meisten großrussischen Diskussionsteilnehmer vertraten im Einklang mit Stalin die Auffasung, daß der Staat kein Merkmal der Nation sei. Die nichtrussischen Wissenschaftler legten dagegen besonderen Wert auf die Feststellung, daß der Staat als Merkmal jeder Nation anzusehen sei. Sie wehrten sich damit gegen die These, die vom Staatsrechtier P. G. Semenov, einem Vertreter der Assimilationspolitik vertreten wurde, daß die Staatlichkeit der Gliedrepubliken im Zuge des Annäherungs- und Verschmelzungsprozesses vor den Nationen absterben würde207 • Die sowjetische Intervention in der Tschechoslowakei am 21./22. August 1968 führte zum Abbruch der Diskussion über den Nationalbegriff. Die Rückkehr zu einer orthodoxen Linie kam in einem redaktionellen Schlußartikel im August-Heft 1970 der "Voprosy istorii", in dem die Ergebnisse der Diskussion zusammengefaßt wurden, zum Ausdruck208 • Unter Berufung auf die maßgebliche Mehrheit wurde die 206 Unter den Beiträgen sind besonders hervorzuheben: N. P. Anancenko: Ot nacii k internacional'noj obscnosti ljudej (Von der Nation zur internationalen Menschengemeinschaft), V I, 1967, Nr. 3, S. 82 ff.; T . Ju. Burmistrova: Nekotorye voprosy teorii nacii (Einige Fragen der Nationstheorie), V I, 1966, Nr. 12, S . 101 ff.; dieselbe: Teorija socialisticeskoj nacii (Theorie der sozialistischen Nation), Leningrad 1970; I. P . Camerjan (siehe Anmerkung 201); M . S. Dzunusov: Nacija kak social'no-etniceskaja obscnost' ljudej (Die Nation als sozialethnische Gemeinschaft der Menschen), V I, 1966, Nr. 4, S. 20 ff.; deutsche Übersetzung, Ost-Probleme, 19. Jg., 1967, S. 53 ff.; A. I. Gorjaceva: Javljaetsja li psichiceskij sklad priznakom nacij? (Ist die psychische Eigenart ein Merkmal der Nation), V I, 1967, Nr. 8, S. 91 ff.; S. T. Kaltachcjan: K voprosu o ponjatii "nacija" (Zum Problem des Begriffs "Nation"), V I, 1966, Nr. 6, S. 24 ff.; deutsche Übersetzung, Ost-Probleme, 19. Jg., 1967, S. 51 ff.; derselbe: Leninizm o suscnosti nacii i puti obrazovanija internacional'noj obscnosti ljudej (Der Leninismus über das Wesen der Nation und die Wege zur Bildung einer internationalen Menschengemeinschaft), Moskau 1969; V. I. Kozlov: Nekotorye problemy teorii nacii (Einige Probleme der Nationstheorie), V I, 1967, Nr. 1, S. 88 ff.; derselbe: Tipy etniceskich processov i osobennosti ich istoriceskogo razvitija (Die Typen des ethnischen Prozesses und die Besonderheiten ihrer historischen Entwicklung), V I, 1968, Nr. 9, S. 95 ff.; M. 0. Mnacakanjan: Nacija i nacional'naja gosudarstvennost' (Nation und nationale Staatlichkeit), V I, 1966, Nr. 9, S. 27 ff.; deutsche Übersetzung, Ost-Probleme, 19. Jg., 1967, S. 60 ff.; Ju. I . Semenov : K opredeleniju ponjatija "nacija" (Zur Begriffsbestimmung der "Nation"), Narody Azii i Afriki (Die Völker Asiens und Afrikas), 1967, Nr. 4, S. 86 ff.; N. A. Tavakaljan: Nekotorye voprosy ponjatija "nacija" (Einige Fragen des Begriffes "Nation"), V I, 1967, Nr. 2, S. 115 ff. 207 Vgl. D. G. Semenov: Nacija i nacional'naja gosudarstvennost' v SSSR, V I, 1966, Nr. 7, S. 72 ff. Die gleiche Auffassung findet sich bei S. T. Kaltachcjan. Zur gegenteiligen Position vgl. M. 0. Mnacakanjan: Nacija i nacional'naja gosudarstvennost', V I, 1966, Nr. 9, S. 27 ff. 208 K itogam diskussii po nekotorym problemam teorii nacii (Zu den Ergebnissen der Diskussion über einige Probleme der Nationstheorie), V I, 1970, Nr. 8, S . 86 ff.

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Definition der Nation durch Stalin vom marxistisch-leninistischen Standpunkt als zutreffend bezeichnet und von der Übernahme der vonRogacev und Sverdlin vorgeschlagenen Begriffsbestimmung abgesehen. Die Diskussion über den Nationsbegriff ist damit nicht im Sande verlaufen. Sie hat wesentlich die These vom Sowjetvolk als einer im Verhältnis zu den einzelnen Nationen der Sowjetrepublik qualitativ höheren Erscheinung der Menschengemeinschaft beeinflußt, die von Breznev in seinem Referat auf dem XXIV. Parteikongreß der KPdSU im März/ April 1971 209 vertreten wurde und die auch in die Parteitagsentschließung zum ZK-Bericht vom 5. April 197!210 und in den ZK-Beschluß vom 22. Februar 1972 "über die Vorbereitung zum 50. Jahrestag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" 211 aufgenommen worden ist.

Breznev sagte212 : "In den Jahren des sozialistischen Aufbaus ist in unserem Lande eine neue historische Gemeinschaft der Menschen - das Sowjetvolk entstanden. Bei gemeinsamer Arbeit, im Kampf für den Sozialismus und in den Kämpfen für seinen Schutz wurden neue, harmonische Beziehungen zwischen den Klassen und sozialen Schichten den Nationen und Nationalitäten geboren." Die Ausführungen des Parteichefs lassen erkennen, daß unter dem Sowjetvolk mehr zu verstehen ist als nur das Staatsvolk der UdSSR, das sich aus verschiedenen Nationen, Völkerschaften und Volksgruppen zusammensetzt. Gemeint ist das bisher erreichte Ergebnis des Assimilationsprozesses, auch wenn es Breznev ebenso wie auf dem XXIII. Parteitag vermied, von der "Verschmelzung" als dem Ziel der angestrebten "allmählichen Annäherung" zu sprechen. Auch in der Parteitagsentschließung zum ZK-Bericht ist bei der Behandlung der nationalen Beziehungen nur von der dialektischen Verbindung des "Aufblühens" und der "Annäherung" die Rede, wobei die Notwendigkeit einer "Festigung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" und eine Berücksichtigung der" Gesamtinteressen des Sowjetstaates" besonders betont wird. Es ist anzunehmen, daß diese Linie auch in der seit langem geplanten neuen Bundesverfassung der UdSSR ihren Ausdruck finden wird. Nach dem XXIV. Parteitag haben sich die sowjetischen Wissenschaftler, die sich bisher schon mit der Nationstheorie und dem Sowjetfödera209 Wortlaut: XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Moskau 1971, S. 3 ff.; Zur Nationalitätenpolitik, ebenda, S. 142 ff. 210 Wortlaut: ebenda, S. 203 ff. 211 Wortlaut: Pravda vom 22. 2.1972. 212 XXIV. Parteitag der KPdSU, a.a.O., S. 143; vgl. hierzu auch die Rede Breznevs am 21. Dezember 1972 anläßlich der 50-Jahr-Feier der Gründung der Sowjetunion, Pravda vom 22. 12. 1972.

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lismus befaßt haben, der These vom Sowjetvolk als einer neuen historischen Menschengemeinschaft angenommen und sie näher begründet213 • Nach Kulicenko, einem Befürworter der Assimilationspolitik, würde das Sowjetvolk eine neue Menschengemeinschaft multinationalen Typs darstellen, in der dem sozialen Faktor eine noch größere Rolle als in den einzelnen sozialistischen Nationen zufalle. Das Sowjetvolk weise einen dauerhaften Charakter auf, da es einen in der Geschichte einmaligen Konsolidierungsgrad erreicht habe. Seine weitere Entwicklung würde durch die Festigung der bestehenden und die Herausbildung neuer gemeinsamer Wesenszüge der zu ihm gehörenden nationalen Teileinheiten bestimmt werden. Die Beispiele, die von Kulicenko für diese gemeinsamen Wesenszüge gebracht werden214, lassen erkennen, daß die Umwandlung des multinationalen Sowjetvolkes zu einer sowjetischen Einheitsnation das Ziel ist, das mit Hilfe des Annäherungsprozesses auf der Grundlage des "sozialistischen Internationalismus", der in nächster Zeit noch nicht auf die vollständige Verschmelzung gerichtet ist, erreicht werden soll. Aus den Ausführungen Kulicenkos ist zu ersehen, daß es sich bei der These vom Sowjetvolk als einerneuen politisch-soziologischen Einheit um die ideologische Begründung einer vorsichtiger konzipierten Assimilationspolitik handelt, die auf eine allmähliche Russifizierung m Vgl. I. P. Camerjan: Voploscenie leninskich idej internationalizma v sovetskom mnogonacional'nom gosudarstve (Die Verkörperung der Leninschen Idee des Internationalismus im multinationalen Sowjetstaat), V I, 1971, Nr. 5, S. 47 ff.; M. 1. Kulicenko: Razvitie nacii i nacional'nych otnosenij v SSSR na sovremennom etape (Die Entwicklung der Nationen und der nationalen Beziehungen in der UdSSR auf der gegenwärtigen Etappe), V I, 1971, Nr. 9, S. 3 ff.; D. A. Kerimov: Rol' KPSS v obrazovanii i razvitii Sojuza SSR (Die Rolle der KPdSU bei der Entstehung und Entwicklung der UdSSR), SGP, 1972, Nr. 8, S. 3 ff.; P. N. Fedoseev (Hrsg): Leninizm i nacional'nyj vopros v sovremennych uslovijach (Der Leninismus und die nationale Frage unter den gegenwärtigen Bedingungen), Moskau 1972; V. 2 . Kelle: Proletarskij internationalizm i faktory internacionalizacii obscestvennoj zisni (Der proletarische Internationalismus und die Faktoren der Internationalisierung des gesellschaftlichen Lebens), V F, 1972, Nr. 12, S. 26 ff.; M. P. Kim, V. D. Serstobitov: Sovetskij narod-novaja istoriceskaja obscnost' ljudej (Das Sowjetvolk- eine neue historische Menschengemeinschaft), V I, 1972, S. 3 ff.; Rol' SSSR v formirovanii novoj istoriceskoj obscnosti ljudej (Die Rolle der UdSSR bei der Formung der neuen historischen Menschengemeinschaft), SGP, 1972, Nr. 12, S. 20 ff.; L. M. Slavin: Internacionalizacija obscestvennoj zisni pri socializmi zakonomernosti razvitija sovetskogo naroda (Die Internationalisierung des gesellschaftlichen Lebens unter dem Sozialismus als gesetzmäßige Entwicklung des Sowjetvolkes), V F, 1972, Nr. 9, S. 3 ff.; N.I. Tarasenko: Razvitoe socialisticeskoe obScestvo v edinyj sovetskij narod (Die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in ein einheitliches Sowjetvolk), V F, 1972, Nr. 10, S. 27 ff.; A. P. Vader: Razvitie socialisticeskoj nacii kak casti edinogo sovetskogo naroda (Die Entwicklung der sozialistischen Nation als Teil des Sowjetvolkes), V F, 1972, Nr. 12, S. 14 ff. Vgl. ferner die Sondernummern "50 let SSSR" (50 Jahre UdSSR), Kommunist, 1972, Nr. 18 ; Partijnaja zisn', 1972, Nr. 24. 214 Vgl. Kulicenko, a.a.O., S. 15. 5 SchroederfMeissner

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der nichtrussischen Völker gerichtet ist. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß von Breznev der "sozialistische Internationalismus" nach innen im Sinne der führenden Rolle des Großrussenturns ausgelegt wird. Von ihm ist sowohl in seinem Referat auf dem XXIV. Parteitag, als auch in seiner späteren Wahlrede die Priorität des "großen russischen Volkes" als der staatstragenden Nation besonders unterstrichen worden215. Auch im ZK-Beschluß vom 22. Februar 1972 wird die RSFSR einfach als Modell für die UdSSR hingestellt. Verschiedene Ereignisse in den letzten Jahren lassen erkennen, daß sich der Widerstand der nichtrussischen Nationalitäten gegen die unitarischen Bestrebungen Moskaus und die damit verbundene Russifizierungspolitik verstärkt hat216• Es zeigt sich, daß wir es in der Sowjetunion nicht nur mit Emanzipationsbestrebungen einzelner sozialer Schichten und Gruppen, sondern auch von Völkern zu tun haben, welche die hegemonische Stellung des Großrussenturns im Rahmen des Einparteisystems als Fremdherrschaft empfinden. Sie wenden sich gegen die jeder Hegemonie innewohnende unitarische Tendenz und streben einen wirklichen Föderalismus an, der von einer freiwilligen Vereinigung und der Gleichberechtigung der einzelnen Bundesmitglieder ausgeht. Bemerkenswert ist, daß diese Auffassung auch von Großrussen, die sich als Teil der in Opposition zum Regime stehenden "demokratischen Bewegung" ansehen, geteilt wird. Vor allem hat die ungerechte Behandlung der Krim-Tataren und der meschetischen Volksgruppe bei der "demokratischen Opposition" viel Anteilnahme ausgelöst217 • Der Fall der Krim-Tataren wird im ersten Memorandum des sowjetischen Kernphysikers Professor Sacharov vom Juni 1968218 ausdrücklich erwähnt. Im gemeinsamen Brief, den Sacharov zusammen mit zwei Kollegen am 19. März 1970 an die Führungsspitze im Kreml gerichtet hat219, wird die volle Wiederherstellung der Rechte der unter Stalin deportierten Nationalitäten und ihrer nationalen Autonomie sowie die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre angestammten Wohnsitze gefordert. Diese Forderung ist in seinem Memorandum an Breznev vom 5. März 1971 220 wiederm Vgl. V. S. Vardys: Nationalitätenpolitik: Zurück zu Chruschtschow?, Osteuropa, 21. Jg., 1971, S. 623 ff. 21& Vgl. B. Lewytzkyj: Politische Opposition in der Sowjetunion 1960 - 1972, München 1972, S. 95 ff.; R. Rockingham-Gill: Minderheitenprobleme in der Sowjetunion, Europa-Archiv, 27. Jg., 1972, S. 318 ff. 217 Vgl. A. v. Tarnow: Demokratie in der Illegalität, Stuttgart 1971, S. 92 ff.; Lewytzky, a.a.O., S. 103 ff. 21s A. D. Sacharov: Razmyslenija o progresse, mirnom sosuscestvovanii i intellektual'noj svobode (Gedanken über den Fortschritt, die friedliche Koexistenz und die geistige Freiheit), Frankfurt a. M. 1968; deutsche übersetzung: Die Zeit vom 9. 8. 1968. 219 Neue Zürcher Zeitung vom 22. und 24. 4. 1970. 220 Die Zeit vom 21. 7. 1972.

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holt worden. Im Brief vom 19. März 1970 ist unter anderem angeregt worden, auf die Eintragung der Volkszugehörigkeit in Pässen und amtlichen Formularen zu verzichten, um Diskriminierungen vorzubeugen. Es fragt sich allerdings, ob durch einen solchen Verzicht Wesentliches zum Schutz der einzelnen Nationalitäten, von denen die Juden in den letzten Jahren besonderen Verfolgungen ausgesetzt gewesen sind221, gewonnen würde. Im Memorandum vom 5. März 1971 befürwortete Sacharov eine wirksame Garantie des Sezessionsrechts der Unionsrepubliken und eine gesetzliche Regelung des Sezessionsverfahrens, die es den Nationen, die dieses Recht in Anspruch nehmen wollen, ermöglichen würde, auf der Grundlage einer freien Willensentscheidung aus dem sowjetischen Bundesstaat auszuscheiden, zugleich aber dem "sozialistischen Lager" weiter anzugehören. Die weitere Entwicklung des sowjetischen Bundesstaates wird wesentlich davon abhängen, ob es den Reformkräften in der Sowjetunion, die in Sacharov ihren bekanntesten Sprecher gefunden haben, gelingen wird, größeren politischen Einfluß zu gewinnen, der ihnen ermöglichen würde, sich die berechtigten Forderungen der nichtrussischen Völker unter Absage an jede Russifizierungspolitik zu eigen zu machen und den Sowjetföderalismus unter Rückgriff auf die Selbstbestimmungskonzeption Lenins und durch Einführung rechtsstaatlicher Grundsätze mit neuem Leben zu erfüllen. Der Föderalismus geht von einer freiwilligen Vereinigung und der Gleichberechtigung der einzelnen Bundesmitglieder aus222 • Insofern steht er im Gegensatz zu hierarchischen Organisationsprinzipien und unitarischen Tendenzen, die mit einer absoluten Herrschaft verbunden sind. Auf der anderen Seite wird eine föderative Ordnung niemals ganz auf das hegemonische Element verzichten können, das ein Gegengewicht gegenüber den partikularischen und separatistischen Kräften darstellt. Dem Föderalismus liegt aber in erster Linie das Gleichgewichtsprinzip zugrunde, das auch in der Vorstellung von der "friedlichen Koexistenz" zum Ausdruck kommt. Daher setzt er einen erheblichen Grad von Entscheidungsdezentralisation voraus223• Die unter StaUn entwickelte Staatstheorie will aber für die föderale Ordnung der Sowjetunion nur

z. Gitelman: The Jews, Problems of Communism, Sept./Okt. 1967, M. Friedberg: The Plight of Soviet Jews, November/December 1970, S. 17 ff.; R. Medvedev: Jews in the USSR, Survey, Spring 1971, S. 185 ff.; R. \f. Schloss: Laß mein Volk ziehen, München 1971 und die Beiträge in der Zeitschrift: Soviet Jewish Affairs. 222 Vgl. B. Dennewitz: Der Föderalismus. Sein Wesen und seine Geschichte, Harnburg 1947, S. 48. 223 Vgl. K. v. Beyme: Der Föderalismus in der Sowjetunion, Heidelberg 1964, S.123. 221

Vgl.

s. 92 ff.;



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das Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" in einer hegemonial-imperialen Auslegung und nicht im Sinne des von Lenin vertretenen Prinzips des "friedlichen Zusammenlebens" gelten lassen. Eine Rückbesinnung auf die internationalistische Grundeinstellung Lenins könnte in Verbindung mit der Abkehr vom Totalitarismus eine Änderung in dieser ideologischen Einstellung herbeiführen und damit dem Sowjetföderalismus neuen Auftrieb geben. Die verfassungspolitische Bedeutung des föderativen Aufbaus des Sowjetstaates ist darin zu sehen, daß es sich um den ersten Versuch handelt, eine Vielzahl von Nationen, Völkerschaften und Volksgruppen zu einem Bundesstaat auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips zusammenzufassen224. Infolge der unitarischen Struktur der KPdSU und der absoluten Parteidiktatur war nur eine Föderation von nationalen Gebietseinheiten mit äußerst beschränkter Autonomie das Ergebnis. In einer rechtsstaatlichen Gestalt könnte die Sowjetföderation für die nichtrussischen und insbesondere nichtslawischen Völker annehmbarer werden, als dies heute der Fall ist.

224 Insoweit kann das sowjetische Modell für den künftigen föderativen Zusammenschluß des westlichen Europa von Interesse sein.

Zur staatsrechtlichen Stellung der nationalen Gebietseinheiten der Sowjetunion* Von Jürgen Arnold I.

Auf dem Territorium der UdSSR bestehen 53 nationale Gebietseinheiten, und zwar 15 Unionsrepubliken (SSR) 1, 20 Autonome Republiken (ASSR), 8 Autonome Gebiete und 10 Nationale Kreise. Von den Autonomen Republiken liegen sechzehn auf dem Territorium der RSFSR2 , zwei auf dem der Georgischen SSRS und je eine auf dem Territorium der Aserbaidshanischen4 und der Usbekischen5 SSR. Von den Autonomen Gebieten gehören fünf zur RSFSR6 und je eines zur Georgischen7 , Aserbaidshanischen8 und Tadshikischen9 SSR. Die Nationalen Kreise10 bilden ausschließlich Teile der RSFSR. li.

Eine umfassende Analyse der staatsrechtlichen Stellung der nationalen Gebietseinheiten kann sich nicht in einer Prüfung der formellen

* Die Untersuchung ist in erweiterter Form Teil einer Monographie, die 1973 unter dem Titel "Die nationalen Gebietseinheiten der Sowjetunion" als Band XXVII der Abhandlungsreihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien beim Verlag Wissenschaft und Politik/Köln erschienen ist. - Abkürzungsverzeichnis s. am Ende dieses Beitrags. 1 Die RSFSR, die Ukrainische, Weißrussische, Litauische, Lettische, Estnische, Moldauische, Georgische, Armenische, Aserbaidshanische, Kasachische, Usbekische, Tadshikische, Turkmenische und Kirgisische SSR. 2 Die Baschkirische, Burjätische, Daghestanische, Kabardino-Balkarische, Kalmückische, Karelische, Komi-, Mari-, Mordwinische, Nord-Ossetische, Tatarische, Tuwinische, Udmurtische, Tschetscheno-Inguschische, Tschuwaschische und Jakutische ASSR. 3 Die Abcbasische und Adsharische ASSR. 4 Die Nachitschewanische ASSR. 5 Die Kara-Kalpakische ASSR. 6 Das Adygejische, Berg-Altaiische, Jüdische, Karatschajewo-Tscherkessische und Chakassische Autonome Gebiet. 7 Das Süd-Ossetische Autonome Gebiet. 8 Das Berg-Karabachische Autonome Gebiet. 9 Das Berg-Badachanische Autonome Gebiet. 10 Der Aginsker-Burjätische, Komi-Permjazker , Korjakische, Nenezker, Taimyrer, U stj -Ordynisch-Burj ätische, Chanty-Mansische, Tschukotische, Ewenkische, Jamalo-Nenezker Nationale Kreis.

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Rechtsverfassung erschöpfen, sondern hat auch die materielle Rechtsverfassung und die politische Gesamtverfassung einzubeziehen. Der hier vorgegebene Rahmen zwingt allerdings dazu, die Analyse im wesentlichen auf die formelle Rechtsverfassung und ihre Praxis und auch insoweit auf die Betrachtung nur einiger zentraler Komplexe zu beschränken. In diesem Sinne sollen die nationalen Gebietseinheiten auf ihre Entstehung, Staatlichkeit, Souveränität und Autonomie untersucht werden: A. Die formelle Rechtsverfassung

a) Die Unionsrepubliken 1. Die Entstehungstatbestände der Unionsrepubliken sind unterschiedlicher Natur. Während die übrigen Unionsrepubliken schon vor ihrem Eintritt in den sowjetischen Staatsverband bestanden, wurden die mittelasiatischen Unionsrepubliken und die Moldauische SSR erst durch Akte der Zentralgewalt als Staaten konstituiert.

Die mittelasiatischen Unionsrepubliken sind - teils unmittelbare, teils mittelbare- Produkte der 1924 auf den Territorien der Turkestanischen ASSR und der Sozialistischen Sowjetrepubliken Buchara und Choresm durchgeführten sogenannten "nationalen Abgrenzung": Auf Grund des Beschlusses des Zentralexekutivkomitees der UdSSR vom 27. Oktober 1924 "Über die Abgrenzung der Sowjetrepubliken in Mittelasien und über den Eintritt der UsbekischenSozialistischenSowjetrepublik und der Turkmenischen Sozialistischen Sowjetrepublik in die UdSSR" 11 wurden die Usbekische SSR mit der Tadshikischen ASSR und die Turkmenische SSR errichtet12• Gleichzeitig wurden die kirgisischen (kasachischen) Siedlungsgebiete der ehemaligen Turkestanischen ASSR der Kirgisischen ASSR übertragen. Schließlich wurde auf dem Boden der früheren Turkestanischen ASSR das Kara-Kirgisische Autonome Gebiet geschaffen und der RSFSR einverleibt13 • SZ SSSR, 1924, Nr. 19, Art. 187. Das Zentralexekutivkomitee der UdSSR beauftragte in seinem Beschluß vom 27. Oktober 1924 sein Präsidium, die Konstituierung der neuen Republiken ,.durchzuführen". Als deren Sowjetkongresse am 17. und 20. Februar 1925 Gründungsdeklarationen erließen (ISK, S. 493 ff., 495 ff.), war die Konstituierung durch die Unionsgewalt längst abgeschlossen. 13 Die durch den Beschluß des Zentralexekutivkomitees der UdSSR vom 27. Oktober 1924 angeordnete "nationale Abgrenzung" war durch Akte derbetroffenen Republiken vorbereitet worden, und zwar durch 1. den Beschluß des Zentralexekutivkomitees der Turkestanischen ASSR vom September 1924 ,. Ober die Abgrenzung" (ISK, S. 482 f.); 2. den Beschluß des V. Allbucharischen Sowjet-Kurultai vom 20. September 1924 ,.Über den national-staatlichen Zusammenschluß der Völker Mittelasiens" (ISK, S. 485 ff.); 11

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1925 wurden die Kirgisische ASSR in Kasachische ASSR14 und das Kara-Kirgisische Autonorne Gebiet in Kirgisisches Autonomes Gebiet16 urnbenannt. 1926 stieg das Kirgisische Autonorne Gebiet zur Kirgisischen ASSR auf18• Durch Beschluß des Zentralexekutivkomitees der UdSSR vorn 5. Dezember 192917 wurde die Tadshikische ASSR, durch die neue Unionsverfassung vorn 5. Dezember 1936 wurden die Kasachische und Kirgisische ASSR zu Unionsrepubliken umgewandelt. Auch die Moldauische SSR verdankt ihre Existenz einem Kreationsakt der Zentralgewalt. Sie wurde durch Gesetz des Obersten Sowjets der UdSSR vorn 2. August 194018 errichtet, das die Vereinigung der auf ukrainischem Territorium bestehenden Moldauischen ASSR mit dem größten Teil des annektierten rumänischen Bessarabiens zur Meldauischen SSR anordnete. 2. Aus der Tatsache der Errichtung der mittelasiatischen Unionsrepubliken und der Moldauischen SSR durch Akte der Zentralgewalt folgt die Nichtstaatlichkeit dieser Unionsrepubliken im Zeitpunkt ihrer Entstehung, da die Existenz eines Staates rechtlich nur auf seinem eigenen Willen beruhen kann18• Die betreffenden Unionsrepubliken haben sich jedoch später Verfassungen gegeben, die - wie auch die Verfassungen der anderen Unionsrepubliken - nach den Kriterien der formellen Rechtsverfassung ausschließlich auf eigenem Willen beruhten, da sie zu ihrer Wirksamkeit nicht der Bestätigung der Union bedurften (Art. 60 Ziff. 1 V-UdSSR). Die Verfassungen waren Ausdruck eigener Verfassungsautonomie der Unionsrepubliken, die durch die Bestimmung der Unionsverfassung, daß die Republikverfassungen sich in voller 3. den Beschluß des V. Allchoresmischen Sowjet-Kurultai vom 30. September 1924 "über die national-staatliche Abgrenzung" (SS, Bd. VII, S. 35 f.) und 4. den Beschluß des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 14. Oktober 1924 "über die Reorganisation der Autonomen Turkestanischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu einzelnen autonomen Einheiten" (SU RSFSR, 1924, Nr. 87, Art. 874). Die betroffenen Republiken räumten durch diese Akte ihren usbekischen, turkmenischen, tadshikischen, kirgisischen (kasachischen) und kara-kirgisischen Gebietsteilen das Recht des Übertritts in die neuen Gebietseinheiten ein. Für die Turkestanische ASSR und die Sozialistischen Sowjetrepubliken Buchara und Choresm bedeutete das die Auflösung. 14 Durch Beschluß des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 15. Juni 1925 (SU RSFSR, 1925, Nr. 43, Art. 321). 15 Durch Beschluß des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 25. Mai 1925 (SU RSFSR, 1925, Nr. 36, Art. 259). 18 Durch Beschluß des Präsidiums des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 1. Februar 1926 (SU RSFSR, 1926, Nr. 90, Art. 656). 17 SZ SSSR, 1929, Nr. 75, Art. 717. 18 VVS SSSR, 1940, Nr. 28. 19 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck, Bad Hornburg vor der Höhe 1960, S. 274 ff.

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Übereinstimmung mit ihr zu halten hatten (Art. 16), zwar eingeschränkt, nicht aber aufgehoben war. Insofern haben die durch Akte der Zentralgewalt errichteten Unionsrepubliken durch Betätigung ihrer Verfassungsautonomie in gleichem Maße Staatsqualität erlangen können, wie die ursprünglich entstandenen Unionsrepubliken sie angesichts ihrer Verfassungen und der Unionsverfassung haben behalten können. Es kommt folglich für die Beurteilung der Staatlichkeit der Unionsrepubliken oh~e Rücksicht auf die Tatbestände ihrer Entstehung allein auf die Inhalte der Verfassungen an, und zwar einmal darauf, ob die Republikverfassungen die Staatlichkeit der Unionsrepubliken hinreichend dartun, und zum anderen darauf, ob eine positive Aussage der Republikverfassungen mit der Unionsverfassung im Einklang steht. Nach Art. 1 sämtlicher Republikverfassungen sind die Unionsrepubliken "Staaten". Da auch nach sowjetischer Lehre Staatsvoraussetzungen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt sind20 , müssen sich in den Verfassungen, um die in ihnen getroffene Feststellung der Staatlichkeit zu verifizieren, gewisse Mindestbestimmungen finden, die das Vorhandensein der Staatsvoraussetzungen schlüssig erscheinen lassen. Diese Mindestbestimmungen sind in der Tat gegeben. So handeln in der Verfassung der RSFSR - die für alle Republikverfassungen stehen mag Art. 16 von der Territorialhoheit, Art. 18 und 19 Ziff. 25 von der Staatsangehörigkeit und Art. 13, 19, 22 und 41 von der Staatsgewalt der Unionsrepublik, wobei Art. 13, der den Kompetenzbereich der Republikstaatsgewalt abgrenzt, in Anlehnung an Art. 15 der Unionsverfassung eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Unionsrepublik begründet, soweit nicht Art. 14 der Unionsverfassung eine Zuständigkeit der Union vorsieht21 • Die Staatlichkeit der stantiiert normiert. Sie klang. Diese bezeichnet bliken" als solche und

RSFSR ist demnach in ihrer Verfassung substeht auch mit der Unionsverfassung im Einnicht nur in ihrem Art. 13 die Unions-"Repudamit als Staaten, sie enthält auch ihrerseits

20 Der durch die traditionelle westliche sowohl in der Allgemeinen Staatslehre als auch im Völkerrecht herrschende- Drei-Elementen-Lehre bestimmte allgemeine völkerrechtliche Staatsbegriff widerspricht dem klassengebundenen marxistischen Staatsbegriff. Gleichwohl bedient sich die sowjetische Theorie bei der Feststellung der faktischen Mindestvoraussetzungen für die Existenz eines Staates der Drei-Elementen-Lehre, und zwar entweder- so vor allem die ältere Literatur - als einer "handlichen Arbeitshypothese" (V. N. Durdenevskij, Na putjach k russkomu federal'nomu pravu, in: SPr, 1923, Nr. 1, S. 20) oder- so dieneuere Literatur- als Folge einer "insgesamt festzustellenden Rückkehr zu den konservativen Vorstellungen des klassischen Völkerrechts" (H. H. Mahnke, Entstehung und Untergang von Staaten, Staatensukzession, in: Völkerrecht in Ost und West, S. 104 f., hrsg. von R . Maurach und B. Meissner, Stuttgart- Berlin- Köln- Mainz 1967). 21 Art. 19 der Verfassung der RSFSR füllt allerdings mit einem Katalog von Restzuständigkeiten diese Zuständigkeitsvermutung aus.

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die für die Schlüssigkeit dieser Feststellung erforderlichen Minimalbestimmungen. So handeln Art. 18 von der Territorialhoheit, Art. 21 von der Staatsangehörigkeit und die Art. 15, 57 und 79 von der Staatsgewalt der Unionsrepubliken. Die Staatlichkeit der RSFSR - und mit ihr die der übrigen Unionsrepubliken- ist damit in der formellen Rechtsverfassung nachgewiesen. Die Staatlichkeit der Unionsrepubliken ist allerdings nur im Sinne eines rechtlich gewährleisteten Minimums eigener Machtausübung zu verstehen. Zu der - hier nicht zu behandelnden - Beschränkung eigener Machtausübung, die aus der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung folgt, tritt die gravierende Beschränkung eigener Staatstätigkeit, die sich aus der Unterstellung der Staatsapparate unter den Staatsapparat der Union ergibt. Diese Unterstellung ist weitgehend: Die Staatsorgane der Unionsrepubliken sind mit Ausnahme der Obersten Sowjets und ihrer Präsidien, der reinen Republikministerien, der rein republikanischen Staatskomitees, Komitees und Sonderbehörden bei den Ministerräten und der rein republikanischen Staatlichen Inspektionen bei den Ministerien Staatsorganen der Union unterstellt, und zwar grundsätzlich in ihrem gesamten- zumeist von mehreren Rechtsfunktionen bestimmten- Wirkungskreis. Das gilt namentlich für den wichtigen Bereich der sogenannten Unions- und Republikministerien, die das Gros der Ministerien der Unionsrepubliken ausmachen: Die Anordnungen und Instruktionen der Minister unterliegen zum einen einem auf Recht- und Zweckmäßigkeitskontrolle gestützten Suspendierungsrecht des Unionsministerrates 22 , zum anderen unterstehen die Ministerien unmittelbar den gleichnamigen Republikministerien der Union (Art. 87 V-UdSSR und z. B. Art. 52 V-RSFSR) 23 • Sie sind gleichsam deren Durchführungsbehörden (Art. 76 V-UdSSR) 24 • Das bedeutet, daß deren Minister ihnen gegenüber sowohl ein Weisungsrecht (Art. 73 V-UdSSR) als auch ein Suspendierungsrecht25 haben. 3. Nach Art. 15 der Unionsverfassung und Art. 13 aller Republikverfassungen sind die Unionsrepubliken "souverän". Allerdings soll ihre Souveränität nur insoweit bestehen, als sie nicht durch die in Art. 14 Das folgt aus einer Rechtsanalogie zu Art. 69 und 87 V-UdSSR. Daneben sind die Ministerien den Ministerräten der Unionsrepubliken unterstellt. 24 Art. 54 V-UdSSR 1923/24 sprach das noch deutlicher aus. Er bestimmte, daß die Vereinigten Volkskommissariate - die Vorläufer der Unions- und Republikministerien - der Unionsrepubliken ,.Organe" der gleichnamigen Volkskommissariate der Union auf dem Gebiet der Unionsrepubliken seien. 25 Ein solches Recht ergibt bereits die Auslegung des Art. 87 V-UdSSR. Darüber hinaus ist es in den "Ordnungen" der einzelnen Unions- und Republikministerien der Union noch einmal ausdrücklich festgelegt. 22

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der Unionsverfassung getroffene Kompetenzverteilung eingeschränkt ist. Diese Regelung entspricht derjenigen in Art. 3 der Unionsverfassung von 1923/24. Bei jener wiederum hatte offensichtlich die schweizerische Bundesverfassung von 1874 Pate gestanden2', in deren Art. 1, 3 und 5 die Kantone ausdrücklich als (beschränkt) souverän bezeichnet werden27. Da in diesen Normen die Lehre Tocquevilles2 8 und Waitz'29 von der geteilten Souveränität im Bundesstaat ihren Niederschlag gefunden hat3°, verwundert es nicht, daß lange Zeit auch die sowjetische Literatur in ziemlicher Nähe dieser Lehre argumentierte, indem sie die "beschränkte" Souveränität der Unionsrepbuliken entweder als "ruhende" bzw. "potentielle" konstruierte, d. h. als eine Souveränität, die während der Zugehörigkeit der Unionsrepubliken zur Union ruhe, jedoch in der Form des Austritts jederzeit wieder aufleben könne31, oder aber als Restsouveränität der im übrigen bei Eintritt in die Union dem Gesamtstaat übertragenen Souveränität auffaßte32• Ganz anders urteilt die moderne sowjetische Literatur, die jede Souveränitätsaufteilung zwischen Union und Unionsrepubliken scharf ablehnt und eine präsente, uneingeschränkte und unbeschränkbare Souveränität der Unionsrepubliken vertritt, die sich mit einer uneingeschränkten, unbeschränkbaren und unabgeleiteten Souveränität der Union zu einem organischen Ganzen verbindet33 • Die Formulierung des Art. 15 der Unionsverfassung von der "beschränkten" Souveränität der Unionsrepubliken wird als 28 Hierauf haben schon M. Eljaschoff (Die Grundzüge der Sowjetverfassung, Heidelberg 1925, S. 34) und R. Maurach (Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S.103) hingewiesen. 27 Ähnlich nennt die mexikanische Verfassung von 1917 in Art. 40 die Gliedstaaten hinsichtlich der Materien ihrer inneren Regierung "frei und souveran". Das novellierte Österreichische Bundesverfassungsgesetz von 1920 spricht in Art. 2 von den "selbständigen" Ländern. 28 Alexis de Tocqueville, Werke und Briefe, hrsg. von I. P. Mayer, Bd. I, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil, Stuttgart 1959, S. 126 ff. 29 G. Waitz, Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen, Kiel1862, s. 43 f., 153 ff. 3° F. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, S. 53; Z. Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949, Neudruck Zürich 1965, S.42. 31 D. A. Magerovskij, Sojuz Sovetskich Socialisticeskich Respublik, Obzor i materialy, Moskau 1923, S. 34. 32 I. N. Ananov, Sistema organov gosudarstvennogo upravlenija v sovetskoj socialisticeskoj federacii, Moskau 1951, S. 114 f.; im Ergebnis auch I. D. Levin, Suverenitet, Moskau 1948, S. 324 f., 330. 33 A . I. Lepe8kin, in: A. I. Lepe§kin, A . J. Kim, N . G. Mi§in, P. I. Romanov, Kurs sovetskogo gosudarstvennogo prava, Bd. li, Moskau 1962, S. 80 ff.; P. E. Nedbajlo, V. A. Vasilenko, MeZdunarodnaja pravosub-ektnost' sovetskich sojuznych respublik, in: SEMP, 1963, S. 98 f.; D. L. Zlatopol'skij, SSSR federativnoe gosudarstvo, Moskau 1967, S. 256 f.

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Verwechslung gewertet. Gemeint sei nicht eine Beschränkung der Souveränität, sondern der Kompetenz der Unionsrepubliken34. Die Gründe für die von der sowjetischen Literatur vollzogene "berichtigende" Auslegung des Art. 15 der Unionsverfassung liegen vor allem im Bereich der internationalen Beziehungen. Es sind im wesentlichen zwei: Nach sowjetischer Auffassung basiert der Souveränitätsbegriff auf dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung35• Sind die Unionsrepubliken uneingeschränkt (staatlich) souverän, so können sie der Völkergemeinschaft als im vollen Genusse des Selbstbestimmungsrechts präsentiert werden. Wären sie hingegen nicht uneingeschränkt (staatlich) souverän, so bliebe ihnen im übrigen nur die "nationale" Souveränität, d. h. nur ein Anspruch auf Anerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung, um dessen volle Realisierung in Gestalt uneingeschränkt selbständiger nationaler Staatlichkeit sie sich noch zu bemühen hätten38• Der zweite Grund für die Zuerkennung voller (staatlicher) Souveränität an die Unionsrepubliken ist, daß nach sowjetischer Völkerrechtslehre die Souveränität eine unabdingbare Eigenschaft des Staates als Völkerrechtssubjekt ist37• Die sowjetische Lehre verficht diesen dem klassischen Völkerrecht entlehnten Standpunkt38 trotz seiner zunehmenden Relativierung aus politischen Motiven. Da sie die Unionsrepubliken als Völkerrechtssubjekte ausgibt, muß sie, um nicht das Opfer der eigenen Theorie zu werden, auch die volle Souveränität der Unionsrepubliken vertreten. Die Frage nach der - beschränkten oder unbeschränkten - Souveränität der Unionsrepubliken entscheidet sich amInhalt des Souveränitätsbegriffs und den für seine Gewährleistung in den Verfassungen gegebenen Garantien. 3 ' P. G. Semenov, Programma KPSS o razvitii sovetskich nacional'no-gosudarstvennych otnosenij, in: SGiP, 1961, Nr. 12, S. 24 f.; A. I. Lepe8kin, a.a.O., S. 80 f.; P. E. Nedbajlo, V. A. Vasilenko, a.a.O., S. 97 f.; D. L. Zlatopol'skij, a.a.O., S. 257. 35 I. D. Levin, a.a.O., S. 256 ff., 321; G. P. Kaljushnaja, in: Völkerrecht (Gesamtredaktion: D. B. Lewin, G. P. Kaljushnaja), aus dem Russischen, Berlin

1967, s. 114. 38 I. D. Levin, a.a.O., S. 322; G. P. Kaljushnaja, a.a.O., S. 114. 37 L. A. Modzorjan, Sub-ekty mezdunarodnogo prava, Moskau 1958, S. 7; M. V. Janovskij, Sovietskie sojuznye respubliki - polnopravnye sub-ekty meZdunarodnogo prava, in: SGiP, 1962, Nr. 12, S. 63; P. E. Nedbajlo, V. A. Vasilenko, a.a.O., S. 85. 38 W. Schätzel, Die Annexion im Völkerrecht, Berlin 1920, S. 181; International Law, a Treatise by L. Oppenheim, Bd. I (Peace), 8. Aufl., §§ 63, 65, hrsg. von H. Lauterpacht, London- New York- Toronto 1955.

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Nach überkommenem westeuropäischem, maßgeblich vonJellinek39 und Laband40 geprägtem Souveränitätsbegriff ist die Souveränität die Eigenschaft einer Staatsgewalt, kraft deren sie die "ausschließliche Fähigkeit rechtlicher Selbstbestimmung und Selbstbindung" hat. Aus dieser Definition folgt die Unteilbarkeit der Souveränität, da ein ausschließlichesRecht nicht geteilt werden kann. Demgemäß verwarfen bereits Jellinek41 und Laband42 jede "gedoppelte, geteilte, gebrochene, modifizierte oder fragmentarische" Souveränität als logisch unmöglich und erteilten damit der Tocqueville-Waitzschen Lehre eine Absage. Eine "beschränkte" Souveränität der Unionsrepubliken scheidet somit schon begrifflich aus. Sofern Art. 15 der Unionsverfassung von einer solchen spricht, handelt es sich- wie bei Art. 1, 3 und 5 der schweizerischen Bundesverfassungum eine Aussage, die lediglich "den Wert eines vom Verfassungsgesetzgeber gefällten logischen Urteils besitzt, somit unverbindlichen Verfassungsinhalt darstellt" 43. Scheitert die Annahme einer "beschränkten" Souveränität der Unionsrepubliken an ihrer logischen Widersprüchlichkeit, so die Annahme einer unbeschränkten an der - jedenfalls nach formeller Rechtsverfassung gegebenen - bundesstaatliehen Struktur der UdSSR. Da im Bundesstaat einerseits der Gesamtstaat immer souverän ist, andererseits in ihm als einer durch Verfassung begründeten Staatenverbindung mehrere gleichgeordnete ausschließlich durch eigenen Willen verpflichtbare Staatsgewalten logisch nicht möglich erscheinen, sind die Gliedstaaten stets notwendig nichtsouverän44 • Souveräne (Mit-)Gliedstaaten finden sich nur im völkerrechtlich organisierten Staatenbund. Die sowjetische Lehre selbst läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß die UdSSR eine staatsrechtliche Staatenverbindung ist45 • Schließlich scheidet nach westeuropäischem Souveränitätsbegriff auch eine von Union und Unionsrepubliken gemeinsam ausgeübte Souveränität aus. Es hat zwar in der älteren deutschen Staatsrechtslehre Stimmen gegeben46, die, von einem organischen Zusammenwirken der Bundes39 G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 34; derselbe, Allgemeine Staatslehre, a.a.O. S. 481 f., 495. •o P. La band, Deutsches Reichsstaatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1909, S. 17. 41 G. JeUinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, a.a.O., S. 35. 42 N. 40. 43 F. Fleiner, a.a.O., S. 54; Z. Giacometti, a.a.O., S. 42 f. 44 Bemerkenswerterweise hat der jugoslawische Verfassungsgesetzgeber die in Art. 9 der Verfassung von 1946 ausgesprochene (beschränkte) Souveränität der Gliedrepubliken in der Verfassung von 1963 fallengelassen. 45 A. I. Lepe§kin, a.a.O., S. 68. 48 A. Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrecht, Erste Studie, Die verfassungsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung, Leipzig 1873, S. 63 ff.; C. Bornhak, Grundriß des Deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., Leipzig 1912, S.150.

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und Gliedstaatsgewalten ausgehend, eine organische Gesamtsouveränität zu konstruieren versuchten, doch haben sie keinen Widerhall gefunden. Es ist heute westeuropäische herrschende Lehre, daß Sitz der Souveränität im Bundesstaat ausschließlich der Gesamtstaat ist47 • Im Vergleich zum westeuropäischen Souveränitätsbegriff ist der geltende sowjetische weiter. Der ursprüngliche, von VySinskij 48 entwickelte und bis zum Ende der Stalin-Ära herrschende Souveränitätsbegriff definierte die Souveränität noch als "Zustand der Unabhängigkeit der Staatsgewalt von jeder anderen Gewalt sowohl innerhalb als auch außerhalb der Staatsgrenzen". Die neuere sowjetische Lehre hat sich von diesem absoluten Souveränitätsbegriff entfernt49 und bestimmt im Anschluß an I. D. Levin50 die Souveränität nurmehr als "die dem Staat eigene Oberhoheit auf seinem Territorium und Unabhängigkeit in den internationalen Beziehungen" 5 \ als "Eigenschaft der Staatsgewalt, kraft deren diese die oberste, eine sowohl innerhalb des Staates als auch außerhalb seiner Grenzen unabhängige und selbständige" ist52 oder konkret bezogen auf die UdSSR - als "Eigenschaft des Sowjetstaates, selbständig und unabhängig von der Gewalt anderer Staaten, in Übereinstimmung mit dem Willen des Volkes seine Funktionen im In- und Ausland zu verrichten"sa. Einhellig wird Souveränität demnach als innere und äußere Selbständigkeit und Unabhängigkeit verstanden. Was darunter im Falle der Souveränität der Unionsrepubliken konkret zu verstehen ist, wird erst deutlich, wenn man sich die rechtlichen Garantien vor Augen hält, die nach Auffassung der sowjetischen Literatur die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Unionsrepubliken gewährleisten sollen. Als solche Garantien werden angeführt die Verfassungsautonomie der Unionsrepubliken (Art. 60 Ziff. 1 V-UdSSR und z. B. Art. 23, 19 47 Demzufolge werden die Kantone der Schweiz für bar jeder Souveränität erachtet (F. Fleiner, a.a.O., S. 52 ff.; Z. Giacometti, a.a.O., S. 42 f.). 48 A. Ja. Vysinskij, Voprosy teorii gosudarstva i prava, 2. Aufl., Moskau 1949,

s. 410.

49 Vgl. zum Gang der Diskussion B. Meissner, Sowjetunion und Völkerrecht 1917 - 1962, S. 81 ff., Dokumente zum Ostrecht, hrsg. vom Seminar für Politik,

Gesellschaft und Recht Osteuropas der Universität Kiel - Studiengruppe für Ostrecht, Hamburg, Bd. IV, Köln 1963. - Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß V. I. Lisovskij (Mezdunarodnoe pravo, Moskau 1970, S. 62) wieder den Souveränitätsbegriff Vysinskijs verwendet. 50 a.a.O., S. 64: "Souveränität ist der Zustand der Machtvollkommenheit des Staates auf seinem Territorium und seiner Unabhängigkeit von anderen Staaten." 51 Kurs mezdunarodnogo prava (v sesti tomach), Akademija Nauk SSSR, Bd. II, Moskau 1967, S. 33. 52 A. I. Lepeskin, a.a.O., S. 81. 53 D. L. Zlatopol'skij, in: Gosudarstvennoe pravo SSSR (pog redakciej S. S. Kravcuka), Moskau 1967, S. 288.

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Ziff. 1 V-RSFSR) sowie ihre verfassungsmäßigen Rechte auf Austritt (Art. 17 V-UdSSR und z. B. Art. 15 V-RSFSR), Territorialhoheit (Art. 18 V-UdSSR und z. B. Art. 16 V-RSFSR), eigenes Staatsangehörigkeitsrecht (Art. 21 V-UdSSR und z. B. Art.18 V-RSFSR), Teilnahme am internationalen Verkehr (Art. 18 a V-UdSSR und z. B. Art. 16 a V-RSFSR) und Bildung eigener Truppenformationen (Art. 18 b V- UdSSR und z. B. Art. 16 b V-RSFSR). Garantie soll vor allem auch das Schutzversprechen der Union (Art. 15 V-UdSSR) sein54• Keine dieser Garantien vermag die Souveränität der Unionsrepubliken im Sinne der sowjetischen Begriffsbestimmung schlüssig zu machen. Die Verfassungsautonomie sowie die angeführten Verfassungsrechtemit Ausnahme des Austrittsrechts - betreffen allein die Staatlichkeit und die Kompetenzen der Unionsrepubliken; sie haben mit einer Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Staatsgewalt, wie sie die sowjetische Lehre für die Souveränität fordert, nichts zu tun55• Ebensowenig begründet das Schutzversprechen der Union eine Vermutung für die Souveränität der Unionsrepubliken, ist es doch von dem Gesamtstaat abgegeben, gegenüber dessen Zentralgewalt sich eine sich zur Souveränität qualifizierende Unabhängigkeit der Gliedstaaten zunächst zu behaupten hätte. Um souverän zu sein, bedürfen Gliedstaaten des Schutzes nicht durch die, sondern vor der Staatsgewalt des Gesamtstaates. Lediglich das verfassungsmäßige Austrittsrecht könnte ein Indiz für eine als Souveränität zu verstehende Unabhängigkeit der Unionsrepubliken sein56• Es mag dahinstehen, ob dieses für eine bundesstaatliche Verfassung ungewöhnliche Recht nicht schon auf Grund rechtlicher Lahmlegung (z. B. durch Art. 64 a, 70, 72 und 74 StGB-RSFSR) rein deklaratorisch ist und deshalb als Souveränitätsbeleg ausscheiden muß57 • Entscheidend ist bereits, daß es gegenüber der Unionsgewalt nicht abgesichert ist. Während noch die Unionsverfassung von 1923/24 in ihrem Art. 6 jede Abänderung des Art. 4, der das Austrittsrecht gewährleistete, an die Zustimmung aller Unionsrepubliken knüpfte, enthält 54 Vgl. zum Katalog dieser Garantien statt vieler D. L. Zlatopol'skij, in: Gosudarstvennoe pravo SSSR, a.a.O., S. 298 ff. 55 Treffend illustrierte das M. I. Kalinin bereits 1924 vor dem Zentralexekutivkomitee der Union mit dem Ausspruch: "Dem ganzen Wortwechsel der Juristen über die Souveränität ist keine Bedeutung zuzuschreiben; bei uns ist jedes Dorf souverän- aber nur innerhalb seiner Kompetenz." (Nach B. Meissner, Die Verfassungsentwicklung Rußlands, in: Die Verfassungen der modernen Staaten, Eine Dokumentensammlung, Erster Band, S. 134, hrsg. von B. Dennewitz unter Mitarbeit von B. Meissner, Harnburg 1947). 56 I. D. Levin (a.a.O., S. 324 f.) bezeichnet das Austrittsrecht der Unionsrepubliken als das "entscheidende Merkmal" ihrer Souveränität und nennt es "die Fülle der Kompetenz in der Potenz". 57 Noch weniger bedarf es eines Eingehens auf die politische Realisierbarkeit des Austrittsrechts.

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die geltende Unionsverfassung keine derartige Bestimmung mehr. Da die Unionsverfassung jederzeit auf Grund eines in beiden Kammern des Obersten Sowjets der Union mit Zweidrittelmehrheit gefaßten Beschlusses geändert werden kann (Art. 146 V-UdSSR), ist eine Beschränkung oder Aufhebung des Austrittsrechts ganz in das Ermessen der Union gestellt58• Auf ein Recht, dessen Bestand allein von der Duldung einer anderen Gewalt abhängt, kann jedoch eine souveränitätsbegründende Unabhängigkeit nicht gestützt werden. Mit der Feststellung, daß zu den verfassungsmäßigen Rechten der Unionsrepubliken nicht eines gehört, das eine über die für die Zuerkennung der Staatlichkeit erforderliche Freiheit der Selbstorganisation hinausgehende Unabhängigkeit begründete, ist auch bei Zugrundelegung des sowjetischen Souveränitätsbegriffs eine Souveränität der Unionsrepubliken abzulehnen.

b) Die Autonomen Republiken, Autonomen Gebiete und Nationalen Kreise 1. Die Entstehungstatbestände der autonomen Gebietseinheiten sind durchweg dieselben, nämlich Errichtungsakte der Zentralgewalt, d. h. bis 1936 Dekrete, Beschlüsse und Verordnungen des Zentralexekutivkomitees, seines Präsidiums oder des Rates der Volkskommissare, nach 1936 Gesetze des Obersten Sowjets, Erlasse und Beschlüsse seines Präsidiums oder Verordnungen des Ministerrates der übergeordneten SSR59 oder der Union. Eine Ausnahme in dem Sinne, daß eine der autonomen Gebietseinheiten- wenn auch nur auf ihrer ersten Stufe ursprünglich entstand, so daß der spätere Akt der Zentralgewalt insoweit nur deklaratorischen Charakter hatte, stellt lediglich die Tuwinische ASSR dar60 : Sie entstand auf Grund Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 10. Oktober 196161 durch Erhöhung des Tuwinischen Autonomen Gebietes, das seinerseits unmittelbar aus der am 11. Oktober 1944 inkorporierten Volksrepublik Tannu-Tuwa hervorgegangen war. 2. Aus der Tatsache der Errichtung durch Akte der Zentralgewalt folgt die Nichtstaatlichkeit der autonomen Gebietseinheiten im Zeit58 P. G. Semenov (a.a.O., S .24) und D. L. Zlatopol'skij (SSSR- federativnoe gosudarstvo, a.a.O., S. 260) halten zwar das Austrittsrecht für durch die Union nicht abänderbar, doch sind sie der Meinung, daß die Unionsverfassung in diesem Sinne noch präzisiert werden müsse. 59 Unter der geltenden Unionsverfassung ergangene Errichtungsakte der Unionsrepubliken bedurften zudem der Bestätigung der Union (Art. 14 Ziff. 6 V-UdSSR). 80 Ein weiterer Fall einer selbständig entstandenen autonomen Gebietseinheit war die 1924 im Zuge der "nationalen Abgrenzung" Mittelasiens aufgelöste Turkestanische ASSR. et VVS SSSR, 1961, Nr. 42, Art. 431.

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punkt ihrer Entstehung, da die Existenz eines Staates rechtlich nur auf seinem eigenen Willen beruhen kann62 • Allerdings hätten die Autonomen Republiken - nur deren Staatlichkeit kann ernstlich weitergeprüft werden63 - Staatsqualität dadurch erlangen können, daß sie sich Verfassungen gaben. In der Tat verfügen heute alle Autonomen Republiken über Verfassungen64 • Diese Verfassungen haben jedoch erst durch Bestätigung der übergeordneten Unionsrepubliken Wirksamkeit erlangt (Art. 60 Ziff. 2 V-UdSSR und z. B. Art. 19 Ziff. 2 V-RSFSR) 65 • Sie beruhen demnach nicht ausschließlich auf eigenem Willen, sind nicht Ausdruck von Verfassungsautonomie. Sie unterscheiden sich im Wesen nicht von den "Ordnungen" der Autonomen Gebiete, die gleichfalls zu ihrer Wirksamkeit der Bestätigung der übergeordneten Unionsrepubliken bedürfen (Art. 76 V-RSFSR). Wie jene sind sie bloße die Errichtungsakte der Zentralgewalt ergänzende - organisationsrechtliche Satzungen. Insofern haben sie von vornherein keine staatskonstitutive Bedeutung. Es ist deshalb auch belanglos, daß sie Bestimmungen über Indizien der Staatlichkeit wie Territorialhoheit, Staatsangehörigkeit und Staatskompetenz enthalten (z. B. Art. 15, 17 sowie 13 und 18 V-Baschkirische ASSR). Die Ansicht, daß die Autonomen Republiken keine Staaten sind, steht im übrigen mit der Unionsverfassung und den Verfassungen der betreffenden Unionsrepubliken materiell im Einklang. Zwar gehen die Kapitel VII der Unionsverfassung und V und VI der in Frage kommenden Republikverfassungen von der Staatlichkeit der Autonomen Republiken aus, doch fehlen in den Verfassungen die eine solche Annahme rechtfertigenden Mindestbestimmungen. In deutlicher Abweichung von der das Rechtsverhältnis zwischen Union und Unionsrepubliken kennzeichnenden Regelung handeln weder die Unionsverfassung noch die einschlägigen Republikverfassungen von einer Territorialhoheit, einer Staatsangehörigkeit oder einer durch Staatskompetenz ausgefüllten Staats-

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Staatscharakter der Autonomen Gebiete und Nationalen Kreise wird nicht einmal von der sowjetischen Lehre angenommen. 64 Nachdem schon in den zwanziger Jahren einige Autonome Republiken Verfassungen erhalten hatten, ergingen zwischen 1937 und 1941 für alle damals bestehenden Autonomen Republiken die heute geltenden Verfassungen. 85 Bei der Bestätigung handelte es sich keineswegs um eine bloß rechtliche und politische Unbedenklichkeitsbescheinigung. Die Unionsrepubliken waren an die Entscheidungen der Autonomen Republiken nicht gebunden und konnten die ihnen vorgelegten Verfassungstexte ohne weiteres abändern. Sie hatten in jedem Falle "das letzte Wort" (so bereits S. A . Kotljarevskij [Provovoe polozenie avtonomnych respublik, in: SPr, 1925, Nr. 6, S. 40] hinsichtlich der schon für die Verfassungen der zwanziger Jahre vorgeschriebenen Bestätigung durch die Unionsrepubliken [z. B. Art. 16 Ziff. 2, 17 Ziff. 2 und Art. 44 V-RSFSR 1925]). 83

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gewaltder Autonomen Republiken. Die Verfassungen weisen den höchsten Organen der Autonomen Republiken lediglich die (Mit-)Ausübung gewisser Funktionen zu, ohne damit eine Kompetenzabgrenzung zwischen Unionsrepubliken und Autonomen Republiken vorzunehmen. 3. Nach Art. 13 ihrer Verfassungen üben die Autonomen Republiken außerhalb der Grenzen des Art. 14 der Unionsverfassung und der Kompetenzartikel der Verfassungen der in Betracht kommenden Unionsrepubliken (z. B. Art. 19 V-RSFSR) die Staatsgewalt "auf autonomer Grundlage" aus. Hinsichtlich der Autonomen Gebiete und Nationalen Kreise findet sich eine entsprechende Festlegung in den Sowjetverfassungen nicht, will man sie für die Autonomen Gebiete nicht allein in ihrer Benennung erblicken. Die Verfassungen der Unionsrepubliken verweisen lediglich auf die den nationalen Eigenarten der Gebietseinheiten Rechnung tragende besondere "Ordnungen" (für die Autonomen Gebiete z. B. Art. 76 V-RSFSR, für die Nationalen Kreise Art. 102 V-RSFSR), von denen - soweit ersichtlich - bis heute jedoch keine erlassen worden ist. Gleichwohl wird von der sowjetischen Lehre auch für die Autonomen Gebiete und Nationalen Kreise ein Handeln auf autonomer Grundlage in Anspruch genommen. Die Frage nach der Autonomie der den Unionsrepubliken nachgeordneten nationalen Gebietseinheiten kann nur durch Feststellung des Inhalts des Autonomiebegriffs und der für seine Gewährleistung in der formellen Rechtsverfassung gegebenen Garantien beantwortet werden. Begrifflich ist die Autonomie der nationalen Gebietseinheiten im wesentlichen durch folgende Merkmale charakterisiert: (a) Die Autonomie ist eine rein territoriale. Sie ist ausschließlich den Gebietseinheiten als solchen, nicht hingegen den ihre Benennung bestimmenden Nationalitäten zugeordnet. Das bedeutet, daß durch sie Begünstigte einerseits alle Gebietsangehörigen, andererseits nur die Gebietsangehörigen sind. Dieses auf das uneingeschränkte Territorialprinzip abstellende Autonomieverständnis wurde von Lenin und Staiin für die bolschewistische Nationalitätenpolitik im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der Losung von der national-kulturellen Autonomie und ihrer Bemühung um die inhaltliche Abgrenzung des Selbstbestimmungsrechts für verbindlich erklärt. Nach der Errichtung der Sowjetmacht wurde die Idee der Territorialautonomie erstmals in Art. 11 der Verfassung der RSFSR von 1918 gesetzlich verankert. (b) Die Autonomie ist eine vorwiegend politische. Sie beschränkt sich nicht als "Kulturautonomie" auf den Schutz nationalen Eigenlebens im Kulturbereich. 6 Schroeder/Meissner

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Die Entscheidung für die politische Autonomie fiel bei Lenin und Stalin mit ihrer Entscheidung für die Territorialautonomie. Implizierte die reine Territorialautonomie bereits die politische Autonomie - kulturelle Autonomie setzt als autonome Wahrung nationaler Kulturinteressen eine Individualisierung der nationalen Kulturgemeinschaften und insofern (zumindest auch) eine personale Bindung der Autonomie voraus -, so wurden Lenin und Stalin in ihrer Ablehnung der Kulturautonomie wiederum vor allem von den Interessen des Klassenkampfes bestimmt. Sie sahen in der Losung von der Kulturautonomie eine "verfeinerte Erscheinungsform des bürgerlichen Nationalismus", " ... die das Proletariat und die Bourgeoisie einer Nation vereinigt und die Proletarier der verschiedenen Nationen voneinander trennt" 66 • Statt zu einer nationalen - ihrer Ansicht nach notwendig bürgerlich beherrschten Kultur bekannten sie sich zu einer internationalen Kultur des Proletariats67. Die Verwerfung der personalen Kulturautonomie hieß freilich nicht, daß die künftige Autonomie rein politisch und ohne jeden Bezug zur Lebensweise und Sprache der die zu autonomisierenden Gebiete bewohnenden Bevölkerung sein sollte. Schon Art. 8 des Programms der SDAPR von 190368 hatte "das Recht der Bevölkerung, in der Muttersprache Bildung zu erwerben, ... die Gleichberechtigung der Mut-tersprache mit der Staatssprache in allen lokalen gesellschaftli