200 29 17MB
German Pages 623 [624] Year 2008
René Sternke Böttiger und der archäologische Diskurs
René Sternke
Böttiger und der archäologische Diskurs Mit einem Anhang der Schriften „Goethe's Tod" und „Nach Goethe's Tod" von Karl August Böttiger
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Porträts von Karl August Böttiger (Stahlstich C.Taeter nach einer Zeichnung von Ernst Rietschel, um 1840, Grafiksammlung Gleimhaus: Inv.-Nr. Ca 86) © Das Gleimhaus, Halberstadt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004349-4
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: deblik, Berlin Satz: Werksatz Schmidt 8c Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
XI
Einleitung
XIII
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses im Spiegel der Gelehrtenkorrespondenz zwischen Karl August Böttiger und Désiré Raoul-Rochette
1
Der Briefwechsel zwischen Böttiger und Raoul-Rochette als Gelehrtenbriefwechsel
1
Die politischen Ereignisse im Zeitraum von 1824 bis 1835 als Hintergrund des Gelehrtenbriefwechsels
5
Der Gelehrtenbriefwechsel als Dokument des Privatlebens
. . . .
7
Die zentralen Themen des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette
10
Die archäologiegeschichtliche Epoche von 1824 bis 1835
15
Wissenschaftsentwicklung als Bewegung im Raum
17
Archäologische Editionen im Zeitraum von 1824 bis 1835
25
Die Rezeption mythologischer Forschungen durch die Archäologen im Zeitraum von 1824 bis 1835
28
Philologische Neuerscheinungen
34
Probleme der archäologischen Kritik im Zeitraum von 1824 bis 1835
37
Archäologie als Kunstgeschichte in der Periode von 1824 bis 1835
41
Teildisziplinen der Archäologie
45
Die weitere Pflege der traditionellen Forschungs- und Sammelgebiete Numismatik, Glyptik, Epigraphik gegen Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts
46
Das wachsende Interesse an der Keramologie im Zusammenhang mit der Konstitution und Publikation großer Vasensammlungen. Böttiger und Raoul-Rochettes Teilhabe an diesem Prozeß . . .
54
Theoriebildung in der Keramologie
61
VI
Inhaltsverzeichnis
Plastik, Architektur und Malerei der Alten als Gegenstand archäologischer Forschung Museologie - Privatsammlungen Museologie - staatliche Sammlungen Materielle Objekte der Vergangenheit als Objekt des Diskurses Archäologie Ist der Objektbereich der Archäologie auf materielle Objekte vergangener Kulturen einschränkbar? Begrenzung des Objektbereichs und extradiskursive Bewertung der Objekte Materialwert und archäologischer Wert von Objekten Das Objekt des archäologischen Diskurses als Ehrenzeichen der politischen Macht Das archäologische Objekt als Semiophor Privilegierung bestimmter Objekte und Rarefizierung des Objekts Relative Diskursautonomie Die Faktizität des Objekts des Diskurses Die Positivität des Objekts des Diskurses Zusammenfassung 2. Die Subjektkonstitution des archäologischen Diskurses, entwickelt am Beispiel der Biographie Karl August Böttigers Philologie versus Theologie Hermeneutik versus Textkritik Sachphilologie versus Wortphilologie - Einbeziehung der Monumente Bürgerliche Geselligkeit und Archäologie Höfische Repräsentation, Klassizismus und archäologische Forschung Archäologie und Merkantilismus Der Warencharakter des Diskurses als Ermöglichungsbedingung seiner Produktion Journalismus als Distributionsform des archäologischen Diskurses
Inhaltsverzeichnis
Archäologie und Journalismus - Interferenz der Diskurse
VII
....
130
Archäologie und Klassizismus versus Journalismus
134
Die historische Altertumsforschung als Grundlage klassizistischer Kunstproduktion
137
Gelehrsamkeit/Pedanterie versus Ästhetik und höfischen Geschmack
143
Die Opposition von Antike und Moderne und die Querelle des Anciens et des Modernes
148
Skeptizismus versus Utopie
154
Empirismus versus Spekulation
158
Christliche Vergeistigung versus antike Veredlung der Menschengestalt
160
Fetischismus und plastisches Ideal versus Christentum und Allegorie
163
Naive Antike versus sentimentale Moderne
168
Der Bruch zwischen Antike und Moderne
174
Kritik der Verworfenheit antiker Sitten versus Modellhaftigkeit antiker Humanität und Lebenskunst
178
Triebbändigung als zivilisatorischer Fortschritt versus historische Relativierung moderner Sitten
184
Historisierung versus Utopie
189
Historisierung versus Emulation mit der Antike
199
Der Widerspruch von Historizität und klassizistischer Modernisierung innerhalb des archäologischen Diskurses
. . . 208
Die Dresdener Antikensammlung als Objekt des archäologischen Diskurses
225
Der Versöhnungsversuch von ästhetischer und historischer Perspektive auf die Antike
231
Die Dresdener Vorlesungen - Versuch einer Synthese von Forschung und Geselligkeit
234
Archäologischer Diskurs versus höfische Repräsentation
241
Der Skandal als Form des öffentlichen Diskurses
249
Potentieller Nachfolger Heynes, „Meister vom Stuhl in dem Orden des gelehrten Alterthums" und Dilettant
256
VIII
Inhaltsverzeichnis
3. Diskursstrategien am Beispiel der Produktion und Distribution ausgewählter archäologischer Werke von Böttiger und RaoulRochette
267
Die Rarefizierung des Objekts des archäologischen Diskurses am Beispiel von Böttigers archäologischen Fachzeitschriften „Amalthea" und „Archäologie und Kunst"
268
Die Rarefizierung des Signifikats durch Proliferation des Signifikanten am Beispiel der „Monumens inédits" von RaoulRochette
337
Die Rarefizierung des Subjekts des archäologischen Diskurses am Beispiel der „Peintures antiques inédites" von RaoulRochette
375
4. Das Goethehaus und Ludwig Hecks „Vogelscheuche" Splendeur und Misère von Karl August Böttigers Archäologie der Gegenwart
447
Karl August Böttigers archäologischer Diskurs als Gegenstand und Grundlage eines kritischen Diskurses über die Gegenwart in Ludwig Tiecks Novelle „Die Vogelscheuche"
447
Das Goethehaus als Realisierung von Karl August Böttigers Archäologie der Gegenwart
490
5. Rückblick und Ausblick Nur das Theater verändert sich. Das Stück, das vor 3000 Jahren am Ganges spielte, spielt im Jahre 1900 am Platafluß und in Columbien
515
Anhang Karl August Böttiger: Goethe's Tod
523
Karl August Böttiger: Nach Goethe's Tod
534
Verzeichnisse Institutionen, deren Manuskriptbestände benutzt worden sind . . 547 Briefverzeichnis der Korrespondenz Böttiger/Raoul-Rochette
. . 548
Primärliteratur
551
Sekundärliteratur
574
Namenverzeichnis
586
Jede alterthümliche Angabe will nicht bloß als nackendes Resultat ausgesprochen seyn. Wir wollen auch wissen und sind berechtigt nachzufragen, auf welchem historischen Wege man dazu gekommen sey. Wir müssen es vor unsern Augen entstehen sehn! Karl August Böttiger
Klaus Gerlach gewidmet
Vorwort
Hier also ist der Ort, an dem ich von mir selbst sprechen darf und soll. Und doch ist alles, was ich zu sagen habe, durch die Ordnung des Diskurses vorgeschrieben. Mitzuteilen ist, daß es sich bei vorliegender Arbeit um meine Dissertation handelt, die in einem Cotutelle-Verfahren von der Université de Rouen und der Technischen Universität Berlin betreut und am 1. September 2006 in Berlin verteidigt worden ist. Zu danken habe ich meinen Directeurs de thèse, Jean-Marie Winkler (Rouen) und Etienne François (Berlin). Danken möchte ich weiterhin Laurence Villard (Rouen) und Conrad Wiedemann (Berlin), die so freundlich waren, als Gutachter an dem Promotionsverfahren mitzuwirken. - Jean-Marie Winkler hat mich zum Verfassen einer Dissertation ermutigt. Etienne François hat mir an dem von ihm geleiteten Frankreichzentrum, das zunächst an der Technischen Universität beheimatet war und inzwischen an die Freie Universität übergesiedelt ist und zu den wichtigsten Forschungseinrichtungen in der Berliner Wissenschaftslandschaft gehört, nach meiner Rückkunft in Berlin ein intellektuelles Asyl geboten. Conrad Wiedemann stand mir jederzeit zu einem Fachgespräch zur Verfügung. Laurence Villard hat die vielen altsprachlichen Passagen in vorliegendem Buch einer kritischen Lektüre unterzogen. In einer Zeit, in welcher der Kampf um die Ermöglichung eigener und die Verhinderung fremder Forschung mit nicht geringerer Brutalität ausgetragen wird als in der in diesem Buch untersuchten Epoche, in der von Stackelberg und Kestner, um Raoul-Rochette an der Besichtigung der Hypogäen von Tarquinii zu hindern, Feldsteine vor deren Eingänge wälzen und Bauern bewaffnen ließen, ist die Bestärkung, welche meine Forschung aus verschiedenen Institutionen heraus erfahren hat und erfährt, nicht genug zu würdigen. Danken möchte ich deshalb neben den bereits genannten Wissenschaftlern Klaus Hallof (Berlin), der mir seinen Rat nie versagt, sowie Jan Philipp Reemtsma (Hamburg), der die im Akademie Verlag erscheinenden „Ausgewählten Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger" unterstützt, auf welchen die hier vorgelegte Arbeit aufbaut. Für Hilfe bei meinen Recherchen danke ich Perk Loesch, Kerstin Schellbach und Undine Kirsten von der Sächsischen Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek Dresden sowie Annie Chassagne und Fabienne Queyroux von der Bibliothèque de l'Institut de France. Konrad Steiner war mir im Frühjahr 2006 bei der technischen Vorbereitung des Manuskripts der einzureichenden Dissertation behilflich. Kirsten
XII
Vorwort
Thietz hat vor dem Druck Teile dieses Buchs auf sprachliche Korrektheit hin gelesen. Brigitte Leuschner und Sabine Steiner waren so liebenswürdig und aufopferungsbereit, das ganze Werk textkritisch durchzusehen. Der Verwertungsgesellschaft Wort, insbesondere Reiner Roos, danke ich für die Unterstützung durch den Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft bei der Finanzierung des Druckes. Dem Akademie Verlag und meinem Lektor Peter Heyl danke ich für die Aufnahme dieses Buches in das Verlagsprogramm und die sorgfältige Gestaltung, was in unserer Zeit leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Allen Genannten danke ich von ganzem Herzen. Berlin, den 24. Oktober 2007
René Sternke
Einleitung
Überblick Als ich 1998 zusammen mit Klaus Gerlach die tagebuchartigen Aufzeichnungen Karl August Böttigers nach der in der Dresdener Bibliothek überlieferten Handschrift unter dem von Karl Wilhelm Böttiger geprägten Titel „Literarische Zustände und Zeitgenossen" neu herausgab,1 war sich die interessierte Öffentlichkeit weitgehend darin einig, daß es sich um Klatsch und Tratsch über Goethe, Herder, Schiller, Wieland und andere bedeutende Personen handle, mit welchen Böttiger während seiner Weimarer Zeit, also in den Jahren von 1791 bis 1804, persönlichen Umgang gepflegt hatte. Tatsächlich notiert Böttiger sehr viel Alltägliches. Aus der anschließenden Dresdener Zeit, die bis zu Böttigers Tod 1835 anhält und in welcher Böttiger mit Friedrich Kind, Helmina von Chézy, Karl Maria von Weber, Tieck, Kleist, Schopenhauer, Grillparzer, Kaspar David Friedrich u. a. zusammengekommen war, gibt es keine vergleichbaren Aufzeichnungen. In Dresden konzentriert sich Böttiger, obgleich er bis zu seinem Tod journalistisch tätig bleibt, immer stärker auf Archäologie. Diese Uberlieferungslage spricht dafür, daß ein Böttiger, dem man nachsagt, er habe das Wichtige nicht vom Unwichtigen und das Große nicht vom Kleinen unterscheiden können, nicht allein Unterschiede gemacht hat, sondern sogar entscheidend dazu beigetragen hat, daß wir heute Klassisches und Nichtklassisches voneinander unterscheiden. Warum aber dieses Interesse am Banalen und Materiellen? Goethes Fettleibigkeit, der Strickstrumpf der Vulpius, die ungleichen Stiefel, die Wieland versehentlich angezogen hat, Herders Hämorrhoiden, ja sogar die unausgeleerten Nachttöpfe des knauserigen Philologen Ansse de Villoison. Mir drängte sich die Vermutung auf, daß das etwas mit Archäologie zu tun habe. Finden wir nicht in Böttigers Schriften zum Altertum die gleichen ebenso ordinären wie merkwürdigen Dinge? Ägyptische Filtriertöpfe, die Stelzenschuhe und Haarnadeln der alten Griechinnen, römische Küchenzettel. Sollte es sich bei den „Literarischen Zuständen und Zeitgenossen" um eine Archäologie der Gegenwart handeln? Der Überprüfung meiner Vermutung standen zwei Hindernisse entgegen. Zum einen bin ich kein Archäologe. Zum anderen vollzieht sich gerade in der Zeit um Böttigers Tod in der Archäologie ein Umbruch, der 1
Böttiger 1998.
XIV
Einleitung
dazu führt, daß Böttiger von einem der anerkanntesten Archäologen zum bloßen Dilettanten herabsinkt. Kann sich ein germanistisch-romanistisch spezialisierter Philologe anmaßen, über Archäologie zu sprechen? Ist Böttiger überhaupt ein Archäologe oder manifestiert sich auch auf diesem Gebiet seine immer wieder behauptete Minderwertigkeit? Die erste Aufgabe, die sich mir stellte, bestand darin, herauszufinden, was Archäologie ist. Dabei stand fest, daß es mir nichts nützen würde, wenn ich wüßte, was man heute unter Archäologie versteht. Es konnte also nicht darum gehen, wie Eve Gran-Aymerich „La naissance de l'archéologie moderne" 2 zu untersuchen. Unmöglich aber konnte ich mich heute auf den Standpunkt stellen, den die Archäologie in der Zeit Böttigers einnahm. Noch weniger aber war ein transhistorischer Archäologiebegriff zu verwenden, wie ihn Alain Schnapp benutzt, der die Archäologie von der Antike bis heute als identisch auffaßt.3 Folglich ging ich von einem weiten Archäologiebegriff aus, wie ihn etwa Philippe Jockey vorschlägt, der Archäologie als Discours sur les objets anciens definiert.4 Ich versuchte also zunächst zu bestimmen, welche altertümlichen Objekte zu Böttigers Lebzeiten als Objekt des Diskurses in Frage kommen. Antiker Müll beispielsweise kann in jener Epoche kein Interesse hervorrufen. Auch wenn Herculanum und Pompeji Aufmerksamkeit beanspruchen, richtet sich der Blick doch eher auf Einzelnes als auf das Ensemble der antiken Stadt. Ich hatte also bei meiner Untersuchung davon auszugehen, daß das Objekt des Diskurses nicht mit dem vorgefundenen materiellen Objekt identisch ist, sondern nur durch dasjenige konstituiert wird, was daran wahrgenommen und diskursiv verarbeitet wird. Als Materialgrundlage zur Ermittlung des Objektes des europäischen archäologischen Diskurses in der Zeit um 1830 wählte ich die nahezu vollständig überlieferte Korrespondenz, welche Böttiger mit dem französischen Archäologen Désiré Raoul-Rochette (1790-1854) in den Jahren von 1824 bis 1835 führt. Die beiden Archäologen tauschen ihre eigenen Arbeiten aus, informieren einander über laufende Forschungen anderer, über deren im Druck befindliche Werke und über Neuerscheinungen und teilen einander ihre Urteile über diese Arbeiten mit. Um einigermaßen abzusichern, daß dieser Gelehrtenbriefwechsel mit seinem mehr als 80seitigen Personen- und Werkregister tatsächlich die archäologische Forschung jenes Dezenniums widerspiegelt, habe ich die Forschungsberichte zweier namhafter Archäologen zum Vergleich herangezogen: Creuzers „Vorbemer2 3 4
Gran-Aymerich 1998. Schnapp 1993. Jockey 1999, S. 12.
Einleitung
XV
kungen über den jetzigen Standpunkt der Archäologie und der Geschichte der Kunst des Alterthums" von 1834 und Otfried Müllers „Uebersicht der griechischen Kunstgeschichte von 1829-1835" aus dem Jahre 1835. Konstatiert wird ein rasantes Anwachsen der materiellen Grundlage der Archäologie, das auf einer zunehmenden Reisetätigkeit der Archäologen beruht. Rom bleibt interessant, doch der geographische Raum, aus welchem die Objekte stammen, weitet sich aus. Beanspruchen die ägyptischen Altertümer großes Interesse, so verficht Raoul-Rochette doch die Auffassung von der Minderwertigkeit der ägyptischen Kunst, die, unfähig der Imitatio naturas, stets nur stereotype Formen ohne reelle Grundlage reproduziert habe. Die Küstenländer westlich von Ägypten werden neu entdeckt. Dann konzentriert sich das Interesse auf Etrurien, schließlich am Ende der Türkenherrschaft immer mehr auf Griechenland selbst. Der Briefwechsel berücksichtigt archäologische Editionen, nimmt mythologische Forschungen war, registriert philologische Neuerscheinungen, wobei Autoren wie Vitruv, Plinius und Philostratos besonders interessieren. Kunstgeschichtliche Arbeiten spielen eine besondere Rolle. Bezüglich der Objektklassen läßt sich feststellen, daß traditionelle Forschungsgebiete wie Numismatik, Glyptik und Epigraphik weiterhin gepflegt werden, aber auch die Keramologie, denn Vasen sind neben Münzen und Gemmen beliebte Sammelobjekte. Antike Plastik, Architektur und Malerei sind gleichfalls Gegenstände der archäologischen Forschung. Große Aufmerksamkeit schenken die beiden Korrespondenten der Museologie und somit der Konstitution privater und öffentlicher Sammlungen. Ist es seit Pomian ein Allgemeinplatz, daß die Archäologie aus der Sammlertätigkeit entstanden ist,5 so zeigt sich noch für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts, daß das nicht unbedingt wissenschaftliche Sammlerinteresse den Gegenstand des archäologischen Diskurses determiniert. Die Archäologen erarbeiten Kataloge für Museen, publizieren Privatsammlungen, führen einen harten Konkurrenzkampf um die Konservatorenstellen. Auch die Monumenteditionen bauen auf der Objektauswahl sammelnder Liebhaber auf. Die Selektion und Hierarchisierung der Objekte des archäologischen Diskurses wird also in hohem Maße extradiskursiv vorgeprägt. Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme habe ich versucht, die Bestimmung des archäologischen Diskurses als Diskurs über materielle Objekte der Vergangenheit zu reflektieren. Unklar bleibt, ob die materiellen Objekte Quelle eines Diskurses über die Vergangenheit oder der eigentliche Gegenstand des Diskurses sind. Nicht nur aus dieser Unklarheit resultiert
5
Vgl. Pomian 1987.
XVI
Einleitung
ein problematisches Verhältnis zur Philologie, denn sowohl für die Kenntnis der Vergangenheit überhaupt, als auch für die Kenntnis der unvollständig überlieferten Monumente treten die Texte, die Autoren, wie es in der Sprache der Zeit heißt, als möglicherweise leistungsfähigere Quellen neben oder vor die Monumente. Geht man von den theoretischen Äußerungen, insbesondere Böttigers, über die Natur der materiellen Objekte aus, über welche die Archäologie sprechen soll, so gehören Naturgegenstände und vaterländische Altertümer durchaus dazu. Dennoch spielen derartige Objekte in der Korrespondenz keine Rolle. Die Archäologie interessiert sich für das transportable Objekt mit ästhetischem Wert und Materialwert, sie bevorzugt das bedeutungstragende Objekt (Semiophor),6 das als Ehrenzeichen der Macht fungieren oder Gegenstand einer Exegese sein kann. Doch stimmt die archäologische Bewertung nicht vollkommen mit der Bewertung außerhalb des archäologischen Diskurses überein. Bei der Beurteilung der Verluste, die 1831 durch einen Raub im Cabinet des médailles verursacht wurden, unterscheidet Raoul-Rochette den Metallwert (valeur métallique) vom archäologischen Wert (mérite archéologique). Auch gegenüber politischer Vereinnahmung versucht der archäologische Diskurs eine gewisse Unabhängigkeit zu behaupten. Als der Prinz von Canino in dem Streit um die etruskische oder griechische Herkunft der in den etruskischen Nekropolen gefundenen Vasen aus politischen Motiven für deren etruskischen Ursprung optiert, fordert Raoul-Rochette die Autonomie des Diskurses ein, indem er auf eine sachliche öffentliche Klärung der Frage dringt. Die Archäologie, die er einer Gottheit gleichstellt, trägt für ihn, das behauptet er zumindest, ihren Wert in sich. Raoul-Rochette entwickelt in seinen Briefen ein Wahrheitsmodell, das die Archäologie vor der Unterwerfung unter extradiskursive Interessen schützen soll. Für ihn beruht die Wahrheit auf der Positivität der Fakten und dem peremptorischen Beweis. Der zweite Abschnitt der Arbeit stellt die Frage, wie sich das Subjekt des archäologischen Diskurses konstituiert. Wie wird jemand Archäologe zu einem Zeitpunkt, zu dem es noch keine Archäologie gibt? Sollte dieses Problem am Beispiel Böttigers behandelt werden, so war seine Korrespondenz mit Raoul-Rochette als Grundlage für eine solche Untersuchung ungeeignet, da Böttiger in seinem letzten Lebensjahrzehnt zwar als Associé étranger des Institut de France geehrt wird, aber auf die Zeit seiner größten Produktivität bereits zurückblickt. Vielmehr mußte Böttigers 1788 einsetzende Korrespondenz mit Christian Gottlob Heyne, der von 1729 bis 1812 lebte, zur Orientierung dienen. Da das Subjekt dem Diskurs nicht 6
Pomian 1987 und Pomian 1999.
Einleitung
XVII
vorgängig ist, kann sich der werdende Archäologe nur in anderen Diskursen artikulieren, so daß sich das Subjekt des archäologischen Diskurses als Schnittpunkt fremder Diskurse konstituiert. Der junge Böttiger erhält auf der Fürstenschule Pforta eine exzellente philologische Ausbildung und projektiert bereits als Schüler eine Terenzedition. In Leipzig studiert er Philologie und Theologie, wobei er die Philologie als die Grundlage der Theologie ansieht. Aus finanziellen Gründen scheitert Böttigers Plan, bei Heyne zu studieren. Zwischen Pfarrstelle und Lehrerberuf gestellt, entscheidet er sich, durch das „Starre und Unbefriedigende des symbolischen Kirchenglaubens" 7 abgeschreckt, für ein Rektorat in Guben. Hier nimmt Böttiger in Vorbereitung einer Martialedition, die wie die Terenzausgabe nie realisiert wird, Kontakt zu Heyne auf. Heyne lenkt ihn von den Texten zu einer hinter diesen verborgenen Wirklichkeit, von der Textkritik zur Hermeneutik, orientiert ihn von der Wortphilologie zur Sachphilologie, so daß Böttiger die Monumente in seine Untersuchungen einbezieht. In Hinblick auf Martial bedeutet das, die Augen auf die in den Satiren thematisierte Wirklichkeit zu richten. Bei der Beschäftigung mit Terenz rückt außerdem die Untersuchung antiker Aufführungspraxis ins Blickfeld. In dem von Goethe und Wieland geprägten Weimar entfaltet der altphilologisch spezialisierte Gymnasialdirektor eine vielseitige Tätigkeit, die in engem Zusammenhang mit dem Weimarer Klassizismus steht. Er erklärt die von der Herzogin Anna Amalia aus Italien mitgebrachten Vasen in der Freitagsgesellschaft, forscht im Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Römischen Hauses durch den Herzog Karl August über enkaustische Malerei, macht seine Kenntnisse der Didaskalie des antiken Theaters für Goethes Inszenierungspraxis fruchtbar, verleiht Wielands „Neuem Teutschen Merkur", den er herausgibt, eine antiquarische Tendenz, publiziert seine Forschungen zu antiken Sitten massenwirksam in „London und Paris" und im „Journal des Luxus und der Moden", den gleichfalls von ihm herausgegebenen Modezeitschriften Bertuchs, und hält als Korrespondent französischer und englischer Zeitschriften den ständigen Kontakt zwischen Weimar und den europäischen Metropolen aufrecht. Für Louis Aubin Millin, einen der Gründerväter der französischen Archäologie, ist Böttiger neben Wieland, Goethe und Herder einer der vier Philosophen Weimars, deren Gesprächen er in Paris oft in Gedanken beiwohnt. Der Journalismus stellt für Böttiger eine materielle Ermöglichungsbedingung und eine Distributionsform des archäologischen Diskurses dar. Dabei ist der Journalismus ein Diskurs, der nach eigenen Regeln funktio7
GstA PK, Loge, 5. 2. D 34, Loge „Zum goldenen Apfel", Dresden, Nr. 230.
XVIII
Einleitung
niert, die nun mit denjenigen des archäologischen Diskurses interferieren. Dazu gehören etwa die Forderungen nach Aktualisierung, Satirizität, Gefälligkeit oder leichter Rezipierbarkeit. Bei der höfischen Funktionalisierung der Archäologie wird der Widerspruch von Forschung und Unterhaltung spürbar - oder aus der anderen Perspektive: der Widerspruch von Pedanterie und Geschmack. Vor allem aber die erstrebte Synthese von Klassizismus und Altertumswissenschaft mündet in einen Konflikt, der mit Böttigers Weggang von Weimar endet. Als August Wilhelm Schlegel den „Ion" des Euripides zu einem Stück mit einer modernen Problematik verarbeitet, provoziert Böttiger absichtlich einen Skandal. Mit dem Anspruch, den antiken Autor zu übertreffen, bringt Schlegel die Fabel des Stücks mit modernen Moralvorstellungen und einer modernen Gattungskonzeption in Einklang. Böttiger kritisiert das in einer ironischen Rezension, richtet seine Kritik jedoch, um das moderne Publikum auf seine Seite zu bringen, vor allem gegen ein antikes Element, das in Schlegels Stück verblieben ist, die Darstellung von Sexualität, die er vor einem aus beiden Geschlechtern gemischten Publikum nicht für zulässig hält. Die Auseinandersetzung um den „Ion" ist die Fortsetzung einer älteren Kontroverse, die Böttiger mit Friedrich Schlegel um das Frauenbild der alten Griechen, insbesondere um die Anwesenheit der Athenerinnen im Theater, führt. Während Schlegel, ausgehend von der Gestalt der Diotima, ein positives antikes Frauenbild postuliert, das er als Utopie für die Gegenwart aufstellt, steht für Böttiger die gemischte Gesellschaft im Widerspruch zur kulturellen Blüte. Die Rückkehr von der Moderne zu einer ihr kulturell überlegenen Antike, so erklärt er im Verlaufe der noch in Dresden fortgesetzten Auseinandersetzung, sei weder möglich noch wünschbar. Aber auch innerhalb des archäologischen Diskurses selbst manifestiert sich der Widerspruch von Historizität und klassizistischer Modernisierung. In einem anonymen Zeitschriftenaufsatz, den Heyne den Brüdern Schlegel zuschreibt, werden Tischbein und sein Lobredner Böttiger aufgrund der mangelnden Treue von Tischbeins Vasenzeichnungen angegriffen. Böttiger verteidigt sich öffentlich mit großem Geschick, aber aus seinem privaten Briefwechsel mit Heyne geht hervor, daß beide Archäologen dem Anonymus in Bezug auf die Tischbein vorgeworfene Verschönerung und Vereinheitlichung der antiken Vorlagen vollkommen recht geben. Böttigers Interesse an den Dresdener Antiken läßt sich bis in die 80er Jahre zurückverfolgen. In Weimar bemüht sich Böttiger immer wieder um die Stelle des Aufsehers über die Sammlung. 1804 wird für ihn in Dresden auf Betreiben seiner Freunde die Stelle eines Studiendirektors an der Pagenakademie geschaffen. Den gewünschten Posten erhält er erst 1814.
Einleitung
XIX
Bis dahin kritisiert Böttiger immer wieder die Ergänzungen der Statuen, die jedoch erst von seinen Nachfolgern entfernt werden sollten. Böttigers Äußerungen zu den Statuen, die durch die Ergänzung verstümmelt würden, stellt einen interessanten Versöhnungsversuch von Historizität und Klassizismus dar, da Böttiger hier eine Ästhetik des Fragments entwickelt. Ab Januar 1806 hält Böttiger auf Subskriptionsbasis in seiner Wohnung im Coselschen Palais vor einem etwa 70köpfigen Publikum von Prinzessinnen, Geheimräten, Diplomaten und Künstlern Vorlesungen zur Archäologie. Dabei orientiert er sich an den Vorlesungen, die Miliin seit 1795 in Paris auf der Nationalbibliothek anbietet und die sich ebenfalls an ein gemischtes Publikum wenden. Wie Miliin liest Böttiger über die Gestaltungen des Mythos in der Kunst, anders als Miliin, der sich für die historische Bedeutung des Mythos nicht interessiert, baut Böttigers Kunstmythologie auf einer Religionsgeschichte auf. Die sich an eine politisch einflußreiche Schicht richtenden Vorlesungen verschaffen der Archäologie gesellschaftliche Akzeptanz und tragen zu ihrer Institutionalisierung bei. Auch wenn Böttiger nach Heynes Tod dessen Nachfolge in Göttingen nicht antritt, wird der Dresdenaufenthalt bei ihm doch zu einer wichtigen Station auf dem Lebensweg der Angehörigen einer neuen Archäologengeneration. Böttigers außerinstitutionelles Wirken steht einer Schulbildung entgegen. Zwar kann der einflußreiche Böttiger in Dresden durchsetzen, daß sein Schüler Sillig an die Leipziger Universität berufen wird, löst aber bei der textkritisch und metrisch orientierten Leipziger Philologie einen solchen Protest aus, daß Sillig resigniert. Im dritten Abschnitt der Arbeit beschäftige ich mich mit einigen bei der Institutionalisierung des archäologischen Diskurses wirksamen Strategien. Dieser Teil geht von den zentralen Themen des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette aus. Anhand von Böttigers Zeitschriften „Amalthea" und „Archäologie und Kunst", den ersten archäologischen Fachzeitschriften überhaupt, wird das Scheitern des Versuches betrachtet, einen machtunabhängigen archäologischen Diskurs zu institutionalisieren, der allein von der Öffentlichkeit, d.h. vom Markt, getragen wird. Die Begrenzung des Objektes zieht die Ausgrenzung von Diskursteilnehmern nach sich. Die Integration von Diskursteilnehmern hingegen setzt einzelne Regeln des Diskurses außer Kraft. Wenn das Scheitern aufgrund des Widerspruchs von Wissenschaft und Journalismus leicht einsehbar ist, dauert das Experiment doch immerhin beinahe ein Jahrzehnt, so daß die weitgehend auf Böttigers Korrespondenzen mit dessen Verlegern Göschen und Max beruhende Untersuchung im einzelnen aufschlußreich ist, da der Herausgeber und die Verleger gemeinsam Regeln entwickeln, die sie dann
XX
Einleitung
auf unterschiedliche Weise interpretieren und verletzen. Das erfolgreichere Gegenstück zu Böttigers Zeitschriften bilden die Publikationen des Instituto di corrispondenza archeologica, die nicht mehr auf dem Markt, sondern auf dem Mäzenat beruhen. Anhand der „Monumens inédits" von Raoul-Rochette untersuche ich, wie der Diskurs über redundante Strukturen institutionalisiert wird, wobei der Diskurs zugleich sein eigener Metadiskurs sein muß. Dabei gehe ich von Foucaults Annahme aus, daß sich der Diskurs nicht über Bedeutungsfülle, sondern über Bedeutungsarmut konstituiert.8 Der Rarefizierung des Signifikats entspricht eine Proliferation des Signifikanten. Noch bevor der Diskurs der „Monumens inédits" einsetzt, beginnt Raoul-Rochette einen Diskurs über diesen Diskurs, wobei er diesen Metadiskurs sogleich in eine kollektive Praxis zu verwandeln versucht. Das Netz privater Korrespondenzen, offene Briefe, Vorveröffentlichungen, Ankündigungen, mündliche und schriftliche Empfehlungen, Prospekte, Verlagsanzeigen, Zitate, Rezensionen, Metakritiken usw. verweisen auf einen Diskurs, der seinerseits nichts anderes praktiziert, als auf Monumente, auf antike und moderne Texte zu verweisen. Aber auch textimmanente Strukturen, über welche der Diskurs immer wieder auf sich selbst verweist, werden von Böttiger gefordert und zum Teil auch von Raoul-Rochette realisiert: Texte und Bilder, Inhaltsverzeichnisse, Ubersichten, Uberschriften, Zitate, Exkurse, Register der Autoren, Register der Monumente, Register der erwähnten antiken Künstler. Die hier beobachteten Strategien werden mit dem Ziel eingesetzt, den Erfolg der „Monumens inédits" zu garantieren. Vor allem aber dienen sie der Institutionalisierung des archäologischen Diskurses. Am Beispiel der „Peintures antiques inédites" von Raoul-Rochette untersuche ich den Kampf um die Subjektrolle im Diskurs über die Antike, der während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt wird. Von den vier Gruppen, die sich am Diskurs über die materiellen Hinterlassenschaften des Altertums beteiligen, den Philologen, den Archäologen, den Künstlern und den Liebhabern, beanspruchen nur die ersten drei ein Mitspracherecht, wobei die Auseinandersetzung im Kampf zwischen Archäologen und Philologen kulminiert. In Frankreich, wo die Archäologie sich weitgehend unabhängig von der Philologie entwickelt, wird den Archäologen immer wieder ihre mangelnde philologische Kompetenz vorgeworfen. In Deutschland, wo sich die Archäologie im Rahmen der Philologie herausbildet, sprechen die Philologen den Archäologen die philologische Kompetenz gern ab. Als Kampf um das Monopol im Diskurs über die Antike interpretiere ich zunächst eine Reihe von Debatten, die von der Forschung 8
Vgl. Foucault 1969, S. 155.
Einleitung
XXI
bisher zum Teil andere Wertungen erfahren haben: den Streit Heyne-Wolf, die Kontroverse Boeckh-Hermann, die schwelende Auseinandersetzung zwischen Böttiger und Hermann, die im Ringen um Silligs Leipziger Professur ausbricht, und den Angriff auf Raoul-Rochette durch einen anonymen Pamphletisten im Jahre 1828. Schließlich bündeln sich die Ereignisse im Jahre 1833, wo Otfried Müller dem führenden Philologen Hermann provokativ jegliche philologische Kompetenz abspricht, wo der Philologe Letronne den Archäologen Panofka in einer Rezension bloßstellt und wo Raoul-Rochette die Debatte über die Natur der Meisterwerke der griechischen Historienmalerei initiiert. Als Raoul-Rochette zu einer öffentlichen Diskussion aufruft, geht es ihm darum, das Recht der Künstler, über archäologische Gegenstände zu reden, einzuschränken. Böttiger hatte 1811 in seinen „Ideen zur Archäologie der Malerei" die Auffassung vertreten, daß man sich die verlorengegangene große griechische Malerei nicht in Analogie zu den Wandmalereien von Pompeji und Herculanum vorstellen dürfe, daß es sich vielmehr um Tafelmalerei gehandelt habe. Als Beweis dienen ihm das Zeugnis Plinius' und die Berichte über den an der griechischen Malerei verübten Kunstraub. Als sich Raoul-Rochette gegen Hittorff wendet, radikalisiert er Böttigers These, indem er behauptet, die große griechische Historienmalerei sei ausschließlich Tafelmalerei gewesen. Raoul-Rochette zieht das Problem mit Nachdruck in das Feld der Philologie, ohne die Gefahr zu ahnen, daß nicht allein den Künstlern, sondern auch den Archäologen und also auch ihm selbst die Kompetenz, über die Malerei der Alten zu reden, bestritten werden könnte. Der von Otfried Müller gereizte Hermann ergreift in der kleinen Schrift „De veterum Graecorum pictura parietum" Partei gegen Raoul-Rochette, stellt darin das Studium der Texte in das Zentrum der Archäologie, geht aber an der eigentlichen Fragestellung vorbei, da er den Nachweis antritt, daß die alten Griechen die Wandmalerei gekannt hätten, was Raoul-Rochette ja gar nicht geleugnet hatte. Dann aber erhebt der Philologe Letronne in der Académie des inscriptions et belles-lettres seine Stimme gegen seinen Kollegen RaoulRochette und widerspricht dessen These. Im Verlaufe der Auseinandersetzung verfaßt Raoul-Rochette die „Peintures antiques inédites". Ursprünglich hatte Raoul-Rochette gewünscht, daß Böttiger für die These von der griechischen Tafelmalerei streiten möge und er selbst als Schiedsrichter in der Auseinandersetzung auftreten könne. Da Böttiger aber immer skeptischer wird und sich nur leise und verhalten äußert, tauscht Raoul-Rochette die Besetzung der Rollen. Böttiger erhält sämtliche Druckbögen der „Peintures antiques inédites" zugeschickt, so daß das Buch tatsächlich, wie Raoul-Rochette in der Widmung behauptet, das Resultat des Briefwechsels ist.
XXII
Einleitung
So wie Raoul-Rochette in den „Peintures antiques inédites" ein essentialistisches Portrait des Künstlers zeichnet, der, vom Gefühl, von den Augen und von den Eindrücken gelenkt, also verführt und geblendet, die Grenzen der Vernunft überschreite, so entwirft er auch ein kritisches Bild des Philologen, dessen Wesen er in der Negativität sieht. Als Fremdling auf dem Gebiete der Archäologie, dessen einziges Ziel darin bestehe, im Streit seine Geschicklichkeit zu beweisen, bediene sich der Philologe des Werkzeugs der Kritik, um die Arbeit eines anderen zu zerstückeln, sie Satz für Satz aufzugreifen und vollständig zu vernichten, ohne selbst etwas eigenes zu den bekannten Elementen hinzuzufügen. Der Ermittlung der Fakten, den vorbereitenden Fachstudien, der Phantasie und den Forschungen des Archäologen setze der Philologe Bequemlichkeit, Willkür, Kritik und Destruktion entgegen. Der Archäologe sammle, produziere, zeige, arbeite, betrete Neuland, während der Philologe nur hinterherlaufe. Ausgehend von Letronnes „Lettres d'un antiquaire" zeigt Raoul-Rochette den Philologen als eine blendende, d. h. eine glänzende, trügende und gefährliche Erscheinung: lebhaft und leuchtend in der Diskussion, feinsinnig in den Aperçus, scharfsinnig in den Deduktionen, glücklich im Ausnutzen vorteilhafter Umstände, ebenso fertig im Gebrauch willkommener Argumente wie bei der Entfernung störender, geschickt im Ausdehnen oder Zusammenziehen von Wortbedeutungen, im Verallgemeinern aus einer einzigen Tatsache nicht weniger geübt als im Ersetzen fehlender Zeugnisse durch Mutmaßungen und Konjekturen, arm an Fakten und reich an Überlegungen, kritisch, pikant, zerstörerisch und doch am Ende ohnmächtig. Aber auch auf die Texte, die grundlegende Quelle der Philologie, wirft Raoul-Rochette ein kritisches Licht: Sie seien unzureichend überliefert und mehrdeutig, enthielten nur sparsame Angaben, indirekte Anspielungen, mißverständliche oder widersprüchliche Informationen. Genau die Eigenschaften der Texte, die Letronne ins Feld geführt hatte, um die dilettantische philologische Argumentation des Archäologen Panofka zu ridikülisieren und die Archäologen zu einer fortdauernden Unterwerfung unter die Philologen zu zwingen, zählt Raoul-Rochette nun auf, um die Grundlage der Philologie ihrer Beweiskraft und die Philologen ihrer Autorität zu berauben. Trotz ausgesprochen schlechter Uberlieferungslage baut Raoul-Rochette in den „Peintures antiques inédites" neben der philologischen Argumentation eine archäologische Beweisführung auf, die sich ganz auf Monumente stützt. Böttiger stirbt nach dem Erhalt der letzten Druckfahnen, so daß das Werk nur noch seinem Andenken gewidmet werden kann. Raoul-Rochettes These kann sich im 19. Jahrhundert nicht durchsetzten, so daß Böttiger auch mit seinem französischen Schüler wenig Glück gehabt hat, da dieser seinen Namen mit einer für falsch angesehenen Auffassung verbunden hat.
Einleitung
XXIII
Daß die Archäologie sich im 20. Jahrhundert wieder der von Raoul-Rochette und Böttiger vertretenen Meinung zugewandt hat, vermehrt den Ruhm der beiden Archäologen nicht, denn ihre Namen kommen in der neueren Forschung nicht mehr vor. Das Gedächtnis der Wissenschaft ist kurz. Der vierte Abschnitt der Arbeit beschäftigt sich mit Böttigers Archäologie der Gegenwart, deren Karikatur ich zunächst in Tiecks „Vogelscheuche" untersuche. 1814 spricht Böttiger in einer Vorlesung in der Dresdener Antikengalerie über die Pygmalionfabel und stellt sich vor, daß die gegenwärtigen Statuen zu reden und zu handeln begönnen. Mit dem Galateamotiv liefert Böttiger ein zentrales Motiv für Tiecks Novelle. Noch bevor Tieck Böttiger selbst unter seinem ihm von Goethe und Schiller geschenkten Spottnamen Magister Ubique auftreten läßt, führt der Schöpfer der Vogelscheuche, der Senator Ambrosius, einen Böttigerschen Diskurs. Er fordert die Öffentlichkeit und Nützlichkeit der Kunst nach dem antiken Muster. In Ubereinstimmung mit Böttigers euhemeristischem Konzept, nach welchem die antiken Statuen zu Göttern gewordene Helden zeigten, schafft Ambrosius seine Vogelscheuche. Richtig lebendig wird die Antike aber erst, als die Vogelscheuche als Herr von Ledebrinna ins Leben tritt. Die griechische Plastik ist laut Böttiger im Fetischismus verwurzelt. So wie dem Naturmenschen in einem Stück Holz ein Geist wohnt, ist auch dem modernen, einen ästhetischen Lebensstil pflegenden Menschen sein Fetisch beseelt. Und wie Galatea dem Pygmalion angehört, endet auch Tiecks Märchennovelle mit der glücklichen Hochzeitsnacht von Ambrosius' Tochter Ophelia mit der Vogelscheuche. Besondere Aufmerksamkeit schenke ich der Szene „Kunst-Ausstellung. Gemälde-Gallerie", in welcher Ubique für einen durchreisenden Prinzen aus den Wirtshausschildern der Stadt eine Ausstellung improvisiert und die ausgestellten Werke einer gelehrten Exegese unterwirft. Ich zeige, daß es sich um die Parodie des archäologischen Diskurses handelt, welcher den Anspruch erhebt, ein Diskurs über das Bedeutende, über das Schöne und über das Heilige zu sein, und der hier als ein Diskurs über das Unbedeutende, das Häßliche und das Profane gezeigt wird. Das letzte Kapitel der Arbeit beschäftigt sich mit der erfolgreichen Realisierung von Böttigers Archäologie der Gegenwart. Sogleich nach Goethes Tod betreibt Böttiger in seiner Korrespondenz mit dem Großherzog von Weimar und den Angehörigen des Goethekreises sowie in einer Artikelserie in der „Allgemeinen Zeitung" die Umwandlung des Hauses am Frauenplan in ein Museum. Tatsächlich handelt es sich um die Umsetzung eines euhemeristischen Konzepts. Freigelegt werden in Böttigers Text die Motive der Apotheose, des Adlers, des Phönix, der Feier, des Opfers, der
XXIV
Einleitung
Weihe, des Tempels usw. Es handelt sich also um das Wiederaufgreifen eines archaischen Diskurses. Doch das Drängen darauf, daß die Objekte in ihrem Überlieferungszusammenhang bleiben müssen, spricht dafür, daß es sich bei diesem Diskurs über die Gegenwart auch um Archäologie handelt. Beide Aspekte des Böttigerschen Programms, die Reaktualisierung heidnischer Religionsübung in Form eines im Dienste der nationalen Einheit stehenden fetischistischen Goethekultes und der historisch-aufgeklärte Diskurs über die Goethezeit, sind in unserer Gesellschaft aufgehoben.
Bemerkung zur Methode Der Ausgangspunkt für vorliegende Arbeit, der bereits im vorstehenden Überblick benannt wird, das Verstehenwollen des Böttigerschen Denkens, war ein hermeneutisches Problem. Ihr ursprünglicher Titel, „Le rôle de Karl August Böttiger (1760-1835) dans les transferts littéraire et culturel franco-allemands : sa contribution à la naissance de l'archéologie moderne à travers sa correspondance avec Désiré Raoul-Rochette", zeigt, daß die Arbeit nicht von vornherein diskursanalytisch konzipiert war, sondern vielmehr vom Individuum als Quelle des Diskurses ausgehen wollte. Im ersten Abschnitt der Arbeit gibt es möglicherweise noch Spuren der ursprünglichen Herangehensweise. Während meines Versuchs, herauszufinden, was Archäologie zu Böttigers Zeit gewesen sei, geriet ich, da die Theorien von Pomian, Schnapp, Jockey und Gran-Aymerich mir, wie oben dargestellt, keine hinreichende Orientierung, wohl aber wertvolle Anregungen boten, in immer größere Nähe zur Diskurstheorie Foucaults. Indem mir immer deutlicher wurde, daß die materiellen Objekte, auf welche sich der Diskurs bezieht, keineswegs bereits das Objekt des Diskurses sind, versah ich den vagen Diskursbegriff Jockeys immer stärker mit den Implikationen, die der Begriff Diskurs in Foucaults „L'ordre du discours" und „L'archéologie du savoir" hat. Folglich wurde das Subjekt des Diskurses für mich zu einem immer größeren Problem. Ich begann eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Foucaults, deren Darstellung jedoch den Rahmen der vorliegenden empirischen historischen Untersuchung zum archäologischen Diskurs gesprengt hätte. Die in Foucaults Werk zentrale Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität stellte sich mir in Bezug auf dieses Werk selbst. Legt „L'archéologie du savoir" die Methode von „Les mots et les choses" frei oder handelt es sich um eine Umdeutung des frühen Erfolgswerkes? Ist das Spätwerk Foucaults ein Rückfall in die Hermeneutik oder die gedankliche Fortsetzung der für meine Arbeit relevanten Schriften aus der Zeit um 1970? Erst durch
Einleitung
XXV
die Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Foucaults gelangte ich zu folgender im zweiten Abschnitt beantworteten Frage: Wie kann jemand zum Subjekt eines Diskurses werden, den es doch noch gar nicht gibt? Der dritte Abschnitt der Arbeit ist durch das Kapitel „Rareté, extériorité, cumul" in „L'archéologie du savoir" 9 inspiriert. Der vierte Abschnitt der Arbeit wendet sich dem hermeneutischen Problem zu, von welchem ich ausgegangen war, und deutet Böttigers Äußerungen über die Schriftsteller seiner Zeit als eine Archäologie der Gegenwart, welche die Historisierung der eigenen Zeit betreibt und gleichzeitig archaische Diskurse aktualisiert.
9
Foucault 1969, S. 155-165.
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses im Spiegel der Gelehrtenkorrespondenz zwischen Karl August Böttiger und Désiré Raoul-Rochette Der erste Abschnitt der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit dem Problem der Objektkonstitution in der Archäologie. Das Objekt des Diskurses soll mit Hilfe der Korrespondenz von Karl August Böttiger und Désiré Raoul-Rochette bestimmt werden. Ausgegangen wird von der Annahme, daß diese Gelehrtenkorrespondenz als Metadiskurs über den Diskurs Archäologie alle wichtigen Probleme der europäischen archäologischen Diskussion im Zeitraum von 1824 bis 1835 in ihrer Gesamtheit anspricht. Begründet wird diese Annahme durch den Rekurs auf einen Forschungsbericht Georg Friedrich Creuzers über die nämliche Periode. 1 Zunächst wird der Rahmen des Briefwechsels kurz skizziert, wobei die politische Lage in Deutschland und Frankreich und die private Situation der beiden Korrespondenten in dem Maße berührt wird, in dem beides im Briefwechsel eine Rolle spielt. Darauf werden die archäologischen Themen, die in den Briefen angesprochen werden, erfaßt. Das geschieht in Hinblick auf eine Bestimmung des Objekts der Archäologie. Dabei gilt die Voraussetzung, daß der Diskurs nicht etwa ein bereits in seinem Sosein vorgefundenes erklärungsbedürftiges Objekt thematisiert, sondern sein Objekt erst, indem er sich ereignet, konstituiert. Indem der Diskurs von außen determiniert wird, entwickelt er seine eigenen Ausgrenzungskriterien, deren Funktion in dem dritten Abschnitt der Arbeit, der den Diskursstrategien gewidmet ist, deutlich werden wird. Am Ende dieses ersten Abschnittes sollen die Konturen des Objektes der Archäologie am Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts umrissen werden.
Der Briefwechsel zwischen Böttiger und Raoul-Rochette als Gelehrtenbriefwechsel Der Briefwechsel zwischen Karl August Böttiger und Désiré RaoulRochette setzt im Jahre 1824 ein. - Der 64jährige Böttiger lebt in Dresden. Durch eine Vielzahl kleinerer Schriften und seine seit seiner Niederlassung in Dresden im Jahre 1804 dort gehaltenen Vorlesungen, die gleichzeitig durch den Druck verbreitet worden waren, hatte er sich internationale Anerkennung als Archäologe erworben. Seit 1820 gibt er die erste archäo1
Creuzer 1834.
2
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
logische Fachzeitschrift heraus. Seine weitverzweigte journalistische Tätigkeit hatte ihn jedoch bisher gehindert, ein größeres archäologisches Werk zu verfassen. Das Erscheinen des ersten Bandes der „Ideen zur KunstMythologie" 2 im Jahre 1826 steht kurz bevor. - Der erst vierunddreißigjährige 3 Raoul-Rochette hatte bereits mehr als zehn Jahre zuvor Anerkennung in der Fachwelt gefunden, als ihm 1813 das Institut National für seine „Histoire critique de l'établissement des colonies grecques" 4 den von der Klasse für Geschichte und alte Literatur ausgelobten Preis zuerkannte. Als Mitglied des Institut Royal, Redakteur des „Journal des Savans", Direktor des Cabinet des Antiques et Médailles de la bibliothèque du Roi, in welcher Funktion er auch öffentliche Vorlesungen zur Archäologie hält, ist Raoul-Rochette der bedeutendste Vertreter der klassischen Archäologie in Frankreich. Der Briefwechsel zwischen Karl August Böttiger und Désiré RaoulRochette setzt ein mit einem Brief Raoul-Rochettes vom 24. November 1824. Überbringer dieses Briefes ist Julius Sillig, der dreiundzwanzigjährige Meisterschüler Böttigers, der nach Paris gereist war. Sillig überbringt Böttiger ein Exemplar der „Antiquités grecques du Bosphore-Cimmérien", eines Werkes von Raoul-Rochette; 5 und der Brief, der die hier interessierende Korrespondenz eröffnet, ist zunächst das vor Silligs Abreise hastig hingeworfene Begleitschreiben zu diesem Geschenk. Gleich im ersten Absatz des Briefes kommt Raoul-Rochette zur Sache und unterbreitet Böttiger den Vorschlag zu einer fortgesetzten Korrespondenz. Diese Korres-
1 3
4 5
Böttiger 1826. Als Geburtsdatum Raoul-Rochettes wird bald 1783 (Gran-Aymerich 1998 und 2001), bald 1789 (Schmidt-Funke 2006), bald der 7. März 1790 (Perrot 1906) angegeben. Raoul-Rochette wurde am 9. März 1790 geboren, wie aus dem mir freundlicherweise von der Bibliothèque Municipale de Saint-Amand Montrond in der Kopie mitgeteilten Auszug aus dem Taufregister der Gemeinde Saint-Amand hervorgeht: „Bapt Desire Raoul R o c h e t t e L'an mil Sept cent quatre vingt dix le dix du mois, a été Baptisé par moi vicaire Soussigné Désiré Raoul né d'hier à onze heures du soir du legitime mariage de M. e paul Gilbert Rochette Docteur en medecine et de D. e Rosemarie Meillet son Epouse, le parrain a été Guy désiré Meillet Notaire Royal et Directeur de la poste de cette ville qui a signé et La marreine D. c Catherine Rochette Epouse de M. e pierre paquet controlleur de la Regie paroisse de St. pierre de la ville de Mont Luçon qui a été representee au Baptême par magdeleine triboulet Domestique de cette paroisse qui a declaré ne pas savoir Signer de ce interpellées, tous de cette paroisse, excepté la marraine, le pere absent Meillet Bruneau V. £ " Raoul-Rochette 1815. Raoul-Rochette 1822.
Der Briefwechsel zwischen Böttiger und Raoul-Rochette als Gelehrtenbriefwechsel
3
pondenz solle zu beidseitigem Nutzen geführt werden.6 Raoul-Rochette gibt sich als Verehrer der Schriften Böttigers zu erkennen, aber denkt auch, seinerseits Böttiger nützlich sein zu können. Modell für den vorgeschlagenen Briefwechsel ist ihm derjenige, den Böttiger mit seinem Vorgänger Louis Aubin Miliin zwanzig Jahre lang geführt hatte.7 Explizit findet in diesem Brief noch keine detaillierte Bestimmung der Funktion des eröffneten Briefwechsels statt, doch zeichnet sich hier bereits das Interesse ab, das Raoul-Rochette an diesem Briefwechsel hegt. RaoulRochette kommt nämlich im Zusammenhang mit der übersandten Schrift auf den Petersburger Archäologen Heinrich Karl Ernst von Köhler zu sprechen, der zur Kritik gegen diese ein ganzes Buch verfaßt hatte.8 RaoulRochette sucht in Böttiger einen Verbündeten in fachlichen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus bekundet Raoul-Rochette in diesem Brief sein Interesse, an Böttigers archäologischer Zeitschrift mitzuarbeiten. Er schlägt vor, einen ausführlichen Bericht über die Sammlung Drovetti in Turin, eine der bedeutendsten Sammlungen ägyptischer Altertümer,9 zu überschicken. Handelt es sich bei der hier angebotenen Mitarbeit an der „Amalthea" 10 um eine von Böttiger erbetene Gunst oder eine Gefälligkeit Böttiger gegenüber? Schon hier wird deutlich, daß ein Gelehrtenbriefwechsel, wie er hier intendiert wird, im wesentlichen auf Nutzen für die Korrespondenten beruht, der außerdem ein gegenseitiger sein muß. Um Böttiger an dieser Korrespondenz zu interessieren, ihn gewissermaßen zu ködern, stellt ihm Raoul-Rochette die Aufnahme in das Institut Royal in Aussicht. Hier schreibt er nicht nur in seinem eigenen Namen, sondern auch in dem eines anderen illustren Mitglieds dieses Instituts, im Namen des berühmten Antoine Chrysostome Quatremère de
6
„une correspondance, qui ne pourroit que m'être inifiniment avantageuse, et dans la quelle je m'efforcerois de vous être utile" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 1. - Die Sigle Böttiger/Raoul-Rochette verweist auf die Korrespondenz zwischen Böttiger und Raoul-Rochette, die in der von Klaus Gerlach und René Sternke im Akademie Verlag herausgegebenen Reihe „Ausgewählte Briefwechsel aus dem Nachlaß von Karl August Böttiger" erscheinen wird. Die Nummern der Briefe verweisen auf das „Briefverzeichnis" am Ende des vorliegenden Bandes, in welchem Briefschreiber, Adressat sowie Ort und Datum der Niederschrift jedes einzelnen Briefes aufgeführt sind. - Zu Böttigers Korrespondenz mit Miliin vgl. Espagne/Savoy 2005 und Böttiger 1819a.
7
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 1. Köhler 1823. Vgl. die Briefeditionen Curto 1985 und Guichard 2003 sowie die Biographie von Ridley. Böttiger 1820 ff.
8 9
10
4
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Quincy. 11 Damit wird eine andere Dimension dieses anscheinend nur privaten Briefwechsels sichtbar, durch ihn und in ihm wird Böttiger zum korrespondierenden Mitglied einer gelehrten Gesellschaft. Daß es bei einer solchen Korrespondenz auch um die Mitteilung gedruckter Werke gehen muß, zeigt die Schenkung der „Antiquités grecques du Bosphore-Cimmérien" ebenso wie Raoul-Rochettes angelegentliche Frage nach der Fortsetzung der „Amalthea", 12 deren erste zwei Bände er bereits besitzt. - Zusammenfassend kann gesagt werden, daß dieser erste Brief die pragmatische Funktion einer solchen Gelehrtenkorrespondenz bereits paradigmatisch festlegt, indem es bei einer solchen um den Austausch von Informationen, einschließlich gedruckter Werke, und um das Engagement für das Werk und das Ansehen des Korrespondenten geht. Aber auch die Bedingungen eines Gelehrtenbriefwechsels wollen festgelegt sein. So lädt Raoul-Rochette, der sich selbst seiner Muttersprache bedient, Böttiger ein, ihm in deutscher Sprache zu schreiben. Charakteristikum einer Gelehrtenkorrespondenz ist ein „Vertrag", der zwischen den beiden Briefpartnern abgeschlossen wird. Diesen formuliert Böttiger in seinem Antwortschreiben, in welchem er Raoul-Rochettes Vorschlag zu einer fortgesetzten Korrespondenz annimmt. Dem Korrespondenten sollen alle gewünschten Auskünfte erteilt und Fachbücher zugeschickt werden, wobei der ökonomische Aspekt durchaus eine Rolle spielt. 13 Zu den genannten Funktionen kommt das Herstellen von Kontakten zu weiteren Personen wie Gelehrten, Buchhändlern, Verlegern, Künstlern, Diplomaten. Schon aus den ersten beiden Briefen geht hervor, daß der Kontakt zu Raoul-Rochette eine vermittelte Fortsetzung seiner Beziehung zu anderen Pariser Gelehrten, Quatremère de Quincy, Alexandre Louis Joseph Comte de Laborde und Karl Benedikt von Hase, bedeutet. Im Mittelpunkt steht jedoch der Gedankenaustausch über die archäologischen Probleme, wie bereits aus Raoul-Rochettes Wunsch, von Böttiger lernen zu können, im ersten Brief und Böttigers Ankündigung einer genaueren Äußerung zu dem von Sillig überbrachten Buch in seinem Antwortschreiben hervorgeht. Die gedankliche Kohärenz einer fachlichen Dis11
12 13
„nous voudrions bien l'un et l'autre qu'il vous plût d'appartenir à notre institut par un titre, que je m'efforcerois, de tous mes moyens, à vous procurer." Böttiger/RaoulRochette, Nr. 1. Böttiger 1820 ff. „Vous m'offrez, Monsieur, une correspondance suivie. Je l'accepte de tout mon coeur et je Vous promets tous les renseignemens que Vous me demandez, l'achat de livres non seulement dans les magazins de nos libraires, qui se vendent souvent fort cher, mais dans les ventes publiques, où on les attrape quelques fois à un prix fort modique (Vous n'avez que m'en donner la liste), des nouvelles qui pourront Vous intéresser, Vous en ferez autant et nous y gagneront l'un et l'autre." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 2.
Die politischen Ereignisse im Zeitraum von 1824 bis 1835
5
kussion macht eine strenge Organisation eines Gelehrtenbriefwechsels notwendig. Folglich ist er stark autoreferentiell. Der garantierte und pünktliche Erhalt der Briefe spielt eine wichtige Rolle, und die Organisation des Transportes der Briefe und Bücher nimmt breiten Raum ein. Bevor wir uns dem in diesem ersten Abschnitt zentralen Problem der Objektkonstitution in der Archäologie zuwenden, soll das Jahrzehnt betrachtet werden, in dem der der Untersuchung als Material zugrundegelegte Briefwechsel geführt wird. Die politischen Ereignisse im Zeitraum von 1824 bis 1835 als Hintergrund des Gelehrtenbriefwechsels Der Briefwechsel zwischen Raoul-Rochette und Böttiger wurde in den Jahren vor und nach der Julirevolution geführt. In Frankreich wie in den deutschen Ländern erfährt das öffentliche Leben eine starke Politisierung, 14 die in diesen wissenschaftlichen Briefwechsel nur punktuell eindringt. Beim Ausbruch der Pariser Revolution äußert Böttiger spontan seine Begeisterung,15 bevor er, sich besinnend, seiner Sorge um Raoul-Rochettes durch diese Veränderung bedrohte Situation Ausdruck verleiht. Dieser hatte in der Gunst der Bourbonen gestanden. Würden die Akademien nun wieder wie im Kaiserreich zu einem einzigen Institut umgeschmolzen werden? Würde Raoul-Rochette bei der Publikation seiner „Monumens inédits", 16 die in der königlichen Druckerei gedruckt werden, weiterhin die Unterstützung der Regierung erfahren? 17 Zeigt sich Raoul-Rochette in seinem Antwortbrief über all die - wenngleich lästigen - sich in einer scheinbar niederen Region ereignenden Veränderungen erhaben,18 so deutet seine im gleichen Brief geäußerte Besorgnis um Böttiger,19 der im Herbst des gleichen Jahres in Dresden ebenfalls eine Revolution erleben konnte, an, 14
15
16 17 18
19
„un temps où l'attention générale est presque entièrement absorbée par tant d'objets étrangers à la littérature" Raoul-Rochette in Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 41. - „On ne veut que des romans et de la politique." Böttiger in Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 29. „Les Allemands partagent partout l'enthousiasme des habitans de Paris qui ont fait epreuve d'une intrépidité inébranlable et d'une modération qui n'a pas de parallele." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 40. Raoul-Rochette 1828 f. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 40. „la Révolution qui vient de s'accomplir n'a jusqu'ici apporté aucun changement dans les existences littéraires ; et la mienne, en particulier, établie sur des titres inattaquables, n'a sans doute rien à craindre, ni quant à présent, ni dans l'avenir, des mutations qui se sont opérées, ou qui s'opéreront dans la Sphère politique. Je n'ai donc pas interrompu mes travaux, bien que Souvent j'aie été distrait par les événemens extérieurs" Ebenda, Nr. 41. Ebenda.
6
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
daß ihm diese Umwälzungen in starkem Maße unter die Haut gehen sollten. Nachdem in der Nacht vom 5. zum 6. November 1831 Räuber in das Raoul-Rochette unterstehende Cabinet des antiques et médailles eingebrochen waren und kostbare und seltene Stücke entwendet hatten,20 fürchtet er sich vor der Reaktion seiner politischen Feinde. Hier nun bricht es endlich aus ihm heraus: Mißgunst, Parteigeist, Haß und Neid, zu Leidenschaften gesteigert, seien die Früchte aller Revolutionen.21 Ein zweiter Ausbruch gegen die Revolution, die ihre unwissenden, anmaßenden Kreaturen - „das junge Frankreich" - in wichtige gesellschaftliche Positionen bringe, findet sich in einem Brief anläßlich des Dresdener Aufenthalts von Charles Lenormant. 22 Wieder verleiht Raoul-Rochette seiner Verachtung für die Revolutionäre Ausdruck und wähnt sich, obgleich ihm zwei Jahre zuvor nach dem Bibliotheksraub sein ärgster Feind, Antoine Jean Letronne, als zweiter Konservator zur Seite gesetzt worden war, unantastbar.23 In der Tat wird er erst lange nach seinem Briefwechsel mit Böttiger während der Revolution von 1848 aus dem Cabinet des médailles und seiner Dienstwohnung vertrieben werden, wobei ihm die Überschreitung seiner Kompetenzen beim Ankauf des Schatzes von Bernay 24 im Jahre 1829! zum Vorwurf gemacht werden wird.25 Wo Raoul-Rochette niedrige Leidenschaften 20 21
22
23
24
25
Vgl. Raoul-Rochettes detaillierten Bericht in Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 48. „vous vous doutez bien, mon illustre et respectable ami, qu'un malheur pareil, dont on pouvait jusqu'à un certain point me rendre responsable, n'a pas manqué d'être exploité contre moi par la malveillance, par l'esprit de parti, et par toutes ces passions haineuses et jalouses que les révolutions produisent toujours." Böttiger/RaoulRochette, Nr. 47. „Ii a fallu une révolution, pour qu'il fût placé au cabinet des médailles, Sans avoir vu de sa vie une médaille, mais c'est un de ces jeunes gens de notre J e u n e F r a n c e qui parlent, qui écrivent, Sur tout, à tort et à travers, et, qui savent tout, Sans avoir rien étudié. Du reste, créature de M. Guizot, et dévoué à M. Letronne, arrivé à la Bibliothèque par la même voie, c'est-à-dire, par la révolution, il n'aurait guère pu vous donner sur mon compte que des éclaircissemens empreints de malveillance, ou tout au moins de partialité." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 70. „le mépris profond que je professe, et que je n'ai jamais dissimulé en aucune occasion, pour les révolutionnaires, Guizot à leur tête, pour leurs oeuvres et pour leur séides, m'a valu leur haine dont je m'honore. Mais Guizot lui-même m'estime trop au fond de l'ame, parce qu'il sent, que fidèle comme je l'ai été aux principes de toute ma vie, et inaltérable dans ma foi politique, j'ai le droit de le haïr, pour qu'il me touche jamais un cheveu de la tête." Ebenda. Zum Schatz von Bernay, den Raoul-Rochette den größten Antikenfund seit der Renaissance nennt, vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 39. Vgl. Perrot 1906; zum „Trésor de Bernay" S. 86-89. Ein Bauer aus Bertouville hatte bei Bernay (Eure) Hunderte von silbernen Gegenständen gefunden, die einem Merkurtempel angehört hatten. Raoul-Rochette gelang es, diesen Schatz dem reichen Antikenhändler Rollin vor der Nase weg zu kaufen und dem königlichen Medaillen-
Der Gelehrtenbriefwechsel als Dokument des Privatlebens
7
- „passions" - am Werke sieht, sieht Böttiger höchste Begeisterung - „enthousiasme"! Wie eine Krankheit, wie ein Delirium überkommt ihn die all seine Gedanken erfüllende Wut, Verse zu machen, und wider Willen dichtet er auf Latein, um den Befreiungskampf der Polen zu besingen.26 Die Unverträglichkeit der Positionen mündet in keinen Konflikt. Liefert sich Böttiger im Briefwechsel mit seinem französischen Freunde Auguste Duvau (1771-1831) im Jahre 1804 eine heftige Auseinandersetzung um den Moreau-Prozeß, um Madame de Staël und um Johann Friedrich Reichardts und Gustav Graf von Schlabrendorfs „Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate",27 so bleiben die antagonistischen Meinungen Böttigers und Raoul-Rochettes harmonisch nebeneinander stehen. Ebensowenig stört die entgegengesetzte Position in konfessionellen Fragen. Scherzend spielen der antikatholische Böttiger und der strengkatholische Raoul-Rochette das Rollenspiel vom prokrastinierenden verstockten alten Sünder („vieux pêcheur endurci") Böttiger und vom Absolution erteilenden Raoul-Rochette, wobei es die ganze Tonleiter von confessional, remords, correction, indulgences, absolution und conversion hoch- und runtergeht.28 Selbst der Heilige Vater wird, ohne daß man weiß, ob es ironisch gemeint ist oder nicht, ins Spiel gebracht.29 Der Gelehrtenbriefwechsel als Dokument des Privatlebens Obgleich sich Böttiger und Raoul-Rochette nie persönlich kennenlernen, ist ihr Briefwechsel auch ein privates Dokument und Zeugnis einer Freundschaft. Was erfahren wir über die Lebensumstände der Korrespondenten? Böttiger selbst schreibt über den Tod seiner Frau, die Schuldenmacherei seines jüngeren Sohnes usw.30 Raoul-Rochette jedoch erwähnt seine Frau und seine Töchter nicht ein einziges Mal. Böttiger wird von der Gesellschaft bedrängt31 - „harassé et chiffoné de tous cotés"32. Der Monarchist
26 27 28 29 30 31
kabinett zu sichern: „II ne le payait que 17000 francs. Ce n'est certainement pas le vingtième de ce que produirait aujourd'hui aux enchères, la vente de cette belle orfèvrerie. Ce fut pour Raoul-Rochette un triomphe, mais un triomphe qu'il paya cher. [...] Il s'était fait donner par le Conservatoire de la Bibliothèque des autorisations qui n'étaient pas régulières." Ebenda, S. 87. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 42. Vgl. Böttiger 2004, Nr. 65-72. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 62, 69, 72, 76 und 83. „Personne n'est infaillible hormis le Saint Pere." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 2. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 51. „Mon ami, le Comte Reinhard Vous a fait envisager ma maniere de vivre d'après les vues de mon medecin, qui a été le sien aussi. Le docteur Weigel voudroit bien m'enfermer dans une cage craignant toujour que je m'emancipe trop. Mais je ne suis pas
8
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Raoul-Rochette w i r f t dem revolutionsbegeisterten Böttiger vor, daß er kostbare Arbeitszeit als Cicerone gekrönter Häupter vertut. 3 3 Er selbst, dessen Mondanität 3 4 in den Lexika bespöttelt wird, 3 5 bezeichnet sich stets als Einzelgänger. Von der A u ß e n w e l t zurückgezogen, lebe er allein seinen Medaillen; das Cabinet sei ihm Trost, Energiequelle und G e n u ß - „depuis près d'un an" - „forcé, par les circonstances" 3 6 . - D e r Brief w u r d e am 3 1 . Juli 1 8 3 1 geschrieben. Nicht bei jedem spielt Raoul-Rochette die Rolle, die er gegenüber seinem Briefpartner Böttiger spielt; 3 7 und dieser ist im übrigen bestens informiert. „ R . R . ist ein M a n der Salons", schreibt er an einen gemeinsamen Freund, den archäologisierenden preußischen Diplomaten Friedrich W i l helm Ferdinand D o r o w . 3 8
32 33
34 35
36
37
38
dineur en ville, je ne suis pas répandu dans les sociétés. Mais je suis chiffoné par mille petites affaires, mille petits services à rendre, assailli de tous cotés. Car je ne puis refuser rien. Annoncez mon livre! venez voir mes tableaux! Je vous attends dans mon attelier! Inventez le type d'une médaillé à frapper! Nous allons jouer une comedie de Terence, donnez-nous la description du costume théatral! Je publie une encyclopedic pour les dames, nommez moi les femme auteur qui y pouroient contribuer! On attend un discours sur l'orfevrerie des anciens que vous devez tenir dans le comité des arts! Voilà, mon cher ami, les demandes qu'on me fait tous les jours." Böttiger/RaoulRochette, Nr. 73. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 69. Böttiger: „Dresde est l'hotel général du nord d'Europe et il y a si peu de personnes ici à qui les étrangers puissent être adressés. Le Duc de Cambridge, vice roi de Hannover, passoit une semaine ici avec toute sa cour. La cour d'ici m'engagoit de l'accompagner. Vient le grand Duc de Weimar, mon ancien éléve, lorceque j'étois en fonction à Weimar. Il se propose de s'amuser pendant un couple de semaines. Et je suis vieillard! Ayez donc patience ou pitié de moi." Ebenda. Raoul-Rochettes Antwort: „vous voyez par mon empressement à y répondre, que je vous absous de votre Silence, bien que j'en ai été affligé et presque inquiet, mais je me rassurais, en pensant que vous étiez occupé à écrire s u r la p e i n t u r e , ce qui valait mieux, pour moi-même, que de m'écrire à moi. je ne me doutais pas que vous passiez votre temps avec des princes ; je vous plains donc, comme vous me priez de le faire, et je vous pardonne, comme vous me le demandez." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 70. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 30. „Ses collègues de l'Institut l'avaient surnommé, dit-on, R a o u l B r o c h e t t e , par allusion aux nombreuses décorations qui s'étalaient à sa boutonnière." Hoefer 1872, Sp. 465 (Anm.). „A propos de médailles, c'est presque uniquement à ce genre d'études que je me suis livré, depuis près d'un an. forcé, par les circonstances, à me retirer plus que jamais de toute relation au dehors, mon cabinet est devenu ma consolation, ma ressource, mon plaisir." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 43. „Raoul-Rochette hat sich mir angetragen für Artikel in alle Journale, ,parceque tous sont à sa disposition'." Sulpiz Boisserée an Jean Bertram. Paris, 4. August 1823, Moisy 1956, S. 251. Böttiger an Dorow. Dresden, 3. Dezember 1828, SLUB, Msc. Dresd. h 37, Suppl. 6 m .
Der Gelehrtenbriefwechsel als Dokument des Privatlebens
9
Obgleich alles Nichtfachliche weitgehend ausgegrenzt, marginalisiert oder untergeordnet wird, ist der Briefwechsel alles andere als trocken und emotionslos. Gerade Raoul-Rochette, der jegliche persönliche Information ausspart, ist es wichtig, sich dem anderen anzuvertrauen und ihm sein Herz auszuschütten.39 Und er findet Verständnis, Trost und Bestärkung.40 Zu deutlich verraten Raoul-Rochettes lebhafte Tätigkeit im Institut und seine archäologischen Vorlesungen, die einen Mittelpunkt im mondänen Leben der Stadt Paris bilden, daß sein Eremitendasein nicht ganz so sein dürfte, wie er es darstellt, mag seine außerordentliche wissenschaftliche Produktivität auch dafür sprechen. Doch zieht er sich im Laufe des hier interessierenden Zeitraums immer mehr Feinde zu. Nach einer Auseinandersetzung um die Grotten von Corneto mit den Archäologen Georg August Christian Kestner und Otto Magnus Freiherr von Stackelberg41 gerät er in Spannung zu der sich in Paris vereinigenden Clique des Institut de Correspondance archéologique42, schließlich spitzt sich seine Feindschaft mit dem Philologen Letronne so zu, daß jeder der beiden auf jede Veröffentlichung des anderen mit einer Publikation reagiert, die erstere zu widerlegen sucht. Immer stärker sieht sich Raoul-Rochette in der Rolle des unschuldig Verfolgten.43 Scheitern auch seine Versuche, Böttiger dazu zu bewegen, in all diesen Auseinandersetzungen öffentlich für den Freund Partei zu ergreifen, so wird doch der epistolarische Herzenserguß und die Anerkennung durch den anderen immer wichtiger für ihn. Darüber hinaus erweist sich Böttiger als ein tätiger Freund, der seinen Briefpartner verteidigen will, als er in den öffentlichen Blättern nach dem Bibliotheksraub verleumdet wird.44 Bedenkenlos kann Raoul-Rochette dem als indiskret verrufenen Böttiger ein nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Memoire anvertrauen, damit er vorsichtigen Gebrauch davon mache.45 Die Empfängerbemerkung Raoul-Rochettes auf Böttigers letztem Brief deutet hin auf ein intensives emotionales Verhältnis des französischen Archäologen zu seinem deutschen Freund, den er persönlich nie kennengelernt hatte.46 39
40 41 42
43
44 45 46
„Je vous demande, mon illustre ami, mille pardons pour ce trait d'humeur qui m'échappe, mais c'est dans le sein de votre amitié et de votre honnêteté que je dépose ces justes plaintes." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 30. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 40. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 15,16 und 19. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 37: „la coterie de l'Institut archéologique vient de s'organiser à Paris". „devais-je m'attendre à des hostilités si après, combinées avec tant d'art entre tant de monde, moi qui n'ai jamais nui à qui que ce soit, et qui ne peut porter outrage à personne." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 30. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 45 und 46. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 48. „Cette lettre est la dernière que j'aurai reçue de mon vieil ami Boettiger ; je l'ai perdu le 17 novembre - R. R." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 83, Empfängerbemerkung.
10
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Dasjenige, was die Linguistik mit dem Ausdruck „illokutionär" bezeichnet, spielt in einer Korrespondenz zwischen zwei Personen, die einander nie persönlich begegnen, eine große Rolle, da der Briefpartner immer wieder erreicht und interessiert werden muß. Ist es dazu wichtig, den anderen persönlich kennenzulernen, so verbirgt sich der Briefschreiber im Zweifelsfall hinter der Konvention und einem stereotypen Bild, das er von sich selbst entwirft. Böttiger charakterisiert sich in diesen Briefen aus seinem letzten Lebensjahrzehnt von Anfang an und mit zunehmender Frequenz als ein von Krankheiten geplagter Greis, zumeist um die verspätete Antwort zu entschuldigen.47 Raoul-Rochette stilisiert sich vor allem als Schüler Böttigers, den er seinen Meister nennt. Diese erst vereinzelt auftretende Anrede generalisiert sich im Laufe der Korrespondenz. 48 Seinen Maître nennt Raoul-Rochette Böttiger auch in dem zur Veröffentlichung bestimmten Brief über die Grotten von Corneto.49 Ja, Böttiger ist ihm ein Meister der Archäologie schlechthin.50 Böttiger zeigt sich beschämt und stilisiert sich bescheiden seinerseits zum Lehrling Raoul-Rochettes.51 Selbststilisierung und Rollenspiel dienen in diesem Gelehrtenbriefwechsel der Erhaltung einer gleichbleibend entspannten Kommunikationssituation. Die zentralen Themen des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette Das Harmoniestreben der beiden Korrespondenten erklärt sich dadurch, daß ein Gelehrtenbriefwechsel vorwiegend dem fachlichen Gespräch und der Selbstlokalisierung im Wissenschaftssystem der Zeit dient. Wenn auch die Fülle der Ereignisse auf dem Gebiet der sich herausbildenden Archäologie in einer ihrer wichtigsten Phasen im Briefwechsel zwischen Böttiger und Raoul-Rochette weitgehend vollständig reflektiert wird, so ist diese 47
48
49
50
51
J e suis vieillard (senectus ipsa morbus)" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 8. - „un vieillard en butte aux attaques d'un demon, appelle vertige de nerfs, fort souvent allité" Nr. 31. - „Je Vous prie seulement de n'oublier que je suis vieillard et qu'il me faut souvent reposer sur mon sopha au lieu de pouvoir continuer mes travaux." Nr. 33. „Je suis vieillard même fort affoibli par une suite de maladies" Nr. 36. Vgl. auch Nr. 51, 69, 71 und 77. „mon excellent ami et mon illustre maître" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 60. - „Mon cher Maître et mon illustre Confère" Nr. 65. - „mon cher et digne maître" Nr. 68. „mon cher et illustre maître" Nr. 70, vgl. auch u. a. Nr. 72, 74, 78, 81, 82 und 84. „j'obéis, en déférant à votre invitation, moins encore ; s'il m'est permis de le dire, au désir d'un ami, qu'à l'ordre d'un maître" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 16. „je me soumets à votre jugement, quelqu'il soit, comme à celui du maître de la science" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 47. „Vous me faites violence en m'appellant Votre maitre. Je ne suis et je ne serai jamais plus qu'un apprentif et j'écoute avec plaisir Vos leçons." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 54.
Die zentralen Themen des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette
11
Korrespondenz doch mehr als die bloße Anhäufung von Einzelinformationen. Verständlicherweise steht die eigene Tätigkeit der Korrespondenten im Mittelpunkt des Austausches. Die Korrespondenten schicken einander ihre sämtlichen Publikationen zu, doch sind drei Themen erkennbar, die die Briefpartner über längere Zeit beschäftigen: Böttigers Herausgabe archäologischer Fachzeitschriften, Böttigers Förderung der Rezeption von Raoul-Rochettes „Monumens inédits" in Deutschland und Böttigers Mitarbeit an Raoul-Rochettes „Peintures antiques inédites". Diese Themen setzen in der genannten Abfolge ein, laufen parallel nebeneinander fort und verklingen in der gleichen Reihenfolge. Als Raoul-Rochette den Briefwechsel anknüpft, sind die ersten beiden Bände von Böttigers archäologischer Fachzeitschrift „Amalthea" in den Jahren 1820 und 1822 bereits erschienen, und Raoul-Rochette ist im Besitz derselben. Da nun am Ende des Jahres 1824 kein weiterer Band erschienen zu sein scheint, zeigt er sich besorgt, daß die „Amalthea" eingestellt worden sein könne. Oder hat er einen inzwischen erschienenen dritten Band nicht erhalten? Im gleichen Brief bietet er einen Artikel über das Turiner Museum an.52 Uber diesen nie erscheinenden Artikel wird in allen Briefen genau ein Jahr lang konferiert.53 Nachdem inzwischen der dritte Band der „Amalthea" herausgekommen ist, will Raoul-Rochette für den vierten Band einen Artikel über eine noch nicht edierte Medaille eines unbekannten mazedonischen Königs liefern.54 Zwei weitere Jahre lang ist von RaoulRochettes Mitarbeit an der „Amalthea" die Rede.55 Diese aber hat ihr Erscheinen mit dem dritten Band eingestellt. Gleichzeitig mit dem Aufhören der „Amalthea" kündigt Böttiger seine neue Zeitschrift, „Archäologie und Kunst", an 56 und lädt Raoul-Rochette zur Mitarbeit ein.57 Schon 52
53 54 55 56
57
„Je viens de faire un voyage à Turin, pour y examiner la collection égyptienne de Drovetti, dont j'ai bien regretté que notre gouvernement ait laissé échapper l'occasion d'enrichir nos musées, j'ai écrit quelques lignes à ce sujet à M. Schorn, mon ami, qui les a insérées dans les derniers numéros de son Kunstblatt, s'il vous plaisoit, Monsieur, d'en avoir un compte-rendu plus détaillé pour votre Amalthea, je m'empresserois de vous l'adresser, ne fut-ce que comme un hommage, que vous avez droit d'attendre de tout ce qui aime et cultive l'antiquité, à propos de l'Amalthea, je n'en ai que les deux volumes qui ont paru en 1820 et 1822. oserai-je vous demander, si le troisième est publié ou près de l'être, ou bien, ce qui m'affligeroit beaucoup, si cet intéressant recueil a cessé de paroître ?" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 1. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 1-5. Zu seinem Nichterscheinen s. unten. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7 und 8. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 9 , 1 1 und 13. Zu Böttiger 1820 ff. und Böttiger 1828 vgl. das Kapitel „Die Rarefizierung des Objekts des archäologischen Diskurses am Beispiel von Böttigers archäologischen Fachzeitschriften ,Amalthea' und,Archäologie und Kunst'" im Abschnitt Diskursstrategien. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14.
12
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
mit dem nächsten Brief erhält Böttiger den erwünschten Beitrag zugesandt, dessen Veröffentlichung jedoch, wie unten ausführlich dargestellt wird, nicht zustande kommt. 5 8 1828 erscheint der erste (und letzte) Band von „Archäologie und Kunst" ohne diesen Beitrag. 59 Die „Monumens inédits" entstehen als Frucht einer Italienreise RaoulRochettes in den Jahren 1826 und 1827, die im Briefgespräch ein anderthalbjähriges Schweigen des französischen Archäologen verursacht. 60 Nach seiner Rückkehr nach Paris legt er seinem deutschen Freund einen Plan zu diesem Unternehmen vor, den er in der Folge in Bezug auf die Form des Werkes modifiziert. 61 Dieses umfassende Werk findet nun in beinahe jedem Schreiben bis zu Böttigers letztem Brief, der anderthalb Monate vor dessen Tod niedergeschrieben worden ist, Erwähnung. Wie weiter unten ausführlich dargelegt werden wird, begleitet Böttiger die Entstehung des Werkes kritisch, veröffentlicht Anzeigen dazu, gewinnt Käufer in Deutschland und England, sucht Rezensenten und gibt Hinweise für den Vertrieb des Buches in Deutschland und fordert seine bessere Erschließung durch Register. Raoul-Rochette erwähnt die „Monumens inédits" in seiner Korrespondenz mit Böttiger zum letzten Mal im März 1834. Er dankt Böttiger für die Anzeige des Werkes und möchte das Thema nun abgeschlossen wissen, da er sich neuen Aufgaben zuwenden wolle. 62 Böttiger fährt nichts58 59 60
61
62
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 15-19,21 und 23. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 23. „je puis enfin, après une année et demie de silence, reprendre avec vous une correspondance qui m'est si agréable et si chère, mais vous n'ignorez pas sans doute qu'elle a été, pendant tout ce tems, la cause forcée de ce silence, j'étois absent de mes foyers ; je voyageois en italie, en sicile, j'étois plongé tout entier dans les délices archéologiques que ce beau pays possède ; j'étois mort pour mon pays, pour mes amis, pour le monde entier ; je ne vivois plus que dans l'antiquité." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 13. „je me contente de vous dire pour le moment que j'ai rassemblé des matériaux en assez grand nombre et pour la plupart inédits, en bas-reliefs, de travail et d'époque romaines, en urnes étrusques, en vases et peintures grecques, en inscriptions grecques et latines, de maniere à former deux volumes in-4.° de M o n u m e n s a n t i q u e s i n é d i t s , que je publierai d'ici à peu d'années, je l'espère, sous la forme de l e t t r e s a r c h é o l o g i q u e s , desquelles chacune sera adressée à quelqu'un des savans, particulièrement d'allemagne, qui veulent bien prendre quelque intérêt à mes travaux, vous sentez bien, sans que je vous le dise, mon illustre et excellent ami, qu'une des premieres places dans cette correspondance archéologique, vous est reservée, comme elle vous est due à tous les titres ; et je me réjouis d'avance de pouvoir vous donner, de cette manière un témoignage public de ma profonde estime pour vos travaux, en attendant que, par l'accomplissement d'un vœu que je forme depuis longtems et qui ne tardera pas à être réalisé, je voie se resserer les liens qui nous unissent." Ebenda. „J'ai reçu tout ce que vous m'aviez destiné, et je vous remercie Surtout de ce qui est d e v o u s , dans cet envoi, c'est à dire, des deux articles que vous avez eu la bonté
Die zentralen Themen des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette
13
destominder fort, sich für die Rezeption der „Monumens" im deutschsprachigen Raum zu engagieren, 63 und beanstandet bei aller Wertschätzung dieser großartigen archäologischen Edition noch in seinen letzten beiden Briefen deren Darstellungsweise und Anlage. 64 Für den Verfasser der „Monumens inédits" hat sich aber längst ein anderes Thema in den Vordergrund geschoben. Raoul-Rochette schätzt Böttiger insbesondere als den Begründer der Archäologie der Malerei. Neben den „Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen über die Archaeologie im Winter 1806" 6 5 waren die „Ideen zur Archäologie der Malerei" 6 6 eine der ersten Schriften Böttigers, die er sich in Paris hatte beschaffen können 67 und deren Fortsetzung durch Böttiger er sich wünscht 6 8 . Anfang Juli 1833 kündigt Raoul-Rochette Böttiger den Einzeldruck eines Aufsatzes an, der in den Sommermonaten dieses Jahres im „Journal des Savans" publiziert werden sollte. 69 Im gleichen Zuge fordert er Böttiger auf, öffentlich Stellung zu der darin angesprochenen Frage zu beziehen, denn er ist sich der Polemizität seines Aufsatzes bewußt. 70 Die hier ausgesprochene Uberzeugung, daß die Historienmalerei der Griechen nicht Wand-, sondern Tafelmalerei gewesen sei, radikalisiert eine These, die Böttiger in seiner „Archäologie der Malerei" formuliert hatte. 71 Der erwartete Widerspruch kommt auf unerd'insérer dans votre Journal sur mes Monumens inédits. Je voudrais bien pouvoir déférer au vœu que vous exprimez, dans un de ces articles, de voir ajouter à mon recueil une table sommaire des matières, qui facilitât l'usage, mais il est trop tard maintenant, pour songer à des Supplémens de cette espéce, le livre est terminé et il restera tel qu'il est, avec ses imperfections, ses défauts, ses lacunes. Peut-être, y reconnoîtra-t-on aussi, quand on voudra n'être que juste, quelque mérite, ne fut-ce que pour la forme. Au reste, il est publié, moins les trois planches qui manquent et qui ne tarderont pas à être livrées aux Souscripteurs, c'est maintenant l'affaire du public, de l'apprécier et de s'en servir, s'il trouve qu'il vaille en effet quelque chose, la mienne, c'est de penser à d'autres travaux, et c'est aussi ce qui m'occupe." Böttiger/RaoulRochette, Nr. 65. 63 64 65 66 67
68
69 70 71
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 66, 69, 71 und 73. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 75 und 83. Böttiger 1806. Böttiger 1811. „je dois vous dire que les seuls ouvrages de vous que je possède et que j'aie pu parvenir jusqu'ici à me procurer, sont vos A n d e u t u n g e n , votre A r c h ä o l o g i e d e r M a l e r e i , et les deux premiers volumes de l ' A m a l t h e a . " Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 5. „Je traiterai, dans mon cours d'Archéologie de l'été prochain, l'histoire de la peinture ancienne, et je n'ai pas besoin de vous dire, Monsieur, de quelle utilité me sera votre savant ouvrage sur ce Sujet, que je regrette bien que vous n'ayez pas continué." Ebenda. Vgl. auch Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7. Raoul-Rochette 1833. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 60. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 60 und 63.
14
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
wartete Weise von einer Person, die die bekämpfte Auffassung bisher gar nicht vertreten hatte, er kommt aus der Académie des inscriptions et belleslettres, der Raoul-Rochette angehört, selbst, er kommt von jemandem, den Raoul-Rochette allerdings wenige Monate zuvor abzustrafen für gut befunden hatte,72 er kommt, wie Böttiger von dem durchreisenden Theodor Panofka erfährt, von Raoul-Rochettes Erzfeind Letronne. 73 Raoul-Rochette sucht Verbündete in Deutschland, vermag aber den skeptischen Böttiger zu keiner öffentlichen Parteinahme zu veranlassen.74 Innerhalb der Akademie wird nun ein erbitterter Kampf ausgetragen, als dessen Ergebnis zwei bedeutende Werke zur antiken Wandmalerei entstehen.75 Raoul-Rochette schickt Böttiger die Druckfahnen seiner „Peintures antiques inédites" vor der Veröffentlichung zu, die jener kritisch begutachtet. Böttiger stirbt vor Erscheinen des Werkes, nachdem er es aber vollständig durchgesehen hat.76 Das Interesse der Briefpartner wird in zeitlicher Reihenfolge von folgenden Werken dominiert: November 1824 bis September 1828: „Amalthea" und „Archäologie und Kunst" - Oktober 1827 bis März 1834: „Monumens inédits" - Juli 1833 bis November 1835: „Peintures antiques inédites". Die Überlappung kommt dadurch zustande, daß das Interesse der Korrespondenten an diesem oder jenem Thema nicht synchron ist. Da Böttigers Tätigkeit als Archäologe, die mit der Zeitschriftenherausgabe ihren letzten Höhepunkt findet, aufgrund seines hohen Alters zurückgeht, okkupiert in zunehmendem Maße die Aktivität Raoul-Rochettes die Diskussion. Die Existenz zentraler Themen, die längerfristig den Briefwechsel bestimmen, zeigt, daß die Gelehrtenkorrespondenz zwischen Böttiger und RaoulRochette sich nicht in der Aufzählung von Einzelinformationen erschöpft, sondern durchaus gedanklich kohärent und konsistent ist. Komplementär zu der hier sichtbar werdenden Konzentration charakterisiert den Briefwechsel eine weit ausfließende Breite, die die Entwicklung der Archäologie in ihrer so überaus bedeutsamen Phase von 1824 bis 1835 weitgehend vollständig reflektiert, so daß wir diesen Briefwechsel unserer Bestimmung des Objektes der Archäologie dieser Epoche zugrunde legen können.
72 73 74
75 76
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 68. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 69. „Tom les jours je deviens plus scrupuleux d'avancer telle et telle chose comme indubitable. Un seul monument découvert dans les fouilles peut renverser tout." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 71. Raoul-Rochette 1836 und Letronne 1836. Raoul-Rochette 1836, S. II.
Die archäologiegeschichtliche Epoche von 1824 bis 1835
15
Die archäologiegeschichtliche Epoche von 1824 bis 1835 Georg Friedrich Creuzer nimmt eine Rezension der Publikationen des Instituto di corrispondenza archeologica sowie des „Vatikanischen Apollo" von Joseph Anselm Feuerbach 77 zum Anlaß, um einige „Vorbemerkungen über den jetzigen Standpunkt der Archäologie und der Geschichte der Kunst des Alterthums" einzuschalten.78 In diesem Aufsatz stellt Creuzer die Entwicklung der Archäologie in den vergangenen zehn Jahren derjenigen während ihrer ersten großen Epoche, der Renaissance, da eine große Menge antiker Bildwerke aufgefunden worden war, und ihrer zweiten großen Epoche, dem 18. Jahrhundert, in dem die herculanischen und pompejanischen Entdeckungen gemacht worden waren, gleich. Während jenen beiden Epochen der Gewinn gewissermaßen in den Schoß gefallen sei, habe sich das letzte Dezennium seinen Erfolg planmäßig erarbeitet. 79 Etwa gleichzeitig zieht ein anderer großer Archäologe jener Zeit, Otfried Müller, ein Resümee der Entwicklung der letzten Jahre. 80 Er wählt jedoch einen kleineren zeitlichen Ausschnitt, den Abschnitt von 1829 bis 1835. Auch er schließt seinen Uberblick mit dem „Vatikanischen Apollo". Wie für Creuzer fällt für Müller der Zeitpunkt, mit dem er die betrachtete Epoche enden läßt, mit der Gegenwart zusammen. Offensichtlich gelangen beide Archäologen gegen 1835 zu dem Bewußtsein, den Abschluß einer Epoche und eine Zäsur in der Wissenschaftsgeschichte zu erleben. Daß Müller den betrachteten Zeitraum stärker einschränkt, liegt daran, daß er bei der Vorstellung des Materials weniger selektiv als Creuzer verfährt und sein mehr als hundertseitiger Aufsatz schon so ein vielfaches der Länge des Creuzerschen erreicht. Die zeitliche Einengung mag sich wohl auch durch die thematische Beschränkung auf griechische Kunstgeschichte erklären, während Creuzer die Archäologie in ihrer Gesamtheit im Auge hat. Auch räumt Müller ein, daß „das Stück von der Geschichte der Archäologie, welches er hier bearbeitet", mit dem Zeitraum zwischen der ersten und zweiten Bearbeitung seines „Handbuches der Archäologie" zusammenfällt.81 Die Müller als gegeben erscheinende „Zeitgrenze" 1829 werde „durch die Existenz des Instituts der archäologischen Correspondenz bestimmt, dessen Gründung, im Anfange des Jahres 1829, in den
77
78 79 80 81
Das Buch erschien 1833. Zum Aufsehen, das dieses wichtige Werk erregte, vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 59, 60, 62 und 64. Creuzer 1834, S. 141 f. Vgl. ebenda, S. 142. Müller 1835. Ebenda, S. 641.
16
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Annalen der Archäologie der Kunst für immer Epoche machen" 82 werde. Angesichts der Gleichzeitigkeit von Diskontinuität und Kontinuität, ist eine solche Zäsur sehr willkürlich gesetzt, da das erwähnte Institut ja nicht ex nihilo entstanden ist. Im Panofka-Nachlaß findet sich nebst einem „Prospectus de la Société Hyperborée Romaine 1829" ein Brief Friedrich Wilhelm Eduard Gerhards vom August 1828, der von einem „Journal Universel d'Archéologie publié par la Société Hyperborée-Romaine et rédigé par M M 0 le Duc de Luynes - Gerhard - Letronne - Millingen - Panofka - Β 20 de Stackelberg - Welcker - " spricht. 83 Der Name „Société HyperboréeRomaine" läßt erkennen, daß die neue Organisation in die Tradition der Società iperborea romana steht, die, ihrerseits an die Xenioi anknüpfend, 1823 in Rom von Gerhard, Panofka, Stackelberg und Thorwaldsen begründet worden war. 84 In seinem Briefwechsel mit Böttiger nimmt auch RaoulRochette bereits sehr frühzeitig die Entstehung der „Secte" wahr. 85 In der Einschätzung der zurückliegenden Jahre stimmt Müller mit Creuzer überein. Auch er urteilt, unter den Zweigen des historischen Wissens habe „in der letzten Zeit wahrscheinlich keiner so große Erweiterungen erhalten, als unserer Kenntniß der bildenden Künste des Alterthums theils durch einen Zuwachs von Denkmälern, wie man ihn früher kaum noch zu hoffen wagte, theils durch die wetteifernden Anstrengungen zahlreicher Gelehrten aus allen Theilen des gebildeten Europa's zu Theil geworden sind" 86 . Diese Wissenschaftsentwicklung läßt sich an Hand des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette genau nachvollziehen. Creuzers Beobachtung aufgreifend, soll zunächst die quantitative Vermehrung des archäologischen Stoffes betrachtet werden. Sie bietet uns einen Ausgangspunkt dafür, die Objektkonstitution durch den Diskurs nachzuvollziehen. Diese verläuft über die Erschließung neuer materieller Objekte, deren Edition in Form von Abbildungen und Nachbildungen sowie die Interpretation bzw. Reinterpretation der bekannten Objekte. Im Anschluß daran sollen dann die Objektklassen herausgestellt werden, denen in der fraglichen Epoche besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Analyse des Briefwechsels unter Hinzuziehung der genannten Schrift Creuzers läßt erkennen, daß das Briefgespräch zwischen Böttiger und Raoul-Rochette gleich einem Seismographen die sich gleichzeitig vollziehenden größeren Veränderungen in ihren leisesten Bewegungen registriert. 82 83
84 85 86
Ebenda, S. 638. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Archiv für bildende Kunst, PanofkaNachlaß, K. 54, Gerhard an Panofka in Paris, Neapel, 28. August 1828. Siehe Gran-Aymerich 2001, S. 355 f. Siehe unten. Müller 1835, S. 638.
Wissenschaftsentwicklung als Bewegung im Raum
17
Wissenschaftsentwicklung als Bewegung im R a u m Die Entdeckung bisher unerschlossenen Materials ist an eine sprunghaft einsetzende Reisetätigkeit gebunden. Hatte Johann Joachim Winckelmann noch behaupten können, in Rom über das zur Abfassung einer Geschichte des Altertums notwendige Material zu verfügen,87 so erweitert sich nun das Blickfeld auf einen erheblich umfassenderen geographischen Raum. Diese Blickfelderweiterung wird erreicht, indem die Archäologie den Raum sukzessive durchquert. Zunächst steht Ägypten im Mittelpunkt des Interesses. Eröffnet worden war dieses Gebiet durch die Napoleonische Expedition, die gleichermaßen militärischer und wissenschaftlicher Natur war. Neben Paris und Berlin bildet Turin mit der berühmten Drovettischen Sammlung den wichtigsten Ort, zu welchem die Archäologen pilgern, um die -¿Egyptica in Augenschein zu nehmen. 88 Gleich im ersten Brief berichtet RaoulRochette von einer soeben beendeten Turinreise und bietet Böttiger einen Bericht darüber für die „Amalthea" an. Böttiger bekundet sofort sein Interesse und will keineswegs, daß dieses Versprechen in Vergessenheit gerate,89 denn hier bietet sich nicht allein ein glücklicher Fund dar, sondern es handelt sich um einen hochaktuellen Gegenstand, der in aller Munde ist! 90 Ein Aufsatz von Raoul-Rochette wäre um so interessanter gewesen, als es sich bei diesem um den Gegenspieler Jean-François Champollions im Streit um den Wert der ägyptischen Kunst insbesondere im Verhältnis zur klassischen griechisch-römischen Kunst handelt. In seinem ersten offenen Brief an Pierre Louis Jean Casimir Herzog von Blacas D'Aulps weist Champollion auf die unzureichende Materialgrundlage hin, auf welcher Winckelmanns übereilte negative Urteile über die ägyptische Kunst beruht
87
Vgl. die „Vorrede" zur „Geschichte der Kunst des Altertums", ζ. B.: „Es ist daher schwer, ja fast unmöglich, etwas gründliches von der alten Kunst, und von nicht bekannten Altertümern, außer Rom zu schreiben". Winckelmann 1870, S. 10.
88
Passalacqua, zu dessen „Catalogue raisonné et historique" seiner Privatsammlung sich Böttiger in Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 25 äußert, führt in dem genannten Katalog auf S. xj-xij die Sammlungen in folgender Rangordnung auf: Turin. Musée royal égyptien - Paris. Musée royal du Louvre - Berlin. Collection formée par M. le général de Minutoli, achetée par S. M. le roi de Prusse - Vienne. Musée impérial Rome. Collection du Vatican - Naples. Collection particulière du cabinet de S. M. le roi de Naples - Londres. British Museum - schließlich seine eigene und verschiedene andere Privatsammlungen.
89
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 2 und 3. „Vous m'aviez fait esperer un apperçu sur le Musée Egyptien a Turin et même sur les recherches hiéroglyphiques, qui en derivent. Une pareille notice de main de maitre seroit un veritable trouvail pour mon Amalthée et d'autant plus interessant que c'est la nouvelle du jour." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 4.
90
18
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
hätten. 91 Wie für Raoul-Rochette ist für ihn die Nachahmung der Natur das entscheidende Kriterium zur Bewertung der Kunst eines Volkes. Hier spielt er nun zum einen die getreue Nachahmung der Ägypter gegen die Idealisierung der Griechen aus. 92 Zum anderen betont er, daß die Darstellung der Dinge bei den Ägyptern nicht bloße Abbildung schöner Natur, sondern ein Aufschreiben von Ideen ist. 93 Vertritt Champollion so die Meinung, daß die ägyptische Kunst eigenen Wertungskriterien zu unterwerfen sei, 94 so verficht Raoul-Rochette noch 1828 die Auffassung, daß die Ägypter überhaupt keine Kunst gekannt hätten, da sie sich, anstatt die Natur nachzuahmen, damit begnügt hätten, stereotype Formen zu reproduzieren, die jeglicher Vorlage in der Wirklichkeit entbehrten. 95 Die Querelle mit Champollion verhindert zunächst das Erscheinen des versprochenen Aufsatzes, da RaoulRochette, der den Gegenzug seines Kontrahenten abwarten muß, sich mit einem bescheideneren Artikel im „Journal des Savans" begnügt. 96 Die Ägyptomanie findet ihre Nahrung vorzüglich im Geheimnis, denn lange Zeit bleibt Champollions Entzifferung der Hieroglyphen angezweifelt. Wie ihr gemeinsamer Freund Johann Karl Ludwig von Schorn sind auch Böttiger und Raoul-Rochette skeptisch. 97 Öffentliche Bedenken melden Gustav Seyffarth und Ivan Aleksandrovic Goulianof an, worauf Böttiger Raoul-Rochette immer wieder aufmerksam macht. 98 Insbesondere die 91 92
93
94
95
96 97 98
Vgl. Champollion 1824, S. 5. „[...] les Égyptiens cherchèrent à copier la nature telle que leur pays la leur montrait, tandis que les Grecs tendirent et parvinrent à l'embellir et à la modifier d'après un type idéal que leur génie sut inventer." Ebenda, S. 8. „Cet art, comme je l'ai avancé ailleurs, semble ne s'être jamais donné pour but spécial la reproduction durable des belles formes de la nature ; il se consacra à la n o t a t i o n des i d é e s plutôt qu'à la représentation des choses." Ebenda, S. 9f. »[...] on a dû, s'il est permis de s'exprimer ainsi, porter des arrêts contraires à la raison comme à l'équité, toutes les fois qu'on a voulu juger l'art égyptien en prenant pour terme d'appréciation et de parallèle l'art des Grecs, c'est-à-dire celui d'un peuple totalement étranger à PÉgypte, non par la constitution physique seule, mais surtout par les mœurs, les institutions politiques et les habitudes qui décident toujours irrévocablement des progrès, de la direction et du perfectionnement de l'art." Ebenda, S. 7f. „L'art ne commence véritablement qu'au point où commence l'imitation ; et si les Grecs n'avaient jamais fait que ce que firent toujours les Égyptiens, c'est-à-dire que réproduire éternellement des figures qui n'eurent jamais de type au monde, jamais d'existence dans la nature, en d'autres termes, que de répéter sans fin des objets sans réalité, on pourrait soutenir, avec plus ou moins de fondement, que les uns ont imité les autres ; mais on dirait plus sûrement encore des uns et des autres qu'ils n'ont jamais eu d'art." Raoul-Rochette 1828, S. 7. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 5. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 3 und 5. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 3-6,10,11,18, 33, 51 und 79.
Wissenschaftsentwicklung als Bewegung im Raum
19
Bemühungen des ersteren, eines Landsmannes, den der sächsische König durch großzügige Reisestipendien unterstützt, finden Böttigers Anteilnahme, da Seyffarth ihm „Champollion's ideologische Hieroglyphen-Entzifferung" widerlegt zu haben scheint, beweise er doch „durch augenfällige Alphabete und Schrifttafeln, daß nach einem kalligraphischen und grammatisch-symbolischen Principe die Hieroglyphen im Allgemeinen weiter nichts als verzierte Buchstaben, und zwar die verzierten hieratischen Buchstaben sind, wobei sich im Verfolg wieder ausweist, daß überhaupt alle Schrift, auch die demotische und hieratische, von dem ältesten phönizischen Alphabet ausging" 99 . Böttiger behauptet Raoul-Rochette gegenüber, Seyffarth hätte Humboldt, den Fürsprecher Champollions in Deutschland, 100 mit seinen Arbeiten überzeugen können. 101 Raoul-Rochette erfährt jedoch von Humboldt selbst, daß dieser Seyffarths Auffassungen nicht teile.102 - Auch Champollions „Panthéon égyptien" wird von Böttiger für einen bloßen „catch-penny" gehalten,103 wozu ihm Raoul-Rochette lebhaft beipflichtet. 104 Noch 1828 warnt Böttiger den italienischen Ägyptologen Passalacqua vor diesem ihm immer noch problematisch erscheinenden Werk. 105 Ein weiterer geographischer Schwerpunkt liegt westwärts von Ägypten, wo laut Creuzer „die den Alten so wohl bekannten Küstenländer von Libyen in neuester Zeit gewissermaassen zum zweiten Mal entdeckt worden" 1 0 6 seien. Nach dem „Viaggo da Tripoli" von Della Cella ist es der Reisebericht eines jungen französischen Künstlers, der Aufsehen erregt. 107 99 100
101 102 103
104 105 106 107
Böttigers Korrespondentenbericht, Böttiger 1826 a, S. 395. In seiner Schrift „Uber den Zusammenhang der Schrift mit der Sprache" (1823/1824) hatte Humboldt neben denjenigen Champollions noch andere Entzifferungsversuche der Hieroglyphen erwogen. 1824 nahm er in „Uber die Buchstabenschrift in ihrem Zusammenhang mit dem Sprachbau" deutlich für das System Champollions Stellung, das er auch 1825 seinen Entzifferungsversuchen einiger Bildzeilen des ägyptischen Museums zu Berlin zugrunde legte. - Eine eingehende Darstellung von Humboldts Tätigkeit als Kulturvermittler in Frankreich ist von Markus Meßling im Rahmen des Forschungsprojektes „Wilhelm von Humboldt und Frankreich" zu erwarten, das er am 8. November 2003 gemeinsam mit Sarah Bosch im Interdisziplinären Forschungskolloquium des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin vorstellte. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 3. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 5. „U y a une chose qui lui fait beaucoup de torts aux yeux de nos antiquaires et literateurs. C'est son soi dit Panthéon Egyptien. On le prend pour une speculation, pour un catch-penny et se recrie contre l'abus, que fait l'auteur de ses vastes connoissances. Rien n'est fondé sur des bases reels." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 3. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 5. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 25. Creuzer 1834, S. 152. Pacho 1829.
20
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Noch bevor dieser publiziert wird, gibt Raoul-Rochette Böttiger einen ausführlichen Bericht von den Ergebnissen.108 Auch wenn Böttiger noch 1828 angelegentlich fragt, was es neues in Ägypten gebe,109 und 1832 Raoul-Rochettes Beurteilung der ägyptischen Altertümer beipflichtet,110 hat sich der geographische Mittelpunkt der Altertumswissenschaft nach Etrurien verlagert. Gerade war ein bedeutendes Werk eines berühmten Etruskologen abgeschlossen worden.111 Nun spannt Karl Otfried Müllers, des „unermüdlichsten" aller Archäologen, von der Berliner Akademie gekrönte Preisschrift112 bereits zwei Jahre vor ihrem Erscheinen die Erwartungen aller aufs höchste. 113 In ebendieser Zeit werden in einer Grotte bei Corneto etruskische Wandmalereien entdeckt, deren Publikation Stackelberg vorbereitet. Stackelberg, Kestner, Dorow, Gerhard und Raoul-Rochette, ein und derselbe Personenkreis findet sich zu Anfang des Jahres 1828 bald in Corneto bald in Rom zusammen.114 Zu einem derart die Gemüter bewegenden Gegenstand möchte Böttiger in seiner Zeitschrift „Archäologie und Kunst" einen „Prachtartikel" 115 bringen. In diesem sollen die Beiträge der in Corneto miteinander in Konflikt geratenen Archäologen Raoul-Rochette und Stackelberg gemeinsam erscheinen, durch eine Notiz von eigener Hand eingeleitet und von einem Aufsatz des letztaufleuchtenden und hellsten Sterns am Himmel der Etruskologie, Karl Otfried Müller, begleitet werden. 116 Der Beitrag Raoul-Rochettes, 108 109 110 111 112
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7. „Quelles nouvelles de l'Egypte ?" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 25. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 33. Inghirami 182 Iff. Die Preisfrage lautete: Das Wesen und die Beschaffenheit der Bildung der Etrusker aus den Quellen kritisch zu erörtern und darzustellen, sowohl im Allgemeinen, als auch eingehend auf die einzelnen Zweige der Thätigkeit eines gebildeten Volkes, um so viel als möglich auszumitteln, welche derselben wirklich, und in welchem Grade und Umfang ein jeder unter diesem berühmten Volke blühte. / Remonter à l'aide d'une critique éclairée, aux traditions qui existent touchant la direction propre et la progression dans la quelle s'opéra la Culture des Etrusques ; fixer ainsi le caractère distinctif de cette nation tant en général, que relativement aux divers objets aux quels s'applique l'activité d'un peuple éclairé ; et déterminer avec autant de précision possible, lesquels de ces objets furent cultivés par les Etrusques, et avec quel degré d'intérêt et de succès.
113
Böttiger an Raoul-Rochette: „Vous savez que l'Archéologue le plus infatigable Ottfr. Muller à Goettingue fait imprimer son ouvrage sur l'ancienne Hetrurie couronné par l'Academie de Berlin, qui avoit proposé cette question. Cela Vous doit intéresser à plus d'un titre." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 11. - „l'ouvrage, attendu avec tant d'impatience, de M. ott. Müller" Nr. 16. Vgl. auch Nr. 1 4 , 1 5 , 1 8 , 2 3 und 26.
114
Vgl. Dorows Briefe an Böttiger, S L U B , Msc. Dresd. h 37,4°, Bd. 33, Nr. 49ff. Böttiger an Dorow. Dresden 3. Dezember 1828, S L U B , Msc. Dresd. h 37, Suppl. 6 m . Zum Scheitern dieses Projektes siehe unten.
115 116
Wissenschaftsentwicklung als Bewegung im Raum
21
dessen ursprüngliche Fassung innerhalb der Korrespondenz mit Böttiger überliefert ist und der sich in der ersten Hälfte mit der Malerei der Etrusker, in der zweiten anläßlich eines epigraphischen Problems auch mit ihrer Sprache beschäftigt, 117 berücksichtigt die gesamte bis dahin auf diesem Gebiet vorliegende Forschung. 118 Andererseits werden während der gesamten Periode der Korrespondenz in etruskischen Nekropolen kostbare Vasen entdeckt, über deren Zuschreibung an griechische oder etruskische Künstler unter den Archäologen Uneinigkeit herrscht.119 Allmählich aber verlagert sich der Schwerpunkt des Interesses auf Griechenland selbst. Während der türkischen Herrschaft waren nur selten griechische Werke nach Europa gelangt. Großes Aufsehen hatte beispielsweise die Erwerbung der Basreliefs des Parthenon durch Lord Elgin erregt.120 Ältere Nachrichten über Griechenland wie die von Michel Fourmont zusammengetragenen Inschriften,121 die von Nointel ausgeführten Zeichnungen 122 und die von Villoison angefertigten, in der Pariser Bibliothek aufbewahrten Aufzeichnungen 123 besitzen weiterhin ihren (wenn auch aufgrund ihrer schweren Uberprüfbarkeit gelegentlich angefochtenen) Wert. Zwar gibt es immer wieder Reisende, die sich nach Griechenland wagen, doch sind sie immer noch selten genug, „daß über ein so interessantes Land, als Griechenland, auch ein unwichtiger Mann etwas liefern könne, das wenn schon nicht immer ganz ungesagt, doch wenigstens nicht zu bekannt ist." 124 Oftmals betrachten diese Reisenden ihre wissenschaftliche Bildung als eine Liebhaberei, die keineswegs in Pedanterie ausarten dürfe, 125 und dilettieren dennoch in der Altertumskunde.126 Zu den seltenen Griechenlandreisenden hatten in den Jahren von 1810 bis 1814 Peter Oluf Brandsted, Georg Hein117 118
119 120 121 122 123 124 125
126
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 16. Siehe im Register von Böttiger/Raoul-Rochette unter Amaduzzi, Buonarrotti, Canino, Caylus, Dubois-Maisonneuve, Gerhard, Hancarville, Inghirami, Lanzi, Miliin, Passeri, Vermiglioli. Vgl. z. B. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 39. Vgl. Böttiger 1817. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 3. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 36 und 37. Bartholdy 1805, S. VI. „Meine literarischen Hülfsmittel waren schnell zusammengeraffte Bücher, oft erst wegen der Eile, an Ort und Stelle gelesen, und mehrere Jahre vorhergegangenes Studium auf der Universität; das aber durchaus die classische Litteratur als Nebensache betrachtete, so wie diese ja überhaupt nur bei uns von Schulmännern und Philologen von Profession, mit einigem Ernste behandelt wird. / Meine Reise war eigentlich das, was die wohlhabenden Britten ihre grande tour nannten; mehr geeignet, mich für die Gesellschaft auszubilden, als der Welt Nutzen zu bringen." Ebenda, S. V. „Für den zweiten Theil habe ich mir die speciellen Beschreibungen der Ruinen und Alterthümer Griechenlands aufgespart". Ebenda, S. IX.
22
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
rich Carl Koës, Karl Haller von Hallerstein, Otto Magnus Freiherr von Stackelberg, Jakob Linckh, Charles Robert Cockerell und John Foster gehört, die in Athen die erste internationale archäologische Vereinigung, das Xeneion, gegründet hatten. 127 Die Forschungen Brendsteds 128 und Stackelbergs 129 werden nun gerade in der Zeit des Briefwechsels zwischen Böttiger und Raoul-Rochette publiziert und von den beiden Korrespondenten umso lebhafter diskutiert, als Raoul-Rochette zu beiden in ein Spannungsverhältnis gerät. Insbesondere Brandsteds „Reisen und Untersuchungen in Griechenland" erregen ihre Aufmerksamkeit: Handelt es sich hier etwa um ein Plagiat der Villoisonschen Aufzeichnungen? 130 Mit dem Befreiungskampf der Griechen wird Griechenland nun auch „ernsthafteren" Wissenschaftlern zugänglich. Nach dem Modell des Ägyptenfeldzuges verbindet Frankreich wissenschaftliche und militärische Mission. Neben Georges Léopold Chrétien Frédéric Baron Cuvier, Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, Charles Percier, Jean Nicolas Huyot und Karl Benedikt von Hase gehört Raoul-Rochette der Kommission des Instituts an, die die archäologische Ausbeute beurteilt. Er faßt dieses Urteil im „Journal des Savans" zusammen.131 Sein Freund Böttiger erfährt von ihm aus erster Hand, daß er und Hase bereits an der Erarbeitung der Instruktionen beteiligt waren und die Auswertung betreuen werden. 132 Dennoch wird eine Reise nach Griechenland immer noch als ein großes Wagnis angesehen, wird doch tatsächlich Karl Otfried Müller im Jahre 1840 kurz vor Vollendung seines dreiundvierzigsten Lebensjahres in Griechenland „sein Leben der Wissenschaft zum Opfer" 1 3 3 bringen. Als sich der Münchner Friedrich Wilhelm Thiersch im Jahre 1831 entschließt, nach Griechenland zu reisen, warnen ihn die Freunde Christian Friedrich Wilhelm Jacobs und Creuzer vor den „Gefahren [...] unter dem verwilderten Volke, neben andern, mit denen Clima und Lebensart droht", 134 und beschwören ihn, „in einem andern Jahre, wenn erst die Medicinalpolizei in Griechenland besser beschaffen ist", Schüler an seiner Stelle nach Griechenland zu schicken, „junge Männer, die solche Mühseligkeiten eher zu ertragen im 127
Sie verkauften die Friese der Tempel von Agina und Bassa: an die Bayerische Glyptothek bzw. das Britische Museum. Vgl. Gran-Aymerich 2001, S. 729. - Eine kurze Schilderung des Freundeskreises gibt Brondsted in der Vorrede zu Brendsted 1826 ff.
128
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7, 8 , 1 0 , 1 1 , 2 1 , 36, 37 und 39. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 31, 36, 51 und 62.
129 130 131 132 133 134
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 36, 37 und 39. Raoul-Rochette 1831. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 37. Müller, E. 1847, S. LXVIIIf. Jacobs an Thiersch. Gotha, 15. Juli 1831, Thiersch 1866, S. 43-44, hier S. 43.
Wissenschaftsentwicklung als Bewegung im Raum
23
Stande sind".135 Dank seines großen Ansehens von Seiten der zerstrittenen griechischen Freiheitsbewegung sowie der internationalen Diplomatie trägt der Philhelene Thiersch, obgleich er als Privatmann „pour ion propre compte" 136 reist, wesentlich dazu bei, daß ein bayerischer Prinz auf den neubegründeten griechischen Thron gelangt, nachdem er das von Capodistria errichtete Herrschaftssystem als Diktatur entlarvt hatte. Sowohl Böttiger 137 als auch Raoul-Rochette 138 korrespondieren bereits zum Zeitpunkt seiner Abreise mit Thiersch. Böttiger kommentiert gegenüber RaoulRochette die Situation in Griechenland, als sich herausstellt, daß Thiersch tatsächlich auf eigene Rechnung gereist war. 139 Größere Aufmerksamkeit schenken die beiden Korrespondenten jedoch den Beobachtungen, die Thiersch, sein ihn begleitender Zeichner, Eduard Metzger, und der Holsteinische Architekt Gottfried Semper, der sich ihnen beigesellt hatte, während des Winters 1831/1832 am Theseustempel zu Athen angestellt hatten.140 Diese Augenzeugenberichte sollen - so will es Raoul-Rochette - die These, daß die große griechische Malerei Tafelmalerei gewesen sei, abstützen. Auf diese Weise legt die Archäologie bei der sukzessiven Auswahl und Privilegierung von Forschungsgegenständen und damit überhaupt bei der Konstituierung ihres Objekts einen Weg von Ägypten über Etrurien nach Griechenland zurück, der eng an die Reisetätigkeit der Archäologen anschließt. 135 136 137
138
139 140
Creuzer an Thiersch. 24. Juli 1831, ebenda, S. 44-47, hier S. 45. Thiersch an Fürst Wrede. Nauplia, 12. Januar 1832, ebenda, S. 110-113, hier S. 111. Briefe Thierschs an Böttiger liegen in der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden: Msc. Dresd. h 37, 4°, Bd. 201, Nr. 1-4, 9-55. Briefe Böttigers an Thiersch befinden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Thierschiana 1.87. Briefe von Thiersch an Raoul-Rochette werden in der Bibliothek des Institut de France aufbewahrt: MSS. - 2065 (t. LXV), pièce 190 - pièce 195. In dem frühesten überlieferten Schreiben Thierschs, München, 10. Juli 1831, unterrichtet dieser RaoulRochette selbst über die bevorstehende Griechenlandreise: „Je suis sur le point de faire un voyage en Grèce, ou je resterais jusque au mois de mai l'an 1832. Mon depart est fixé le 15 août et je serais heureux d'avoir de vous et de vos savants amis des avis, des conseils et des commissions pour ce voyage, si il etoit possible de me les faire parvenir ici à Munie avant le 15 août ou en Grèce même par votre consul general. Je comte y arriver à la fin du septembre et je ne manquerai pas de m'informer de temps en temps chez ce personage publique et même chez les secretaires du president, si peut-être il y aura quelque communication de votre part pour moi.", pièce 191. Briefe Raoul-Rochettes an Thiersch befinden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München, Thierschiana 1.87 Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 62. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 69-84. Zu Thierschs Beobachtungen am Theseion vgl. auch Thierschs Brief an Raoul-Rochette, München, 24. März 1834, Bibliothèque de l'Institut de France, MSS. - 2065 (t. LXV), pièce 19. Zu Thierschs, Metzgers und Sempers Aufenthalt in Athen vgl. Thiersch an seine Frau. Nauplia, 17. Januar 1832, Thiersch 1866, S. 120-127.
24
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Parallel dazu lassen Böttiger und Raoul-Rochette immer wieder Blicke an die nördliche Grenze der griechischen Weltkarte schweifen. Dazu trägt vor allem der in Sankt Petersburg wirkende Köhler bei, der sich beispielsweise in einem Werk mit dem Thunfischfang im südlichen Rußland in der Antike beschäftigt.141 Da es sich bei diesem berühmten Numismatiker um einen Gegner Raoul-Rochettes handelt, bereitet es diesem ein besonderes Vergnügen, baktrische Münzen, die ihm aus Buchara über Sankt Petersburg zugekommen sind, zu publizieren und so die Galle seines Gegners zu reizen.142 Aber auch auf französischem und deutschem Boden werden Zeugnisse der Antike zutage gefördert. So beschäftigt sich Jean Baptiste Félix Lajard mit dem Mithrakult, wozu er auch in Frankreich Monumente findet. 143 Creuzer, dessen „Mithreum zu Neuenheim" erst 1838 erscheinen wird, widmet sich den Antiken am Oberrhein und Neckar,144 interessiert sich für die antiken Gemmen in Marburg. 145 Die Aufwertung der Provinzialaltertümer ist durchaus neu 146 und bedarf der Rechtfertigung.147 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der geographische Raum, aus welchem den Archäologen das Material gegen Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts reichlich zufließt, sich erheblich vergrößert. Bleibt die deutsche Philologie für ganz Europa mustergültig,148 so konzentrieren sich 141 142
143 144 145 146
147
148
Köhler 1832. Vgl. dazu Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 51. „le pauvre M. de Koehler va se livrer sans doute à un nouvel accès de colère contre moi, en me voyant publier, sans son agrément, des médailles de la Bactriane qu'il n'a pas connues, et qui nous sont arrivées de la Bouckhare, en passant par st Pétersbourg ; c'est une petite malice de ma part ; et ce sera la seule vengeance de ses mauvais procédés." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 68. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14,25 und 78. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 59 und 60. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 75-79. Dorow an Böttiger am 12. Januar 1821 über die Probleme bei seiner Tätigkeit als Direktor des Akademischen Kunstmuseums Bonn, das er als ein Museum vaterländischer Altertümer konzipierte: „Welcker lacht über Alles was nicht in Italien gefunden ist u glaubt daß es des Bewahrens nicht Werth ist". SLUB, Msc. Dresd. h 37, 4°, Bd. 33, Nr. 31. - Noch am 24. April 1847 wird Welcker an Jahn schreiben: „Ich bin für die Provincialalterthümer verdorben durch die lange Gewohnheit der für sich besseren in den griechischen Landen selbst und in Italien." Kekulé 1880, S. 404. Vgl. dazu: Ehrhardt 1982, S. 26-37. „Zwar können wir daheim keine solchen Schätze erwarten, wie Griechenland bisher den Fremden geliefert, und wie es sie jetzt seinen frei gewordenen Bewohnern in noch reicherem Masse verspricht. Es sind fast durchaus nur Römische Ueberreste, die unsere vaterländische Erde in ihrem Schoose verbirgt. Aber Alles was Römisch heisst und ist, enthält die Anfänge unserer Rheinischen Civilisation." Creuzer 1832, S. 2. - Es folgen Ausführungen zu Weinbau, Ackerbau, Schiffahrt, Gewerbe, Einführung des Christentums usw. Vgl. z. B. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 31,45 und 51.
Archäologische Editionen im Zeitraum von 1824 bis 1835
25
die neuentdeckten Antiken und Nachrichten von Neuentdeckungen in immer stärkerem Maße in Paris, da, wie Böttiger bemerkt, die Tauben nun einmal dorthin fliegen, wo schon Tauben sind: „Ubi columbae, illuc advolant collumbae." 149 Folglich zieht es die deutschen Archäologen wie Sillig, 150 Creuzer, 151 Friedrich Gottlieb Welcker, Panofka, 152 Dorow, 153 Anton Steinbüchel von Rheinwall 154 und Semper 155 in diese Stadt, wo auch wichtige archäologische Werke von Ausländern wie Brendsted 156 oder Stackelberg 157 publiziert werden, wo sich die internationale „coterie de l'Institut archéologique" 158 sammelt. In Hinblick auf die Konstitution des Objekts des Diskurses ist festzuhalten, daß der Objektbereich sich sowohl in Bezug auf die Anzahl der einbezogenen materiellen Objekte als auch in Bezug auf die Mannigfaltigkeit ihrer geographischen Provenienz vergrößert. Gleichzeitig wird auch insofern eine Hierarchisierung der Objekte sichtbar, als Monumente bestimmter geographischer Herkunft zu bestimmten Perioden eine besondere Berücksichtigung finden. Archäologische Editionen im Zeitraum von 1824 bis 1835 In seiner oben zitierten Arbeit hebt Creuzer zunächst die Vermehrung des archäologischen Stoffes hervor. Neben den archäologischen Entdeckungen nennt er die Nachformungen und Abbildungen derselben. Diese Beobachtung muß uns besonders interessieren, weil das Objekt des Diskurses nicht mit den materiellen Objekten, die nur seinen Stoff liefern, identisch ist. Wichtig ist, wie der Diskurs diesen Stoff formt. Unter den archäologischen Editionen räumt Creuzer in seinem Überblick Raoul-Rochettes „Monumens inédits" einen hervorragenden Platz ein, von welchen er sagt, daß kein Werk der letzten Jahre „eine so grosse Zahl von bildlichen Darstellungen bis jetzt unbekannter oder vernachlässigter, wie auch jüngst aufgefundener Antiken und Anticaglien enthalten" möchte. 159 Da das vor149
150 151 152 153 154 155 156 157 158 159
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 8. Vgl. auch z. B. Nr. 7 , 1 1 , 1 6 , 63 und 72. Vgl. weiterhin Nr. 30, wo Rom, Neapel, München und Paris als Zentren der Archäologie aufgezählt werden. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 1. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 11. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 13. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 26. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 43. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 69. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 36. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 37. Vgl. auch Nr. 38 und 56. S. 163-164.
26
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
ausgehende Kapitel vorliegender Arbeit die quantitative Vermehrung des archäologischen Materials bereits verdeutlicht, sollen hier nur einige wichtige Editionen, auf die der Briefwechsel zwischen Böttiger und RaoulRochette auch eingeht, genannt werden, die im Zeitraum des Briefwechsels erscheinen: Francesco Inghiramis „Monumenti etruschi" 160 von 1821 bis 1826, im letztgenannten Jahr Stackelbergs „Apollotempel zu Bassae" 1 6 1 , ab ebendiesem Jahr Brandsteds „Reisen" 1 6 2 , 1827 Stackelbergs „Älteste Denkmäler der Malerei aus den Hypogäen von Tarquinii" 163 , ab diesem Jahr Inghiramis „Galleria Omerica" 1 6 4 , „Die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemälde aus Pompeji, Herculanum und Stabiae" von Johann Karl Wilhelm Zahn 1 6 5 , ab 1828 Gerhards „Antike Bildwerke" 1 6 6 , ab 1830 Christian Karl Josias Freiherr von Bunsens, Ernst Zacharias Platners und Gerhards „Beschreibung der Stadt Rom" 1 6 7 , 1832 Giuseppe Micalis „Monumenti". 168 Wenn man sich an solche in jener Zeit immer noch hochangesehenen und stark benutzten Ausgaben wie Winckelmanns „Monumenti antichi inediti" von 1767 und Millins ab 1802 erschienene „Monumens antiques inédits" erinnert, so wird man vor der Behauptung zurückscheuen, daß die archäologische Edition erst in dem hier betrachteten Zeitraum einsetzt. Doch erreicht sie in dieser Periode eine beeindruckende Intensität, und zwar, wie die bei weitem nicht vollständige Aufzählung verdeutlicht, bereits vor der Gründung des Instituto di corrispondenza archeologica am 9. Dezember 1828. Böttiger und Raoul-Rochette gehen auf diese Neuerscheinungen in unterschiedlichem Maße ein. Gelegentlich erlaubt ihre Korrespondenz, die Druckgeschichte einzelner Werke zu verfolgen. So berichtet RaoulRochette am 21. Dezember 1827 von Stackelbergs Arbeit an der Ausgabe der Grabmalereien von Tarquinii, 169 am 24. Februar des Folgejahres erfährt er dann wiederum von Böttiger, daß an dem Werk bereits in München gedruckt wird, 170 einen Monat später, daß der Druck sich verzögert, 171 und im Herbst desselben Jahres, daß Stackelberg nun auf der Reise von Rom 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 15. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 18. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 21.
16. 31. 7, 8, 10, 11, 21, 36, 37 und 39. 15,18, 21 und 23. 25. 21. 13-16. 14. 16.
Archäologische Editionen im Zeitraum von 1824 bis 1835
27
nach Livland in München haltgemacht hat, um den Druck des Werkes persönlich zu überwachen.172 Solche Mitteilungen, die für uns von historischem Interesse sind, werden von den beiden Archäologen erbeten und erteilt, um die aktuelle wissenschaftliche Entwicklung genau verfolgen zu können. So erkundigt sich Raoul-Rochette Anfang Oktober 1827, ob der Druck der ungeduldig erwarteten „Antiken Bildwerke" des von ihm geschätzten Eduard Gerhard schon begonnen habe,173 wird Anfang November von Böttiger darüber unterrichtet, daß sich Gerhard in München der Durchsicht des Werkes widme, von dem bereits 60 Tafeln auf Cottas Kosten lithographiert seien,174 und kann dann bereits im Dezember das soeben erschienene erste Heft in seiner Publikation über die Grotten von Tarquinii zitieren.175 Die Entstehung, Verbreitung und frühe Rezeption von Brendsteds „Reisen und Untersuchungen in Griechenland" ist gleichfalls dokumentiert. Am 7. Februar 1826 hat Raoul-Rochette, der darüber Auskunft gibt, daß er an der Durchsicht des deutschen Textes und bei der Fahnenkorrektur mitgewirkt hatte, den ersten Band des splendiden Werks bereits in den Händen,176 während Böttiger noch am Ende des Monats ungeduldig darauf wartet.177 Am 1. Mai lobt dieser dann sowohl den prächtigen Didotschen Druck als auch den Verfasser, zeigt das Buch öffentlich an178 und läßt dem Autor im Oktober über Raoul-Rochette ein Exemplar seiner Rezension zukommen, seiner ungeduldigen Erwartung des zweiten Bandes Ausdruck gebend,179 die auch zwei Jahre später nicht nachgelassen hat.180 Schließlich folgt 1830 der Skandal, ausgelöst durch den öffentlichen Plagiatsvorwurf gegen das vielgerühmte Werk.181 Festzuhalten ist, daß die an der Philologie orientierte aus Text- und Abbildungsteil bestehende Edition von Monumenten eine der wichtigsten Formen ist, in denen das Objekt des Diskurses Archäologie erscheint.
172 173 174 175 176 177 178
179 180 181
Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 23. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 13. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 15 und 16. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 8. „Le voyage de Bronstedt en Grece fait honneur à l'auteur sous tous les titres, mais il est interessant aussi aux bibliophiles Allemands étant le premier ouvrage allemand qui soit sorti de la presse de Didot. Quelle splendeur ! Je Vous communique une feuille d'un journal qui se publie à Dresde avec mes extraits du dit ouvrage." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 10. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 11. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 21. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 36, 37 und 39.
28
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Die Rezeption mythologischer Forschungen durch die Archäologen im Zeitraum von 1824 bis 1835 In der bereits mehrfach zitierten archäologiegeschichtlichen Analyse zählt Creuzer unter die Fortschritte auf dem Gebiete der Archäologie, daß die Archäologen unermiidet gewesen seien, „die gründlichere Erkenntniss der altclassischen Poësie, und die Ergebnisse der tieferen und umfassenderen Untersuchungen der Mythologie auf die Auslegung der Antiken anzuwenden".182 Bei den tieferen mythologischen Untersuchungen mag Creuzer durchaus seine eigenen Arbeiten im Auge gehabt haben. Seit 1821 lag die „Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe" seiner „Symbolik" vor, zu der bis 1823 noch zwei Ergänzungsbände von Franz Joseph Mone getreten waren. Der Kampf um Creuzers Symbolik 183 schwelt in den zwanziger und dreißiger Jahren noch und wird auch von den beiden Korrespondenten reflektiert. So weist Böttiger Raoul-Rochette auf postume mythologische Publikationen von Creuzers erbittertstem Gegner, Johann Heinrich Voß, hin und scheint aufzuatmen, als Creuzer sich vom mythologischen Studium ab- und dem der Platoniker zugewandt habe.184 An anderer Stelle nennt er Creuzer, obgleich dieser von allen Seiten aufgrund seiner symbolischen Interpretation angefochten werde, einen der ersten Schriftsteller Deutschlands.185 Raoul-Rochette dagegen ehrt den „illustren Autor der Symbolik" 186 und wendet die von Creuzer vorgeschlagene symbolische Interpretation der Farben auf die etruskischen Wandmalereien von Tarquinii an, wo er in einem weißen und einem schwarzen Kinde die Genien des Todes und des Lebens wiedererkennt. Dabei zitiert er sogar in Originalsprache, daß wir hier „ein Überbleibsel dieser ganzen Sinnbildnerei von Auf- und Untergang, Tod und Leben, in allen bemerkten Bedeutungen" finden.187 Aber auch die Bemühungen anderer Mythologen finden die Beachtung der beiden Briefpartner, z. B. Karl Otfried Müllers Plädoyer für eine astronomische Mythologie.188 Das von den Archäologen praktizierte Studium der antiken Mythologie und Poesie ist insofern von großer Bedeutung, als es seit Winckelmann als 182 183 184 185
186 187 188
Creuzer 1834, S. 143. Vgl. Howald 1926 sowie Münch 1976. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14. „Mr. Creuzer range toujours parmi les premiers litérateurs de notre patrie, quoiqu'il soit attaqué de tous côtés à cause de son interprétation symbolique." Böttiger/ Raoul-Rochette, Nr. 36. „l'illustre auteur de la Symbolique" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 76. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 16. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 73 und 74.
Die Rezeption mythologischer Forschungen durch die Archäologen
29
erwiesen galt, daß die Mythologie den wesentlichen Darstellungsgegenstand der antiken Kunst bilde.189 Doch war sie nicht deren einziger Objektbereich. Einen anderen erforschte die Ikonographie, in welcher wenige Jahre zuvor der inzwischen verstorbene Ennio Quirino Visconti brilliert hatte, dessen Werk nun in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Antoine Mongez fertiggestellt wird.190 Es handle sich darum, alle überlieferten Portraits bekannter Persönlichkeiten des Altertums zu erfassen.191 Viscontis Werke werden Ende der zwanziger Jahre von Giovanni Labus herausgegeben und 1831 von Raoul-Rochette rezensiert.192 Gleichzeitig hält die Auseinandersetzung mit den ikonographischen Forschungen Viscontis an.193 Der Begriff Ikonographie gehe laut Visconti auf den Titel eines Werkes von Giovanni Angelo Canini aus dem Jahre 1669 zurück.194 Die Ikonographie grenze sich von der Ikonologie ab, welche ihrerseits die charakteristischen Züge und begleitenden Gegenstände mythologischer Figuren herausarbeite.195 Seitdem Christian Gottlob Heyne die Interpretation in den Mittelpunkt der antiquarischen Forschung gerückt hatte und die Mythologie als der grundlegende Stoff erkannt worden war, stand die Ikonologie im Mittelpunkt der Forschung. Bedeutsames hatte hier Böttigers Freund Miliin mit Werken wie seiner „Galerie mythologique" geleistet, die Karl Otfried Müller 1832 in Kooperation mit dem Künstler und Kunsthistoriker Karl Wilhelm Osterley durch ein moderneres Werk zu ersetzen bemüht ist.196 Auf Böttigers kritische Auseinandersetzung mit Millins Auffassungen soll an anderer Stelle eingegangen werden, da diese in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts einsetzt und insbesondere ab 1806 in den Dresdener Vorlesungen geführt wird. Da es in diesem Moment um die Widerspiegelung 189
190
191 192 193 194 195
196
„Aber die Erfindung der Kunst ist verschieden nach dem Alter der Völker, und in Absicht der früheren oder späteren Einführung des Götterdienstes, so daß sich die Chaldäer und die Ägypter ihre eingebildeten höheren Kräfte, zur Verehrung zeitiger als die Griechen, werden sinnlich vorgestellt haben." Winckelmann 1870, S. 18. Visconti 1811 und Visconti 1817. Zu Visconti 1817 erschienen 1821-1829 von A. Mongez die Bände 2-4. Vgl. Visconti 1811, S. 1. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 43, 46 und 50. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 79. Visconti 1811, S. 21. „La connoissance et la recherche des portraits des hommes illustres a été, depuis cet ouvrage, désignée par le nom d ' I c o n o g r a p h i e , et on a réservé celui d ' I c o n o l o gie, qui a presque la même signification, à l'étude et à la recherche des traits et des attributs caractéristiques, propres à faire reconnoitre, non les portraits des hommes illustres, mais les figures des personnages mythologiques et allégoriques dont les arts sont obligés très souvent de représenter les images." Ebenda. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 51.
30
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
der archäologischen Entwicklung der zwanziger und dreißiger Jahre in der Korrespondenz zwischen Böttiger und Raoul-Rochette geht, muß an dieser Stelle nur auf den Abdruck der genannten Vorlesungen unter dem Titel „Ideen zur Kunst-Mythologie" im Jahre 1826 hingewiesen werden. In diesem Werk bindet Böttiger die künstlerische Bewältigung des Mythos an eine völkerübergreifende Religionsgeschichte an. Er schickt dieses Buch, in welchem er sich in der zeitgenössischen mythologischen Debatte zwischen Symbolikern und Antisymbolikern positioniert, Raoul-Rochette im Jahre 1827 zu.197 Dieser fährt jedoch zunächst fort, sich auf seine Weise mit der Mythologie zu beschäftigen. Die Mythologie bietet ihm nämlich für die „Monumens inédits" das Gerüst, um die Fülle des Materials innerhalb der Edition zu ordnen. Dabei unterscheidet er die Heroengeschichte von der mythologischen Geschichte im engeren Sinne.198 Da der von den göttlichen Wesen handelnde Mythos jedoch den Heldenmythos durchwebt, so daß der zweite gewissermaßen Bestandteil des ersten ist, wendet Raoul-Rochette den Begriff Mythos gleichermaßen auf Götter- und Heldengeschichte an.199 Ursprünglich sollten die „Monumens inédits" zwei Zyklen umfassen, den homerischen und den mythischen. Im Sommer 1832 faßt er dann die Möglichkeit ins Auge, das Werk mit dem ersten Teil, dem Cycle héroïque, abzuschließen.200 Dieser behandelt nacheinander die Mythen dreier Helden, Achilles, Orest und Odysseus, wobei der Mythos von Peleus als Vorspiel zur Geschichte des ersten der drei Heroen mitbehandelt wird. Diese Methode gestattet RaoulRochette, isolierte Monumente aufeinander zu beziehen, so daß sie sich gegenseitig erhellen. Manches Monument kann durch die im Vergleich hervortretenden Parallelen zu einem anderen erst gedeutet werden. So erkennt er in bisher auf verschiedene Weise interpretierten Darstellungen den Raub der Thetis durch Peleus.201 Da die dargestellte Szene so in ihrer Position 1.7
1.8 1.9
200
201
„Mon dernier envoi, qui contenoit le I Volume de mes Idees sur la mythologie avec une longue preface, dans laquelle j'avois déposé mes confessions sur les différens systèmes de nos mythologues en Allemagne" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 12. „l'histoire héroïque et mythologique des grecs" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 16. Vgl. z.B. „l'enlèvement de thétis par Pélée [...] ce mythe célébré" Böttiger/RaoulRochette, Nr. 22. „cette livraison, dis-je, terminera la première partie, ou le cycle homérique, de mes Monumens inédits ; et si je dois en rester là, s'il ne m'est pas donné de continuer mon travail, en abordant le cycle mythique, j'aurai payé, bien faiblement sans doute, mon tribut à la science, et ce sera ma consolation." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 50. „j'éclaircis par une foule d'observations, tout ce qui a rapport à ce mythe célébré, Sur tous les monumens, en partie méconnus jusqu'ici, qui nous en restent, particulièrement Sur les vases grecs, dont une classe nombreuse, présentant un héros poursuivant une nymphe, où l'on a vu jusqu'ici une foule de sujets divers, me paroit devoir être avec certitude restituée à ce même mythe." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 22.
Die Rezeption mythologischer Forschungen durch die Archäologen
31
innerhalb der nicht, unvollständig oder allusiv zur Darstellung gelangten narrativen Struktur des Mythos betrachtet wird, geht eine derartige Mythenbehandlung weit über die bloße Katalogisierung der Attribute der Götter und Helden hinaus. Ja, es können sogar Charakteristika des Mythos herausgearbeitet werden, die die literarische Überlieferung verschweigt. Ein Hauptverdienst dieser Methode besteht laut Böttiger darin, daß der traditionellen, in Stagnation geratenen Mythologie ein neuer Impuls erteilt und neue Attraktivität verliehen werden. 202 - Allerdings birgt diese Methode die Gefahr in sich, den Mythos, mit welchem sich der Archäologe zufällig gerade beschäftigt, auf alle möglichen ihm vor Augen kommenden Darstellungen zu projizieren. Diesen Vorwurf erhebt zumindest RaoulRochettes Feind Köhler offen in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung".203 Aber auch Böttiger äußert Kritik. 204 Als Raoul-Rochette in dem Mars der Villa Ludovisi einen Achilles zu erkennen vermeint, äußert sich Böttigers Skepsis in verhaltener Zustimmung.205 Doch spricht er dritten Personen gegenüber weiter vom „Ludovisischen Mars (Rochette müht sich vergebens)"206. Skepsis bringt Böttiger auch angesichts von Raoul-Rochettes Interpretation einer apulischen Vase zum Ausdruck, da es ihm hier zweifelhaft erscheint, daß eine semantische Beziehung zwischen den dargestellten Gegenständen und eine kohärente Aussage des Vasengemäldes in seiner Gesamtheit existiere.207 - Daneben werden die traditionellen ikonologi202
203
204
205 206
207
„J'admire surtout Votre art de faire une espèce d'epopèe de Vos recherches en choisissant un thème genera/ tel qu'Achille et en faisant entrer comme épisodes dans ce quadre des recherches ultérieures. Cela donne de nouveaux attraits a cette mythologie dont nous avons perdu le gout comme d'un vieux rachauffé." Böttiger/RaoulRochette, Nr. 25. „Schon gleich am Anfange dieser M o n u m e n s i n é d i t s findet der Leser zu seiner grossen Befremdung, dass Hr. R a o u l - R o c h e t t e , wenn er einmal einen Gegenstand berührt und zu behandeln versucht hat, denselben nun auf unzähligen anderen Denkmälern zu finden glaubt, wo er in Wahrheit nicht zu suchen ist. Ein Fehler, der nur zu sehr Einseitigkeit, nebst grossem Mangel an Erfahrung, an Einsicht und an Beurtheilung, beurkundet." Köhler 1832a, hier Sp. 211. - Vgl. dazu Böttiger/RaoulRochette, Nr. 51, 52 und 62. „II est très possible, mon excellent ami, que quelques antiquaires un peu difficiles à convertir ne puissent être persuadés, que chaque peinture de vase, chaque monument, que vous citez doivent être envisagé sous le point de vue, que Vous indiquez." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 28. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 62. Böttiger an Müller. Dresden, 12. Dezember 1833, Reiter 1950, Nr. 52, Bd. 1, S. 215f., hier S. 215. „Le travail de tous ces grandi vases est grossier, le développement des mythe* y représentés d'autant plus difficile que les peintres qui y ont travaillés ont entassé pêle mêle des dessins à leur portée sans gout et sans choix. J'aurois grand peur de m'y compromettre hasardant une explication quelconque." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 38.
32
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
sehen Probleme weiter diskutiert. So blamiert sich Letronne, indem er in einer schlangenfüßigen bartlosen Figur den Titanen Atlas erblickt, und gibt Raoul-Rochette Anlaß zu einer systematischen Untersuchung über die Darstellungsformen des Atlas auf antiken Kunstwerken. 208 Daneben zeichnet sich in den Briefen deutlich eine Beeinflussung RaoulRochettes durch Böttiger in der Mythenbehandlung ab. Böttiger schickt seinem Freund, der inzwischen jedoch nach Italien aufgebrochen ist, seine „Ideen zur Kunst-Mythologie" zu. 209 Dieser verwendet dieses Werk, in dem er ein „Jahrhundertbuch" sieht, sogleich in dem Jahr nach seiner Rückkehr in seinen archäologischen Vorlesungen.210 Aber erst einige Jahre später, im Frühjahr 1834, setzt eine tiefergehende Rezeption von Böttigers Auffassungen ein. Als Raoul-Rochette sich nämlich nach Abschluß der „Monumens inédits" einer Kunstgeschichte zuwenden will und die Darstellungselemente betrachtet, die aus dem Orient nach Etrurien und Griechenland übernommen worden sind, findet er sich auf ganz natürliche Weise auf einem von Böttiger vorgegebenen Wege. Bereits früher hatte er darauf hingewiesen, daß sich die gleichen mythologischen Sujets auf griechischen Vasen, etruskischen Urnen und römischen Basreliefs, also Objekten unterschiedlicher Natur und Provenienz, wiederfinden. Erklärt hatte er diese Gemeinsamkeit durch die gemeinsame Funktion; all diese Objekte dienten dem Totenkult. 211 Nun aber weitet Raoul-Rochette diesen kulturübergreifenden Blick über die Grenzen des Kontinents hinaus aus und findet im Gefolge Böttigers Beziehungen zwischen dem Geist der asiatischen Religionen und den europäischen antiken Kunstgegenständen, wobei ihm die Böttigerschen Hypothesen durch die aktuellen Funde bestärkt wer-
208 209 210
211
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 74 und 75. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 12. „faites mes amitiés à M. Sillig, de qui j'ai reçu enfin le C a t a l o g u s , que j'ai cité souvent et toujours avec l'honneur que mérite cet intéressant travail, dans mes Cours d'Archéologie de cette année. J'ai aussi profité beaucoup de vos excellentes Ideen zur Kunst-Mythologie qui sont un des livres du Siècle." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 24. „J'ai recueilli, dans l'immense trésor de Rome, beaucoup de ces inscriptions, la plupart inédites ou peu connues, toutes, plus ou moins utiles à l'objet que je me propose, et qui est moins encore l'explication des monumens eux-mêmes, science aujourdhui si avancée, que la connoissance des motifs qui firent adopter tant de faits de l'histoire mythologique et héroïque de la grèce, pour en orner les vases g r e c s , les u r n e s é t r u s q u e s , et les s a r c o f a g e s r o m a i n s , monumens d'époque et de nature très-diverses, que je regarde comme produits d'après les mêmes vues, et comme ayant eu une destination commune, c'est-à-dire, comme des m o n u m e n s f u n é r a i r e s . " Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 16.
Die Rezeption mythologischer Forschungen durch die Archäologen
33
den.212 Einige Monate später bewegt sich Raoul-Rochette weiter auf der Bahn von Asien, Babylonien, Phönizien, Ägypten nach Europa fort, die ihm in Böttigers „Kunst-Mythologie" vorgezeichnet ist,213 einem seiner Lieblingsbücher, dessen Verfasser er einem antiken Autor gleichstellt.214 Hatte Raoul-Rochette von Anfang an im Mythos den zentralen Gegenstand gesehen, den man, ohne alles übrige in Bewegung zu versetzen und zu berühren, nicht behandeln kann,215 so wird dieser ihm nun unter dem 212
„Maintenant, que je suis entièrement livré à la composition de mon Histoire de l'art, que je recueille partout les matériaux qui doivent servir à élever ce grand édifice, dût l'architecte succomber Sous une telle entreprise, J'ai commencé à mettre en ordre les élémens d'antiquité figurée qui se rapportent à l'orient, et qui de là ont passé dans l'Étrurie et dans la Grèce, avec plus ou moins de modifications, en m'occupant de cette recherche, je me suis trouvé tout naturellement entré dans la voie que vous avez ouverte par votre K u n s t m y t h o / o g ï e et j'ai été émerveillé de tant de rapprochements neufs et curieux qu'il y avait à faire, en suivant vos idées, entre ce que nous connoissons du génie des religions asiatiques, et ce que nous possédons maintenant de monuments de l'antiquité grecque et étrusque, les découvertes des tombeaux étrusques de C h i u s i , de C o r n e t o et de Vulci ont produit tant d'éléments nouveaux de cette analogie si frappante, que la science de l'antiquité en recevra un notable accroissement, et votre doctrine, une confirmation éclatante." Böttiger/RaoulRochette, Nr. 65.
213
„c'est de cette manière que je compte de traiter tout ce qui a rapport à l'archéologie asiatique, telle que nous pouvons la connaître, par les textes et par les monumens. Je me suis remis à l'hébreu, que j'avais un peu su dans ma jeunesse, pour être dans le cas d'entendre et de lire la bible, autant que possible, et de me rendre compte par moi-même des inscriptions phéniciennes. Tout cela est destiné à remplir le premier livre de mon H i s t o i r e de l ' A r t , que je commencerai probablement par l'Asie, la Babylonie, la Phénicie, avant d'aborder l'Egypte, mais je n'ai point encore de plan bien arrêté à cet égard, je rassemble des matériaux, je recueille des idées, j'étudie les monumens, je repasse les textes ; et je vous suis, mon cher et illustre maître, dans la route que vous avez tracée par vos Ideen zur K u n s t m y t h o l o g i e : car c'est là un de mes livres favoris, et j'ai le bonheur d'avoir un ami dans un auteur que je regarde comme un ancien." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 70.
214
Vgl. vorige Anm. - Für die Archäologiehistorikerin Eve Gran-Aymerich ist RaoulRochette „le plus important représentant de l'archéologie classique de son époque". Gran-Aymerich 2001, S. 559. Die richtungweisende Bedeutung, die der herausragendste Vertreter der klassischen Archäologie seiner Zeit der „Kunst-Mythologie" Böttigers in Bezug auf seine eigenen Forschungen zuerkennt und die in diesen tatsächlich nachweisbar ist, kontrastiert auf das höchste mit der Bewertung, die Julia A. Schmidt-Funke Böttiger und seinen in der „Kunst-Mythologie" edierten Vorlesungen zukommen läßt: „Erfolg hatte er vor allem dort, wo er wie in seinen Vorlesungen Rücksicht auf das ungelehrte Publikum nahm, denn in der Veranschaulichung gelehrten Wissens lag seine eigentliche Stärke. Innerhalb der Fachwissenschaft aber blieben seine Verdienste umstritten." Schmidt-Funke 2006, S. 118. „Je ne parle pas des observations disséminées chemin faisant Sur presque tous les points d'antiquité fondées ou non. mais vous savez bien, mon illustre et cher patron, que, dans un travail aussi vaste qui celui que j'ai entrepris, qui comprendra des
215
34
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
Namen „Religion" zu demjenigen Element, das den Zusammenhang der Kunstgeschichte garantieren soll. Im Zusammenhang mit unserer Aufgabe, das Objekt des Diskurses zu ermitteln, ergeben sich folgende Schlußfolgerungen. Es werden diejenigen Monumente bevorzugt, die sich interpretieren lassen, und zwar vor allem solche, die mythologische Sujets bieten. Die von den Archäologen den Monumenten zugeschriebene mythologische Bedeutung bildet ein Prinzip dafür, die Monumente zu ordnen. Das hermeneutische Prinzip zeigt eine deutliche methodische Anlehnung an die Philologie, die auch thematisch das Gebiet der Mythologie als ihr Eigentum ansieht.
Philologische Neuerscheinungen Neben den Reproduktionen bildlicher Darstellungen spielen philologische Arbeiten eine hervorragende Rolle im Briefwechsel zwischen Böttiger und Raoul-Rochette. Die Beschäftigung mit der textuellen Uberlieferung ist für die Archäologie der uns hier interessierenden Epoche von außerordentlicher Bedeutung. Die Texte liefern zum einen ein Werkzeug zur Interpretation der bildlichen Darstellungen, die im Mittelpunkt des Interesses steht. Zum anderen bilden die Texte gewissermaßen den historischen Kontext für die Monumente, helfen beispielsweise bei der Bestimmung ihrer Funktion. In älterer Zeit hatten die Monumente eher zur Illustration der Texte gedient. Böttiger rechtfertigt noch in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Herausgabe seiner „Griechischen Vasengemälde" damit, daß die bildlichen Darstellungen der Illustration der Autoren dienen würden. Er sagt, er wünsche „durch diese Arbeit besonders auch dem philologischen Studium auf Schulen ein neues Hülfsmittel zu geben" 2 1 6 . Nun aber, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, sind die Texte ihrerseits Hilfsmittel zum archäologischen Studium geworden. Zu den im Briefwechsel erwähnten philologischen Neuerscheinungen zählen zum Beispiel Philipp August Wilhelm Boeckhs Pindarausgabe (1811-1822) 2 1 7 , Jacobs' „Achillis Tatii Alexandrini de Leucippes et Clitophontis amoribus libri octo" (1821) 2 1 8 , desselben und Valentin Christian Friedrich Rosts ab 1826
216 217 218
monumens relatifs aux principaux personnages mythologiques, on remue tout, on touche à tout, et bien que l'on se puisse tromper fréquemment, ce n'est cependant pas sans quelque profit pour la science que l'on agite ainsi toutes les questions comprises dans son domaine." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 22. Böttiger 1796 ff., Bd. 1,1. Heft, S. VII. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 84. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 71-73 und 76.
Philologische Neuerscheinungen
35
erscheinende „Bibliotheca graeca" 2 1 9 , Wilhelm Dindorfs Athenaeusedition (1827) 2 2 0 , Gottfried Johann Jakob Hermanns ab 1827 herauskommende „Opuscula" 2 2 1 , Christian Daniel Becks, August Emanuel Bekkers, Richard Franz Philipp Bruncks, Dindorfs und Karl Christian Reisigs Aristophanesausgabe (1828) 2 2 2 , Johann Christian Felix Bährs und Creuzers ab 1830 erscheinende Herodotausgabe 223 und Hermanns „Iphigenia" von Euripides (1831) 2 2 4 , Jacobs' „Aeliani de natura animalum" (1832) 2 2 5 und Müllers „M. Terentii Varronis de Lingua Latina" von 1833 2 2 6 . Dabei ist auffällig, daß im Briefwechsel beinahe ausschließlich Arbeiten deutscher Philologen genannt werden. Daß die Beschäftigung mit der Philologie in Deutschland intensiver als in Frankreich ist, erklärt sich aus der großen Bedeutung, welcher der philologia sacra im protestantischen Deutschland zukommt, dann aber auch durch die den ganzen deutschsprachigen Raum erfassende neuhumanistische Bewegung. So sind Deutsche selbst an bedeutenden französischen verlegerischen Unternehmungen auf philologischem Gebiet maßgeblich beteiligt. Als Beispiel mag hier Ambroise Firmin-Didots ab 1831 erscheinender prachtvoller „Thesaurus graecae linguae" dienen, an dem
219
220
221 222 223
224
225
226
„Une belle collection des auteurs Grecs enrichie des remarques judicieuses et choisies se fait à Gotha sous la direction du savant Helleniste Iacobs et du professeur Rost (connu par sa grammaire Grecque) Bibliotheca Graeca Virorum doctorum opera recognita curantibus Jacobs et Rost. Il en a paru jusqu'à present 6 Volumes. Le premier nous donne des epigrammes choisies de l'Anthologie Grecque avec un excellent commentaire de Mr. Iacobs lui même. Un autre Volume renferme les discours de Lysias par Orelli à Zuric. Trois volumes contiennent de Dialogues de Platon avec des observations de M. Stallbaum à Leipzig. On peut bien dire que c'est la premiere fois que Platon est mis à la portee de tous les gens du bon gout." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14. Vgl. auch Nr. 31. „Parmi les classiques Grecs une edition d'Athenée par le professeur Dindorf à Leipzig mérité d'être distinguée à cause d'un texte corrigé d'après de manuscrits et conjectures ingenieuses." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 14, 71, 75 und 77. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 30-32 und 37. „II vient de paraître le 1 Volume d'Herodote publié par Mr. Bähr, elève de Mr. Creuzer, où se trouvent les observations de son maitre et ami préparées depuis longtems." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 40. Vgl. auch Nr. 36. „Je m'étois proposé de Vous parler de la dernière edition de l'Iphigenie en Aulide, dans laquelle Mr. Hermann à Leipzig a donné quelque coup de patte à Mr. Boeckh à Berlin, Votre collegue dans l'Institut." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 46. „L'Elien de M. Iacobs à Gotha a paru." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 46, „L'ouvrage le plus marquant en philologie c'est l'Elien histoire des animaux publié par Mr. Iacobs à Gotha." Nr. 51. Vgl. auch Nr. 71-73 und 76. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 56 und 64.
36
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
neben Böttigers ehemaligem Weimarer Schüler, dem Wahlpariser Hase, auch Wilhelm und Ludwig Dindorf mitarbeiten.227 Außerordentliche Bedeutung für die Archäologie besitzt die philologische Erschließung textlicher Quellen, insofern diese wie etwa Vitruvs „De architectura" 228 die monumentale Überlieferung ergänzen. Dieser Sachverhalt betrifft insbesondere die griechische Malerei, deren Überlieferungslage besonders ungünstig und in der hier interessierenden Zeit noch schlechter als zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist.229 Und gerade die griechische Malerei gerät zunehmend in das Zentrum der Korrespondenz. Von den ihn bezüglich ihrer Aussagen zur Enkaustik keinesfalls befriedigenden literarischen Quellen zählt Raoul-Rochette Pausanias, Plinius und Vitruv auf.230 Creuzer nennt außerdem die „beiden Philostraten" 231 . Tatsächlich erscheinen diese Autoren in neuen Ausgaben, welche die Beachtung der beiden Korrespondenten finden. Der Philologe Jacobs gibt 1825 in Kooperation mit dem Archäologen Welcker „Philostratorvm Imagines" heraus.232 Besonderes Interesse findet Plinius.233 In Paris entsteht eine prächtige Ausgabe, an deren Kommentierung die unterschiedlichsten Disziplinen angehörende Crème der französischen Wissenschaft mitwirkt,234 und in unmit227
„Votre collegue à la bibliothèque Royale Mr Hase reussira-t-il avec son dictionaire d'Etienne ? J'ose l'esperer, parceque l'Allemagne y est pour beaucoup." Böttiger/ Raoul-Rochette, Nr. 46. Vgl. auch Nr. 58 und 64.
228
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7 , 1 2 und 38. Vgl. Scheibler 1994, S. 7 - 8 und S. 77-78, Rouveret 1989, S. 2 und 8, Pedley 1999, S. 24.
229
230
„les notions fournies à cet égard par l'antiquité, et qui se réduisent presque à des énonciations vagues et courtes de Pausanias, de Pline et de Vitruve, sont si peu satisfaisantes" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 7.
231
Creuzer 1834, S. 145. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 79. Dazu Creuzer: „Jedoch hat erst die Verbindung zwei höchst berufener Sprach- und Alterthumsforscher, der Herren Jacobs und Fr. G. Welcker im Jahre 1825 eine Ausgabe dieser eleganten Beschreiber griechischer Gemälde zur Reife gebracht, die dem jetzigen Standpunkt der Kritik, Auslegung und der Archäologie gemäss auf lange hin auch die Kunstkenner befriedigen wird." Ebenda, S. 146.
232
233
„Ueberhaupt ist die große Encyklopädie des Plinius noch immer viel zu wenig für die Archäologie im Allgemeinen benutzt, da man nur immer auf die Künstlerverzeichnisse seine Aufmerksamkeit gerichtet hat." Böttiger 1828, Vorbericht, S. I I I - X X X , hier S. X V - X V I (Anm.).
234
Plinius 1827ff. - Zu den Mitarbeitern zählten C. Alexandre, F. Ansart, J . B . E . Ajasson de Grandagne, George Cuvier, L. Desfontaines, Eméric-David, Delafosse, Angelo Pihan-Delaforest. - Obgleich es sich keineswegs um eine Ubersetzung handelt, scheint Böttiger in folgender Passage von dieser Ausgabe zu sprechen: „Je voudrois posseder la traduction de Pline avec les remarques de Vos savans naturalistes. Mais c'est un ouvrage de longue haleine et qui coûte beaucoup. N ' y a-t-il pas moyen de l'attraper à un prix plus modique ?" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 46.
Probleme der archäologischen Kritik im Zeitraum von 1824 bis 1835
37
telbarer Nachbarschaft Böttigers erarbeitet Sillig eine neue Ausgabe, an welcher der Lehrer des Herausgebers großen Anteil nimmt.235 Schließlich wird auch Pausanias einer kritischen Relektüre unterworfen. 236 Die für die Archäologen bestehende Notwendigkeit, die philologische Forschung zu verfolgen und zu verarbeiten, zeigt, daß die Objektbereiche der Archäologie und der Philologie nicht getrennt sind. Auf die daraus resultierenden Kompetenzstreitigkeiten wird im Laufe der Arbeit noch zurückzukommen sein.
Probleme der archäologischen Kritik im Zeitraum von 1824 bis 1835 Creuzer konstatiert für den hier interessierenden Zeitraum einen Erkenntniszuwachs auf folgenden Gebieten: „Man hat die Zeitalter der übrig gebliebenen Kunstdenkmale, die Werkstätten nach den verschiedenen Oertlichkeiten von Altgriechenland und Italien, die Technik der verschiedenen Sculptoren, Toreuten, Graveurs und Maler, die Kunststyle, die so oft archaisierenden Nachahmungen von den ursprünglichen archaischen, und endlich die modernen Fälschungen mit strengerer Kritik gesondert." 237 Die Vokabel „Kritik" läßt der illustre Autor der „Symbolik" in diesem Zusammenhang nicht zufällig fallen. Sie bezeichnet hier nicht allein die Selbstreflexion der theoretischen Arbeit des Archäologen, sondern benennt ganz präzise ein Aufgabenfeld und eine Methode, denn die Probleme der Zuschreibung, Lokalisierung, Datierung und Periodisierung, kurz Fragen der Echtheit, sind ja bereits Probleme einer Kritik, die herkömmlich jedoch nicht auf dem Gebiete der Archäologie, sondern demjenigen der Philologie schulmäßig gelehrt und systematisch geübt worden war. Probleme der archäologischen Kritik finden im Briefwechsel zwischen Böttiger und Raoul-Rochette gleichfalls ihren Niederschlag, denn sie beschäftigen den französischen Archäologen fast in ebendem Maße wie Probleme der Hermeneutik. Neben Bestimmung der inhaltlichen Aussage der Monumente interessiert, wann, wo, von wem und wie sie produziert 235
236
237
Zu Silligs Ausgabe vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 13, 44, 51, 52, 54, 56-58 und 83. Zu Plinius als Autorität bezüglich der Malerei der Alten vgl. Nr. 16, 41, 66, 68, 71, 79, 81. „II [Hermann] corrige plusieurs textes de Pausanias et fait valoir avec beaucoup d'adresse les consequences qui en derivent. Il n'y a pas de doute qu'Olbiade n'eut été un peintre. Il est constate que Pausanias I, 22.6. ne parle pas des tableaux de Polygnote d'après le texte rétabli par Herman." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 66. Zu Pausanias vgl. auch Nr. 16, 41, 70, 75, 79 und 81. Creuzer 1834, S. 143.
38
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
worden sind. Dabei wird die Forschung durch die Konkurrenz zwischen den Archäologen heftig vorangetrieben, die einander rezensieren und ganze Werke mit der Zielstellung verfassen, einander zu widerlegen. Reinterpretiert Raoul-Rochette die von Gerhard gedeuteten Monumente, stellt Panofka Raoul-Rochettes Erklärungen in Frage, so findet sich die gleiche Situation in Bezug auf Zuschreibungen, Datierungen usw., wo es um Faktizität geht und sich die Trennlinie zwischen „wahr" und „falsch" auf noch absolutere Weise ziehen lassen müßte. Hinzu kommt das Problem der Fälschung, das mit der Zunahme der Liebhaber antiker Kunstgegenstände an Bedeutung gewinnt.238 „Mißverstand, Unverstand, Betrug an allen Ecken!", bemerkt Böttiger in Bezug auf die Kritik antiker geschnittener Steine: „Erst kommen die Falschstecher, dann die Falschmünzer."239 Hier müssen die Archäologen ihre Kompetenz unter Beweis stellen können. Als das wichtigste Unternehmen auf dem Gebiet der Zuschreibungen erscheint sowohl in Creuzers Uberblick 240 als auch im vorliegenden Briefwechsel Silligs „Catalogum artificum".241 Im Oktober 1826 teilt Böttiger Raoul-Rochette mit, daß sein Mitarbeiter das Werk abgeschlossen habe und daran gedruckt werde.242 Im November des darauffolgenden Jahres liegt das Werk vor und hat laut Böttiger den Beifall der deutschen Archäologen gefunden.243 Raoul-Rochette lernt das Werk jedoch vorerst nur aus Welckers Kritik kennen, verspricht aber sogleich eine Kritik im „Journal des Savans".244 Er fragt erneut im Februar 1829 nach dem Buch,245 das er endlich im September 1829 in den Händen hat und nun sofort in seinen 238
239
240 241 242
243
244 245
Die Zunahme der Fälschungen im 19. Jahrhundert belegen die zahlreichen Beispiele in: Bibliothèque Nationale 1991. Bemerkungen zum Zusammenhang von Sammeln und Fälschen dort S. 112. Böttiger 1828, Vorbericht, S. III-XXX, hier S. VII. - Auf der Tagung „Karl Philipp Moritz in Berlin" der A G „Berliner Klassik" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vom 6. bis 8. Dezember 2002 lieferte Gertrud Platz-Horster am 6. Dezember in einem Vortrag unter dem Titel „Die ,Götterlehre' des Karl Philipp Moritz als Vorlage für die Gemmen des Prinzen Poniatowski" neue Erkenntnisse zu den gefälschten Gemmen der Poniatowskischen Sammlung, deren Entdeckung eine große Verunsicherung der Sammler und Archäologen hervorrief. Vgl. Platz-Horster 2005. Vgl. Creuzer 1834, S. 147. Sillig 1827. - Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 1 1 , 1 2 , 1 5 , 1 9 , 2 4 , 4 3 , 4 4 , 4 7 und 50. „Mon excellent collaborateur Mr. Sillig a fini son Catalogue d'artistes Grecs qui s'imprime maintenant." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 11. „Mon jeune ami le docteur Sillig, Votre protégé, a publié un excellent Catalogue des anciens artistes Grecs et Romains en Latin, qui lui a valu le suffrage de nos savans" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 12. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 15. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 19.
Probleme der archäologischen Kritik im Zeitraum von 1824 bis 1835
39
Archäologievorlesungen verwendet.246 Unmittelbar nach seinem Erscheinen war Silligs Verzeichnis von Welcker und Friedrich Gotthilf Osann in Schorns „Kunstblatt" durch Nachträge ergänzt worden. 247 Nun legt Raoul-Rochette zwei Schriften vor, „Lettre à M. le Duc de Luynes" (1831) und „Lettre à M. Schorn" (1832), in welchen er die ausgelassenen oder zu Unrecht aufgenommenen Künstlernamen bezeichnet, die Creuzer, der selbst noch einige Ergänzungen in petto hat, für unerläßlich bei der Benutzung von Silligs Buch ansieht.248 Wie vorsichtig Raoul-Rochette an die Kritik Silligs herangeht, zeigen die Entschuldigungen, die die Übersendung begleiten,249 und die Beunruhigung, die sich in späteren Briefen äußert. Als Böttiger durch den Tod seiner Frau, häusliche Sorgen und Krankheit daran gehindert wird, Raoul-Rochette zu schreiben,250 kann dieser sich, obgleich ihn sein Dresdener Freund wissen lassen hatte, daß sich Sillig nichts besseres wünschen könne als die Korrektur seines Werkes von Meisterhand,251 das Schweigen Böttigers nur dadurch erklären, daß er ihn durch die öffentliche Kritik an seinem Meisterschüler verstimmt habe.252 Raoul-Rochette beteuert, den geschuldeten Respekt vor Silligs Arbeit und die gebührende Achtung für seine Person bekundet zu haben.253 Diese Beteuerungen werden verständlich, wenn man in Betracht zieht, in welchem Maße die kollektive antithetische Forschung zur Autorschaft der Monumente in der Regel von persönlichen Animositäten durchsetzt 246
„faites mes amitiés à M. Sillig, de qui j'ai reçu enfin le C a t a l o g u s , que j'ai cité souvent et toujours avec l'honneur que mérite cet intéressant travail, dans mes Cours d'Archéologie de cette année." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 24.
247
1827, Nr. 81-84, 1830, Nr. 83 und 84, 1832, Nr. 74-77. Creuzer 1834, S. 147. „faites mes compiimene à M. Sillig, qui ne se fachera pas, je l'espère, de la liberté que j'aurai prise, de relever quelques inexactitudes, ou de suppléer à quelques omissions qu'il a commises, je l'ai fait d'ailleurs avec tous les égards qu'on se doit entre gens de mérite, et qu'il m'est si doux de témoigner en toute occasion à un savant si estimable, sous tous les rapports que l'est M. Sillig." Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 43.
248 249
250 251
Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 51. „Mr. Sillig, qui Vous salue respectueusement et ne demande mieux que de voir son catalogue corrigé et completé par des mains si savantes, se proposoit de Vous envoyer le premier Volume de son Pline" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 44.
252
„M. Sillig aurait-il aussi été mécontent des critiques que je me suis permises sur son livre, bien qu'en suivant l'exemple de M. M. Osann et Welcker, et toujours en rendant justice à ses travaux, et en témoignant tant d'estime et de considération pour son mérite ? franchement, j'en serais bien surpris, et j'en resterais desolé. De grace, mon illustre ami, rassurez-moi donc un peu, par un mot de votre main, Si, comme j'arrive encore à le croire, je me trompe dans toutes mes conjectures." Böttiger/ Raoul-Rochette, Nr. 50.
253
„j'ai professé l'estime la plus Sincère pour son travail, et la considération la plus vraie pour sa personne" Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 47.
40
1. Die Objektkonstitution des archäologischen Diskurses
ist. - Auf Köhlers „Dioscorides und Solon", mit welchem Böttiger 1828 seine neue Zeitschrift „Archäologie und Kunst" eröffnet, ist der Herausgeber besonders stolz. Köhler sei „seit langen Jahren gleichsam im Besitz über die alte Glyptik in oberster Instanz ein entscheidendes Urtheil zu fällen" 254. Diesen Besitz hatte sich Köhler durch Angriffe auf seine Vorgänger und Mitstreiter und innerhalb von Fehden erworben. So hatte er in Böttigers „Amalthea" Visconti angegriffen und war mit dessen Herausgeber Labus in einen Streit geraten. Nun, in „Dioscorides und Solon", verwirft er Zuschreibungen von Pierre Jean Mariette, Philipp Baron von Stosch und Bracci. 255 Dadurch werde „die ganz faule Masse unserer Kataloge", so prophezeit Böttiger, „in Bewegung gesetzt" 256 . Wie es für Böttiger charakteristisch ist, verwendet er den Ausdruck „faul" in mehrfacher Bedeutung. Er kritisiert die unzureichende Qualität veraltender Forschung, die gewissermaßen schon in stinkende Zersetzung übergeht; er kritisiert den Unwert der Forschungsergebnisse, die faule Aussagen zum Forschungsgegenstand machen; vor allem aber kritisiert er die Stagnation, die nun der Bewegung weichen solle. In der Tat gibt die Arbeit Köhlers der Forschung einen Impuls. Nichts Unrichtigeres, nichts Schneidenderes, nichts Oberflächlicheres hätte man vorbringen können, auspfeifen hätte man Köhler müssen, meint Raoul-Rochette und antwortet mit seiner „Lettre à M. le Duc de Luynes". 257 Er fordert Böttiger ausdrücklich auf, als Schiedsrichter in diesem Disput zu entscheiden und dabei nur die Fragestellung, nicht die Personen ins Auge zu fassen.258 Wie immer in derartigen Situationen lehnt Böttiger eine öffentliche Stellungnahme ab.259 Jedoch ist er durchaus daran interessiert, daß die Auseinandersetzung fortgesetzt wird. In seinem „Vorbericht" zur „Amalthea" war Böttiger noch davon überzeugt gewesen, daß es Köhler gelungen sei, „durch einen auffallenden Beweis den Satz ausser allen Zweifel zu setzen, daß die geschnittenen Steine, welchen der Name der Steinschneider eingegraben ist, größtentheils entweder ganz verfälscht sind, oder, wenn sie auch wirkliche Antiken wären, nur einen später eingegrabenen Namen trügen, oder in den ihnen eingegrabenen Namen nicht den Steinschneider, sondern den Besitzer, den Donator für die Tempel254 255 256 257 258
259
Böttiger 1828, S. VII. Ebenda, S. XI. Ebenda, S. X. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 43. „mais je serai bien aise de connaître votre avis sur ce point, dans l'intérêt de la science même. Soyez neutre et desintéressé, entre les deux adversaires ; ne voyez que les questions qui se traitent, et non les personnes, qui les agitent ; et je me soumets à votre jugement, quelqu'il soit, comme à celui du maître de la science." Böttiger/ Raoul-Rochette, Nr. 47. Vgl. Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 51.
Archäologie als Kunstgeschichte in der Periode von 1824 bis 1835
41
weihe, auch wohl eine andere Andeutung an der Stirn hätten"260. Als aber Ernst Heinrich Tölken in Berlin in seinem neuen Katalog diese Auffassung Köhlers widerlegt,261 hat Böttiger nichts eiligeres zu tun, als Raoul-Rochette die frohe Nachricht mitzuteilen, ihm das schwerzugängliche Buch zu besorgen262 und ihn zu einer Wiederbelebung der Diskussion im „Journal des Savans" aufzufordern.263 Die an der Textkritik orientierte Kritik der Monumente zeigt erneut, wie stark sich die Archäologie in jener Epoche an der Philologie orientiert. Jakob Andreas Konrad Levezow unternimmt dann auch 1833 an der Berliner Akademie den Versuch, die Archäologie streng nach dem Muster der Philologie als Kritik und Hermeneutik der Denkmäler zu organisieren.264 Noch die moderne Archäologie verrät ihre Herkunft, und man könnte in dem „Système descriptif des antiquités classiques" von Laurence Villard in der Unterscheidung von „Analyse objective" und „Analyse subjective" die Unterscheidung von niederer und höherer Kritik wiederfinden.265
Archäologie als Kunstgeschichte in der Periode von 1824 bis 1835 „Endlich sind Alterthums- und Kunstkenner zum Theil mit sichtbarem Erfolg bemüht gewesen, der gesammten Archäologie und Kunstgeschichte eine mehr und mehr wissenschaftliche Grundlage zu geben und derselben 260 261 262 263
264 265
Böttiger 1828, S . X . Tölken 1835, S . X X I I - L . Vgl. dazu Böttiger/Raoul-Rochette, Nr. 77-82. „J'ai une nouvelle qui vous fera plaisir. Le professeur de l'archéologie à Berlin, Mr. Tölken (Tölken), conservateur des pierres gravées au Musée Royal, vient de publier un Catalogue : Erklärendes Verzeichniss der tief geschnittenen Steine der KP. Gemmensammlung (Berlin 1835. LXVIII und 462 S. in gr. 8) les gemmes, les intagli (les Camées paroitront dans un 2 Volume) y compris, font plus que 3000. La Dactyoliothè