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German Pages 264 Year 2016
Henning Laux (Hg.) Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen«
Sozialtheorie
2016-07-26 13-46-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0363435925101482|(S.
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Henning Laux (Hg.)
Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« Einführung und Diskussion
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Inhalt
I. E inführung Von der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Soziologie der Existenzweisen Bruno Latours differenzierungstheoretische Wende Henning Laux | 9
II. D ie E xistenzweisen der M oderne und ihre C rossings [PRÄ] Präposition Georg Kneer | 35
[REF] Referenz als Existenzweise Die Wissenschaften und die Übersetzung der Welt Lars Gertenbach | 57
[POL] Die Politik der Moderne(n) Jörn Lamla | 79
[REC] Latours rechts-/soziologische Variante Thomas Scheffer | 95
[FIK] Im Liechtenstein des Denkens Sina Farzin | 123
[NE T] Erkundung des Netzwerk-Modus Bruno Latours Entwur f im Lichte der neueren nordamerikanischen Netzwerkforschung Marco Schmitt | 141
[TEC] Die Existenzweise der Technik Emanuel Herold | 161
[REP], [ME T], [GEW] »Sein-als-anderes« Zu Latours antisubstanzialistischem Denken Nicole Thiemer | 185
[DK] Vom Seelentöter der Differenz Doppelklick in den Existenzweisen Michael Schillmeier | 207
[ORG], [BIN], [MOR] Organisieren, Verbinden, Moralisieren Latours Soziologie des Ökonomischen Ute Tellmann | 231
[REL] Religion als Form des In-der-Welt-Seins Latours andere Soziologie der Weltbeziehung Hartmut Rosa | 251
Autorinnen und Autoren | 261
I. Einführung
Von der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Soziologie der Existenzweisen Bruno Latours differenzierungstheoretische Wende Henning Laux »Dieses Werk resümiert eine Untersuchung, die ich seit einem Vierteljahrhundert mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolge.« (L atour 2014: 21)
1. A llgemeine H inweise zu L atours gesellschaf tstheore tischem H aup t werk Im Jahr 2012 veröffentlicht der französische Soziologe Bruno Latour seine Abhandlung Enquête sur les modes d’existence. Une anthropologie des Modernes. Das erklärte Ziel der umfangreichen Monographie, die mittlerweile in englischer, deutscher und spanischer Sprache erhältlich ist, besteht darin, die bisherigen Erkenntnisse des Autors über das Kollektiv der Moderne in eine systematische Form zu überführen. Der vorliegende Besprechungsband versteht sich in diesem Zusammenhang als Einladung an die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften zur kritischen Auseinandersetzung mit Latours gesellschaftstheoretischem Hauptwerk. Die hier versammelten Texte haben explorativen Charakter, sie kartieren Latours neues Begriffsuniversum aus verschiedenen Richtungen, inspizieren die dort entwickelten Theoreme, prüfen die vielfältigen Befunde, erörtern die damit verbundenen Konsequenzen und stellen kommunikative Anschlüsse an den sozialwissenschaftlichen Diskurs her. Im Rahmen einer textbasierten Diskussion soll dieses äußerst vielschichtige und ambitionierte Werk erstmals in seiner ganzen Bandbreite für Forschende, Lehrende und Lernende aufgeschlossen werden. Als Referenztext dient dabei im Folgenden die sorgfältige Übersetzung von Gustav Roßler, d. h. alle Beiträge beziehen sich auf die deutsche Ausgabe, die im Jahr 2014 unter dem Titel Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.
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Existenzweisen ist ein eigenwilliges und sperriges Buch, es weist Besonderheiten auf, deren Kenntnis für das allgemeine Verständnis und die Einordnung des mehr als sechshundertseitigen Textes von erheblicher Bedeutung ist. Um den Zugang zu erleichtern und die Fluchtpunkte der Rekonstruktion zu bestimmen, geht dieser einführende Beitrag zunächst auf vier zentrale Eigentümlichkeiten ein (1.). Im Anschluss daran werden die Eckpunkte von Latours differenzierungstheoretischer Wende erläutert (2.), bevor dann zum Abschluss auf Übereinstimmungen, Komplementaritäten und Brüche mit der soziologischen Differenzierungstheorie eingegangen wird (3.). Zunächst gilt es bei der Lektüre zu beachten, dass wir es hier mit einer augmented publication zu tun haben. Die Untersuchung ist keineswegs mit dem Erscheinen der Monographie abgeschlossen, sondern weist über den Buchdeckel hinaus. Im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Forschungsprojektes (»An Inquiry into Modes of Existence«, kurz: AIME) kommen verschiedene Begleitinstrumente zum Einsatz, die den gedruckten Text erweitern. So vertieft er seine Abhandlung durch eine Serie von Workshops mit Experten aus verschiedenen Ländern und überführt seine Befunde durch eine Kunstausstellung zum Thema »Reset Modernity« in ein anderes Format. Außerdem setzt er seine kulturtheoretisch ausgerichtete Untersuchung im Rahmen einer aufwendig programmierten Online-Plattform fort (www.modes ofexistence.org). Die Webseite enthält eine digitale Version des Buches sowie zusätzliche Materialien wie ein Glossar, Schaubilder, Fotos, Videos und Zitate. Seit ihrem Relaunch im Jahr 2015 wird die Plattform vermehrt dazu genutzt, um Deutungsprobleme und Missverständnisse anzugehen, indem Aspekte, die im gedruckten Text noch unklar oder ausgespart bleiben, kommentiert und vertieft werden. Die digitale Evolution der Untersuchung wird aus Paris moderiert und gesteuert, die inhaltliche Weiterentwicklung erfolgt jedoch nicht mehr im Alleingang. Durch Beiträge, die vornehmlich aus dem internationalen akademischen Milieu stammen, löst sich die Untersuchung ein Stück weit von ihrem Autor und entwickelt sich zu einer kollaborativen Unternehmung. Auf diese Weise entsteht ein multimediales Projekt, das im erweiterten Kontext der »Digital Humanities« anzusiedeln ist und bei dem Inhalte und Autoren im Zeitverlauf variieren. Entsprechend bezeichnet Latour die Printversion lediglich als »provisorischen Bericht« (Latour 2014: 23), der die Leser dazu einladen soll, die von ihm in Einsamkeit »angefangene Arbeit durch neue Dokumente, neue Quellen, neue Zeugnisse weiterzuführen und vor allem die Fragen zu modifizieren, indem sie das Projekt in Abhängigkeit der zusammengetragenen Resultate berichtigen oder modulieren« (ebd.: 22). Aus den digitalen Möglichkeiten zur raumzeitlichen und sozialen Entgrenzung des Textes resultieren Probleme der Zurechenbarkeit und Replizierbarkeit. Denn zum einen ist ja keineswegs ausgemacht, welche Version zu bevorzugen ist, wenn der digitale Text vom gedruckten abweicht. Und zum anderen bringt es die digitale Um-
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welt mit sich, dass einzelne Formulierungen gelöscht bzw. aktualisiert werden oder ganze Seiten aus dem Netz verschwinden. Aufgrund solcher Unwägbarkeiten wird im vorliegenden Band die Printversion als Referenztext herangezogen, die Beiträge blenden die kommunikativen Ereignisse und Entwicklungen auf der Internetplattform weitgehend aus und konzentrieren sich stattdessen auf die schriftlich fixierten Positionen im Buch. Das digitale Material wird nur in Ausnahmefällen herangezogen, nämlich dann, wenn dies zur Aufklärung von Unklarheiten in der gedruckten Version beiträgt. In Zukunft könnte es gleichwohl interessant sein, die weitere Evolution des Textes auf der Webplattform zu beobachten. Latours Untersuchung ist auch im Hinblick auf die eingenommene Beobachterposition durchaus bemerkenswert. Denn der Autor verzichtet im Buch komplett auf Literaturhinweise. Er verweist weder auf eigene Vorarbeiten noch gibt er andere Quellen für seine Argumente an. Mitunter tauchen zwar Namen wie Isabelle Stengers, William James, Gilbert Simondon, Karl Polanyi oder Étienne Souriau auf, doch Latour lässt sie gar nicht zu Wort kommen. Stattdessen lässt er über den gesamten Text hinweg eine Ethnologin auftreten, die sich auf ihrer Reise mit den Kategorienfehlern der Modernen konfrontiert sieht und im Namen der Erfahrung damit beginnt, die verborgenen Wertvorstellungen ihrer Informanten wieder sichtbar zu machen. Die Funktion dieser fiktiven Figur ist leicht zu verstehen, ihr Auftritt suggeriert die Verfügbarkeit eines transzendenten Beobachterstandpunkts, der nicht nur kulturelle Vorannahmen, sondern auch feldspezifische Perspektiven und Wissensbestände hinter sich lässt. Denn die Ethnologin bildet aus den Kategorien des Netzwerks und der Präposition im Laufe der Untersuchung ein Instrument, das die Grenzen der wissenschaftlichen Referenzkette überschreiten soll, indem es eine »Grundlage ohne Grundlage« (Latour 2014: 646) liefert, mit der das moderne Kollektiv befreit vom Maßstab der Wissenschaft beobachtet werden kann. Auf diese Weise soll sich die Diversität der Werte artikulieren, ohne durch eine wissenschaftlich imprägnierte Weltanschauung verschleiert zu werden. Latour erzeugt mit dieser methodologischen Positionierung den Eindruck einer kontextfreien Untersuchung, welche analog zu René Descartes’ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641) zunächst an allem zweifelt, um dann aus einem sozialen Vakuum heraus in Eigenregie und mit unverstelltem Blick zu sicheren Erkenntnissen über das Sein des Seienden vorzudringen. Dass Latours Soziologie der Existenzweisen gerade nicht von einer Tabula rasa ausgeht, auch wenn er das in einigen Textpassagen nahelegt, sondern auf zahlreichen empirischen Studien und analytischen Abhandlungen zu verschiedenen gesellschaftlichen Feldern auf baut, wird nur für Rezipienten ersichtlich, die mit Latours umfangreichem Gesamtwerk bereits hinlänglich vertraut sind. Sie sind dazu in der Lage, die im Argumentationsgang ausgesparten Studien, Quellen und Belege stillschweigend zu ergänzen. Alle anderen müssen an-
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gesichts einer Argumentation, die an manchen Stellen äußerst abstrakt und spekulativ anmutet, notgedrungen verblüfft sein, wenn Latour seine Analyse als »empirische Philosophie« (Latour 2014: 647) bezeichnet, die zu den praktischen Erfahrungen der Modernen vordringt. Denn das empirische Material, das zweifellos in die Untersuchung eingegangen ist, bleibt an der Textoberfläche weitgehend unsichtbar. Zudem müssen Anschlüsse an den sozialwissenschaftlichen Diskurs erst in mühsamer Rezeptionsarbeit hergestellt werden. Dieser Mangel dürfte bei vielen Lesern sicherlich für Kritik sorgen, denn dadurch wird nicht nur die im wissenschaftlichen Feld überaus wirkmächtige Idee eines kumulativen Wissensfortschritts unterlaufen, sondern es gehen auch inhaltliche Kontraste verloren, die sicherlich zu einem besseren Verständnis beigetragen hätten. Latour fällt aufgrund dieser Darstellungsstrategie hinter das von ihm selbst zur Verfügung gestellte Wissen über den Prozess der wissenschaftlichen Wahrheitsproduktion zurück, denn in seinem Buch fehlt es an »immutable mobiles«, an empirischen Zeugenaussagen, Dokumenten, Bildern, Zahlen und Diagrammen, die erforderlich sind, um eine intersubjektiv nachvollziehbare Zirkulation von Referenzen zu gewährleisten (vgl. Latour 1999a). Die Mehrheit der folgenden Diskussionsbeiträge geht trotz dieser unzureichenden Verbindung von empirischem Material und theoretischer Abstraktion davon aus, dass Existenzweisen anhand von sozialwissenschaftlichen Gütekriterien zu bewerten ist. Für die Zukunft ist aber gerade im deutschsprachigen Raum durchaus eine Diskussion darüber zu erwarten, ob sich Latour mit dem Existenzweisen-Projekt überhaupt noch innerhalb der kulturhistorisch eingeschliffenen Bahnen des sozialwissenschaftlichen Sprachspiels bewegt. Eine dritte Eigentümlichkeit ergibt sich aus den im Buch zum Ausdruck gebrachten Zielvorstellungen, da die mit dem Projekt verknüpften Ambitionen weit über den üblichen Rahmen hinausweisen. Wir haben es bei Existenzweisen, wie der Autor an verschiedenen Stellen offensiv betont (vgl. Latour 2014: 60, 396 f.), mit einer »Großen Erzählung« zu tun, also einem Unterfangen, das sowohl aus dem positivistischen als auch aus dem radikalkonstruktivistischen Lager so stark unter Druck geraten ist, dass man meinen könnte, dass sich in der Gegenwart niemand mehr ernsthaft an eine derartige Aufgabe heranwagen würde. Latour kennt diese Diskussionen, er sieht jedoch angesichts einer krisenhaften Moderne keine Alternative zu seiner Vorgehensweise. Latours gesellschaftstheoretische Untersuchung zielt auf die Bewältigung von nicht weniger als drei pathologischen Krisenszenarien: Zunächst und vor allem möchte er eine Beschreibung der Modernen anfertigen, die nicht an offiziellen Selbstbeschreibungen, sondern an Praktiken ansetzt. Zu diesem Zweck will er eine »Metasprache schmieden« (ebd.: 58). Von hier aus sollen die zentralen Wertvorstellungen der Epoche zum Vorschein gebracht werden, das, was den Modernen wirklich am Herzen liegt, so dass diese Vorstellungen durch
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geeignete Institutionen vor dem drohenden Verschwinden durch vorschnelle Vereinfachungen und krude Amalgamierungen bewahrt werden können. Ausgehend von dieser Neuvermessung der Modernen soll zweitens eine diplomatische Verhandlung mit den anderen Kollektiven initiiert werden, die sich auf dem Planeten gebildet haben, um im Rahmen von symmetrischen Konsultationen und wechselseitigen Kompromissen den anhaltenden Kriegszustand zu überwinden und eine gemeinsame Welt aufzubauen. Schließlich soll durch eine korrekte Wiedergabe und Institutionalisierung der freigelegten Werte der eindimensionale Modernisierungspfad mit seinen unkontrollierbaren Risiken verlassen werden, um die drohende Zerstörung der planetarischen Lebensgrundlagen aufzuhalten: »Wenn, anstatt zu modernisieren, es sich nunmehr empfiehlt, zu ökologisieren, ist es mehr als normal, um eine Metapher aus der Informatik zu entlehnen, das Betriebssystem zu wechseln.« (Ebd.: 643) Es wäre nun sicherlich unangemessen, wenn man Latours Monographie in isolierter Form am Erreichen dieser dreifachen Zielsetzung messen würde. Denn der Autor betont mehrfach im Text, dass er zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr als einen »Zwischenbericht« vorlegen kann, der als Blaupause für die weiteren Verhandlungen dienen soll und den es in Zukunft in gemeinsamer Anstrengung und im Rahmen gesellschaftspolitischer Formate zu erweitern gilt (Latour 2014: 640). Das Buch versteht sich nicht als Lösung, sondern als Angebot zur künftigen Kollaboration. Gleichwohl wird nicht nur im Rahmen dieses Diskussionsbandes, sondern auch in der weiteren Debatte kritisch zu prüfen sein, inwiefern das entwickelte Koordinatensystem tatsächlich als tragfähiges Fundament bzw. sinnvoller Auftakt für die Realisierung dieser hochgesteckten Ziele verstanden werden kann. Im Anschluss an diese Forschungsfrage ergibt sich schließlich eine vierte Besonderheit des Textes. Auch dieser Aspekt zeitigt erhebliche Effekte für die Bedingungen der weiteren Auseinandersetzung. Die Analyse bleibt nämlich nicht nur im Anspruch, sondern auch in der Durchführung an vielen Stellen unvollendet. Es wird längst nicht immer klar, was unter den verwendeten Konzepten genau zu verstehen ist. Latour ist sich dessen durchaus bewusst, wenn er am Ende schreibt: »Ich weiß wohl, daß ich zu schnell über jeden Modus hinweggegangen bin […]. Aber es wäre ungerecht, von mir zu verlangen, jeden Bereich, jede Institution, jede Periode, jede Rückwirkung eines Modus auf einen anderen mit dem Niveau von Präzision zu vertiefen, das für Spezialisten erforderlich ist.« (Ebd.: 642) Latour kann und will also kein Spezialist für einzelne gesellschaftliche Handlungsfelder sein, sondern im Rahmen seiner vergleichenden Anthropologie einen allgemeinen Gesamtüberblick über die Werte der Modernen geben. Seine Protokollierung des modernen Wertehaushalts wirkt daher notgedrungen holzschnittartig, sobald man etwas näher heranzoomt und die Existenzweisen im Detail betrachten will. So fällt die Darstellung von Existenzweisen, wie dem Recht, der Religion oder der Technik, in
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einigen Punkten weit hinter den in früheren Studien erreichten Detailreichtum zurück. Dabei bleibt unklar, ob die reduzierte Darstellung mit einer Absage an vorherige Einsichten begründet ist, oder ob die Kenntnis dieser Arbeiten einfach als bekannt vorausgesetzt wird. Noch schwerer wiegt, wenn neuartige Existenzweisen wie Metamorphose oder Fiktion so deutungsoffen eingeführt werden, dass ein erheblicher Interpretationsaufwand betrieben werden muss, um herauszufinden, auf welche Phänomene sich diese Modi beziehen. Latour entwickelt in der Tat »methodische, begriffliche, stilistische und inhaltliche Neuerungen« (Latour 2014: 23), mit denen er sich deutlich von »den Gewohnheiten der Sozialwissenschaften« (ebd.: 28) entfernt. Im Zuge dessen werden aber so viele Konzepte eingeführt bzw. umgearbeitet, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Der Schwerpunkt des vorliegenden Diskussionsbandes liegt deswegen bei der verstehenden Annäherung und begrifflichen Rekon struktion dieses fragmentarischen Werks.
2. B runo L atours differenzierungstheore tische W ende 2.1 Zur Vorgeschichte Die Anfänge der groß angelegten Untersuchung über die Existenzweisen der Modernen lassen sich bis in die Kapillaren von Latours ersten Texten hinein zurückverfolgen. Dabei gilt seine Konzentration zunächst dem Feld der Wissenschaft. In »Laboratory Life« (1979) beschreibt er zusammen mit seinem britischen Kollegen Steve Woolgar die Arbeit des französischen Nobelpreisträgers für Medizin, Roger Guillemin, aus einer ethnografischen Perspektive. Sein Interesse für die Praktiken und institutionellen Infrastrukturen der Erkenntnis führt in den Folgejahren zu klassischen Untersuchungen wie »Science in Action« (1987) oder »The Pasteurization of France« (1988). Diese Texte dokumentieren einen Denkweg, der mit der wissenschaftstheoretischen Schrift »Die Hoffnung der Pandora« (1999a) und den darin entwickelten Konzepten der »immutable mobiles« und der »zirkulierenden Referenz« seinen Zenit erreicht. Die Laborwelten wecken außerdem seine Aufmerksamkeit für die Performanz technischer Assemblagen und Artefakte. Mit »Aramis« (1992) oder dem »Berliner Schlüssel« (1993) publiziert Latour viel beachtete Beiträge zur Techniksoziologie. Der internationale Durchbruch gelingt ihm schließlich mit »Wir sind nie modern gewesen« (1991), einer essayistischen Absage an die etablierten Gesellschaftstheorien. Darin nivelliert er die klassische Unterscheidung zwischen Vormoderne und Moderne, indem er die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft als semantische Illusion entlarvt. Gegen ein modernes Phantasma der »Reinigung«, das zur riskanten Vermehrung der Hybriden geführt hat, setzt Latour ein Kontrollverfahren zur Komposition einer gemein-
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samen Welt. Die Elemente dieses demokratischen Prozesses expliziert er in seinem politischen Manifest, dem »Parlament der Dinge« (1999b). Darin beschreibt er eine »nicht-moderne Verfassung«, in der auch Schildkröten, Ozeane oder Roboter repräsentiert sind. Die dazu passende Sozialtheorie liefert er schließlich mit »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft« (2007). In diesem umfangreichen Werk erläutert er erstmals in aller Ausführlichkeit die Koordinaten seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Ausgehend von dem begrifflichen Instrumentarium und den methodologischen Einsichten der ANT sind in den letzten Jahren verschiedene Monographien entstanden, die sich auf Handlungsfelder wie die Religion (Latour 2011), das Recht (Latour 2010), die Ökonomie (Latour/Lépinay 2010) und die Kunst beziehen (Latour 2002). Angesichts dieser inhaltlichen Bandbreite drängt sich die Frage nach der werkgeschichtlichen Kontinuität auf: Inwiefern ist Latours Hinwendung zum Konzept der Existenzweisen mit seinen früheren Arbeiten kompatibel? Zunächst deutet bei der Lektüre vieles darauf hin, dass hier ein deutlicher Bruch stattfindet, denn wer Existenzweisen verstehen will, benötigt (schon wieder) ein neues Vokabelheft. Latours Einfallsreichtum erschöpft sich jedoch nicht in der Entwicklung neuer Metaphern und Begriffe, vielmehr geht mit dem Buch ein fundamentaler Wandel der Perspektive einher, denn er vollzieht mit seinem gesellschaftstheoretischen Hauptwerk eine differenzierungstheoretische Wende. Trotz dieser deutlichen Veränderung, auf deren Ursachen, Konturen und Effekte ich gleich noch näher eingehen werde, betreibt er einen enormen Aufwand, um nachzuweisen, dass die Untersuchung nicht im Widerspruch zu seiner vorherigen Arbeit steht.1 Die soziologische Erforschung von Existenzweisen stellt für Latour keine disruptive Kehrtwende in seinem Werk dar, sondern eine empirisch motivierte Hinwendung zu Differenzierungsprozessen in der Sachdimension. Existenzweisen versteht sich daher keineswegs als Widerruf, im Gegenteil: Angestrebt wird eine kohärente Bündelung und problemzentrierte Weiterentwicklung früherer Studien auf dem Weg zu einer allgemeinen Soziologie der Existenzweisen (vgl. Latour 2012). Latours Anspruch auf Kontinuität lässt sich mit Blick auf sein Gesamtwerk durchaus nachvollziehen. Denn dort offenbart sich eine Lücke, die eine Hinwendung zur Differenzierungstheorie in der Tat als schlüssige Weiterführung 1 | In dieser Hinsicht unterscheidet er sich z. B. stark von einem poststrukturalistischen Denker wie Michel Foucault, der wenig daran interessiert war, werkgeschichtliche Kontinuitäten oder kumulative Wissensfortschritte zu suggerieren: »Das Ideal ist nicht die Herstellung von Werkzeugen, sondern von Bomben, denn wenn man eine Bombe eingesetzt hat, kann niemand anderes sie mehr einsetzen. […] [I]ch möchte gerne Bücher schreiben, die Bomben sind, das heißt Bücher, die genau zu dem Zeitpunkt benutzt werden, da jemand sie schreibt oder liest. Die Bücher verschwänden dann, nachdem sie gelesen oder benutzt worden wären.« (Foucault 2001: 608)
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der bisherigen Schriften erscheinen lässt.2 Der Autor löst mit seinem Buch ein Versprechen ein, das er bereits in den 1990er-Jahren nach der Publikation von »Wir sind nie modern gewesen« (Latour 1991) gegeben hatte. Denn dort konzentriert er sich auf ein negatives Argument, indem er aufzeigt, in welchen Hinsichten das offizielle Portrait der Modernen von ihren tatsächlichen Praktiken abweicht. Latour argumentiert, dass sich die Modernen auf mindestens zwei Gebieten fundamental täuschen: Zunächst ist es ihnen zu keinem Zeitpunkt in ihrer Geschichte gelungen, die postulierte Trennung zwischen Natur und Kultur durchzuhalten. Anstatt die beiden Pole säuberlich voneinander zu trennen, werden sie permanent miteinander vermengt. Zum anderen kritisiert er, dass die Modernen das Soziale in »säuberlich getrennte Schubladen« (ebd.: 9) aufteilen, die mit Begriffen wie Politik, Wissenschaft, Ökonomie, Religion oder Recht versehen werden, als würde es sich hierbei um Bereiche handeln, die ein unabhängiges Eigenleben führen. Latour hat zu keinem Zeitpunkt eine Entdifferenzierungsthese vertreten, nach der sich gesellschaftliche Differenzen in der Sachdimension auflösen, auch wenn das sowohl von Kritikerinnen als auch von Anhängern mitunter so verstanden wurde (vgl. dazu ausführlich: Laux 2014). Er hatte seine Leserschaft jedoch bisher im Unklaren darüber gelassen, wie eine korrekte Wiedergabe der Verhältnisse seines Erachtens aussehen könnte. Er deutet in seinem frühen Essay lediglich an, dass wir es in der Praxis immer schon mit »Kreuzungen« (Latour 1991: 8) und »Verwicklungen« (ebd.: 15) der verschiedenen Handlungssphären zu tun haben. Die reichhaltige Praxis der Modernen lässt sich auf diese Weise freilich nicht erfassen, die synchronen und diachronen Unterschiede zwischen den Kollektiven geraten dabei aus dem Blick. Mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie greift er die zwei Selbsttäuschungen der Modernen einige Jahre später wieder auf und beginnt mit der Arbeit an einer Neubeschreibung der westlichen Welt, die in symmetrischer Weise die Handlungsbeiträge von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen erfasst und die in relationaler Weise den operativen Verbindungen zwischen verschiedenen Handlungsdomänen nachspürt. Gerade weil für ihn »die Vorstellung von verschiedenen Bereichen, die durch homogene Grenzen getrennt sind, kaum sinnvoll ist«, entwickelt er mit der ANT ein »Werkzeug, das die Tatsache berücksichtigt, daß eine Grenze weniger eine Grenzlinie zwischen zwei homogenen Ensembles anzeigt als eine Intensivierung des Grenzverkehrs zwischen fremden Elementen« (Latour 2014: 68). Ausgerüstet mit dem Vokabular der ANT untersucht Latour die verschiedenen Handlungsfelder der Modernen und stößt dabei auf künstlerische, politische, ökonomische, rechtliche, religiöse, wissenschaftliche und technische Operationsketten. Die2 | Für eine kritische Diskussion über die soziologische Arbeiten von Bruno Latour vor seiner differenzierungstheoretischen Wende vgl. den ausgezeichneten Besprechungsband von Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz (2008).
Von der Akteur-Net zwerk-Theorie zur Soziologie der Existenzweisen
ses Projekt erreicht mit Existenzweisen seinen vorläufigen Höhepunkt. Denn auf Basis dieser theoretisch und empirisch gehaltvollen Vorarbeiten ergibt sich nun – wie viele Jahre zuvor angekündigt – eine »positive, nicht bloß negative Version derer […], die ›nie modern gewesen sind‹« (ebd.: 29). Was bedeutet die nun vorgelegte Gesellschaftstheorie für den zukünftigen Stellenwert der Akteur-Netzwerk-Theorie? Latour ist nach eigenem Bekunden bei der Neuvermessung der Moderne an die Grenzen der ANT-Perspektive gestoßen, denn die Fokussierung auf Vernetzungsvorgänge führt nach seiner Erfahrung dazu, dass auch Differenzen eingeebnet werden, die den Akteuren wichtig erscheinen. Das von der ANT »bereitgestellte Vokabular ist befreiend, aber zu arm, um die Werte zu unterscheiden, an denen die Informanten nun einmal festhalten« (Latour 2014: 113). Die Netzwerkperspektive kann transversale Prozessketten freilegen, sie ist jedoch nicht dazu in der Lage, verschiedene Formen und Techniken der Assoziierung voneinander zu unterscheiden. Dadurch geht die zugrundeliegende Logik bzw. Richtung der Verbindungen verloren, also der Operationsmodus, in dem sich die Netzwerke ausbreiten und erweitern. Die Soziologie der Existenzweisen ist der Versuch, diesen Mangel der Netzwerkforschung zu beseitigen, um zu einer dichteren Beschreibung zu gelangen. Mit ihrer Hilfe sollen verschiedene Tonalitäten und sinnhafte Artikulationsweisen des Sozialen differenziert werden, und zwar nicht irgendwelche, sondern jene, die für die Konstitution und das Verständnis der Moderne von zentraler Bedeutung sind. Es geht dabei um Werte, die sich in der Erfahrung kristallisieren, die jedoch in den institutionellen Domänen der Moderne nicht adäquat verankert sind. Sie werden mit anderen Existenzweisen verwechselt oder durch dualisierende Unterscheidungen wie Welt und Wort, Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Immanenz und Transzendenz oder Natur und Kultur unsichtbar gemacht. Die Netzwerkkategorie ist trotz ihrer Indifferenz gegenüber dem besonderen Werthaushalt der Modernen keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil: Die ANT hat den Blick auf Assoziationsketten gelenkt und dieser Ansatz wird im Buch über die Existenzweisen konsequent weiterverfolgt. Latour kann sie daher nahezu bruchlos in den umfassenderen Rahmen seiner vergleichenden Anthropologie integrieren. Sie wird als »NET-Modus« nun selbst zu einer einzigartigen Existenzweise, indem sie dazu beiträgt, dass die anderen Kontraste der Moderne überhaupt erfahrbar gemacht werden können.
2.2 Grundrisse einer relationalen Differenzierungstheorie Bis hierher wurde Latours neuer Grundbegriff ohne genauere Erläuterung verwendet. Nun soll mit der gebotenen Ausführlichkeit herausgearbeitet werden, was sich hinter dem Konzept der Existenzweisen verbirgt. Als erstes fällt dabei auf, dass Latour im Rahmen seiner Differenzierungstheorie nicht auf soziologisch etablierte Begriffe wie »Wertsphäre« (Weber 1988), »Teilsystem« (Luh-
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mann 1997), »Feld« (Bourdieu 1999) oder »Rechtfertigungsregime« (Boltanski und Thévenot 2007) zurückgreift. Als funktionales Äquivalent rückt er stattdessen den Begriff der »Existenzweise« ins Zentrum seiner Theorie, den er im Anschluss an die Arbeit des französischen Philosophen Étienne Souriau (1943) entwickelt.3 Durch diese Wahl soll betont werden, dass es nicht um divergierende Redeweisen oder bloße Perspektiven geht, sondern um Modi des Seins, um eine »Artikulation« (Latour 2014: 227) von Werten, bei der kulturelle und materielle Aspekte miteinander verschmelzen: »Vom Sein-als-Sein kann man nur einen einzigen Seinstyp ableiten, von dem man auf mehrere Arten sprechen kann; während wir versuchen werden, zu definieren, auf wie viele verschiedene Arten das Sein sich ändern, alterieren kann, durch wie viele andere Formen von Andersheiten es in der Lage ist, sich hindurchzuschlängeln, um fortzufahren zu existieren.« (Ebd.: 240) Latour nennt insgesamt fünf Aspekte, durch die eine Existenzweise genauer charakterisiert werden kann. Daraus ergibt sich ein allgemeines Modell, das zur Erfassung von Existenzweisen eingesetzt wird. Zunächst macht sich eine Existenzweise für den Betrachter durch eine spezifische Art der Unterbrechung im Strom der Ereignisse bemerkbar (»Hiatus«). Ein solcher Bruch entsteht, weil im Rahmen von Operationsketten ein riskanter Übergang von einem heterogenen Element zum nächsten stattfinden muss. Ohne einen Kraftimpuls und den daran anschließenden Übersetzungsvorgang kann eine Existenzweise nicht subsistieren, ein kontinuierlicher Handlungsverlauf ergibt sich nur, wenn es gelingt, irreduzible Elemente auf eine bestimmte Weise miteinander zu verknüpfen. Die Form dieser Verknüpfung ist keineswegs zufällig oder willkürlich. Latour geht es um sinnhafte Handlungsverläufe (vgl. ebd.: 98), die über riskante Diskontinuitäten hinweg eine wertorientierte Kontinuität erlangen (»Trajektorie«). Um die Wertorientierung in der Praxis sicherzustellen, wird der gerichtete Handlungsbogen anhand von spezifischen Maßstäben geprüft und bewertet (»Gelingens- und Misslingensbedingungen«). Ein ununterbrochener Handlungsverlauf ergibt sich nur dann, wenn ein Vernetzungsvorgang den sachlichen Kriterien einer Existenzweise entspricht. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn es gelingt, den artikulierten Wert über die gesamte Operationskette hinweg zu erhalten. Jeder Modus hat somit eigene Wahrheitsbedingungen, die im Krisenfall besonders gut von einem Beobachter identifiziert werden können. Denn im Fall einer Störung wird intensiv geprüft und beurteilt, ob ein Wert über die einzelnen Übersetzungsschritte hinweg konstant gehalten wurde und an welcher Stelle womöglich ein Fehler gemacht wurde 3 | Latour verwendet verschiedene Synonyme zum Begriff der »Existenzweise«. Dazu gehören folgende Ausdrücke: »Verbindungsmodus«, »Ausbreitungsmodus«, »Assoziationsweise«, »Vernetzungsform«, »Operationskette«. In sozialtheoretischer Hinsicht ist besonders interessant, dass er in diesem Zusammenhang auch immer wieder von einem »Handlungsverlauf« spricht (im französischen Original: »cours d’action«).
Von der Akteur-Net zwerk-Theorie zur Soziologie der Existenzweisen
(vgl. ebd.: 81 ff.). Alle Existenzweisen bringen im Erfolgsfall Entitäten hervor (»zu instaurierende Wesen«), die ohne den spezifischen »Wertschöpfungsprozess« nicht denkbar wären. Dazu gehören so unterschiedliche Wesen wie physikalische Kräfte, Lebewesen, Götter, Gruppen, Organisationen, Leidenschaften, Zwecke oder Erfindungen. Schließlich machen sich Existenzweisen auch dadurch bemerkbar, dass sie einen funktionalen Kontrast produzieren. Sie verändern und ergänzen die Welt auf eine bestimmte Weise (»Alterierung«), indem sie Handlungen koordinieren, Figuren erfinden, Bindungen herstellen, Skrupel evozieren etc. Die so bereitgestellten Leistungen können dann von anderen Existenzweisen in Anspruch genommen werden. Latour spricht in solchen Fällen von einer operativen »Kreuzung«. Gemäß des Theoriemodells kann immer dann, wenn die Voraussetzungen in den fünf genannten Dimensionen erfüllt sind – Hiatus, Trajektorie, Gelingensbedingungen, Wesen, Alterierung – von einer Existenzweise gesprochen werden. Dieser Kriterienkatalog wird im Buch auch als »Lastenheft« oder »Fragebogen« bezeichnet. Latour destilliert anhand dieses analytischen Rasters insgesamt fünfzehn Existenzweisen, die für moderne Kollektive von entscheidender Bedeutung sind und ermöglicht damit laut eigener Aussage einen »ontologischen Pluralismus« (Latour 2014: 214), der die »ontologische Anämie« der Modernen überwinden soll (ebd.: 241).4 Der Autor begnügt sich nicht mit einer einfachen Liste, sondern versucht, die einzelnen Existenzweisen in eine systematische Ordnung zu bringen. Dabei unterscheidet er fünf Gruppen, deren Spezifika in einer Übersichtstabelle am Ende des Werkes zusammengestellt sind (vgl. ebd.: 654 f.).5 Zur ersten Untergruppe gehören drei Kontraste, die nicht nur der Moderne, sondern der Menschheit insgesamt vorausgehen: Reproduktion [REP], Metamorphose [MET] und Gewohnheit [GEW]. Der [REP]-Modus bringt Wesen zur Existenz, die durch Reproduktionsprozesse gegen das Verschwinden bzw. Aussterben ankämpfen. Aus dem [MET]-Modus ergeben sich Entitäten, die zu Veränderungen fähig sind. Und die Assoziierungsvorgänge im [GEW]-Modus bringen Wesen hervor, die an Gewohnheiten festhalten. Diese drei Modi sind so basal, dass sie sich grundsätzlich auf sämtliche Phänomene übertragen lassen. Sie können und müssen daher auch als Ressource von allen anderen Existenzweisen in Anspruch genommen werden, denn nur mit ihrer Hilfe sind Veränderungs-, Erneuerungs- und Habitualisierungsvorgänge denkbar. 4 | Latour schließt die Entdeckung weiterer Existenzweisen keineswegs aus. Er fordert jedoch, dass neue Vorschläge erst das von ihm entwickelte Testverfahren durchlaufen müssen, um als solche anerkannt zu werden (vgl. Latour 2014: 644 f.). 5 | Ich kann mich an dieser Stelle mit einem kurzen Überblick begnügen, denn die einzelnen Existenzweisen werden in den nachfolgenden Beiträgen dieses Bandes ausführlich charakterisiert und besprochen.
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Zur zweiten Untergruppe der Existenzweisen gehören die Modi der Technik [TEC], Fiktion [FIK] und Wissenschaft [REF]. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie trotz ihrer klaren Ausrichtung auf nichtmenschliche Entitäten gleichzeitig zur Transformation der menschlichen Entitäten beitragen. Sie evozieren nicht nur innovative Amalgame, fragile Artefakte und konstante Objekte, sondern auch geschickte, fantasievolle und zu objektivem Wissen fähige Menschen (vgl. Latour 2014: 507). In der dritten Untergruppe fasst Latour die Modi Politik [POL], Recht [REC] und Religion [REL] zusammen. Sie erfassen vor allem die menschlichen Entitäten und formen im Rahmen anspruchsvoller Prozessketten autonome Bürger, verantwortliche Selbste sowie geliebte und anerkannte Personen. Die vierte Untergruppe besteht aus Attachments [BIN], Organisationen [ORG] und Moralität [MOR], diese Operationsketten bringen leidenschaftliche Interessen, handlungsleitende Skripte und die Suche nach optimalen Zweck-Mittel-Relationen zur Existenz. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie menschliche und nichtmenschliche Wesen verlinken und das Rohmaterial für die Kalkulationen der Ökonomie zur Verfügung stellen (vgl. ebd.: 626). Die fünfte und letzte Untergruppe beinhaltet schließlich die Metasprache der Untersuchung, bestehend aus den Modi Netzwerk [NET], Präposition [PRÄ] und Doppelklick [DK]. Während Latour die beiden erstgenannten Existenzweisen als wichtige Instrumente bei der Entdeckung und Entfaltung des modernen Kollektivs anerkennt, gelten ihm Doppelklick-Prozesse als zentrales Hindernis auf dem Weg zu einem ontologischen Pluralismus, da der [DK]-Modus dazu tendiert, alle anderen Prozessketten durch inadäquate Komplexitätsreduktionen gleichzuschalten, sodass die darin artikulierten Werte verlorengehen. Im Gegensatz dazu erfüllt der [PRÄ]-Modus eine ganz zentrale Funktion: Er schützt alle anderen Modi, denn er signalisiert ihre sinnhafte Differenz und liefert den Schlüssel zur interpretativen Erfassung der jeweiligen Assoziationsweise (vgl. Latour 2014: 261, 370 f., 491). Im Hinblick auf [NET] und [PRÄ] gilt daher: »Eine beliebige Situation vernünftig verstehen heißt ihr Netzwerk entfalten und gleichzeitig ihre Präposition definieren, das heißt den Interpretationsschlüssel, in dem man sie erfassen muß.« (Ebd.: 117; vgl. 78, 114) Für das allgemeine Verständnis der Theorie der Existenzweisen ist es schließlich von zentraler Bedeutung, dass Latour methodologisch weder beim einzelnen Individuum noch bei sozialen Strukturen ansetzt. Lokale Situationen und globale Strukturen sind in seinem Ansatz keine Gegensätze. Es handelt sich dabei nicht um getrennte Ebenen, sondern lediglich um unterschiedliche Größendimensionen. Er entwickelt daher mit seiner Soziologie der Existenzweisen ein begriffliches Instrumentarium, das für episodische Interaktionen genauso geeignet sein will wie für die Analyse des gesamten Kollektivs. Latour ist überzeugt, dass die bisherige Soziologie maßgeblich zum Auf bau der artifiziellen Gegenüberstellung von Mikro und Makro beigetragen hat, indem sie die Praxis nicht nur mit der Vorstellung einer »Gesellschaft sui generis« kon-
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frontiert hat, sondern auch mit der Idee eines vorgängigen Individuums, das rationale Wahlen trifft (Latour 2014: 555 ff.). Dadurch ist der Eindruck entstanden, es gebe eine Welt, in der atomisierte Individuen einer emergenten Ordnung gegenüberstehen. Die relationale Topographie des Sozialen, die sich aus dem [NET]-Modus ergibt, kommt dagegen ohne einen qualitativen Sprung zwischen zwei Ebenen aus. Es gibt keine transzendenten Größen wie die Gesellschaft, die Sprache oder den Kapitalismus, denn durch die sorgfältige Entfaltung komplexer Akteur-Netzwerke kann ein kontinuierlicher Übergang zwischen Mikro und Makro hergestellt werden (vgl. Latour 2007: 286 ff.). Begriffe wie »Struktur« und »Akteur« sind eine stenografische Kurzschrift für ein Akteur-Netzwerk, »über das man nur spärliche Informationen hat« (ebd.: 348). Die Ebenen sind nur »provisorische Aggregate« (Latour/Lépinay 2010: 17), Konstruktionen, die über sorgfältige Transformationsschritte hinweg und unter maßgeblicher Beteiligung nichtmenschlicher Entitäten hervorgebracht und stabilisiert werden. Mehrebenenmodelle sind also keine Selbsttäuschung der Modernen, es gibt sehr wohl Unterschiede der Größe, aber eben keine unerklärliche Emergenz, keine Metaverteiler, keine unsichtbaren Hände wie den Staat oder den Markt, die das menschliche Schicksal steuern (vgl. Latour 2014: 631). Vielmehr muss die Entstehung von lokalen Interaktionen und globalen Strukturen als Effekt einer besonderen Operationskette verstanden werden, einer einzigartigen Existenzweise: der Organisation [ORG]. Anstatt sich weiterhin damit »zu beschäftigen, in jedem Handlungsverlauf die Proportion von Individuum und Gesellschaft aufzufinden, lohnt es mehr, dem organisierenden Akt zu folgen, der diese […] Figuren in seiner Spur hinterläßt« (Latour 2014: 544). Ausgehend von dieser methodologischen Positionierung lässt sich die Soziologie der Existenzweisen als relationale Differenzierungstheorie verstehen. Basiseinheit der Untersuchung sind relationale Operationsketten, oder besser: durch Präpositionen [PRÄ] gerichtete Vernetzungsvorgänge [NET] mit einer spezifischen Trajektorie, eigenen Erfolgsbedingungen und funktionalen Alterierungen. Handlungsverläufe werden von Präpositionen losgeschickt, nicht von vorgängigen Subjekten oder anonymen Strukturen. Denn letztere bilden sich erst im Verlauf einer wertgeladenen Operationskette heraus, wo sie durch Prozesse der Rahmung und Skalierung [ORG] ihre Größe und Verbreitung erhalten (vgl. Latour 2014: 554). Die einzelnen Existenzweisen werden in Latours Grundmodell vor allem in sozialer und sachlicher Hinsicht genauer bestimmt: Im [NET]-Modus geht es um die Assoziation von heterogenen Elementen (Sozialdimension), im [PRÄ]-Modus um die Angabe des wertspezifischen Interpretationsschlüssels (Sachdimension). Aus Latours Darstellung lässt sich darüber hinaus erschließen, dass Existenzweisen einen raumzeitlichen Index ausweisen, denn sie werden als materiell situierte und temporal strukturierte Vorgänge vorgestellt. Ausgehend von dieser Vorstellung entwickelt Latour über verschiedene Kapitel hinweg einen zweiten theoretischen Grundbegriff, der die Effekte von Exis-
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tenzweisen in verschiedenen Sinndimensionen adressiert und dabei insbesondere auf Subjektivierungsvorgänge abstellt: das »Auskuppeln« (ebd.: 326 ff., 349 ff., 402 ff., 501 ff., 529 ff.). Der aus der Semiotik stammende Begriff soll die Analyse von Transformationen anleiten, die aus wertgeladenen Operationsketten resultieren. Dieses Konzept ist für den Theorierahmen von zentraler Bedeutung, denn jeder Vernetzungsvorgang geht mit einem Auskuppeln einher (vgl. Latour 2014: 501). Dabei spielen vier Aspekte eine Rolle: In sozialer Hinsicht werden beim Auskuppeln Adressaten und Empfänger figuriert, in zeitlicher Hinsicht werden Vergangenheit und Zukunft konstruiert, in sachlicher Hinsicht wird ein Wert konstant gehalten und in räumlicher Hinsicht ergeben sich neue Positionen und Distanzen. Dabei lassen sich zwei Segmente einer Handlungskette differenzieren: die Ausgangsebene (»n-1«), als eine Art »Nullpunkt« (ebd.: 326), von dem ausgekuppelt wird, und die Folgeebene (»n+1«), in die eingekuppelt wird. Latour veranschaulicht das Konzept anhand eines simplen Beispiels, das sich im [ORG]-Modus abspielt (vgl. ebd.: 528 ff.): Peter und Paul verabreden sich am Telefon für den nächsten Tag zu einem gemütlichen Kaffeetrinken, das um 17.45 Uhr am Bahnhof stattfinden soll. Sie entwerfen damit ein Szenario, ein Skript, das die beiden Figuren in eine andere Zeit schickt (›morgen, 17.45 Uhr‹), das sie gemeinsam an einen anderen Ort versetzt (›Bahnhof‹) und das sie mit einem Rollenprofil ausstattet und in spezifische Akteure verwandelt (›Peter und Paul, die wiedervereinten Freunde‹). Die Einkupplung in dieses neue Skript geht mit einer Transformation der Ausgangskonstellation einher, denn die bisherigen Akteure (›Peter und Paul, die sich nie sehen‹), der bisherige Zeitplan (›noch kein Termin für morgen‹) und die bisherige Position (›zu Hause auf der Couch‹) werden ausgekuppelt. In diesem Prozess sind Peter und Paul weder souveräne Autoren noch ohnmächtige Figuren des Skriptes. Zunächst entwerfen sie das Szenario, aber nur unter gewissen Restriktionen; dann unterliegen sie dem Skript, aber es gibt ExitOptionen; und schließlich orientieren sie sich daran, aber es gibt viele weitere Skripte, die mit ihrem Projekt interferieren und die es daher im Fortgang zu berücksichtigen gilt. In ähnlicher Weise funktioniert die Verschiebung eines Handlungsverlaufs bei anderen Existenzweisen. Ein Beispiel für den Modus der Technik [TEC] könnte etwa so aussehen: Die Familie Müller war stets darauf angewiesen, den Weg zu ihrem spanischen Urlaubsort mithilfe eines Sammelsuriums an Straßenkarten zu finden. Seit ihr jedoch ein Navigationsgerät zur Verfügung steht, werden die Straßenkarte und die kartenlesende Beifahrerin aus dem Handlungsverlauf ausgekuppelt. Das Gerät weist nach erfolgter Einkupplung den Weg, der Kartenstapel verschwindet, die Beifahrerin relaxt und auch bei der Fahrerin sinkt der Stresspegel. Die Familie erreicht ihren Bestimmungsort – und das vermutlich sogar in schnellerer Zeit als zuvor, denn die Technik verirrt sich nicht und umfährt die Staus im Ferienverkehr. Die Operationskette verändert auch das Verhältnis zur Vergangenheit, denn das
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Navigationsgerät erzeugt in seiner Erfolgsspur geniale Erfinder, erfolgreiche Start-ups, archaische Kompetenzen und veraltete Artefakte. Zusammengenommen verweist diese beispielhafte Rekonstruktion von Auskupplungsvorgängen auf das analytische Primat wertgeladener Vernetzungsvorgänge in Latours Soziologie der Existenzweisen. Wer mit Latours neuem Modell arbeiten will, muss in einem ersten Untersuchungsschritt mit Hilfe von [NET] und [PRÄ] den richtigen Interpretationsschlüssel für eine Situation finden und kann dann in einem zweiten Schritt darauf abstellen, jene Subjektpositionen und Strukturverhältnisse zu identifizieren, die sich aus den Auskupplungsvorgängen ergeben.
2.3 Anschlüsse an die soziologische Differenzierungstheorie Ausgehend von Latours Theoriemodell möchte ich zum Abschluss dieses einführenden Beitrags die Frage nach dem Verhältnis zur soziologischen Differenzierungstheorie stellen, also zu den einschlägigen Arbeiten von Max Weber, Émile Durkheim, Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas oder Pierre Bourdieu.6 Bereits zum gegenwärtigen Stand der Ausarbeitung des Existenzweisen-Projektes zeichnen sich diesbezüglich einige Ähnlichkeiten und Diskontinuitäten ab. Die Tatsache, dass etwaige Anschlüsse bislang weitgehend im Verborgenen liegen, ist, wie wir bereits gesehen haben, darauf zurückzuführen, dass Latour die disziplinären Traditionsbestände in seinem Buch ausklammert, man sucht vergeblich nach gehaltvollen Bezugnahmen auf einzelne Autoren oder einschlägige Kategorien. Es bleibt somit den Rezipienten überlassen, dieses ungeklärte Verhältnis genauer zu bestimmen. Zum Abschluss werden daher kommunikative Einsatzpunkte markiert, von denen künftige Theorievergleiche ihren Ausgang nehmen können. Zunächst fällt auf, dass in der Liste der Existenzweisen zwar einige Kandidaten auftauchen, die auch bei anderen Differenzierungstheorien vorkommen, wie Politik, Wissenschaft, Religion oder Recht. Doch Latour verleiht diesen Begriffen einen anderen Sinn und betont, dass es sich bei ihnen trotz der vertrauten Ausdrücke keineswegs um jene Domänen oder Institutionen handelt, die uns aus dem (soziologischen) Alltag vertraut sind. Um die Differenz deutlich zu machen, verwendet er Kürzel, die er mit eckigen Klammern versieht, also: [REL] statt Religion, [ORG] statt Organisation etc. 6 | Unter »Differenzierungstheorie« verstehe ich hier im Anschluss an die Arbeiten von Uwe Schimank eine soziologische »Theorie-Familie«, die trotz beträchtlicher Meinungsverschiedenheiten gemeinsam davon ausgeht, dass die moderne Gesellschaft in der Sachdimension als polyzentrisch vorgestellt werden muss, da sie distinkte Handlungsfelder, wie Politik, Recht, Wirtschaft, Massenmedien, Kunst oder Sport, herausgebildet hat (Schimank 2015).
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Darüber hinaus gibt es zahlreiche Modi, die in den Sozialwissenschaften bislang überhaupt nicht oder nur äußerst selten berücksichtigt wurden, wie etwa [REP], [FIK], [MET], [GEW] oder [BIN]. Latour bietet mit seinen insgesamt fünfzehn Existenzweisen eine vergleichsweise breite Palette an, was auch daran liegt, dass er in seinem Modell Aspekte verhandelt, die bei anderen Autorinnen auf völlig anderen Ebenen angesiedelt werden. So bezieht sich der [REP]Modus auf Operationsketten, die dafür sorgen, dass lebendige Körper und physikalische Kräfte subsistieren. Und im [BIN]-Modus geht es um die Produktion von leidenschaftlichen Interessen, Lüsten und Begierden. Nun spielt der Körper genauso wie das Begehren zwar seit einigen Jahren eine immer größere Rolle in der Soziologie, gerade in poststrukturalistisch oder geschlechtersoziologisch informierten Arbeiten. Gleichwohl werden Körper und Lüste bisher nirgendwo im Sinne Latours als Operationsketten verhandelt, die man umstandslos neben Religion, Recht oder Politik einordnen könnte. Wenn überhaupt, dann tauchen sie in handlungstheoretischen Ansätzen als subjektive Attribute oder in strukturtheoretischen Analysen als diskursive Anrufungen auf. Ganz ähnlich sieht es mit den Existenzweisen [NET], [PRÄ] und [DK] aus, denn diese bilden die metatheoretische Grundlage für die gesamte Untersuchung. Es ist daher überraschend, wenn diese Kontraste als eigenständige Existenzweisen aufgeführt werden. Wenn überhaupt, dann wäre ja zu erwarten, dass sie im Sinne einer autologischen Theorieanlage als methodologische Elemente der wissenschaftlichen Referenzkette [REF] ausgeflaggt werden. Dies ist aber nicht der Fall. Hier wäre also im Rahmen theoretischer oder gegenstandsnaher Anschlussarbeiten zu prüfen, welche positiven und negativen Konsequenzen eine so aufgebaute Differenzierungstheorie mit sich bringt. Weiterhin fällt auf, dass der Schwerpunkt, anders als bei den zuvor genannten Autoren, ganz klar auf den Übergängen, Schnittstellen bzw. Kreuzungen zwischen den einzelnen Modi liegt (Im Französischen: »croisements«, im Englischen: »Crossings«). Es sind »die Kreuzungen der verschiedenen Modi, die das Herz unserer Untersuchung bilden« (Latour 2014: 103). Die Modi sind selbstreferenziell und artikulieren einzigartige Werte, doch sie beruhen auch aufeinander. Und zwar nicht nur im Sinne wechselseitiger Leistungsbeziehungen und struktureller Kopplungen, sondern bis in ihre innerste Operationslogik hinein. Um ihre Funktion zu erfüllen und ihre Werte zu bewahren, können »die Modi sich gegenseitig manche ihrer Tugenden ausleihen« (ebd.: 353). Existenzweisen stellen somit »Werkzeuge« (ebd.: 571) füreinander dar, sie sind aufeinander angewiesen, um sich auszubreiten. Sie gehen symbiotische Verhältnisse ein. So braucht die Wissenschaft die Fiktion, um den von ihr erfassten Referenzen eine konkrete Gestalt zu verleihen [REF ∙ FIK], die Religion braucht Organisationsprozesse, um Heilsversprechen über institutionelle Infrastrukturen glaubhaft zu transportieren [REL ∙ ORG], die Politik zählt auf das Recht, um kollektive Verbindlichkeit herzustellen [POL ∙ REC], Netzwerke sind
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für ihre Ausbreitung auf die richtungsweisenden Signale der Präpositionen angewiesen [NET ∙ PRÄ], moralische Bedenken können nur dann etwas bewirken, wenn es überhaupt die Möglichkeit zur Umkehr gibt [MOR ∙ MET], technische Innovationen sind lediglich von Dauer, wenn sich ihre praktische Handhabung in die Gewohnheiten einschreiben kann [TEC ∙ GEW] etc. Bereits diese kurze Auflistung zeigt, dass Latours Modell unzählige Kreuzungen sichtbar macht, die sich in der Folge genauer erkunden lassen. Der Autor hat in diesem Zusammenhang paarweise Vergleiche vor Augen, also bilaterale Kreuzungen, an denen sich zwei Operationsketten (wechselseitig) stützen. Zumindest sind das die Fälle, die im Buch immer wieder adressiert und besprochen werden. Vorstellbar wären allerdings auch Prozesse, in denen sich mehr als zwei Existenzweisen überschneiden. Es ist sogar zu erwarten, dass multiple Kreuzungen eher die Regel sind, sobald man die begriffliche Abstraktionsebene verlässt und sich sozialen Situationen und praktischen Problemen zuwendet. Will man beispielsweise den populistisch geführten Wahlkampf einer Politikerin analysieren, so wird das Phänomen nur mit der gebotenen Tiefenschärfe erfasst, wenn man die Kreuzungen betrachtet, die der politische Kreislauf dabei mit organisationalen, reproduktiven, fiktionalen, referenziellen, moralischen oder leidenschaftlichen Operationen eingeht. Der Vorzug von Latours Theorieoptik gegenüber anderen Ansätzen könnte nun darin bestehen, dass durch die Analyse von distinkten, aber miteinander verketteten Existenzweisen die Komplexität eines Phänomens sichtbar wird, ohne im chaotischen Strom der Ereignisse zu versinken. Der damit in Aussicht gestellte Mehrwert wäre freilich erst im Rahmen empirisch fundierter Folgeuntersuchungen unter Beweis zu stellen. In Latours Theorie der Kollektive bleiben kulturhistorisch gewachsene Differenzen trotz situativer Symbiosen grundsätzlich intakt. Eine Existenzweise kann zwar von einer anderen operativ eingefaltet werden, in solchen Fällen haben wir es jedoch mit fallspezifischen Instrumentalisierungen zu tun, die nicht dazu in der Lage sind, den einbezogenen Wert als solchen zu verändern. Latour geht davon aus, dass die Modernen »inkommensurable Existenzmodi« (Latour 2014: 518) hervorgebracht haben, die weder durch situative Faltungen noch durch homogene Zentralperspektiven nivelliert werden können: »Jeder Modus erfaßt die anderen Modi nach seiner eigenen Art von Existenz – und mißversteht sie alle auf eine jedesmal besondere Weise.« (Ebd.: 308) Die einzelnen Werte lassen sich trotz wechselseitiger Indienstnahmen nicht aufeinander reduzieren, sie folgen ihrer eigenen Trajektorie und zeichnen sich durch einzigartige Merkmale aus. Bei der heuristischen Erfassung dieser Besonderheiten offenbaren sich diverse Ähnlichkeiten zu bestehenden Ansätzen. So besteht eine grundlagentheoretische Nähe zwischen Latour und Weber, da beide eine wertorientierte Differenzierungstheorie vorlegen. Es ergibt sich eine Verwandtschaft zwischen Latours Gelingensbedingungen, dem Konzept der Bewährungsproben bei Boltanski und Thévenot und den binä-
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ren Codes der Systemtheorie. Und schließlich erinnert Latours Begriff der Alterierung an Luhmanns Konzept der teilsystemischen Funktion. Auch in methodologischer Hinsicht ist die Kluft zwischen Luhmann und Latour gar nicht (mehr) so groß, denn beide setzen auf eine operative Theorieanlage, bei der distinkte Sinnlogiken nicht als Substanzen, sondern als Prozesse aufgefasst werden. Darüber hinaus lehnt Latour in Übereinstimmung mit dem Theorem der funktionalen Differenzierung die Vorstellung von einem gesellschaftlichen Zentrum wie der Politik oder der Ökonomie ab, stattdessen will er seinen Leserinnen den Eindruck vermitteln, dass »jeder der Modi der beste, der differenzierteste, der bedeutendste, der rationalste von allen ist« (ebd.: 28). Diese Modellierung überzeugt, denn trotz eines Kaleidoskops aus fünfzehn Existenzweisen wird jede einzelne so dargestellt und in Szene gesetzt, dass sie umstandslos als entscheidender Charakterzug der Modernen bezeichnet werden könnte. Für Latour ist die Moderne ebenso wie für Habermas ein politisches Projekt, sie ist aber auch ein zutiefst religiöses, juristisches, fiktionales, organisatorisches, moralisches und wissenschaftliches Projekt. Damit streitet der Autor keineswegs ab, dass es in der Praxis immer wieder zu einseitigen Kurzschlüssen und Übergriffen kommen kann, doch er sieht darin keinen notwendigen Automatismus, der sich aus der expansiven Operationslogik einer Existenzweise ergeben würde. Ein Alleinstellungsmerkmal dieser durch den Pragmatismus inspirierten Variante der Differenzierungstheorie besteht sicherlich darin, dass Latour in der Differenzierungsfrage zu keinem Zeitpunkt eine neutrale Beobachterrolle einzunehmen versucht. Er sagt ganz offensiv, dass es ihm darum geht, die durch die Modi artikulierten Kontraste zu erhalten und im Rahmen zukünftiger institutioneller Designs zu berücksichtigen. Die Theorie stellt das Kollektiv als integrierte und verschachtelte Anordnung von Wertschöpfungsprozessen vor. Die Entkopplung einzelner Wertsphären muss daher als höchst unwahrscheinlich gelten. Als zentrales Bezugsproblem der Untersuchung erweisen sich stattdessen die zahlreichen Kategorienfehler der Modernen. Denn durch mangelhafte Institutionen werden einzelne Existenzweisen im Laufe der Geschichte immer wieder bis zur Unkenntlichkeit gebeugt und erdrückt. Latour zielt mit seiner Untersuchung darauf ab, diese »gefährlichen Amalgame« (ebd.: 196) und Verknotungen aufzulösen. Auf dem Weg zu einem besseren Verständnis der Modernen versucht Latour vor allem zwei besonders folgenreiche Amalgame zu beseitigen: Zum einen wendet er sich gegen die moderne Vorstellung von der Wissenschaft als Amalgam aus [REF] und [REP], da durch das so erzeugte Verständnis von Wirklichkeit alle anderen Modi zum Verschwinden gebracht werden (vgl. Latour 2014: 119 ff.). Zum anderen attackiert er das Konstrukt der kapitalistischen Ökonomie, da es sich im Rückgriff auf die Erfahrung als Amalgam aus drei verschiedenen Modi darstellt (vgl. ebd.: 517 ff.). Durch die Fokussierung auf die Kategorienfehler der Modernen bewegt sich Latour durchaus
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in konzeptioneller Nähe zu Autoren wie Habermas oder Bourdieu, wenn diese »Kolonialisierungen« (Habermas 1981) bzw. »Intrusionen« (Bourdieu 1998) diagnostizieren, bei denen es zu Prozessen der Verrechtlichung, Monetarisierung oder Ökonomisierung kommt. Latour geht es jedoch nicht um eine bloße Kritik der kollektiven Verhältnisse, sondern um konstruktive Neubeschreibungen, die als Fundament für diplomatische Verhandlungen dienen sollen. Schließlich kristallisiert sich im direkten Vergleich mit Bourdieu eine vorläufig letzte Eigenart der Latour’schen Differenzierungstheorie heraus. Denn während Bourdieu die Spielregeln der sozialen Felder als Ausdruck eines mit unterschiedlichen Kapitalressourcen geführten Kampfes um symbolische Macht versteht, spielen Faktoren wie Kapital, Macht, Herrschaft und Gewalt für Latours Soziologie der Existenzweisen keine nennenswerte Rolle. Sein theoretisches Bezugssystem ist (noch) nicht auf soziale Kämpfe und Konflikte ausgerichtet. Die leidenschaftlichen Reibungspunkte und gewaltförmigen Auseinandersetzungen der Modernen bleiben vielmehr hinter abstrakten Begriffen wie »dem Kategorienfehler« oder »der Gelingensbedingung« weitgehend verborgen. Latour demonstriert zwar an einigen Stellen, dass sich Macht- und Ungleichheitsverhältnisse durchaus in sein Modell einbauen lassen (vgl. Latour 2014: 565 ff.; vgl. dazu bereits: Latour 2006), sie stehen aber sicher nicht im Zentrum seiner Gesellschaftstheorie. Im Vergleich zu Karl Marx’ schonungsloser Aufdeckung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse, Michel Foucaults düsteren Machtanalysen oder Pierre Bourdieus kritischer Herrschaftssoziologie wirkt Latours Beschreibung moderner Wertschöpfungsketten bislang erstaunlich gleichförmig und steril. Diese Bemerkung trifft freilich nur auf Latours Aussagen über den ›Innenraum‹ der Moderne zu. Das von ihm präsentierte Bild verändert sich, sobald sich der Fokus auf die kollabierenden Außengrenzen richtet. Denn an den porös gewordenen Grenzen sieht er schwerwiegende Auseinandersetzungen heraufziehen.7 Dort prallen die verschiedenen Kollektive im Rahmen antagonistischer Deutungs- und Verteilungskonflikte leidenschaftlich aufeinander und steuern entlang von simpel gestrickten Freund/Feind-Unterscheidungen auf einen Kampf um kulturelle Wertvorstellungen und gegen planetarische Rückkopplungsschleifen zu. Aufgrund einer als bedrohlich empfundenen Transformation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse spricht Latour dann auch im Anschluss an den Naturwissenschaftler James E. Lovelock (2006) von der unausweichlichen »Rache Gaias« (Latour 2013). Als »Gaia«8 bezeichnet er 7 | In diesem Zusammenhang stehen auch seine Überlegungen zum islamistischen Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« vom 11. Januar 2015 in Paris (vgl. Latour 2015). 8 | In der griechischen Mythologie bringt Gaia als Muttergöttin das Leben hervor und löscht es als Todesgöttin aus. Aufgrund dieser Doppelfunktion wird sie mitunter als
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menschlich beeinflusste Veränderungen des Planeten, die sich in Naturkatastrophen niederschlagen und in Zukunft zur Auslöschung des Lebens führen könnten. Angesichts dieses apokalyptischen Szenarios kann es daher in seinen Augen nur darum gehen, durch globale Bündnisse und eine soziologisch informierte Diplomatie das Schlimmste abzuwenden: »Wenn es nur eine Erde gibt und sie gegen uns ist, was werden wir tun?« (Latour 2014: 652) Mit diesem Verweis auf Latours politikökologisches Leitmotiv möchte ich diese einführende Betrachtung abschließen. Die vorangegangene Rekonstruktion sollte sinnvolle Einsatzpunkte für künftige Theorievergleiche, gegenstandsbezogene Untersuchungen, begriffliche Revisionen und konzeptuelle Weiterentwicklungen markieren. Eine weitere Vertiefung der Inhalte kann an dieser Stelle unterbleiben, die erforderliche Konkretion entsteht in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Existenzweisen durch die nachfolgenden Beiträge. Ausgehend von dieser überblicksartigen Einführung sollte deutlich geworden sein, dass Existenzweisen keineswegs als Gegenprogramm zur bisherigen Soziologie verstanden werden kann.9 Latour legt mit dem Buch vielmehr den Grundstein für eine innovative Gesellschaftstheorie, die der Debatte über die kulturellen Wertvorstellungen und Differenzierungsregime der Modernen neuen Schwung verleihen könnte.
3. Z ur G liederung des B andes Bruno Latours gesellschaftstheoretisches Hauptwerk Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen enthält eine ganze Legion an neuen Befunden und Theoremen. Eine Besprechung dieser äußerst vielschichtigen und ambitionierten Abhandlung ist daher eine echte Herausforderung für alle Beteiligten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten fangen bei der Konzeptualisierung eines systematischen Besprechungsbandes an und erreichen ihren Höhepunkt bei der verständnisorientierten Erläuterung und Beurteilung fragmentarisch gebliebener Theoreme. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben diese Herausforderung mit viel Engagement angenommen. Sie haben sich um eine sorgfältige Interpretation und kritische Auseinandersetzung bemüht, die dem Text gerecht wird. Um pauschale Lobpreisungen oder Abrechnungen zu verSymbol für den lebendigen Planeten Erde verwendet. In Existenzweisen spielt die etwas esoterisch anmutende Anrufung Gaias keine entscheidende Rolle, der Begriff taucht im Buch lediglich am Rande auf. 9 | Neben den Wahlverwandtschaften, die sich im Verhältnis zur soziologischen Differenzierungstheorie gezeigt haben, wäre künftig insbesondere zu prüfen, inwiefern sich durch die Hinwendung zur Analyse von Existenzweisen Latours Beziehung zum Pragmatismus (Lamla 2013) und zur Praxistheorie (Schäfer 2013) verschoben hat.
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meiden, fokussieren sie in ihren Analysen auf einzelne Modi. Der Auf bau des Bandes folgt der erkenntnisleitenden Grundidee von Existenzweisen, indem die einzelnen Beiträge die Leserinnen und Leser zunächst einmal auf Latours Suche nach neuen »Interpretationsschlüsseln« (Latour 2014: 439) mitnehmen. Seine differenzierungstheoretische Wende gibt Anlass für eine arbeitsteilige und systematische Rekonstruktion der vorgeschlagenen Existenzweisen. Ist es dem Autor gelungen, eine »Metasprache« (ebd.: 58) zu entwickeln, mit der die empirischen Erfahrungen und Wertvorstellungen der Modernen besser artikuliert werden können? Wir wollen diesen Anspruch prüfen, indem wir begutachten, was Latour im Einzelnen anzubieten hat. Dabei ist es im Grunde irrelevant, bei welchem Wert man mit der Rekonstruktion anfängt, denn wie wir gesehen haben, sind nach seiner Auffassung alle Existenzweisen zunächst einmal gleich wichtig. Daher lassen sich im Grunde für jede Gliederungsvariante gute Argumente vorbringen. Es gehört zu den besonderen Stärken von Latours Ansatz, dass sich die Moderne nun ausgehend von jeder der fünfzehn Existenzweisen aufschließen lässt. Kein Wert lässt sich ohne Weiteres als nebensächlich oder redundant bezeichnen, kein Modus ist so dominant, dass er die anderen in sich einfalten könnte. Dieser Charakterzug zeigt sich nicht zuletzt in den Beiträgen dieses Bandes, denn im Grunde versuchen alle Autorinnen und Autoren das gesamte Werk ausgehend von einer einzigen Existenzweise zu erschließen. Die folgenden Beiträge taxieren ausgehend von ihrer feldspezifischen Expertise den empirischen Gehalt, die kommunikative Anschlussfähigkeit und die Tragfähigkeit von Latours Soziologie der Existenzweisen. Aus dieser gemeinsamen Zielsetzung ergeben sich mindestens drei Bezugsprobleme, die in vielfältiger Weise umkreist und adressiert werden: (1.) Inwiefern kann das zum Einsatz gebrachte theoretische Grundmodell im Vergleich zu konkurrierenden Ansätzen überzeugen? (2.) Liefert Latour eine nachvollziehbare Charakterisierung der einzelnen Existenzmodi, die erfahrungsgesättigt ist und über den soziologischen Wissensbestand hinausweist? (3.) Kann die Moderne als Gesamtformation mit ihren historisch eingeschliffenen Wertvorstellungen und Praktiken anhand der ausgewählten Existenzmodi verstanden und in ein klareres Verhältnis zu den anderen Kollektiven gebracht werden? Ausgehend von dieser dreifachen Aufgabenstellung entsteht auf den folgenden Seiten eine angeregte Debatte, die das Werk in seiner ganzen Bandbreite vorstellt. Durch die bewusste Spezialisierung der Beiträge auf einzelne Existenzweisen wird der dritte Fragenkomplex, in dem es um die Gesamtformation der Moderne geht, zwar nicht in allen Fällen adressiert, er spielt als Fluchtpunkt der Rekonstruktionen aber eine wichtige Rolle, denn dies ist der Maßstab, an dem Latours Untersuchung in Zukunft unweigerlich zu messen sein wird. Dieser Besprechungsband soll dafür zunächst eine verlässliche Gesprächsgrundlage anbieten. Die folgenden Beiträge wollen die Kontroverse über Bruno Latours Soziologie der Existenzweisen nicht beenden, sondern eröffnen.
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L iter atur Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent (2007): Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg: Hamburger Edition. Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2001): Gespräch über die Macht. In: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. Bd. 3, 1976–1979, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 594–608. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bd., Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kneer, Georg/Schroer, Markus/Schüttpelz, Erhard (Hg.) (2008): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lamla, Jörn (2013): Arenen des demokratischen Experimentalismus: Zur Konvergenz von nordamerikanischem und französischem Pragmatismus. In: Berliner Journal für Soziologie 23, S. 345–365. Latour, Bruno (1987): Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge: Harvard University Press. Latour, Bruno (1988): The Pasteurization of France, Cambridge: Harvard University Press. Latour, Bruno (1991): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (1992): Aramis or the Love of Technology, Cambridge: Harvard University Press. Latour, Bruno (1993): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie. Latour, Bruno (1999a): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (1999b): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (2002): Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin: Merve. Latour, Bruno (2006): Die Macht der Assoziation. In: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie, Bielefeld: transcript, S. 195–212. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (2010): The Making of the Law. An Ethnogaphy of the Conseil D’Etat, Cambridge: Polity. Latour, Bruno (2011): Jubilieren: Über religiöse Rede, Berlin: Suhrkamp.
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II. Die Existenzweisen der Moderne und ihre Crossings
[PRÄ] Präposition Georg Kneer
In der Debatte zwischen Protagonisten und Kritikern der Akteur-NetzwerkTheorie über die Modernität der Moderne(n) kommt den Begriffen der Differenzierung und Hybridisierung eine maßgebliche Rolle zu. Den Ausgangspunkt der Kontroverse bildete Bruno Latours Essay Wir sind nie modern gewesen (1998). In dieser Schrift hatte sich Latour für die Auffassung stark gemacht, dass die Modernen einer folgenreichen Selbsttäuschung aufsitzen, da sie in ihrer Verfassung lediglich die differentielle Reinigungsarbeit offiziell anerkennen, jedoch die Übersetzungsarbeit ausblenden, also die fortlaufende Verknüpfung materieller, kultureller und technischer Komponenten zu eigenartigen Mischwesen. Zahlreiche Kritiker konterten mit dem Vorwurf des Kategorienfehlers (Collins/Yearley 1992, Bloor 1999). Demnach verwechselt die Akteur-Netzwerk-Theorie, aufgrund ihrer wenig trennscharfen Begrifflichkeiten, ständig Entitäten, die sorgfältig zu unterscheiden sind, etwa aktiv Handelnde und passive Dinge, Signifikante und Signifikate, wissenschaftliche und politische Repräsentationen. Es folgten diverse Entgegnungen und Klarstellungen, auch einzelne Nachbesserungen, ohne dass aber eine oder gar beiden Seiten zunächst grundlegende Änderungen an ihren Ausgangspositionen vorgenommen hätten. Spätestens mit der Publikation von Latours neuem Buch Existenzweisen (2014) zeichnet sich jedoch ein deutlicher Wandel ab. Latour nimmt eine auffallende Modifikation an seiner Theoriekonzeption vor. Ihm geht es nun darum, Unterschiede etwa zwischen Recht, Wissenschaft, Politik, Religion, Kunst, Technologie etc. herauszuarbeiten, gewissermaßen also selbst die Arbeit der Reinigung zu betreiben. Die Redeweise von einem Umbau des Theorieprogramms meint nicht, dass Latour den Hybriditätsbegriff fallengelassen und schlicht gegen den der Differenzierung eingetauscht hätte. Seine neue Untersuchung kündigt, anders gesagt, die Grundannahmen der Netzwerktheorie nicht auf. Weiterhin spricht er davon, dass das Recht (das Gleiche ließe sich mit Blick auf die Wissenschaft, die Politik usw. sagen) keinen abgegrenzten Bereich bildet, weil es höchst heterogene Elemente verknüpft, also durch die Einrich-
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tung eines hybriden Netzwerks zustande kommt, das selbst nicht aus Recht gebildet ist, genauso wenig »wie die Gasleitung ›aus‹ Gas« (Latour 2014: 76) besteht. Zugleich betont Latour nun jedoch, dass der Begriff des Netzwerks, allein genommen, für eine genauere Erkundung »unzureichend« (ebd.: 78) ist, da er der spezifischen Besonderheit des Rechts (und ebenso: der Wissenschaft, der Politik etc.) nicht Rechnung trägt. Insofern geht der anvisierte Theorieumbau mit einer deutlichen Kritik an den eigenen früheren Begriffsvorschlägen einher. Diese besagt, dass die Netzwerkperspektive zu jedem ihrer Untersuchungsgegenstände unentwegt »das gleiche sagt« (ebd.: 75), sich also stets mit dem Hinweis auf die Heterogenität der mitwirkenden Komponenten begnügt. Um nun aber neben den Gemeinsamkeiten zugleich die Unterschiede zwischen Recht und Wissenschaft, Politik und Religion, Kunst und Technologie etc. herausarbeiten zu können, nimmt Latour eine folgenreiche Erweiterung an seinem konzeptuellen Instrumentarium vor. Er fügt der netzwerktheoretischen Begrifflichkeit mit dem Vokabular der Präposition eine zweite »Metasprache« (ebd.: 491) bzw. »Infrasprache« (ebd.) hinzu, der in seinem Gesamtunternehmen nun die Aufgabe zukommt, die charakteristischen Eigentümlichkeiten bzw. spezifischen Profile der einzelnen Untersuchungsgegenstände zu bestimmen. Zu beachten gilt es dabei, dass sich nach Auskunft Latours die beiden genannten Theorievokabulare nicht widersprechen, sondern wechselseitig ergänzen. Die netzwerktheoretische Begrifflichkeit wird herangezogen, um die assoziative Verknüpfung der mannigfaltigen Elemente nachzuzeichnen, dagegen dient die Theoriesprache der Präposition dem Anliegen, den spezifischen Wert zu bestimmen, der in einem eingerichteten Netzwerk zirkuliert. Instruktiv ist das Beispiel der Gasleitung, das Latour erneut heranzieht, um nun auch die Komplementarität der beiden Perspektiven bzw. Sachverhalte zu erläutern: Die Gasleitung besteht nicht aus Gas, aber in ihr zirkuliert allein Gas (und kein Strom und kein Wasser). Latour generalisiert die am Beispiel der Gasleitung gewonnene Einsicht, verwendet sie also bei der Erkundung sämtlicher Untersuchungsgegenstände: »Das Recht wird nicht juristisch gemacht, aber gleichwohl zirkuliert ›Juristisches‹ darin; die Wissenschaft besteht nicht aus Wissenschaft, aber dennoch zirkuliert ›Wissenschaftliches‹ darin.« (Ebd.: 82) Bei einer ersten Annäherung an das neu ausgerichtete Theorieunternehmen Latours könnte man vermuten, dass der französische Autor sich damit einer Position annähert, die in der Soziologie üblicherweise mit dem Begriff der Differenzierungstheorie1 bezeichnet wird (vgl. Gertenbach 2015: 388). Das dürfte auch nicht völlig falsch sein. Eine genauere Analyse würde vermutlich 1 | Mit soziologischer Differenzierungstheorie ist hier keine einheitliche Theoriekonzeption, sondern ein hoch diversifizierter Theorienkomplex gemeint. Einen Eindruck von der Vielfalt an Traditionslinien, analytischen Perspektiven und Erklärungsmodellen vermitteln Schimank (1996), Tyrell (1998).
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sogar auf eine Vielzahl von begrifflichen und konzeptuellen Parallelen treffen (und einige davon werden im Text kurz angesprochen). Zugleich ist allerdings zu sagen, dass ein Interpretationsvorschlag, der vornehmlich die Konvergenzen in den Blick nimmt, sich der Gefahr aussetzt, die eigentliche Pointe von Latours Ausführungen zu verpassen. Diese wird erst sichtbar, wenn eine bestimmte Divergenz (es existieren etliche; auch hierzu wird der Text einige knappe Angaben machen) Berücksichtigung findet. Die soziologische Differenzierungstheorie und das Theorieprojekt der Existenzweisen kreuzen sich an bestimmten Punkten, aber sie gehen unterschiedliche Wege. Während die Protagonisten der ersten Position, angefangen bei Max Weber, Georg Simmel und Émile Durkheim über Talcott Parsons bis hin zu Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann, den Begriff der Differenzierung heranziehen, um Vorgänge der Modernisierung zu beschreiben, bedient sich Latour der Differenzierungskategorie, um auf die Amodernität der Modernen hinzuweisen. Auch nach der erfolgten Umstellung bzw. Erweiterung seiner Theoriekonzeption hält Latour nämlich weiterhin an der Behauptung fest, dass wir nie modern gewesen sind. Allerdings erfährt diese These nun eine neue Ausgestaltung; gewissermaßen wird die Argumentation, die der französische Autor in seinen früheren Schriften vorgetragen hatte, vom Kopf auf die Füße gestellt. »Die Begriffe waren zu einfach, aber die Diagnose war richtig.« (Latour 2014: 256) Um diesen Richtungswechsel zum Ausdruck zu bringen, spreche ich mit Blick auf Latours revidierte Fassung von der Diagnose der Amodernität mit umgekehrten Vorzeichen. Diese besagt, dass die Modernen sich ständig über ihre Modernität täuschen – aber nicht weil sie zu viel Reinigungsarbeit betreiben, sondern zu wenig. In dieser Sicht generieren die Modernen fortlaufend Wortungetüme – als Beispiele nennt Latour u. a. die Begriffe der Materie, der Gesellschaft, der Sprache und der Ökonomie –, die sich bei näherer Betrachtung, d. h. mit Hilfe der Metasprache der Präposition, als fragwürdige Amalgame entpuppen, also als Begriffshybride, bei denen das, was streng getrennt gehört, miteinander vermengt ist. Damit zeichnet sich die Stoßrichtung von Latours Theorieumbau ab. Von diesem erhofft er sich, den gegen ihn vorgetragenen Vorwurf des Kategorienfehlers an seine modernen Kritiker zurückgeben zu können. Demnach ist es nicht die Akteur-Netzwerk-Theorie, jedenfalls nicht die um die Infrasprache der Präposition erweiterte Theorie der Existenzweisen, die Verwechslungen vornimmt, sondern es sind umgekehrt die Modernen (einschließlich der Kritiker aus dem Umfeld der soziologischen Differenzierungstheorie), die einen »kapitalen Kategorienfehler« (ebd.: 273), ja ganze »Kaskaden von Kategorienfehlern« (ebd.: 163) begehen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht, entsprechend der Vorgaben des Herausgebers, die Metasprache der Präposition. Um meine These vorwegzunehmen: Der Begriff der Präposition fungiert als Zentralkategorie eines Theorieprogramms, das zwar keine Erste Philosophie sein möchte, das
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ohne fundamentalistische Anleihen aber auch nicht auskommt. Die überhöhten Theorieansprüche, die Latour vorträgt, lassen sich ebenso wie die Konstruktionsprobleme, die er sich damit einhandelt, an seinem neuen Grundbegriff paradigmatisch aufzeigen. Die weiteren Überlegungen werden jedoch nicht unmittelbar mit der angedeuteten Kritik einsetzen. Bevor ich dazu komme, möchte ich zunächst die Position Latours erläutern. Die damit vorgenommene Trennung von Darstellung und Kritik ist sicherlich nicht ohne Probleme, hat jedoch auch eine Reihe von Vorzügen. Nicht abgestritten wird, dass es sich bereits bei meiner Darstellung (und ebenso: bei meiner Kritik), wie ja bei jeder Darlegung, um eine Interpretation handelt. Somit ergibt sich folgende Gliederung: In einem ersten Schritt geht es darum, Latours elaborierte Theoriesprache der Präposition genauer vorzustellen (I.). Im zweiten Schritt werden dann ausgewählte Annahmen, Argumentationsfiguren sowie Schlussfolgerungen diskutiert und problematisiert, die Latour bei der Ausgestaltung seines neuen grundbegrifflichen Vokabulars vorbringt – dies mit dem Ziel, die immensen Explikations- und Begründungslasten aufzuzeigen, die er sich dabei auf bürdet. Gelegentliche Seitenblicke auf die soziologische Differenzierungstheorie sollen dazu beitragen, das Gesagte genauer zu konturieren (II.).
I. Der Begriff der Präposition bezeichnet die methodologische Infrasprache, an der sich die neue (erweiterte) Theoriekonzeption Latours orientiert; in einer anderen Terminologie ließe sich auch davon sprechen, dass der Präpositionsbegriff einen spezifischen Existenzmodus markiert, der Zugang zu allen anderen Existenzmodi eröffnet, indem er sie markiert und damit zugleich unterscheidet. Um sich das Gesagte verständlich zu machen, gilt es zunächst das Konzept des Seinsmodus bzw. der Existenzweise zu erläutern.2 Hierzu möchte ich mehrere konzeptuelle Ausgangsentscheidungen Latours anführen. Zunächst: Die Theorie der Existenzweisen ist explizit als eine ontologische Untersuchung angelegt. Latour geht es nicht um die Analyse eines eingegrenzten Gegenstandsfeldes (und schon gar nicht um die Klärung der epistemologischen Frage, wie ein Wissen über dieses Gegenstandsfeld möglich ist), sondern um 2 | Um (mögliche) Überschneidungen mit anderen Beiträgen in diesem Band zu vermeiden, sind die Ausführungen zum Grundbegriff der Existenzweise knapp gehalten. Auch wird darauf verzichtet, die konzeptuellen Anleihen, die Latour diesbezüglich bei verschiedenen Referenztheorien – zu nennen wären etwa die Prozessontologie von Alfred North Whitehead, der radikale Empirismus von William James sowie die Monadologie von Gabriel Tarde – vornimmt, im Einzelnen auszuweisen; genauere Angaben hierzu finden sich bei Wieser (2012: 213 ff.).
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die Erkundung der Grundstrukturen der Wirklichkeit überhaupt, ja des Seins insgesamt, gewissermaßen des Existierenden in seiner ganzen Fülle. Ferner: Sein wird dabei nicht als Substanz, nicht als etwas Festes oder Stabiles gekennzeichnet. Vielmehr beschreibt Latour das ontologische Inventar als etwas, das ständig in Bewegung ist, also eine endogene Unruhe besitzt. Terminologisch wird diese Auffassung mit der Redeweise vom »Sein-als-anderes« (Latour 2014: 239) zum Ausdruck gebracht, die streng von der Vorstellung des Seins-als-sein abgegrenzt wird; Philosophen würden davon sprechen, dass Latour einen prozessontologischen Ansatz gegenüber einer substanzontologischen Konzeption favorisiert. Die Annahme vom Sein-als-anderes widerspricht nicht grundsätzlich der Beobachtung von Dauer und Fortsetzung, betont aber, dass das Existierende, um Subsistenz zu gewinnen, durch etwas Anderes hindurchgehen muss, Kontinuitäten somit auf Diskontinuitäten angewiesen sind. Zudem: Latour vertritt einen »ontologischen Pluralismus« (Latour 2014: 214). Demzufolge existieren verschiedene Formen des Seins. Bei der Welt handelt es sich in dieser Sicht nicht um ein Universum, sondern um ein »Multiversum« (ebd.: 291). Das Existierende bzw. das Sein kommt demnach stets in der Mehrzahl vor; ausgehend von dieser Annahme macht es Latour sich zur Aufgabe, die verschiedenen Seinsweisen bzw. Existenzmodi im Einzelnen auszuweisen. Und schließlich: Die Begriffe des Seins und des Sinns werden synonym verwendet (vgl. ebd.: 336). Bei den verschiedenen Seins- bzw. Existenzweisen handelt es sich dementsprechend zugleich um entsprechende Modi des Sinns. Die Bedeutung der zuletzt angeführten Ausgangsentscheidung kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden; mit ihr geht das Unternehmen auf Distanz zu dualistischen Denkfiguren jeglicher Couleur. Kurz gesagt, ist mit dem Begriff des Dualismus bei Latour eine in der modernen Welt äußert wirkmächtige Semantik, sozusagen: die Theorie der Modernen gemeint: Diese nimmt, so der Autor, eine strenge Trennung zwischen objektiver Realität und subjektiven Realitätsbeschreibungen vor, wobei die Wirklichkeit-an-sich stets im Singular vorkommt, sinnförmige Wirklichkeitsbeschreibungen (Wirklichkeit-für-uns) jedoch im Plural, da unterstellt wird, dass sich die eine Wirklichkeit auf mehrere Weisen beschreiben lässt. Die Theorie der Existenzweisen vertritt, wie gesehen, ein davon deutlich abweichendes Realitätsverständnis. Für Latour stellt sich die (moderne) Welt als ein Pluriversum dar, das ebenso viele Modi des Seins wie Typen des Sinns und damit »des Wahrsprechens« (ebd.: 99) kennt – jegliches sinnförmige Geschehen gilt ihm als ein Operieren des Seins, also als ein innerweltliches Geschehen, das die Welt mittels des eigenen Wahrsprechens zugleich verändert.3 Diese Auffassung gilt es bei einer Vielzahl von 3 | Der Herausgeber des vorliegenden Bandes hat gegenüber einer ersten Fassung meines Beitrags den Einwand formuliert, dass es Latour weniger um eine ontologische Erkundung der allgemeinen Wirklichkeitsstrukturen bzw. des Seins überhaupt geht, als
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Begriffen mitzubedenken. Wenn Latour etwa die Termini der Artikulation, Proposition oder der Argumentation anführt, dann sind damit keine Einheiten der menschlichen Rede bzw. der Sprache gemeint, sondern ontologische Eigenschaften des Multiversums. Damit komme ich zurück zum Konzept der Präposition. Latour verwendet den Ausdruck, wie angedeutet, in einem zweifachen Sinne: Zum einen bezeichnet der Terminus eine spezifische Existenzweise, zum anderen die Infrasprache (neben der des Netzwerks), an der sich seine Theoriekonzeption orientiert. Diese Begriffsdopplung ist ausdrücklich beabsichtigt; sie verdankt sich, wie sich in aller Kürze sagen lässt, einem autologischen Theoriebau: Das, was die Theorie über die Welt (zumindest mit Blick auf den Seinsmodus der Präposition) aussagt, gilt zugleich für die Theorie (Infrasprache der Untersuchung) selbst. Zur Verdeutlichung des Gesagten möchte ich fünf Punkte anführen. Bei der Präposition handelt es sich, erstens, um denjenigen Existenzmodus (jede Seinsweise verfügt über eine charakteristische Eigentümlichkeit), der die »Interpretationsschlüssel« (Latour 2014: 103) für sämtliche weiteren Modi vorgibt. Latour erläutert seine Auffassung an einem einfachen Beispiel: »Wenn Sie sich in einer Buchhandlung befinden und in Büchern blättern, die auf dem Titelblatt die Bezeichnung ›Roman‹, ›Dokument‹, ›Untersuchung‹, ›Dokufiktion‹, ›Memoiren‹, ›Essay‹ tragen, dann spielen diese Angaben die Rolle von Präpositionen.« (Ebd.: 104) Demzufolge stellen Präpositionen eine Art »Wegweiser« (ebd.: 105) dar, die Orientierung geben. Sie übernehmen die Aufgabe der Kategorisierung; dadurch, dass sie das Weitere ankündigen, geben sie zugleich zu erkennen, wie das Nachfolgende zu verstehen und zu interpretieren ist. Kurz: Präpositionen spielen eine »entscheidende Rolle beim Verständnis dessen, was folgen wird« (ebd.: 104). Aus dem Gesagten geht hervor, weshalb Latour den Terminus der Präposition zur Bezeichnung desjenigen Modus gewählt hat, der auf alle anderen Modi verweist. Der Ausdruck steht für die Auffassung, dass die Präposition eine Position einnimmt, »die vor der Proposition kommt und vielmehr um die Freilegung der Werte und Kontraste, die von den Modernen instauriert werden. Die damit artikulierte Gegenüberstellung greift mit Blick auf Latours Theorieanliegen m. E. gerade nicht. Ich bestreite keineswegs, dass Latour in erster Linie an der analytischen Sondierung der modernen Werte und Unterscheidungen interessiert ist (wenngleich diese Auffassung mit Latours Auskunft der Amodernität der modernen Welt nicht ohne Weiteres kompatibel ist), sondern verweise im Text darauf, dass Latour dieses Interesse eben mit ontologischen Mitteln verfolgt. Zudem ist zu beachten, dass sich nach Ansicht von Latour einige der von ihm angeführten Existenzmodi der Modernen auch außerhalb der modernen Welt auffinden lassen, also gewissermaßen zum Grundinventar der Wirklichkeit überhaupt gehören: »Vier dieser Modi teilen wir [Modernen; Hinzufügung G. K.] mit den Nicht-Menschen, fünf mit allen anderen Kollektiven.« (Latour 2014: 406)
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über die Art und Weise entscheidet, wie man diese aufzufassen hat« (ebd.). Zugleich wird ersichtlich, dass der Begriff der Präposition, genau genommen, allein im Plural zu verwenden ist: Es existiert eine Vielzahl von Präpositionen; dies einfach deshalb, weil es ja auch eine Vielzahl von Existenzmodi gibt, auf die die Präpositionen hinweisen. Dabei gilt es erneut die ontologische Lesart zu beachten, die sämtliche Begriffe erfahren, wenn Latour ausgehend vom Beispiel der Angaben auf den Titelseiten von Büchern den Existenzmodus der Präposition erläutert. Aus seiner Sicht ist damit eine Art ontologisches Geschehen gemeint, das eigenständige »Wesen« (ebd.: 238) generiert bzw. »instauriert« (ebd.: 239), nämlich Deutungsmuster (Interpretationsschlüssel), die ein Verständnis aller weiteren Seinsweisen eröffnen. Die selbstbezüglichen Schlussfolgerungen, die Latour aus dem Gesagten zieht, sind bereits angesprochen worden. Das Vokabular der Präposition dient Latour als Infrasprache der eigenen Untersuchung, weil es aus seiner Sicht den interpretativen Zugang zu sämtlichen Existenzmodi ermöglicht, also genau das leistet, was er sich mit seinem eigenen Theorieprojekt vorgenommen hat. Aus der Sicht Latours übernimmt der Existenzmodus der Präposition, zweitens, die Aufgabe der Differenzierung. Indem Präpositionen nämlich Seinsweisen markieren bzw. kategorisieren, also jeweils angeben, wie das Nachfolgende zu verstehen ist, artikulieren sie zugleich Unterschiede zwischen den einzelnen Modi. Präpositionen leisten die Arbeit der Reinigung, sie sorgen für eine trennscharfe Trennung. Eine derartige Reinigungsarbeit dürfte deshalb erforderlich sein, weil sich die Modi ständig kreuzen und überschneiden. Um eine Metapher aufzugreifen, die Latour selbst verwendet: Bei den einzelnen Existenzweisen handelt es sich gleichsam um spezifische Artikulationsfäden, die den ontologischen Raum auf eigenen Flugbahnen durchqueren, dabei jedoch auf andere Fäden treffen und sich mit diesen verknoten. Wie jede Seinsweise besitzt auch der Existenzmodus der Präposition, so Latour, seine eigene »Trajektorie« (Latour 2014: 98): Der Pfad der Präposition führt demnach von einer Kreuzung zur nächsten, an denen die Arbeit der Reinigung dann jeweils ihr Werk verrichtet, also die Knoten auftrennt bzw. auflöst. Latour legt Wert auf die Feststellung, dass damit keine Zerschlagung, sondern die Entflechtung der ineinander verschlungenen Fäden gemeint ist. Gewissermaßen verfolgt die Tätigkeit des Trennens das Vorhaben, einen reibungslosen Verkehr zu gewährleisten, so dass sämtliche ontologischen Wesen (alle Existenzmodi instaurieren ihre jeweils eigenen Entitäten) auf ihren modusspezifischen Bahnen ungehindert zirkulieren und auch die Kreuzungen schadlos passieren können. Erneut bedient sich Latour der angeführten Überlegungen in selbstbezüglicher Weise. Er räumt in seiner Untersuchung dem Geschäft des »Aufspüren[s] von Kreuzungen« (ebd.: 655) einen breiten Raum ein, um hiervon ausgehend die ineinander verschlungenen Seinsweisen zu trennen, also die verschiedenen Modi jeweils gesondert auszuweisen.
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Latour zufolge bieten Präpositionen, drittens, eine geeignete Handhabe, um Verwechselungen bzw. Fehlinterpretationen zu vermeiden. Zu illustrativen Zwecken greife ich nochmals sein Beispiel der Buchklassifikation auf: »Alle Welt kann sehen, daß man einen Kategorienfehler begeht, wenn man bei der Lektüre eines ›Dokuments‹ geglaubt hat, es handele sich um einen Roman oder umgekehrt.« (Latour 2014: 105) Demnach machen sich Verwechselungen in Form von Irritationen, Missverständnissen und Konfusionen bemerkbar; diese lösen sich auf, sobald der passende Interpretationsschlüssel gefunden ist, also die entsprechende Genreangabe auf der Titelseite berücksichtigt wird. Latour reformuliert auch diese Beobachtung in einer ontologischen Begrifflichkeit. Demzufolge trifft der Existenzmodus der Präposition, wie jede Seinsweise, mit dem Kategorienfehler auf einen spezifischen »Hiatus« (ebd.: 361), also auf Öffnungen und Spalten, an denen sich der Modus gleichsam abarbeitet und die er – im Falle einer erfolgreichen Artikulation – überschreitet. Dass Latour auch von dieser Überlegung einen autologischen Gebrauch macht, habe ich bereits in der Einleitung des Beitrags angesprochen. Mit seiner Untersuchung verfolgt der französische Autor das Anliegen, moderne Kategorienfehler zu erkunden und zu überwinden, also Verwirrungen bzw. Konfusionen, die aus seiner Sicht kennzeichnend für das Weltverständnis der Modernen sind. Nach Auskunft von Latour unterliegen Präpositionen, viertens, bestimmten Erfolgsbedingungen, d. h. die Instauration von passenden Interpretationsschlüsseln kann gelingen, aber eben auch scheitern. Dieser Auffassung zufolge handelt es sich bei dem Existenzmodus der Präposition um einen besonderen Typus des – ontologisch begriffenen – Wahrsprechens, der wie alle anderen modusspezifischen Artikulationsweisen eigene Gelingens- und Misslingensbedingungen aufweist. Der Erfolg bemisst sich in diesem Fall, so ließe es sich in aller Kürze sagen, an der ›Treffsicherheit‹ der vorgenommenen Klassifikationen. Demnach sind die Gelingensbedingungen allesamt erfüllt, wenn der Modus der Präposition die richtigen Interpretationsschlüssel ausfindig macht, also den nachfolgenden Seinsweisen jeweils das entsprechende Profil zuweist; dagegen sind sie nicht erfüllt, wenn der Modus einen oder mehrere nachfolgende Artikulationsweisen falsch markiert, woraus Verwechselungen bzw. Kategorienfehler resultieren. Erneut reflektiert Latour die selbstbezüglichen Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ergeben: Auch sein eigenes Theorieprojekt, das sich der Infrasprache der Präposition bedient, ist bestimmten Bedingungen des Wahrsprechens verpflichtet. Wiederholt kommt er deshalb auf den Aufwand, die Mühe sowie die Sorgfalt zu sprechen, die erforderlich sind, um ein Misslingen zu vermeiden und die Untersuchung zum Erfolg zu führen. Zu diesem Zweck verwendet er eine besondere Erzähltechnik. Er führt in seine Arbeit die Figur einer fingierten Anthropologin ein, die sich bemüht, das »Wertesystem« (ebd.: 114) der Modernen zu erkunden; auf diese Weise ist es ihm möglich, mit Blick auf eine dritte Person wiederholt von den Anstren-
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gungen und Strapazen der Untersuchung zu berichten, die er doch selbst auf sich genommen hat. Der letzte Punkt lässt sich recht kurz abhandeln. Fünftens: Latour zufolge ist die Seinsweise der Präposition der Zielstellung verpflichtet, den ontologischen Pluralismus sicherzustellen (Latour 2014: 655). In gewisser Weise handelt es sich um eine Zusammenfassung der zuvor angeführten Überlegungen: Demnach gewährleistet der Modus der Präposition die ontologische Vielfalt der Welt, indem er eben alle Seinsweisen ohne Ausnahme sorgfältig kategorisiert, differenziert und somit vor Verwechselungen bewahrt. Auch ist der autologische Zirkelschluss schon angesprochen worden, den Latour vornimmt: Mit seiner Theorie der Existenzweisen plädiert er nachhaltig für eine plurale Ontologie, also für die Position des ontologischen Multiversums.
II. Die vorstehenden Ausführungen haben sich damit begnügt, Latours Grundbegriff der Präposition vorzustellen, ohne dabei das Vorgetragene genauer zu diskutieren und zu problematisieren. Das soll im Weiteren geschehen. In bestimmter Hinsicht werde ich mir dabei Latours Konzept der Präposition selbst zu Eigen machen. Auch ich begreife den Begriff als Interpretationsschlüssel – allerdings nicht als Schlüssel, der einem den Zugang zu allen weiteren Existenzmodi verschafft, sondern der den Zutritt zu einer Beobachtungsposition ermöglicht, von der aus die Probleme sichtbar werden, mit denen es Latours Theoriekonzeption zu tun bekommt. Und auch ich werde mich von einer Kreuzung zur nächsten bewegen. Mit diesem Ausdruck sind im Folgenden aber keine Schnittpunkte von Seinsweisen gemeint, sondern Begriffsunterscheidungen, kurz: Ich begreife das Konzept der Präposition als ein methodisches Verfahren, nicht jedoch als eine ontologische Eigenschaft der Welt. Mit dem Nachstehenden möchte ich zugleich deutlich machen, weshalb ich mich Latours ontologischer Lesart nicht anschließen kann. Diese Zielsetzung war auch ausschlaggebend für die Wahl der Ausgangsunterscheidung, mit der die folgenden Überlegungen einsetzen. Pluralität der Beschreibungen/Singularität der Wirklichkeit: Bei Latours Konzeption handelt es sich, dies ist mehrfach gesagt worden, um einen dezidiert ontologischen Theorievorschlag. Die damit vorgenommene Ausrichtung erläutert Latour ausgehend von seiner Modernitätskritik. Aus seiner Sicht leiden die Modernen, kurz gesagt, an einer »ontologische(n) Unterernährung« (Latour 2014: 417). Der Grundirrtum des modernen Weltverständnisses besteht demzufolge darin, auch das ist schon angesprochen worden, dass zwar der Begriff der Wirklichkeitsbeschreibung in der Mehrzahl, der Begriff der Wirklichkeit selbst jedoch nur in der Einzahl vorkommt. »Unterschiedliche
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Worte – eine einzige Wirklichkeit. Pluralismus der Repräsentationen – Monismus des Seins.« (Ebd.: 56) Die Autoren der sozialen Differenzierungstheorie, aber nicht nur sie, würden hier widersprechen. Ihrer Ansicht nach ist die Wirklichkeit selbst plural verfasst, gerade weil die moderne Gesellschaft über eine Vielzahl an Perspektiven verfügt. Der von Latour vorgetragene Einwand fällt auf ihn selbst zurück. Mit seiner Kritik an den Modernen unterstellt er fälschlicherweise, dass den vielfältigen Wirklichkeitsbeschreibungen keinerlei Wirklichkeit zukommt. Eine solche Auffassung ist jedoch nicht haltbar. Realitätsbeschreibungen sind ja selbst Teil der Realität, da sie stets intern und nicht extern angefertigt werden. Explizit findet sich das Gesagte bei Luhmann ausformuliert: »Alles Beobachten findet real in der Realität statt« (Luhmann 1990: 92). Jegliches Beobachten und Beschreiben stellt demnach ein Realgeschehen dar, d. h. ein Geschehen, das operativ vollzogen wird, also mittels der internen Systemoperationen etwa von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Erziehung und Kunst realisiert wird. Ähnliche Auskünfte finden sich bei den weiteren Autoren der soziologischen Differenzierungstheorie. Sie machen sich für die Auffassung stark, dass es sich bei der Soziologie, in den Worten Webers, um eine Wirklichkeitswissenschaft handelt, die es gleich mit einer Vielzahl von Wirklichkeiten zu tun bekommt. Bestritten wird von ihnen also nicht die Annahme pluraler Wirklichkeiten, sondern die Notwendigkeit, diese Auffassung mit einer ontologischen Begrifflichkeit zu entfalten. Überhaupt gilt, dass die Soziologie, ebenso wie die weiteren Fachwissenschaften, keine Verwendung für den Ontologiebegriff hat. Nicht nur Soziologen, sondern auch Physiker, Chemiker, Biologen, Psychologen oder Ökonomen können wenig damit anfangen, wenn sie von dritter Seite belehrt werden, dass sie ›eigentlich‹ das Geschäft einer Regionalontologie betreiben. Der Begriff der Ontologie gehört nicht zum Vokabular der empirischen Spezialwissenschaften, er ist vielmehr ein Grundbegriff der Philosophie. Hier bezeichnet er eine traditionsreiche (Teil-)Disziplin, die sich mit den allgemeinen Formen und Entitäten des Seins (konkrete und abstrakte Gegenstände, Eigenschaften, Sachverhalte, Ereignisse, Prozesse etc.) befasst. Der Aufstieg der verschiedenen Fachwissenschaften im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung hat freilich zu einem weitreichenden Bedeutungsverlust des Fachs geführt, von dem sich das ontologische Unternehmen bis heute nicht erholt hat. In der (breit gefassten) Gegenwartsphilosophie lassen sich, vereinfacht formuliert, zwei Standpunkte bezüglich der Frage ausmachen, wie eine angemessene Reaktion auf diese Entwicklung aussehen könnte. Eine erste Position plädiert für eine sprachphilosophisch informierte Fortführung des Ontologieprojekts; gerade in den letzten Jahrzehnten sind eine Reihe von ontologischen Entwürfen entstanden, die – häufig Bezug nehmend auf den einflussreichen Aufsatz On What There Is von Willard V. O. Quine (1948) – ihre je eigene Version vom Sein des Seins entwerfen. Im Gegensatz dazu steht eine zweite Posi-
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tion, prominent vertreten etwa durch Rudolf Carnap, Richard Rorty und Huw Price, die sich dafür ausspricht, das ontologische Vorhaben ohne Rest preiszugeben. Nach Auskunft der Fürsprecher dieser zweiten Sichtweise reklamiert die Ontologie als Lehre vom allgemeinen Sein den haltlosen Anspruch auf eine privilegierte Beobachterposition, der Vorrang vor der der empirischen Fachwissenschaften gebührt. Diesen Einwand teile ich. Hier ist allerdings nicht der Ort, an dem ich meine Bedenken gegenüber dem ontologischen Theorieprogramm systematischer entfalten könnte. Im Weiteren geht es also nicht um eine Kritik an der Ontologie, sondern allein um eine Kritik an dem ontologischen Theorievorschlag von Latour. Vorordnung der Präposition/Nachordnung der Proposition: Latour zufolge nimmt die Präposition, wie gesehen, eine den Propositionen gegenüber vorgelagerte Position ein, von der aus sie ihre Tätigkeit der Kategorisierung und Klassifikation betreiben kann. Die Auffassung eines Vorrangs der Präposition(en) ist freilich nicht unbedenklich – ruft sie doch Assoziationen an das ursprungsphilosophische Vorhaben wach, das darauf abzielt, die Welt mittels hierarchischer Begriffspaare wie Primäres/Sekundäres oder Fundamentales/ Abgeleitetes zu dechiffrieren. Dieses Weltverständnis ist in den letzten Jahrzehnten nachhaltig dekonstruiert worden. Eine Vielzahl von Einwänden richtet sich gegen die Auffassung von einem souveränen Prinzip, das selbst nicht in Abhängigkeitsbeziehungen steht, aus dem aber alles Weitere folgt bzw. abgeleitet werden kann. Latour weiß um die Gefahren seines eigenen Begriffsvorschlags. Mit einer Vielzahl von Hinweisen bemüht er sich deshalb, seine eigene Auskunft abzumildern. Das Hauptargument lautet dabei, dass Präpositionen kein Fundament bilden, da sie nichts von dem antizipieren, was auf sie folgt – so wie auch die Angabe »Roman« auf der Titelseite eines Buches nicht den nachfolgenden Inhalt vorwegnimmt. Demzufolge handelt es sich bei Präpositionen um besondere Vorkommnisse in der ontologischen Welt, die »eine Grundlage ohne Grundlage anbieten« (Latour 2014: 646). An anderer Stelle drückt er sich folgendermaßen aus: »Die Präpositionen sind weder Ursprung, noch Quelle, noch Urgrund, noch Potenz, und dennoch sind sie nicht reduzierbar auf den jeweiligen Parcours, der folgen wird. Von nichts sind sie die Grundlage, und dennoch hängt alles von ihnen ab.« (Ebd.: 105) Die gewählten Formulierungen können m. E. nicht überzeugen. Aus meiner Sicht stellen die – zum Teil widersprüchlichen – Angaben (›Grundlage ohne Grundlage‹ versus ›Von nichts sind sie die Grundlage, und dennoch hängt alles von ihnen ab‹) keine Lösung, sondern eine Diagnose des genannten Problems dar. Die Krux an Latours Argumentation ist, dass er bereits bei seinen Ausgangsentscheidungen der Existenzweise der Präposition eine eigentümliche Sonderrolle zugewiesen hatte, die er ihr im Nachhinein, also mit seinen weiteren Ausführungen und nachträglichen Klarstellungen, nicht wieder absprechen mag. Der Modus der Präposition übernimmt eine Ordnungsfunktion für das Ganze.
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Ihm fällt die Aufgabe zu, die Differenzierungsform der ontologischen Welt in toto sicherzustellen. Diese Aufgabe bewerkstelligt der Modus dadurch, dass er, wie gesehen, alle weiteren Seinsweisen präzise kategorisiert und mittels seiner Klassifikationstätigkeit zugleich Verwechslungen bzw. Kategorienfehler beseitigt. Und diese Ordnungsfunktion kann der Modus offenbar deshalb wahrnehmen, weil er die Position eines ersten Weltbeobachters einnimmt, ohne dass seine privilegierte Stellung für andere Beobachter sichtbar würde: Der Modus der Präposition markiert alle anderen Seinsweisen, aber er selbst bleibt unbeobachtet, wird also von keiner vorgängigen Beobachtung erfasst – so wie ja auch die Angabe »Roman« auf der Titelseite eines Buches von keinem vorstehenden Eintrag bezeichnet wird.4 Die Autoren der sozialen Differenzierungstheorie haben einen deutlich abweichenden Vorschlag ausgearbeitet. In ihren Beiträgen bestreiten sie genau die Auffassung, die Latour ausarbeitet, nämlich dass ein einzelner Modus den Vorgang der Differenzierung in besonderer Weise kontrolliert oder gar steuert – einmal ganz abgesehen von der Tatsache, dass bei ihnen mit dem Begriff der Differenzierung kein ontologisches Seinsgeschehen, sondern ein sozialer Vorgang gemeint ist. Ich begnüge mich mit zwei knappen Hinweisen auf die Ausführungen bei Luhmann. Erstens: Luhmann zufolge lässt sich in der modernen Gesellschaft kein Subsystem ausmachen, das die Zuständigkeit für die Differenzierungsform selbst beanspruchen könnte. Zugleich wird der Bedarf an einer derartigen Einrichtung bestritten. Demnach operieren die gesellschaftlichen Funktionssysteme wie Wissenschaft, Recht, Politik, Wirtschaft, Kunst etc. ohne Ausnahme vollständig autonom (aber nicht: autark), d. h. sie folgen ihrer je eigenen Funktionslogik, ohne dabei auf die Vorgaben einer externen Ordnungsmacht angewiesen zu sein. Aus diesem Grund ist auch kein zentraler Kontrollmechanismus vorgesehen, der über die uneingeschränkte Kompetenz verfügen würde, alle anfallenden Kategorienfehler gleichsam im Alleingang zu beseitigen. Für die Bearbeitung von Zuordnungsproblemen werden wiederum die einzelnen Funktionssysteme selbst für zuständig erklärt. Zweitens: Luhmann beschreibt die moderne Gesellschaft als eine polykontexturale Ordnung, in der es sich jeder Beobachter gefallen lassen 4 | Latour begreift die Existenzweise der Präposition somit als den einzigen Modus, der über eine vollständige Autonomie verfügt. Alle weiteren Seinsweisen gelten ihm als ontologische Einrichtungen, die gleichsam Autonomie und Heteronomie miteinander kombinieren. Sie sind insofern autonom, als sie die Welt jeweils in eigenständiger Weise artikulieren und dabei allein ihren Eigengesetzlichkeiten folgen. Und sie sind insofern heteronom, als sie im Falle von Kategorienfehlern auf fremde Hilfe angewiesen sind, also auf die ordnende Tätigkeit des Modus der Präposition (und genau deshalb »hängt alles«, so Latour, von diesem Modus ab). Dieser stellt die einzige Seinsweise dar, die ohne Vorgaben, ohne externe Wegweiser auskommt.
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muss, dass seine eigenen beobachtungsleitenden Unterscheidungen von anderen Beobachtern bezeichnet, also beobachtet werden. Insofern entfällt die Annahme eines ersten Weltbeobachters, der selbst unbeobachtet bleibt. Ontologie/Wissenschaft: Unter den Fürsprechern der Ontologie ist umstritten, ob das Fach eine wissenschaftliche Disziplin darstellt oder ob es sich um ein nicht-wissenschaftliches Unternehmen handelt (weil es ›vor‹ bzw. ›oberhalb‹ der empirischen Wissenschaften positioniert ist). Latour gibt deutlich zu erkennen, für welche Seite er mit seinem eigenen Ontologieentwurf optiert. In seiner Untersuchung bedient er sich, wie gesehen, mit den Artikulationsweisen des Netzwerks und der Präposition, gleich zwei unterschiedlicher Metasprachen. Damit ist angedeutet, dass er mit seiner Konzeption vom wissenschaftlichen Theorievokabular keinen Gebrauch machen möchte. Aus der Sicht von Latour handelt es sich bei der Wissenschaft nämlich um eine weitere, dritte Seinsweise, die gewissermaßen neben den beiden zuvor genannten Modi ihre Tätigkeit verrichtet. Insofern begreift er seine eigene Arbeit als eine ontologische, nicht-wissenschaftliche Theoriekonzeption, die das Sprachspiel der Wissenschaft – Latour selbst spricht vom Existenzmodus der Erkenntnis bzw. der Referenz – zwar ausführlich thematisiert, nicht jedoch übernimmt. »Wenn ich die ganze Zeit von Untersuchung, und sogar von Fragebogen, gesprochen habe, so beanspruche ich gleichwohl nicht, unter dem Modus der Erkenntnis zu arbeiten.« (Latour 2014: 646) Ausgehend von diesem Zitat lässt sich die Frage formulieren, die mich im Weiteren beschäftigen wird. Welche Vorteile besitzt aus Sicht von Latour der Modus der Präposition gegenüber dem Modus der Referenz? Was kann sein eigenes ontologisches Theorieprogramm bewerkstelligen, wozu die Wissenschaft (sowie alle weiteren Seinsweisen) in seinen Augen offenbar nicht fähig ist? Die Antwort, die Latour auf diese Frage gibt, habe ich zuvor bereits anzudeuten versucht. Er selbst fasst seine Position in einem Satz, der unmittelbar an die zuvor zitierte Äußerung anschließt, noch einmal zusammen: »Der Ausdruck Untersuchung muß in einem plurimodalen Sinn verstanden werden und zum Ziel haben, die Diversität der Modi zu bewahren.« (Latour 2014: 646 f.) Latour bedient sich in seiner ontologischen Untersuchung der Artikulationsweise der Präposition als Infrasprache, weil aus seiner Sicht allein dieser Modus über die Mittel verfügt, sämtliche Existenzweisen zu thematisieren. In bestimmter Hinsicht greift diese Angabe allerdings noch zu kurz. Mehrfach weist der Autor nämlich darauf hin, dass sich die Seins- bzw. Artikulationsweisen allesamt wechselseitig beobachten – und zwar jeweils nach Maßgabe der eigenen Funktionslogik. »Jeder Modus erfaßt die anderen Modi nach seiner eigenen Art von Existenz.« (Latour 2014: 308) Latour greift damit eine konzeptuelle Problemstellung auf, die auch von der soziologischen Differenzierungstheorie entlang der Begriffsunterscheidung von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung ausführlich thematisiert wird. Mit dem konkurrierenden
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Theorieprojekt teilt er zugleich die Auffassung, dass jede Beobachtung an eine bestimmte Perspektive gebunden ist. »Jeder Modus nimmt alle anderen unter seine Obhut.« (Ebd.: 646) Die Wissenschaft kann alles beobachten, also auch Politik, Recht, Kunst etc., aber eben nur mit wissenschaftlichen Mitteln – so dass alles, was sich aus dieser Perspektive über die Welt aussagen lässt, in Form von wissenschaftlichen Tatsachen artikuliert wird. »Und selbstverständlich muß sich für die Erkenntnis alles den Referenzketten beugen, alles, selbst die Gewohnheit, selbst die Religion, selbst die Metamorphosen, selbst die Politik.« (Ebd.) Das Gleiche ließe sich, entsprechend reformuliert, auch mit Blick auf die Artikulationsweisen der Politik, des Rechts, der Kunst etc. sagen. Wie verhält es sich nun aber mit der Existenzweise der Präposition? Auch dieser Modus nimmt alle anderen Modi unter seine ›Obhut‹. Offensichtlich handelt es sich in diesem Fall jedoch um eine besondere Obhut, gewissermaßen um eine Art generelle Seinssorge, der es gelingt, das plurimodale Sein gegenüber der drohenden Gefahr einer Vereinnahmung durch einen oder mehrere Modi zu protegieren. Latour weist dem Modus der Präposition erneut eine Sonderstellung zu. Er begreift diese Existenzweise, in seinen eigenen Worten, als »den Modus, der alle Modi schützt« (Latour 2014: 370). Im Gegensatz zu allen anderen Seinsweisen, die ohne Ausnahme die ihnen gegenüberliegenden Modi jeweils nach ihrer eigenen Maßgabe formen (also die Wissenschaft alles als eine Gelegenheit für die eigene wissenschaftliche Theorie- und Begriffsarbeit begreift, die Politik alles politisiert, das Recht alles verrechtlicht, die Kunst alles ästhetisiert etc.), erhält demnach der Modus der Präposition die Eigenständigkeit der anderen Modi aufrecht. Die damit angedeutete Schutzfunktion kann der Modus deshalb wahrnehmen, so würde ich die nicht immer klaren Ausführungen von Latour zusammenfassen, weil er bei seiner Kategorisierungstätigkeit einerseits eine Sprache verwendet, die von sämtlichen Modi ›verstanden‹ wird, andererseits nur solche Fremdbeschreibungen vorschlägt bzw. vornimmt, die mit den jeweiligen Selbstbeschreibungen der anderen Seinsweisen übereinstimmen. Die erste der beiden genannten Angaben habe ich weiter oben bereits angesprochen. Der Modus der Präposition bedient sich einer allgemeinen Sprache, eben einer Metasprache, die mit sämtlichen Spezialsprachen der anderen Modi kompatibel ist. Die zweite Angabe ergibt sich aus einer Metapher, mit der Latour den Vorgang der Kategorienbildung beschreibt. Er spricht von der Agora als dem Ort, an dem die Präpositionen formuliert, also die (richtigen) Interpretationsschlüssel ausgewählt werden. »Wir aber wollen wieder auf die Agora zurückkehren. Die gute Kategorie entdecken, in der richtigen Tonart sprechen, den guten Interpretationsschlüssel wählen, das Gesagte richtig verstehen heißt sich darauf einstellen, richtig von etwas vor denen zu sprechen, die es betrifft – vor aller Welt, inmitten der Versammlung und nicht nach einem einzigen Interpretationsschlüssel.« (Ebd.: 106 f.)
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Die Auswahl des richtigen Interpretationsschlüssels verlangt demnach, genau die Kategorie anzugeben, die auch diejenigen anführen würden, die ›es betrifft‹, also die einzelnen Seinsweisen der Welt. Dabei können die gewählten Kategorien nicht eins-zu-eins das wiedergeben, was die gegenüberliegenden Existenzweisen jeweils artikulieren – so wie auch die Angabe »Roman« auf der Titelseite eines Buches nicht vorab die nachfolgende Erzählung detailgetreu zum Ausdruck bringt. Vielmehr wird verlangt, dass die einzelnen Präpositionen die wesentlichen Merkmale des Gegenüberliegenden erfassen. Der Modus der Präposition, den sich Latour zu Eigen macht, kategorisiert das Wesentliche, also das Wesen oder besser, die Wesen der einzelnen Seinsweisen. »Im Grunde müssen wir die alte Frage ›Was ist …?‹ wiederaufgreifen (Was ist Wissenschaft? Worin besteht das Wesen der Technik? etc.), aber indem wir jedesmal Wesen mit unterschiedlichen Eigenschaften entdecken.« (Ebd.: 57) Mit meiner vermutlich umständlichen Rekonstruktion bin ich endlich an einen Punkt angelangt, der sich womöglich schon früher abgezeichnet hat: Bei dem Modus der Präposition handelt es sich um nichts anderes als um das Sprachspiel der Ontologie. Die Ontologie verfügt, hält man sich an ihr eigenes Selbstverständnis, mit dem Seinsvokabular über eine universelle Metasprache, in die sich sämtliche Spezialsprachen der einzelnen Seinsweisen (Regionalontologien) mehr oder weniger problemlos übersetzen lassen; zudem stellt die Ontologie dasjenige Theorievorhaben dar, das sich essentialistische Angaben, also Wesensaussagen über die Welt zutraut. In meiner eigenen Begrifflichkeit würde ich davon sprechen, dass die Ontologie und damit Latours Modus der Präposition nicht allein den Status eines (verdeckt bleibenden) ersten Weltbeobachters für sich beansprucht, sondern auch den eines (privilegierten) Beobachters, der über die Mittel verfügt, eine Wesensschau der Dinge bzw. Seinsweisen zu betreiben. Jedenfalls kann jetzt genauer gesagt werden, weshalb aus der Sicht von Latour die Ontologie der Wissenschaft, der Modus der Präposition dem Modus der Erkenntnis (sowie allen weiteren Modi) überlegen ist. Er begründet diese Vorrangstellung damit, dass der Modus der Präposition, im Gegensatz zu allen anderen Seinsweisen, eine genaue »Treue zum Feld« (ebd.: 106) wahrt, indem er eben ›akzeptable‹ Wesensangaben formuliert – so dass diejenigen, die ›es betrifft‹, zwanglos zustimmen können, ohne dabei ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Ich möchte nicht verschweigen, dass ich erhebliche Bedenken gegen die (soweit rekonstruierte) Position von Latour habe.5 Die nachfolgende Begriffsunterscheidung, die ich gewählt habe, wird 5 | Mit den Mitteln der Beobachtungstheorie könnte man diese Bedenken auch mit der Problemformel zum Ausdruck bringen, dass Latour den Modus der Präposition nicht nur als »GRUNDLAGE ohne Grundlage«, sondern zugleich als »PERSPEKTIVE ohne Perspektive« begreift. Der Modus der Präposition stellt eine Perspektive dar, weil er nicht die ganze Welt, sondern nur einen Ausschnitt artikuliert (neben ihm existieren weitere Exis-
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mir Gelegenheit geben, eine abweichende Auffassung vorzutragen. Vorgreifend lässt sich sagen, dass die konzeptuelle Alternative, die ich stark machen möchte, genau diejenige ist, die von den Autoren der soziologischen Differenzierungstheorie formuliert wird. Diese machen, so würde ich in aller Kürze sagen, schlicht keinen Gebrauch von der Annahme ontologischer Wesenheiten. Die Politik verfügt in dieser Sicht ebenso wenig wie die Wissenschaft, das Recht, die Wirtschaft, die Kunst etc. über eine Essenz. Das nicht nur, weil die Politik (für die anderen »Wertsphären«, »Kreise«, »Felder« bzw. »Funktionssysteme« ließe sich das Gleiche sagen) hoch diversifiziert ist, also eine Vielzahl interner Standpunkte und Identitätsformeln aufweist. Das Gesagte gilt vielmehr auch, weil Selbstbeschreibungen und Fremdbeschreibungen divergieren. »Politik« meint für die Politik selbst etwas anderes als für die Wissenschaft oder für das Recht (für die Wirtschaft, die Kunst etc.).6 Kurz: Die Autoren der soziologischen Differenzierungstheorie begreifen, in den Worten Luhmanns, Polykontexturalität als Signum unserer modernen Wirklichkeiten. Gelingensbedingungen/Misslingensbedingungen: Bei dem Existenzmodus der Präposition handelt es sich Latour zufolge, wie bei jeder Seinsweise, zugleich um einen spezifischen Modus des Wahrsprechens. Demzufolge können auch Präpositionen, kürzer gesagt, wahr oder falsch sein. Logische Empiristen würden vermutlich bereits an dieser Stelle Latour mit dem Argument widersprechen, dass allein ganze Sätze wahr oder falsch sein können, nicht jedoch einzelne Begriffe, Kategorien, Klassifikationssysteme etc. Aus meiner Sicht macht es sich eine solche Kritik jedoch zu einfach. Zwar werde ich im Folgenden Latours Auffassung ebenfalls zu widersprechen versuchen, allerdings bediene ich mich dabei nicht des genannten Einwands. Dieser basiert nämlich auf der Auffassung einer strikten Trennung – Latour würde von einer Dichotomie sprechen – von empirischen Tatsachenbehauptungen und erfahrungsunabhängigen Bedeutungsdefinitionen. Mit Quines berühmter Kritik an der Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Sätzen dürfte sich diese Auffassung nicht länger aufrechterhalten lassen. Weltwissen und Sprachwissen sind ineinander verschränkt. Neues empirisches Wissen über die Welt kann dazu führen, dass wir auch unsere Sprache ändern, also die Begriffe motenzweisen) und weil er, wie alle Modi, über blinde Flecken verfügt (da er das Nachfolgende zwar anzukündigen, aber nicht selbst zu artikulieren vermag). Zugleich stellt der Modus der Präposition aber auch keine Perspektive dar: Als eine Art Metaperspektive, die die Interpretationsschlüssel für sämtliche Perspektiven bereithält, fehlt ihm genau das, was eine Perspektive doch auszeichnet, nämlich Perspektivität. 6 | Anders gesagt: Ontologische Was-Fragen werden durch (wissens-)soziologische Wie-Fragen ersetzt. An die Stelle der Frage »Was ist das Wesen der Politik?« tritt die Frage, wie die einzelnen Beobachter (etwa Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Kunst etc., aber auch die Politik selbst) das Politische beobachten.
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difizieren bzw. neu definieren. Unsere Theorie- und Beschreibungsvokabulare sind ja nicht stabil. Minimale Veränderungen der Wortbedeutungen gehören sogar zur Tagesordnung. Davon sind tiefgreifende Einschnitte zu unterscheiden, bei denen wir ganze Begriffssysteme umgestalten. Hierfür hat Thomas Kuhn, mit Blick auf naturwissenschaftliche Theoriesprachen, den Begriff des Paradigmenwechsels geprägt. Selbstverständlich gilt das Gesagte nicht nur für Begriffe, sondern in gleicher Weise für Klassifikationssysteme. Auch diese können, wie angedeutet, wahr oder falsch sein. Ein Evolutionsbiologe würde ja auch nicht sagen, dass seine Taxonomie der Lebewesen vollständig arbiträr, also das Resultat willkürlicher Bedeutungsfestlegungen (Definitionen) sei. Der Einwand, dass nur ganze Sätze, nicht aber einzelne Kategorien, wahr oder falsch sein können, greift deshalb nicht, weil Begriffe nicht isoliert auftreten, sondern mit Hilfe ganzer Sätze eingeführt, nämlich definiert werden. Aus diesem Grund möchte ich einen anderen Einwand gegen Latour geltend machen: Kategorien können zwar richtig oder falsch sein, aber es gibt nicht die richtige Kategorie. Ich möchte meine Auffassung zunächst an dem gerade angeführten Beispiel der biologischen Taxonomie von Lebewesen illustrieren, bevor ich mir diese Überlegung bei meiner Kritik an Latours Position zunutze mache. Im Kontext der Evolutionsbiologie spielen Wahrheitsfragen bei der klassifikatorischen Praxis eine erhebliche Rolle. Die vorgeschlagenen Kategorien und Einteilungen, mit denen Biologen die phylogenetischen Abstammungsverhältnisse erfassen möchten, können sich nämlich als falsch erweisen. Das erklärt, dass sich die Taxonomen im Falle neuer empirischer Befunde zuweilen dazu veranlasst sehen, ihre Nomenklatur umzuschreiben, also Modifikationen am Klassifikationssystem vorzunehmen. Doch die Systematik der Evolutionsbiologen stellt nicht die einzige Möglichkeit der Einteilung von Lebewesen dar. Es existieren zahllose weitere Möglichkeiten – dies deshalb, weil es zahllose Zwecke gibt, wofür wir unsere Einteilungen vornehmen. Außerhalb des Kontexts der Evolutionsbiologie, also für abweichende Zwecke, können sich andere Klassifikationen bzw. Unterscheidungen als nützlicher erweisen: etwa die Unterscheidung zwischen Lebewesen, die in unserem Kochtopf landen und solchen, die wir auf keinen Fall verspeisen möchten; oder die Unterscheidung zwischen Lebewesen, die in freier Wildbahn leben und solchen, die wir im Zoo besuchen; oder die Unterscheidung zwischen Lebewesen, die wir mit besonderen rechtlichen Bestimmungen schützen und solchen, für die wir keine derartigen Maßnahmen ergreifen. Kurz: Die Wahl geeigneter Kategorien, die wir vornehmen, unterliegt also nicht allein den Bedingungen des Wahrsprechens, sondern orientiert sich auch an unseren Erkenntnisinteressen. Um das Gesagte gegen Latour vorbringen zu können, bedarf es noch einer Ergänzung. Er bestreitet ja nicht die Annahme einer Vielzahl klassifikatorischer Ordnungen, also die Auffassung einer Pluralität der Modi des Wahrsprechens. Zugleich plädiert er nachdrücklich für die Überzeugung, dass allein
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eine einzige Wahrheit existiert, wie die verschiedenen Modi untereinander richtig zu sortieren sind. Dem Modus der Präposition und damit dem Sprachspiel der Ontologie weist er die Aufgabe zu, diese übergeordnete Wahrheit auszusprechen, also die richtigen Interpretationsschlüssel für alle (anderen) Modi des Wahrsprechens zu benennen.7 Meinen Hinweis auf die (unaufhebbare) Pluralität von klassifikatorischen Ordnungen möchte ich als Plädoyer für eine (bereits angesprochene) alternative Auffassung verstanden wissen. Diese besagt, dass kein oberstes Bezugssystem existiert. Wissenschaft, Politik, Recht, Wirtschaft, Kunst etc. kategorisieren die Welt auf ihre je eigene Weise. Zwar gilt, dass derjenige, der etwa daran interessiert ist, die Politik mit wissenschaftlichen Mitteln zu beschreiben bzw. zu analysieren, sich bei der Kategorienbildung auch mit Wahrheitsfragen konfrontiert sieht. Gleichwohl existiert nicht der richtige Interpretationsschlüssel für das politische Feld. Dies deshalb nicht, weil es mit der Politik selbst, dem Recht, der Wirtschaft, der Kunst etc. weitere Beobachter gibt, die ihre je eigenen Interpretationsschlüssel zur Erkundung der Politik formulieren.8 In der modernen, polykontexturalen Gesellschaft fungiert kein Beobachter als neutraler Schiedsrichter bei der Auswahl geeigneter Begriffe, Kategorien, Klassifikationssysteme. Anders gesagt: Die Frage, welcher Interpretationsschlüssel jeweils zu präferieren ist, ist keine rein theoretische Frage, die sich allein mit Blick auf die Wahrheitsbedingungen beantworten ließe. Vielmehr ist sie auch eine praktische Frage, also eine Frage, die sich nicht unabhängig von den Zwecken der Beschreibung, also nicht unabhängig von den erkenntnisleitenden Interessen beantworten lässt. Nicht verschweigen möchte ich, dass meine letzten Ausführungen sich Überlegungen 7 | Latour nimmt für seine Ausführungen weder in Anspruch, dass die vorgeschlagenen Interpretationsschlüssel allesamt richtig sind, noch dass sämtliche Seinsweisen ausgewiesen werden. Seine diesbezüglichen Angaben sind, wie die moderne Wissenschaftstheorie sagen würde, mit fallibilistischen Vorbehalten versehen. Doch das ist nicht der Punkt. Im Text wird Latours Annahme verhandelt, dass es für jede Seinsweise (wie viele es auch immer sind) jeweils den richtigen Interpretationsschlüssel (wer immer auch diesen findet) gibt. 8 | Hinzu kommt, dass das moderne Wissenschaftssystem extrem diversifiziert ist, also nicht als ein einheitlicher Beobachter fungiert (das Gleiche gilt für die Politik, Wirtschaft etc.). Damit wiederholt sich das Argument: Wissenschaftliche Beschreibungen können zwar richtig oder falsch sein; die Pluralität von wissenschaftlichen Disziplinen, Theorien und Methoden schließt es aber aus, von der richtigen wissenschaftlichen Beschreibung zu sprechen. Das ist kein Relativismus (behauptet wird, dass die Beschreibungen, die wir anfertigen, standpunkt- bzw. interessensabhängig sind; es wird aber nicht behauptet, dass die Wahrheit dieser Beschreibungen von uns abhängig ist – Wahrheit wird also nicht relativiert), sondern ein Perspektivismus oder Kontextualismus; der soziologische Differenzierungstheoretiker Karl Mannheim hätte von einem Relationismus gesprochen.
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verdanken, die u. a. von Carnap, Rorty und Price, also den drei weiter oben angeführten Kritikern der Ontologie, vorgetragen worden sind. Die drei Philosophen stimmen darin überein, dass bei der Wahl eines geeigneten Begriffsund Kategorienapparats unweigerlich auch Nützlichkeitserwägungen ins Spiel kommen. Mit dieser Auskunft zielen sie nicht darauf ab, das ontologische Einteilungsprinzip der Welt durch ein pragmatisches Prinzip zu ersetzen. Vielmehr möchten sie sagen, dass kein oberstes Bezugssystem existiert, es also keinen letzten Grund für die Wahl eines passenden Interpretationsschlüssels gibt. Das ist übrigens auch die Position der Autoren der soziologischen Differenzierungstheorie. Aus der Sicht Webers handelt es sich bei der Frage, ob die Wissenschaft gegenüber der Politik oder umgekehrt die Politik gegenüber der Wissenschaft, das Recht gegenüber der Wirtschaft oder umgekehrt die Wirtschaft gegenüber dem Recht etc. vorzuziehen ist, um eine Wertungsfrage, über die nicht unparteiisch, sondern allein standpunktabhängig entschieden werden kann. Luhmanns knappe systemtheoretische Reformulierung dieser Auffassung lautet, dass die Wahl der beobachtungsleitenden Ausgangsunterscheidung kontingent ist. Schließung/Öffnung: Zu Beginn dieses Beitrags habe ich kurz Latours revidierte Fassung seiner Kritik der Modernen angesprochen. Der erfolgte Umbau der Theoriekonzeption räumt freilich nicht die Probleme aus dem Weg, mit denen sich seine früheren Ausführungen konfrontiert sahen (vgl. Kneer 2008). Im Gegenteil: Auch seine (neue) Diagnose der Amodernität mit umgekehrten Vorzeichen greift, entgegen den eigenen (offiziellen) Bekundungen, das Sprachspiel des Fundamentalismus auf und führt es nachdrücklich fort; aus meiner Sicht könnte man sogar sagen, dass sich Latour diesbezüglich in seinem Buch Existenzweisen noch deutlicher als in seinen früheren Schriften äußert. Er reklamiert für seinen Modus der Präposition die Position eines (verdeckt bleibenden) ersten Weltbeobachters, der das Geschäft einer ontologischen Wesensschau der Dinge mit dem Ziel betreibt, die Welt mit einem übergeordneten (verbindlichen) Klassifikations- und Ordnungssystem auszustatten. Der Hinweis darauf, dass Latour es mit seinem Vorschlag doch gut gemeint hat (weil es ihm um die Beendigung des »Kriegszustands« zwischen den Werten bzw. Beobachtungsperspektiven geht), macht es nicht besser: Fundamentalismus und Utopismus sind eng miteinander verwandt. Meinen Beitrag möchte ich mit zwei kurzen Hinweisen beschließen, die das weiter oben Gesagte ergänzen. Erstens: Bei meiner Darstellung und Kritik von Latours Modus der Präposition habe ich wiederholt binäre Unterscheidungen verwendet, etwa die Unterscheidung von Beobachter und Beobachtetem oder die von Beschreibung und Beschriebenem. Das mag man mir vorwerfen. Mich kann jedoch die Auffassung nicht überzeugen, dass die genannten Unterscheidungen per se Probleme aufwerfen. Sicher: Viele Unterscheidungen, die früher einmal als nützlich galten, können uns heute nicht mehr über-
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zeugen. Das trifft aus meiner Sicht etwa für die transzendentalphilosophische Unterscheidung zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten oder für die ontologische Unterscheidung zwischen dem Substantiellen und dem Akzidentiellen zu. Anders verhält es sich jedoch mit der Unterscheidung von Beschreibung und Beschriebenem. Nicht die Unterscheidung ist problematisch, sondern nur ein bestimmter Gebrauch dieser Unterscheidung – wenn etwa suggeriert wird, man könne gleichsam aus der Sprache heraustreten und eine Position zwischen Beschreibung und Beschriebenem einnehmen (vgl. Kneer 2009). Zweitens: Bei meiner Interpretation habe ich Latour gewissermaßen beim Wort genommen; ich habe sein Buch nämlich, worauf er viel Wert legt, als Beitrag zur Metaphysik, Kosmopolitik oder Ontologie gelesen. Doch selbstverständlich war dies nur eine mögliche Lesart. Wir können das Buch auch anders kategorisieren. Es gibt nicht den richtigen Schlüssel, wie das Buch zu interpretieren ist (auch wenn das Buch das genaue Gegenteil behauptet). Nachdem ich die Schrift zunächst im Philosophieregal meiner privaten Buchsammlung eingeordnet hatte, habe ich es mittlerweile in das Regal für Literatur gestellt. Latours Existenzweisen enthält wirklich alles, was in einem großen Roman vorkommen sollte, einschließlich einer wahren Heldin (die Anthropologin) und eines bösen Schurken (Doppelklick). Mittlerweile denke ich darüber nach, die Arbeit in mein Soziologieregal zu stellen. In dem Buch finden sich nämlich höchst aufschlussreiche und anregende Überlegungen über Wissenschaft, Politik, Recht, Kunst, Religion, Technik etc., die gerade auch für diejenigen relevant sein dürften, die an einer Weiterentwicklung der soziologischen Differenzierungstheorie interessiert sind. Um Latours Schrift Existenzweisen für eine soziologische Lektüre zu öffnen, wäre jedoch zunächst all der ontologische Ballast zu entfernen, mit der das Buch beschwert ist. Hierzu wollten die vorstehenden Ausführungen einen Beitrag leisten.
L iter atur Bloor, David (1999): Anti-Latour. In: Studies in History and Philosophy of Science (30), S. 81–112. Collins, H. M./Yearley, Steven (1992): Epistemological Chicken. In: Andrew Pickering (Hg.): Science as Practice and Culture, Chicago, London: University of Chicago Press, S. 301–326. Gertenbach, Lars (2015): Entgrenzungen der Soziologie. Bruno Latour und der Konstruktivismus. Weilerswist: Velbrück. Kneer, Georg (2008): Hybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne? Eine Kritik an Bruno Latours Soziologie der Assoziationen. In: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Beiträge zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 261–305.
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Kneer, Georg (2009): Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern. In: Zeitschrift für Soziologie 38 (1), S. 5–25. Latour, Bruno (1998): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Fischer. Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Quine, Willard Van Orman (1948): On What There Is. In: The Review of Metaphysics 2 (1), S. 21–38. Schimank, Uwe (1996): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen: Leske + Budrich. Tyrell, Hartmann (1998): Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen. In: Soziale Systeme 4 (1), S. 119–149. Wieser, Matthias (2012): Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-NetzwerkTheorie zwischen Science & Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie, Bielefeld: transcript.
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[REF] Referenz als Existenzweise Die Wissenschaften und die Übersetzung der Welt Lars Gertenbach »Wenn die Exempla eines Philosophen im engen Kreis von Haus und Hof bleiben, Berg und Wald, Hörsaal und Schreibzeug – der Ausnahmefall aber ein im Hörsaal halluzinierter Elefant ist, dann darf man seinen Realismus, die Welthaltigkeit seiner Philosophie nicht allzu hoch einschätzen.« H ans B lumenberg (2000: 50) »It is actually the problem with most classical philosophers: they take as their favorite examples mugs and pots, rugs and mats, without realizing that those are the worst possible cases for proving any point about how we come to know because they are already much too well known to prove anything […].« B runo L atour (2007a: 90)
Hans Blumenbergs Vorwurf der mangelnden Welthaltigkeit zielt auf Martin Heidegger. Der weitere Hinweis, hier handele es sich um einen der wenigen Punkte, die dieser noch mit Edmund Husserl teile (vgl. Blumenberg 2000: 50), ist zugleich als ironischer Kommentar gegenüber der Phänomenologie zu lesen, die sich schließlich als Bewegung zurück zu den Sachen verstand. Trotz der genauen Adressierung kann die Bemerkung von Blumenberg allerdings programmatisch gewendet werden – als Vorschlag, die Exempla von Philosophien als Indikator für deren Realitätsbezug zu nehmen. Zu vermuten wäre dann allerdings, dass es um den Realismus der meisten Philosophien nicht sonderlich gut bestellt ist. Zu einer solchen Einschätzung kommt jedenfalls Bruno Latour. Auch seine Kritik gilt der Eintönigkeit und Einfallslosigkeit der
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Philosophie bei der Wahl ihrer Beispiele, die nur in seltenen Fällen überhaupt den Umkreis von Seminarraum und Schreibtisch verlassen. Stärker als Blumenberg betont er aber, dass dies nicht nur als Ausdruck einer unrealistischen Philosophie zu werten ist, sondern auch zu einem falschen Zugang zu solchen Fragen führt. Latours oben vorangestellter Kommentar ist dabei auf den Streit um Realismus und Konstruktivismus bezogen (vgl. Latour 2007a: 90), der sich als Beispiel eignet, weil es in ihm von stereotypen und trivialen Objekten nur so wimmelt (vgl. Edwards et al. 1995).1 Die Bemerkungen von Blumenberg und Latour sind als Plädoyer zu verstehen, den Objekten in der Philosophie ein größeres Gewicht zu verleihen. Auch wenn ein solcher Vorschlag nicht mit großem Enthusiasmus in Philosophie und Wissenschaftstheorie rechnen sollte, wirft er einen bestimmten Blick auf erkenntnistheoretische Fragen. Da sich an Latours Problematisierung der Gegenstände des philosophischen Diskurses zudem zentrale Annahmen und Argumente seiner eigenen Position erschließen lassen, eignet sich dies als Einstieg zur Auseinandersetzung mit dem Modus der Referenz [REF] in seinem Projekt der Erforschung von Existenzweisen.2 Denn die Zurückweisung der Beispiele ist nicht einfach als Klage über den Abstraktionsgrad oder die Weltabgewandtheit der Philosophie zu verstehen. Ebenso wenig läuft sie auf den bloßen Vorschlag für mehr Einfallsreichtum bei der Wahl der Objekte hinaus. Enthalten ist darin ein systematischeres Argument, das auf die Prämissen der Erkenntnistheorie schlechthin zielt. Es besteht in der Behauptung, dass die typischen Beispiele denkbar ungeeignet sind, um für Einsicht in den tatsächlichen Wissens- und Erkenntnisprozess zu sorgen und dass sie zugleich eine abstrakte und unrealistische Philosophie stützen. Die stereotypen Steine, Tische und Stühle der erkenntnistheoretischen Diskussionen sind also nicht nur Symptom eines Mangels an philosophischer Imagination, sie präfigurieren auch eine problematische Konzeption von Erkenntnis (vgl. Latour 2007b: 50 f.). Das Problem besteht darin, dass sie als Beispiele letztlich zu unterkomplex sind, um sich einer abstrakten und generalisierten Abhandlung zu wider1 | Obschon es hier nicht um ein Panorama der Beispiele in der Philosophie geht, fällt doch auf, dass drei Sorten von Gegenständen die philosophischen und wissenschaftstheoretischen Debatten dominieren: solche des Interieurs (Stühle, Tische, Wände), auf die gezeigt (und im Fall des Tisches: geschlagen) werden kann (vgl. Edwards et al. 1995); solche der Imagination (Katzen auf Matten, schwarze Schwäne), die ohne weitere Kontexte auskommen sowie solche, die als Inbegriff der harten Wirklichkeit oder der unberührten Außenwelt fungieren (der geworfene Stein, der ferne Planet). 2 | Im Folgenden beziehe ich mich primär auf das aus dem Projekt heraus publizierte Buch (Latour 2014), das letztlich aber nur ein Extrakt bzw. Kompendium zu der weitaus umfangreicheren und vor allem kollaborativen Webplattform ist (http://modesofexis tence.org, Zugriff am 1.2.2016).
Referenz als E xistenzweise
setzen. Sie lassen sich zu einfach als bloße Objekte behandeln, während sie eigentlich, so Latours zentrale Unterscheidung, Dinge sind: matters of concern statt matters of fact (vgl. Latour 2007c: 815; 2005). Die zu Objekten degradierten Beispiele stehen so im äußersten Fall für abstrakte Objekthaftigkeit als solche ein und werden in ein allzu karges Vokabular gezwängt, wie Latour ebenfalls mit Blick auf Heidegger betont: »I always find it baffling that people would take Heidegger’s ›philosophy of technology‹ seriously. Not only would Heidegger see no difference whatsoever between an atomic bomb, a dam, a lie detector, and a staple – all being mere examples of the same ›enframing‹ – but when he finally gives some respect to a shoe or a hammer it is only to see it as the assembly of four elements – his ›fourfold‹.« (Latour 2007d: 140)
Indem Latour den Beispielen und Gegenständen der philosophischen Argumentation eine zentrale Bedeutung bemisst, erscheint es vielversprechend, auch die Eckpfeiler seiner Position hierüber zu erschließen. Aus den Kontexten, in denen diese und ähnliche Formulierungen in seinen Schriften stehen, wird dabei deutlich, dass die Problematisierung der trivialen, objektivierten Beispiele der Philosophie in der Regel mit einer Kritik an den erkenntnistheoretischen Dualismen einhergeht, also der Trennung zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt, primären und sekundären Qualitäten oder den Dingen an sich und deren Erscheinung. In seinen jüngeren Werken fällt dies zudem oft mit einem Anschluss an den Pragmatismus zusammen, was gerade in Bezug auf das Erkenntnismodell wohlbegründet ist. Wie stark die Nähe zu dieser philosophischen Tradition tatsächlich ist, wird allerdings durch die gelegentlichen Referenzen auf Dewey und James nicht annähernd zum Ausdruck gebracht.3 Welche Beispiele kommen nun aber bei Latour zum Tragen? Während jene der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie normalerweise über einen gewissen Grad an Allgemeinheit verfügen oder gar gänzlich generische Objekte sind, handelt es sich bei den von Latour verwendeten Beispielen in der Regel um spezifische, konkret situierte Gegenstände. Die Differenz, um die es Latour 3 | Zur Theorieverwandtschaft von Latour und dem Pragmatismus vgl. Lamla (2013), der vor allem die politische Theorie von Dewey und Latour im Blick hat. Dass auch im Bereich der Erkenntnistheorie immense Übereinstimmungen bestehen, lässt sich insbesondere an Deweys philosophischem Hauptwerk Erfahrung und Natur erkennen. Nicht zuletzt zeigt sich auch für Dewey die Unzulänglichkeit der modernen Erkenntnistheorie an der Wahl ihrer Beispiele. Er illustriert dies am Beispiel des Stuhls, das »sowohl einfach als auch typisch ist« (Dewey 1995: 33), weil es in der Regel in eine dualistische Zuschauertheorie des Erkennens mündet (vgl. Dewey 1998: 27; sowie 2004: 123).
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hierbei geht, ist die zwischen weitgehend entkontextualisierten Objekten sowie solchen, die ihrem Entstehungs- und Verwendungszusammenhang verbunden bleiben. Da die Differenz aber letztlich keine der Objekte als solche, sondern des Zugangs- und Erklärungsprinzips ist, besteht Latours Vorschlag im Grunde darin, möglichst solche Beispiele auszuwählen, die nicht entkontextualisiert werden können – etwa deshalb, weil sie sich noch in Kontroversen befinden und der Erkenntnisprozess an ihnen noch nicht zu einem Ende gekommen ist.4 Eine entscheidende Bedeutung kommt demnach zunächst der Zeitdimension zu. Die Gegenüberstellung der mit diesen Gegenstandstypen verbundenen Erkenntnismethoden ist spätestens seit Science in Action ein konstantes Thema in Latours Werk. Denn den fertigen und zur Black Box geronnenen Objekten der Ready-Made-Science setzt er dort die (noch) chaotischen und unbestimmten Objekte der Science-in-the-Making entgegen (vgl. Latour 1987). Bemerkenswert ist bei seinen Beispielen zudem, dass sie häufig über eine räumliche Komponente verfügen. Meistens geht es um Wissenschaftler, die sich von einem Ort zum anderen bewegen: Pasteur von seinem Labor auf die Bauernhöfe in der Provinz (und zurück), die Pedologen vom Amazonas nach Paris, La Pérouse von einer pazifischen Insel nach Versailles (vgl. Latour 2006a; 2002a; 1987: 215, 225). Aufgrund der zentralen Bedeutung des Raumes und der Omnipräsenz räumlicher Metaphoriken bei Latour kann dem auch eine hohe Bedeutung für die eigene Konzeption von Erkenntnis und Wissen sowie die Kritik an den klassischen Modellen des Erkennens beigemessen werden (vgl. Kray 2010). Angesichts der Bedeutung der Wissenschaftsforschung bei Latour überrascht es nicht, dass das Problem der Erkenntnis auch in Existenzweisen einen zentralen Stellenwert besitzt. Was darunter genau verstanden wird, soll im Folgenden rekonstruiert werden. Den Ausgangspunkt bildet ein kurzer Überblick über die Argumentation aus den hierbei maßgeblichen ersten Kapiteln des Buches, der diskutiert, warum dieses Problem am Beginn der Untersuchung steht (Kap. 1). Da Latour in seiner Darstellung des Referenzmodus direkt an seine früheren Schriften anschließt, ist es möglich, die Grundannahmen aus seinem Gesamtwerk zu erschließen (Kap. 2). In der Folge soll geklärt werden, welche Neuerungen und Folgen sich aus dem Programm der Erforschung von Existenzweisen ergeben (Kap. 3.). Ich schließe mit Überlegungen zum hierin formulierten Wissenschaftsmodell (Kap. 4).
4 | Zum zentralen Konzept der Kontroversen vgl. auch Latour (2009: 128) sowie das von ihm mit entwickelte empirische Modell der Mapping of Controversies www.map pingcontroversies.net/Home/PlatformMappingControversiesVideoIntroduction (Zugriff am 1.2.2016).
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1. D as P roblem der K orrespondenz und die E rforschung von E xistenz weisen Obwohl Latour vielfach auf die Kontinuität zwischen seinem bisherigen Werk und dem Projekt der Erforschung von Existenzweisen hingewiesen hat (vgl. Latour 2013a; 2010a), ist der Neuigkeitswert des gesamten Unterfangens nicht zu übersehen. Dabei wirft nicht nur die Einbindung des Ganzen in eine diplomatische Mission, sondern auch die Tatsache, dass hiermit ein Vorschlag zur Aufnahme des ursprünglich zurückgewiesenen Differenzierungstheorems in die ANT formuliert wird, die Frage auf, welche Bezüge zu seinen bisherigen Schriften bestehen. Obwohl diese Frage zunächst werkgeschichtlichen Charakter hat, ist sie keineswegs irrelevant, um die Stellung und Kontur der einzelnen Existenzweisen zu verstehen. Denn zum einen bleibt im Buch trotz des Gesamtumfangs wenig Raum für substantielle Auseinandersetzungen mit den einzelnen Existenzweisen. Dies führt nicht nur zu zahlreichen Lücken und Verkürzungen, es befördert auch eine eher formale und schematische Darstellung. Entsprechend bleiben in nahezu allen Abschnitten entscheidende Fragen offen, was den Rückgriff auf bisherige Schriften – sofern er denn möglich ist – nahelegt. Und zum anderen wird in der Darstellung deutlich, dass die einzelnen Existenzweisen auf recht unterschiedliche Weise mit den früheren Schriften verbunden sind. In vielen Fällen lässt sich das Verhältnis als eines der Übersetzung von früheren Arbeiten in das neue Vokabular begreifen (etwa bei [TEC], [POL] und [REC]).5 Kontinuitäten sind hier erkennbar, zugleich aber auch, dass die konkrete Beschreibung dieser Existenzweisen dem Werk etwas Neues hinzufügt. Daneben gibt es Existenzweisen, mit denen Latour augenscheinlich das Themenspektrum seiner Forschung erweitert – so etwa für [GEW], [MET], [FIK] oder [MOR], für die nur schwer ein Platz in seinen früheren Arbeiten gefunden werden kann. Bei dem Modus der Referenz handelt es sich nun um den vielleicht klarsten Fall von Kontinuität, spielt er doch mit der Diskussion des Erkenntnis- und Wissensproblems auf die zentrale Konstante in Latours Werk an: die Auseinandersetzung mit den (Natur-)Wissenschaften. So ist es auch kein Zufall, dass die Diskussion dieser Existenzweise gleich zu Beginn des Buches stattfindet. Passend zur Bedeutung der Wissenschaften in Latours Werk wird sie als Ausgangsfrage und Kernproblem des gesamten Unterfangens präsentiert – er spricht hier von der »Schlüsselfrage der objektiven Erkenntnis« (Latour 2014: 27). Inhaltlich geht es um solche Fragen, die üblicherweise auf das Bezugsproblem von Aussage und Gegenstand, Welt und Wort, Ding und Erscheinung usw. verweisen. Seine These ist, dass ein Hauptproblem bereits darin besteht, 5 | Eine Übersichtstabelle zu den Existenzweisen findet sich in Latour 2014: 654 f. Zu den Kürzeln vgl. auch die Übersicht in der Einleitung von Henning Laux zum vorliegenden Diskussionsband.
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diese Frage auf der Grundlage einer dualistischen Erkenntnistheorie zu stellen – und damit Ontologie und Epistemologie zu trennen. Für die Erkundung der Existenzweisen wird diese Frage deshalb zur Eintrittsschwelle des gesamten Projekts, weil der Zugang zu diesem Problem einen Einfluss auf die Erforschung aller anderen Existenzweisen hat. Ohne eine Klärung der Frage der Referenz ist das gesamte Unterfangen nach Latour zum Scheitern verurteilt: »Alles dreht sich um die Frage der Korrespondenz zwischen der Welt und den Aussagen über die Welt. […] Leider können wir uns nicht ersparen, diese Korrespondenz zu behandeln, ja sogar sie als erstes anzugehen. Alles übrige hängt davon ab, nämlich was man von der Welt und was man von der Sprache verlangen kann. Wir brauchen diese Übung, um den Typ von Realismus sowie die Ausdrucksmittel zu definieren, über die diese Untersuchung verfügen können muß. […] Nie werden wir die anderen Modi definieren können, wenn wir schon am Anfang über diesen ›stolpern‹.« (Ebd.: 121)
Obwohl auch andere Existenzweisen einen für das gesamte Unterfangen strategischen und funktionalen Charakter haben,6 ist die Sonderstellung dieses Problems doch bemerkenswert. Denn der ganze Erfolg des Projekts wird daran geknüpft, ob es gelingt, einen anderen Zugang zum Erkenntnisproblem zu finden als nahezu die gesamte Tradition von Philosophie und Wissenschaftstheorie. Der Blick auf frühere Werke von Latour bezeugt, dass diese These nicht neu ist und der Auseinandersetzung mit den Wissenschaften und dem Erkenntnisproblem spätestens mit Wir sind nie modern gewesen eine Sonderstellung für die Analyse der Moderne zukommt (vgl. Gertenbach 2016a). So steigt er auch dort mit einer Diskussion der Wissenschaften ein und spricht der Beschäftigung mit (und Zurückweisung) der Epistemologie eine für die gesamte Analyse wegweisende Rolle zu (vgl. Latour 2008a: 22 ff.). Da Existenzweisen jedoch mit der Ausarbeitung einer pluralen Ontologie ein anderes Ziel verfolgt,7 verändert sich der Fokus der Fragestellung. Während zuvor vor allem die Trennung von Wissenschaft und Politik für die Konstitution der Moderne einstand (ebd.: 25 ff.), beginnt die Auseinandersetzung nun unmittelbar mit dem erkenntnistheoretischen Problem der Korrespondenz. Die These der Sonderstellung der Wissenschaftsforschung bekommt damit eine ausführlichere und systematischere Begründung als in früheren Werken. Nun lautet sie, dass auf dem Feld der Wissenschaften die »prinzipiellen Hindernisse« anzutreffen sind, »die alle unsere Anstrengungen, im Verständnis der Modernen voranzukommen, absurd und unverständlich erscheinen lassen könnten« (Latour 2014: 27). Das in Existenzweisen begonnene Projekt einer umfassenden Anthropolo6 | Vgl. ex. für Recht [REC] Latour 2014: 78 f., 100 sowie für Religion [REL] ebd. 85 f. 7 | Vgl. dazu Latour 2014: 57, 266 ff.; 2011: 330 f. sowie 2007a: 110, Anm. 22 sowie Blake 2014.
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gie der Modernen kann nach Latour nur dann gelingen, wenn die Irrtümer auf diesem Feld beseitigt sind und Raum geschaffen wurde, um eine Pluralität von Existenzweisen denken zu können (vgl. ebd.: 155 ff., 136). Als Gegenmodell dient ihm dabei die erkenntnistheoretische Grunddisposition der Moderne, die er nun mit Whitehead als »Bifurkation der Natur« bezeichnet (vgl. ebd.: 179; Whitehead 1990: 26 f.). Diese epistemische Ordnung macht es unmöglich, einen ontologischen Pluralismus zu entwerfen, der über die Pluralität verschiedener Sprachspiele oder Redeweisen hinausgeht (vgl. ebd.: 122). Um nicht in eine Theorie der Sprachspiele und die Dualismen der klassischen Erkenntnistheorie zurückzufallen, insistiert Latour darauf, dass es sich bei dem Referenz- und Korrespondenzproblem nicht um ein theoretisches, sondern ein praktisches, empirisches Problem handelt.8 Gemäß dem zentralen Diktum seiner wissenschaftssoziologischen Studien – es gebe »angesichts schwieriger philosophischer Fragen nur eine Lösung: noch tiefer in empirische Forschungsstätten vorzudringen, um zu sehen, wie die Wissenschaftler selbst mit dem Problem fertig werden« (Latour 2002b: 154) – ist damit gemeint, dass diese Fragen stets als konkrete und das heißt immer auch materiale Fragen behandelt werden müssen. Denn um der Versuchung einer »immateriellen Beschreibung der Erkenntnis« entgegenzuwirken, ist es nötig, dass »man die Arbeit der Erkenntnis materialisiert« (Latour 2014: 137). Dies impliziert nicht nur empirisch, d. h. am Material zu forschen, sondern vor allem die Materialien der Forschung mit zu berücksichtigen, also all jene Objekte, Instrumente, Techniken und Apparaturen, die in einer sprachtheoretischen oder kognitivistischen Konzeption des Erkennens keinen Platz haben. Die Idee hinter dieser Art von Materialismus, die sich in der programmatischen Schrift Can We Get Our Materialism Back, Please? (Latour 2007d) verdichtet, ist, dass die Entkopplung der Frage nach dem Erkennen von der konkreten, immer auch mit Artefakten bestückten Tätigkeit des Erkennens zu einer Hypostasierung der Diskrepanz zwischen Welt und Wahrnehmung führt. Genau hieraus begründet sich auch das Plädoyer für eine Reflexion auf die Objekte der Philosophie. Auch bei diesem Thema lässt sich leicht zeigen, dass es Latour seit Laboratory Life, seiner ersten wissenschaftssoziologischen Schrift, begleitet. Auffällig ist dabei auch, dass die Stoßrichtung seiner Argumentation seitdem fast unverändert ist (vgl. Gertenbach 2015: 205 ff.). Es ändern sich – von der Schärfe der Zurückweisung abgesehen – primär die Begriffe und Argumentationsweisen, 8 | Daraus folgt für Latour allerdings keine Rückkehr zum klassischen Empirismus (Hume, Berkeley, Locke). Dieser wird von ihm mit Bezug auf William James nun als erster Empirismus bezeichnet und von dem neuen, zweiten Empirismus abgegrenzt (vgl. Latour 2014: 260; 2008b: 38 f.; 2010b: 82). James selbst spricht vom herkömmlichen oder klassischem Empirismus und begreift seine eigene Position als radikalen Empirismus (vgl. James 2006: 29 f.).
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derer sich Latour bedient. Zwei Schriften lassen sich hierbei herausheben, die jeweils sinnbildlich für eine Konkretisierung der Gegenposition zur etablierten Erkenntnistheorie stehen und die in den folgenden beiden Kapiteln bevorzugt herangezogen werden: die Texte Zirkulierende Referenz – Bodenstichproben aus dem Urwald des Amazonas (Latour 2002a) aus dem Jahr 1993 und A Textbook Case Revisited – Knowledge as a Mode of Existence (Latour 2007a) aus dem Jahr 2007. In ihnen verdichten sich bestimmte Argumentationsweisen und sie markieren jeweils einen bedeutenden Entwicklungsschritt. Mit dieser Grundausrichtung weist Latour in einer sehr ähnlichen Weise wie Dewey die Trennung zwischen dem, was erfahren wird, von dem, wie es erfahren wird, zurück (vgl. Dewey 1995: 47). Und in einer ebenfalls großen Nähe zu Dewey orientiert er sich dabei an den empirischen und experimentellen Wissenschaften (ebd.: 19). Diese sollen das Gegenmodell zu all jenen Erkenntnistheorien bilden, die auf einen subjektphilosophischen, kognitivistischen, wahrnehmungstheoretischen oder sprachtheoretischen Konstruktivismus hinauslaufen.9 Doch auch wenn damit deutlich wird, dass es um eine Zurückweisung der verschiedenen Dualismen von Welt und Wort, Ding und Bedeutung, Außenwelt und Repräsentation usw. geht, bleibt noch unbestimmt, was an deren Stelle tritt. Die Rede von einer pluralen Ontologie weist lediglich darauf hin, dass die Existenzweisen nicht als verschiedene Sprechweisen oder Sprachspiele ohne Zugang zur äußeren Welt zu begreifen sind.
2. Z irkulierende R eferenzen und I mmutable M obiles – E rkenntnis und Ü berse t zung »Diese ganze Korrespondenzgeschichte zwischen den Worten und der Welt ist auf eine schlichte Verwechslung von Kunstgeschichte und Epistemologie zurückzuführen. Man hat die Wissenschaft für ein realistisches Gemälde gehalten und sich eingebildet, man würde exakt die Welt kopieren. Die Wissenschaft tut etwas ganz anderes – die Bilder allerdings auch. Sie verbinden uns über sukzessive Schritte mit der Welt, die ihrerseits ausgerichtet, transformiert und konstruiert ist.« (L atour 2002a: 94 f.)
Um Latours Position zu rekonstruieren, bietet sich ein Einstieg über das von ihm gewählte Beispiel aus Existenzweisen an: der Karte des Mont Aiguilles, einem 2087 Meter hohen und in der Geschichte des Alpinismus berühmten 9 | Vgl. Latour 2010b sowie ausf. Gertenbach 2015.
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Tafelberg der französischen Voralpen. Latour inszeniert sich hier als gut ausgerüsteter, allerdings auch ortsunkundiger Wanderer, der auf die Genauigkeit der Karte (und die Fähigkeit sie zu lesen) angewiesen ist. Das Beispiel ist aus mehreren Gründen leitend für die Argumentation: Nicht nur wirft es das Problem der Korrespondenz zwischen Karte und Berg auf, es skizziert auch einen Akteur in einer Situation der Ungewissheit, der auf die Karte und das in ihr gespeicherte Wissen vertrauen muss. Gleichzeitig zielt es – für Latour eher untypisch – nicht auf die Fabrikationsprozesse von Wissen (etwa bei der Erstellung der Karte), da der Wanderer bereits mit einem fertigen Produkt der wissenschaftlichen Arbeit ausgerüstet ist. Somit geht es hier weniger um die tastenden Versuche von Wissenschaftler_innen auf dem Weg zur Erkenntnis (d. h. um Science in Action), sondern um die Anerkennung dessen, was der wissenschaftliche Prozess der Bildung von Referenz bereits geleistet hat.10 Inhaltlich soll das Beispiel der Karte zeigen, dass es sich bei der Frage der Korrespondenz nicht um ein Problem der Ähnlichkeit oder der Übereinstimmung, sondern der Übersetzung handelt. Damit ein Punkt auf der Karte auf einen Ort außerhalb referieren kann, bedarf es offenkundig zahlreicher Vermittlungsschritte. Die Karte basiert dabei auf einer Technik der Skalierung, d. h. der Veränderung des Maßstabs, bei der es gerade nicht um Identität oder Ähnlichkeit geht.11 »Der Erkenntnisgewinn […] rührt gerade daher, daß die Karte in keiner Weise dem Territorium ähnelt, während sie gleichzeitig durch eine kontinuierliche Kette von Transformationen – eine Kontinuität, die ständig von der Differenz der eingefügten Materialien gebrochen wird – eine kleine Anzahl von Konstanten aufrechterhält. Gerade durch den Verlust der Ähnlichkeit wird die ungeheure Effektivität der Referenzketten gewonnen.« (Latour 2014: 130 f., H. i. O.)
10 | Genau hierin folgt das Beispiel der in der Einleitung formulierten Leitidee des Buches, die darin besteht, die Frage des Wissens auf die bereits vollzogenen Praktiken der Institution Wissenschaft zu beziehen und neues Vertrauen in die Institutionen aufzubauen (vgl. Latour 2014: 31 ff.): »Selbst wenn darin überhaupt kein Wunder liegt, sollten wir gleichwohl eine Operation bewundern, in der Hunderte Personenjahre und einige der innovativsten, wagemutigsten, hartnäckigsten und kostspieligsten menschlichen Unternehmungen resümiert, versammelt, umgeleitet und komprimiert sind.« (Ebd.: 133) 11 | Zur zentralen Gegenfigur wird bei Latour damit der Topos der adaequatio rei et intellectus (Thomas von Aquin), der Übereinstimmung von Sache und Verstand. Die Kritik hieran findet sich bereits in seinen ersten Schriften (vgl. Latour/Woolgar 1986: 177; Latour 1988: 88; 2006a: 118).
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An Latours Formulierungen ist bemerkenswert, dass seine Beschreibung von Erkenntnis und Referenz immer wieder auf die Metaphern der Kette und des Netzes rekurriert. Mit beiden wird der Blick auf den Prozess der Vermittlung und die zahlreichen Zwischenschritte gelenkt, die die einzelnen Glieder miteinander verbinden (Kette) und zu einem Ganzen zusammenweben (Netz). Dieser Vervielfältigung der Zwischenschritte und Übersetzungsprozesse steht der Dualismus von Ding und Zeichen gegenüber, der für Latour die Frage der Erkenntnis von der falschen Seite her aufzieht: »Man sieht also, daß man, um die Originalität einer Referenzkette zu erfassen, sich nie auf zwei Extrempunkte beschränken kann – die Karte und den Mont Aiguille, das Zeichen und das Ding –, die nur deren provisorische Haltepunkte sind: Man verlöre auf der Stelle den ganzen Vorteil des ›Vernetzens‹.« (Ebd.: 132) Das Beispiel der Karte soll genau auf diese Bedeutung der kleinteiligen und mühseligen Vermittlungsschritte hinweisen, die nach Latour überhaupt als genuine Tätigkeit und spezifische Leistung der Wissenschaften begriffen werden müssen.12 In dem hiermit vorgeschlagenen Perspektivenwechsel von einem auf Abbildung, Übereinstimmung und Identität setzenden Modell zu einem Modell der Umwandlung und Übersetzung nehmen vor allem zwei Konzepte eine wichtige Rolle ein: die zirkulierende Referenz und die Immutable Mobiles.13 Beide versinnbildlichen den transformativen Charakter von Erkenntnis und verweisen auf die Kette von Verschiebungen und Vermittlungen, ohne die Wissen und Gewissheit schlechthin nicht möglich wäre. Dabei ist es bezeichnend, dass beide Konzepte ebenfalls an Beispielen aus Kartographie und Geographie entwickelt werden.14 Das Konzept der Immutable Mobiles wird von Latour in seiner wissenschaftssoziologischen Hochphase Mitte der 1980er Jahre eingeführt (Latour 1985). Es soll insbesondere zwei Aspekte deutlich machen: dass die Übersetzungs- und Inskriptionspraxis falsch verstanden wäre, wenn sie als eine Angelegenheit der Interpretation begriffen würde und dass die eigentliche Leistung der Erkenntnisarbeit nicht in der Abbildung äußerer Objekte, sondern in der Erzeugung von neuartigen Elementen besteht – eben jenen Immutable Mobiles. Diese zeichnet aus, dass sie – wie die Karte oder das Buch – 12 | Latour wendet sich damit vor allem gegen ein bestimmtes Bild der Wissenschaften: »Im Gegensatz zu den herrschenden Vorurteilen rührt die Tiefe der Wissenschaften daher, daß sie uns die Möglichkeit eines direkten, unmittelbaren, brutalen Zugangs zum Referenten für immer entziehen. Darin liegt ja gerade ihre Schönheit und ihre zivilisatorische Rolle.« (Latour 1996: 186) 13 | Ich verzichte hier auf die (umständliche) Übersetzung als unveränderliche mobile Elemente (oder falsch: unveränderlich mobile Elemente, vgl. Latour 2006b). 14 | Im Zentrum steht hier nun allerdings die Erstellung von Karten, also die noch nicht gewisse, sondern »stammelnde« Wissenschaft (Latour 2002a: 43).
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zugleich transportabel und formkonstant sind (vgl. auch Schüttpelz 2009: 70). Sie müssen daher im eigentlichen Sinne als Medien der Erkenntnis begriffen werden.15 »Die wesentlichen Eigenschaften von Inskriptionen können nicht in Begriffen von Visualisierung, Form und Schrift definiert werden. Bei diesem Problem von Visualisierung und Kognition steht nicht die Wahrnehmung auf dem Spiel. Neue Inskriptionen und neue Arten, diese wahrzunehmen, sind vielmehr das Ergebnis von etwas, das tiefer liegt. […] Man muss fortgehen und mit den ›Dingen‹ zurückkehren, wenn die Bewegungen nicht vergeblich sein sollen; die ›Dinge‹ müssen aber in der Lage sein, die Rückreise zu überstehen, ohne Schaden zu nehmen.« (Latour 2006b: 266)
Eine noch deutlichere Konkretisierung erhält dieses Argument mit der Diskussion der zirkulierenden Referenz. Diesen Begriff führt Latour in der viel beachteten Studie zu einer pedologischen Exkursion zum Amazonas ein (Latour 2002a). Er zielt auf die Art und Weise, wie Erkenntnis in zahlreichen, kleinteiligen Übersetzungsschritten und mit verschiedenen Techniken und Apparaturen stabilisiert wird. Referenz, so die Hauptaussage Latours, besteht nicht in einer (mysteriösen) Angleichung von Referent und Aussage, sondern in einem zirkulären Transformationsprozess, in dem die Referenz das ist, was im Falle des Gelingens – also der Erzeugung von Wissen, Erkenntnis und Gewissheit – in den Übersetzungsketten zirkuliert. Die Konsequenz hieraus ist eine im Vergleich zum gängigen Bild der objektiven Erkenntnis umgekehrte Schlussfolgerung: Denn es ist nicht die nackte Tatsache, die für sich spricht (vgl. Latour 1989) und die durch möglichst wenig – in der Regel als subjektiv diffamierte – Eingriffe gestört werden soll, sondern es sind die zahlreichen Techniken und Praktiken, die jene erst artikulieren bzw. zum Sprechen bringen. Damit werden die Anzahl der Zwischenschritte und die Arbeit an der Erkenntnis gerade als Gütekriterium der Wissenschaft begriffen – polemisch überhöht: Je mehr Manipulationen, desto besser (Latour 2013b). »Streng genommen hat ein isoliertes wissenschaftliches Bild keine Referenz. Die Möglichkeit der Referenz entsteht einerseits durch das, was eine Inskription von einer vorhergehenden Inskription übernimmt, und andererseits durch das, was sie einer nachfolgenden Spur überträgt, indem sie sie transformiert. Referenz ist eine Bewegung, ein Umherwandern, eine Verlaufskurve, aber nicht die Eigenschaft eines ›realistischen‹ Bildes. Dies ist der Grund, warum die Anzahl der entlang einer Kette erfolgten Transformationen – eine Zahl, die für den gesunden Menschenverstand derart schockierend ist,
15 | Eine wichtige Rezeptionslinie des Konzepts liegt dementsprechend in den Medienwissenschaften (vgl. Döring/Thielmann 2009 und vor allem Schüttpelz 2009).
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Lars Ger tenbach da sie als Anzahl an ›Manipulationen‹ verstanden werden könnte – für Praktikerinnen und Praktiker sehr viel Sinn macht.« (Ebd.: 34)16
Diese Techniken der Erkenntnis sind entscheidend, wenn Referenz nicht als großer Sprung, sondern als sukzessive Kette beschrieben wird: »Es scheint, als wäre die Referenz nicht das, worauf man mit dem Finger zeigt, nicht ein externer, materieller Garant für die Wahrheit einer Aussage, sondern vielmehr das, was durch eine Serie von Transformationen hindurch konstant gehalten wird.« (Latour 2002a: 72) Die Konzepte der zirkulierenden Referenz und der Immutable Mobiles machen deutlich, dass die interessanten wissens- und erkenntnistheoretischen Fragen für Latour mit den dualistisch konzipierten Polen (Subjekt/Objekt, Welt/Wort) nicht erschlossen werden können. Indem sie sich auf das chaotische Gewimmel der mit Artefakten gesättigten Übersetzungspraktiken beziehen, befinden sie sich in der Terra Incognita der klassischen Erkenntnislehre – dem Bereich zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Wissenschaftstheoretisch hat diese Orientierung an den für Stabilisierung und Gewissheit sorgenden konkreten Praktiken weitreichende Konsequenzen. Zunächst führt dies dazu, dass die Dualismen zum Resultat der Übersetzungsarbeit erklärt werden: »Denn was man gewöhnlich ›den erkennenden Geist‹ und das ›erkannte Objekt‹ nennt, sind nicht die beiden Extrempunkte, an denen die Kette festgemacht ist, vielmehr werden beide ausgehend von deren Verlängerung und Intensivierung hervorgebracht. Erkennender Geist und erkanntes Objekt sind überhaupt nicht das, was durch einen mysteriösen Viadukt die Erkenntnisaktivität verbindet, sondern das schrittweise Ergebnis der Erweiterung der Referenzketten.« (Latour 2014: 134, H. i. O.)
Damit verbunden proklamiert Latour, dass Wissenschaftstheorie und Philosophie Explanans und Explanandum vertauscht, d. h. das zu erklärende als Erklärendes begriffen haben.17 Vor allem aber betont er, dass die Orientierung an Vermittlungen einen folgenreichen Verkehrungsprozess in den Wissenschaften sichtbar werden lässt, der die dualistische Konzeption von Erkennen stützt und den eigentlichen Erkenntnisprozess um die hierfür wesentlichen Vermittlungsschritte bereinigt. Dieser Prozess steht nicht nur Pate für das Gaston Bachelard entlehnte Konzept der Reinigungsarbeit aus Wir sind nie mo16 | Zur Differenz zwischen gesundem Menschenverstand und Common Sense vgl. Latour 2014: 107, 641. 17 | So bereits in Science in Action (vgl. Latour 1987: 141) und stärker auf die Sozialwissenschaften bezogen in The Politics of Explanation sowie Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (vgl. Latour 1983; 2007e: 409, 172 ff.).
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dern gewesen (Latour 2008a). Er wird bereits in Laboratory Life ausführlich beschrieben, wenn betont wird, dass nach der erfolgreichen Stabilisierung einer Tatsache eine Verschiebung zu beobachten ist: »[A]n inversion take[s] place: the object becomes the reason why the statement was formulated in the first place.« (Latour/Woolgar 1986: 177) Auch wenn Latour mittlerweile auf Distanz zu den ideologiekritischen Anklängen dieser These geht (vgl. Latour 2003: 194 f., Anm. 16; 2007b), besteht er doch bis heute darauf, dass zwischen der faktischen Praxis und der Selbstverständigung der Modernen eine zentrale Differenz existiert.18 Auch das gesamte Projekt der Anthropologie der Modernen baut hierauf auf, da es die in den Praktiken enthaltenen Werte artikulieren will, die in der Moderne keine hinreichende Ausdrucksform gefunden haben oder gänzlich geleugnet wurden.
3. E rkenntnis von W as ? Z um K onzep t der C rossings Bis zu diesem Punkt wurden Argumente rekonstruiert, die zwar für Latour wesentlich sind, die im Grunde jedoch auch ohne Nennung des Existenzweisenprojekts hätten auskommen können. Obwohl sich seine Argumentationsweise über die verschiedenen Werke hinweg weiterentwickelt und verlagert hat, ist eine erstaunliche Konstanz in seiner Position zu konstatieren: Es findet sich eine fortwährende Kritik an dem Programm der klassischen Erkenntnistheorie, nämlich zwischen dem Wie und dem Was des Erkennens zu trennen und damit das Problem der Erkenntnis isoliert zu behandeln. Die Separierung von Ontologie und Epistemologie, die Latour allerdings selten systematisch oder auch weiter als zu den Unterscheidungen von Ding und Erscheinung (Kant) und res cogitans und res extensa (Descartes) zurückverfolgt, bildet ein konstantes Thema seiner Schriften, das zugleich die Anlehnung an den Pragmatismus und Whitehead erklärt. Auch in der einleitend aufgeworfenen Frage nach den Beispielen und Gegenständen der Philosophie wird genau dieses Verhältnis thematisiert. Dennoch ergibt sich hier ein zentrales Problem, das nun in Existenzweisen augenscheinlich wird. Denn wenn die Frage der Referenz niemals abgelöst von dem Referenten zu diskutieren ist bzw. der eigentliche Fokus auf dem Zwischenbereich liegen sollte, dann wird eine isolierte Abhandlung über den Modus der Referenz fragwürdig. Das Problem der Referenz zu diskutieren und es so zu behandeln, als wäre es ein Problem der Erkenntnis (im Sinne der Frage nach dem Wie des Erkennens), muss dann selbst als erster Schritt 18 | Vgl. ausf. zur Diskussion des Verkehrungsprozesses im Prozess der Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen, der gerade in Laboratory Life eine wichtige Rolle einnimmt Latour/Woolgar 1986: 106, 177 ff., 240; Gertenbach 2015: 211 ff. sowie für dieses Argument in Existenzweisen Latour 2014: 150.
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hin zum kritisierten dualistischen Modell begriffen werden. Dieser Punkt ist deshalb für das Existenzweisenprojekt (und diesen Diskussionsband) zentral, weil es durch seine differenztheoretische Anlage zunächst suggeriert, dass man die Existenzweisen auch einzeln behandeln kann. Latour hat eine solche Lesart zwar sogleich zurückgewiesen, zugleich aber auch eine Überarbeitung des Gesamtprojekts angekündigt, die stärker auf die Kombinatorik der verschiedenen Existenzweisen abzielt – sich also auf die sogenannten Crossings konzentriert.19 Immerhin werden diese auch bereits im Buch zum Ausgangspunkt der Erkundung der verschiedenen Existenzweisen deklariert (vgl. Latour 2014: 111 f.). Obwohl mit dem Modell der Existenzweisen ein Differenzierungstheorem in die ANT eingeführt wird, handelt es sich nicht um eine völlige Abkehr von dem Prinzip der Vermischung und Vernetzung. Vielmehr liegt in der Verbindung dieser beiden Momente der eigentliche Gehalt des Projekts. Der Gewinn gegenüber früheren Schriften besteht darin, dass genauer benannt werden kann, um welche Form von Kreuzung es sich handelt. Wichtig für den Fall der Referenz [REF] ist hier vor allem der Modus der Reproduktion [REP], mit dem die Gegenposition zur Erkenntnistheorie formuliert wird. Deutlich wird darin, dass die Frage des Wissens und der Erkennbarkeit der Welt nicht allein der Existenzweise [REF] aufgebürdet, sondern als Problem der Kreuzung von [REF] und [REP] begriffen wird. Wenn Latour betont, dass Erkennen nicht ohne das zu Erkennende und Referenz nicht ohne Referent zu behandeln ist, bezieht sich dies auf die Ko-Konstruktion von Welt und Wissen, die in diesen beiden Existenzweisen enthalten ist. Ein erster Hinweis hierzu war bereits dem 2007 publizierten Text A Textbook Case Revisited – Knowledge as a Mode of Existence zu entnehmen. Ohne auf die Schrift im Detail eingehen zu können, ist wiederum das Beispiel instruktiv. Latour schildert dort den Besuch einer Ausstellung im American Museum of Natural History in New York, die der Evolution von Pferden gewidmet ist. Er interessiert sich allerdings weniger für den für Naturkundemuseen relativ vertrauten Gegenstand als solchen, seine Faszination gilt vielmehr der Anordnung der Ausstellungs- und Wissensobjekte: 19 | So heißt es in einem Eintrag auf der Webplattform unter der Überschrift What should clearly be redrafted etwa: »Many problems of understanding the project are due to the following of modes instead of crossings. […] The weakness of the AIME draft is shown here again by the repeated tendency to follow a mode and not the crossings out of which something was learned about the mode. We have not yet found a convincing way to encourage and facilitate the crossing of modes and that’s a pity because the only advantage of the method is to allow for the comparison between modes.« (http://mo deso fexistence.org/a-brief-report-on-the-pol-meeting-in-london-by-bl/; ähnlich auch: http://modesofexistence.org/a-new-entry-through-crossings-une-nouvelle-entreepar-croisement/ (Zugriffe am 1.2.2016).
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Latours Begeisterung ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass dies ein schlagendes Beispiel für die in den Science Studies zentrale These der Geschichtlichkeit der Dinge ist (vgl. Latour 2002c). Sie resultiert vor allem daraus, dass hier Wissen und Gegenstand als zwei zeitliche Linien (bzw. Vektoren, wie es im Text heißt) miteinander in Kontakt gebracht werden und die Frage des Erkennens nicht auf eine der beiden Seiten reduziert wird (weder die nackten Tatsachen, noch die bloßen Ideen). Es fällt nicht schwer hierin bereits eine erste Version des Crossings zwischen [REF] und [REP] zu erkennen und es ist genau diese Perspektive, die Latour am Ende des Textes schließlich auch vorschlägt: »Whatever your metaphysics, you would agree that there must be a nuance between being a horse and having a tiny fraction of the horse existence made visible in the Natural History Museum. The least provocative version of this crossing point is to say that horses benefited from a mode of existence while they were alive, a mode that aimed at reproducing and ›enjoying‹ themselves – enjoyment is Alfred North Whitehead’s expression – and that, at the intersection with paleontologists, some of their bones, hundreds of thousands of years later, happened to enter into another mode of existence once fragments of their former selves had been shunted, so to speak, into paleontological pathways. Let’s call the first mode subsistence and the second mode reference (and let’s not forget that there might be many more than two modes).« (Latour 2007a: 101)
Berücksichtigt man, dass der Begriff Subsistenz in Existenzweisen durch Reproduktion ersetzt wurde,20 findet man die gleiche Überlegung auch in dem Beispiel aus der Kartographie wieder. Indem die Karte auf den Berg referiert, ist die Korrespondenz zwischen beiden eben nicht nur ein Problem der Genauigkeit und Haltbarkeit der Karte; sie ist auch darauf angewiesen, dass ihr Objekt konstant bleibt bzw. dass es sich in einer Weise reproduziert, die eine fortgesetzte Korrespondenz mit der Karte gewährleistet. Gemeint ist damit nicht nur, dass der Berg nicht wächst, schrumpft oder wandert (was für die Kartographie keineswegs nur bei Gletschern zum Problem werden kann). Vielmehr 20 | Die Begriffsverwendungen in Existenzweisen legen nahe, dass Reproduktion spezifischer ist und daher für einen eigenen Modus reserviert wird, während die Frage der Subsistenz ebenfalls ein Problem anderer Existenzweisen ist (vgl. Latour 2014: 429 f.).
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geht es auch um die zahlreichen Wege, Markierungen, Wegweiser u. a., die als Vermittler zwischen Karte und Berg Referenz ermöglichen. Diese müssen ebenso konstant bleiben wie die Objekte, auf die sie referieren. Nimmt man aber den Vorschlag ernst, die Untersuchung mit den verschiedenen Crossings zu beginnen, dann ist zu betonen, dass es sich trotz der zentralen Verbindung zwischen Referenz [REF] und Reproduktion [REP] keineswegs um eine ausschließliche Beziehung handelt. Denn darüber hinaus geht der Modus der Referenz zahlreiche Verbindungen mit anderen Existenzweisen ein – insbesondere mit Technik, Recht, Politik oder Fiktion.21 Latours Bemühen in Existenzweisen zielt vornehmlich darauf, diese Amalgame aufzuspalten und die Differenz der darin enthaltenen Modi zu betonen, indem beispielsweise der Kontrast zwischen rechtlichem und wissenschaftlichem Wahrsprechen herausgearbeitet wird. Da die Existenzweisen in der Praxis der Modernen aber in vielfältiger Weise verschränkt sind, besteht die vielleicht sogar wesentliche Leistung dieser differenztheoretischen Perspektive darin, dass sie sich als reichhaltige Heuristik für weitere empirische Forschungen anbietet. Indem sie nicht apriorisch von der Autonomie der verschiedenen Existenzweisen ausgeht, liefert sie ein Plädoyer für eine konkrete Forschung am Material. Schlussendlich verliert damit auch die Figur der Hybridität ihren zuweilen etwas diffusen Charakter, wenn im Fokus nicht mehr kategoriale Unbestimmtheiten, sondern spezifische Kreuzungen und Amalgamierungen verschiedener Existenzweisen stehen. Während Latours frühere Schriften oftmals so gelesen wurden, dass sie die vermeintliche Reinheit der verschiedenen Sphären (Wissenschaft, Politik, Recht etc.) als Illusion und Täuschung der Modernen entlarven wollten, schlägt Existenzweisen nun unverkennbar einen anderen Weg ein, der weit von der Eloge auf die Ununterscheidbarkeiten und Vermischungen entfernt ist, mit der die ANT häufig identifiziert wurde. Dies betrifft nicht nur den Gestus, die Eigenlogiken verschiedener Artikulationsformen herauszuarbeiten (um sie zu bewahren!), sondern auch den Versuch, mithilfe dieser Unterscheidungen zu einer präziseren Terminologie bzw. einer konkreteren Analyse der Crossings zu gelangen. Charakteristisch ist dabei, dass sich diese Frage für 21 | Dies betrifft, um nur einige Beispiele zu nennen, etwa: den Bereich der Technoscience und der Instrumente in den Wissenschaften ([REF]/[TEC], vgl. Latour 1987), Gutachten vor Gericht ([REF]/[REC]), die Idee der wissenschaftlichen Politik und des Straight Talks ([REF]/[POL], vgl. Latour 2014: 192 f., Gertenbach 2016b) sowie die spezifische Ästhetik und Rhetorik wissenschaftlicher Texte ([REF]/[FIK] vgl. Latour/Fabbri 2000). Eine genauere Diskussion und eine Tabelle der verschiedenen Crossings finden sich auf der AIME-Webplattform, auf der mittlerweile auch ein zusätzlicher Einstieg über die verschiedenen Crossings möglich gemacht wurde. Vgl. http://modesofexistence. org/crossings (Zugriff am 1.2.2016).
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jeden Modus neu stellt – mit dem durchaus unvorteilhaften Resultat, dass die Untersuchung in dieser neuen Fassung nicht 15 Existenzweisen, sondern 105 Crossings diskutieren müsste.22
4. D as M odell der W issenschaf ten Obwohl Referenz und Wissenschaft (als Institution) nicht unmittelbar gleichgesetzt werden können, wird doch deutlich, dass es hierbei wesentlich um wissenschaftliche Fragen geht. Abschließend erscheint es daher sinnvoll, auf das hierin zutage tretende Konzept der Wissenschaft einzugehen. Obwohl Latour zuweilen den Eindruck erweckt, dass seine Analyse auf einer spezifischen Vorstellung von Wissenschaftlichkeit auf baut, formuliert er dies vor allem in Existenzweisen nun als offene, einzig empirisch zu klärende Frage. Indem er versucht herauszufinden, »was in den Wissenschaften überhaupt als ›wissenschaftlich‹ verstanden werden kann« (Latour 2013b: 31), begreift er es nicht als Aufgabe von Philosophie und Soziologie, abstrakte Kriterien hierfür anzugeben. Die genaue Scheidung von wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Aussagen und die Frage, wo Wissenschaft beginnt und welche Praktiken nicht mehr hierunter fallen, stellen sich vielmehr als komplexes Problem der Praxis selbst. Das Insistieren darauf, dass die Erforschung der Wissenschaften (wie bei allen anderen Praktiken) der konkreten Tätigkeit der Wissenschaft betreibenden Akteure folgen muss, enthält letztlich ein weiteres Argument gegen die klassische Wissenschaftstheorie und -soziologie. Denn es impliziert, dass sich die Frage der Wissenschaftlichkeit nicht über eine Bestimmung der Erklärungslogik oder des Gegenstandsbereiches klären lässt, wie man es etwa in den Unterscheidungen von erklärenden vs. verstehenden oder Natur- und Kulturwissenschaften antrifft. Konkret zu prüfen, was im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als wissenschaftlich begriffen wird, bedeutet, dass diese Frage als Deutungskampf der Wissenschaften selbst verstanden wird und Latour – auch hier ähnlich wie Dewey – auf Experimentalismus setzt (Dewey 1995). Doch auch wenn die Absage an abstrakte Definitionen nachvollziehbar sein mag, sind damit keineswegs alle Fragen und Probleme beantwortet. Unklar bleibt vor allem, inwiefern die Orientierung am Modus der Referenz nicht von vornherein ein spezifisches Forschungsmodell und vor allem ein bestimmtes Bezugsproblem priorisiert, das keineswegs für alle Wissenschaften prägend oder auch nur anwendbar ist. Solche Unklarheiten führen dazu, dass Latours Arbeiten letztlich zwischen einem weiten und einem engen 22 | Und nur dann, wenn man (fälschlicherweise) unterstellt, dass Crossings stets nur aus zwei Existenzweisen bestünden. Vgl. für ein Beispiel der Kreuzung [REF]/[REP]/ [POL] Latour 2014: 334.
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Begriff der Wissenschaft oszillieren: Einerseits bezieht er sich auf Wissen und Erkenntnis schlechthin, was einen recht unbestimmten Begriff der Wissenschaft impliziert und andererseits ist das Modell nahezu all seiner Studien die naturwissenschaftliche Forschung. Diese Unbestimmtheit hat nicht zufällig zu einigen Irritationen und auch Fehldeutungen geführt. Während Latour zum einen dafür kritisiert wurde einem naturwissenschaftlichen Reduktionismus das Wort zu reden, der die spezifische Eigenlogik von Kultur, wie sie vor allem auf der Ebene der Sprache und des Symbolischen zum Tragen kommt, nicht berücksichtigt, hat sich zum anderen bis heute der Irrtum gehalten, man habe es hier mit einer sozialkonstruktivistischen oder gar hermeneutischen Position zu tun, die auf die Entscheidungs- und Bedeutungsgeladenheit aller Forschung ziele (vgl. Gertenbach 2015: 187 ff.). Ungeachtet dieser Fragen lässt Existenzweisen nun vor allem deutlich werden, dass es Latour selbst – trotz aller Bedeutung der erkenntnistheoretischen Probleme – darum geht, dieses Feld hinter sich zu lassen: Sein Ziel besteht in einem diplomatischen Beitrag (vgl. Latour 2014: 39 f.; Gertenbach 2016b). Obwohl zunächst eigentümlich erscheint, dass er seine eigene Arbeit explizit nicht als wissenschaftlich begreift (vgl. Latour 2014: 646 f.), so wird doch von der Gesamtanlage des Projekts erkennbar, dass dies der Intention zuwiderlaufen würde, die verschiedenen Existenzweisen in ihren eigenen Artikulationsformen zu verfolgen: Es würde schlichtweg einen Modus zum Universalschlüssel aller anderen erklären und damit den ihm typischen Hegenomieanspruch bestätigen (vgl. ebd.: 436, 646). Dementsprechend geht es in dieser Diskussion auch weniger um einen philosophischen Beitrag, um Metaphysik und Ontologie – auch wenn dies durchaus hieraus entwickelt werden kann –, sondern um einen methodischen Werkzeugkasten zur Detektion der verschiedenen, sich aber stets überlagernden Praktiken. Ob Latour den Anforderungen an eine diplomatische Untersuchung in Existenzweisen überhaupt gerecht wird, soll hier nicht weiter problematisiert werden (vgl. dazu Blake 2015). Interessant ist vor dem Hintergrund der Frage der Referenz aber, welche Beobachterposition damit grundsätzlich vorgeschlagen wird – und inwiefern diese sich von der soziologischen unterscheidet, die in seinem letzten großen Werk noch als Hoffnungsträger zur Erneuerung der Gesellschaft präsentiert wurde und die nun lediglich den Modus des Netzwerks zu bedienen scheint. Obwohl das Buch damit zahlreiche Fragen aufwirft, bleibt als – wenig überraschende – Feststellung zu notieren, dass die Diskussion der Existenzweise [REF] kaum Neuerungen gegenüber den früheren Schriften enthält. Die interessantesten Weiterführungen finden sich stattdessen in Bezug auf die verschiedenen Crossings, die im Buch noch weitgehend ausgespart wurden. Hier anzuschließen könnte durchaus vielversprechend sein – und sei es auch nur um die verschiedenen Fragestellungen der Wissenschaftsforschung
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genauer zu systematisieren und deren Lücken zu benennen.23 Vor allem aber sollte nicht übersehen werden, dass hierin eine durchaus folgenreiche soziologische Wendung der philosophischen Grundlagenfragen angelegt ist. Denn die stärkere Orientierung an den Crossings der verschiedenen Existenzweisen muss dabei als (erneute) Aufforderung zur empirischen Forschung begriffen werden – und gerade hier ist sie zugleich ein Plädoyer dafür, die stereotypen Gegenstände und Fälle durch bessere und komplexere Beispiele zu ersetzen.
L iter atur Blake, Terence (2014): On the Existence of Bruno Latour’s Modes: From Pluralist Ontology to Ontological Pluralism, Text abruf bar unter: https://terenceblake. wordpress.com/2014/06/25/on-the-existence-of-bruno-latours-modes-essayreview (Zugriff am 1.2.2016). Blake, Terence (2015): Evaluing Bruno Latour’s AIME Project, Text abruf bar unter: https://terenceblake.wordpress.com/2015/02/18/evaluing-latours-aime-diplo macy-originality-testability-digitality-democracy (Zugriff am 1.2.2016). Blumenberg, Hans (2000): Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dewey, John (1995): Erfahrung und Natur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dewey, John (1998): Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dewey, John (2004): Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.) (2009): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript. Edwards, Derek/Ashmore, Malcolm/Potter, Jonathan (1995): Death and Furniture: the rhetoric, politics and theology of bottom line arguments against relativism. In: History of the Human Sciences, Jg. 8, H. 2, S. 25–49. Gertenbach, Lars (2015): Entgrenzungen der Soziologie. Bruno Latour und der Konstruktivismus, Weilerswist: Velbrück. Gertenbach, Lars (2016a): Die Wissenschaften als Laboratorium der Soziologie. Zur Rolle der Science Studies bei der Reformulierung von Sozial- und Gesellschaftstheorie bei Bruno Latour. In: Stephan Lessenich (Hg.): Routinen 23 | So wird etwa deutlich, dass ein großer Teil der Forschung auf das Zusammenspiel von [REF] und [POL] gerichtet ist oder Wissenschaftsforschung als Institutionenforschung [ORG] nahezu unter Ausklammerung von [REF] betreibt, während eher selten nach der Rolle von Fiktionalisierungen und Ästhetisierungen in der wissenschaftlichen Praxis [REF]/[FIK] gefragt oder die Verschränkung von wissenschaftlichen und rechtlichen Wahrheitspraktiken [REF]/[REC] in den Blick genommen wird.
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der Krise – Krise der Routinen, Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2014, Text abrufbar unter http://publikationen.so ziologie.de/index.php/kongressband/article/view/104/pdf_148 (Zugriff am 1.2.2016). Gertenbach, Lars (2016b): Politik – Diplomatie – Dezisionismus. Über das Politische in den neueren Schriften von Bruno Latour. In: Soziale Welt, Jg. 67, H. 3, i. E. James, William (2006): Pragmatismus und radikaler Empirismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kray, Thorn R. (2010): Metapher und sozialwissenschaftliche Terminologie. Anmerkungen zur räumlichen Metaphorik bei Bruno Latour. In: Sociologia internationalis, Jg. 48, H. 1, S. 113–142. Lamla, Jörn (2013): Arenen des demokratischen Experimentalismus. Zur Konvergenz von nordamerikanischem und französischem Pragmatismus. In: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 23, H. 3–4, S. 345–365. Latour, Bruno (1983): The Politics of Explanation. An Alternative. In: Steve Woolgar (Hg.): Knowledge and Reflexivity. New Frontiers in the Sociology of Knowledge, London: Sage Publications, S. 155–177. Latour, Bruno (1985): Les »vues« de l’esprit. In: Culture Technique, Jg. 14, H. 1, S. 4–30. Latour, Bruno (1987): Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Latour, Bruno (1988): The Pasteurization of France, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press. Latour, Bruno (1989): Clothing the naked truth. In: Hilary Lawson /Lisa Appignanesi (Hg.): Dismantling Truth. Reality in the Post-Modern World, London: Weidenfeld & Nicholson, S. 101–128. Latour, Bruno (1996): Arbeit mit Bildern oder: Die Umverteilung der wissenschaftlichen Intelligenz. In: Ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie, S. 159–190. Latour, Bruno (2002a): Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald des Amazonas. In: Ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 36–95. Latour, Bruno (2002b): Von der Fabrikation zur Realität. Pasteur und sein Milchsäureferment. In: Ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 137–174. Latour, Bruno (2002c): Pasteur und Pouchet. Die Heterogenese der Wissenschaftsgeschichte. In: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 749–789. Latour, Bruno (2003): Die Versprechen des Konstruktivismus. In: Jörg Huber (Hg.): Person/Schauplatz. Interventionen 12, Wien/New York: Springer, S. 183–208.
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[POL] Die Politik der Moderne(n) Jörn Lamla
1. E inleitung Es gibt einfachere Bücher von Latour als die Existenzweisen, und auch die Ansichten ihres Autors über das Politische erschließen sich nicht von selbst. Es gilt daher Übersicht auf diesem Terrain zu schaffen. Warum dies nötig ist, mag folgende Irritation verdeutlichen: Sie besteht in der Unklarheit, ob die Politik nur ein Existenzmodus neben anderen ist oder ob nicht die ganze Untersuchung auf ein politisches Projekt zuläuft, das damit weit mehr umfassen würde als nur einen von fünfzehn Modi, nämlich auch die Frage der guten Artikulierung, Institutionalisierung und Komposition all dieser Modi. Denn am Ende geht es Latour darum, für die Modernen eine neue kollektive Identität zu suchen, sie auf eine neue Zivilisation vorzubereiten angesichts des existenzbedrohenden Kriegszustands, in dem sie sich mit Gaia befindet, mit der großen Mutter Erde, die uns nicht braucht, die wir aber brauchen (vgl. Latour 2014: 652 f.). Und nicht nur die Kriegsrhetorik verweist auf Politik, sondern auch ihr Gegenstück, die Friedensdiplomatie, die erforderlich und zu entwickeln sei, sollen die in der Moderne kollidierenden Werte ein ihnen gemäßes institutionelles Zuhause finden können (vgl. ebd.: 647). Doch die Irritation lässt sich auflösen. Das Politische des Gesamtprojekts muss vom Existenzmodus der Politik unterschieden bleiben. Denn es hat auch mit anderen Existenzmodi viel gemein und ließe sich ebenso als unvollendetes Projekt moderner Rationalität oder religiöser Vervollkommnung oder universeller Moral bezeichnen. Es handelt sich um eine Neuauflage der Idee demokratischer Sittlichkeit, die eher einem Potlatsch als der Politik gliche, also einer rituellen Festversammlung, der es gelingt, die unterschiedlichen Leistungen der verschiedenen Existenzweisen in einem gelebten Vertrag zu verweben – um eine »zeitgenössische panathenische Prozession« (ebd.: 649).1 1 | Für Marcel Mauss drückt sich im Potlatsch ein »System der totalen Leistungen« (Mauss 1968: 22) aus: »Alles, was das eigentliche gesellschaftliche Leben der Gesell-
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Es kommt deshalb darauf an, den Ort und die Relevanz der Politik im modernen Gesamtprojekt mit seinem Spektrum unterschiedlicher Werte und Existenzweisen zu bestimmen. Es geht Latour darum, den Blick auf die Institutionen der Moderne zu öffnen und Gestaltungsspielräume sichtbar zu machen, wie deren Trajektorien sich respektvoller zueinander einpendeln können. Diese Fragestellung erinnert an ähnlich angelegte Vorhaben anderer großer Gesellschaftstheorien – und signalisiert damit eine weitere Rezeptionsgefahr: Das Potential der Untersuchung der Existenzweisen würde vorschnell verschenkt werden, würde man die Modi im Stile einer Theorie funktionaler Differenzierung alle gleichermaßen über den Kamm der Autopoiesis scheren. Auch wenn die ökologische Problemstellung eine ähnliche ist wie bei Luhmann, wenn dieser sich fragt, wie Teilsysteme oder Teillogiken, die sich selbst zu wichtig nehmen, rationaler2 zueinander einpendeln können, so ist die Herangehensweise Latours doch eine andere. Seine Untersuchung steht in der Tradition pragmatistischer Sozialphilosophie und Theoriebildung.3 Sie verweigert sich erstens der Annahme unüberbrückbarer Grenzen des Verstehens zwischen den verschiedenen Modi und schließt stattdessen an die sprachpragmatische Tradition an, womit sie auf mögliche Erfahrungen und allgemeine Kompetenzen im common sense abhebt. Sie nähert sich ihrem Gegenstand zweitens mit den ethnografischen Methoden einer Anthropologin, die die Modernen beim Ausführen ihrer Praktiken beobachtet und genau protokolliert, um aus den gesammelten empirischen Daten nach und nach Strukturhypothesen zu generieren. Drittens schaften ausmacht […] ist darin verwoben. In diesen (wie wir sie nennen möchten) ›totalen‹ gesellschaftlichen Phänomenen kommen alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck: religiöse, rechtliche und moralische – sie betreffen Politik und Familie zugleich; ökonomische – diese setzen besondere Formen der Produktion und Konsumtion oder vielmehr der Leistung und Verteilung voraus; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen, in welche jene Tatsachen münden, und den morphologischen Phänomenen, die sich in diesen Institutionen offenbaren.« (Ebd.: 17 f.) 2 | Für Luhmann, der durchgängig mit der theoretischen Unterscheidung von System und Umwelt arbeitet, »wäre ökologische Rationalität erreicht, wenn die Gesellschaft die Rückwirkungen ihrer Auswirkungen auf die Umwelt auf sich selbst in Rechnung stellen könnte«, wobei dies für jedes gesellschaftliche Funktionssystem nach eigenen Kriterien geschehen müsste (Luhmann 1986: 247). 3 | Es lohnt sich, den Parallelen zum Werk von John Dewey nachzugehen, als dessen überarbeitete und aktualisierte Neuauflage die Arbeiten von Latour gelesen werden können (vgl. Lamla 2013a). So lässt sich das Parlament der Dinge (Latour 2010) gut mit Deweys Öffentlichkeitsbuch (1996) vergleichen, Latours Kritik der modernen Selbsttäuschung (2008) gleicht in der Stoßrichtung Deweys Kritik einer falsch verstandenen Gewissheitssuche (1998) und im Falle der Existenzweisen (Latour 2014) lohnt ein Seitenblick auf Deweys Hauptwerk über Erfahrung und Natur (1995).
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schließlich trennt sie nicht grundlegend zwischen Theorie und Praxis, sondern spielt mit Metaphern des Lernens und der Verhandlung im Rahmen einer kollektiven, unabgeschlossenen und experimentellen Untersuchung, deren Hypothesen sich unter empirischen Testbedingungen bewähren können sollen. Um dieser Anlage von Latours Untersuchung gerecht zu werden, soll hier im Sinne der ethnografischen (oder qualitativ rekonstruktiven) Forschungsperspektive zunächst die Politik als Praxis mit dem Ziel in den Blick genommen werden, deren spezifische Existenzweise [POL] nachzuzeichnen und schrittweise zu generalisieren (2). Erst im Anschluss daran erfolgt die Einordnung in größere Zusammenhänge des modernen Institutionengefüges mit seinen diplomatischen Herausforderungen (3). Die Trennung dieser Analyseschritte wird sich gleichwohl nicht strikt durchhalten lassen, weil die Rekonstruktion der Existenzweisen neben der Analyse ihrer je spezifischen Gelingensbedingungen, Diskontinuitäten und Trajektorien auch auf den empirischen Vergleich mit anderen Modi angewiesen ist, wobei Latour methodisch ähnlich wie die Situationsanalyse verfährt, die mittels Kartierung der Pluralität von Situationsbestandteilen deren Relationen erforscht (vgl. Clarke 2012: 140; Latour 2014: 646).4 Dazu dient in seinem Fall die Exploration der Crossings verschiedener Existenzweisen, sei es mittels Beobachtung empirischer Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen ihnen oder durch gedankenexperimentelles Variieren, Vergleichen und in Beziehung setzen im Rahmen einer Kreuztabelle, das als Übung in diplomatischer Vermittlung verstanden wird und mit der Praxis rückgekoppelt bleiben soll.
2. D ie E xistenz weise der P olitik [POL] und ihre K reuzungen Die Politik taucht in der Untersuchung als spezifische Existenzweise [POL] zunächst in Relation zur referentiellen Sprechweise der Wissenschaft [REF] auf. Wurde das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Wir sind nie modern gewesen (Latour 2008) noch primär unter Gesichtspunkten ihrer verkannten Vermischung in hybriden Akteur-Netzwerken [NET] betrachtet, so stehen nun die je eigenen, unterschiedlichen Werte und Bewährungsdynamiken [PRÄ] 4 | Latour (vgl. 2014: 110 ff.) strebt eine Argumentation aus einem Guss an und bezeichnet diese methodischen Analyserichtungen daher als eigenständige, metasprachliche Existenzweisen der Untersuchung: [PRÄ] für Präposition bezeichnet die je spezifische Bewährungsdynamik von Existenzweisen und [NET] bezeichnet deren Vermischung in der Praxis von Akteur-Netzwerken. Die Kreuzung dieser Methoden [NET * P RÄ] trägt und prägt die gesamte Analyse und weist darauf hin, dass sich die methodischen Schritte laufend ergänzen müssen.
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im Vordergrund. Schon in seinem Modell der zirkulierenden Referenz hatte Latour (2002) die methodische Idee der lückenlosen Rückverfolgbarkeit von Übersetzungsschritten entlang wissenschaftlicher Referenzketten (von Bodenproben aus dem brasilianischen Urwald bis hin zu den Taxonomien naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen) als Bewährungskriterium stark gemacht. Im neuen Buch kommt es ihm darauf an, dies als Existenz- und Sprechweise kenntlich zu machen, die Korrespondenzen zwischen Natur und Erfahrung oder Realität und Sprache durch Umwege und mit Fehlschlägen mühsam erarbeitet und keineswegs auf direktem Wege herstellt oder unmittelbar zur Verfügung hat. An Maßstäben wissenschaftlicher Rationalität gemessen erscheint die Politik [POL] daher nur dann als weniger rational oder irrational, wenn die Wissenschaft sich als direkten, umweglosen Beweisgang, als Kette alternativloser Schlussfolgerungen missversteht, die zu unbestreitbaren Tatsachen führe – was Latour (2014: 151) in Anspielung auf Illusionen der Sofortverfügbarkeit von Information als »Doppelklick« [DK] bezeichnet, als »Bösen Geist«, der ein falsches, weil absolutistisches Wahrheitsmodell suggeriert und verbreitet.5 Dieses verleite jedoch zu Fehldeutungen, sowohl der Wissenschaft als auch der Politik, deren Differenzen und historische Interferenzen dann nicht mehr gut erfasst oder artikuliert werden können – ganz zu schweigen von den Relationen zu den weiteren Existenzweisen, die in der Untersuchung zutage treten. Um der Versuchung von Doppelklick zu widerstehen, müssen also die Kriterien von wahr und falsch vor Monopolisierungen durch einzelne Existenzweisen bewahrt und stattdessen nach unterschiedlichen Bewährungslogiken differenziert werden. Was im Falle von Wissenschaft [REF] und Politik [POL] als Unterschied dann bleibt, ist die je spezifische Ausrichtung, letztlich eher gerade im Falle der ersten beziehungsweise krumm im Falle der zweiten Existenzweise zu sprechen. Gemeint sind damit zwei unterschiedliche Weisen, wahr zu sprechen, jede für sich legitim und wertvoll. Damit impliziert Latour (vgl. 2014: 196 ff.) einen pluralistischen Wahrheitsbegriff, der von unterschiedlichen Bedingungen der praktischen Bewährung oder des Gelingens ausgeht.6 An dieser vergleichenden Betrachtung von Wissenschaft [REF] und Politik 5 | Aber »auch die Wege der Referenz verlaufen nicht direkt. Gewiß, sie verlaufen deshalb noch lange nicht gekrümmt: Am Ende, wenn alles an Ort und Stelle ist, sichern sie wirklich jenen direkten Zugang, der in der Tat als ein gerader Weg gelten kann. Aber […] ihre letztliche Geradlinigkeit [ist] das Resultat der Einrichtung von Referenzketten. Folglich kann Doppelklick sich keinesfalls auf seine Vertrautheit mit den Wegen der Erkenntnis berufen, um die Qualität der politischen Rede in Zweifel zu ziehen.« (Latour 2014: 192) 6 | In ähnlicher Weise hatten Boltanski und Thévenot (2007) ausgehend von den Praktiken der Rechtfertigung für einen pluralen Gerechtigkeitsbegriff votiert. Auch sie arbeiten ein übergreifendes Analyseschema heraus, das tabellarische Anordnungen, Vergleiche und Kreuzungen dieser normativen Ordnungen ermöglicht.
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[POL] gewinnt Latour die zentralen analytischen Bausteine und Ziele seiner gesamten Untersuchung von Existenzweisen der Modernen, nämlich die je spezifischen Gelingensbedingungen herauszuarbeiten, die – wie im Falle der Wissenschaft durch das Einrichten von Referenzketten – Brücken, Verbindungen oder Assoziationen über eine Diskontinuität, einen Hiatus oder Widerspruch hinweg zu bilden und so einer Praxis ihre Existenz, d. h. ihren Fortgang und damit ihre je spezifische Trajektorie zu sichern erlauben. Dieses analytische Programm führt im Falle der Politik dazu, Autonomie als einen zentralen Wert der Modernen ernst zu nehmen und auszudeuten: Politik ist die kollektive Praxis des Versammelns, die den Widerspruch oder Hiatus zwischen der Freiheit zur Selbstbestimmung auf der einen und dem Gehorsam oder der Disziplin auf der anderen Seite mehr oder weniger gelungen zu überbrücken vermag.7 Diese Praxis spricht deshalb krumm, weil sie kreisförmig verläuft, d. h. Latour zufolge immer wieder von vorn beginnen muss. Es gibt keine Möglichkeit, Kollektiven dauerhaft oder endgültig die Identität einer Wir-Gemeinschaft zu verleihen. Dieses Wir ist – ganz ähnlich wie die außeralltägliche Herrschaft kraft charismatischer Bindung bei Max Weber (vgl. Weber 1980: 140 ff.) – vielmehr stets ein Provisorium, das zu zerfallen beginnt, sobald es einmal eingerichtet ist und Folgsamkeit verlangt. Nur unter diesen Bedingungen kann sie den Hiatus von Freiheit und Gefolgschaft überbrücken. Und dennoch schafft es die Politik ein autonomes Wir zu institutionalisieren und das Kollektiv vor dem permanenten Zerfall zu bewahren, wobei die Kreisbewegung, in der dies geschieht, sich in dem Maße bewährt, wie sie den Kreis dynamisch erweitert und inklusiver macht – oder aber misslingt und scheitert, weil sie das Wir durch die Exklusion potentieller »Feinde« immer kleiner werden lässt (vgl. auch Laux 2016). Den damit angedeuteten Gelingensbedingungen der Politik, die den Leitfaden für eine Neuinstitutionalisierung des Zentralwerts der Autonomie abgeben, ist im Folgenden genauer nachzugehen. Die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen, die in vielen poststrukturalistischen Theorien dazu verwendet wird, die Unabschließbarkeit des Demokratieprojekts zu demonstrieren (vgl. Bröckling/Feustel 2010), findet sich schon im Existenzmodus [POL] selbst angelegt. Die Versammlung von Kollektiven hat stets provisorischen Charakter. Unter Gesichtspunkten der Autonomie kann die gesellschaftliche Macht nicht als etwas dauerhaft Institutionalisiertes betrachtet werden, vielmehr muss sie laufend neuversammelt werden (vgl. Lamla 2016). Dabei spielt auch für Latour die Frage eine wichtige Rolle, wie die mit gegebenen politisch-institutionellen Arrangements und Wir-Identitäten (z. B. Nationalstaatlichkeit und Nationalität) einhergehende Schließungsdynamik 7 | Diesen Widerspruch von Freiheit und Disziplin hatte Peter Wagner (1995) übrigens seiner Soziologie der Moderne insgesamt unterlegt (und damit vielleicht überzogen?).
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von Politik so eingerichtet werden kann, dass die damit Ausgeschlossenen weiterhin artikulationsfähig bleiben und den politischen Versammlungsprozess von neuem initiieren können (vgl. etwa Rancière 2002). Dieses Testkriterium ist entscheidend für eine gelingende Einrichtung des politischen Machtkreislaufs, den Latour hier anders akzentuiert als etwa die soziologischen Demokratietheorien von Luhmann (1981: 42 ff.) oder Habermas (1992: 415 ff.). Bedeutet Demokratie in diesen Theorien anschließend an Parsons’ Konzeption von symbolisch generalisierten Interaktionsmedien (vgl. Parsons/Jensen 1980), dass die politische Macht erst in Demokratien in einen Kreislauf gebracht wird, in dem sie dann in offiziellen oder aber inoffiziellen Richtungen zwischen Publikum, Parteien und Administration zirkulieren kann, so knüpft Latour (vgl. 2014: 472) die Figur des Kreises bereits an den für Politik als Existenzmodus insgesamt konstitutiven Wert der Autonomie. Politik verläuft ihm zufolge per se zwischen der verstreuten und zerstrittenen Menge, die eine Repräsentation in einem Kollektiv findet, das in der Folge Gehorsam verlangt, aber jederzeit auch wieder auseinanderstoben und zerfallen kann. Demokratie ist dann nicht eine bestimmte institutionelle Struktur dieses Kreislaufs, sondern der nicht abschließbare kollektive Lernprozess, der die Bahnen dieses Kreises immer weiter zu ziehen erlaubt. Bevor dieser Gedanke auf das Geflecht der Existenzweisen der Modernen insgesamt angewendet werden kann, sind aber zunächst die einzelnen Passagen genauer in Augenschein zu nehmen, die von den politischen Wesen in einem solchen Kreis durchlaufen werden müssen. Auf den »Wesen der Politik« lastet ein permanenter Innovationsdruck. Für sie ist Existieren im Krisenmodus der Normalfall. Sie gehen folglich nur ausnahmsweise in einen Routinemodus über. Diese Kennzeichnung reicht allerdings noch nicht aus, um die Existenzweise der Politik [POL] präzise von anderen Realitätsmodi abzugrenzen. Eine an Max Weber anschließende rekonstruktiv gewonnene Theorie des professionellen Handelns (vgl. Seyfarth 1989; Oevermann 1997) kann hier helfen, das Unterscheidungsvermögen zu schärfen: Die Krise ist definitionsgemäß durch die Abwesenheit von Entscheidungsroutinen und klaren Präferenzordnungen gekennzeichnet. Diese geraten in der Krise ins Stocken. Eine Überwindung der Krise ist daher immer nur in einem Entscheidungsmodus möglich, bei dem rationale Begründbarkeit und Legitimierbarkeit zunächst ungeschützt in Anspruch genommen, also riskiert werden müssen. Erst in einer zweiten Phase der Rekonstruktion können diese Ansprüche eingelöst werden, dann nämlich, wenn sich die Entscheidung als praktische Krisenlösung bewährt hat. In dieser Form hat das politische Handeln allerdings mit anderen Praxisformen viel gemein, auf denen ebenfalls ein solcher Krisenund Innovationsdruck lastet. Ausgehend von der Professionalisierungstheorie Ulrich Oevermanns (1997) lässt sich das folgende Vierfelder-Schema (Tab. 1) zur Abgrenzung der politischen Existenzweise heranziehen:
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Tab. 1: Typologie krisenreaktiver Praxisformen Professionalisierte Berufspraxis
Krise als Normalfall
Privater Problemfokus
Therapeutische Praxis
Unternehmerisches Handeln
Öffentlicher Problemfokus
Rechtspflege
Politisches Handeln
Bei den Modernen lässt sich Latour zufolge eine Reihe von Praxisformen finden, die charismatisch, d. h. ohne festen Grund und in Gestalt eines Sprunges (vgl. Latour 2014: 480 f.) Entscheidungen fällen müssen, wobei einige dieser Praxisformen zu einer Versachlichung (nicht Veralltäglichung!) des Charismas in Gestalt routineförmiger Berufspraktiken gelangt sind. Politik kann demgegenüber definiert werden als ein Modus, dem ein solcher Professionalisierungspfad verstellt bleibt. Therapie und Rechtspflege dagegen sind zwei klassische Professionen, die sich auf Begründungsprozeduren stützen, die am Rationalitätsmodell der Wissenschaft partizipieren. Beide finden als Metamorphose [MET] bzw. Recht [REC] auch ihre Entsprechung in der Taxonomie der Existenzweisen und weisen verglichen mit Situationen der Kreuzung [REF * POL] weniger Spannungen zur Wissenschaft [REF] auf. Nichtsdestotrotz haben es Therapie und Rechtspflege in ihrer Praxis der Krisenintervention mit einem je eigenen Hiatus oder eigenen Antinomien zu tun, die in der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem bestehen: Advokatorische Verfahren in der Rechtspflege oder therapeutische Arbeitsbündnisse subsumieren den Fall einer problematisch gewordenen Praxis nicht einfach unter die jeweilige sachrationale Geltungsgrundlage – also etwa formale Gesetzestexte oder therapeutisches Wissen –, sondern versprechen eine fallsensible Vermittlung, um die Kohärenz und Anwendbarkeit verpflichtender Rechtsmittel bzw. um die Integrität psychischer Wesen durch deren Wandlungen hindurch sicherzustellen. In diesem Versprechen wurzelt ihr charismatischer Gehalt und es begründet ihre je eigene Trajektorie und Bewährungsdynamik. Aber über diese Abgrenzung hinaus sind für die Politik noch weitere Spezifizierungen vorzunehmen, denn auch unternehmerisches Handeln verfügt über keine wissenschaftlichen Fundamente der Routineexekution und versperrt sich der professionellen Versachlichung. Es ist ebenso wie die Politik permanent dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt und muss Bindungsenergien [BIN] freisetzen, um sich von Krisenbewältigung zu Krisenbewältigung zu hangeln. Aber politisch werden solche Handlungsmuster erst, wo es um die Bewältigung einer öffentlichen Streitsache geht, deren Lösung nicht der privaten Initiative von Einzelnen überlassen bleiben kann. Hier geht es nicht um den Markterfolg und das Skalenniveau von leidenschaftlichen Interessen, sondern
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um ein Kollektiv, das vorab schon durch einen Streit aneinander gebunden, aber zugleich damit auch unfähig ist, gemeinschaftlich zu handeln. Die vorübergehende, provisorische Auflösung solcher Konstellationen durch eine Transformation der Öffentlichkeit in ein gemeinschaftliches Kollektiv ist dabei ebenso auf die fortgesetzte Produktion politischer Wesen angewiesen, wie die Existenz religiöser Sendungskraft [REL] nicht ohne religiöse Wesen fortgeführt werden kann. In beiden Fällen handelt es sich um »Sprachen, die dabei sind, zu verschwinden, sobald es keinen Sprecher mehr gibt, um sie gut zu sprechen« (Latour 2014: 451). Die Existenzweise [POL] ist also nicht im klassischen Sinne professionalisierbar, sondern muss situativ und performativ erneuert – instauriert – werden, weil die Krisenkonstellation der Öffentlichkeit sich laufend so verändert, dass die zuvor gefundenen und machtvoll eingerichteten Repräsentationsverhältnisse sich nicht länger umstandslos bewähren. Das Kollektiv steht folglich vor der Aufgabe einer laufenden Neuversammlung. Genau diese Spannung wird in der Demokratietheorie als unauflösbare Differenz zwischen der institutionalisierten Politik und dem instituierenden Moment des Politischen bezeichnet. Um diese politische Konstellation der Agora nachzeichnen zu können, muss Latour klären, was die zerstrittene Öffentlichkeit auszeichnet. Hierbei kommt es ihm darauf an, von der politischen Praxis (verstanden als Sprechweise) auszugehen, also empirisch, d. h. an der Erfahrung anzusetzen. Darin spielt der Wert der demokratischen Autonomie zwar eine zentrale Rolle, aber als Ideal, was zunächst im Widerspruch zur krummen Vorgehensweise beim politischen Sprechen zu stehen scheint, die durch Lügen, das Einteilen der Streitenden in Freunde und Feinde oder strategische Deals geprägt ist (vgl. ebd.: 453). Um zu sehen, wie sich diese Paradoxie in der Praxis auflöst und der Leitwert der Autonomie gleichwohl den Fortgang, d. h. die Trajektorie der Öffentlichkeit und ihre Bewährungsdynamik zu bestimmen vermag – was Latour als »Quadratur des politischen Kreises« bezeichnet (ebd.: 463) –, schließt er an das Politikmodell von Noortje Marres (2005; 2007) an. Dieses Modell greift auf die pragmatistischen Theorien der Öffentlichkeit bei John Dewey und Walter Lippmann zurück, die eine erstaunliche Nähe zur Politik- und Demokratietheorie Latours aufweisen (vgl. Lamla 2013a; Harman 2014: 161 ff.). In ihm stecken gleich mehrere Gesichtspunkte, die sich Latour für die Beschreibung der politischen Existenzweise zunutze macht. Zunächst führt Marres’ Formel »No issue, no politics!« (2005; vgl. Latour 2014: 462) die Untersuchung dahin, dem Gewicht von Objekten, Dingen oder Streitsachen in der Politik mehr Beachtung zu schenken. Res publica, die öffentliche Sache, ist hier ganz wörtlich zu verstehen und Vorstellungen entgegenzusetzen, die eine unabhängig von Streitgegenständen bereits existierende Öffentlichkeit (etwa Habermas 1990) annehmen. Weil das issue-, ding- oder objektorientierte Politikmodell von einem Primat der Streitsachen gegenüber
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den streitenden Parteien ausgeht, kann es erklären, weshalb die Agora nicht zur Ruhe kommt. Würde man die Öffentlichkeit als gesellschaftlich vorkonstituierten sozialen Raum verstehen, in dem sich die streitenden Gruppen bereits vor jedem konkreten Issue konstituiert haben (etwa als Bürgertum vs. Proletariat, Linke vs. Rechte, Konservative vs. Progressive oder als Pluralität von Interessengruppen), wäre die skizzierte Verlaufskurve des Politischen von Krise zu Krise weniger plausibel. Zu erwarten wären dann eher verfestigte Konfliktlinien oder Kompromissbildungen zwischen den streitenden Parteien.8 Latour (vgl. 2014: 482 f.) verwirft eine solche Figur gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse mit dem Hinweis auf Gabriel Tarde, demzufolge Gesellschaft gerade erklärt werden müsse und nicht selbst zur Erklärung sozialer oder politischer Vorgänge herangezogen werden dürfe. Die endlose Krisen- und Bewährungsdynamik des Politischen hat ihren Grund mit Dewey (vgl. 1996) vielmehr darin, dass die immer komplexeren Akteur-Netzwerke stets auch neue Folgeprobleme für daran Beteiligte und/oder davon Betroffene aufwerfen. Es sind solche Issues, die, wenn sie zu öffentlichen Angelegenheiten werden, die ganz unterschiedlich involvierten Wesen aus ihren Gewohnheiten reißen und zur Versammlung zwingen. Deren soziale Identitäten werden dabei immer wieder verunsichert und es gehört zur Existenzweise des politischen Sprechens, solche Verunsicherungen produktiv zu machen (vgl. Latour 2014: 465 f.). Die kollektiven Subjekte des Politischen sind deshalb nur »Quasi-Subjekte«, deren politische Erzeugung (vergleichbar mit der rechtlichen Verpflichtung, deren Modus der Verantwortungszuschreibung allerdings keine Kollektive versammelt, sondern Personen hervorbringt) von den Dingen, Objekten oder Streitsachen nicht zu trennen ist: »Wir haben nach und nach gelernt, ›wir‹ zu werden, indem wir viele sukzessive Propositionen, Vorschläge angenommen haben, die der Kreis des Politischen unaufhörlich hervorbringt.« (Ebd.: 508; vgl. auch ebd. 506 ff.) Die Auseinandersetzungen und Aushandlungen in den Arenen, die sich um solche Issues sodann bilden, werden dem pragmatistischen Vorbild ent8 | Viele poststrukturalistische Ansätze, die mit der Differenz von Politik und Politischem operieren, gehen implizit vom Primat der Sozial- gegenüber der Sachdimension aus und beschreiben das politische Feld als sich verfestigenden Herrschaftskompromiss (Hegemonie der Politik), der in der Folge ein soziales Außen produziert und subjektiviert, dem das Politische im Sinne eines Motivs zur Infragestellung der hegemonialen Ordnung zugeschrieben wird (vgl. Mouffe 2007; Bröckling/Feustel 2010). Das issueorientierte Modell schließt diese soziale Konstellation keineswegs aus, betrachtet sie aber nie als unabhängig von den jeweils verhandelten Sachproblemen gegeben. Vor deren Hintergrund jedoch stellt der sich verfestigende soziale Gruppenantagonismus nur eine von mehreren möglichen Trajektorien des Politischen dar. Fokussiert man ganz auf soziale Gegnerschaft, wird dieser Kontingenzspielraum politischer Transformation – auch sozialer Identitäten – verstellt (vgl. Lamla 2016).
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sprechend durch Repräsentierende organisiert und bestritten. Da die Öffentlichkeit kein fester politischer Körper ist, sondern ein »Phantom«, wie Lippmann (1925) sagt, bekommt man sie als solche nicht zu Gesicht. Sie kann nur und muss durch Anrufung und Einberufung performativ erzeugt werden (vgl. Latour 2014: 481 f.). Gleichwohl ist dieses Phantom wesentlich für das Politische, da sich ohne dessen Mithilfe der Kreis nicht schließt und auch nicht neu aufnehmen lässt. »Es muß ermöglicht werden, zu passieren und zurückzukehren, indem eine Hülle skizziert wird, die eine Zeitlang das ›Wir‹ definiert, die Gruppe auf dem Weg der Selbsthervorbringung, bevor sie von neuem von einer anderen Bewegung wiederaufgenommen wird, dank der die anderen, die man ›sie‹ nennt, sei es weniger zahlreich sein werden, sei es im Gegenteil, wenn die Bewegung umgekehrt verläuft, immer zahlreicher.« (Ebd.: 464)
Issues initiieren das Versammeln eines Kollektivs, das der Öffentlichkeit als Bezugshorizont bedarf, um sich darin selbst zu erkennen und Fragen der Repräsentation und des anschließenden Gehorsams zu klären – zumindest vorübergehend, bis zur erneuten Wideraufnahme des Machtkreislaufs entlang desselben oder anderer Issues. Um sich bei dieser Prüfung zu bewähren, müssen sich die politischen Wesen und Sprechenden auf Prozeduren einlassen, die auf der einen Seite des Machtkreislaufs für die möglichst umfassende Repräsentation von Beteiligten und Betroffenen der Sachprobleme sorgen, also einer Logik der Einbeziehung folgen, während sie auf der anderen Seite des Machtkreislaufs einer Logik des Ordnens genügen müssen, mit der sie sicherstellen, dass die Versammelten auch folgsam sind und bleiben. Im Parlament der Dinge hatte Latour (2010) hierfür zwei Kammern vorgesehen, die der politische Prozess nacheinander durchlaufen muss, nämlich die einbeziehende und die ordnende Gewalt. Die Aufgaben, die hierbei zu bewältigen sind, reichen von produktiven Verunsicherungen des Kollektivs und der Entwicklung von Problemsensibilität (Perplexität) über die Erweiterung des Kreises der Repräsentierten (Konsultation) in der ersten Kammer bis zur Selektion und Anordnung zu berücksichtigender Vorschläge (Hierarchie) und der Sedimentierung gefundener Lösungen zu praktisch sich bewährenden Gewohnheiten (Institution) in der zweiten Kammer. Die Teilung der Gewalten soll den Fortgang des Prozesses sicherstellen, wobei ein »Shuttle« (ebd.: 156) zwischen den Gewalten dafür sorgt, dass der Kreislauf nicht zum Erliegen kommt und die Debatten stets neu aufgenommen werden können. Schließlich wird die Administration damit betraut, das Verfahren zu protokollieren und zu kontrollieren, damit Lernprozesse möglich werden, und muss der dingpolitische Prozess in einer Narration der gemeinsamen Geschichte (Szenarisierung) münden, die das Kollektiv reflexiv zu stabilisieren aber auch lernoffen zu halten vermag (vgl. Lamla 2013a,b). Um diese Aufgaben zu bewältigen, hatte
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Latour nicht nur diplomatisches Geschick gefordert, sondern auch die Zusammenarbeit multiprofessioneller Experimentiergemeinschaften für notwendig erachtet, die neben politischen auch wissenschaftliche, ökonomische und moralische Kompetenzen bereitstellen. Doch damit stellt sich die Frage, ob das Parlament der Dinge primär die spezifisch politische Existenzweise betrifft und erläutert oder darüber weit hinausgeht und bereits als Vorstudie zur diplomatischen Neuversammlung verschiedener Existenzweisen der Moderne(n) zu verstehen ist. Diese Frage gilt es im Folgenden zu klären, wobei drei Punkte zu berücksichtigen sind: die eigenen Gelingensbedingungen von Politik, das Alterieren der unterschiedlichsten Wesen durch Politik und das institutionelle Komplementieren von Politik durch andere Existenzweisen. Latours Theorie des Politischen, so die Vermutung, wird klarer, wenn sich plausibel machen lässt, dass diese drei Aspekte nicht so widersprüchlich sind, wie sie auf den ersten Blick und aus der Perspektive anderer Differenzierungstheorien erscheinen, sondern einen konstitutiven Zusammenhang bilden.
3. V on den I ssues der Ö ffentlichkeit zur N euversammlung der modernen E xistenz weisen Die berühmte Freund/Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt (1963), die auch Latour für einen Wesenszug von Politik hält, führt differenzierungstheoretisch betrachtet schnell dazu, die politische Autonomie des Souveräns in scharfem Gegensatz zu anderen Existenzmodi oder Kommunikationsweisen zu sehen. Das hängt damit zusammen, dass die Autonomie an den Akt des Entscheidens, das Moment der Dezision, gekoppelt wird. Aber eine dezisionistische Fassung von Autonomie trägt den Gelingensbedingungen der Politik nicht angemessen Rechnung, sondern ist Ausdruck typischer Selbstmissverständnisse der Modernen, die durch den anthropologischen Außenblick korrigiert werden sollen. Latours Haltung zu politischen Theoretikern wie Schmitt, Machiavelli oder Hobbes wird in der Literatur einer ersten Werkphase seiner politischen Philosophie zugerechnet (vgl. Harman 2014: 32 ff.), die in späteren Werken durch das Hervortreten anderer Bezugstheorien beendet oder doch stark relativiert werde. Aber das Irritierende an dieser Sichtweise, die dem mittleren Latour einen Schwenk vom Paradigma der Macht- hin zur Wahrheitspolitik – mit einer Mischung aus Habermas und Dewey – unterstellt (so Lemke 2010: 288; vgl. Harman 2014: 56 ff.), ist die Tatsache, dass auch im Parlament der Dinge die Freund/Feind-Unterscheidung nicht verschwindet, sondern als besondere Kompetenz der Berufsgruppe der Politiker hervorgehoben wird (vgl. Latour 2010: 190). Latour kommt regelmäßig auf diese Schmittsche Differenzsetzung zurück, d. h. er lässt sie nie fallen, schon gar nicht in der jüngsten Phase der Beschäftigung mit den Existenzweisen und Fragen der Klima- und
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Kosmopolitik (vgl. Gertenbach 2016). Es hilft nicht viel weiter, Latours Theorie des Politischen mit Verweis auf die Theoretiker der Macht- oder der Wahrheitspolitik zu erläutern. Vielmehr gilt es zu verstehen, wie Latour zwischen diesen klassischen Positionen vermittelt und sie neu interpretiert und verschiebt. Nicht der Akt des Entscheidens im Ausnahmezustand begründet die politische Autonomie, sondern die Kraft des Versammelns, mit der die Unterscheidung von Freund und Feind einhergehen kann. Jedenfalls kommt die Politik um die Notwendigkeit der Festlegung einer solchen Grenze letztlich nicht umhin. Die Entfaltung einer solchen Kraft des Versammelns ist aber die eigentliche Gelingensbedingung politischen Handelns, nicht der souveräne Akt, der sich in dieser Hinsicht erst bewähren muss und folglich scheitern kann. »[Es] gibt keine andere Gruppierung als diese Bewegung des Sammelns, keine Reserve auf die man zählen könnte, keine Identität, keine Wurzel, kein Wesen, keine Substanz, auf denen man sich ausruhen könnte.« (Latour 2014: 472) Es gibt also auch keinen Souverän unabhängig von dieser Bewegung des Sammelns. Folglich suspendiert der Entscheidungszwang die Begründungspflicht nicht völlig, sondern verschiebt sie nur in die Zukunft, in der sich das provisorische Kollektiv mit seinen gewählten Grenzen und Hierarchien bewähren können muss.9 Insofern das Kriterium für Autonomie aber mit der Dynamik des Versammelns von Kollektiven, die sich ausweiten und inklusiver werden oder aber exklusiv zusammenziehen und degenerativ entwickeln können (ebd.: 469), untrennbar zusammenhängt, entspricht es der Lernkurve, die Latour schon im Parlament der Dinge herausstellt (vgl. 2010: 245–251). So lautet die Maxime der Politik, öffentlich so zu handeln, »daß du bereit bist, den ganzen Kreis auf dem Hin- und Rückweg zu durchlaufen und nichts zu erhalten, ohne ihn wieder anzufangen, und ihn nie wieder anzufangen, ohne zu versuchen, ihn zu erweitern« (Latour 2014: 478). Diese immerwährende Versammlungsaktivität fortzuführen und auszuweiten ist das, woran politische Entscheidungen – nicht zuletzt über Freund und Feind – sich messen lassen müssen, was also ihren spezifischen Wahrheitswert ausmacht. 9 | Europa liefert in Zeiten von »Flüchtlingskrisen« für diese Problemstellung viel Anschauungsmaterial. Welche Art von Grenzziehung zwischen uns und den anderen kollektive Autonomie sichern kann, gilt es hier gerade herauszufinden. Von nationalen Egoismen über europäische Solidaritätsappelle und der Sorge um Europa bis zur Erweiterung der Union hin zur Türkei, der Unterscheidung von guten und schlechten Flüchtlingen usw. finden sich hier viele Propositionen, wie die Grenzen des Kollektivs gezogen werden sollen. Ungewiss ist dabei, welche Grenzziehung und damit implizit oder explizit fixierte Freund/Feind-Unterscheidung sich als Autonomiesicherung oder -steigerung bewährt, also die Sachprobleme auf eine Weise reguliert, dass die Fortsetzung und Ausweitung des Sammelns ermöglicht und eine Degeneration des Kreises zu exklusiven (aber weiterhin hoch interdependenten und damit problembehafteten) Gruppen verhindert wird.
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Doch was bedeutet lernfähiges, inklusives Versammeln genau? Es bedeutet zunächst, dass es all jene, die durch eine Streitsache miteinander verbunden sind, so alterieren, d. h. umstimmen muss, dass sie am versammelten Kollektiv teilhaben, sich darin einbinden lassen, aber auch repräsentiert fühlen und sehen. Darin kreuzen sich die Netzwerklogik [NET] und die Präposition [PRÄ]: Die spezifische Bewährungsdynamik [PRÄ] der Politik hängt davon ab, ob sich die unterschiedlichen Wesen, die durch ein problematisches Ding, ein Issue, konflikthaft aneinander gebunden sind, im Sinne der Politik so transformieren und mobilisieren lassen, dass sie ein stabiles, funktionierendes Netzwerk bilden [NET], ein Kollektiv, das gelernt hat oder lernt, autonom zu sein, also Regeln zu folgen und Gewohnheiten auszubilden, in denen es sich selbst wiedererkennt und durch die es in die Lage kommt, »›wir‹ zu sagen« (ebd.: 479). Insofern ist Politik immer angewiesen auf eine Zusammensetzung oder kollektive Problemlösung, bei der unterschiedliche Wesen mitwirken müssen. Solche Kompositionen hervorzubringen kann als politische Leistung gelten. Sie wird aber nicht gelingen, wenn die Issues, die umstrittenen Angelegenheiten, nicht angemessen bearbeitet werden – Issues, die ja nicht kleiner geworden sind, sondern »eine planetarische Dimension angenommen haben« und eine erhitzte Menge involvieren, »die inzwischen nach Milliarden gezählt wird« (ebd.: 486). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern die Versammlungsaktivität auf Kompetenzen angewiesen ist, die über die Politik hinausgehen, auch wenn sie deren Kompetenzen nicht ersetzen können. Im Parlament der Dinge waren das die Kompetenzen anderer Berufsgruppen, insbesondere die Kompetenzen von Wissenschaft, Ökonomie und Moral. Sie finden zwar keine Erwähnung als Elemente im Existenzmodus der Politik. Aber am Ende müssen die Quasi-Objekte (hier: Dinge, Streitsachen) und Quasi-Subjekte (hier: autonome Kollektive) in den Versammlungsprozessen zusammengebracht und passfähig gemacht werden – und das geht nicht ohne die Hilfe der anderen Modi. Folglich findet auch der multiprofessionelle Politikansatz seine Fortsetzung in der Untersuchung zu den Existenzweisen der Modernen, jedoch nicht (oder nur implizit) auf die Ebene der Dinge, sondern auf die Relationen der Institutionen der Moderne(n) insgesamt bezogen. Ziel von Latours Untersuchung ist die diplomatische Vermittlung zwischen den Existenzweisen der Modernen, die im Zuge ihrer Institutionalisierung Indifferenzen gegeneinander ausgebildet, d. h. den Sinn für ihre wechselseitige Angewiesenheit verloren haben. Diesen Sinn wiederzubeleben ist notwendig, um diese Modi selbst neu zu versammeln, um ihnen ein besseres institutionelles Gehäuse zu verschaffen, in dem sie wechselseitige Anerkennung füreinander ausbilden können. Das ließe sich als Latours »Projekt der Moderne« bezeichnen, als ein Projekt der Konstitution der Moderne: Die Institutionen der Moderne sollen lernen, sich selbst ernst, aber nicht zu wichtig zu nehmen, sondern die wechselseitige Angewiesenheit zum Ausgangspunkt einer Neu-
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institutionalisierung zu machen. Diese Konstitution kann nicht im Modus der Politik allein stattfinden, sondern ist auf das Medium der Diplomatie angewiesen, die verhindert, dass sich wiederum eine Existenzweise – etwa [POL] – für wichtiger nimmt als die anderen. Für die Vermittlung von Kompetenzen in den dingpolitischen Aushandlungsarenen schafft eine derartige Diplomatie der Moderne(n) gewissermaßen die Voraussetzungen: Mit ihr erst entwickelt sich ein reflexives Verständnis von den professionellen Kompetenzen, die verschiedene Berufsgruppen dann in die kollektiven Auseinandersetzungen und experimentellen Untersuchungen zu den Angelegenheiten der Öffentlichkeit einbringen können und die so nach und nach auch in den common sense einsickern. Gegenüber dem Parlament der Dinge sind dabei sicherlich mehr bzw. weiter differenzierte Kompetenzen als Politik, Wissenschaft, Ökonomie und Moral angesprochen. So findet sich die Ökonomie, die für die Verbindung von Quasi-Objekten und Quasi-Subjekten wesentlich ist, in drei Existenzweisen dekomponiert, nämlich Organisation [ORG], Bindung [BIN] und Moral [MOR].10 Derart zusammengesetzt ist die Ökonomie aber weiterhin zentral für die Neuversammlung von Kollektiven – in jedem Fall als problemgenerierender Hintergrund, aber auch als Bezugsgröße, weil das Skalenniveau und die Bindungsformen ihrer dynamischen Aggregationen und Ansammlungen regelmäßig zu einer Herausforderung für die Versammlung politischer Kollektive werden (vgl. auch Lamla 2013b). Diplomatische Selbstreflexionen der Existenzweisen allein werden in diesen Kontexten aber nicht zu institutionellen Korrekturen führen. Sie können nur und müssen vielmehr die experimentelle Erprobung neuer Formen der Koexistenz, Kreuzung, Zusammenarbeit und Vernetzung begleiten. Und in diesem Sinne ist die neue philosophische Übung Latours wohl auch zu verstehen: Sie ist keine Ablösung der AkteurNetzwerk-Theorie und politischen Ökologie, sondern verschafft der Soziologie der Mischwesen nur einen zusätzlichen Reflexionshorizont, vor dem diese sich besser erkennen können, um sich sodann neu – nämlich aufgeklärt über ihre versammelten Werte und Kompetenzen – aufeinander einzulassen.
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10 | Zu den Modi der Organisation [ORG], Bindung [BIN] und Moral [MOR] vgl. auch die ausführliche Rekonstruktion von Ute Tellmann im vorliegenden Band.
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[REC] Latours rechts-/soziologische Variante Thomas Scheffer
1. E inleitung Was ist Recht? Recht ist ein Wahrheitsregime! Für AIME (»An Inquiry into Modes of Existence«) ist es eine Existenzweise, die unter dem Kürzel [REC] firmiert. Etwas oder jemand existiert demnach rechtlich. Die Bestimmung der Existenzweise folgt der Frage, wie etwas wahr(gemacht) wird. Im Recht ist dies so: Etwas/Jemand findet durch die »Passage des Rechts« seinen Weg in die rechtliche Existenz. Die Passage wird betrieben mit allerlei Rede- und Schreibweisen, mit Dokumenten und Akten, mit Berichten und Fällen, mit Stempeln, Schnüren und Klammern. Im Zuge der Passage erwächst etwas zum rechtlichen Anspruch gegen Andere, wird etwas zum Rechtstitel von jemandem, werden Menschen mittels Recht zu »Quasi-Subjekten«. Das Wahrheitsregime schafft Rechts-Tat-Sachen1, indem es Sachen und Normen vermittelt. Dieses ›wahr machen‹ kann in verschiedene Richtungen ausgelotet werden: Was gibt etwas rechtlich her? Welches Tun ist nötig? Wie wird das Recht versachlicht? Und: Was bedarf es dazu? Im Folgenden behandele ich AIMEs Perspektive auf das Recht als Variante der Rechtssoziologie. Hierzu versuche ich nachzuvollziehen, (1.) was Bruno Latour, als eine Art Projektleiter, zur Charakterisierung der Existenzweise [REC] mobilisiert und (2.) auf welchen grundlegenden Begriffsapparat sich seine Charakterisierung stützt. Hieran anknüpfend kontrastiere ich (3.) diese Variante von Recht als Wahrheitsregime mit anderen (Rechts-)Soziologien, um (4.), entlang der Kontraste methodologische Tendenzen von AIME zu identifizieren. Ziel 1 | So meine etwas ungelenke Wortschöpfung, um anzueignen, was AIME nahelegt. Allerdings ist hier nicht die so genannte »Rechtstatsache« (Ehrlich 1913) gemeint, sondern deren Umkehrung. Für Ehrlich sollte die Rechtssoziologie die Erscheinungsformen des Rechts im sozialen Leben erforschen, nicht die Erscheinungen des Sozialen qua rechtlicher Formungen.
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meines Beitrags ist es, AIME, das ja selbst zwischen gewichtigen Existenzweisen zu vermitteln sucht, zum Gegenstand einer diplomatischen Übung zu machen. Diese Übung, so das Argument, ist Teil eines eher pragmatischen Ethos, der die verschiedenen soziologischen Ansätze von ihren Potentialitäten und Produktivitäten her fasst. Zu solchen Fragen sei dann eingeladen: Wie unterscheiden sich die verschiedenen (rechts-)soziologischen Fassungen von Recht? Schließen sie sich aus? Kann AIME von den anderen Varianten lernen?2
2. W as AIME aufbie te t ? W or an AIME anknüpf t ? Was bietet Latour als eine Art AIME-Projektleiter auf, um die Existenzweise [REC] gegenüber Projektinteressierten zu profilieren? Es sind im Wesentlichen drei Mobilisierungen, die eine erste Profilierung leisten sollen: Aufgeboten werden Common Sense Aussagen, Ad-hoc-Draufsichten sowie Anklänge eigener Feldvisiten. Latours lockere Ausführungen haben die Funktion, Allianzen zu schmieden und Verbündete zu rekrutieren. Latour formuliert eine Einladung, einzutreten in sein Forschungsbündnis AIME für die Untersuchung der Welt der Modernen.
a) Die Draufsicht und die Listen von (Be-)Nennungen Bei den Existenzweisen geht es um Wahrheitsregime, ihre jeweiligen Ausstattungen und Effekte. In soziomateriell ein- und ausgerichteten Serien von Artikulationen wird eine rechtliche Wahrheit geschaffen. Etwas gibt es dann z. B. rechtlich als Dokumente, Akten, Reden etc. Die Sache, so AIME, wird so mit allerlei »means of law« gestützt – oder bleibt rechtlich haltlos. Das aufgewendete heterogene Equipment des [REC] unterscheidet sich demnach auf den ersten Blick von dem anderer Existenzweisen: »Jeder kann die Erfahrung machen: Wenn er auf ein rechtliches Problem stößt, wenn er auf die schwarze Robe eines Advokaten oder den Samtbesatz eines Richters trifft, wenn er das Kleingedruckte eines Vertrages liest oder wenn er eine Urkunde beim Notar unterzeichnet, weiß jeder von uns gut, daß es da etwas sehr Besonderes, schrecklich Technisches gibt, was wirklich den Unterschied zwischen wahr und falsch ausmachen wird, aber auf seine Weise, die gleichzeitig dunkel und respektabel ist. Ohne sich noch
2 | Ich möchte insbesondere Martina Kolanoski für ihre hilfreichen rechtssoziologischen Kommentare danken. Außerdem waren hilfreich: Endre Dányi mit seinem Wissen zu den verschiedenen Schulen innerhalb der Actor-Network Theory und David Adler mit seinen Hinweisen zur Semiotik und zum Materialismus.
Latours rechts-/soziologische Variante darüber zu wundern, wird man sagen, daß eine Aussage wahr oder falsch im ›juristischen Sinne‹ ist.« (Latour 2014: 490)
Es sind diese verschiedensten »Ingredienzien« (ebd.: 73), die in soziologischen Untersuchungen oft unerwähnt bleiben: all dies Allzu-Menschliche und NichtMenschliche, das Protosoziale, Vorgeformte etc. Diese Zutaten zu benennen sei, so Latour, die Pointe der ANT. Im Rahmen von AIME sei sie aber nicht mehr die endgültige. Der Projektleiter appelliert an seine potentiellen Mitarbeiter*innen, sich nicht mehr mit dem generellen Aufweis von Heterogenität zufrieden zu geben.3 Getragen ist die rechtliche Existenzweise von einer bestimmten Art und Weise der Verknüpfung der be- und genannten Verschiedenheiten. Menschen und Nicht-Menschen werden spezifisch verknüpft und erst so rechtswirksam. Die Draufsicht auf das prozesshafte Verknüpfen liefert Verbindungslinien – ganz so, wie lang belichtete Fotografien von Straßennetzen. So fungieren die gelisteten Entitäten und die Skizze ihres Verkehrs als Einstieg in die Untersuchung.
b) Aussagen zum Recht Neben den beeindruckenden, breit angelegten Listen zum Equipment (Was trägt etwas bei?) und den Bezugsgrößen (Was erwächst dabei?) bietet Latour eine andere Art der Referenz. Er führt vermeintlich übliche und verbreitete Aussagen zum Recht ins Feld. Hier typische Haltungen der Nutzer*innen zum Recht: Jene, die sich plötzlich mit einem juristischen Problem herumschlagen müssen: »Was?«, rufen sie aus, »wie kann dieses kleine Hindernis die Kraft haben, uns aufzuhalten?« (Latour 2014: 491 f.)
Recht kann ein Ärgernis darstellen, Respekt einflößen, irritieren. Es kann als vorhandene oder fehlende Ressource erscheinen – und so die Durchsetzung von Interessen tangieren. So etwas sagen dann Juristen zu ihren Klienten:
3 | »[…] wenn sie die Segmente studiert, die aus Recht, Wissenschaft, Ökonomie oder Religion stammen, beginnt sie zu ihrer großen Verlegenheit das Gefühl zu haben, daß sie über fast alle das gleiche sagt, nämlich daß sie ›aus unvorhergesehenen heterogenen Elementen bestehen, die durch die Untersuchung aufgedeckt wurden‹. Gewiß schreitet sie, schreiten sie und ihre Informanten, von Überraschung zu Überraschung, aber diese Überraschungen hören irgendwie auf, ob sie will oder nicht, überraschend zu sein.« (Latour 2014: 75)
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Thomas Scheffer »Entweder gibt es ein Mittel, und es geht – manchmal sagt man, daß das Mittel gedeiht –, oder es gibt kein rechtliches Mittel, und man ›läßt es‹ in dem Fall ›dabei bewenden‹«. Und weiter: »Sie wollen die Umweltverschmutzung einer Fabrik stoppen? Ja, aber sie sind nicht ›qualifiziert, um vorzugehen‹.« (Latour 2014: 497)
Hinzu treten Stimmen, die der Projektleiter mit Blick auf seine eigenen Vorstudien (Latour 2002) und hier den »Informanten« zuschreibt, mit denen er das »gute Gespräch« gesucht hat. Co-Forscher*innen sollen es ihm gleich tun und das Gespräch suchen mit den Juristen*innen als Eingeweihte und Informanten. Sie teilen den rechtlichen Sinn: »Aber ja, natürlich, das Recht ist flexibel und abhängig von allem übrigen, was glauben sie denn?‹ […] ›Sagen Sie mir, was sie erreichen wollen, und ich finde die geeignete juristische Verpackung für Sie, um dahin zu gelangen.‹« (Latour 2014: 493)
Eine letzte Gruppe von Aussagen stammt aus der allgemeinen Quelle der anthropologisch Mit-Beforschten: den Modernen. Diese teilen und äußern demnach solche selbstverständlichen Überzeugungen. Niedergeschrieben wird damit auch ›unser aller Glauben‹ an das Recht als basale Institution: »[M]an hat sich gesagt, daß es ohne das Recht ›keinerlei Regeln‹ gäbe und ohne es die Menschen ›alles mögliche tun‹ würden.« (Latour 2014: 494)
Das Zitieren von Nutzer*innen, Praktiker*innen, Experten*innen – also uns Modernen – setzt darauf, dass »wir«, die Leser*innen, derlei kennen. Gleichzeitig erkennt die kritische Leserin: Hier ist ein starker Autor am Zug, der nicht nur Schlüsse und Interpretationen liefert, sondern einem Bauchredner die Originaltöne und Daten gleich mit. AIME kommt da ins Spiel, wo diese Allgemeinplätze direkt in Widersprüchlichkeiten führen: Recht sei flexibel und starr, stark und schwach, penibel und aufgeblasen feierlich, definitiv und interpretativ. Hinzu treten die Überraschungen für die Forschenden. Überraschungen erwachsen angesichts institutionell vergessener oder geleugneter Rechts-Mittel.4 4 | Etwa diese: »Hätten Sie eine solche Verbindung zwischen der Ukraine und dem Köcheln Ihres Risottos vermutet? [Dann] bemerken Sie vielleicht mit einer gewissen Überraschung, daß die Passage durch die Launen des ukrainischen Präsidenten nötig war, damit unter Ihrem Topf wieder Gas strömt.« (Latour 2014: 72) Oder für das Recht: »[S]obald das juristische Netzwerk einmal auf die Beine gestellt ist (durch eine Vielzahl nicht juristischer Elemente, […]), dient es, wenn man so sagen kann, der Versorgung mit ›Recht‹. Genauso wie man sowohl Gas als auch Elektrizität, Einfluß oder Telefon als Netze kennzeichnen kann.« (Latour 2014: 76)
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Alle, die sich auf Recht einlassen, wüssten anfangs nicht, was sie durchmachen würden, wie schwierig und kompliziert sich Angelegenheiten tatsächlich gestalten.5 Hin- und hergerissen all die, die sich darauf einlassen: »In wenigen Augenblicken ist man von einem Extrem zum nächsten übergegangen: Man bewunderte die Objektivität des Rechts, seine Fähigkeit, alle Mächte zu beugen; man empört sich nun über seine Geschmeidigkeit, über seine Unterwürfigkeit, über die traurige Fähigkeit, die Nacktheit der Kräfteverhältnisse zu bekleiden.« (Latour 2014: 494)
Wie kommt diese Janusköpfigkeit des Rechts, dieser multiple Charakter zustande? AIME soll ›unser aller‹ Rätsel lösen.
c) Feldvisiten AIME lädt nicht nur dazu ein, sich mit den eigenartigen Dingen in rechtlichen Texten auseinanderzusetzen; es lädt dazu ein, das Gefüge juristischer Fabrikationsstätten – Gerichte, Kanzleien, Behörden – aufzusuchen. Latour hat selbst eine Gerichtsethnographie vorgelegt.6 Sein Feld war dabei sehr speziell, mit eigenem Personal, Arbeits- und Redeweisen, Ritualen etc. Es handelte sich um das französische »Conseil d’Etat«, eine Art Oberstes Verwaltungsgericht, in dem die öffentliche Hand ›bestritten‹ werden kann. Hier hat der Feldforscher Kammersitzungen besucht, in Akten geblättert, Gespräche geführt. Das Buch ist voll von Diskussionen, Gesprächen und Dokumentausschnitten. Die Exkurse der Jurist*en*innen fußen auf der Aktenkunde der »Reviewer«, die einen Fall vorbereitend studieren und provisorisch beurteilen. Latour bezieht sich auf seine ethnographische Erfahrung allgemein: nicht nur für dieses Gericht, diese Fälle, dieses Verfahren, diese kulturelle und historische Lage: »Man muß lange Nachmittage mit den Richtern der Verwaltungsstreitsachen verbracht haben, gehört haben, wie sie sich besprechen und wieder besprechen, von der Unter5 | Dies gilt für Anwälte wie Forschende: »An ein und demselben Tag kann sie den Besuch eines Juristen notiert haben, der wegen Patentangelegenheiten gekommen ist, eines Pfarrers anläßlich ethischer Fragen, eines Technikers, der ein neues Mikroskop repariert hat, eines Abgeordneten wegen der Abstimmung über eine Subvention, eines ›business angel‹ für die Lancierung des nächsten start-up […] etc.« (Latour 2014: 68 f.). 6 | Vgl. hierzu die Kritik bei Pottage (2012), der Latours Rechtsethnographie entsprechend als Zäsur in dessen Werk markiert, weil sie Recht allein innerhalb einer rechtlichen Institution ausfindig macht und untersucht, statt Recht als Verknüpfungsweise jenseits institutioneller Grenzen nachzuverfolgen.
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Thomas Scheffer sektion zur Sektion, von der Sektion zur Plenarsitzung, vom Bericht zu den Anträgen des ›öffentlichen Referenten‹, von den Anträgen zu den Urteilen, manchmal während langer Monate, anläßlich derselben winzigen Geschichte einer Mülltonne oder einer Abschiebung, um die Subtilität dieser Feinwaage des Zögerns zu empfinden.« (Latour 2014: 499 f.)
Die Feldvisiten sind geprägt von Forschungsbündnissen, die nicht nur den Zugang selbst ermöglichen, sondern auch Einblicke in die Rechtspraxis vermitteln. Die Praktiker*innen sind nicht Beforschte, sondern Partner im Forschungsbündnis. Sie lassen den Ethnographen teilhaben an der Passage des Rechts, die sie ihm gleichsam demonstrieren. AIME lobt Juristen wie Rechtswissenschaftler als tatkräftig, kundig und reflektiert. Sie sind Latour Beforschte und Forschende zum Recht gleichermaßen: »I wish others could work on the project as efficaciously as jurists […]. It is because law has a way to affirm its existence in the world without apologizing that it plays a crucial role in the project of the inquiry.« (Latour 2015: 2) »Even if this original way of the law is ridiculed for its formalism, belittled for its archaic dramaturgy, mocked for its wide use of imaginary solutions, it remains the case that it is always recognized that what holds legally, well, holds for good – in some fashion to be determined.« (Ebd.)
Das Recht pflegt seinen eigenen Weg »of defining true and false« (ebd.). Dieses Unterscheiden vollzieht sich wie eh wortreich, abgeklärt, selbstbewusst, mit Sorgfalt. Das Recht kultiviert sein Unterscheiden, das nun – mit all seinem Gewicht – ganz anders ausfällt, wie das der Wissenschaft, der Politik oder der Religion.
d) Zwischenfazit I Hat AIME einmal seine Rätsel gegenüber dem Common Sense etabliert und seine Forschungsbündnisse geschmiedet, kann die ›vielseitige‹ Forschung beginnen. Zunächst geht es um eine explorative Sammlung der Objekt-Nennungen – all der vergessenen und überraschenden »Ingredienzien« (Latour 2014: 73). Dann geht es um die raumzeitliche Anordnung derselben im Vollzug der Rechtspassage. Die Erhebung soll herausarbeiten, wie sich die rechtliche Performanz von anderen Wahrheitsregimen (Politik, Religion, Ökonomie etc.) unterscheidet. In dieser Weise wäre der Anschluss an den Common Sense geglückt, wäre die Dopplung institutioneller Selbstbeschreibungen vermieden. AIME lädt Forscher*innen dazu ein, solche Fallstudien beizutragen. Es soll kollektiv erhoben werden, wie in den eigensinnigen Umlauf bahnen des Rechts besondere Entitäten produktive Assoziationen bilden. So (ungefähr) schafft
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das Rechtliche seine umfassenden, mal beiläufigen, mal gewichtigen Wahrheitseffekte. Hat Latour die Fallstudien damit genügend sensibilisiert, ohne sie zu sehr einzuengen? Hierzu bedarf es einer genaueren Betrachtung der Ausstattung von AIME mit analytischen Begriffen.
3. D ie A ssoziation analy tischer B egriffe in L atours P assage Welches analytische Vokabular bietet Latour auf, um seine Anthropologie der Modernen zu bewerkstelligen? AIME soll dank eines offenen Vokabulars gelingen, das den zuarbeitenden Feldforschenden die nötige Flexibilität einräumt, um den Eigenheiten der untersuchten Performanzen zu entsprechen, ohne die Fehler der Objekt-vergessenen, sozialkonstruktivistischen Soziologie zu wiederholen. Als Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung fungieren die Möglichkeitsbedingungen der eigenen Wahrheitseffekte: Wie wird etwas rechtlich – nicht politisch, religiös etc. – wahr? Welcher allgemeine Begriffsapparat leitet dieses Vorhaben an?
a) Wahrheitseffekte Zentral ist der konstruktionistische Ankerpunkt der analytischen Beschreibungen.7 Es geht in dem Forschungsvorhaben nicht darum, wie hier die Welt konstruiert oder gedeutet wird. Es geht darum, wie das Recht etwas wahr und wirksam werden läßt. In der rechtlichen Passage erwachsen Wahrheitswerte, die weitere rechtliche Performanzen ausstatten. Das Unterscheiden von wahr und falsch bezieht sich auf diese soziomateriellen Realisierungen. Nicht als Glaube von Individuen, einer Profession oder Kultur, sondern als manifeste Bestandteile der Welt. Dieses emphatische Wahrheitsmotiv übersteigt den Sozialkonstruktivismus. Etwas gibt es nicht nur im Diskurs, als Glauben, als Common Sense; etwas existiert objektiv und materiell rechtlich. Aber wie kommen diese Manifestationen in die Welt. Die Existenzweisen bevölkern die Welt mit je eigenen Wesen(heiten), die wiederum am Fortgang der Welt mittun und Sozialitäten nach sich ziehen. Diese Wahrheitseffekte und ihre Möglichkeitsbedingungen trägt AIME an alle Existenzweisen heran. 7 | Vgl. hierzu frühere Ausführungen bei Latour: »To bring constructivism back to its feet, it’s enough to see that once social means again association, the whole idea of a building made of social stuff vanishes. For any construction to take place, non-human entities have to play the major role and this is just what we wanted to say from the beginning with this rather innocent word.« (Latour 2005: 92)
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b) Wahrheitswerte Etwas gibt es rechtlich dank der Serien von performativen Akten. Sie schaffen die Eigenwerte des Rechts, die nun für weitere Akte zur Verfügung stehen. Die Werte werden in Passagen des Rechts akkumuliert: berechtigte Sachen, Ansprüche, Anerkennungen, Titel etc. Die Aufgabe der Forschung ist dann: »den Typ von Werten genauer zu bestimmen, der in einem jeweils spezifischen Netzwerk zu zirkulieren scheint« (Latour 2014: 76). Etwas lässt sich womöglich mit »Rechtsmitteln« (Latour 2014: 79) bekräftigen, ausstatten, aufwerten: »Either there is a legal means and it works – the means is sometimes said to be ›fruitful‹ – or else there are no legal means and ›there the matter rests‹.« (Latour 2013: 365)
»Matter« und »means« verschmelzen zu solchen Rechts-Tat-Sachen. Die Verbindung erwächst nicht ad hoc, sondern im Zuge der Passage. Gerichtete, ausgestattete Serien von Artikulationen sind nötig, um schließlich einer Sache und seinem »Quasi-Subjekt« gegen anderen ›Recht zu geben‹: »Die Verkettung des Rechts hat demnach diese Besonderheit, daß sie die Passage von Tatsachen zu Prinzipien erlaubt vermittels eines besonderen Hiatus, den diese so originelle Trajektorie des Mittels durch sukzessive Sprünge überspringt. Es gibt nichts Kontinuierliches, das eine arglistige Täuschung und einen Text verbinden könnte, und dennoch werden die juristischen Mittel diesen Typ von Kontinuität herstellen, der einem kleinen unscheinbaren Fall die ganze Kraft eines Prinzips verleiht.« (Latour 2014: 497)
Latours »fabrique du droit« (2002) zeigt, worin dieser »Pass« (2014: 78) besteht und was dort rechtlich erwirkt wird. Im Obersten Verwaltungsgericht Frankreichs spielen die Worte der Kammer-Mitglieder und der Berichterstatter eine zentrale Rolle: Latour beobachtete Beratungen, in denen Fälle gewogen wurden, wie sie sich in Aktenbündeln, Gutachten, Zertifikaten etc. und im Lichte der »summaries« und »reports« darstellen: ein Strom von Worten, getragen von versammelten, selbst wiederum bewahrheiteten Dokumenten. Dabei speisen sich diese Ströme aus Rinnsalen, die sich bis in mannigfaltige Amtsstuben und Büros zurückzuverfolgen lassen. Die Modernen selbst bekräftigen ihre Angelegenheiten mit Schriftstücken, die sie archivieren, beglaubigen lassen, beibringen etc.: das kulturelle Delta des Rechts.
c) Verbindungen Die Prozesshaftigkeit der bedingten – an Bedingungen gebundenen, derart eingeschränkten – Wahrheitseffekte ist zentral für jede der 15 Existenzweisen. Als Zwischenglieder der rechtlichen Prozessierung fungieren dabei allerlei
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Produktionsmittel des ›Verrechtens‹: Schriftstücke, Signaturen, Verträge, Akten, Protokolle, Stempel, Siegel, Fristen, Büros etc. All dies sind Momente des rechtlichen Artikulierens von Welt. Gebaut werden Serien von Einschreibungen, die die »matter« als Rechtliches bewahrheiten. Die »Reihe von Inskriptionen« (Latour 2014: 493) führt die Angelegenheiten den Rechtsnormen zu und macht letztere wiederum anwendbar auf die Sache. Immer weitere Aspekte, Autoritäten, Dokumente etc. werden in diese Verbindungen hineingezogen, immer weiter das Netzwerk gestrickt. So drauf geschaut, erscheint das Recht als weitverzweigte Kapillarmacht, die die Welt der Modernen durchzieht. Eine Allgegenwart fortwährender Bezüge, aber mehr noch, rechtliche Versionen der Welt, die mit jeder Einschreibung ihre prinzipielle Rechtförmigkeit unterstellen, herstellen und versichern. Alles existiert so irgendwie auch rechtlich: der Straßenverkehr, das Forschen selbst, die Finanztransaktion, die Erbschaft, ein Spielplatz etc. Sie alle besitzen ihre rechtliche Wahrheit. Die Passage des Rechts schafft so ihre Existenzen in der spezifischen Verbindung von heterogenen Ressourcen, die selbst wiederum eine rechtliche Qualität aufweisen. Sie belegt Sachen wie Personen mit Recht, spricht Recht zu oder ab, wertet sie rechtlich auf oder ab. Die Passage verleiht eine eigene Faktizität, ein eigenes Gewicht. Die rechtliche Existenzweise fußt auf solchen Verbindungen und schafft Werte, die im Weiteren in der Welt wirken.
d) Translationen Auf der einen Seite die Angelegenheiten und ihre Dinge, Emotionen, Verwicklungen; auf der anderen Seite die Prinzipien, Regularien, Interpretationen. Beide Seiten brauchen einander für die wirksame rechtliche Manifestation. »Um voranzukommen, muß man dahin gelangen, zu wissen, ob irgendeine Tatsache einer Definition entspricht, die erlauben wird, darüber ein Urteil zu fällen. Man sucht hier keinerlei Neuheit, keinerlei Zugang zur Ferne; man sucht nichts, es sei denn, diese Sache nach allen Seiten und Richtungen zu wenden, um herauszufinden, welches Prinzip sie wohl beurteilen könnte; man sucht nichts, es sei denn, alle Prinzipien zu wenden und zu bewegen, bis man dasjenige findet, welches sich vielleicht auch auf diese Tatsache anwenden läßt.« (Latour 2004: 496)
Rechtsmittel schließen die Lücke zwischen Sachen und Rechtsnormen sukzessiv. Sie leisten die doppelseitige Übersetzung des einen ins andere. Etwas erweist sich als rechtswirksam, als mobilisier- und durchsetzbar. Die sukzessive Übersetzung vollzieht sich als Bewährung und Bewahrheitung. Es wird geprüft und bewertet. Derart führt die Passage des Rechts etwas hinüber in einen anderen Status, der wiederum festgehalten und verbrieft wird.
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Thomas Scheffer »Die Prüfung des Anklägers, der Juristen wie des Beobachters – eine stets lange und beschwerliche Erfahrung – besteht demnach darin, einerseits auf Fälle, auf ›Tatsachen‹, auf Emotionen, auf Passionen, Unfälle, Krisen zu treffen und andererseits auf Schriften, Prinzipien, Verordnungen, die, wie man sagt, ›sehr weit führen‹ können, manchmal ›bis ganz nach oben‹, zum Verfassungsgericht, zum Obersten Gerichtshof, zum Europäischen Gerichtshof etc.« (Ebd.)
Die Prüfungen und Gegenprüfungen mobilisieren den ganzen rechtlichen Bestand, richten all die Normen auf die eine Sache, um diese per Urteil zu bekräftigen. Die Sache gewinnt eine eigene objektive rechtliche Existenz.
e) Kristallisationen Die rechtliche Existenz hält und trägt nur, insofern sie von Fragen der Gerechtigkeit, Moral, des Glaubens etc. entlastet wird, wenn sie also nicht mit falschen Ansprüchen und Maßstäben vermengt wird. Die gerichteten Translationen vermögen dann ausgesuchte Fakten und Normen zu eigenen objektiven Größen zu integrieren. Es kristallisiert sich eine widerständige Gestalt heraus, die Rechtskraft walten läßt: »Law is what happens to extralegal features when they are jurimorphed!« (Latour 2015: 11) Die rechtlichen Größen wiederum lassen sich kombinieren und ausbauen – und zwar nur miteinander: »What gives a certain domain-like tonality to the practice of law (to the point that observers are always tempted to speak of the Law with a capital L) is that no matter how remote the jurimorphs are from one another they establish connections only with other jurimorphs – just like Lego blocks.« (Latour 2015: 14)
Diese rechtlichen Werte wieder aufzuspalten, sie in ihre vorrechtlichen Bestandteile zu zerlegen, die Passage rückabzuwickeln, nennt Latour als Aufgabe und Anspruch von AIME. Unklar bleibt allerdings, wie genau hier die »Lego blocks« beschaffen sind, dass sie – und nur sie – kombiniert werden. Wie genau beinhalten diese Bausteine Anschlussfähigkeit?
f) Zwischenfazit II AIME richtet die Beobachtung des Rechts auf all die Artikulationen, in denen nicht-rechtliche Elemente für die rechtliche Passage mobilisiert und Sachen/ Personen sowie Rechtsnormen zu neuen Einheiten integriert werden. Diese Wahrheitseffekte vermögen Entitäten als Werte, Individuen als Quasi-Subjekte und Assoziationen als Sozialitäten zu bekräftigen. Was sonst flüchtig bliebe, gerinnt hier zur Wahrheit. Die rechtliche Passage schafft, unter spezifischen Bedingungen, weitreichende, fast schon magische Existenzen: eigene Wesen-
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heiten mit Gewicht. Diese mögen sich in Althergebrachtes einfügen, es aber auch neu ordnen oder gar überwinden. Aufgabe des AIME-Projektes ist es, die groben Raster der Wirksamkeit entlang der jeweiligen Gelingensbedingungen (»felicity conditions«) zu füllen. Es sollen Case Studies erwachsen, die den nicht-rechtlichen Voraussetzungen der Verrechtlichung nachspüren. Die Studien sollen die Schöpfung und das Wirken von Rechtskraft umfassen.
4. D ie E xistenz weise des R echts anders lesen : der B lick von aussen Wer ist dieses »wir« von AIME, neben dem »er« (Latour selbst sowie der Praktiker) und »sie« (die Forscherin)? Sind wir Leser*innen allesamt wohlwollend oder gar Alliierte? Offenbar soll keine disziplinäre Konfrontation den Verve der Argumentation abschwächen. Ausgeladen ist rundweg die sog. »sociology of the social« (Latour 2005). Diese Bündelung der Kräfte ist mit Risiken verbunden. Anschluss-, Verständnis- und Reflexionsmöglichkeiten schwinden. Um AIME besser zu begreifen, will ich im Folgenden drei (Rechts-)Soziologien anführen, die durchaus ähnlich, aber anders vorgehen. Vermeintlich absolute Differenzen (Ausladung) will ich relativieren (Einladung). Eine basale Operation akademischer Diplomatie! AIME führt an, was auch in anderen Soziologien eine Rolle spielt: Wort/ Schrift, Form/Inhalt, Verfahren/Fälle. Gleichzeitig sucht man Diskussionen oder Bezüge zu anders angelegten Forschungen zum Rechtsbetrieb vergebens. So als solle AIME ausschließlich aus sich heraus funktionieren. Besonders augenfällig wird diese Ausklammerung dort, wo Begriffe – etwa »Situation« – soziologisch bereits (anders) belegt sind. Die interessierten Projektmitarbeiter*innen dürfen offenbar all dies vergessen oder ignorieren. Sie sollen sich ganz auf den Projektrahmen verlassen. Drei einflussreiche Rechtssoziologien bieten sich an, als verwandte Vorhaben erinnert zu werden. Jedes dieser Untersuchungsprogramme befasst sich mit Recht im Rahmen gesellschaftlicher Differenzierung. Was machen sie anders? Was ähnlich? Welche Konzepte bieten sie auf? Als Alternativen verweisen sie zunächst auf die Selektivität von AIME. Letztere kulminieren im Verdacht, AIME unterlaufe ein Kategorienfehler dritter Ordnung.8 Dieser bestünde 8 | Latour unterscheidet Kategorienfehler erster und zweiter Ordnung (Latour 2014: 92 ff.): Die ersten sind solche der Perspektive, die aber leicht zu heilen sind, weil sie immer schon Teil des Forschungsprozesses sind; die zweiten sind solche der falschen Maßstäbe, weil Wahrheitsregime von Modus zu Modus unterschiedlich gelagert sind. Recht sollte nicht an falschen Wahrheitsstandards gemessen werden.
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in der Setzung eines allgemeinen Bestimmungsgrundes für alle Existenzweisen, kurz, die (rechts-)soziologischen Varianten stellen in Frage, ob eigentlich all das rechtliche, politische, wissenschaftliche Tun überhaupt sinnvollerweise entlang der wahr/falsch-Unterscheidung zu unterscheiden sei. Was, wenn die Praxisformen anders gelagerte Eigenarten aufweisen? Ich schlage also vor, auch als diplomatischen Akt, zentrale Rechs/Soziologien9 mit ihren je eigenen Zugriffen und Einsichten für eine »Anthropology of the Moderns« zurückzugewinnen.
a) Ethnomethodologische Studies of Work Eine wichtige rechts/soziologische Forschungsbewegung firmiert unter Begriffen der »law-in-action« (Banakar/Travers 2005) und der »law-at-work« (Dupret et al. 2015).10 Im Zentrum steht der »institutional talk« mit den bereit gestellten Rahmungen, Vorstrukturierungen, Konfigurationen etc. sowie den praktischen Anforderungen, diese hier/jetzt am Fall zu realisieren. Wir finden Sprechweisen wie Körper-Einsätze, die mit audiovisuellen Aufnahmen in ihrem sequentiellen Auf- und Zueinander nachgezeichnet werden. Ins Zentrum rückt dabei nicht primär das Recht, sondern Praktiken, die hier und jetzt gekonnt und bedingt, rechtliche Normen zur Wirkung bringen. Die Sequenzanalysen betonen Regelmäßigkeiten ebenso wie Kontingenzen. Sie zeigen Gelingensbedingungen und Engführungen im Detail, die im Habitat wie in Habitualisierungen, in Dispositionen und Ausstattungen angelegt sind. Die Mikrostudien des Doing Law, der minutiösen Bezugnahmen, fixen Handgriffe, Wort/Schrift-Verschränkungen, professionellen Kontakte, Aktenarbeiten, Archivrecherchen etc. zeigen, wie und womit hier die Praktiker*innen bestimmte Ansprüche und Aufgaben methodisch abarbeiten. In der Zusammenschau dieser methodischen Leistungen treten die – wenn auch systematisch bedingten – Kapazitäten einer Herangehensweise zutage, allerlei Sachverhalte abzuhandeln. EM befasst sich derart mit den situierten gekonnten
9 | Hier ließen sich auch Weber oder Durkheim anführen: Weber (1919) aufgrund seiner Vorstellung nebeneinander existierender, autonomer Wertsphären (Recht, Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst), die im Kampf der Götter münden; Durkheim (1893) aufgrund der »sozialen Fakten« und seinem Plädoyer, diese »wie Sachen« zu behandeln. 10 | Hier, aus einem reichen Schatz an Fallstudien, etwa die Forschungen zur Interaktionsordnung adversialer Gerichtsverhandlungen (Atkinson/Drew 1976), zum US-Amerikanischen »plea-bargaining« (Maynard 1984), zur Wahrheitsprüfung vor deutschen Strafgerichten (Wolff/Müller 1995), zur Arbeit in einer links-engagierten Anwaltskanzlei (Travers 1997) oder zum juristischen Gebrauch von Dokumenten und Akten (Vissmann 2000; Oorschot 2014). Zur Tradition der »studies of work« vgl. Bergmann (2006).
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Praktiken, das Recht zur Wirkung zu bringen. Das Recht wird zum »practical accomplishment« (Garfinkel 1967: VII). Die ethnomethodologischen »law-in-action«-Studien finden sich bezogen auf verschiedene institutionelle und professionelle Settings: Polizeiarbeit, Gerichtsstudien, »plea baraining« etc. Sie alle teilen diesen Grund: dass die Praktiken situiert sind und dass die institutionellen Ziele, Programme, Kategorien, Regeln etc. als Ressourcen und Anforderungen im ›ewigen‹ Hier und Jetzt (»Wie weiter?«) auf je methodische Weise zur Geltung gebracht werden. In die methodischen Fortführungen eingelassen sind Präferenzstrukturen, etwa im Zug-um-Zug-Verkehr der Befragung oder der Formulierung von Anhörungsprotokollen11. Das Recht, so die analytische Haltung, gibt es nur so und insofern es (trans-)situativ relevant gemacht wird. Der allgemeine analytische Bezugspunkte der Situiertheit hat seinen Preis: Es wird schwerer von dem Recht zu sprechen; Normgefüge, historische Entwicklungen, Chancenverteilungen etc. geraten leicht aus dem Blick. Neuere diskurspraktische (vgl. Lynch/Bogen 1996) und vergleichende Verfahrensstudien (vgl. Scheffer et al. 2010a) suchen Abhilfe, indem institutionelle Situationen als Kampfarenen im Rahmen von Ereignis-Prozess-Relationen sowie entlang einer apparativen Ausstattung analysiert werden. Der »Kampf ums Recht« (Jhering 1972) vollzieht sich hier und jetzt im Zuge von Verfahren und ihren vorstrukturierten und -strukturierenden Arenen sowie anhand von juridischen Bezugsobjekten (Aussagen, Fälle, Urteile, Präzedenzen12) mit ihrer symbolischen Relevanz.
b) Habermas’ kritische Diskurstheorie Habermas (1992) untersucht Rechtsverhältnisse im Lichte seiner Theorie der Geltungsansprüche und den Bedingungen der Möglichkeit ihrer vernünftigen Einlösung. Im Horizont der nachmetaphysischen Universalpragmatik bleiben Rechtsprozesse für moralische und politische Diskursprozesse empfänglich bzw. an diese gekoppelt. Diese Bezüge sind bei Habermas nicht etwa gesetzt, sondern entlang der normativen Gehalte als empirisch-diagnostische Frage aufgeworfen. Ist die Rechtssetzung und -entwicklung – etwa zum politischen 11 | So werden die übersetzten Worte des Asylbewerbers zunächst eher als Monologe in das Anhörungsprotokoll diktiert, um sie später ›für sich‹ mit Nachfragen konfrontieren zu können. Diese wiederum werden eher zugespitzt ins Protokoll diktiert, um die darauf folgenden Antworten wirkungsvoll infrage zu stellen (vgl. Scheffer 2001). 12 | Der Autor hat auf der Grundlage der Mikrofundierung die Integration des »case systems« untersucht (Scheffer 2010). Demnach finden sich hier variable Anknüpfungen an Fälle mit Blick auf den Tatbestand, die Norm und das Urteil. Fälle fungieren analog zu Luhmanns generalisierten Kommunikationsmedien als integrierte dreifaltige Zeichen.
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Asyl (Scheffer 2001), zur sexuellen Gewalt (Matoesian 1998), zum Schutz von Zivilisten im Krieg (Kolanoski 2015) – noch auf Fragen der normativen Richtigkeit verwiesen? Lassen sie sich als solche wirkungsvoll (re-)problematisieren? Nach Habermas (1981) vollführen kommunikative (Sprech-)Akte nicht nur Behauptungen der empirischen Wahrheit, sondern immer auch der normativen Richtigkeit, der emotionalen Wahrhaftigkeit und der sprachlichen Regelhaftigkeit. Wahrheitsaussagen etwa, bewähren sich entsprechend im Hin und Her von Geltungsansprüchen, Kritiken und guten Gründen. Etwas gilt nicht schon per wissenschaftlicher Akklamation oder Artikulation als wahr. Die von Ego vertretenen Gehalte kann Alter zurückweisen. Sie/Er kann etwas als unwahr, ungut, verlogen oder missverständlich kritisieren und bestreiten und – universalpragmatisch erwarten, dass daraus weitere Begründungspflichten erwachsen. Sprechakte werden entsprechenden Bewährungen unterzogen.13 In dieser Perspektive kann Habermas zeigen, wie sich mittels (Serien von) Verfahren Recht aus einem Set von Geltungsansprüchen herausschält. Diese bleiben dabei, so seine Analyse der modernen Verständigungsverhältnisse, auf normative Gehalte lebensweltlicher Verständigung verwiesen: per normalsprachlicher Anknüpfung, guter Gründe, Adressierung der Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Legitimierende Rechtsdiskurse sind nach Habermas immer schon von diplomatischen Beziehungen zwischen Recht und Moral (inklusive ihrer religiösen Ausprägungen) geprägt. Sind sie dies nicht, verlieren sie ihre Überzeugungskraft. Es sind die Debattierenden und Kritisierenden mit ihren Diskursbeiträgen selbst, die Ansprüche der Vernünftigkeit auch noch an technische juristische Streitigkeiten herantragen. Es ist zudem die Verfahrensförmigkeit die Begründungspflichten auferlegt und ein Mindestmaß an Vernünftigkeit erfordert.14 Legitimationskrisen, wie sie Latour in der Einleitung zu AIME diagnostiziert (aber nicht erklärt), würde Habermas in der ›unvernünftigen‹ Abkopplung verorten. Habermas untersucht in seiner Theorie des kommunikativen Handels nicht nur die bedingte Rückbindung des Rechts an Verständigungsprozesse. Er analysiert derlei in gesellschaftsanalytischer Absicht auch für die Religion, die Politik, die Ökonomie und die Wissenschaft der Moderne. Ähnlichkeiten zu AIME sind frappierend. Der allgemeine Grund, den Habermas für all diese kommunikativen Handlungsfelder aufruft, ist die Frage der Vernünftigkeit. Diese hebt er von Webers Begriff der Rationalisierung (v. a. Verrechtlichung, 13 | Vgl. hierzu den Begriff der ähnlich gelagerten »Realitätsprüfung« bei Boltanski/ Thévenot (1992). 14 | Die Adressierung bezieht sich auf eine »overhearing audience« (Atkinson/Drew 1976), die allerdings neben den verbalen Äußerungen auf die sich die Konversationsanalyse fokussiert vor allem auch Gerichtsprotokolle und Urteilsbegründungen zur Verfügung hat.
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Ökonomisierung, Bürokratisierung) ab. Zum allgemeinen Maß der Vernünftigkeit wird die Frage, inwieweit Kommunikationen – als Erhebung von Geltungsansprüchen – begründungsbedürftig bleiben und im Zweifel argumentiert werden. Das Recht ist nicht notwendig doktrinärer, fortschreitender Formalismus, wie es Weber kulturpessimistisch vorhergesagt hatte.15
c) Luhmanns Operationen des Rechtssystems Die Luhmannsche Systemtheorie soll hier den Reigen abschließen.16 Luhmanns allgemeiner Grund ist nun nicht der der (praxeologischen) Situiertheit, wie noch bei den Ethnomethodologen*innen, noch ist es die (aufklärerische) Frage der Vernünftigkeit. Luhmann bezieht sein Großprojekt (1984) zur Untersuchung von Politik, Recht, Ökonomie, Religion, Erziehung, Wissenschaft, Moral und Kunst, sowie der Systemebenen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft vielmehr auf die durchgehende Frage der Selbstbezüglichkeit, die erst die Frage beantworten soll, wie im Zuge der Moderne differenzierte (Anschluss-)Kommunikationen möglich (gemacht) werden. Luhmanns Rechtssoziologie (1995) zielt gerade nicht auf die weitläufige Vernetzung mit bestimmten externen Elementen (AIME) oder auf die moralisch-ethische Zustimmung durch die Gesellschaftsmitglieder (Habermas), und auch nicht auf die Abhängigkeit von »interactive accomplishments« (EM). Es ist vielmehr die Bereitstellung selbstgefasster, vorselektierender Medien, die die an sich unwahrscheinlichen, je eigenen Anschlussoperationen mit ihren weitergehenden kommunikativen Ausformungen wahrscheinlich macht. Die Frage ist dann: Wie schließen rechtliche Operationen aneinander und gerade nicht an Anderes an? Wie sind diese Operationen gegen externe Zumutungen (einer Moral, einer Politik, einer Religion) abgeschirmt? Um diese Frage zu beantworten, fokussiert Luhmann nicht auf die materiellen, psychischen, situierten Voraussetzungen (etwa das Mittun menschlicher Körper, die Versorgung mit Grundstoffen, die Luft zum Atmen17, Sprache), son15 | Auch bei AIME finden sich »trials«, Wahrheitsprüfungen, ähnlich denen bei Boltanski & Thévenot (2007). Der Projektrahmen bezieht diese aber nicht auf einen Common Sense bzw. auf lebensweltliche Kritiken oder prüfende Öffentlichkeiten zurück. In dieser Weise sind die Modi in normativer Hinsicht ähnlich umfassend abgekoppelt und ausdifferenziert wie die »operativ geschlossenen Systeme« (Luhmann 1984). 16 | Luhmann wird für AIME zumindest explizit, allerdings ohne viel Federlesen verworfen: »Once you accept the sociology of the social handed down by (Durkheimian) sociologists, all phenomena disappear from view and you are left with mysterious puzzles to distribute the material into distinct pots much like Luhmann had to do.« (Latour 2015: 11) 17 | Unendliche Ketten von Gelingensbedingungen, wie schon Goffman in der »frame analysis of talk« (Goffman 1974) betonte – und als wenig tauglich für soziologische
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dern auf die anschlussfähigen Operationen. So ist nicht alles was Personen über Recht denken oder wie sie diesen Rechtsstreit wahrnehmen (psychische Systeme), wie im Gespräch Recht und Gerechtigkeit diskutiert wird (Interaktionssystem) oder was in Organisationen von Mitgliedern für Mitglieder entschieden und programmiert wird (Organisationssystem) schon rechtlich relevant. Erst bestimmte Operationen sind rechtlich verfügbar, werden rechtlich erinnert, führen Recht fort. Dies bedeutet im Umkehrschluss: Das Recht bedient sich einer Reihe spezialisierter Interaktionen (Verfahren, Aushandlungen etc.), Organisationen (Gerichte, Kanzleien etc.) und Medien (Verträge, Fallakten etc.), um die Zufuhr mit anschlussfähigen Operationen abzusichern. Es sind hier »Medium-Form-Ketten« (Luhmann 1997; Heider 2005)18, die Qualifizierung leisten. Gleich einem »Trichter« (Luhmann 1989) laufen etwa Rechtsverfahren vermittels vielfacher Bindungen19 auf ein allgemein bindendes Urteil zu – und eine Fortführung der Recht-Unrecht-Unterscheidungen. Es sind für Luhmann diese Anschluss-Operationen des gleichen Typs, die Recht bewerkstelligen. Es ist ersichtlich, dass Luhmann das Recht nicht als Bereich vorstellt. Weder setzt er es gleich mit juristischen Professionen, noch mit rechtlichen Institutionen. Was zählt sind allein die aneinander anknüpfenden – gleichsam Etwas eröffnenden und engführenden – Operationen gleicher Art. Die Operationen, im Modus generalisierter Kommunikationsmedien (wie Geld, Macht, oder Recht) sind dabei getroffene Unterscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können – und auf die sukzessive hingearbeitet wird. Urteile wären noch zum Eintritt in ein Verfahren, in eine Fallbearbeitung, in einen Rechtsstreit etc. unUntersuchungen verwarf und sich deshalb pragmatisch auf solche des sozialen Taktes bzw. der Darstellung von Interaktionsfertigkeit bezog. 18 | Diese Konzeption der sukzessiven Engführung durch Ausformung eines Mediums, dessen Form dann wiederum als Medium für die folgende Ausformung zur Verfügung steht und in dieser Weise Selektionen – keine Determinationen – an Anschlussoperationen überträgt, vermag einige offene Aspekte der »series of enunciations« zu klären. Die Serie wäre dann weder bloß repetitiv, noch additiv oder akkumulativ. Gleicht ihre Stoßrichtung dem »Trichter« (1989), den Luhmann für Verfahren identifiziert? Vgl. für eine empirisch-analytische Anwendung, Scheffer et al. (2008). 19 | Bei Luhmann leisten Verfahrensgänger*innen im Zuge des Verfahrens Festlegungen. Sie binden sich zunehmend an vorgängige Beiträge. Latour führt einen ähnlichen Mechanismus für das Recht insgesamt an: »Während es weder wirkliche Kontinuität der Handlungsverläufe noch Stabilität der Subjekte gibt, wird das Recht mit der Glanzleistung Erfolg haben, so zu tun, also ob, durch besondere Verkettungen, wir durch das, was wir sagen und tun, gebunden wären. Was man getan, signiert, gesagt, versprochen, gegeben hat, verpflichtet einen.« (Latour 2014: 504) Mit dem Recht »werden die Personen ihren Akten und Gütern zugeordnet. Sie finden sich wieder als verantwortlich, schuldig, Eigentümer, Urheber, versichert, geschützt« (ebd.: 505).
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erreichbar. Diese Drift zur binären Recht/Unrecht-Unterscheidung justiert die rechtlichen Operationen und lässt sie schließlich eingehen in das Gedächtnis des Rechts. Das System gibt es nur insofern es gelingt, die prinzipiell unwahrscheinliche Anschlusskommunikation zu einem Grad wahrscheinlich werden zu lassen: und zwar in jedem Fall. Luhmanns soziologische Aufklärung betont, wie in der funktionalen Differenzierung systemfremde Bindungen, Rücksichten, Sorgen abgestreift werden. Rechtskommunikationen klammern persönliche, moralische, politische etc. Zumutungen aus – und leisten sich höchstens ›Seitenhiebe‹. Die Operativität des Systems entledigt sich der gemeinschaftlichen Fesseln, um selbstbezüglich fortzuwirken. Die Durchschlagskraft der Modernen verortet Luhmann gerade im Absehen von dem, was als Bedingung der Möglichkeit vorausgesetzt und ausgelagert wird: in der funktionalen Differenzierung bzw. dezentrierten Arbeitsteilung.
d) Zwischenfazit III In diesen drei Skizzen habe ich Kondensate von drei Ansätzen der Rechtssoziologie angeboten. Die Kondensate sind diplomatisch, insofern sie einerseits deren jeweilige Stoßrichtung bewahren und andererseits erste Hinweise nahelegen, worin mögliche Lehren für AIME bestehen könnten. Die situierten Praktiken der ethnomethodologischen Studies of (legal) Work (1), die universalpragmatischen Verständigungsverhältnisse in Rechtsdiskursen bei Habermas (2) oder die Selbstbezüglichkeit der differenzierten Operationsweisen bei Luhmann (3) liefern durchaus relevante soziologische Assoziationen für AIME. Statt Latours Reflexe gegen die »Soziologie des Sozialen« zu teilen20, schlage ich vor, deren Rechtsforschungen zur Konturierung von AIME zu nutzen. Der wichtigste Bezugspunkt hier AIMEs Behandlung der Wahrheitsfrage als Weltschöpfung. Latour trägt mit den Existenzweisen sein originäres Interesse für Wahrheitsfragen aus der Wissenschaftsforschung – und hier seinen »Laborstudien« (Knorr-Cetina 1984) – in alle Existenzweisen hinein. Was er dann findet, sind Unterschiede in der Art und Weise, Wahrheiten zu schöpfen und Prüfungen auszusetzen. Was er dabei nicht findet und nicht finden kann, sind andersgela20 | Seine umfassende Ablehnung liest sich so: »Law has its own social theory and social practice that is much more powerful than the social explanations offering to ›embed‹ it ›in‹ society. This point seems to be understood much better by legal practitioners than by sociologists of Law.« (Latour 2015: 4) Oder generell: »[…] it is striking to see how much of what, in earlier years, would have been ›put into social context‹ before being ›socially explained‹, is much more powerfully rendered by following the complex detour of legal ties.« (Ebd.: 3)
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gerte Grundlegungen und Unterschiede. Dass es diese gibt, und zwar sowohl für differenzierungs- wie praxistheoretische Verwendungen, zeigen die drei anderen (rechts-)soziologischen Varianten. Dieses Grundlagenproblem deutet sich dort an, wo AIME eine ungleiche Unterscheidung anlegt: die zwischen wahr (»true«) und falsch (»false«). Die Unterscheidung ist asymmetrisch, weil hier die Wahrheitsfrage (»true«) auf der einen Seite der Unterscheidung mit allerlei Fragen (a) der Wahrheit (falsch als unwahr), (b) der moralischen Richtigkeit (falsch als unmoralisch), (c) der Wahrhaftigkeit (falsch als unehrlich), und (d) der Regelhaftigkeit/Verständlichkeit (falscher Sprachgebrauch) auf der anderen Seite konfrontiert wird. Es bleibt so äußerst vage, inwiefern sich alle Modi überhaupt in erster Linie Wahrheitsfragen widmen oder von diesen absehen bzw. ganz andere »praktische Probleme« (Garfinkel), »Geltungsansprüche« (Habermas) oder »Unterscheidungen« (Luhmann) fokussieren.
5. Tendenzen von AIME im L ichte konkurrierender V arianten Der AIME-Projektrahmen, das fällt auf, zitiert kaum Forschungsstände oder alternative Forschungsvorhaben. Für [REC] bedeutet dies: Es finden sich keine Forschungen zu Rechtspraxis, Rechtskulturen, Rechtssystemen, Rechtsdiskursen etc. AIME beschränkt sich ganz auf eine ANT-Perspektive: die »Soziologie der Assoziationen«. So als schöpfe AIME eine gänzlich neue Soziologie. Hierin liegt ein Reiz wohl auch für die Anhänger*innen: Man darf von Vielem absehen und sich auf Weniges stützen. Der Preis für diese ›Entwicklung‹: AIME betätigt sich, bezogen auf die eigenen akademischen Verwandten undiplomatisch. Diese Debattenverweigerung hat gute Gründe. Das Unternehmen verliert sich so nicht im Klein-Klein. Es vermag – bei gleichzeitigem ›Heilsversprechen‹ – alle Modes auf einmal abzuarbeiten; ein Unterfangen, für das etwa Luhmann mehrere monumentale Werke benötigte. Alles passt zwischen zwei Buchdeckel, auch weil die Verbindungen zu Forschungstraditionen, vergleichbaren Unternehmungen, familienähnlichen Fallstudien gekappt sind. AIME führt Konkurrierendes gar nicht ein/an, zitiert nur wenig, diskutiert nicht. Das Fehlen solcher Bezüge zeigt sich, wo AIME Begriffe analytisch unterbestimmt. Goffmans »soziale Situationen«, Luhmanns »Legitimation durch Verfahren«, Webers »bürokratische Apparate« etc. AIME, um all diese Verweise gebracht, erscheint minimalistisch: Recht ist was rechtlich realisiert wird. Die Bezüge zur Sprechakttheorie wirken hier ansteckend, denn in ähnliche Tautologien hatte sich auch diese verfangen. Auch sie hatte Gelingensbedingungen und performative Effekte mit dem vollzogenen Sprechakt identifiziert. Was
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aber gilt als Gelingen? Und sind Sprechakte nicht per se schon zu monologisch gedacht? Lassen sich so Interaktionen, Beziehungen und Kämpfe fassen? Im Folgenden will ich weitere Tendenzen von Latours Analyserahmen im Lichte der drei Varianten skizzieren.
a) Praxis ohne situierte Praktiken In einer Vorstudie zu AIME – der Ethnographie zum höchsten französischen Verwaltungsgericht – ließ Latour (2002) das Gerichtspersonal lang und breit zu Wort kommen. Dabei interessierten ihn nicht die (Gesprächs-)Situationen und ihre Interaktionsordnung selbst. Ihn interessierten die versammelten Ressourcen, deren Relationen sowie die geleisteten Brückenschläge zwischen der »matter« und »means«. Soziale Situationen (vgl. Goffman 1974) mit ihren Wechselwirkungen zwischen »Partizipanden« (Hirschauer 2004) liegen hier nicht etwa quer zu den Netzwerken, sondern sind von diesen in Beschlag genommen. Artikulationen und ihre Begriffe sind bei Latour Situationen übergreifend vernetzt. Ähnlich verfährt der Ethnograph Latour mit Dokumenten: Er greift durch sie auf die Objekte und ihre Verknüpfung hindurch. All die Dinge liest Latour aus den Texten zusammen: Vermischtes, dass gleichwohl aufeinander bezogen ist. Diese Draufsichten verweisen für ihn auf all das, was sich ›derart‹ manifestiert. Sie lassen Latour die weit verzweigten »Netzwerke des Einflusses« (Latour 2014: 71) erkennen. Sie lassen ihn erahnen, was nötig ist, damit etwas rechtlich zur Existenz gebracht wird. So findet sich das Rechtliche, sei es unter den Bedingungen des Gesprächs, des Interviews, der Begutachtung (Wolff 1995) oder der Aktenführung (Scheffer 2010). Einmal passend ausgestattet, wirkt die Passage als handelndes Aktor-Netzwerk 21 und verschmilzt Mal um Mal all die Sachen mit all dem Recht. Verschiedenste Settings und Medien lassen sich mit dieser Perspektive auf Elemente und ihre Verknüpfung hin durchforsten. Die auftauchenden Elemente lassen sich mit Linien verbinden, die dann als umfassende Assoziation erscheinen. Diese Betrachtung ist ›assoziativ‹, indem sie niedrigschwellig einholt, was sonst in soziologischen Accounts kaum Eingang findet. AIME schließlich nimmt all das als existent: Objekte, ihre Listen, ihre Verknüpfungen. Sind hier mehr verbunden als Benennungen? Wie aber ist etwas benannt, was es noch gar nicht gibt, nur in Anteilen gibt, nur schwach gibt, nie geben wird? Die Situiertheit des Gesprächs, des Interviews, des Dokumentes etc. tritt hinter den Nennungen zurück. Die (Erhebungs-)Situationen fungieren als Fundgruben für assoziierte Elemente, die sogleich im Netzwerk verortet werden. Latour findet so Objekte, keine situierten Objektivierungen; er findet Verbin21 | Vgl. hier Hirschauers ethnomethodologische Kritik an Latours »actor-networktheory« als Handlungstheorie (2004). Das Netzwerk wird demnach zum Handelnden.
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dungen, aber kein situiertes Verbinden. Die Situationen der Begegnung, des Interviews, der Fallarbeit etc. werden selbst nicht zum Gegenstand. Beobachtet wird die Passage unter Absehung der praktischen Schwierigkeiten, diese in Situationen zu bewerkstelligen.
b) Sprechakte ohne Alltagssprache Die Theorie des kommunikativen Handels hinterfragt, inwiefern das Recht einen eigenständigen Bereich darstellt, wie dies Weber mit seinem Verdikt der »Verrechtlichung« und Luhmann mit seiner Diagnose eine »Ausdifferenzierung des Rechts« unterstellen. Habermas diskutiert diese Eigenständigkeit auf den ersten Blick im Lichte des Verhältnisses von Moral und Recht, von Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit; er tut dies aber noch grundlegender in der Frage nach der Sprache des Rechts, die für ihn eben gerade nicht eine abgekoppelte Spezialsprache darstellt, die nur noch von Juristen beherrscht und verstanden wird, sondern immer noch lebensweltlich unterlegt und durchzogen ist. Im Recht tummeln sich Geschichten, moralische Kategorien, normative Geltungsansprüche – und mit ihnen die verschiedensten kritischen Folien. Der Rechtsdiskurs schließt lebensweltliche und systemweltliche Kommunikationen ein. Er lässt sich weder auf die diffuse Lebenswelt, noch auf die spezialisierte Systemwelt reduzieren. Dies schon deshalb, weil er Öffentlichkeit herstellt und damit die »Diskursgemeinschaft« adressiert. Gegenüber diesen diskurstheoretischen Diskussionen erscheint AIME seltsam inkonsequent. Sie sammelt Stimmen, Statements und Kategorien einerseits, und verweigert sich sprach- und kultursoziologischen Überlegungen andererseits. AIME klammert die zwischen u. a. Luhmann und Habermas geführte Debatte um die Rolle der Alltagssprache und die Grade funktionaler Differenzierung aus. Es nährt den Verdacht, Begriffe seien schon die Objekte, die, sind sie einmal in Rechtsdiskursen (den Reden, Gesprächen, Texten etc.) entdeckt, als deren verfügbare Ressourcen bestimmbar sind. Dieser Objektfixierte und -fixierende Durchgriff durch die Sprache, verwischt den fach- und alltagssprachlichen Gebrauch. Er verwischt die kulturellen »devices« (Sacks 1989), mit denen Normalität erzeugt und Gelingensbedingungen bereitet werden. Auch institutionelle Praxen bleiben entsprechend auf alltagssprachliche Konstruktionen verwiesen: die Semantik der Ordentlichkeit, die Publika und ihre vorgestellte Rezeption, die Grammatik und ihre Präferenzstrukturen, die Gattungen und ihre Zugzwänge, die kritischen Repertoires und ihre geforderten Begründungspflichten. Es sind diese Bezüge zu einer mehr oder weniger gefestigten Diskursgemeinschaft und ihren Prozeduren der Verständigung, die sprachliche Sedimentierungen hervorbringen. Auf diesen ruhen spezialisierte Praxen auf – schon um die Bedingungen der Möglichkeit performativer
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Sprechakte generell abzusichern. Demgegenüber bleiben bei AIME die sprachlichen Ressourcen der Objekt-Bezüge unterbelichtet. Und das, obwohl AIME selbst um Worte ringt, sich der Sprache/n bedient.
c) Prozess ohne umkämpfte Ereignisse AIME konzipiert Netzwerke als Prozess.22 In den Blick geraten »Tranjektorien« der Netzwerkelemente (von ihrer Schöpfung bis zu ihrer Nutzung) und Entwicklungen der Netzwerke selbst (von der Installierung zur Stabilisierung). Es ergeben sich historische Weitblicke, zeitliche Faltungen, Ko-Existenzen. Es zeigt sich eine prozessierende Maschinerie, die Nicht-Rechtliches in die Rechtsform bringt, zu »jurimorphs« kondensiert und als rechtliche Existenzen manifestiert. Es sind die »jurimorphs«, die in der Folge im Netzwerk zirkulieren – einem Netzwerk, das wiederum selbst aus allerlei Nicht-Rechtlichem gebaut ist und fähig ist, daraus Rechtliches zu fabrizieren. Luhmann hatte für solche Prozesse und die Wahrscheinlichkeit ihrer translokalen, synchronen Fortführung die generalisierten Unterscheidungen von Recht/Unrecht ins Spiel gebracht. Meine eigenen law-in-action Studien (Scheffer 2010) hatten bezogen auf das Common Law System dreigliedrige, integrierte Zeichen (der Fall als Einheit von Tatbestand-Norm-Urteil) ausgemacht. Die »jurimorphs« wirken demgegenüber unterspezifiziert. Zugleich wirken die Prozesse hier seltsam vorgefasst. Das Recht, einmal richtig ausgestattet und gefüttert, nimmt seinen Lauf. So als sei das Netzwerk ein Rohrsystem, eine Infrastruktur, die das zwanglose Funktionieren der Geschäfte garantiert. Hier wurde in die Stabilität des Netzwerkes ausgiebig investiert. Die Existenzweise wirkt, gleich des wiederholt im Projektrahmen als Anschauungsbeispiel angeführten russischen Gas-Netzwerks, das von der Analyse in seiner aufwendigen und weitverzweigten Konfiguration rekapituliert wird. Es ist nicht nur dieser Gelingensbias, sondern auch die Fügung des Prozesses als Struktur, die hier aus sequenzanalytischer Perspektive – Ethnomethodologie wie Luhmanns Systemtheorie – enttäuscht. Die Prozesse verlieren hier ihren Ereignischarakter, ihre überbordende Kontingenz. Als Gegenmittel taugen die von AIME anvisierten »trials«, die Qualitäten ab- oder zusprechen. Die Prüfungen disziplinieren und zwingen die Assoziationen zum Realismus. Hier kann nicht frei konstruiert, assoziiert, formuliert 22 | Dies gilt übergreifend, da es »im Falle des Rechts wie in dem der Erkenntnis oder des Religiösen, die Einleitung eines Verfahrens, einer Forschung, einer Predigt gibt. Alle drei hängen von bestimmten Ausrüstungen, Gruppierungen, Expertisen, Instrumenten, Urteilen ab, deren Verteilung und Verwendung es in jeder Wahrheitsordnung erlauben werden, ausfindig zu machen, was ›etwas Wahres sagen‹ oder ›etwas Falsches sagen‹ heißt.« (Latour 2014: 103)
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werden. Die wahr/falsch-Unterscheidungen folgen keinen privaten, persönlichen, individuellen Präferenzen, sondern realisieren sich in dem, ›was geht‹ und auch hier/jetzt gegen Widerstände durchsetzen lässt. Solche Kontingenzen verlieren sich aber in Prozessdarstellungen, wo Dinge und Dokumente nicht von verschiedenen – auch feindlichen oder konkurrierenden – Rezeptionen und Kategorisierungen zu unterscheiden sind, wo alles in Artikulationen zusammenfällt, die ihre Gelingensbedingungen gleichsam in einem Zuge realisieren. Konkurrierende »centres of calculation« (Latour 1987) kommen in AIME ebenso wenig vor, wie die Kämpfe um die relevante »matter« und die wirksamen »legal means«.
d) »Matter« ohne Materialismus Unterschiede zwischen Existenzweisen – die mobilisierten externen Entitäten, wie Arten, diese zu verknüpfen – erschließen sich bereits den interessierten Zeitunglesern*innen. Latour als Projektleiter verweist auf diese Eingebungen, durch Feldforschung oder »schon durch die einfache Lektüre von Zeitungen« (Latour 2014: 67). Und tatsächlich ist z. B. in Zeitungstexten von allerlei Dingen die Rede.23 Sie versammeln heterogene Elemente, bzw. benennen diese. Texte öffnen einen diskursiven Raum und bevölkern ihn mit Personen und Sachen, inklusive der Verbindungen zwischen diesen. Derlei Text-Situationen würden wohl einer teilnehmenden Beobachtung entgehen, die dazu neigt, ›vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen‹. Wenn Texte aber taugliche Ressourcen für die Zusammenstellung der o. g. Aktanten-Listen (Wer/Was ist alles dabei!) darstellen, dann stellt sich die Frage, wie etwas eigentlich – zuweilen doch nur – textlich existiert. Dieser methodischen Abkürzung per Textanalyse bedient sich AIME an verschiedenen Stellen. Augenfällig wird es dort, wo nicht nur auf performative Sprechakte verwiesen, sondern Existenzweisen als Genres vorgestellt werden. Aus praxeologischer Perspektive bliebe hier allerdings ein Unbehagen: Wohl handeln Texte von »matter« (Angelegenheiten oder Sachen), sie enthalten diese aber nicht. Es wäre ein allzu simpler, aber verbreiteter Kategorienfehler, hier auf greif bare Objekte in ihrer eigenen widerständigen, morphologischen Qualität 24 kurzuschließen. Allerdings: Derart als Textwissenschaft betrachtet, ließe sich die Frage nach den Existenzweisen präzisieren und entzaubern: Wie 23 | Allerdings bleibt im Alltag Vieles ungenannt und unbenannt, ja ohne Namen. Indexi kale Fingerzeige sowie Hilfskonstruktionen wie »Dingsbums« oder »Dingsda« verweisen darauf, dass das Gros der Entitäten unterhalb der Sprach- und Textschwelle (sozial) existiert. 24 | Dies insbesondere dort, wo er sich in »inter-objectivity« (Latour 1996) gegen die vermeintlich objekt-lose Soziologie abgrenzt.
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unterscheiden sich die Weisen, ETWAS in politischen, religiösen, juridischen, literarischen etc. Texten aufzuführen? Ist es diese Frage, die entgegen der ethnographischen Rhetorik, am ehesten der Forschungsstrategie von AIME entspricht? Wohlgemerkt: nicht dem Anspruch, wohl aber der nahegelegten Forschungspraxis.
e) Zwischenfazit IV Diese vier Vorbehalte meine ich nicht als Feststellung. Gemeint sind die Vorbehalte eher als Tendenzen. AIME nimmt eine Perspektive auf die Welt, ordnet sie vor und kommt so zu bestimmten Einschlüssen und Ausschlüssen. Die Selbst-Beschreibung von AIME als anti-reduktionistisch ist hier wenig hilfreich, um eine derartige Reflexion anzuleiten. Denn es bleibt offen, wofür der Fokus auf Existenzweisen, auf das Wahrheitskriterium taugt, und wofür nicht. Was wäre, wenn stattdessen Modi des Streits, des Konflikts, des Begründens (wie bei Habermas), der Kommunikation (wie bei Luhmann), des situierten Tuns (wie bei Garfinkel) unterschieden würden? Die mangelnde Gegenkontrolle der vorgeschlagenen Perspektive auf die Welt, eine Art Verleugnung der Möglichkeit blinder Flecken, macht AIME besonders anfällig für die vier genannten Tendenzen. Sie wuchern im Schutze der Behauptung von Anti-Reduktionismus, Symmetrie, Holismus, Gegenstandsbezug und Diplomatie.
6. A usblick : A ufschl ag für dünne oder dichte B eschreibungen ? Wie weiter mit AIME? Lassen sich in diesem Projektrahmen wirklich treffende Fallstudien versammeln? Bietet er einen neuen Blick auf das Recht? Begreift er besser, aus was Recht wirklich gemacht ist und was es alles – stets nur bedingt – fertig bringt? Die Rechtssoziologie hat guten Grund, sich mit dem neuen Entwurf vom Recht als Verwirklichungsweise auseinander zu setzen. Es finden sich tatsächlich ganz eigene Sensibilitäten für die Sachen und Stofflichkeiten des Rechts: Denn hier kommt vor, was woanders vergessen ist; hier spielt eine Rolle, was in anderen Varianten ausgeklammert bleibt. Die im letzten Abschnitt zusammengetragenen Vorbehalte sollen zu dieser Auseinandersetzung auf beiden Seiten einladen. AIME pflegt eine Art konkretistischen Holismus, wie er tatsächlich in der Ethnologie kultiviert und von der Soziologie eher gemieden wird. Er changiert scheinbar zwanglos zwischen Mikro und Makro, zwischen Menschen und Nicht-Menschen, Kultur und Natur, lokalen und globalen Netzwerken. In dieser Weise, so meine abschließende
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Vermutung, gewinnt AIME deskriptive Freiheiten, droht aber in bloßen Draufsichten zu erstarren. Wie das? Es scheint, als verwerfe AIME alle konkurrierenden analytischen Rahmen, die die ausgemachten Prozesse der Amalgamierung durchkreuzen könnten. Nichts soll den Lauf der Passage tangieren, um diese als Existenzweise zu exponieren. Preisgegeben werden gleich eine ganze Reihe von Anti-Reduktionismen, wie sie die ›soziale‹ Rechts-/Soziologie bietet: Situationen, Lebenswelten, Kämpfe, Materie. Eine Anthropologie aber, die derlei ausklammert, bietet wohl Prozessmodelle, nicht aber dichte Beschreibungen (Geertz 1973). Sind diese Befürchtungen begründet? AIME behauptet, anti-reduktionistisch zu sein; sie lädt ein, die Vielheiten im Blick zu behalten; sie will, dass all das vorkommt, was einen Anteil hat; sie lädt ein zur teilnehmenden Beobachtung, zu multimodalen Fallstudien. So will dieser Ausblick weniger ein finales Urteil formulieren, denn eine Besorgnis zum Ausdruck bringen, Latours Forschungsrahmen möge nicht als Anleitung für »dünne Beschreibungen« dienen. Entlang der (ausbleibenden) Verdichtung entscheidet sich, ob Latours vorgeschlagener analytischer Rahmen hinter den genannten Rechtssoziologien zurückbleibt – oder deren Differenziertheit erreicht. Warum aber drohen dünne Beschreibungen? (1.) In den Netzwerk-Prozessen wird das Soziale wie das Materielle nivelliert. AIME nimmt sie nicht mehr als Eigenwerte, sondern als bloße Verfügungs- und Modelliermasse der jeweiligen Existenzweise. (2.) Mit dem Fokus auf die Verknüpfung der Entitäten werden nur vorläufige und flüchtige (Zwischen-)Größen als bloße Durchlaufposten übergangen. (3.) AIME negiert konkurrierende Relevanzrahmen. Die Netzwerk-Prozesse überschreiben soziokulturelle Bedeutungs- und Kraftfelder, die jedes ausgreifende Vorhaben leicht aufreiben: die Wirren des Alltags, Kämpfe, die Wechselwirkungen sozialer Situationen, gewachsene soziale Bindungen etc. Die blinden Flecken und Unschärfen der »Soziologie der Assoziationen« einzugestehen, wäre ein guter Start für ein diplomatisches Projekt innerhalb der Soziologie: die Forschungsleistungen im Fach zu respektieren; sich durch konkurrierende Accounts auch überzeugen zu lassen; Parallelen ebenso zu suchen, wie Unterschiede; Kosten und Nutzen der Varianten abzuwägen. Eine solche moderate Haltung ist geboten, im Wissen, dass die soziologische Imagination versammelt und mobilisiert werden muss, um angesichts wechselseitig sich verstärkender, bedrohlicher, drängender bzw. existentieller Probleme die bedingten Bearbeitungskapazitäten etwa des Rechts angemessen zu realisieren. Die Rechts-/Soziologie hat hier tatsächlich mehr zu bieten.
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[FIK] Im Liechtenstein des Denkens Sina Farzin
Die Modernen, so könnte man nach der Lektüre von Bruno Latours Existenzweisen denken, meinen es nicht gut mit der Fiktion. Die Entstehung eines eigenen Modus der Fiktion scheint sich für Latour zunächst aus einer Art Entsorgungs- oder Lagerproblem zu ergeben. Denn die bis zu diesem Punkt der Argumentation diagnostizierte Abspaltung einer Herrschaft der Materie über das Reich der primären Qualitäten, wirft auf der anderen Seite symbolische, immaterielle, subjektive Weltgehalte als Nebenprodukt aus. Die große Bifurkation zwischen einer materiell vorhandenen, instrumentell erfassbaren (und so eigentlich erst erzeugten) sinnlosen Welt und der konkret erfahrbaren, sinnvollen, erlebten Welt ist uns bereits in Kapitel 4 begegnet, als gefragt wurde, was denn genau repräsentiert wird, wenn man den Mont Aguille kartiert. »Um diesen realen, unsichtbaren, denkbaren, objektiven, substantiellen und formalen Mont Aiguille zu bezeichnen, der durch die Kartographie erfaßt wird […], hat man sich im 17. Jahrhundert angewöhnt, von seinen primären Q ualitäten zu sprechen – jenen, die am meisten der Karte ähneln. Um den Rest zu bezeichnen […], wird man von sekundären Q ualitäten sprechen: Diese sind subjektiv, erlebt, sichtbar, empfindbar, kurz, sekundär […]. Die Welt ist in eine Bifurkation geraten.« (Latour 2014: 179)
Was Latour hier an der Kartierung des Berges exerziert ist ein Grundmotiv seines Werks, die fast gewaltförmig anmutende positivistische Trennung der Welt in eine Sphäre der objektiven Dinge, der »wirklichen Wirklichkeit« (ebd.) einerseits und eine der unsteten, flüchtigen, wandelhaften Sinnzuschreibungen andererseits. Darüber wurde und wird viel geschrieben, umso überraschender ist es, dass bisher von Seiten der ANT kaum in den Blick genommen wurde, welche Folgen diese Trennung nicht nur auf Seiten der primären Qualitäten hat, sondern eben auch auf der so entstanden anderen Seite der Unterscheidung. In der Soziologie hat es sich spätestens seit dem cultural turn der 1960/70er-Jahre eingebürgert, für diesen Komplex kontingenter Sinndeutungsmuster, den Ver-
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änderungen und Stabilitäten ihrer kollektiven Weitergabe und individuellen Anwendung den Begriff der Kultur zu verwenden, der natürlich nicht exakt in Latours Sinn gemein ist. Diese Option steht Latour aber ohnehin nicht zur Verfügung, da er die Kulturvokabel als Bestandteil der Natur/Kultur-Bifurkation nicht nur ablehnt, sondern zudem zumeist für die Bezeichnung nicht-moderner Kollektive durch die »Modernen« reserviert (auch in diesem Buch noch: vgl. bspw. ebd.: 232). Dann also Fiktion. Die Existenzweise der Fiktion, der Latour in Kapitel 9 nachspürt, nähern sich die Modernen mit ihrem eingeschränkten Blickfeld, verstellt von den selbsterzeugten Materialitäten der wirklichen Wirklichkeit. Der durch die Bifurkation sinnentleerten Welt stellt sich demnach ein nachgeordnetes Residuum entgegen, das Latour – hier zunächst ganz Wissenschaftsforscher – dem Reflektionsbereich der Geisteswissenschaften zuordnet, ohne es selbst zu definieren. »Die Lösung […] bestand darin, eine Welt ›symbolischer‹ Realitäten zu schaffen, damit betraut, das Gerümpel all dessen aufzunehmen, was in der ›Natur‹ oder der ›wirklichen Welt‹ keinen Platz fand. […] Wie jene Kranken, die durch eine Hirnverletzung der Hälfte ihres Gesichtsfeldes beraubt sind und nicht einmal bemerken, daß sie ihnen fehlt, waren sie aus der ›Realität‹ vertrieben […] während sie in das Reservat der Falschheiten, glücklicherweise voller Sinn, der Geisteswissenschaften flüchten mussten! Wer würde sich damit zufriedengeben, in dieser Art Rumpfstaat zu leben, diesem Liechtenstein des Denkens!« (Ebd.: 334)
Diese symbolische Realität ist aber keinesfalls gleichzusetzen mit den sprachlichen Zeichen- und Repräsentationssystemen. Für Latour bildet der Kurzschluss des Symbolischen mit der Sprache ein ähnliches Erkenntnishindernis der Modernen wie die Unterscheidung von Kultur und Natur. Denn die symbolische Realität stellt für ihn vor allem den Sinn (franz. Sens, auch: Bedeutung, vgl. ebd.: 335, FN) zur Verfügung, der Grundlage alles Seienden ist. Auf dieser Grundlage wiederum bilden die verschiedenen Existenzmodi verschiedene Zeichen. Diese Zeichen sind also »ein besonderer Modus des Sinns, der eine Art regionale Semiotik und Ontologie bilden würde, die zu einem besonderen Existenzmodus gehört« (ebd.: 336). Dieser Umweg über die akademische Zuständigkeit für den Bereich der symbolischen Realität, der noch einmal die Fundamentalkritik an der Bifurkation von Natur und Kultur und der sich daraus ableitenden Zuständigkeit der Naturwissenschaft (wirkliche Wirklichkeit) und der Geisteswissenschaft (symbolische Wirklichkeit) wiederholt, führt nun schließlich hinaus aus dem scheinbar sehr logozentrischem Liechtenstein des Denkens, hin zu dem, worum es eigentlich gehen soll: der Existenzweise der Fiktion, die nicht gleichgesetzt werden kann, mit dem, was Geisteswissenschaftler über ihre Gegenstände zu berichten wissen.
Im Liechtenstein des Denkens
1. F ik tion Anders als die Bereiche Religion, Wissenschaft, Politik und Technik gehört die Existenzweise der Fiktion zu den gänzlich neu eingeführten Modi des Buches. Es gilt also zunächst zu verstehen, was Latour genau unter diesem Modus versteht, dafür folgen wir seinem bereits erwähnten eigenen Gerüst1 und rekonstruieren in diesem Abschnitt die charakterisierenden Aspekte des Hiatus, der Trajektorie, der Gelingensbedingungen, der Wesen und schließlich der Alterierung. Zunächst stellt sich die Frage, was den Assoziationsmodus der Fiktion von anderen Modi unterscheidet. Der Hiatus der Fiktion ist das besondere Vibrieren der Unterscheidung von Material und Form. Das mutet zunächst recht klassisch an und zeigt, wie eng Latour in Teilen seiner Argumentation Fiktion und Kunst gleichsetzt. Die Überführung von potentiellen Qualitäten des Materials in jeweils konkrete Formen, ohne eine andere Bestimmung als Form zu sein, ist der Kern des Spiels von Material und Form: »Seit hunderttausenden von Jahren lag der Lehm am Grunde dieser Höhle, bevor er in einen im Feuer gebrannten Krug aus Ton gefaltet wurde [Rep Tec], aber er wird ein zweites Mal transformiert, umgeleitet, wenn aus diesem Krug aus Erde an den Fingerspitzen eine erstaunliche anthropomorphe Figur entsteht, extrahiert wird [Tec Fic].« (Ebd.: 346)
Aber dieses Spiel ist flüchtig und lässt sich nicht fixieren: Weder sind die Figuren ohne das Material möglich, aus dem sie gewonnen wurden, noch lässt sich das Material ohne Verbindung zur Figur im Modus der Fiktion betrachten. Dieses beständige Vibrieren ist für Latour der Hiatus der Fiktion, der dafür sorgt, dass man sie weder auf ihre Materialität reduzieren, noch ihren im spezifischen Zeichen ausgedrückten Sinn bruchlos übersetzen oder interpretieren und so die Figuren von ihrer Materialität ablösen könnte. »Wenn man sich nur am Material festhält, verschwindet die Figur, der Klang wird Lärm, die Statue Lehm, das Gemälde ist nur mehr eine Kleckserei, die Wörter werden zu Gekrakel […]. Der Sinn ist verschwunden, oder vielmehr dieser Sinn da, der Sinn der Fiktion ist verschwunden.« (Ebd.: 345)
Der Sinn der Fiktion lässt sich nicht in Interpretationen »zusammenfassen« oder »abstrahieren«, da er gerade aus der Verbundenheit der Figur und ihrer Materialität entsteht. Diese Verbundenheit aber ist flüchtig, sie ist eine Eigenschaft der zweiseitigen Form von Material und Figur, die darauf angewiesen ist, dass sie erkannt wird, dass von ihr eine Resonanz ausgeht und eben nicht 1 | Vgl. dazu ausführlich die Einleitung von Henning Laux im vorliegenden Band.
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nur Lehm oder Kleckse gesehen werden, sondern jeder Klecks und jede Erhebung im Lehm als Eigenschaft des Materials und der Figur hervortreten können. »Es gibt hier einen sehr selbstständigen Existenzmodus, der sich durch das Schwanken, das Vibrieren, das Hin und Zurück, das In-Resonanz-Bringen sukzessiver Ebenen von Materialien definiert, aus denen man provisorisch Figurationen zieht, die sich gleichwohl nicht davon unterscheiden lassen.« (Ebd.: 346)
Um dieses Vibrieren aber überhaupt in Existenz zu bringen, bedarf es des menschlichen Betrachters, der durch das Betrachten zugleich hervorgebracht wird. Die Fiktion ermöglicht es dem Betrachter, Phantasie zu entwickeln, die als eine Art Resonanzbecken vorgestellt wird, in dem sich das Vibrieren bricht. »Die Phantasie ist niemals die Quelle, sondern eher das Auffangbecken der Wesen der Fiktion. Genauso wie man objektiv wird, indem man sich an Referenzketten anschließt; […] wird man phantasievoll, indem man die Werke der Fiktion aufnimmt. ›Wir sind die Söhne unserer Werke.‹« (Ebd.: 384)
Dieses Bild der vibrierenden Unterscheidung von Material und Form, die ohne die Einbezogenheit des menschlichen Betrachters nicht sein könnte, ist zugleich die Gelingensbedingung der Fiktion. Ohne dieses Grundmodell eines ergriffenen, berührten Gegenübers der Werke, ist der Modus der Fiktion nicht denkbar. So ist das betrachtende Subjekt zugleich das Objekt, dessen sich die Werke bedienen um in Existenz zu kommen. »[…] die Figuren sind anfangs erschütterte Materialien und halten nur so lange, wie diese Erschütterung anhält […]. ›Das sagt mir nichts‹, ›Das läßt mich kalt‹, ›Das ist leer‹. Oder umgekehrt: ›Das stimmt‹, ›Das funktioniert‹ […] Durch diese Unterscheidungen zwischen Gutem und Schlechtem, Wahrem und Falschen, zeichnet sich für jedes Werk ein Weg zwischen zwei Abgründen vor: sich zu weit von den Materialien zu entfernen oder kalt wie ein Eiszapfen angesichts von Blöcken von Materialien zu bleiben, die jeden Sinns entbehren.« (Ebd.: 347)
Durch diese konstitutive Verbindung der Fiktion mit ihrem Betrachter, ihrem Interpreten, ist die Existenz der Fiktion prekär, ständig vom Verschwinden bedroht, das einsetzt sobald die Fiktion nicht mehr zu fesseln, berühren, vibrieren vermag. Damit ist direkt auch eine der wesentlichen Qualitäten der Wesen der Fiktion benannt: Sie »engagieren« ihre Betrachter und subjektivieren sie zugleich, indem es sich teilhaben lässt an der ihnen eingeschriebenen Vibration. »Wer sagt ›Ich liebe Bach‹ wird zum Teil das Subjekt, das fähig ist, diese Musik zu
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lieben […]. Wenn er davon ergriffen wird, so geschieht das keineswegs, weil er seine pathetische Subjektivität auf diese Musik projiziert, sondern weil das Werk verlangt, daß […] er teilhat.« (Ebd.: 341) Fiktionen sind, und das unterscheidet sie vor allem vom Modus der Technik, flüchtig. Das macht ihre Existenz prekär, denn anders als im Fall der Technik gelingt es den Wesen der Fiktion nicht, vergangene Handlungen von zeitlich entfernten Aktanten als materialisierte Intention an einem spezifischen Ort auf Dauer zu stellen und so eine Handlung in einem raumzeitlichen Gefüge aufzubewahren. Latour beschreibt diese nach Existenzweise unterschiedliche Organisation von Raum, Zeit und Aktanten als je spezifische Faltungen. Im Modus der Technik kann es gelingen, die Intention eines menschlichen Akteurs auf das Material zu übertragen und so zeitlich auf Dauer zu stellen: »Das Geländer, das Sie daran hindert, in die Leere eines Abgrundes zu stürzen, fährt damit fort, Sie mit seinen Stahlpfosten zu schützen, ob Sie es wollen oder nicht.« (Ebd.: 351) Der Schutz vor dem Absturz geht also weder vom Fallenden aus, der gehalten wird ob er will oder nicht, noch vom Erbauer des Geländers, sondern vom geschmiedeten Material selbst.2 Die Wesen der Fiktion können jedoch nicht auf ihr Material reduziert werden, denn es ist gerade die Unterscheidung von Material und Figur durch den Leser, Betrachter oder Zuhörer der Wesen der Fiktion, die dessen Erleben zur Existenzbedingung der Wesen der Fiktion macht (und nicht die Intention eines Urhebers). »Dieses da [die Erzählung, SF] müssen Sie lesen, und Sie müssen es halten lassen, indem Sie es mit ihren Kenntnissen und Emotionen aufladen.« (Ebd.: 351) Ein Stahlgeländer bleibt auch im einsamen Tal bestehen, eine nicht gelesene Odyssee Homers hört auf zu sein. »Die Fiktion ist nicht fiktiv im Gegensatz zur »Realität« […], sondern weil es genügt, daß die Erschütterung derer, die es mitreißt, aufhört, damit das Werk gänzlich verschwindet. […] Niemand schlägt mehr diesen Bergweg ein, und dennoch ist das Stahlgeländer immer noch da […]. Die Abwesenheit des Lesers von Homer verschluckt das Werk.« (Ebd.: 352) Was übrig bleibt, wenn das Vibrieren im menschlichen Betrachter ausbleibt, sind Wesen der Technik im Sinne technischer Objekte: Materialien, die bestimmte Intentionen oder Potentiale in sich tragen, »zusammengerollte Leinwände, nutzlos gewordenes Zubehör, Paletten mit verkrusteten Farben […]« (ebd.). In diesem Sinne gehen die Wesen der Technik als Objekte den Wesen der Fiktion voraus, aber sie sind grundverschieden. Ein Instrument bringt Musik hervor, die gehört werden kann. Aber es ist nicht die Musik. Diese lose und flüchtige Verbindung zwischen Fiktion und Material bedeutet jedoch nicht, dass den Wesen der Fiktion eine kürzere Lebensdauer beschieden sein muss als jenen der Technik. Homers Odysseus hat das Schmieden, Rosten und Zerfallen 2 | Für den Modus der Technik [TEC] vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Emanuel Herold im vorliegenden Band.
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mehrerer Generationen von Stahlgeländern unbeschadet überstanden. Seine Existenz beruht nur weniger auf materialen Voraussetzungen als auf der Ergriffenheit seiner Leser, die durch ihn als Lesende hervorgebracht werden und ihn so zugleich durch die Jahrtausende weiter existieren lassen. Während damit vor allem die Wirkung der Wesen der Fiktion beschrieben wird, aus der auch ihre Flüchtigkeit hervorgeht, steht eine genauere Bestimmung ihrer Erscheinungsformen noch aus. Zunächst scheinen Latours Ausführungen nahezulegen, dass es sich stets um Kunstwerke handelt. Seine Beispiele verhandeln ausnahmslos widerspruchsfrei kanonisierte Werke aus Literatur und bildender Kunst, von Bach über Homer bis zur Zauberflöte Mozarts (einziger Verweis auf ein populärkulturelles Wesen der Fiktion ist die Erwähnung der Fernsehserien Friends und etwas verklausuliert West Wing [vgl. ebd.: 340]). Dennoch will Latour die Wesen der Fiktion nicht auf das gesellschaftlich akzeptierte Feld der Kunst und ihrer Werke beschränkt wissen, sondern sieht die Wesen der Fiktion immer dann instauriert, wenn symbolische Realitäten figurieren. Das heißt aber nicht weniger, als dass alle Existenzweisen die Fiktion teilweise vereinnahmen und in ihre eigenen Gelingensbedingungen »einfalten«. Gottesbilder, kollektive Identitäten, die Vorstellung alles umschließender Gravitationswellen und alles verbindender Gottesteilchen oder die symbolische Funktion territorialer Grenzen sind Momente der Fiktion, die keinen Werkcharakter haben. »Ohne die Figuration ist keine Politik möglich – wie ließe sich die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe erklären? [FIK ∙ P OL] Keine Religion – welches Gesicht gäbe man Gott, seinen Thronen, seinen Heerscharen, seinen Engeln und Heiligen? [FIK ∙ R EL]« (Ebd.: 353)
Aber nicht nur im Bereich der symbolischen oder metaphorischen Vorstellungen werden Fiktionen zum notwendigen Bestandteil der Konstitution von Wirklichkeit in anderen Existenzmodi. Auch die Organisation des Alltags ist laut Latour durch Fiktionen durchzogen, etwa wenn zwei Freunde sich für den kommenden Tag telefonisch verabreden. Die in die Zukunft gerichtete Imagination ihrer selbst als sich Treffende macht beide zu Figuren einer Geschichte, deren Handlungsverlauf sie bis zu dem in der Zukunft liegenden Treffpunkt folgen und zu deren Figuren sie in diesem Prozess werden (vgl. ebd.: 528 f.). Diese Logik der Faltung funktioniert zudem in beide Richtungen: Nicht nur andere Existenzweisen beziehen Wesen der Fiktion ein, umgekehrt kann die Fiktion sich Wesen der anderen Existenzmodi zu Eigen machen, indem es sie in dem Vibrieren der Unterscheidung von Material und Form einfängt: »Wenn wir eine Gebirgslandschaft »spektakulär« finden, so liegt das daran, daß wir die Wesen der Reproduktion erfassen [REP ∙ F IK], als wäre deren Arrangement ein Werk, das
Im Liechtenstein des Denkens einen virtuellen Arrangeur um sich herum projizierte, der für uns, als virtuelle Betrachter, sukzessive Ebenen angeordnet hätte, von denen jede die Rolle des Materials für eine Form spielte, die sich nicht davon lösen kann.« (Ebd.: 353)
In diesem Sinne kann dann wirklich alles »ästhetisiert« (ebd.: 353) werden: nicht nur die Landschaft, auch die Karte von ihr, die Architektur eines Ortes oder die politische Demonstration auf dem Marktplatz. Das ist kein wirklich neuer Gedanke, die ästhetische Theorie kennt ihn spätestens seit Kants Kritik der Urteilskraft, also bereits aus einem der verantwortlichen Urdokumente für die gescholtene moderne Vernunftfixierung. Was hier jedoch deutlicher wird als durch die anderen Beispiele, ist, dass die Fiktion nicht mit der institutionell etablierten »Kunst« in der modernen Gesellschaft in eins gesetzt werden kann, sondern als prinzipiell allgegenwärtiger Existenzmodus die Welt in Vibration zu setzen vermag. Unklar ob dieses Anspruches bleibt, warum Latour das Erleben im Modus der Fiktion gleichsam wiederum an die Fiktion des Autors, oder der Künstlerin bindet, auf den der »virtuelle Arrangeur« verweist. Wenn der Hiatus der Fiktion das im Betrachter ausgelöste Vibrieren der Unterscheidung von Material und Form ist, gehört der Autor eigentlich nicht zwingend zu den Gelingensbedingungen. Die Landschaft bedarf nicht der Fiktion eines verantwortlichen Arrangeurs um Auslöser eines ästhetischen Erlebens zu sein – es sei denn, man setzt diesen Modus des Erlebens in eins mit der Vorstellung intentional geschaffener Kunstwerke. Auch an anderer Stelle beschreibt Latour die schöpfende, instaurierende Rolle der Urheber – zwar mit dem Ziel, deren Deutungshoheit abzuschwächen, aber dennoch als konstitutive Momente des »Sich-in-Existenz-bringens« der Wesen der Fiktion: »Es gibt zweifellos eine Exteriorität bei diesen Wesen, die sich uns aufzwingen, nachdem sie sich denen aufgezwungen haben, die sie instauriert haben und die im Übrigen ihnen gegenüber eher die Rolle von Mandanten als von »Schöpfern« spielen.« (Ebd.: 340) Wo ein Werk, da ein Autor. Das wiederum reiht die Wesen der Fiktion dann doch wieder recht widerstandslos in die eingehegten Konventionen der Kunst ein. Es bleibt unklar, warum die Existenzweise der Fiktion dieser Mandanten oder gleichsam fiktiven Arrangeure bedarf, denn wirklich notwendig scheinen sie insbesondere nicht für das, was folgt: Die Kreuzung der Modi Fiktion [FIK] und Referenz [REF] als jener Knotenpunkt, aus dessen Verbindung sich unsere Vorstellung der Welt als ganzer speist. »Es gibt keine andere Welt jenseits und keine andere Welt diesseits, sondern das doppelte Absenden der Fiktion und der Referenz.« (Ebd.: 354) So wie die Wesen der Fiktion nicht ohne ihre materiale Verankerung gedacht werden können, sei diese aus Steinen, Worten oder Tönen, können die Wesen der Referenz, die wir gewohnt sind kurzzuschließen, mit der naturwissenschaftlich verbrieften »wirklichen Wirklichkeit« nicht ohne Fiktionen existieren.
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Sina Farzin »Einerseits kann keine Referenzkette aufgebaut werden ohne eine Erzählung, die von Wesen bevölkert ist, die nur aus der Fiktion kommen können. Wie sollte man von fernen Galaxien sprechen, von den Elementarteilchen der Materie […] ohne über Charaktere oder Figuren zu verfügen, die in der Lage sind, Abenteuer durchzumachen?« (Ebd.: 354) 3
Dass Natur- und Geisteswissenschaftler immer auch Geschichten in ihren Arbeiten erzählen, dass ihre Forschungsberichte plots folgen, Figuren auftreten und Spannungsbögen die Leser bei der Stange halten und Metaphern abstrakte Aussagen mit Anschaulichkeit ausstatten, ist mittlerweile auch, aber bei weitem nicht nur durch Latours Arbeit gut belegt. Die linguistic, narrative und rhetorical turns der vergangenen Jahrzehnte haben das Register fiktionalisierender Elemente in der doch eigentlich so stark auf Objektivität und Nüchternheit pochenden Sprache der Wissenschaft in allen Facetten durchleuchtet, ebenso wurde die Evidenzerzeugende Kraft von Bildern und Illustrationen untersucht. Dennoch unterscheidet sich diese Faltung der Wesen Fiktion in die Existenzweise der Referenz vom Modus der Fiktion selbst, denn die so vereinnahmten Wesen sind nur Mittel zum Zweck, die dann wieder in die Referenzketten der wirklichen Wirklichkeit und ihrer methodisch kontrollierten Erfassung eingegliedert werden müssen. Auch wenn Erzählungen, Bilder oder Imaginationen durchaus das Basismaterial beider Existenzweisen sind, müssen die Fiktionen der Referenz »[…] domestiziert, diszipliniert von den Referenzketten, an den häuslichen Herd zurückkehren, um uns das Ferne zu »rapportieren« – das sie darüber hinaus auch noch in einem verifizierbaren und gemeinsamen Bericht vereinigen sollen« (ebd.: 355). Spätestens hier wird deutlich, dass die Faltung der Wesen der Fiktion in andere Existenzweisen nicht gleichzusetzen ist mit der Existenzweise der Fiktion selbst. Wie im Fall der Referenz sind die Wesen der Fiktion in Politik oder Religion jeweils nur Instrumente im Dienste eines anderen Modus des Weltbezugs. Die Existenzweise der Fiktion genauer zu bestimmen gelingt daher nur über den letzten Punkt im formalen Gerüst, durch das Latour die Existenzweisen bestimmt: die spezifische Alterierung, die sich durch sie Vollzieht. Damit gemeint ist die Veränderung der Welt, die durch den jeweiligen Modus bewirkt wird. Und diese Veränderung der Welt ist im Fall der Fiktion zunächst einfach als deren Vervielfältigung definiert. »Eine Musik fängt an, ein Text wird gelesen, eine Zeichnung nimmt allmählich Gestalt an, und ›schon geht es los‹. Wohin? Anderswohin, in einen anderen Raum, in eine andere Zeit, in eine andere Figur oder Person oder Atmosphäre oder Realität, je nach dem Grad von Wahrscheinlichkeit, von Figuration oder Mimetismus des Werks.« (Ebd.: 349) 3 | Für eine ausführliche Rekonstruktion der Referenz [REF] als Existenzweise vgl. den Beitrag von Lars Gertenbach im vorliegenden Band.
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Die Alterierung ist also im Fall der Fiktion im wörtlichen Sinne die Bereitstellung anderer Zeiten, Räume und Aktanten als jener, die wir im alltäglichen Verständnis der wirklichen Wirklichkeit zuordnen. Diese Vervielfältigung des Anderen beschreibt Latour als räumliches, zeitliches und aktantielles Auskuppeln, das »die Welt mit anderen Geschichten, anderen Orten und anderen Akteuren« (ebd.: 350) bevölkert. Die Alterierung folgt damit einer spezifischen Prozesslogik oder auch Trajektorie, die sich stets auf alle drei Ebenen bezieht und so ständig neue Welten hervorbringt, die andere Zeiten, Orte und Akteure beinhalten als die Welt der wirklichen Wirklichkeit, die stets im Singular verbleibt. Diese Andersheit der Wesen der Fiktion ist aber nicht, Latour wird nicht müde es wieder und wieder zu betonen, auf die Unterscheidung von Phantasie und Realität zurückzuführen. Es geht ja gerade darum, den Existenzmodus der Fiktion als ebenso ›real‹ oder besser: seiend zu verstehen wie den Existenzmodus der Referenz, von dem wir gewohnt sind, dass er auf »etwas Wirkliches« verweist. In diesem Sinne ist das Auskuppeln nicht das Auskuppeln aus etwas vorgängig Vorhandenem, also nicht die Bereitstellung von alternativen Welten durch die Phantasie in einer festgelegten tatsächlichen Welt. Die Vervielfältigung durch die Alterierung der Fiktion bezieht sich auf diesen Seinsmodus selbst, der nicht von einer Vorlage abweichende Kopien erstellt, sondern sozusagen die Möglichkeit mehrerer Originale schafft. »[…] Präsident Bartlett4 hat das Weiße Haus lange Zeit mit mehr Realität bewohnt als sein blasser Doppelgänger George W. Bush […].« (Ebd.: 340 f.) Damit ist das formale Gerüst, entlang dessen Latour seine Existenzweisen entwickelt, für den Fall der Fiktion rekonstruiert: Die spezifische Art der Unterbrechung, der Hiatus, der die Fiktion von anderen Existenzweisen unterscheidbar macht, ist das Vibrieren der Unterscheidung von Material/Form. Das Gelingen der Fiktion ist damit abhängig von einem menschlichen Subjekt, das durch die Betrachtung eines Objektes im Modus der Unterscheidung Material/Form hervorgebracht wird. Entsteht in diesem Moment eine vibrierende Beziehung zwischen dem Objekt und dem Betrachter, entsteht Fiktion und schreibt sich fort. Das immer wieder im Akt der Rezeption erneuerte und nur dadurch anhaltende subjektive Erleben und Berührtsein wird so zur Gelingensbedingung der Fiktion. Daher entstehen die Wesen der Fiktion als Kunstwerke, Formen oder Sendungen erst im Moment einer aktiven, Sinn erzeugenden Beziehung zu einem betrachtenden Gegenüber, der sie weder als reines Material noch als reine Form verstehen darf. Die Alterierung der Welt, die so nur im Modus der Fiktion möglich wird, ist ihre imaginäre, aber dennoch auch wirkliche Vervielfältigung. Im Prozess (Trajektorie) der dreifachen Auskupplung 4 | Latour spielt hier vermutlich auf die Figur des Josiah Bartlet an, die in der US-amerikanischen Fernsehserie West Wing (1999–2006) das Präsidentenamt innehat und deren Name wiederum eine Referenz an den amerikanischen Politiker Josiah Bartlett ist, der 1776 zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung gehörte.
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von Zeit, Raum und Aktant stellen die Wesen der Fiktion vielfältige alternative Weltentwürfe zur Verfügung, die einen eigenen Existenzmodus behaupten. Warum, so scheint Latour abschließend im Kapitel zur Fiktion zu fragen, fällt es nun den Modernen so schwer, die Fiktion als eine eigenständige Wirklichkeit, als Existenzweise anzuerkennen? Die Antwort überrascht wenig und führt zurück zum wissenschaftstheoretischen Exkurs zu Beginn des Abschnitts. Wir betreten erneut das begrenzte Liechtenstein des Denkens, oder, weniger diskriminierend für die Liechtensteiner formuliert: die moderne Wissenschaft. Dass die Modernen so hartnäckig den Fiktionen ihren Wirklichkeitsstatus im Sinne der objektivierbaren primären Qualitäten absprechen und ihnen höchsten eine nachrangige Existenz im Sinne einer abgeleiteten, symbolischen Wirklichkeit zugestehen, ist einerseits das direkte Resultat der Trennung von primären und sekundären Qualitäten. Denn Fiktionen können nicht in der Weise erfasst und validiert werden, wie es die Existenzweise der Referenz zur Bestimmung ihrer Objekte und Aussagen vorsieht (es sei denn in dem erwähnten Sinne der Faltung, durch welche die Fiktionen aber als Instrumente im Modus der Referenz gefangen bleiben) »[…] – man wird die Geburtsurkunde von Madame Bovary nicht im Schreibtisch von Flaubert finden […]« (ebd.: 356). Andererseits nennt Latour aber noch mindestens zwei weitere Aspekte, die zu dieser asymmetrischen Trennung beigetragen haben und die innerhalb der Existenzweise der Fiktion bzw. an ihren Kreuzungspunkten mit der Referenz angesiedelt werden können: Erstens ergibt sich aus der Schnittmenge gleicher Instrumente des Weltbezugs (oder besser: der Welterzeugung), im Rahmen der Entwicklung naturalistischer und mimetischer Kunstprogrammatiken, durch den geteilten Materialbezug die Vorstellung, in Kunst und Wissenschaft habe man es mit einer identischen Welt zu tun, die es nur adäquat zu repräsentieren gälte. Perspektivberechnungen, Lichtmessungen und Projektionstechniken auf Leinwand und Papier werden »zu guter Letzt den Künstlern wie den Wissenschaftlern das Gefühl geben […], daß sie ›dieselbe Welt‹ erkunden, die sich ihnen gegenüber befindet und die sie für ein Schauspiel halten, das man durch ein Fenster erblickt« (ebd.: 357). Damit führt Latour die moderne Vorstellung einer singulär repräsentierbarbaren Welt zunächst auf mimetische, naturalistische oder realistische (da legt er sich nicht fest) Kunstvorstellungen zurück, die dann gleichsam durch die Wissenschaft im Modus der Referenz adaptiert werden. »Als ob die Welten der Kunst ihre Epistemologie oder vielmehr ihre Ästhetik denen der Wissenschaften aufzwängen… Die Wissenschaftler fangen an, die erkannte Welt nach dem Modell zu denken, welches ihnen im selben Moment eine sogenannte ›realisitische‹ Malerei vorschlägt. […] Es taucht die Idee auf, daß die wirkliche Welt, die von den Wissenschaften beschriebene, fast genau der gleicht, welche die Gemälde malen, insofern es ein zu beschreibendes Original gäbe und eine Kopie, die ihm treu sein müsste.« (Ebd.: 358)
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Damit wird die eingangs eingeführte Unterteilung der Welt nach primären und sekundären Qualitäten zurückgeführt auf ein künstlerisches Darstellungsprogramm, dass in besonderer Weise an der Kreuzung von Fiktion und Referenz in die Existenzweise der Referenz übersetzt und so objektiviert wurde. »Die ›erkannte Welt‹ ginge aus einer Ästhetisierung der Wissenschaften hervor!« (Ebd.: 358) Und diese Ästhetisierung der Wissenschaften ist nichts anderes als der Kurzschluss der wirklichen Wirklichkeit mit der symbolischen Wirklichkeit, ein Missverständnis, dass die Idee einer gemeinsamen, geteilten Wirklichkeit zwischen Referenz und Fiktion verabsolutierte, anstatt sie als historisch zufälligen Sonderfall beliebig anders kreuzbarer, eigener Existenzweisen zu begreifen. Die Geisteswissenschaften wählten aus dieser Zwangslage des Symbolischen zunächst den Ausweg, die Beziehung der Elemente des Symbolischen aufzulösen. Das Bezeichnende wurde aus der Zwangsumklammerung eines immer schon scheinbar objektiv vorhandenen Bezeichneten gelöst. Die Urgeste des linguistic turns reagiert genau auf diese Vorfestlegung: Sie trennt das vormals als natürlich gegeben gedachte Band zwischen Signifikant und Signifikat. Ihre Beziehung ist nun nicht mehr das Ergebnis einer objektiven Vermessung und Erfassung des Signifikats, sondern arbiträr, bestimmt vor allem durch das Verhältnis der Signifikanten zueinander. Damit wird das Primat der »wirklichen Wirklichkeit«, definiert durch die lückenlosen Referenzketten der positivistischen Wissenschaft, jedoch laut Latour nicht aufgehoben, sondern einfach verdrängt durch das endlose Spiel der Signifikanten. Was verlorenging und verloren bleibt ist die Möglichkeit, die symbolischen Zeichen in ihrer ganzen Sinnhaftigkeit als Ausdrücke anderer, multipler Existenzweisen zu begreifen. »Die Sprache wird ein isolierter Bereich […]. Dann findet man sich, in der Tat, mit einem vom Sinn entleerten Zeichen wieder, welches das wieder einzuholen sucht, was es flieht, und da es dies nicht vermag, sich damit abfindet, sich an ein anderes Zeichen zu heften, um zu versuchen, trotz allem Welt zu bilden […].« (Ebd.: 363)
Damit aber entleeren die Geisteswissenschaften ihre Zeichen ebenso jeglichen Sinns oder jeglicher Bedeutung jenseits der Verschiebungen der Signifikanten, wie auch die Naturwissenschaften ihren Gegenstände jegliche Bedeutung jenseits der methodisch-systematischen Erfassung abschlagen. Latour beendet daher seine Ausführungen zur Fiktion mit einem Plädoyer für eine Reartikulation des Verhältnisses von Welt und Wort, das die Modernen aufgelöst haben. Nur jenseits der Bifurkation in Welt einerseits und Bedeutung (sens), könnten die Wesen der Fiktion als Sprechende anerkannt, die von anderen Welten Wahres zu berichten wüssten. »Alles läuft, alles fließt in dieselbe Richtung (sens), die Welt und die Worte. Kurz, die Wesen äussern sich und aus diesem Grund sind wir hin und wieder fähig, in Wahrheit von etwas zu sprechen […].« (Ebd.: 363)
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2. D iesseits und J enseits L iechtensteins Bis hierher haben wir uns eng an die Fersen der Latourschen Argumentation geheftet, um zu verstehen, was die Existenzweise der Fiktion ausmacht. Diese Übung in Rekonstruktion war zunächst notwendig, da dieses Kapitel (wie auch andere Abschnitte des Buches) sich zunächst kaum erschließt und der Leserin einiges an Dechiffrierbemühungen abnötigt, die einen zwangsweise zweifelnd zurück lassen. Hat man es denn nun verstanden? Bejahen wir die Frage für den Moment, um fortschreiten zu können. Denn wenn man die bis hierhin zusammengefassten Aussagen Latours zur Existenzweise der Fiktion nun wirken lässt, ergeben sich unweigerlich zahlreiche Anschlussfragen und Probleme, von denen nun einige wenige abschließend zumindest benannt werden sollen. Die Diskussion der durch Latour eröffneten Perspektiven in Bezug auf die Existenzweise der Fiktion fällt dabei aus zwei Gründen nicht ganz leicht. Höflich formuliert überlastet Latour seine Leser weder mit wissenschaftlichen Referenzen noch mit konkreten Beispielen (von klassischer Empirie ganz zu schweigen). In etwas weniger diplomatischer Diktion könnte man auch kritisieren, dass er vorgibt, in einem referenz- und anschauungslosen Raum beständig theoretisch unerschlossene Landstriche zu erschließen, sich also weit über das abgezirkelte Gebiet des Herzogtums der Geisteswissenschaften hinauszuwagen. Die Verweigerung, das eigene Denken im Rahmen der wissenschaftlichen Konventionen zu referenzieren und auszuflaggen mag im Rahmen seiner Kritik an den disziplinierenden und ausschließenden Referenzketten wissenschaftlichen Schreibens noch Sinn machen. Die Verweigerung jeglicher Anschaulichkeit oder auch beispielhafter Konkretion (jenseits von einigen Halbsätzen, die fast alle im oberen Abschnitt zitiert wurden) ist aber ärgerlich und angesichts des behaupteten Bedarfs einer neuen Art der Artikulation der Wirklichkeit durch die Wesen der Fiktion nicht nachzuvollziehen. Vielleicht wird das in kommenden Arbeiten nachgeholt werden. Derweil arbeiten wir mit dem, was vorliegt und wollen abschließend einige Anschlussstellen skizzieren und Nachfragen formulieren. Alle folgenden Ausführungen gehen dabei von der Prämisse aus, dass Latour in den Existenzweisen versucht, die verschiedenen Aspekte seines inzwischen ja sehr umfangreichen Werks im Rahmen einer Theorie zu vereinen, die als eine Spielart der Differenzierungstheorie auftritt. Wir können im Rahmen dieses Aufsatzes nicht das genaue Verhältnis zwischen Latours Existenzweisen, Luhmanns Funktionssystemen, Webers Wertsphären oder Habermas’ System und Lebenswelt diskutieren. Folgt man jedoch der Feststellung von Henning Laux, dass Latour in seinen Existenzweisen im Gegensatz zu vielen der zuvor Genannten weniger die Autonomie der einzelnen Bereiche als deren Kreuzungen in den Blick nimmt (vgl. Laux 2014: 274), ergibt sich ein erster
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Schwerpunkt für die folgende Diskussion. Denn das, was Latour im gesamten Kapitel immer wieder umtreibt – das Verhältnis von Fiktion und Referenz – ist in großen Teilen mit der Diskussion um die Trennung von Kunst und Wissenschaft als verschiedene Existenzmodi und Erkenntnisweisen identisch. Die von Latour diagnostizierte fatale Trennung eines wissenschaftlichen Sprechens zur Bezeichnung der »wirklichen Wirklichkeit« und die Domestizierung des literarischen Sprechens als nicht reale »Fiktion« betrifft die Soziologie in besonderer Weise, da sie im Moment der beginnenden Ausdifferenzierung zwischen beiden Formen des Wirklichkeitsbezugs steht (vgl. dazu inzwischen klassisch Lepenies (2002) Untersuchung der drei Kulturen). Das künstlerischliterarische Erbe der frühen Soziologie wird zwar im Zuge der akademischen Disziplinierung zunehmend an den Rand gedrängt, verschwindet aber auch nie ganz aus dem Aufmerksamkeitsbereich des wissenschaftlichen Blicks auf das Soziale. Es wird vielmehr immer wieder zur Projektionsfläche für einen anderen Erkenntnismodus, welcher den engen Grenzen einer als positivistisch-reduktiv empfundenen Perspektive die Möglichkeit eines prinzipiell offeneren und umfassenderen Erkennens gegenüberstellt. »Mit der sauberen Scheidung von Wissenschaft und Dichtung greift die mit ihrer Hilfe schon bewirkte Arbeitsteilung auf die Sprache über. Als Zeichen kommt das Wort an die Wissenschaft; als Ton, als Bild, als eigentliches Wort wird es unter die verschiedenen Künste aufgeteilt, ohne daß es sich durch deren Addition, durch Synästhesie oder Gesamtkunst je wiederherstellen ließe. Als Zeichen soll Sprache zur Kalkulation resignieren, um Natur zu erkennen, den Anspruch ablegen, ihr ähnlich zu sein. Als Bild soll sie zum Abbild resignieren, um ganz Natur zu sein, den Anspruch ablegen, sie zu erkennen. Mit fortschreitender Aufklärung haben es nur die authentischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen.« (Horkheimer/ Adorno 1988: 24)
Auch wenn Latour sich kaum mit dem hier verwendeten Naturbegriff wird anfreunden können: Die von Adorno und Horkheimer beschriebene Möglichkeit »authentischer« Kunstwerke die Trennung der Sprache in einen Bereich der Wahrheit und in einen der Dichtung in einem Moment erweiterter Erkenntnis zu überbrücken, liest sich nur in Nuancen, aber nicht kategorisch anders als Latours Vorstellung der Wesen der Fiktion, die sich in eine andere Form der Wahrheit äußern. Nun schreibt Latour weniger in der Tradition der Kritischen Theorie als mit Blick auf Autoren wie Gilles Deleuze und Felix Guattari, die ohnehin weniger an Gattungsunterschieden interessiert waren als an der Möglichkeit, Philosophie, Kunst und Wissenschaft als jeweils eigensinnige aber nicht hierarchisch angeordnete Formen des Denkens zu begreifen (wobei der Kunst insbesondere ein perzeptiv-affektiver Erkenntnismodus zugesprochen wird, auf den sich auch Latour bezieht, vgl. Deleuze/Guattari 1996: 191 f.).
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Anders jedoch als in den genannten Werken der beiden Autorenduos Horkheimer/Adorno und Deleuze/Guattari zeichnet Latours Argumentation eine merkwürdige Unentschlossenheit aus: Zwar tritt er an, die Existenzweise der Fiktion sowie ihre Wesen genauer zu bestimmen, letzten Endes schweift sein Interesse aber immer wieder weg von den tatsächlichen Werken oder Erzählungen und Imaginationen und hin zur wissenschaftlichen Reflektion ästhetischen Erlebens. Es geht weniger um die Kunst, ihre spezifischen Formen der »Äußerung« und der so ermöglichten Wahrheit im Modus der Fiktion, als um die wissenschaftliche Einhegung, Entwertung und Marginalisierung des Fiktiven. Dabei wünschte man sich häufig mehr über die Bedeutung des Vibrierens im Gegenüber zu erfahren, die so zentral für den Modus der Fiktion ist und in der präsentierten Form häufig an eine recht naive ästhetische Konzeption von »Ergriffenheit« erinnert. Hier scheint oft eher der Wissenschaftsforscher in seinem Furor gegen die Positivierung aller Erkenntnisebenen zu sprechen, denn über die tatsächliche Existenz der Fiktion erfährt man weitaus weniger als über ihr Verhältnis zur Referenz und den wissenschaftsinternen Umgang mit ihr. Die genauere Verhältnisbestimmung zwischen Referenz und Fiktion wiederum treibt Latour vor allem in zwei Bereichen um, die hier kurz skizziert werden sollen, da sie Anschlussmöglichkeiten zu bereits gut etablierten Diskussionskontexten ermöglichen: Einerseits interessieren ihn jene Adaptionsvorgänge, in denen die Wissenschaft Fiktionen verwendet und im Rahmen ihrer eigenen Referenzketten zugänglich macht. Andererseits – und das ist der einzige, wenn auch vage formulierte, Verweis auf eine konkrete künstlerische Epoche oder zumindest Form, beschäftigt sich die epistemologische Verbindung von Fiktion und Wissenschaft bei der Entwicklung der modernen Idee der Repräsentation und ihrer epistemologischen Folgen. Zunächst zum ersten Punkt: Wie bereits dargelegt, können für Latour Fiktionen prinzipiell in andere Existenzweisen einbezogen oder gefaltet werden. Sie versorgen politische und andere Kollektive mit einer Erzählung von Identität, stellen Götter, Engel und Teufel zur Verfügung oder verwandeln abstrakte Forschungsideen in Aktanten, die auch sinnlich vorstellbar sind. Trotz dieser Allgegenwart von Fiktionen betont Latour jedoch, dass diese Einbruchstellen des Fiktiven in den Bereich der »wirklichen Wirklichkeit« und anderer Existenzweisen wie der Religion stets durch diese Existenzmodi domestiziert werden und so nicht im vollen Sinne der Fiktion existieren, da sie gleichsam instrumentalisiert werden. Das ist eine erstaunlich eindeutige Definition der Fiktion, die so etwas wie einen Bereich der »reinen« Existenz der Fiktion gegenüber einem diffusen Zugriff auf fiktive Fragmente im Modus anderer Existenzformen abgrenzt. Ausgeführt hat Latour selbst das an anderer Stelle vor der Einführung des Fiktiven als Existenzweise wiederum am Beispiel der Wissenschaft. Seine Arbeiten zur Bedeutung rhetorischer und narrativer Elemente in
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wissenschaftlichen Texten reihen sich ein in einen breiten Diskussionskontext zur rhetoric of science (Latour/Fabbri 1977; Dear 1991). Im Rahmen dieser, vor allem im angloamerikanischen Raum geführten Auseinandersetzung mit der persuasiven Wirkung stilistischer und narrativer Elemente in vordergründig um Objektivität bemühten wissenschaftlichen Schriften, rückte die textuelle Vermitteltheit jeder Form von Wissen in den Fokus. Dabei spielen bestimmte Metaphern oder Narrative eine entscheidende Rolle, sind aber stets nur Erfüllungsgehilfen bei der erfolgreichen Konstituierung neuer »Fakten«. In diesem Sinne spricht Latour daher auch in den Existenzweisen von durch die Referenz domestizierten oder jederzeit wieder einholbaren Fiktionen. Es fällt – auch angesichts der fehlenden Beispiele – schwer, sich demgegenüber die reine oder ungebundene Fiktion anders als in der Erscheinungsform der modernen, autonomen Kunst vorzustellen, sind doch alle anderen Erscheinungsformen wie Gottesbilder oder die Vorstellung zu einem Volk zu gehören, recht klar mit anderen Existenzmodi (in diesen Fällen Religion und Politik) verwoben. In der allgemeinen Erzähltheorie, die in den vergangenen Jahren immer stärker in eine allgemeine Kulturtheorie überführt wurde (vgl. anstelle vieler Koschorke 2013), werden die Aneignungen und Wirkungen dieser Fiktionen in allen Bereichen des sozialen Lebens zum Gegenstand. Ohne dabei hier auf die einzelnen Befunde eingehen zu können, wird in diesen Arbeiten deutlich, dass sich eine klare Trennung zwischen zweckfreier Literatur und auch politisch, religiös oder wissenschaftlich Resonanz erzeugenden Werken kaum vornehmen lässt und letzten Endes höchstens taugt, um verschiedene Rezeptions- und Aneignungskontexte empirisch zu beobachten. Diese Unentschlossenheit gegenüber dem Fiktiven, die es einerseits als verbindendes Element aller anderen Existenzweisen ausweist und es andererseits immer wieder mit einem klar umrissenen Bereich der Kunst (wenn auch in den spärlichen Randbemerkungen erweitert um popkulturelle Bezüge) kurzschließt, durchzieht das gesamte Kapitel. Dabei gibt es nur eine Stelle, an der ein relativ eindeutiger Bezug auf die spezifischen Auswirkungen der Fiktion auf die Wahrnehmung der Welt sowie den Weltbezug eines anderen Existenzmodus mehr als nur angedeutet wird. Wieder geht es um das Verhältnis zur Wissenschaft, wenn Latour der Fiktion eine gewisse »Mitschuld« an der modernen Durchsetzung der Idee einer geteilten, objektiven Welt gibt, die es mit den Mitteln der Wissenschaft ebenso wie mit den Mitteln der darstellenden Kunst nur noch zu vermessen und repräsentieren gälte. Das ist eine interessante Engführung, denn die mimetische oder auch naturalistische Malerei, die Latour im Blick hat, stellt ja nur eine zeitlich begrenzte Richtung im großen Strom künstlerischer Programme und Stile dar. Warum gerade diese Idee eine derartige Durchschlagskraft entwickelt, bleibt unklar, vermutlich zielt Latours Argument auf eine Art Resonanzverstärkung zwischen den Existenzmodi der Fiktion und der Wissenschaft, indem sich beide immer wechselseitig in dem
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»Missverständnis« bestärken, man beobachte dieselbe Welt. Dass man dieselbe Ausgangsfiguration auch ganz anders interpretieren kann, führt ein anderer Differenzierungstheoretiker vor, der eher für sein Interesse an Grenzen, denn an Überschneidungen bekannt ist. Auch Niklas Luhmann sieht in der Entdeckung, oder besser, Rekonstruktion der Perspektive durch die Kunst eine Vorbedingung für die Entwicklung der modernen Wissenschaft. Anders aber als Latour ist dieser Moment der mimetischen Malerei nur der erste Schritt zu der ebenfalls zuerst in der Kunst artikulierten Einsicht, dass jeder Weltbezug abhängt vom je spezifischen Beobachterstandort, ja sogar, dass jeder Beobachter die Welt zunächst subjektiv konstruieren muss, um sich auf sie beziehen zu können. Den zweiten Teil dieser Einsicht ermöglichen die Literaten, deren Romane den Lesern die unbeobachtbaren Innenwelten und Weltsichten ihrer Figuren vorführen. »Im Entwickeln und Etablieren von Weisen der Beobachtung, die sich darauf kaprizieren, zu beobachten, was andere nicht beobachten können, hat offenbar die Kunst eine Vorreiterfunktion wahrgenommen. Der erste deutliche (anders nicht mögliche) Fall scheint die Entdeckung der Zentralperspektive und ihre Umsetzung in Konstruktionsanweisungen gewesen zu sein […]. Erst seit gut zweihundert Jahren findet das Problem der Latenz mehr und mehr Aufmerksamkeit, aber man hat den Eindruck einer illegitimen Geburt. Es ist das natürliche Kind der Epistemologie, dem aber nicht erlaubt wird, in die Familie einzutreten und sie fortzusetzen. Die Möglichkeit zu beobachten, was andere nicht (und zwar: konstitutiv nicht) beobachten können, ist als ein uneheliches Kind von Wissenschaft und Literatur auf die Welt gekommen, nämlich mit dem Roman des 18. Jahrhunderts […]. Der Leser gewinnt Einblicke in die Motivstruktur der Helden, die diesen selbst verschlossen sind.« (Luhmann 1990: 90)
Es ist ein bezeichnendes Indiz für die Differenz zwischen diesen beiden Großtheoretikern der Gegenwart, dass sie vom selben historischen Moment ausgehend zu so gegensätzlichen Befunden kommen: Dem einen schrumpft die Welt im Fadenkreuz der Zentralperspektive zum künstlich festgezurrten, unverrückbaren Gegenüber (Latour). Dem anderen eröffnet die Entdeckung der Perspektive einen lange Zeit nur in der Kunst möglichen Denkraum, der viele Weisen der Weltbeobachtung nebeneinander bestehen lässt (Luhmann). Was beide eint, sind das Interesse für Formen des Wissens oder auch der Welterkenntnis, die so nur in Kunst möglich sind und die Frage danach, was dieses Wissen für andere Formen des Weltbezugs bedeutet. Inwieweit Latour nun über seine Forderung, die Fiktion in ihrer eigenen Wirkung und materiellen Existenz ernst zu nehmen, tatsächlich einen neuen Zugang zu ihr ermöglicht oder ob er nicht in gewisser Weise selbst der Idee einer klar institutionalisierten Kunst verhaftet bleibt, müssen weitere und vor allem konkretere Diskussionen klären. In der vorliegenden Form bleibt neben interessanten aber vagen Andeu-
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tungen vor allem der Eindruck, dass Latour selbst zu sehr aus der Perspektive des Geisteswissenschaftlers spricht, den der Bereich der symbolischen Realitäten eher als Bestandteil eines wissenschaftlichen Erkenntnisprogramms denn als eigener Existenzmodus fasziniert. Die grenzenlose Welt des Fiktiven jenseits von Liechtenstein gälte es demnach noch auszuloten.
L iter atur Dear, Peter (1991): The Literary Structure of Scientific Arguments, Philadelphia: University of Pensylvania Press. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (1996): Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1988): Die Dialektik der Auf klärung, Frankfurt a. M.: Fischer. Koschorke, Albrecht (2013): Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M.: Fischer. Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin: Suhrkamp. Latour, Bruno/Fabbri, Paolo (1977): »La rhétorique de la science. Pouvoir et Devoir dans un article de science exacte.« Actes de la Recherche en Sciences Sociales. 13, S. 81–99. Laux, Henning (2014): Soziologie der Existenzweisen: Bruno Latour. In: Jörg Lamla/Henning Laux/David Strecker/Hartmut Rosa (Hg.) Handbuch der Soziologie, Konstanz: UVK, S. 261–279. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lepenies, Wolf (2002): Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Fischer.
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[NET] Erkundung des Netzwerk-Modus Bruno Latours Entwurf im Lichte der neueren nordamerikanischen Netzwerkforschung Marco Schmitt Bruno Latour vertieft seine Analyse der »Modernen« mit dem Vorschlag einer Differenzierungstheorie, in der er Existenzweisen oder »Modes of Existence« unterscheidet. Während er in früheren Auseinandersetzungen häufig einzelne Aspekte der Reinigung und Unterdrückung von Aktanten durch den Sprachgebrauch der Modernen ins Zentrum gerückt hat und mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) einen Gegenentwurf vorgelegt hatte, der es ermöglicht, den beteiligten Aktanten und ihren Transformationen zu folgen, spüren die Existenzweisen nun diesen Transformationen in den unterschiedlichsten Bereichen gesellschaftlicher Relevanz nach. Damit entsteht eine Differenzierungstheorie, die man einerseits ANT-affin nennen könnte, die andererseits aber auch die Diskussion öffnet, um Latours Entwurf mit anderen Differenzierungstheorien zu vergleichen. Zugleich stellt sich aber nun die Frage, was denn mit dem wichtigen Konzept des Netzwerks geschehen soll, dem die ANT doch bei ihrer Entlarvung des kurzschlüssigen Sprachgebrauchs der Modernen einen recht breiten Raum eingeräumt hat. Diese Frage stellt sich vor allem dann, wenn klar wird, dass der Netzwerkbegriff häufig in eine Opposition zu gesellschaftlichen Differenzierungstheorien gerückt wird. So werden soziale Netzwerke vielfach als Strukturen verstanden, die gesellschaftliche Differenzierung untergraben (Systemtheorie) oder es wird betont, dass Netzwerke keine Grenzen kennen und solche Grenzen für das Netzwerk immer etwas Äußeres darstellen (Netzwerkforschung). Um die Pointe bei Latour gleich vorweg zu nehmen, stellt sich der Netzwerk-Modus, ganz im Einklang mit seiner früheren Argumentationslinie, als eine eigene Existenzweise dar, als eine eigenständige soziale Differenzierungsform, die vor allem dann in Erscheinung tritt, wenn eindeutige Differenzierungen und klare Zurechnungen sich nicht ergeben. Gleichzeitig ist er jedoch
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eine von zwei Grundlagen der Ausbreitung unterscheidbarer Operationsketten, da er es ermöglicht, heterogene Elemente überraschend zu verbinden. Latour wirft in diesem Zusammenhang eine interessante Problemstellung auf: Netzwerke qualifizieren keine spezifischen Werte (vgl. Latour 2014: 75 f.). Alles kann in Netzwerken verbunden werden. Dies macht Netzwerke auf der einen Seite so nützlich und universell einsatzfähig, beschränkt aber zugleich ihre Fähigkeit den sozialen Sinnverarbeitungsprozessen zu folgen, die ja immer auch auf »funktionierenden« Institutionen basieren. Ein Ziel des Latourschen Unternehmens in den Existenzweisen ist es, genau diese Institutionen wieder in ihr Recht zu setzen und zu verstehen, wie und warum sie funktionieren. Interessant an dieser Beobachtung ist, dass dieses Problem auch in der nordamerikanischen Social Network Analysis (SNA) und vor allem in der auf ihr gründenden Theorie von Identität und Kontrolle (TIK) von Harrison White aufgefallen ist. Neben der Inklusion dynamischer Netzwerkveränderungen ist die Verbindung von Netzwerkansätzen mit kultursoziologischen und bedeutungsbezogenen Fragestellungen eine zentrale Domäne der Weiterentwicklung der Netzwerkforschung. Wir wollen also hier den Versuch unternehmen, den Netzwerk-Modus von der Seite Latours wie von der Seite der neueren, eher analytischen Netzwerkforschung anzugehen, um zu schauen, ob es sich lohnt, hier eine gemeinsame Grundlage beider Forschungsbemühungen herauszuschälen, die sich gegenseitig befruchten können und zu einer Weiterentwicklung stark relationaler Ansätze beitragen. Dazu werden zunächst die zentralen Merkmale der jeweiligen Netzwerkbegriffe herausgearbeitet, um eben dieses Fundament stärker in den Blick zu bekommen. Von dieser Grundlage aus wenden wir uns dann stärker dem Problem der sinnhaften Grenzen, Wertordnungen und Institutionen zu. Denn wir wollen hier Latours Argument folgen, dass diese Problemstellungen auf ganz enge Weise konzeptuell zusammenhängen. Es wird also darauf ankommen, diesen Zusammenhang darzustellen und jeweils aufzuzeigen, was dies für den Netzwerk-Modus bedeutet. Schließlich wird es darum gehen, ob relationale Differenzierungsmodelle tatsächlich in der Lage sind, den inhärenten Mangel des Netzwerkbegriffs aufzulösen. Wir wollen mit einem spezifischen Vergleich der Differenzierungsmodelle von Latour und Harrison White schließen, der auch eine Verortung des Vorschlags von Latour aus der Perspektive der nordamerikanischen Netzwerkforschung ermöglichen soll. Dieser Quervergleich erscheint aus mehreren Gründen angebracht und sinnvoll. Erstens besteht der begründete Verdacht, dass beide Ansätze an einer gemeinsamen Problemstellung arbeiten und von geteilten Prämissen ausgehen. Zweitens stellen die Ansätze unterschiedliche Merkmale von Netzwerken und damit dem Netzwerk-Modus heraus (generalisierbare Formen und Positionen vs. Heterogenität und Transformation durch Assoziation), die sich jedoch in ihrer analytischen Perspektive ergänzen. Und schließlich hilft der Vergleich
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drittens dabei zu verstehen, warum es sich beim Netzwerk-Modus um einen universellen Baustein sozialer Zusammenhänge handelt und welcher Ergänzungen er bedarf, um eine relationale Differenzierungstheorie zu ermöglichen.
1. D er N e t z werkbegriff in L atours E xistenz weisen und in der neueren N e t z werkforschung a) Der Netzwerk-Modus Konzentrieren wir uns zunächst auf die Darstellungen des Netzwerk-Modus im Existenzweisen-Buch, so können wir feststellen, dass er in starker Anlehnung an das von Latour selbst früher ins Spiel gebrachte Akteur-NetzwerkKonzept eingeführt wird. Dies geschieht im Rahmen eines Gedankenexperiments, in dem eine Ethnographin versucht, die Institutionen der Modernen zu verstehen (vgl. Latour 2013: 28 ff.). Anstatt sich an die vorgegebenen Grenzen der von den Modernen ausgezeichneten Domänen, wie Wissenschaft, Recht oder Wirtschaft zu halten, erlaubt es der Netzwerkbegriff den Assoziationen zwischen heterogenen Elementen einfach zu folgen. Er zieht keine vorhergehenden Sinngrenzen in Betracht, da die Assoziationen diese Grenzen in den allermeisten Fällen ohnehin überschreiten. Der Netzwerkbegriff betont im Gegensatz zum Begriff der Domänen die Verbindungen und nicht die Grenzen, weder die Grenzen zwischen Materiellem und Immateriellem, noch die zwischen Natur und Gesellschaft oder unterscheidbaren gesellschaftlichen Sphären. Ganz wie in der ANT üblich, kann die Ethnographin bei ihrer Erkundung der modernen Welt nun einfach den Akteuren folgen, die von einer Assoziation zur nächsten springen, um anhand ihrer Praxis zu erfassen, »welche Reihe von kleinen Diskontinuitäten man passieren muß, um eine gewisse Kontinuität der Handlung oder Aktion zu gewinnen« (Latour 2014: 73). Latour formuliert so auch nochmal die Vorzüge des von ihm in Anschlag gebrachten Netzwerkbegriffs (vgl. Latour 2014: 73 ff.): 1. Das Netzwerk kann einfach mit materiellen Bezügen repräsentiert werden. 2. Es fokussiert die Aufmerksamkeit auf das Fließen, ohne das Fließende mit der Ermöglichung des Fließens durch den Vernetzungsvorgang zu verwechseln. 3. Es etabliert eine starke Beschränkung der Kontinuität, so dass eine simple Unterbrechung zum Zusammenbruch führen kann, weil dann der Fluss nicht mehr sichergestellt werden kann. Im NET-Modus kann so klar bestimmt werden, welche Elemente assoziiert werden müssen, um einen stabilen Fluss von z. B. Werten zu gewährleisten.
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Der zweite Punkt ist für Latour von zentraler Bedeutung. Das Netzwerk kann immer sowohl als funktionierende Einheit beobachtet werden, durch die etwas fließen kann, als auch als ein verstreutes Ensemble heterogener Elemente, die für dieses Funktionieren erst noch zur Zusammenarbeit gebracht werden müssen: »Genauso wie in der Physik Ruhe ein Aspekt der Bewegung ist, erweist sich das kontinuierliche, stabilisierte und gewartete Netz als besonderer Fall eines Netzwerks heterogener Assoziationen.« (Latour 2014: 72) Es ist diese Verbindung im Begriff des Netzwerks, die es für die Ethnographin besonders interessant macht. Sie kann mit seiner Hilfe sowohl den Assoziationsbemühungen ihrer Informanten folgen, die immer wieder behaupten, dass unterschiedliche Ingredienzien notwendig sind, um z. B. ein Patent für eine wissenschaftliche Erfindung durchzusetzen. Sie kann aber dann auch untersuchen, wie wissenschaftliche Erfindungen durch ein erfolgreich etabliertes Netzwerk zirkulieren. Die Existenzweise des Netzwerks zeigt sich dann auch gerade daran, eine Serie von Assoziationen über eine Prüfung zu bestimmen, die deutlich macht, dass es Serien kleiner Diskontinuitäten sind, die passiert werden müssen, um eine Kontinuität des Funktionierens zu gewährleisten (vgl. ebd.: 73). Für Netzwerke gilt das Prinzip der freien Assoziation bzw. der Irreduzibilität. Alles kann sich in Netzwerken zusammenschließen und kein Element kann im Vorhinein ausgeschlossen werden. Dies lässt sich auch nochmal präziser unter Berücksichtigung des analytischen Beschreibungsvokabulars formulieren, auf das Latour zur Differenzierung seiner Existenzweisen zurückgreift. Da ist zunächst der »Hiatus«, die Lücke, die Diskontinuität, die überwunden werden muss, um der Existenzweise Kontinuität zu verleihen. Im Fall von NET ist dies einfach die Überraschung der Assoziation selbst. Die verbundenen Elemente passen scheinbar nicht zusammen, müssen aber zusammenkommen. Hinzu kommt die »Trajektorie«, die Serie heterogener Verknüpfungen, der man folgen muss, um die Ausbreitung des Netzes nachzuvollziehen. Die Existenzweise des Netzwerks lässt sich außerdem anhand ihrer »Wahrheitsbedingungen« genauer bestimmen, sie gelingt, wenn man frei die Bereiche durchqueren kann und sie misslingt, wenn die Freiheit der Bewegung beschränkt wird, also die Assoziation nicht aufgebaut werden kann. Das dabei erzeugte »Wesen« ist ein nicht reduzierbares Netzwerk, das auf alle verknüpften Elemente angewiesen ist und nur durch ihr Zusammenwirken stabil bleibt. Schließlich macht sich der NET-Modus im Sozialen durch eine »Alterierung« bemerkbar, denn nur mit seiner Hilfe wird eine Erweiterung der Assoziationen bzw. die Assoziation neuer überraschender Elemente möglich (vgl. Latour 2014: 653). Das Netzwerk ist daher ein explorativer Modus, es gibt eine große Bewegungsfreiheit und es lässt unterschiedlichste Passiermöglichkeiten offen. Doch diese Offenheit hat auch ihren Preis. Denn durch die Beweglichkeit verliert der Beobachter an Spezifizität (vgl. Latour 2014: 75). Wenn mit Beweglichkeit gemeint ist, dass man beliebige Testfälle, Assoziationen und Übergänge
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einbeziehen kann, so bezieht sich die Spezifizität darauf, dass man die Unterschiede zwischen den Netzwerken deutlich machen kann. Hierzu leistet der Netzwerkbegriff nichts, er ist inhaltlich leer und enthält keine begrenzenden Wertgesichtspunkte, das »Vokabular ist befreiend, aber zu arm, um die Werte zu unterscheiden, an denen die Informanten nun einmal festhalten« (Latour 2014: 113). Wenn man nirgendwo Grenzen und Differenzierungen einziehen kann, dann stößt man außerdem auf alte philosophische Probleme, wie den infiniten Regress. Folgt man den heterogenen Elementen immer weiter, dann verliert man die strukturierenden sozialen Institutionen aus den Augen, da sie alle beginnen auf einer generellen Ebene gleich auszusehen. Alle Netzwerke sind überraschende Verbindungen heterogener Elemente und jede Auftrennung nach Domänen zerbricht, wenn man diesen Assoziationen folgt. Netzwerke brauchen eine innere Limitierung, die man aber nicht einfach Domäne nennen kann, obwohl die Idee einer Domäne des Rechts oder der Religion diesen inneren Begrenzungen von Netzwerken entstammen könnte. Zentral ist in diesem Kontext Latours Unterscheidung zwischen der netzwerktypischen Diversität von Assoziationen und der institutionenspezifischen Diversität der Werte (vgl. ebd.: 75). Auch hier hilft der zentrale zweite Aspekt von Netzwerken, die Unterscheidung von dem Netzwerk, das den Fluss ermöglicht, von dem, was durch das Netzwerk fließt. Wie bei den technischen Netzwerken, durch die Gas oder Elektrizität nur fließen kann, wenn eine ganze Reihe heterogener Assoziationen stabilisiert und erhalten werden. Genauso verhält es sich mit den rechtlichen oder religiösen Netzwerken. Man muss bloß genauer bestimmen, was in ihnen fließt. Der Netzwerk-Modus ist also demnach der Blick auf die Ermöglichung des Fließens. Es ist der Existenzmodus, der es erlaubt zu erkennen, wie eine bestimmte Form sozialer Ordnung aufgebaut wird und welche Assoziationen dafür nötig sind. Die ANT hat die Relevanz dieser Existenzweise für die unterschiedlichsten Anwendungsszenarien nachvollzogen (Callon 1986, Latour 1987, Law 1987). Alle sozialen Institutionen sind in dieser Sichtweise aus heterogenen Elementen und überraschenden Verbindungen zusammengesetzte Netzwerke. Nun geht es Latour mit seinem Buch über die Existenzweisen der Moderne darum, diese Netzwerke auf einer anderen Ebene voneinander zu differenzieren, um innere Begrenzungen aufzuspüren und zu sehen, was notwendig ist für das Funktionieren sozialer Institutionen. Wenn es darum geht, zu sehen, was fließt, dann muss man den Blick mehr darauf richten, was die heterogenen Elemente im Netzwerk zusammenhält, auf die Art von Assoziationen. Was im Netzwerk zirkuliert, ist etwas Rechtliches (etwa über den Begriff der Mittel) oder etwas Wissenschaftliches (etwa über den Begriff des Beweises) und dem Juristen oder Forscher gelingt es damit, die Zwischenräume zu überbrücken. Latour zufolge kann jede Situation auf den Zusammenhang eines Netzwerks und auf etwas Zusätzliches verweisen, dass
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dem Netzwerk eine spezifische Qualität verleiht (vgl. Latour 2014: 82 f.). Doch wie soll diese Typisierung erfolgen? Was ist die spezifische Form, welche die Elemente zusammenbinden kann? Es gibt eine jeweils spezifische Verbindung zwischen grundlegenden Werten und den Institutionen, die sie verteidigen, zwischen Theorie und Praxis, die sich auch noch in der Zeit beständig verändert. Die Analyse der Modernen erfordert also sowohl der Vielfältigkeit der Netzwerke zu folgen als auch die jeweils spezifischen Wege ihrer Ausdehnung zu entschlüsseln (vgl. ebd.: 84). Für diese Entschlüsselungsaufgabe braucht es einen interpretativen Schlüssel, der darin besteht, die Kategorienfehler bei der Zuordnung aufzuspüren. Dabei sind es nicht einfache Kategorienfehler, die hier von Interesse sind, sondern solche, die Latour Kategorienfehler zweiten Grades nennt (vgl. ebd.: 50). Es geht nicht um die Lösungswege, die innerhalb einer Existenzweise angeboten werden, sondern um Situationen, in denen unsicher ist, in welchem Modus wir uns befinden und wie solche Unklarheiten beseitigt werden können. Jeder Modus lässt sich nach Latour über einen zweiteiligen Test identifizieren: Erstens hat jeder Modus, wie wir bereits gesehen haben, seine eigenen Wahrheits- oder Angemessenheitsbedingungen und zweitens verfügt jeder Modus über einen eigenen interpretativen Schlüssel (vgl. Latour 2014: 92 ff.). Die erste Idee entstammt der Sprechakttheorie, bei der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit man sagen kann, ein Sprechakt sei wahr. Hier stellt sich dann z. B. die Frage, ob die Verbindung zwischen zwei Elementen rechtlich, technisch, politisch oder wissenschaftlich haltbar ist. Beim interpretativen Schlüssel geht es darum, wie das entstehende Netzwerk zu lesen ist. Es ist eine Präposition, eine Positions- oder Richtungsmarkierung in allgemeiner Weise.1 Die beiden Modi NET und PRÄ sind grundlegend in Latours Theoriemodell, insofern sie zur Beschreibung jeder Art von Modus und jeder Art von Kreuzung zwischen den Modi herangezogen werden können, aber beide sind letztlich nicht selbst unmittelbar mit Institutionen der Moderne verbunden. Als metasprachliche Untersuchungsinstrumente bieten sie aber das Vokabular einer neuen diplomatischen Beschreibung dieser Institutionen und ihrer Beziehungen und sie zeigen, dass neue Modi durch Kreuzungen zwischen den Existenzweisen erzeugt werden können. Zwischen Netzwerk [NET] und Präposition [PRÄ] besteht aber ebenfalls eine Lücke, mit der man rechnen muss. Während der Netzwerk-Modus alles miteinander verbinden und jeder Assoziation folgen kann, sichert der Präpositionsmodus die ontologische Pluralität, indem er unterschiedliche Interpretationsschlüssel bzw. Sichtweisen auf die Welt differenziert. Erst die Kombination der beiden Modi ermöglicht es, gut mit den Beobachtern und über das Beobachtete zu sprechen. Es geht im Netzwerk-Modus um die Exploration und Konstruktion 1 | Zum Modus der Präposition vgl. die ausführliche Diskussion von Georg Kneer im vorliegenden Band.
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von Möglichkeiten durch die überraschende Assoziation von heterogenen Elementen. Durch diese Netzwerke fließt dann jedoch etwas, das nur mittels präpositionaler Unterscheidungen festzustellen ist. So kann ein Vernetzungsvorgang mit Hilfe einer Proposition zum Beispiel als wissenschaftlich, politisch, technisch, fiktional oder rechtlich charakterisiert werden.
b) Netzwerke im Sinne der nordamerikanischen Netzwerkforschung Auch die nordamerikanische Netzwerkanalyse (SNA) verwendet einen grundsätzlich offenen Netzwerkbegriff, der nur formal bestimmt ist. In Anlehnung an die mathematische Graphentheorie besteht ein Netzwerk aus Kanten und Knoten (so etwa auch Borgatti, Everett & Johnson 2013). Das Netzwerk als solches ist also eine analytische Konstruktion. Es bietet eine technische Möglichkeit zur Darstellung von Strukturen. Das Netzwerk wird als formale Beobachtungsstrategie eingeführt, bei der man nur definieren muss, was als Knoten und was als Kanten zu betrachten ist. Für die soziale Netzwerkanalyse (SNA) waren dies von Beginn an Akteure und soziale Beziehungen wie Bekanntschaften und Freunde. Für das technische Instrumentarium ist diese Entscheidung jedoch letztlich zunächst einmal arbiträr, denn auch Ereignisse, Orte, Gegenstände oder Ideen können Knoten sein und ebenso Kanten. Dennoch sind diese Entscheidungen sowohl für die Erhebung der Daten, als auch für die Interpretation der Ergebnisse von entscheidender Bedeutung. Die klassische Netzwerkforschung ist lange Zeit sehr gut mit der Beschränkung auf Akteure als Knoten und soziale Beziehungen als Kanten gefahren. Von hier aus konnte die Netzwerkanalyse als Instrument bedeutend weiter entwickelt werden. Verschiedene Zentralitäten konnten als soziales Kapital interpretiert werden (Burt 2005), eng zusammenhängende Knoten als soziale Gruppen (»cohesive subgroups«, Moody & White 2000) und spärlich verknüpfte Netzwerke mit Brücken zwischen den Clustern als »small worlds« (Watts & Strogatz 1998). Mehr und mehr wird diese Einschränkung jedoch in neueren Arbeiten aufgehoben. Da es sich bei Netzwerken um analytische Konstruktionen handelt, ist die Beschränkung auf Akteure und soziale Beziehungen nicht notwendig und wird daher kritisiert. Man ist um Erweiterung der theoretischen Grundlagen sozialer Netzwerke auf vielen Ebenen bemüht. Aber schon dieser Ausgangspunkt eines nur formal bestimmten Zusammenhangs macht zumindest die technische Netzwerkanalyse für eine Nutzung zur Beschreibung von Verhältnissen im NET-Modus äußerst aufschlussreich. Es ist geradezu merkwürdig, dass Latour von diesen technischen Möglichkeiten kaum Gebrauch gemacht hat. Eine wichtige Erweiterung der Social Network Analysis führt diese enger an Latours Anliegen heran und ist eng mit dem Namen Harrison White verknüpft. Nachdem er die konstitutive Bedeutung von Sinnprozessen für die Netzwerkbildung in seiner Theorie von Identität und Kontrolle hervorhebt (White 1992),
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beginnt er im Anschluss daran ein Netzwerkkonzept zu entwickeln, das diese Sinnprozesse inkludieren soll. White spricht hier von Netzwerkdomänen oder Netdoms (White 1995, Mische & White 1998, White 2008 und Schmitt & Fuhse 2015), die eine Typisierung von Netzwerken darstellen. Über den Begriff der Domäne kann man Netzwerke einerseits voneinander abgrenzen. Denn Netzwerke tendieren dazu, grenzenlos zu sein – wie wir bereits bei Latour gesehen haben. Durch die Typisierung kann also einerseits die Netzwerkpopulation kontrolliert werden, also wer oder was zum Netzwerk gehört und andererseits auch die möglichen Beziehungsformen, welche im Netzwerk gültig sind. Interessanterweise setzt White die Abstraktionsebene von Netdoms sehr hoch an. So vergleicht er sein Konzept beispielsweise mit Luhmanns Kommunikationskonzept, da es auch die Beziehungs- und die Informationsseite zusammenzieht (vgl. White 2008: 7). Diese Typisierungen sind ein laufendes Geschäft des sozialen Lebens. Ständig werden diese Netdoms in der Kommunikation oder auch nur im Verhalten erzeugt. Manchmal existieren sie nur für kurze Zeit, wie etwa ein Partygespräch und manchmal für lange Zeiträume, wie etwa Familien. Aber immer werden sie nur episodisch in den Prozessen aufgerufen und das Wechseln (»switching«, White 2008: 12 f.) zwischen ihnen ist ebenfalls die Normalität. Wichtig ist bei dieser einführenden Diskussion einerseits, dass die Netzwerkforschung zunehmend die Bedeutung solcher Typisierungen für ihre Konstruktionen zur Kenntnis nimmt. Andererseits bietet der Ansatz von prozessual relevanten Typisierungen von Netzwerken zu Netdoms auch eine Brücke zu Latours Existenzweisen, da es auch hier um eine netzwerkorientierte Differenzierungstheorie geht, mit der Netzwerkansätze bislang grundsätzliche Schwierigkeiten aufweisen. Die Idee von Grenzen ist dem Netzwerkansatz zunächst fremd, da die Assoziationen ja immer weiter gehen können. Die Netzwerke wachsen und dehnen sich aus, Lücken können gefüllt werden und schließlich umfasst das Netzwerk alles. Wir wollen im Folgenden untersuchen, wie ähnlich sich die hier betrachteten Angebote einer relationalen Differenzierungstheorie tatsächlich sind und wie sie sich zu den damit verbundenen Problemen der Wertordnungen oder Wertsphären, dem Problem der Grenzen und dem Problem sozialer Institutionen verhalten.
2. D as P roblem der W ertordnungen Dass die soziologischen Ansätze, die sich am Netzwerkgedanken orientieren, solche Schwierigkeiten mit dem Konzept der sozialen Differenzierung haben, erklärt sich aus ihrer kreativen Opposition gegenüber dem klassischen soziologischen Denken, dessen Grundlage die Idee sozialer Differenzierung bildet. Differenzierung bildet in vielfacher Hinsicht den Ausgangspunkt soziologi-
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schen Denkens. Sei es die vertikale Differenzierung im Denken über soziale Ungleichheit und der Aufteilung nach Klassen, Schichten und Milieus oder eben die horizontale Differenzierung, die auf Arbeitsteilung oder unterscheidbaren Wertgesichtspunkten oder Sachgründen basiert. Schon die Klassiker betrachteten die Soziologie als Wissenschaft der modernen bzw. der sich modernisierenden Gesellschaft. Die eher sachliche als soziale Differenzierung wird dementsprechend auch als ihr besonderes Merkmal herausgestellt (von Simmel bis Luhmann). Während aber Weber noch von Wertsphären spricht oder Simmel soziale Kreise unterscheidet, entwickelt sich zunehmend eine Interpretation der modernen Gesellschaft als einer funktional differenzierten. Die maßgebliche Verschiebung betrifft hier in der Tat den Zusammenhang der unterschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Während eine Differenzierung nach Wertgesichtspunkten wenig Aussagen über den Gesamtzusammenhang der getrennten Bereiche trifft, vielmehr eher die plurale Gestalt der Gesellschaft betont, deutet eine funktionale Differenzierung immerhin die Abstimmung unter den gesellschaftlichen Teilbereichen an. Die Teilbereiche übernehmen Funktionen für die Gesamtgesellschaft, sie tragen also in der einen oder anderen Form zu deren Fortexistenz bei. Diese Vorstellung kann ausgeprägt sein wie in der Systemtheorie von Parsons (1951) oder stark relativiert wie in der Konzeption von Luhmann, der stärker mit der Selbstbezüglichkeit und damit auch mit den zahlreichen Synchronisationsproblemen zwischen den Teilbereichen rechnet (Luhmann 1998). Versuchen wir den Unterschied noch einmal genauer in den Blick zu nehmen: Betrachtet man die Wirtschaft als ein funktionales Teilsystem der Gesellschaft, das ein gesellschaftliches Bestandsproblem exklusiv zu bearbeiten versucht (hier das Problem der Knappheit von und des Zugangs zu Gütern), dann richten sich Bewertungen und Abläufe innerhalb des Systems nach diesem Problemgesichtspunkt. Es werden Kosten und Nutzen rational kalkuliert, um knappe Güter in der Gesellschaft auf eine Art und Weise zu verteilen, die sie einerseits einer produktiven Verwendung zuführt und andererseits erreicht, dass diese Verteilung von den beteiligten Akteuren akzeptiert wird. Begreift man Wirtschaft dagegen als eine Wertsphäre, dann erscheinen diese Problemgesichtspunkte als weniger gewichtig. Die Kalkulation von Kosten und Nutzen und das Erzielen von Profiten dienen keiner gesellschaftlichen Funktion, sondern Profite sind ein hier dominanter Wertgesichtspunkt, der das Verhalten der Akteure in einer bestimmten Art und Weise prägt. Es sind nicht gesellschaftlich notwendige Funktionen, die sich verselbstständigen, sondern es sind Werte, deren Verfolgung eine eigene Logik nach sich zieht. Der Zusammenhang dieser verschiedenen Werte und der mit ihnen verbundenen Logiken ist dabei nicht vorab geklärt oder gar mit ihrer Rolle oder Funktion im Großen und Ganzen der Gesellschaft erledigt. Sie können im Widerspruch zueinander stehen oder sich wechselseitig stützen. Ihre Logiken können ähnlich oder gänzlich
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verschieden erscheinen. Weber hatte an dieser Stelle von Wertrationalität auf der Seite handelnder Akteure gesprochen und damit deutlich gemacht, dass Werte nicht als erreichbare Ziele zu verstehen sind, die zweckrational zu erreichen wären, sondern dass der Einklang mit Werten andere Formen von Rationalität erfordern kann. Ob es Dominanzen zwischen den Werten gibt, ist in einer Weberianischen Version der Differenzierungstheorie ebenfalls nicht vorentschieden. Dies etwa im Unterschied zu Bourdieus Differenzierungstheorie der Felder, die von einem hierarchisch am höchsten stehenden Feld der Macht ausgeht, von dem andere Felder eine nur teilweise Unabhängigkeit erreichen können. Es lässt sich somit zusammenfassen, dass eine horizontal-sachliche Differenzierung der Gesellschaft nach Wertsphären keine umfassende Organisation auf der Makro-Ebene voraussetzt, während die Idee der funktionalen Differenzierung oder der Einschub einer Rangordnung zwischen ihnen, von einer solchen übergreifenden Organisation ausgehen muss. Schon nach dieser groben Einführung ist klar, dass relationale Ansätze wie der von Latours Existenzweisen sich einer Differenzierung der Gesellschaft nach Wertsphären sehr viel näher fühlen, als einer übergreifenden Makrotheorie der Gesellschaft. Doch welche Rolle spielen nun diese Werte oder Wertsphären für Netzwerke? Bei Latour hatten wir gesehen, dass Werte etwas sind, das durch die Netzwerke fließt und sie daher differenziert. Sie werden zwischen den heterogenen Elementen weitergegeben und halten sie dadurch zusammen (vgl. Latour 2014: 76 ff.). In der neueren Netzwerkforschung dienen Werte dagegen als Orientierungspunkte, um Netzwerke zu ordnen. Es geht in direkter Weise um die Zulässigkeit von Beziehungstypen und damit auch um die Typisierung und Abgrenzung von Netzwerken. Dies geschieht durch die direkte Kopplung von sozialen Beziehungen mit einem abgrenzbaren Themenbereich (White 2008: 7 f.). Werte sind in der Lage, eine sachliche Differenzierung in die Netzwerkperspektive einzuführen und mittels dieser Differenzierung trennbare Zonen und damit die stets problematischen Grenzen von Netzwerken zu etablieren (vgl. Häußling 2009). Wir kommen zu diesem Grundproblem im nächsten Abschnitt zurück. Wie aber Werte genau innerhalb von Netzwerken situiert und identifiziert werden, ist in der Tat kein ganz einfaches Problem. Wie zahlreiche soziologische Theorien konstatieren (neben Latour und White selbst, sind hier die Systemtheorie Luhmanns und alle Arten von interaktionistischen Theorien zu nennen), sind Werte keine feststehenden Orientierungspunkte, sondern veränderliche Konstruktionen in der Zeit, die zudem miteinander verflochten sind und mit unterschiedlichen sozialen Institutionen verbunden sind, die sie schützen, verbreiten und mit ihnen arbeiten. Werte scheinen aber in den beiden Ansätzen sehr unterschiedlich konzipiert zu sein, während Netzwerke doch recht ähnlich erscheinen. Bei Latour sind die Werte etwas, was durch das Netzwerk fließt. Die Netzwerke liefern den einen oder anderen Wert bzw. halten ihn aufrecht und leisten die Definition des
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Netzwerks als rechtlich oder wissenschaftlich. Der Wert wird bei ihm letztlich durch eine Unterbrechung, den Hiatus, und bestimmte Wahrheitsbedingungen definiert, die es erlauben, die Unterbrechung zu überwinden (vgl. Latour 2014: 354 f.). Bei White sind Werte hingegen selbst Formen sozialer Identitäten, die in Geschichten transportiert werden und die eine ordnende Funktion innerhalb von Netzwerken und Disziplinen übernehmen. Dies beginnt schon mit den »valuation orderings«, die in komplexeren sozialen Formationen die »pecking order« ersetzen (White 2008: 63 ff.). Die Wertordnungen sind eine zentrale Form der Differenzierung zwischen den elementaren Ordnungskernen des Sozialen bei White, den sozialen Molekülen, die er Disziplinen nennt (vgl. ebd.). Interessant ist jedoch, dass auch hier eine prozessuale Komponente erwähnt wird, d. h. dass Werte in sozialen Prozessen realisiert werden (vgl. ebd.: 65). Diese Werte sind Identitäten relativ einfacher Art, deren Komplexität jedoch durch Geschichten gesteigert werden kann, was zu einer weiteren sachlichen Differenzierung führt und sich letztlich in den Kontrollregimen äußert, die wertgebundene Modelle für die Ordnung von Netzwerken darstellen (vgl. White 2008: 220 ff. und Schmitt & Fuhse 2015: 146 ff.). Diese orientieren dann nicht nur einen kleinen stark geordneten Bereich sozialer Prozesse, sondern vielfältige Prozesse und viele unterscheidbare Netzwerke. Werte sind also in beiden Ansätzen ein wesentliches Differenzierungskriterium für soziale Prozesse und resultierende Netzwerke, die aber nicht in einem makrosoziologischen Gesamtzusammenhang wie einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft aufgehen. Vielmehr unterliegen die Werte, die durch sie geschaffenen Sozialräume und die mit ihnen verbundenen Institutionen in beiden Ansätzen einem stetem Wandel, der sowohl aus den Interdependenzen zwischen Werten, Sozialräumen und Institutionen entspringt als auch aus kontingenten geschichtlichen Entwicklungen. Es ergibt sich somit eine komplizierte Beschreibungslage, die sich nicht mittels einer übergeordneten Struktur klären lässt. Aus dieser Lage ergeben sich die zwei zentralen Besonderheiten einer relationalen Differenzierungstheorie, die mit der Netzwerkperspektive bzw. mit der Existenzweise des Netzwerks verbunden sind. Einerseits wird der Bezug auf Werte benutzt, um das grundlegende Problem der Grenzen zu lösen, da das Konzept der Grenze schon immer quer zum Konzept des Netzwerks zu stehen scheint. Andererseits erschließt sich, dass der Zusammenhang von Werten, Netzwerken und Institutionen aus einer Netzwerkperspektive nicht in einem umfassenden Ordnungsrahmen aufgeht, sondern ein geschichtliches Verhältnis von Interdependenzen beschreibt, dessen Konfiguration nicht feststeht und durchaus einem chaotischen Durcheinander entsprechen kann. Beiden Problemkreisen wollen wir noch etwas mehr Aufmerksamkeit widmen.
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3. D as P roblem der G renzen Das Problem der Grenzen begleitet die nordamerikanische Netzwerkforschung (SNA) ebenso wie Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) seit ihren jeweiligen Entstehungszeitpunkten. Während es der SNA meist als ein Problem beschränkter Daten erscheint, weil man die Erhebung der Relationen an irgendeiner Stelle abbrechen muss, ist es für Latour seit seinen ersten Studien ein grundlegendes Problem der »modernen« Sichtweise auf soziale Phänomene, ständig unhinterfragte Grenzen einzuziehen, für die es keine empirischen Belege gibt. Grenzen werden demnach auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise zum Problem für die beiden Ansätze. Dennoch kann man eine Gemeinsamkeit entdecken. Beide Ansätze akzeptieren oder bauen darauf, dass Grenzen von Außen an die Netzwerke herangetragen werden, die Grenzen liegen nicht im Netzwerk oder im Modus des Verbindens. Netzwerke haben einen inhärenten Impetus, Grenzen zu überschreiten, sie sind im Prinzip grenzenlos. Beide Ansätze gehen dieses Problem aus unterschiedlichen Richtungen an, da die heterogenen Netzwerke Latours empirische Assoziationen widerspiegeln und daher Grenzen zunächst nur als temporäre Stabilisierungen von Netzwerken erscheinen, während White Netzwerke eher als analytische Konstruktionen begreift und das Problem daher eher die Arbitrarität der Begrenzungen durch Erfordernisse der Datenerhebung betont. Dabei lassen sich allerdings innere und äußere Wege des Einziehens von Grenzen unterscheiden. In beiden Ansätzen gibt es innere Wege Netzwerke zu begrenzen. In der SNA stehen innere Begrenzungsansätze vor allem in Relation zur Verteilung der Dichte von Netzwerken. In den meisten Netzwerken gibt es Bereiche größerer Dichte (»clusters«) und Bereiche geringerer Dichte (»holes«) (Burt 1992). Dies macht es möglich, Grenzen zwischen Bereichen zu ziehen, die der Struktur des Netzwerks entspringen. Die Cluster hängen enger miteinander zusammen als verschiedene Cluster im Netzwerk und lassen sich dadurch differenzieren. Auch Latour beschreibt einen endemischen Prozess der Grenzziehung, den er als »blackboxing« bezeichnet (Latour 1999: 183). Auch hier ist es der Moment der Verfestigung von Verbindungen, ihrer gegenseitigen Verstärkung bis zu jenem Punkt, an dem sich das Netzwerk als eine abgeschlossene Einheit präsentiert und damit eine Grenze schafft (vgl. Laux 2014: 158 ff.). Verdichtung und Verfestigung sind endogene Netzwerkprozesse, um Grenzen zu etablieren. Zu beachten sind jedoch auch die von außen kommenden Grenzen und Grenzziehungen. Diese Grenzen kommen durch Zuschreibungsprozesse in die Netzwerke und hier wird auch die relative Zufälligkeit dieser Grenzen besonders deutlich. Von außen kommende Grenzen werden häufig sprachlich gezogen und basieren auf durch die Sprache vorgenommenen Verdichtungen und Vereinfachungen, die wirkmächtige soziale Kategorisierungen und Typisierungen schaffen. Diese werden von der ANT
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häufig selbst wieder aufgebrochen und zerlegt und dann basieren sie häufig auf erfolgreichem »blackboxing« in der Vergangenheit. Die ANT benutzt sie aber eher für die Beobachtung von Krisen, wenn dieses blackboxing nicht mehr funktioniert oder auch nicht mehr zum aktuell im Fokus stehenden Netzwerk passt. Netzwerke werden also in der Regel durch soziale Konstruktionen begrenzt, die entweder aus vorrätigen sozialen Typisierungen stammen oder aus den Strukturen des Netzwerks abgelesen werden. Häufig ist es auch eine Kombination aus beidem (siehe dazu Whites Begriff des Stils, White 2008: 112 ff., Schmitt 2009: 261 f. und Schmitt/Fuhse 2015: 119 ff.). Damit interessieren sich beide Spielarten der Netzwerkforschung für Grenzen, um die Beschreibung und Analyse der Netzwerke handhabbar zu machen. Die Konstruktion von Grenzen und die Mechanismen ihrer Stabilisierung sind also ein wichtiges Thema für relational argumentierende Theorien, da Begrenzungen, anders als z. B. in Systemtheorien nicht einfach als Prämisse eingeführt werden können. In Netzwerken sind Grenzen dazu gemacht, überschritten zu werden und daher ist ihre Stabilisierung immer prekär. Ihre Perspektive bildet daher – wie schon an anderer Stelle ausführlich argumentiert (Schmitt 2009) – ein Komplement zu Systemtheorien, für die eher die Kopplung einmal getrennter Bereiche unwahrscheinlich ist. Wesentliche Mechanismen bei der Einführung von Grenzen sind ganz grundlegend die beobachtende Differenzierung (Vergleich und Unterscheidung), soziale und sprachliche Typenbildung und Einschränkungen des Beobachtungsraums durch Erzählungen und Sets von Erzählungen. Die ANT kennt zahlreiche Mechanismen der Reinigung, des Ausschließens von störenden Elementen aus dem Beobachtungsraum (vgl. Latour 1998: 19), die genau auf diesen Ebenen funktionieren. Es geht hier immer um Praktiken und Verfahren der Unsichtbarmachung derjenigen Elemente, welche die Grenze passieren würden. White betont vor allem die auf Sprache und Erzählungen basierenden Mechanismen der Einschränkung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Netzwerke keine Grenzen haben, sondern Grenzen als unwahrscheinliche und stabilisierungsbedürftige Konstruktionen lesen. Dennoch ist das Problem der Grenzen für die Netzwerkforschung ein entscheidendes, da der analytische Umgang mit Netzwerken Grenzetablierung erfordert und den Akteuren zu folgen auch bedeutet, deren Grenzziehungen ernst zu nehmen, wie Latour seit den Existenzweisen auch deutlich stärker zur Kenntnis nimmt. Es sind diese Grenzen, die nun sowohl bei White als auch bei Latour stark mit dem Begriff von Werten in Verbindung gebracht werden, da diese in der Lage sind, auch hochskalierte soziale Differenzierungen von Netzwerken und Netzwerktypen zu tragen bzw. diese vorzustrukturieren. Dieses Verhältnis von Werten, Institutionen und Netzwerken genauer ins Auge zu fassen, ist sowohl der Anspruch von Latours Existenzweisen als auch von Whites Theorie von Identität und Kontrolle (TIK).
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4. W erte , I nstitutionen und N e t z werke Die Suche nach Möglichkeiten netzwerkorientierter Ansätze mit den Konzepten von Wertordnungen und Institutionen zu verschränken, ist einerseits notwendig, um auch eine relationale Makrotheorie der Gesellschaft formulieren zu können (Laux 2014: 189 ff.) und andererseits bietet sich dabei die Chance, diese Ansätze stärker mit einigen einflussreichen Entwicklungen innerhalb der soziologischen Theorie zu verbinden. So drehen sich etwa die Rechtfertigungstheorie von Boltanski und Thévenot (2007), generell die Ökonomie der Konventionen (Diaz-Bone 2015) und der Neo-Institutionalismus (Drori/Krücken 2009) um die Frage einer operations- oder prozessorientierten Wiedereinfügung von Werten und Wertordnungen in die soziologische Theorie. Die entscheidende Frage ist, wie Werte die soziale Ordnung strukturieren helfen und welche Erklärungskraft der Bezug auf Werte hat. Von zentraler Bedeutung ist hier der vermittelnde Einsatz des Institutionenbegriffs. Die Grundaussage ist hier, dass es Institutionen sind, in denen Werte sozial operationalisiert und für soziale Strukturbildungen wirkmächtig werden. Institutionen stellen Blaupausen und Verfahren zur Verfügung, mit denen Werte umgesetzt werden. Dieser Zusammenhang wird sowohl bei Latour wie auch in der TIK von White aufgegriffen. Latour beginnt seine Exposition einer relationalen Differenzierungstheorie mit dem Hinweis auf die bedenkliche Unterhöhlung moderner Institutionen. In einer Runde mit französischen Industriellen wird der Klimaforscher als wissenschaftlicher Experte nicht mehr ernst genommen. Seine Ansichten sind nur eine Meinung unter anderen und dann auch noch eine, die den Wirtschaftsführern nicht gerade passt (vgl. Latour 2014: 31 ff.). Hier wird der Institution Wissenschaft nicht mehr getraut, der Institution, die mit dem Wert der Wahrheit, in der Form der Entscheidung über wissenschaftliche Fakten, betraut ist. Nach Latours Darstellung, die aus der jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Art und Weise der Herstellung von wissenschaftlicher Objektivität herrührt, bestimmen die institutionellen Verfahrensweisen über das Vertrauen in die Institution und damit in die Relevanz des Wertes. Objektivität oder objektive Wahrheit ist damit nicht eine transzendentale Gewissheit, sondern ein verfahrensmäßig gesichertes Vertrauen. Die Institution regelt diese Verfahren und sichert damit das Vertrauen in den Wert. An der Oberfläche erinnert dies an Luhmanns »Legitimation durch Verfahren« (Luhmann 1969), auch wenn hier ein deutlich engerer und stark rechtlich definierter Verfahrensbegriff vorherrscht. Bei Latour, das wird nicht erst in den Existenzweisen deutlich, geht es nicht um einen so engen Verfahrensbegriff, sondern um die Art und Weise in der heterogene Elemente zu spezifischen und erkennbar wertorientierten Netzwerken zusammengebunden werden. Im Grunde ist dies eines der zentralen Themen der Existenzweisen, das ziem-
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lich unmittelbar an Latours Schaffen seit dem Aufkommen der Science and Technology Studies (STS) anschließt. Die Betonung der institutionellen und wertgemäßen Differenzierung dieser operativen Erzeugung und Erhaltung von solchen Netzwerken ist jedoch eine neue Zutat. Der Netzwerk-Modus löst diese Differenzierungen einerseits auf, da in ihm deutlich wird, dass es keine Domäne spezifischer Zugehörigkeiten zu den Wertordnungen gibt, sondern dass es vielmehr spezifische Weisen gibt, Relationen herzustellen bzw. den Elementen einen spezifischen Beitrag abzuringen, wie etwa wissenschaftliche Objektivität, religiöse Heilsversprechen oder technische Innovationen. Doch alle wertgemäß differenzierten Existenzweisen sind im Netzwerk-Modus als in spezifischer Weise gleich auszumachen und daher auch miteinander ins Gespräch zu bringen. Dies ist das zweite große Thema der Existenzweisen. Die Umstellung von einer unkontrollierten Modernisierung auf eine gemeinsame Ökologisierung der Wertsphären (vgl. Latour 2014: 31 ff.). Es gilt ihm die Möglichkeit einer diplomatischen Sprechweise zwischen den Werten auszuloten und zu verhindern, dass gegenseitige Überbietungen und Abwertungen ein vernünftiges Zusammenwirken verhindern. Der Netzwerk-Modus der Existenzweisen ist dabei die Basis für eine solche diplomatische Sprache, da er die Gemeinsamkeiten der Wertsphären – sie alle basieren auf heterogenen und zerbrechlichen Netzwerken – zum Vorschein bringt. Die Art und Weise der Herstellung von Werten durch institutionelle Verfahren muss dabei operativ offengelegt werden und darf nicht mehr hinter blackboxes verborgen werden. Nur wenn das Verfahren nachvollziehbar wird, kann der Wert in einem ökologischen Umfeld erhalten werden. Diesen zeitdiagnostischen Impetus teilen die neuere amerikanische Netzwerkforschung und Whites TIK eher nicht. Dennoch versucht auch sie einen eher operativen Zusammenhang von Netzwerken, Institutionen und Werten zu etablieren. White schließt eher informell an den Institutionenbegriff des phänomenologischen Neo-Institutionalismus an, wenn er Institutionen einerseits als Generalisierungen aus dem Wertbezug seiner sozialen Moleküle (der Disziplinen) herleitet (vgl. White 1992: 118 ff.) und andererseits als Modelle sozialer Organisationen für eine Vielzahl verschiedener Netzwerke ansieht. Gerade in der Neuauflage von Identity & Control (vgl. White 2008: 171 ff.) wird der Zusammenhang von Netzwerken, Institutionen und Werten sehr explizit gemacht. Institutionen sind in dieser Sichtweise von einer wertorientierten Rhetorik geprägte soziale Netzwerke (vgl. Schmitt/Fuhse 2015: 110 ff.). Die Form dieser Prägung ist die Institution, nicht das einzelne geprägte Netzwerk, da Institutionen über ihre wertorientierte Rhetorik eine Vielzahl von Netzwerken prägen können. Doch was genau ist unter einer wertorientierten Rhetorik zu verstehen, die dazu in der Lage ist, Netzwerke in einer spezifischen Weise zu prägen. Karrieren sind ein Beispiel, das White ausführlich entwickelt (vgl. White 2008: 185 ff.). Karrieren sind eine spezifische Rhetorik, um die Entwick-
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lung bzw. die Entwicklungsmöglichkeiten von spezifischen sozialen Identitäten zu beschreiben. Der spezifische Wert um den die Karriererhetorik kreist, ist die Weiterentwicklung, das Vorankommen. Um diesen Wert sind die Sets an Erzählungen herum konstruiert, die Verlaufswege aufzeigen und so eine gewisse Kohärenz in langwierige Entwicklungslinien bringen können. Die Institution kann nun verschiedene Netzwerke prägen. Karrieren von Personen in einer einzelnen Organisation, Karrieren in einem bestimmten industriellen Bereich, Karrieren in einem Nationalstaat. Aber auch die Karrieren anderer Identitäten, wie etwa von Organisationen in einem Sektor selbst oder sogar von ganzen Zivilisationen. Die Rhetorik vermittelt eine Struktur, in der unterschiedliche Beziehungen und unterschiedliche Netzwerke miteinander verknüpft werden können. White entwickelt den Netzwerkbegriff in einer Form weiter, dass er nicht mehr ohne eine Verkopplung mit kulturellen Netzwerken und Rhetoriken gedacht werden kann. Werte sind eine zentrale Dimension, in der diese Strukturierung erfolgt. Sie bilden einen Fokus, um den herum sich Erzählungen und Netzwerke anlagern. Das Vertrauen in diese wertbasierten Rhetoriken ist nicht so sehr das Thema. Hier liegt ein großer Unterschied zu Latours Entwurf. Es geht auch nicht darum, dass erfolgreiche Zusammenwirken solcher Rhetoriken zu bewerkstelligen. Auch diese politische Dimension, die bei Latour zentral ist, spielt hier keine Rolle. Vielmehr sind Konflikte zwischen unterschiedlichen Erzählungssets ganz normal und können auch nicht immer übergreifend aufgelöst werden. Institutionen prägen Netzwerke in beiden Ansätzen. Diese Prägung wird bei Latour durch die zulässigen Übergänge und durch die Art der Verbindungen sichergestellt. Auch die Ergebnisse, die das Netzwerk produziert, sind relevant, um die Prägung zu identifizieren. White und verwandte Ansätze sehen die Prägung eher strukturell. Erzählungen und Sets von Erzählungen geben eine Struktur vor, nach der auch die Netzwerke aufgebaut werden. Werte dienen hier als Fokus, der es ermöglicht, dass Erzählungen sich anlagern können. Bei Latour sind Werte dagegen ein zentrales Identifikationskriterium für die Übergänge und Ergebnisse. Die Prägung der Netzwerke erfolgt durch die Werte, aber in einer Weise, die wiederum der Sichtweise Whites recht ähnlich ist. Die Werte werden nämlich wesentlich durch die Verfahren, also die Erzählungen und kulturellen Blaupausen bestimmt, nach denen sich die Konstruktion der Netzwerke richtet. Institutionen sind wertbasiert und Werte institutionenbasiert und in diesem zirkulären Zusammenspiel strukturieren sie Netzwerke in einer Art und Weise, die sie als differenziert wahrnehmbar macht.
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5. D ie F r age von Trennen und V erbinden Der Netzwerkmodus ist beschäftigt mit der Frage des Verbindens, und so wird die Frage der sozialen Differenzierung bzw. des Trennens, die lange die moderne soziologische Theorie dominiert hat, an die zweite Stelle geschoben. Dennoch setzt sich nach und nach auch in der relationalen soziologischen Theorie die Ansicht durch, dass auch die Netzwerkforschung sich nachdrücklich mit der Differenzierungsfrage auseinandersetzen muss. Dabei wird jedoch das Spezifikum bewahrt von Netzwerken auszugehen. Es geht darum, Trennen und Verbinden im Zusammenhang zu denken (Schmitt 2009). Eine relationale Soziologie operiert ständig in dem, was Latour in den Existenzweisen den Netzwerk-Modus nennt. Klare Trennungen sind nicht vorgängig, sondern müssen konstruiert werden. Verbindungen sind die Grundlage für Trennungen. Beides muss operativ hergestellt werden und bezeichnet zwei Seiten derselben Arbeit. Der Fokus einer relationalen Soziologie basiert jedoch darauf, den Verbindungen zu folgen und erst im Anschluss daran nach Mechanismen der Differenzierung zu fragen, die verschiedene Verbindungstypen oder Netzwerke dann unterscheidbar machen. Eine relationale Soziologie im Anschluss an Emirbayer (1997) und Fuhse und Mützel (2010) zeichnet sich generell durch einen Blickwinkel aus, der in dem operiert, was Latour als Netzwerk-Modus bezeichnet. Man versucht den Verbindungen zu folgen, die von den Informanten im Feld ins Spiel gebracht werden, ohne eine vorgefertigte Ontologie möglicher Beziehungsträger mitzubringen. Von dieser sehr grundlegenden Sichtweise aus betrachtet, ist die ANT dann ebenfalls eine relationale Soziologie, auch wenn sie gegenüber der nordamerikanischen Netzwerkforschung sehr unterschiedliche Dinge betont, wie etwa die politische Dimension des Zusammenspiels von Wertordnungen oder die Heterogenität der zu verbindenden Elemente. Dennoch ist es der Netzwerk-Modus selbst, der für alle Spielarten einer relationalen Soziologie konstitutiv ist. Den entscheidenden Nachteil dieses Modus sehen alle diese Ansätze gleichermaßen: Er bietet selbst kein Differenzierungskriterium mit dem man beschreiben könnte wie einerseits die Modernisierung im Sinne einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft möglich war oder andererseits eine nun notwendige Ökologisierung im Sinne eines diplomatischen Austauschs zwischen Wertsphären zu realisieren wäre. Die Erweiterung von Latours Analysemodell um den Existenzmodus der Präposition [PRÄ] muss vor diesem Hintergrund als wichtige Theorieinnovation verstanden werden (vgl. Kneer im vorliegenden Band).
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6. E ine rel ationale D ifferenzierungstheorie ? Sowohl Bruno Latour als auch Harrison White arbeiten an einer Erweiterung des Netzwerk-Modus, um Kriterien und Mechanismen der Differenzierung von Netzwerken bereitzustellen. Die Lösungswege sind zugleich sehr ähnlich und sehr unterschiedlich. Die Blickrichtung aus der die Synthese angestrebt wird, unterscheidet sich beträchtlich. Latour geht vom Problem des Vertrauens in die Institutionen der modernen Gesellschaft aus und stellt die Frage, wie dieses unter Bedingungen eines sichtbaren und erforschbaren NetzwerkModus wiederhergestellt werden kann. Er hat also ein dezidiert gesellschaftstheoretisches und auch politisches Anliegen. White stört dagegen die implizit erfolgende und letztlich untheoretische Abgrenzung von spezifischen Netzwerken oder Beziehungstypen, obwohl die Perspektive des Netzwerk-Modus dem eigentlich entgegensteht. Er will eine Theorie für die SNA aufstellen, dies es ihr ermöglicht, solche Grenzen aus der empirischen Beschäftigung mit sozialen Phänomenen abzuleiten. Beide Fragen lassen sich nur angehen, wenn man eine Theorie der Differenzierung von Beziehungen und Netzwerken so explizit machen kann, dass für jeden nachvollziehbar ist, wie sie zustande kommt. In beiden Varianten einer relationalen Lösung dieser Probleme nimmt der Bezug auf Werte eine Schlüsselstellung ein. Sowohl in der kulturellen Wende Whites, die weit stärker als die klassische Netzwerkforschung auch soziale Kategorien und eben Werte mit einbezieht, als auch in Latours Differenzierung von Existenzweisen über die zulässigen Passagepunkte und produzierten Elemente, basieren auf Werten und ihrer verfahrensmäßigen Realisierung durch Institutionen. Institutionen dienen dabei der prozessualen Realisierung und Sicherung von Werten. Dies wird in beiden Theorien darüber realisiert, dass sprachliche Modelle angeboten werden, an denen sich Abläufe und Beschreibungen orientieren können. Institutionen haben dieses doppelte Leben als Modelle und als wiedererkennbare Formen realer sozialer Organisation. Die weiterführende Frage, in der sich beide Ansätze noch recht deutlich unterscheiden, betrifft das Zusammenwirken der unterschiedenen Sozialbereiche. Es gibt für beide Ansätze keine funktionale oder andere prästabilisierte Harmonie zwischen den Werten oder Wertsphären. Dennoch interessiert sich Latour sehr stark für die Möglichkeit die einmal klar umrissenen Differenzen wieder überbrücken zu können, für eine diplomatische Sprache. Auch hierfür könnte der Netzwerk-Modus einen entscheidenden Beitrag leisten, da er für alle differenzierten Bereiche einen gemeinsamen Zugang ermöglicht. Bei White dagegen können die Widersprüche zwischen den Werten auch als Nischen für die Bildung neuer sozialer Identitäten dienen. Dennoch sieht auch er die Notwendigkeit eines ökologischeren Zugangs zu Netzwerken, die stets in einen umfassenderen Kontext eingelassen sind. Die Beobachtung der sozialen Welt
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im Netzwerk-Modus erlaubt es diesem umfassenderen Kontext, die Ökologie immer stärker mit zu berücksichtigen. Daher ist eine wertorientierte Weiterentwicklung der Netzwerktheorie eine entscheidende Entwicklung innerhalb der Begründung einer relationalen Soziologie, innerhalb derer der NetzwerkModus seinen zentralen Charakter für die Beobachtung sozialer Phänomene behält. Latours Projekt einer Re-Analyse der modernen Institutionen entwirft dabei ein ausgeklügeltes Beschreibungsverfahren zur Bestimmung der Differenzierungen auf dieser Ebene. Die Kombination von NET und PRÄ bei Latour kommt dabei dem Impuls zur Schaffung des Konzepts von Netdoms bei White sehr nahe und liegt auch mit diesem auf einer Argumentationslinie. Es ermöglicht jedoch eine viel genauere Bestimmung und eine Möglichkeit, diese Modi in ihren jeweiligen Wert zu setzen. Darüber hinaus erlaubt sein Zugang, zu beschreiben, wie diese operativen Verkettungen dieser Existenzweisen auf den Kreuzungen mit anderen Existenzweisen beruhen. Diese Erweiterung sollte nun auch für den Ansatz von White von einiger Bedeutung sein, da er stark auf die Interferenzen zwischen den differenzierten Formen abhebt.
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[TEC] Die Existenzweise der Technik Emanuel Herold
Das Kapitel zur Technik ist ziemlich genau in der Mitte der Existenzweisen angesiedelt. Das mag mehr oder weniger Zufall sein; es lädt aber dazu ein, über die Stellung der Technik in Latours bisherigem Schaffen nachzudenken: Gerade in der Techniksoziologie hat die von Latour maßgeblich mitentwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie Resonanz gefunden und eine Vielzahl von Arbeiten hervorgebracht. Latours eigene techniksoziologische Arbeiten wurden dabei kontrovers rezipiert und haben nicht zuletzt einige der einprägsamsten – und irritierendsten – Illustrationen für die Grundideen der ANT hervorgebracht.1 Hält man jedoch einen Moment inne und fragt nach dem Begriff der Technik selbst, der Latours empirischen Arbeiten zugrunde liegt, so zeigt sich eine ausgesprochene Vieldeutigkeit: Nicht nur ist der Technikbegriff je nach empirischem Fall und Fragestellung verschieden beschaffen (Schulz-Schaeffer 2008), zugleich steht er lose neben einer Vielzahl von Objektbegriffen, die Latours Schriften durchziehen (Roßler 2008). Ganz grundsätzlich fallen technische Objekte zwar unter das Label der »non-humans«, werden darin aber nicht systematisch von Pflanzen, Tieren, Kunstwerken oder natürlichen Phänomenen abgegrenzt. Bekanntermaßen wird den »non-humans« in der ANT ein Akteurstatus zugeschrieben, der gegen den intentionalen Handlungsbegriff der klassischen Soziologie gerichtet ist, der stets menschliche Subjekte voraussetzt (Laux 2011, Sayes 2014). Wenngleich technische Artefakte also bei Latour thematisch omnipräsent und von programmatischem Gewicht sind, so bleibt der Begriff der Technik zugleich erstaunlich amorph. 1 | Man denke an den »Waffen-Bürger« bzw. die »Bürger-Waffe« aus Latours eigenwilliger Darstellung amerikanischer Debatten zur Regulierung von Waffenbesitz (vgl. Latour 2006 [1994]: 485 ff.). Instruktive Überblicke zu Latours techniksoziologischen Arbeiten und Verortungen im Gesamtwerk bieten Schmidgen (2011) sowie Wieser (2012).
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Das hier diskutierte Kapitel aus den Existenzweisen scheint einerseits in Kontinuität mit den Impulsen des ANT-Latour zu stehen, insofern es darum gehen soll, die »Wesen der Technik sichtbar [zu] machen« (Latour 2014: 297). Andererseits lässt Latour eine Modifizierung seines Technikverständnisses erwarten, will er Technik doch nun als eigenständige Existenzweise beschreiben. Die nachstehenden Ausführungen haben das Ziel, diese Modifikation nachzuvollziehen und auf ihre Plausibilität hin zu befragen. Dazu wird zunächst ein Abriss der Entwicklung des Technikbegriffs in Latours techniksoziologischen Arbeiten gegeben (1). Schon in einem Vergleich von Latours Stellungnahmen zur Technik aus den frühen 1990er Jahren mit denen aus den 2000ern lassen sich Verschiebungen erkennen, die gegenwärtig ihre Zuspitzung erfahren. Im nächsten Schritt soll die Bedeutung der Technikphilosophie Gilbert Simondons für diesen Prozess herausgestellt werden, der in dem Kapitel zur technischen Existenzweise eine kritische Würdigung von Latours Seite erfährt, die weit über frühere Referenzen hinausgeht (2). Daran anschließend soll rekonstruiert werden, wie Latour Technik letztlich als Existenzweise charakterisiert und sie von anderen Modi der Existenz abgrenzt (3). Abschließend wird zusammenfassend dargelegt, wie diese Überlegungen sich zu den bisherigen techniktheoretischen Aspekten von Latours Werk verhalten und welche Bedeutung Latour dem technischen Existenzmodus im Rahmen einer politischen Ökologie der Moderne zuschreibt (4).2
1. V on S chlüsseln , S chusswaffen und » schl afenden P olizisten «: L atours U ntersuchungen zur Technik Diejenigen Texte, welche gemeinhin als Latours wichtigste techniksoziologische Arbeiten rezipiert werden, entstammen einem relativ engen Zeitraum seines Schaffens, der ersten Hälfte der 90er Jahre. Hier erschienen in dichter Abfolge Artikel wie Technology is society made durable (1991), On technical mediation (1994) und Une sociologie sans objet? Note théorique sur l’interobjectivité (1994) neben dem Quasi-Roman Aramis (1992) und der Aufsatzsammlung La clef de Berlin (1993). Latours Forschungen kreisen zu dieser Zeit vor allem um Alltagstechniken, also technische Artefakte, die ein selbstverständlicher Teil unserer Handlungen geworden sind, wie folgende kleine Geschichte illustrieren soll: Ein Freund von uns ist für ein paar Tage in der Stadt und fragt, ob wir nicht Zeit für ein gemeinsames Essen hätten und ihn am Abend von seinem Hotel abholen könnten. Wir verlassen unsere Wohnung in Westberlin und wie immer 2 | Die Ökologiekrise der Gegenwart ist das wesentliche Bezugsproblem für das theoretische Unterfangen der Existenzweisen (vgl. Latour 2014: 58 ff.).
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nötigt uns die sonderbare Schlüsselkonstruktion am Eingangstor des Hofes, das Tor zu verschließen und beim Herausgehen nicht einfach offen stehen zu lassen (vgl. Latour 1996b[1993]: 37 ff.). Im Auto sitzend fordern uns dann der Sicherheitsgurt und die ihn begleitenden Warnsysteme auf, uns vor der Fahrt anzuschnallen (vgl. ebd.: 28 ff.). Auf unserem Weg kommen wir an einer Schule vorbei, die auf der Straße befindlichen Bodenschwellen legen uns nahe, die Geschwindigkeit zu reduzieren – wenn schon nicht um der Schüler Gesundheit willen, so doch, um nicht die Federung zu ruinieren (vgl. Latour 2006[1994]: 493 ff.). Am Hotel angekommen, warten wir draußen im Auto und sehen, wie eben jener Freund das Hotel durch die automatischen Eingangstüren verlässt (vgl. Latour 1996b[1993]: 62 ff.), um sogleich abrupt umzukehren und nach einigen Momenten wiederzukommen. Er habe in der Eile beinahe den Hotelschlüssel mitgenommen, allerdings sei ihm beim Laufen das klobige Ding in der Hosentasche noch aufgefallen (vgl. Latour 1991: 104 ff.). Wo auch immer nun das Abendessen genossen werden wird – das Fahrzeug macht auch unserem Mitfahrer klar: Schnall Dich an! Aus Latours Perspektive ist es entscheidend, dass sich das Zustandekommen simpler alltäglicher Abläufe, wie einer Verabredung, ohne Berücksichtigung der involvierten Technik, soziologisch nicht adäquat beschreiben lässt. Wenngleich der Gegenstandsbereich dieser Arbeiten relativ klar umrissen ist – es geht um eher einfache technische Objekte –,3 so wurde dennoch festgestellt, dass Latour aus seiner Beschäftigung mit diesen Objekten verschiedene Thesen ableitet und auch auf unterschiedlichen Ebenen argumentiert.4 Entstanden sind Latours diverse Technikkonzeptionen in den erwähnten Texten der frühen 1990er Jahre. Mit Blick auf neuere Publikationen – einschließlich der Existenzweisen – erscheint es sinnvoll, sich zum Zweck der Rekonstruktion an zwei basalen Theoremen zu orientieren, die sich auf verschiedene Art und Weise durch Latours Schriften zur Technik ziehen: die Moralität der Technik (a) und die technische Faltung (b) erscheinen retrospektiv als alternative Fluchtpunkte der Latour’schen Techniksoziologie, deren zunächst eher unklares Verhältnis sich – insbesondere unter dem Einfluss Simondons – stark verändern wird.
3 | Die Ausnahme davon ist natürlich die Studie zum gescheiterten Verkehrssystem »Aramis« (Latour 1996a). 4 | Schulz-Schaeffer (2008) hat insgesamt vier verschiedene Konzeptionen der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik bei Latour herausgearbeitet: (a) die Ko-Konstitution von Technik und Gesellschaft, (b) die Konstitution hybrider Akteure, (c) Technik als Härtung des Sozialen und (d) Technik als ermöglichender Rahmen menschlicher Sozialität. Eine vergleichbare, wenn auch weit weniger komplexe Analyse hat neuerlich Sayes (2014) in Hinsicht auf »non-humans« im Allgemeinen vorgelegt.
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a) Die Moralität der Technik Das spannungsreiche Verhältnis von Moral und Technik wird in fast allen Fallstudien Latours zur Alltagstechnik aufgegriffen, jedoch in verschiedener Weise ausbuchstabiert. Der Fall des Türschließers, der den Portier am Eingang eines Hotels ersetzt, gehört zu den frühesten Arbeiten aus Latours Soziologie der Alltagstechnik (Latour 1988). Das Beispiel verdeutlicht, wie sich Technik und Gesellschaft in Alltagssituationen ko-konstituieren, indem die Handlungsprogramme von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren übersetzt und neuverteilt werden (vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 144 ff.). Oberflächlich betrachtet hat die Ersetzung zum Ergebnis, dass der Hotelgast, anstelle des Portiers, die physische Kraft zum Öffnen der Tür auf bringen muss; er braucht sich allerdings nicht, wie zuvor der Portier, um das Schließen der Tür zu kümmern. Latour beleuchtet in diesem Fall also zunächst die Neuverteilung von Handlungsträgerschaft. In diesem und weiteren Fällen wird die Frage der Moralität über den Begriff des Skripts ins Spiel gebracht: ein technisches Objekt wie der Türschließer ersetzt nicht umstandslos den Menschen, sondern diese Ersetzung hat Rückwirkungen auf die menschlichen Akteure: »Die Inskription, die die Tür auf die Rolle als temporärer Durchlass festlegt, steht jedoch nicht für sich. Sie zieht als Präskription bestimmte Rollenerwartungen den menschlichen Akteuren gegenüber nach sich, die diesen Durchlass passieren.« (Schulz-Schaeffer 2008: 116) Ein Türschließer kann z. B. mehr oder weniger stark eingestellt sein, d. h. er verlangt von den Nutzern, dass sie sich in ihrem Verhalten seinen Vorgaben anpassen, was Latour als Präskriptionen bezeichnet: »Prescription is the moral and ethical dimension of mechanisms. In spite of the weeping of the moralists, no human is as relentlessly moral as a machine.« (Latour 2008: 157) Auch die Inskriptionen haben eine moralische Qualität, wie Latour an anderer Stelle betont: »we need to have infinite respect for the deciphering of inscriptions. To propose the description of a technological mechanism is to extract from it precisely the script that the engineers had transcribed in the mechanisms and the automatisms of humans or nonhumans […]: here is the morality of things.« (Latour 1996a: 207) Eine Bodenschwelle bringt bspw. den Autofahrer dazu, seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Hier findet eine Übersetzung der Ziele des Fahrers statt »von ›Ich fahre langsam, um keine Studenten zu gefährden‹ in ›Ich fahre langsam und schütze die Federung meines Autos‹« (Latour 2006: 494). Diese Übersetzung und die damit verbundenen Inskriptionen eines Handlungsprogramms in den Beton durch die Ingenieure führen zu einer Modifikation des Verhaltens des Fahrers: »Er fällt von Moral zurück auf Zwang.« (Ebd.) Die Moral wird damit aber nicht obsolet – als in Be-
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ton gegossener Imperativ (»Fahre langsam!«) bleibt sie Teil der Situation, hängt aber nicht mehr am guten Willen des Fahrers. In diesen Fällen wird das Verhältnis von Moralität und Technik also über die Inskription und Präskription von Handlungsprogrammen als Neuverteilung von Moralität gedeutet: »Die Masse an Moral bleibt konstant, wird jedoch unterschiedlich verteilt.« (Latour 1996b: 29) Gemeint ist damit, dass die Stabilität sozialer Verhältnisse nicht allein durch die moralische Qualität der menschlichen Subjekte zu erklären ist, sondern ebenso durch das moralische Wirken der Nicht-Menschen.5 Das Theorem der Moralität der Technik zeigt sich auch im Fall des bewaffneten Mannes: Hier entsteht aus der Assoziation von Mensch und Technik ein hybrider Akteur mit eigenem Handlungsprogramm (vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 120 ff.). Latour fordert im Einklang mit dem Türschließer-Fall auch hier, zu »lernen, Handlungen viel mehr Agenten zuzuschreiben« (Latour 2006: 488). Bzgl. des Verhältnisses von Technik und Moralität folgen für das Beispiel allerdings hochgradig provokante Aussagen: »Es sind weder Menschen noch Waffen, die töten. Die Verantwortung für ein Handeln müssen sich die verschiedenen Aktanten teilen.« (Ebd.: 489) Offenbar ist Latour bereit, das Theorem von der Moralität der Technik bis zur äußersten Konsequenz zu verfolgen.6 Eine weitere Argumentationslinie steckt in Latours Idee, technische Artefakte trügen in besonderer Weise zur Stabilisierung von Assoziationen bei (vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 124 ff.). »Technology is society made durable« ist wohl eine der griffigsten Thesen Latours, untermauert durch seine oft reproduzierte Beschreibung der Wirkungsweise eines Schüsselanhängers auf Hotelgäste (vgl. Latour 1991, 1996b: 53 ff., 2008: 175). Da ein Hotelmanager ein Interesse daran hat, dass seine Gäste beim Verlassen des Hotels die Zimmerschlüssel an der Rezeption abgeben, muss er sich Gedanken machen, wie er die Gäste auch dazu bewegt. Er kann beim Einchecken eine mündliche Aufforderung aussprechen oder er kann an der Rezeption bzw. am Ausgang entsprechende Hinweisschilder anbringen. Derartige Appelle können von den Hotelgästen allerdings leicht übersehen, vergessen oder auch ignoriert werden. Mehr Erfolg 5 | Gegen das Missverständnis, Latour setze menschliche und nicht-menschliche Akteure in Hinsicht auf ihre Fähigkeit, moralisch zu handeln, gleich, gibt Sayes (2014: 139) zu bedenken: »However, behind colorful language, there is nothing in this conception of nonhumans that stipulates that they have purpose, will, a sense of justice, or that they are moral or political actors in the precise senses in which humans are. Rather, the argument only entails that moral choice and the political sphere are not subject solely to the rational restraints of logic, the disciplinary logic of norms, or potential legal sanction – a claim that would seem to be largely uncontroversial.« 6 | Zweifellos drängen sich hier Fragen ethischer und rechtlicher Natur auf, die allerdings zu weit von dem gegebenen Rekonstruktionsinteresse wegführen.
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verspricht da ein Metallklotz, der an den Schlüssel angehängt wird und für die Gäste ein Ärgernis darstellt, sodass sie ihn einfach loswerden wollen. Wenn Latour nun vom »moralischen Gewicht« dieses Anhängers spricht (Latour 1996b: 53), so meint er damit einerseits dessen Effektivität in der Durchsetzung des Handlungsprogramms des Hoteliers (»Der Schüssel muss beim Verlassen des Hotels abgegeben werden«) gegenüber den Gegenprogrammen der Hotelgäste (z. B. »Ich möchte mich nicht an der Rezeption abmelden müssen«). Andererseits geht es ihm ganz direkt um das physische Gewicht des Anhängers, das den Gästen lästig wird – so wird das Verhältnis zwischen Hotelier und Gast (»Ich respektiere die Bitte des Hoteliers und gebe meinen Schlüssel ab, wenn ich das Hotel verlasse«) übersetzt in ein Verhältnis zwischen Gast und Schlüsselanhänger (»Dieser schwere, klobige Anhänger stört mich, ich werde ihn an der Rezeption abgeben«).7 Auch dieses Beispiel bleibt im Rahmen der Neuverteilungsthese der Moral, denn die Wirkung des Schlüsselanhängers entfaltet sich im Zusammenspiel mit den vorangegangenen Appellen und Maßnahmen und ersetzt diese nicht restlos. Mündliche Aufforderung, Schilder und Anhänger zusammen erzeugen einen moralischen Druck, der die Gegenprogramme seitens der Gäste überwindet (vgl. Latour 1996b: 56 ff.). Trotz der verschiedenen Technikkonzeptionen, die mit den einzelnen Fallstudien einhergehen, zeigt sich also ein roter Faden in den Arbeiten zur Technik. Die Begrifflichkeiten der Übersetzung, Inskription, Präskription oder Delegation dienen dazu, Technik in den Bereich des Sozialen zu inkorporieren, aus dem sie die Soziologie so lange Zeit ausgeschlossen hatte. Das Theorem von der Moralität der Technik erweist sich als Brücke zur Überwindung dieser Kluft: »We have been able to delegate to nonhumans not only force as we have known it for centuries but also values, duties, and ethics. It is because of this morality that we, humans, behave so ethically, no matter how weak and wicked we feel we are.« (Ebd.: 157) 7 | Zu Recht lässt sich darin ein »Stück eigenständiger Theoriebildung« sehen, das die spezifische Wirksamkeit technischer Artefakte auf menschliches Zusammenleben betrifft (Schulz-Schaeffer 2008: 129). Im Gegensatz zu den vorangehenden Fällen, ist bei dieser Technikkonzeption – Technik als Härtung des Sozialen – die Stabilisierung Konsequenz der materiellen Eigenschaften des Objekts und nicht Effekt eines relationalen Gefüges von abgestimmten Handlungsprogrammen, wie im Fall des Türschließers. Dabei entsteht das Problem, dass diese Sonderrolle der physischen Eigenschaften des Gegenstandes im Grunde den Verzicht auf theoretische Vorentscheidungen verletzt, der ein wesentlicher Bestandteil des empirischen Programms der ANT ist, so Kneer (2009: 32) und Schulz-Schaeffer (2008: 129). Letzterer hat den Vorschlag gemacht, die Spannungen zwischen den Technikkonzeptionen Latours und der Ausrichtung der ANT als empirisches Forschungsprogramm über Differenzen wie Ethnotheorie vs. Beobachtungstheorie aufzulösen (vgl. ebd.: 137 ff.).
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b) Die technische Faltung Unter dem Begriff der Interobjektivität führt Latour eine weitere Technikkonzeption ein: Technik als ermöglichender Rahmen menschlicher Sozialität (Latour 2001; vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 130 ff. und Sayes 2014: 137). Die Behauptung, menschliche Sozialität sei auf verschiedenste Weise technisch vermittelt, wird gewendet zu der deutlich stärkeren These, diese technische Vermittlung zeichne menschliche Formen des Zusammenlebens grundsätzlich aus und grenze sie gegenüber tierischen ab.8 Diese anthropologische These untermauert er mit Verweisen auf die Primatenforschung von Shirley Strum (1987), wobei er zugleich von den vorangegangenen Fallbeispielen und auch von der Frage nach der Moralität der Technik abstrahiert: Das Gemeinschaftsleben von Pavianen basiert auf face-to-face-Interaktionen, durch welche z. B. die Hierarchie in der Gruppe kontinuierlich ausgehandelt wird. Die Interaktion ist frei von Artefakten, ihr fehlt damit wesentlich, was im symbolischen Interaktionismus im Anschluss an Goffman als »Rahmen« bezeichnet wird, d. h. die »Soziologie der Affen […] führt uns ein soziales Leben vor, in dem Interaktion und Struktur koextensiv sind« (Latour 2001: 241). Die Konsequenz ist, dass die Interaktionen immer wieder das gesamte soziale Leben der Paviane erfassen und nicht auf Dauer zu stellen sind. Menschliche Interaktionsverhältnisse dagegen seien allein schon durch Anwesenheit von Kleidung oder architektonischen Gegebenheiten nie »reine« Face-to-face-Situationen. Über Artefakte sind bspw. die Produzenten einer Jacke oder einer Mauer zwar in der je aktuellen Situation »abwesend, aber ihre Handlungen sind noch heute spürbar« (ebd.: 239). In menschlichen Interaktionen ist also etwas präsent, das über die Ko-Präsenz der beteiligten Subjekte hinausweist. Die Grenze des Interaktionsrahmens ist je nach einbezogenen nicht-menschlichen Ressourcen verschiebbar: »Indem wir die Interaktion verschieben und uns mit dem Nicht-Menschlichen verbinden, können wir über die aktuelle Zeit hinaus in einer anderen Materie als unserem eigenen Körper überdauern und auf Distanz interagieren – eine Sache, die für Paviane und Schimpansen absolut unmöglich ist.« (Ebd.: 248) Menschliches Zusammenleben zeichnet sich also dadurch aus, sich mittels Objekten vom Hier und Jetzt der interagierenden lebenden Körper zu lösen: »Jedes Mal 8 | Latour steht damit in der Tradition des französischen Anthropologen André LeroiGourhan, dessen These von der »Hominisation« im Kern besagt, dass der Mensch nicht als biologisch fertiges Wesen zum Hervorbringer von Kultur wird, sondern dass seine biologische Menschwerdung durch den Umgang mit technischen Artefakten über verschiedene Stufen vorangetrieben wird (Leroi-Gourhan 1980[1964/65]). Zur Bedeutung von Leroi-Gourhans Arbeiten für Latour siehe Nitsch (2008).
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wenn eine Interaktion in der Zeit andauert und sich im Raum ausweitet, dann heißt das, dass man sie mit einem nicht-menschlichen Akteur geteilt hat.« (Ebd.) Technik ist hier soziologisch relevant, insofern sie Raum- und Zeitverhältnisse modifiziert. Diese Effekte nicht-menschlicher Wesen erlauben, so Latour, eine Verabschiedung des Gesellschaftsbegriffs bzw. des Begriffs der sozialen Struktur als Erklärungskategorie, denn »[a]lles in der Definition der Makro-Sozialordnung kann auf das Enrolment von NichtMenschen zurückgeführt werden, d. h. auf technische Vermittlung. Sogar der einfache Effekt der Dauer, der lang anhaltenden sozialen Kraft, kann ohne die Dauerhaftigkeit von Nicht-Menschen, zu denen menschliche lokale Interaktionen verschoben worden sind, nicht erhalten werden.« (Latour 2006: 510; vgl. Latour 2001: 244 f.) 9
Die Sozialität der Technik besteht hier weniger in der moralischen Orientierung menschlichen Verhaltens, sondern in einer Vergegenwärtigungsleistung, die aus den oben geschilderten Übersetzungsprozessen resultiert: »Eine Handlung in der fernen Vergangenheit, an einem weit entfernten Ort, von abwesenden Akteuren, kann unter der Bedingung, dass sie verschoben, übersetzt, delegiert oder auf andere Typen von Aktanten, die ich Nicht-Menschen nenne, verlagert wird, noch anwesend sein.« (Latour 2006: 509) Diese Wirkung der Technik auf das raum-zeitliche Gefüge des Sozialen fasst Latour mit dem Begriff der Faltung. In seinen bis hierhin diskutierten Untersuchungen zur Technik ist dieses zweite Theorem keineswegs so präsent wie das der Moralität, wenngleich es wiederholt auftaucht. Ausführlicher erörtert wird es nur im Aufsatz zur technischen Vermittlung (Latour 2006), thematisch verhandelt wird es ebenfalls im Text zur Interobjektivität, wenngleich der Begriff dort nur beiläufig fällt (Latour 2001: 241). Daneben finden sich nur wenige andere Stellen, an denen von Faltung die Rede ist (vgl. Latour 1996a: 219, 2008: 156). Das Theorem der Faltung von Raum und Zeit verhält sich auf gewisse Weise komplementär zur Moralitätsthese, insofern es Handlungsprogramme anspricht, die sich durch ihre Delegation an ein Objekt von ihrem Urheber lösen. Dies betrifft laut Latour aber nicht nur die Neuverteilung von moralischen Imperativen, sondern auch von technischen Fertigkeiten: Der instruktive empirische Fall dazu ist der Vergleich einer klassischen Pipette, die bei jeder Aufnahme von Flüssigkeit »ein hohes Maß an Konzentration und Koordination« verlangt, und eines »Pipetman«, der per einfachem Knopfdruck zu bedienen ist: »Die neue Pipette ist selbst kompetent – das Handlungsprogramm wird nun zwischen einer höher kompetenten Pipette und einem relativ geringer 9 | Dies bedeutet letztlich eine »Ausweitung der These von der Technik als Härtung des Sozialen« (Schulz-Schaeffer: 130).
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kompetenten menschlichen Pipettenbenutzer geteilt« (Latour 2006: 501 f.). Hier bezeichnet »Technik« nach Latour nicht moralingetränkte Objekte oder Mechanismen, sondern einen »modus operandi, eine Verkettung von Handgriffen und Know-how, die ein erwartetes Ergebnis hervorbringt« (Latour 2006: 501, vgl. Latour 2001: 251, FN 27). Entlang des Faltungstheorems gelingt es Latour also, das Technische in seiner Eigenlogik zu erfassen: »›Technisch‹ bezeichnet auch eine sehr spezifische Art von Delegation, von Bewegung, von Verschiebung, die in einer Überkreuzung mit Entitäten besteht, die einen anderen zeitlichen Ablauf, andere Eigenschaften, andere Ontologien haben, und die dazu gebracht werden, dieselbe Bestimmung zu teilen, wobei sie einen neuen Aktanten schaffen.« (Latour 2006: 501) Statt vom Substantiv »Technik« solle besser vom Adjektiv »technisch« gesprochen werden, da es sich Latour zufolge dezidiert nicht um einen Gegenstandsbereich handelt, sondern eine Weise der Verkettung (vgl. ebd.). Die konzeptuelle Spannung zwischen der Moralität der Technik und der technischen Faltung besteht nun zunächst fort. Nach den techniksoziologischen Arbeiten der frühen 1990er wendet sich Latour wieder wissenschaftssoziologischen Studien zu, ebenso wie der gesellschaftstheoretischen Weiterentwicklung der ANT, welche vielfältige Schriften zu u. a. Politik, Recht oder Religion hervorbringt.10 Seine techniksoziologischen Positionen kehren dabei ohne tiefgreifende Modifikationen in einigen späteren Werken wieder (vgl. z. B. Latour 2005: 63 ff.). Ein bemerkenswertes Intermezzo zur Technik ereignet sich in dieser Phase mit dem Artikel »Morality and Technology« (2002). Bedeutsam ist dieser Text, weil er einerseits einige Stellungnahmen des Autors zu seinen älteren techniktheoretischen Positionen beinhaltet und andererseits, weil er seine Gedanken zur Technik hier erstmals in ein Vokabular gießt, dass über die Begrifflichkeiten der ANT hinaus auf das umfassendere Projekt einer Analyse moderner Existenzweisen deutet. Zu Beginn dieses Textes rekapituliert Latour seine grundlegende Intention, die Entgegensetzung von Technik und Moral aufzulösen,11 d. h. »[t]echnologies 10 | Einen prägnanten Überblick über die Entwicklung von Latours Gesamtwerk von den Laborstudien bis zu den Existenzweisen bietet Laux (2014). 11 | Inspiriert sei diese weit verbreitete Denkweise insbesondere durch die Technikphilosophien Jacques Elluls und Martin Heideggers (vgl. Latour 2002: 247). Latours Kritik gilt der deterministischen Idee einer autonomen Technik (vgl. z. B. Latour 1996a: 127), die aber eher Ellul als Heidegger zuzuschreiben ist. Von verschiedenen Autoren wurde darauf hingewiesen, dass Latours harsche Kommentare zu Heidegger zum einen einer oberflächlichen Rezeption zu verdanken sind (Khong 2003) und zum anderen als rhetorisches Abgrenzungsmanöver dienen, um etwaige Berührungspunkte zu verdecken (Kochan 2010, Harman 2009: 137). In den Existenzweisen gibt es nur einen expliziten Verweis auf Heideggers Technikphilosophie (Latour 2014: 314), der zwar weniger
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belong to the human world in a modality other than that of instrumentality, efficiency or materiality« (Latour 2002: 248). Daran schließt er den zuletzt rekonstruierten Gedanken an, das Technische als Adjektiv und nicht als Sub stantiv zu denken. Anstatt einen Gegenstandsbereich »Technik« in Opposition zu denen der Moral, Politik oder Ökonomie zu definieren, gelte es das Technische als einen »mode of existence« zu betrachten, der sich über »the notion of fold« bestimmen lässt (ebd.). Diese Weichenstellung bildet den Ausgangspunkt für Latours Versuch, die Verflechtung von Moral und Technik zu beschreiben, allerdings ohne dabei das Theorem von der Moralität der Technik aufrechtzuerhalten: »It is mainly the contempt that sociologists have for matter and for technological innovation which has led me previously to exaggerate somewhat in speaking about the ›tragic dilemmas of a safety belt‹«, so Latour in Anspielung auf das einschlägige Kapitel aus dem Berliner Schlüssel (ebd.: 254; vgl. Latour 1996b: 28). An die Stelle der These »that technical objects have an obvious moral dignity in themselves« tritt die Absicht, Technik und Moral die gleiche ontologische Dignität zukommen zu lassen, d. h. sie als eigenständige Existenzweisen auszuzeichnen (Latour 2002: 254). Entscheidend ist an diesem Punkt des Latour’schen Nachdenkens über Technik zweierlei: Zunächst wird der Technikbegriff in Richtung des Theorems der Faltung von Raum und Zeit präzisiert. Im Zuge dieser Umstellung verkündet Latour zudem, dass das Verhältnis von Moral und Technik auf ontologischer Ebene zu klären sei. Es scheint ihm also um eine Bestimmung der Technik zu gehen, die diese aus dem weiteren Ensemble von nicht-menschlichen Akteuren heraushebt, auf welche die ANT aufmerksam gemacht hat. Angesichts dieser gravierenden konzeptuellen Veränderungen drängt sich die Frage auf: Was ist passiert? Seit dem Aufsatz von 2002 erscheint mit zunehmender Frequenz ein Name in Latours Texten, der zuvor kaum zu finden war: Gilbert Simondon. »Morality and technology are ontological categories, as Gilbert Simondon […] has so well expressed it.« (Latour 2002: 256) Möchte man Latours Selbstauskünften Glauben schenken, so ist er außerdem durch Simondons Buch Du Mode d’Existence des Objets Techniques (1958) zum ersten Mal auf den Begriff der Existenzweise gestoßen (vgl. Latour 2013: 293). Diese von Latour suggerierte Nähe soll zum Anlass genommen werden, in den nachstehenden Abschnitten aufzuzeigen, inwiefern die Neubestimmung der Technik als Existenzweise erst durch den Rückgriff auf Simondon plausibel wird.
polemisch ausfällt, aber keine Veränderung von Latours Haltung zu Heidegger erkennen lässt. Eine tiefere Diskussion des Verhältnisses der beiden Autoren wird an dieser Stelle daher ausgespart.
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2. N ach S imondon Es ist nicht so, als wäre Simondons Werk12 Latour erst seit den 2000ern bekannt. Blickt man in die älteren Texte zur Technik, so finden sich außer zwei kargen Fußnoten allerdings keinerlei Verweise auf Simondon (vgl. Latour 1996a: 106 und 1996b: 24). Auf »Morality und Technology« folgt jedoch eine Reihe von kleineren Publikationen, in denen Simondon – neben Etienne Souriau – immer wieder als Kronzeuge für das allmählich deutlich werdende OntologieProjekt aufgerufen wird (Latour 2007, 2011, 2013a, 2013b).13 Seine Bedeutung gewinnt Simondon nach Latours eigener Darstellung daher, dass er Souriaus Entwurf einer Philosophie der Existenzweisen (2015[1943]) auf den Bereich der Technik überträgt. Jedoch ist Simondons Philosophie der Technik voller Ansätze, die sich schon auf Latours ANT-Texte zur Technik beziehen lassen. Da Simondon von Latour im Kapitel zur technischen Existenzweise mehr als je zuvor als Inspirationsquelle in Szene gesetzt wird, sollen nun einige theoretische Affinitäten zwischen beiden Denkern vorgestellt werden. Die offenkundigste Nähe zwischen beiden ist programmatischer Natur: Wenn sich Latour gegen deterministische und essentialisierende Auffassungen der Technik wendet, so bekämpft er damit Geister, die in ihrer Blüte standen, als Simondon mit seiner Technikphilosophie die Bühne betrat. Latour folgt dabei der Stoßrichtung, die Simondon vorgegeben hat: »Das ganze Werk liest sich so, als ob es Simondon letztlich – im zeitgenössischen Kontext der Technophobie – um die Dignität der technischen Dinge zu tun wäre, als ob er letztlich alles daran setzt, die Zentralität des Technischen im Sozialen zu denken.« (Delitz 2015: 295, vgl. auch Clarke 2014) Die einleitenden Worte aus Simondons Technikbuch kommen entsprechend im Tonfall eines Manifestes daher: »Es ist die Absicht, eine Bewusstwerdung über den Sinn der technischen Objekte auszulösen, die den Anstoß zu dieser Untersuchung gibt. […] Der Gegensatz, welcher zwischen Kultur und Technik, Mensch und Maschine aufgestellt wird, ist falsch und ent12 | Das Buch zur Existenzweise technischer Objekte, um das es im Folgenden gehen wird, ist der zweite Teil von Simondons Dissertation, die unter Betreuung von Georges Canguilem entstand. Es wurde 1958 veröffentlicht und sein »Einfluss auf die neuere französische Techniktheorie [ist] kaum zu überschätzen« (Nitsch 2008: 224, FN 10). Latours explizite Verweise auf Simondon beziehen sich ausschließlich auf dieses Werk. Siehe zu Simondons intellektueller Biografie und der Stellung seines Gesamtwerkes im Frankreich der Nachkriegszeit Hayward/Geoghegan (2012), Bontems (2014: 44 ff.), Iliadis (2015) und Delitz (2015: Kap. III.3). 13 | Eingeführt wurde der Begriff ursprünglich jedoch von Etienne Souriau, der für die Existenzweisen als Gesamtprojekt folglich auch ungleich bedeutender ist als Simondon (vgl. Latour 2013a und 2013b).
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Emanuel Herold behrt der Grundlage; dahinter verbirgt sich nichts als Unwissenheit und Ressentiment.« (Simondon 2012: 9)
Er tritt als Zeitdiagnostiker auf, der seinen (philosophischen) Zeitgenossen vorwirft, sie hätten die technischen Objekte »in die strukturlose Welt dessen abgedrängt, was keine Bedeutung besitzt, sondern dem lediglich ein Gebrauch, eine nützliche Funktion zukommt« und behauptet, dass die »stärkste Ursache für die Entfremdung in der heutigen Welt in diesem Verkennen der Maschine [liegt]« (ebd.). Zum Zweck einer Rehabilitierung der Maschinen verfolgt also schon Simondon einen rigorosen Anti-Instrumentalismus. Als Alternative bietet er eine genetische Theorie der Technik an, welche sich nicht an der Verwendung, sondern der Entwicklung technischer Objekte orientiert. Hinter dem zentralen Begriff der Konkretisation verbirgt sich bei Simondon »eine Morphologie der Technik […], die zugleich historisch und komparativ vorgeht und auf Fragen der Konsistenz, Kohärenz und Konvergenz fokussiert«, d. h. die Existenzweise technischer Objekte wird »durch eine Evolutions- und Entwicklungslehre unterschiedlicher Gestalten der Technik [erfasst]« (Schmidgen 2012: 122 f.).14 Diesen Gestalten wendet sich Simondon ganz praktisch zu, indem er z. B. Telefone oder Motoren sammelt und demontiert oder sich von Dingen, die dafür zu groß sind – seien es nun Turbinen oder Wasserkraftwerke –, die entsprechenden Baupläne besorgt und diese analysiert (vgl. ebd.: 121). Seine Analyse der Bestandteile verschiedener Baureihen eines Objekts folgt dem Grundgedanken, das technische Objekt sei »nicht diese oder jene, hic et nunc gegebene Sache, sondern das, was eine Genese durchläuft« (Simondon 2012: 19). Simondon dachte und praktizierte mithin, was Latour viele Jahre später als »Öffnen der Black Boxes« propagieren wird (Latour 1987; vgl. Schmidgen 2012: 123). Simondons Technikphilosophie bleibt aber nicht bei einer Analyse der Objekte stehen. Neben der Ablehnung eines bloßen technischen Instrumentalismus zeigen sich auch bei ihm post-humanistische Denkmotive: Beide lehnen einen Humanismus ab, der Technik und Sozialität bzw. Kultur in ein oppositionelles Verhältnis stellt, sodass die Objekte bloße Mittel für menschliche Intentionen sind oder umgekehrt die menschlichen Subjekte sich alternativlos erscheinenden technischen Zwängen unterwerfen müssen – stattdessen »[muss] jede Epoche ihren eigenen Humanismus entdecken« (Simondon 2012: 94; vgl. Latour 2006: 498 f.). Muss Simondon für seine Zeit noch feststellen, dass den technischen Objekten »das Bürgerrecht in der Welt der Bedeutun14 | Wie Bontems (2014) darlegt, hat Simondon seine Theorie technischer Objekte im Laufe der Zeit deutlich modifiziert. Der Grundgedanke, entlang der Genese von technischen Strukturen zu denken und nicht a priori anhand des Gebrauchs fertiger Geräte zu klassifizieren, bleibt allerdings erhalten.
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gen« vorenthalten wird (Simondon 2012: 9), so erblickt Latour in der politischen Ökologie der Gegenwart erste Ansätze, den Nicht-Menschen »die Eigenschaften des Bürgerseins« zuzugestehen (Latour 2006: 515). Im Angesicht der Durchdringung der Alltagswelt mit technischen Objekten erscheint es beiden dann nur konsequent, sich vom Begriff der Gesellschaft zu verabschieden und stattdessen den des Kollektivs in Stellung zu bringen (vgl. Simondon 2012: 233 f., Latour 2005: 74 f.).15 Dass der Humanismus alter Prägung das Verhältnis von Technik und Gesellschaft nur so zu fassen wusste, dass er das eine als Mittel zu den Zwecken des anderen definierte, lag auch an der Prämisse, technischen Objekten als materiellen Gegenständen eine grundsätzliche Passivität gegenüber der Spontaneität menschlicher Subjekte zuzuschreiben. Simondons philosophische Kritik des Hylemorphismus zielt auf diese Voraussetzung. Diesem von Aristoteles herkommenden Denkschema zufolge stehen Form und Materie in einer asymmetrischen Relation, deren Prozessieren als Formgebung gedacht wird, also als Prägung eines passiven Stoffes (griech. hyle) durch eine aktive Form (griech. morphe). Diesem Modell liege aber eine unvollständige, an handwerklicher Arbeit orientierte Vorstellung von technischer Erfahrung zugrunde: Sie wird so gefasst, dass »der Mensch einen Stoff gemäß einer Form [modelliert], er bringt diese Form schon mit, die eine Ergebnisintention ist, eine Vorherbestimmung dessen, was es am Ende der Arbeit gemäß den bereits zuvor existierenden Bedürfnissen zu erhalten gilt« (Simondon 2012: 223 f.; vgl. Delitz 2015: 300 f.). Dieses Denkschema verdunkele jedoch den Prozess der Formwerdung, dabei gehe die eigentlich technische Operation gerade davon aus, »was sich innerhalb der Form ereignet« (ebd.: 225). Denn diese ist zum einen selbst materiell, zum anderen aber auch nicht passiv, da »die Welt der technischen Geste nicht einen gefügigen Stoff ohne Spontaneität [liefert]; die der technischen Operation unterzogene Welt ist kein neutraler Grund: Sie besitzt Gegen-Strukturen, die sich den figuralen technischen Schemata entgegenstellen.« (Ebd.: 191)16 Auch Latour kritisiert in den Existenzweisen die Vorstellung von einer passiven Materie und bietet zudem eine Differenzierung des Formbegriffs an (vgl. Latour 15 | Auf diese und weitere begriffliche Affinitäten hat Cuntz (2008) aufmerksam gemacht. Kollektive entstehen nach Latour aus der Assoziation von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Berücksichtigt man, dass der Begriff der Nicht-Menschen mehr umfasst als technische Objekte, so ist es angemessen zu sagen, Simondon entwerfe im Kern »eine auf die Technik beschränkte Version des ›Parlaments der Dinge‹« (Schmidgen 2011: 201, FN 162). In die gleiche Richtung argumentiert auch LaMarre (2012: 95 ff.). 16 | Simondons Beispiel zur Illustrierung dieser Kritik ist das von hölzerner Scheibe und Ton gebildete System, auf das der Töpfer vermittelnd einwirkt (vgl. Simondon 2012: 224 f.).
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2014: Kap. 4). Obwohl er sich dabei explizit vor allem auf das Werk von Alfred North Whitehead bezieht, so ist dennoch offenkundig, dass hier Kontinuitäten zu Simondons Kritik zu finden sind (vgl. Schmidgen 2011: 160 f. und Latour 2013b: 90 f.). All diese Berührungspunkte machen deutlich, dass Latour nicht erst mit den Existenzweisen in Simondons Tradition steht. Nichtsdestotrotz muss betont werden, dass Latours und Simondons Gegenentwürfe zum technischen Instrumentalismus starke Unterschiede aufweisen. An keiner Stelle seines Werkes taucht Latour so tief in technische Details ein wie Simondon. Aus ANT-Perspektive gilt sein Interesse der Relationierung von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen im Hinblick auf die Verteilung von Handlungsträgerschaft: Latour zielt auf die De-Skription der technischen Objekte, also auf die Analyse von inskribierten und präskribierten Handlungsprogrammen. Die Evolution der technischen Möglichkeiten der Einschreibung von Skripten spielt dabei keine Rolle (vgl. Schmidgen 2011: 151 f.). Obwohl beide zudem eine Kritik an den in ihren Augen vorherrschenden gesellschaftlichen Einstellungen zur Technik vorlegen, bleibt Simondons soziologisches Interesse im Vergleich zu Latours sehr abstrakt (vgl. Clarke 2014: 134 f.). Wohl auch aus diesen Gründen hat Latour – mit Ausnahme eines eher irreführenden Verweises in Aramis (vgl. Latour 1996a: 106) – nie explizit Bezug auf Simondons Theorie des technischen Objekts genommen. Welche Aspekte von Simondons Philosophie führen dann aber zu dessen zunehmender Präsenz in Latours Texten? »Das Genie Simondons bestand darin, gesehen zu haben, daß man den Existenzmodus der technischen Wesen nur genauer bestimmen kann, wenn man Maß nimmt an den Existenzmodi der Magie, der Religion, der Wissenschaft, der Philosophie.« (Latour 2014: 302 f.) Latour bezieht sich damit auf den dritten Teil des Technikbuches, in dem Simondon eine Kulturtheorie entwickelt, die über die Analyse konkreter Objekte hinausgeht, denn die »Existenz der technischen Objekte und die Bedingungen ihrer Entstehung konfrontieren das philosophische Denken mit einer Frage, auf die es nicht allein durch die Betrachtung der technischen Objekte an sich antworten kann: Was ist der Sinn der Entstehung der technischen Objekte im Verhältnis zur Gesamtheit des Denkens, zur Existenz des Menschen und zu seiner Weise des Zur-Welt-Seins?« (Simondon 2012: 143).
Seine Kulturtheorie entwirft die Evolution dieser Verhältnisse als Differenzierungsprozess, der ausgehend von einem ursprünglichen magischen Weltverhältnis Differenzierungen zwischen technischen, religiösen, wissenschaftlichen und ethischen Phasen hervorbringt, zwischen denen die Modi des ästhetischen und philosophischen Denkens vermitteln. Phasen meinen dabei nicht Etappen in einer Chronologie, sondern Aspekte des menschlichen Ver-
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hältnisses zur Welt, die sich nur im Kontrast zueinander verstehen lassen (vgl. Simondon 2012: 149).17 Gerade diesen Anspruch, das Wesen der Technik aus einer solchen Pluralität von Beziehungen zu verstehen, würdigt Latour, wenn er schreibt, dass »es Magie in der Technik [gibt] – alle Mythen sagen es, und Simondon hat es besser erfaßt als irgendwer« (Latour 2014: 319). Erneut greift er die oben erläuterte Rede vom Technischen als Adjektiv auf und artikuliert sein Verhältnis zu Simondon – trotz aller Differenzen – als Allianz wider den technischen Instrumentalismus und Materialismus der Modernen: »›technisch‹ bezeichnet kein Objekt, sondern eine Differenz, eine ganz neue Erkundung des Seins-als-anderes, eine neue Deklination der Andersheit. Auch Simondon mokierte sich über den Substantialismus, der, auch hier wieder, wie immer, das technische Wesen verfehlte.« (Ebd.: 318) Was zeichnet den technischen Modus der Alterierung also aus und wie verhält er sich zu den anderen Existenzweisen?
3. D ie F r age nach der [TEC] Wenngleich Latour den langfristigen Charakter seines Projekts einer Anthropologie der Modernen betont (Latour 2013a), so ist in theoretischer Hinsicht dennoch deutlich erkennbar, dass die Existenzweisen auch eine Reaktion auf bestimmte Einwände gegenüber der ANT sind. Deren Begrifflichkeiten seien unpräzise, in dem Sinne, dass sich unter dem Handlungsbegriff der ANT die Beiträge der involvierten menschlichen und nicht-menschlichen Wesen zur Bildung eines Netzwerks nicht genauer bestimmen ließen. Zudem könne alles in irgendeiner Weise als Netzwerk beschrieben werden, sodass der Begriff letztlich seine Konturen verliere und seinen empirischen Gegenständen gegenüber zu stumpf bleibe (vgl. die Darstellung dieser und anderer Kritiken an der ANT bei Passoth [2008] und Schulz-Schaeffer [2000]). Latour adressiert diesen Mangel an Spezifität des Netzwerkbegriffs (vgl. Latour 2014: 75 ff.) und bietet die Existenzweisen als konzeptionellen Ausweg an, der es ermöglicht, weiterhin die Assoziation heterogener Entitäten zu denken, aber zugleich deren spezifisch politische, rechtliche oder technische Verknüpfung zu erfassen. Grundsätzlich folgt Latour bei der Vorstellung eines jeden Existenzmodus zwei Schritten: »Ich werde zunächst versuchen, eine Erfahrung herauszuarbeiten, die jedem Wert eigen ist, losgelöst von seiner traditionellen Wiedergabe; dann werde ich es auf mich nehmen, für diese Erfahrung eine alternative 17 | Die genaueren kultur- und gesellschaftstheoretischen Implikationen von Simondons Individuationsphilosophie können an dieser Stelle leider nicht dargestellt werden. Siehe dazu Delitz (2015: 314 ff.).
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Formulierung zu finden.« (Ebd.: 45)18 Das, was Latour als traditionelle Wiedergaben oder Beschreibungen bezeichnet, wurde hinsichtlich der Technik im vorangehenden Abschnitt mit Blick auf Simondon rekonstruiert: Ein Verständnis von Technik, welches technische Objekte auf nützliche Mittel verkürzt, deren Materialität einerseits Passivität impliziert und andererseits Trägheit, sodass der Technik mitunter eine autonome Entwicklungslogik zugeschrieben wird.19 Um den Modus der Technik (abgekürzt als [TEC]) aber angemessen zu verstehen, darf »man die Technik nicht mehr mit den Objekten verwechseln, die in ihrer Spur zurückbleiben« (ebd.: 316). Latour unterstreicht zu Beginn des Kapitels, dass ein Zugriff auf die Bewegung der Technik zwar durch die Analysen der ANT und der science and technology studies vorgezeichnet ist, aber nicht ausreicht (ebd.: 303 ff.). Die entsprechenden Studien würden zwar die innere Heterogenität von Akteur-Netzwerken und soziotechnischen Netzen aufzeigen, allerdings ist damit die technische Trajektorie nicht zu fassen, »weil, wenn man sich daranmacht, die Liste der Wesen zu folgen, die zur Erhaltung irgendeines Wesens notwendig sind, dann alles in dieser Hinsicht technisch wird« (ebd.: 306). Daher sei zunächst nicht zu sehen, wie man die Modi des Netzwerks [NET] und der Technik [TEC] auseinanderhalten könne. Wie weiter oben dargestellt, hat Latour früher bereits den Vorschlag gemacht, Technik als einen modus operandi zu begreifen, der sich als Verkettung von Know-how und Handgriffen vollzieht (vgl. Latour 2006: 501). Diese Überlegung spricht er nun erneut als »Erfahrung des technischen Umweges« an, die in »der Praxis der Handwerker, der Ingenieure, der Technologen und selbst der Freizeitbastler« aufscheint: In der Kombination heterogener Elemente ereigne sich ein »blitzschneller Zickzack«, ein unvorhersehbares Oszillieren zwischen Transformation und Persistenz, das dazu herausfordert, durch vielfältige Kunstgriffe diese fragile Heterogenität zu zügeln, ihre Flüchtigkeit zu 18 | Zur Bedeutung der Erfahrung als Leitfaden der Untersuchung siehe insb. Latour (2014: 114 f. und 260 f.). 19 | Den Materialisten und Instrumentalisten der Technik gibt Latour überdies zu bedenken: »Wenn es von den Techniken heißt, sie seien für sich genommen weder gut noch schlecht, so hat man vergessen, hinzuzufügen: noch neutral…« (Latour 2014: 313) Diese Ergänzung ist aber weder von ihm, noch ist sie sonderlich neu: Es handelt sich um »Kranzberg’s First Law« zum Verhältnis von Technik und sozialem Wandel, benannt nach dem gleichnamigen Techniksoziologen: »Technology is neither good nor bad; nor is it neutral. By that I mean that technology’s interaction with the social ecology is such that technical developments frequently have environmental, social, and human consequences that go far beyond the immediate purposes of the technical devices and practices themselves, and the same technology can have quite different results when introduced into different contexts or under different circumstances.« (Kranzberg 1986: 545)
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verringern (vgl. Latour 2014: 308). Infolgedessen spricht Latour auch davon, dass sich die Technik auf den ersten Blick als »gemischter Modus« aus Reproduktion [REP] und Metamorphose [MET] darstelle (ebd.: 320). Diese beiden Modi bilden die Extremfälle von Alterierung: Während die Wesen der Reproduktion »die Kontinuität im Sein durch ein Minimum an Transformation bezahlen«, bringen die Wesen der Metamorphose »ein Maximum an Transformation« mit sich (ebd.: 294).20 Technik stelle hier eine Mischung dar, da ihre scheinbare funktionale Stabilität jederzeit zusammenbrechen kann – z. B. durch einen Defekt, der jemanden auf den Plan ruft, damit die technische Bewegung wiederaufgenommen werden kann (vgl. ebd.: 307). Latours vielfältige Beispiele reichen von dem zunächst nicht abzusehenden Nutzen der Nuklearphysik für Therapien im Krankenhaus über das Zusammenwirken von Holz und Stahl im Gebrauch eines ausbalancierten Hammers bis zur überraschend notwendig werdenden und für den Betroffenen kaum nachzuvollziehenden Reparatur seines Autos (ebd.: 309). Stets gelte es, »›[d]en Kniff zu finden‹, damit ist fast alles gesagt« (Latour 2014: 308 f.). Zur Zusammenfassung der Erfahrung des technischen Umwegs greift Latour auch auf gängiges ANT-Vokabular zurück, denn man werde zur Kennzeichnung von [TEC] »gleichzeitig den Umweg berücksichtigen müssen, diesen Zickzack-Parcours, dann die Delegation, in der die Aktion sich auf andere Materialien stützt, und das Vergessen, das sie hinterlassen, sobald die neue Zusammensetzung hergestellt ist« (ebd.: 310).21 Jedoch führt all dies nicht mehr in eine Theorie der technischen Vermittlung. Für eine Erfassung der technischen Existenzweise hatte Latour diesen Weg bereits in »Morality and Technology« als inadäquat verworfen (vgl. Latour 2002: 250). Stattdessen greift er – der angezeigten Weichenstellung jenes Aufsatzes entsprechend – auf den Begriff der Faltung zurück: Dort formuliert Latour prägnant: »What is folded in technical action? Time, space and the type of actants.« (Ebd.: 248 f.; vgl. Latour 2014: 326) Am Beispiel des Hammers illustriert Latour, wie sich heterogene Temporalitäten (der verarbeiteten Materialien und des Produktionsprozesses), diverse Räume (der Wald, der das verarbeitete Holz liefert sowie die Fabrik, die den Hammer produziert und der Laden des Händlers, der ihn verkauft) und andere Akteure (der Hammer anstelle der Faust oder eines Steins) in der Situation des Hämmerns verdichtet und vergegenwärtigt finden – und das bedeutet: »There is 20 | Zu den Modi der Metamorphose [MET] und Reproduktion [REP] vgl. auch die ausführliche Diskussion im Text von Nicole Thiemer im vorliegenden Band. 21 | Dieses Vergessen ereignet sich um Zuge dessen, was Latour üblicherweise als Black boxing bezeichnet hat (vgl. Latour 2006: 493). Diese ANT-Begrifflichkeiten werden von Latour in den Existenzweisen nicht eigens erläutert, er setzt zweifellos eine gewisse Vertrautheit mit seinen techniksoziologischen Arbeiten voraus.
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nothing less local, less contemporary, less brutal than a hammer, as soon as one begins to unfold what it sets in motion; there is nothing more local, more brutal and more durable than this same hammer as soon as one folds everything implicated in it.« (Latour 2002: 249) Aus diesem und weiteren Beispielen 22 destilliert Latour die grundsätzliche Bestimmung von [TEC]: »Technik heißt immer Falte um Falte, heißt immer Implikation, Komplikation, Explikation.« (Latour 2014: 324) Diesen schon früher entwickelten Gedanken fügt Latour nun aber über den Begriff des Auskuppelns weitere Facetten hinzu:23 Zunächst präzisiert eine Ebenenunterscheidung, wo genau die Verschiebungen der technischen Faltung stattfinden (vgl. ebd.: 326 f.). In zeitlicher, räumlicher und aktantieller Hinsicht vollzieht sich die Verschiebung einer Handlung von einer Ausgangsebene (»n-1«), in der man z. B. gezwungen wäre, einen Nagel mit einem Stein in ein Brett zu hämmern, auf eine Folgeebene (»n+1«), auf welcher alle im Hammer zusammengefalteten Aspekte es ermöglichen, das Hämmern ohne Stein zu vollziehen, d. h. dieser wird aus dem Handlungsverlauf ausgekuppelt. Zugleich vollzieht sich aber auch eine Veränderung auf der Ausgangsebene: »Diese Ebene n-1 ist vorausgesetzt, impliziert durch die Handlung, und sie ist es, die dem virtuellen Urheber der Handlung Gewicht und Gestalt gibt.« (Ebd.: 327) Ausgekuppelt wird hier der Mit-dem-Stein-Hämmerer, sobald er sich im Vollzug des Hämmerns-mit-dem-Hammer als Subjekt seiner Handlung neu erblickt, denn »der Urheber [erfährt] aus dem, was er getan hat, daß er vielleicht dessen Urheber ist« (ebd.). Hier ist ein Echo aus Latours alten Texten zur Technik zu vernehmen, insofern er dort unterstrichen hatte, dass die Assoziation menschlicher und nicht-menschlicher Wesen beide Seiten neukonstituiert, denn »[w]eder Subjekt noch Objekt« sind a priori festgelegt oder gegenüber den Rückwirkungen der Assoziation auf ihre jeweiligen Handlungsprogramme in irgendeiner Weise immun (vgl. Latour 2006: 487 f.).24 22 | Analog zum Schema des Hammerbeispiels sind auch Latours neue Beispiele der Hängematte, der Aspirintablette und des Zauns zu denken, die in den Existenzweisen aber nur sehr knapp skizziert sind (vgl. Latour 2014: 326). 23 | Dieser Begriff ist bei Latour keineswegs neu (vgl. z. B. Latour 2008: 169 f.), allerdings macht er ihn in den Existenzweisen so prominent wie nie zuvor. Zudem ist weder der Begriff der Faltung, noch der des Auskuppelns dem [TEC]-Modus vorbehalten – sie werden an dieser Stelle eingeführt, aber auch zur Kennzeichnung des Fiktionsmodus [FIK] in modifizierter Form verwendet (vgl. Latour 2014: 350 f.). 24 | So lässt sich das Beispiel der Gewehrschüsse, die den Menschen als »Rückstoß des technischen Umweges« erzeugen (Latour 2014: 327 f.), als Anspielung auf das notorische Bürger-Waffen-Beispiel verstehen: »Sie sind ein anderes Subjekt, weil Sie eine Waffe halten; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung mit Ihnen eingegangen ist.« (Latour 2006: 487)
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Die Trajektorie von [TEC], die Faltung von Zeit, Raum und Akteurstypen, hinterlässt in ihrer Spur technische Objekte und technische Subjekte, wie z. B. Hammer, Nagel, Brett und Hämmernden, deren Assoziation üblicherweise unproblematisch verläuft, allerdings immer der Gefahr unterliegt, unerwartet gestört zu werden: Ein Nagel verbiegt sich, das Holz hält der Belastung nicht stand, das bearbeitete Brett reißt. Was eben noch ein routinemäßiger Akt war (Implikation), kippt mit der offenbar werdenden Fragilität der technischen Bewegung (Komplikation) in eine Vielzahl von Fragen (Explikation): Habe ich den Nagel schief angesetzt oder habe ich versehentlich einen alten, schon leicht lädierten Nagel aus der Kiste neben mir gegriffen? Ist dieses Holzbrett für das Bauvorhaben ungeeignet oder handelt es sich um ein fehlerhaftes Fabrikat? Setze ich die Nägel zu eng beieinander an? Hantiere ich also schlecht mit guten Materialien oder umgekehrt? Prinzipiell lässt sich die technische Bewegung wiederaufnehmen, aber jetzt noch nicht: Der richtige Kniff wurde noch nicht gefunden.
4. A usblick : D ie technische E rfahrung und der W eg in die Ö kologisierung In Latours Beschreibung der Technik als Existenzweise stellt sich die Frage der Technik nicht im Sinne der Zuschreibung eines Wesens oder die Ableitung aus einer Herkunft.25 Stattdessen ist sein Anspruch eine erfahrungsgesättigte Neubeschreibung der technischen Wesen (Plural!) anzubieten – wobei entscheidend ist, wessen Erfahrung eigentlich zugrunde gelegt wird: Es ist auffällig, wie weit sich Latour mit vielen Schilderungen im Technikkapitel der Existenzweisen von der Situation des technischen Laien entfernt, der alltäglich mit einfachsten technischen Geräten (Schlüssel, Sicherheitsgurt etc.) umgeht. Stattdessen orientiert er sich öfter an den Erfahrungen der »Techniker, Ingenieure, Inspektoren, Kontrolleure, Bereitschaftsteams, Reparateure, Justierer« (Latour 2014: 317), deren Praktiken des Innovierens, Bastelns, Reparierens oder Prüfens sich natürlich von der zweckmäßigen Nutzung eines Otto Normalverbrauchers unterscheiden. Die meiste Zeit vertraut das Alltagshandeln auf die gelingende Faltung der Technik, auf das Zusammenhalten des Implizierten, aber die Defekte, der Verschleiß, der Unfall, die Fehlermeldung verdeutlichen auch dem Technikkonsumenten, dass
25 | Latour weist die anthropologische Rede vom Homo faber ebenso zurück wie Theorien der Organerweiterung, siehe Latour (2002: 250 und 2014: 327). Zu Latours Auseinandersetzung mit Heideggers Antworten auf die Frage nach der Technik siehe oben, FN 11.
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Emanuel Herold »es in der Technik stets nur Unterbrechungen [gibt]; nie ›paßt es ganz zusammen‹. Und selbst wenn man die Technik vergißt und das geschaffene Ding sein Leben leben läßt, sobald man es unterhalten muß, es restaurieren, revidieren, weiterführen will, braucht es neue Findigkeit und muß man noch einmal den Geist der Technik über ihm beschwören, um es im Sein zu erhalten.« (Ebd.: 316)
In diesem Sinne folgen die Ausführungen zur [TEC] weniger den Fallstudien des Berliner Schlüssel als vielmehr den Netzwerkanalysen aus Aramis – jener heiter-idiosynkratischen »scientifiction« über das Scheitern eines langwierigen Innovationsprozesses, an dessen Ende ein neues öffentliches Verkehrssystem für Paris stehen sollte (vgl. Latour 1996a). Diese Wendung bleibt mit Blick auf Latours eigene Schriften zunächst unverständlich. Sie lässt sich jedoch als deutliche Annäherung an Simondons Idee der Konkretisation begreifen, die nicht nur eine Theorie der Genese des technischen Objektes ist, sondern auch eine Theorie des technischen Handelns, der zufolge »die Maschine nicht vom Moment ihrer Konstruktion an ein für alle Mal ohne die Notwendigkeit der Nachbesserungen, der Reparaturen und der Justierungen in die Existenz geworfen [ist]« (Simondon 2012: 231). Das bedeutet zugleich, dass mit der Genese des technischen Objekts die technischen Subjekte ko-konstituiert werden, denn das Objekt verlangt fortwährend »einen gewissen Koeffizienten der Aufmerksamkeit für die technische Funktionsweise, Wartung, Justierung, Verbesserung« (ebd.) – sonst ist es nicht. Die Wesen der Technik, sowohl Subjekte wie auch Objekte, halten sich nicht von allein in der Existenz, sie bleiben in der Spur der technischen Bewegung zurück, ihre Existenzweise ist daher nicht die substantivisch-substantialistische, sondern die adverbial-praktische: technisch machen, technisch werden (vgl. Latour 2014: 318). An dieser Stelle ist man ein wenig geneigt, eine Vermisstenanzeige aufzugeben: Wo ist die Moral geblieben? Wohin sind all die Skripte? Zunächst zu letzteren: Sie findet man im [ORG]-Modus wieder, als Teil der organisierenden Akte. Auch von diesem Modus wird verlangt, sich dem Leitfaden der Erfahrung zu stellen: »Genausowenig wie wir die Technik [TEC] hätten erfassen können, wenn wir von den Objekten ausgegangen wären, die sie hinter sich zurückgelassen hat, werden wir niemals dahin gelangen, zu erfassen, was das Eigene dieser Trajektorie ist, wenn wir mit dem beginnen, was die ›Organisationstheorien‹ unter dem Ausdruck bezeichnen.« (Ebd.: 528) Im Kern definieren sich Skripte hier über ihr Vermögen, Ziele, Verabredungen oder Fälligkeiten zu bestimmen. Den dadurch Adressierten – z. B. einer Verabredung zu einem Treffen, man erinnere sich an die kleine Geschichte oben – werden in einem solchen Skript Rollen zugeschrieben, an die sie sich halten sollen (vgl. ebd.: 530 f.). Der Begriff des Rahmens, der in den Erörterungen zur Interobjektivität oben bereits erwähnt wurde, kehrt hier ebenfalls wieder, mehr noch:
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Latours Überlegungen zu [ORG] und zur Kreuzung der Existenzmodi [ORG ∙ TEC] lassen sich als Reformulierung der Interobjektivitätsthese lesen. Ging es ihm in jenem Aufsatz darum, aus einer interaktionistischen Perspektive den Gesellschaftsbegriff als Erklärungskategorie überflüssig zu machen, indem er auf die raumzeitlichen Effekte des Enrolments nicht-menschlicher Wesen verwies, so verfolgt Latour nun dasselbe Ziel mit einer anderen Strategie: Die Stapelung von diversen Skripten in einem Akteur – dessen Identität über seine Körperlichkeit gestiftet wird – birgt sowohl Potentiale der Stabilisierung als auch des Konflikts (vgl. ebd.: 541 ff.). Was die ANT techniksoziologisch als Inskription erfasst und analysiert hat, lässt sich im Kontext der Existenzweisen als Kreuzung zweier Modi verstehen, welche die Skripte der Organisation durch die Faltungen der Technik auf Dauer zu stellen vermag (ebd.: 565 f.) – allerdings nicht ohne Limit: Denn neben dem Zickzack von [TEC] ist die grundsätzliche Revidierbarkeit der Skripte zu beachten, weshalb Latour auf die metaphorische Frage, ob etwas in Stein gemeißelt sei, antwortet: »Doch, und sogar in Eisen und Granit – aber es sind stets Skripte, die eingemeißelt sind.« (Ebd.: 567) Wenn Latour nun noch vom »technischen Beschweren der Skripte« spricht (ebd.: 565), dann spürt man beinahe wieder den gewichtigen Metallklotz des Hotelschlüssels in der Hand. Allerdings ist die Moral nicht länger etwas, das der Technik von unzuverlässigen menschlichen Subjekten eingeschrieben wird: Auch sie bekommt ihren eigenen Modus [MOR]. Die moralische Erfahrung entzündet sich nach Latour in der »Wiederaufnahme der Skrupel hinsichtlich der optimalen Verteilung der Zwecke und Mittel« (ebd.: 613). Wenn oben also mit Latour (und Simondon) festgehalten wurde, dass die Objekte nach Wartung, Kontrolle oder Reparatur verlangen – wird der Mensch dann nicht doch zum Mittel der Maschine? Wird er nicht zu ihrem Sklaven? Und wenn der Mensch die Objekte nutzt, sie nicht pflegt und einfach wegwirft – unterwirft er dann nicht die technischen Wesen und macht sie zum beliebigen Mittel seiner Interessen? Der springende Punkt ist, dass diese Fragen für Latour legitim und notwendig sind – dass sie aber, als Generalverdacht formuliert, Technik essentialisieren. Und das hieße, schlecht über die Technik zu sprechen, die für die Bastler und Ingenieure doch einen spezifischen Wert hat. Stattdessen gelte es, den vielen technischen Wesen in ihrer Bewegung zur folgen und auf die Angemessenheit ihrer Züge zu achten. Diese Bestimmung der Moral als Skrupel unterscheidet sich markant von der Zuschreibung einer moralischen Qualität an technische Objekte über inskribierte Handlungsprogramme, wie Latour sie in seinen älteren ANT-Texten vorgenommen hat. Entlang der Kreuzung [ORG ∙ TEC] kann Latour die Inskription im Rahmen der Existenzweisen theoretisch integrieren. Die Kreuzung [MOR ∙ TEC] entwirft den Zusammenhang von Technik und Moral hingegen neu: Der moralische Skrupel stellt dabei nicht die technische Faltung selbst infrage, sondern zielt auf das Gefaltete:
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Emanuel Herold »To maintain the reversibility of foldings: that is the current form that moral concern takes in its encounter with technology. We find it everywhere now in the notion of a recyclable product, of sustainable development, of the traceability of the operations of production, in the ever stronger concern for transparency.« (Latour 2002: 258)
Hat sich das Nachdenken über Technik von den Schranken des Instrumentalismus und Substantialismus befreit, so kann den technischen Wesen im Umgang mit der gegenwärtigen Ökologiekrise neuer Bewegungsspielraum eingeräumt werden: »Um Chancen einer Verhandlung über die Nachfolger der aktuellen Produktionsdispositive zu bewahren, ist es entscheidend, den Wesen der Technik eine Kombinationsfähigkeit zurückzuerstatten, die sie vollständig von der schweren Werkzeughaftigkeit befreit. […] Wenn das Verb ökologisieren eine Alternative zu modernisieren sein soll, wird man mit den technischen Wesen ziemlich andere Transaktionen auf bauen müssen.« (Latour 2014: 328 f.) Die Botschaft des Diplomaten Latour an die eher anti-technisch gestimmten Teile der Ökologiebewegung ist, dass es die Techniker, Ingenieure und Inspektoren, ihre Praxis und ihre Erfahrungswerte braucht, um in der technischen Spur künftig Faltungen zu hinterlassen, die den ökologischen Herausforderungen dieser Welt gerecht werden.
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Die Existenzweise der Technik
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[REP], [MET], [GEW] »Sein-als-anderes« Zu Latours antisubstanzialistischem Denken Nicole Thiemer »Endlich ist ›ich ein anderer‹!« (L atour 2014: 288)
›Ich ist ein Anderer‹ – diese Zeilen, die Latour einem der wirkungsvollsten Dichter der französischen Moderne, Arthur Rimbaud, entlehnt, sprechen im Grunde genommen schon die wichtigsten Themen an, um die es im Folgenden gehen wird. Die Zeilen sprechen sie nicht direkt aus, nein, sie zeigen sie an. Wie? Indem jedes Wort, jede Prädikation, jeder Begriff auf einen Horizont an Phänomenen anspielt, die in Latours groß angelegter Untersuchung:, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen beachtet, oder besser, wertgeschätzt werden. Im Folgenden werde ich auf Latours Darstellung der Existenzmodi [REP], [MET] und [GEW] eingehen. Diese begreife ich aus einer philosophischen Perspektive als ontologische Modi, und zwar ontologisch nicht in dem Sinne wie Latour das Wort ontologisch verwendet, sondern im Sinne der traditionell abendländischen Ontologie. Ihr Gegenstand ist das dem Seienden Vorgängige, das dieses konkrete Seiende bedingt und ermöglicht. Mein Ziel ist es, die genannten Modi von hier her auszulegen, weshalb eine Interpretation ihrer als vorsoziale Prozesse wie auch ihrer Überkreuzungen, die Latour in Existenzweisen zur Sprache bringt, nicht verfolgt wird. Was haben [REP], [MET] und [GEW] mit dem Eingangszitat zu tun? Auf den ersten Blick wenig – jedoch nur, wenn man das Bedeutungsspektrum der Begriffe/Ausdrücke ›Ich‹, ›Anderer‹, ›ist‹/›sein‹ außer Acht lässt und dies meint hier die philosophische Bedeutung von Subjekt (als subjectum gefasst, dem Zugrundliegenden, dem Wesen), von Seins-/Wesensaussage (ist dieses und nicht dies), von das Andere/die Andersheit/Alterität. Mit dem Wort ist wird im alltäglichen Sprachgebrauch zumeist eine einfache formale Prädikation vorgenommen. Es handelt sich um eine prädikative
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Aussage von jemandem über etwas, es handelt sich um eine semantische oder syntaktische Verknüpfung. Dies ist dies oder dies ist das nicht. Diese kleine formallogische Kopula hat jedoch noch weitere Bedeutungen. Davon zu sprechen, dass etwas oder jemand ist oder nicht ist, bedeutet auch Aussagen, Urteile von und über Existenz, das Existieren festzuhalten. Um dieses Existieren, das als Verb »›existieren‹ […], das am wenigsten respektierte der ganzen Sprache« (Latour 2014: 273) ›ist‹ – so Latour –, drehen sich seine Untersuchungen. Er blickt hierbei jedoch – seinen Aussagen folgend – nicht im existenzphilosophischen Sinn auf das Verhältnis Mensch-Welt-Transzendenz, sondern auf die Möglichkeiten einer vergleichenden Anthropologie, die eine Pluralität an Existenzweisen respektiert und einen diplomatischen Charakter hat (vgl. ebd.: 28). Liest man Latours Ausführungen jedoch nicht nur aus einer anthropologischen Perspektive – denn dies könnte man als Begrenzung der Untersuchung auf eine Deskription von menschlichen Existenzweisen verstehen und gerade die in diesem Artikel behandelten Modi gehen der Menschheit »unendlich voraus« (ebd.: 397) –, dann bedeutet die Aussage ist dies eine formale ontologische Feststellung, und zwar dahingehend, dass darauf geblickt wird, was es für ein Etwas/Seiendes bedeutet, genau dieses Was zu sein – es handelt sich also um eine Seinsaussage. Unter einer Existenzweise – ich werde später noch genauer darauf eingehen – versteht Latour nicht nur Weisen/Modi, wie der Mensch ist, sich grundsätzlich in der Welt versteht und verhält, so wie dies häufig in anthropologisch ausgerichteten Existenzphilosophien der Fall ist. Existenzmodi sind der Ausdruck Latours für eine Vielzahl an Weisen des Existierens, worunter auch Entitäten fallen, die Seiendes bedingen. Von hier aus wird deutlich, dass Latours Ansatz durchaus einen ontologischen Anspruch hat. »[D]aß die Frage nach den Existenzmodi auch eine Angelegenheit der METAPHYSIK ist, oder besser, der ONTOLOGIE« (ebd.: 55), betont Latour selbst. Persönlich werde ich nicht von einer Metaphysik bei Latour sprechen, denn der Ausdruck als philosophischer Terminus der abendländischen Philosophiegeschichte widerspricht dem Anliegen Latours. Latour will kein feststehendes System im Sinne eines – heute würde man sagen erkenntnistheoretischen – Welterklärungs- oder Deutungsmodells entwickeln, das auf einem substanzontologischen Fundament auf bauend das All/die Gesamtheit des Seins und der Seiendheit, in seinem Was und Wie, kategorial analysiert. Seine Untersuchungen stellen kein geschlossenes System dar. Sie gehen nicht kategorial vor, eher deskriptiv phänomenologisch – obwohl auch spekulative Momente miteinfließen. Wichtig ist jedoch dies: Latour betont zu Beginn des Buches den gewollt unabgeschlossenen Status der Deskriptionen, die er vorlegt, und lädt zur Weiterführung seiner Untersuchungen ein (vgl. ebd.: 22). Ich komme nun zu meinem einleitenden Zitat zurück. Ich ist endlich ein Anderer! Die Worte Ich und Anderer sind für die in diesem Artikel verfolgte
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Perspektive wichtig. Das Ich, das Subjekt, verweist im philosophischen Horizont nicht nur auf den konkreten einzelnen besonderen Menschen, sondern auf die Themen der Identität, der Selbigkeit und der Selbstheit wie auch des subjectums, im Sinne des Zugrundeliegenden von überhaupt etwas. Will man diese Bedeutungen beschreiben, so tauchen sofort deren Gegensätze im Horizont auf, nämlich Alterität, Verschiedenheit und Veränderung; ein Was/Wesen, das nur in veränderbaren Weisen des Wie-sich-zeigens ist. Wenn Ich ein Anderer ist, so erscheint seine Identität, sein ›Sein-als-er-selbst‹ immer auch zu bedeuten, dass dieses dem ersten Anschein nach so kontinuierliche Selbstsein durch eine Alterität, ein »Sein-als-anderes« (ebd.: 239), gebrochen ist. Es taucht eine Differenz, eine Diskontinuität bzw. eine Kluft in diesem (substanzontologischen) Seinsbegriff auf. Vom Verstehen dieser Differenz her wird es jedoch möglich, Veränderungen und Transformationen mitzubedenken, also die angeblichen Gegensätze zwischen Identität und Alterität zusammenzudenken.1 Meines Erachtens drehen sich Latours Beschreibungen der genannten Modi um dieses Zusammendenken von Identität und Alterität, von Kontinuität und Diskontinuität, von Selbigkeit und Transformation, von Persistenz und Veränderlichkeit, wobei der Existenzmodus der Metamorphose den Aspekt der Transformation und der Existenzmodus der Gewohnheit den Aspekt der Kontinuität in den Vordergrund rückt. Im Existenzmodus der Reproduktion verschränken sich beide Seiten. Ich weiche mit meiner folgenden Interpretation somit etwas von Latours eigener gleichrangiger Zusammenstellung dieser drei Modi in einer Gruppe ab. Bei Latour heißt es: »Sie haben dies gemeinsam, daß sie im Sein-als-anderes drei komplementäre und spezifische Formen der Alterierung erkunden. Die Persistenzen vervielfältigen, die Transformationen vervielfältigen, sich nach vorn in die Existenz werfen. Drei Formen, das Sein als Andersheit zu explizieren.« (Ebd.: 397)
Latour hebt bei allen Modi die Alterierung und das Sein-als-anderes hervor. Meines Erachtens findet dieser Gedanke jedoch seinen Höhepunkt in Latours Definition von [REP]. Von hier aus zeigt sich, dass im Gegensatz zu traditionellen metaphysischen Denksystemen dem »Sein-als-anderes« die grundlegende Bedeutung zukommt. Latour wirft, um die Modi zur Sprache zu bringen, dem Denken und Weltbild der Modernen einen substanzontologischen Ansatz vor. In einem substanzontologischen Ansatz spielt das »Sein-als-Sein« die fundamentale Rolle. Im Gegensatz dazu greift Latour den Ausdruck »Sein-als-anderes« auf. Obwohl er die Alterität hervorhebt, schließt dies den Wert der Kontinuität und Persistenz nicht aus. 1 | Dieses Zusammendenken ist ein großes Thema im philosophischen Diskurs der letzten 30 Jahre; vgl. bspw. Ricœur 2005.
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Im Folgenden werde ich in vier Schritten vorgehen. Zunächst möchte ich vorab einige Begriffe Latours klären (1. Vorbereitendes), die für die Darstellung der Existenzmodi in den Abschnitten zwei bis vier ausschlaggebend sind. Bei dieser Darstellung weiche ich von der Reihenfolge, in der Latour die Existenzmodi im Buch entwickelt (Teil I: Kapitel 4 – [REP]; Teil II: Kapitel 7 – [MET]; Teil II: Kapitel 10 – [GEW]), ab. Erst nach der Beschreibung der Existenzmodi der Metamorphose und der Gewohnheit werde ich auf den Modus der Reproduktion eingehen.2
1. V orbereitendes In der Schrift Existenzweisen plädiert Latour für einen »ontologischen Pluralismus« (ebd.: 265), er spricht vom Profit eines solchen Ansatzes für eine vergleichende Anthropologie oder Soziologie der Existenzweisen. Meines Erachtens meint er damit sowohl einen Pluralismus an Seiendem wie auch an zugrunde liegenden immateriellem Sein, das das jeweils Seiende zu diesem spezifischen Seienden macht. Es geht ihm dabei darum, im Zuge einer Revision der Kategorien und Kategorienfehler der Modernen, »die Dispute über die Bestandteile der GEMEINSAMEN WELT zu schließen« (ebd.: 37). In gewisser Weise appelliert er an die Möglichkeit, »endlich [eine] gemeinsame Welt zu bewohnen« (ebd.: 406). In einer solchen gemeinsamen Welt besitzt jeder Existenzmodus, jede Seinsart und Seinsweise ihren eigenen Wert, alles findet Raum und Platz diese Welt zu bewohnen und wird nicht fälschlicherweise von anderen Modi nivelliert. Das heißt kein Existenzmodus schließt den anderen aus. Latour verfolgt das Ziel, den verschiedenen Existenzweisen ihre je eigene und spezifische Geltung zurückzuerstatten, die ihnen im Weltbild der Modernen abgesprochen wurde. Hierbei greift er die ontologische, aristotelische Frage ›Ti esti?‹, und ›Was ist …?‹ auf – eigentlich handelt er eher von der Frage ›Was sind all diese‹, um zwar in ihrem spezifischen Wie-zu-sein –, um verschiedene Wesen bzw. Entitäten zu beschreiben (vgl. ebd.: 369). Diese Wesen bezeichnet Latour als Exis2 | Aufgrund der einerseits rekonstruktiven Zielsetzung und andererseits ontologischphilosophischen Perspektive dieses Artikels kann es in der Folge nicht um Fragen der empirischen Anschlussfähigkeit oder Fruchtbarkeit des Begriffssystems Latours gehen; auch auf eine tiefergehende Diskussion jener positiven Verbindungslinien, die Latour zu anderen philosophischen Unternehmungen zieht, muss in der Folge verzichtet werden. Hierbei handelt es sich insbesondere um die Ansätze der Sprechakttheorie (John Searle) und des Pragmatismus (William James). Eine erste knappe Auseinandersetzung findet sich bei Liebsch 2014.
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tenzmodi. Was ist darunter zu verstehen? Im folgenden Zitat führt Burkhardt Liebsch eine Reihe von Aspekten auf, die Latour bei seinem Bedenken und Beschreiben der Existenzmodi verfolgt: »Die Frage nach ›Existenzweisen‹ soll nun keine Rückbesinnung auf Søren Kierkegaard oder Martin Heidegger etwa anzeigen. Denn für Latour ergibt eine rigorose empirische Philosophie einen ganz neuen Befund: Etwas (oder jemand) existiert, indem es weitergeht in einer Kontinuität, die ständig Diskontinuitäten überwinden muss (73) durch Formen der Verknüpfung oder Anknüpfung, die es ausgehend von gewissen Prä-Positionen […] erlauben sollen, das jeweils Nachfolgende zu verstehen und so zu Interpretationsschlüsseln werden (117). So können sich Trajektorien, d. h. sinnhafte Richtungen der Kontinuierung (98, 533) und Anschlüsse an Vorangegangenes durch Formen der Alterierung hindurch abzeichnen, die es dem Existierenden erlauben, durch ständiges ›Passieren‹ zu subsistieren (111).« (Liebsch 2014: 359 f.)
Auch wenn Latour keinen existenzphilosophischen Ansatz verfolgt, arbeitet er dennoch stark mit existenzphilosophischem Vokabular in Bezug auf das Verständnis des Terminus Existenzmodus; und zwar im Sinne von Modi des Existierens, die ontologische Seinsweisen sind, die nicht nur dem Menschen zukommen. In existenzphilosophischen Ansätzen werden auch die Aspekte der Kontinuität und Diskontinuität, der Alterierung beachtet – auch die Hiati in der Existenz, das Gefährliche des Existierens, das Latour immer wieder hervorhebt. Jedoch stehen zumeist menschliche Lebewesen, ihre Weise in der Welt zu sein und ihre relative Freiheit im Verhältnis zu sich und der Mitwelt im Vordergrund (vgl. Thurnherr/Hügli 2007). Diese Fragen sind für Latour nur auf den zweiten Blick von Interesse. In seinen Beschreibungen geht es zunächst um die Deskription einer Vielzahl von Existenzweisen und deren Kreuzungen. Drei Aspekte definieren einen Existenzmodus: ein »Typ von HIATUS […], eine TRAJEKTORIE […] sowie eine explizite Form des WAHRSPRECHENS« (Latour 2014: 477). Anliegen seines Vorgehens ist es, »die verschiedenen Wesen auf die richtige Weise zu befragen, um daraus die Existenzprofile zu gewinnen, die ihnen zustehen, und nicht jene, die jeder andere Modus ihnen aufzwingen will« (ebd.: 266). Jede Existenzweise hat ein eigenständiges Profil, das Latour zur Sprache bringen möchte, indem er dessen »logos« beachtet.3 Dies kann man sich verkürzt unter dem Wahrsprechen 3 | Logos hier im Sinne des abendländisch philosophischen terminus technicus verstanden. Auf diesen Aspekt macht Latour an mehreren Stellen aufmerksam, und insbesondere in Bezug auf die Existenzweisen [GEW], [MET] und [REP]. Latour hebt nämlich hervor, dass diese Existenzweisen sich »äußern« (franz. énoncer), obwohl sie »der artikulierten Sprache voraus« gehen (Latour 2014: 398). Diese Äußerung fasst Latour nicht als vorprädikatives Geschehen, sondern als je schon stattfindende Bewegung, »in dem
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vorstellen: »Richtig von etwas zu jemandem sprechen wollen, aufrecht in der Agora«. (Ebd.: 117) Um dies zu ermöglichen, spürt Latour zur Profilierung der Existenzweisen Kategorienfehlern der Modernen nach. Durch diese wurden die Existenzweisen sozusagen in Stummheit verbannt. Den Ausdruck Kategorie definiert Latour in Anlehnung an seine ursprüngliche Etymologie – und nicht von seiner formalllogischen Bedeutung – her: »Wir wollen daran erinnern, daß in ›Kategorie‹ noch immer jene den Griechen so wesentliche agora steckt. Bevor kata-agorein auf ziemlich banale Weise einen Typ oder eine Einteilung bezeichnet, die der menschliche Geist willkürlich aus dem nahtlosen Stoff der Gegebenheiten der Welt ausschneidet, ohne daß der Gesprächspartner präzisiert würde, bedeutet es zunächst: ›über oder gegen etwas oder jemanden öffentlich sprechen‹. Aristoteles hat das Wort der juristischen Verwendungsweise entfremdet […]. Wir aber wollen wieder auf die Agora zurückkehren. Die gute Kategorie entdecken, in der richtigen Tonart sprechen, den guten Interpretationsschlüssel wählen, das Gesagte richtig verstehen heißt sich darauf einstellen, richtig von etwas vor denen zu sprechen, die es betrifft – vor aller Welt, inmitten der Versammlung und nicht nach einem einzigen Interpretationsschlüssel.« (Ebd.: 106 f.)
Ziel der Untersuchungen Latours ist es, von hier her gesehen, in einer guten diplomatischen Weise zu Existenzen über Existenzmodi zu sprechen. Dies bedeutet jeweils auf die angemessene Tonart, den entsprechenden Interpretationsschlüssel zu achten und Existenzmodi nicht einfach durch die Brille eines bspw. erkenntnistheoretischen Systems im neuzeitlich cartesianischen Sinn festzustellen. Es gilt sie in ihrem dynamischen Prozess des »Seins-als-anderes« zu respektieren. Aus philosophischer Perspektive spricht Latour hiermit Phänomene an, die insbesondere von Seiten der Hermeneutik und der (nichttranszendentalen) Phänomenologie hervorgehoben wurden.4 Bevor ich im Folgenden auf die für diesen Artikel zentralen Existenzmodi eingehe, möchte ich noch kurz auf den Ausdruck »Sein-als-anderes« der Äußernde [wie auch das; N. T.] sich sendet« (ebd.: 399). »Wenn wir fähig werden zu sprechen, so müssen wir uns in Kraftverläufe einschleichen, die in uns bereits Resonanz geben und sich äußern und uns auf allen Seiten überragen.« (Ebd. 398) 4 | Es verwundert, dass Latour solche Positionen (wie bspw. die Hans-Georg Gadamers, die von Hans Lipps, die des späten Jürgen Habermas, die des späten Edmund Husserls der Lebenswelttheorie oder den narrativen Ansatz Paul Ricœurs, um nur einige zu nennen) überhaupt nicht anspricht, sondern nur einen Zug der neuzeitlichen Philosophie – nämlich einen substanzontologischen, oftmals als »die Philosophie« bezeichnet – kritisiert. Die Kritik ist nicht verwunderlich, jedoch, dass die Vielzahl der Philosophien von Latour nicht berücksichtigt wird.
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eingehen. »Ein Existenzmodus ist […] immer gleichzeitig eine Version des SEINS-ALS-ANDERES (ein Muster von Diskontinuität und Kontinuität, von Differenz und Wiederholung, von Anderem und Selbem).« (Ebd.: 266 f.) Mit dem grundlegenden Gedanken, dem Aufweis des immer stattfindenden Seinals-anderes, den Latour insbesondere in seiner Charakterisierung von [REP] (Methexis dieses Existenzmodus in allen Existenzformen) entfaltet, versucht Latour – wie in der Einleitung gesagt –, sich eigentlich ausschließende Motive zusammenzudenken, denn nur im Zusammenspiel von Persistenz und Veränderung, von Selbigkeit und Alterität etc. geschieht Existenz, der Prozess des Existierens. Anhand eines solchen Existenzverständnisses grenzt sich Latour von einer philosophischen Richtung ab, die ich im Folgenden als substanzontologische bezeichnen werde. Grundlage eines substanzontologischen Ansatzes ist der Rückgriff auf ein alles ermöglichendes Fundament, – einfacher gesprochen – auf einen ersten Grund. Dieser erste Grund, die erste Substanz, zeichnet sich zumeist durch Unveränderlichkeit, Stabilität oder Unzeitlichkeit aus. Substanzontologische Philosophien oder Denkrichtungen beschreibt Latour als Ansätze, deren Ursprung im »Sein-als-Sein« liegt. Sie vernachlässigen empirische Phänomene und gehen begrifflich spekulativ vor. »[Das Sein-als-Sein] sucht nach seiner Grundlage in einer SUBSTANZ, die seine Kontinuität sicherstellt, indem sie mit einem Sprung ins Fundament überspringt, das als Garantie für die sichergestellte Kontinuität dient. Um einen solchen Sprung genauer zu bestimmen, kann man den Begriff der TRANSZENDENZ verwenden, denn da man unsicher ist, verläßt man die Erfahrung, um die Augen auf etwas zu richten, was solider, gesicherter, kontinuierlicher ist als sie. Das Sein beruht auf dem Sein, wenn auch anderswo.« (Ebd.: 239)
In solchen Ansätzen findet ein Transzendieren, ein Überschreiten auf ›anderswo‹ als in der Erfahrung statt. Man kann hierbei bspw. an den Jenseits-Gedanken der mittelalterlich-christlichen Philosophie, an die platonische Vorstellung eines Ideenhimmels, an das cartesische Cogito als letztes Fundament der Unbezweifelbarkeit, kurz, an eine Hinterwelt in Nietzsches kritischem Sinn denken, die nichts mit der Erfahrung gemein hat und ein metaphysisches Konstrukt ist. Die Existenzweisen, von denen Latours Untersuchungen handeln, stehen einer solchen Denkrichtung diametral entgegen. »Nicht von einer Substanz hängen sie ab, auf die sie sich stützen können, sondern von einer SUBSISTENZ, die sie auf eigenes Risiko und eigene Gefahr suchen gehen müssen.« (Ebd.: 239) Existenzweisen subsistieren – sie setzen sich fort, indem sie sich verändern, diese Alterierungen besitzen jedoch dennoch eine Kontinuität. Das Gefährliche am Subsistieren besteht in den Hiati, die das Existieren durchlaufen muss. Hierbei spricht Latour von einer »kleine[n] TRANSZENDENZ«, die
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jedem Existenzmodus eigen ist (ebd.: 240).5 Durch diesen Gedanken betont Latour die Möglichkeit der Veränderung von Existenzmodi – sie sind auf etwas anderes als sich selbst, nach vorne (in die Zukunft) ausgerichtet; aufgrund dieser Gerichtetheit vollziehen sich Transformationen und von ihnen her lassen sich Differenzen feststellen. Wieso ist Latour eine solche Beschreibung der Existenzmodi wichtig? Seine Antwort lautet: »Dieser Jargon hat tatsächlich kein anderes Ziel, als die zentrale Hypothese dieser Untersuchung zu erhellen: Vom Sein-als-Sein kann man nur einen einzigen Seinstyp ableiten, von dem man auf mehrere Arten sprechen kann; während wir versuchen werden, zu definieren, auf wie viele verschiedene Arten das Sein sich ändern, alterieren kann, durch wie viele andere Formen von Andersheiten es in der Lage ist, sich hindurchzuschlängeln, um fortzufahren zu existieren. Wenn der klassische Begriff der KATEGORIE mehrere Arten bezeichnet, von ein und demselben Sein zu sprechen, werden wir erforschen, wie viele Arten das Sein hat, durch anderes hindurchzugehen, zu passieren.« (Ebd.: 240)
Das »Sein-als-anderes« ermöglicht das Denken einer Pluralität von Existenzmodi. Drei – der insgesamt 15 Existenzmodi – fasst Latour in einer Gruppe zusammen, da sie nicht nur die Modernen betreffen, sondern den Lebewesen, genauer, den Existenzen überhaupt zukommen (vgl. ebd.: 294). Deren Beschreibung möchte ich mich nun zuwenden.
2. [MET] Die Existenzweise [MET] ist ein Existenzmodus, dessen Bedeutungsschwerpunkt im Phänomen der Veränderung liegt. Latour beschreibt jedoch nicht einfach Prozesse von Metamorphosen – man denke an Ovid oder Canetti –, sondern wählt als Ausgangspunkt seiner Darstellung eine philosophisch kategoriale Verschiebung, die im Denken der Modernen stattfand. »Kein anthropologisches Rätsel ist spannender als das, was die Modernen bieten konnten. Wie konnte man erwarten, daß sie dahin gelangten, Monstren der Verwandlung in eine Innenwelt zu verlegen?« (Latour 2014: 368)
5 | Ausführlicher ist auch zu lesen: »Man wird sagen, dass alle Existenzmodi transzendent sind, denn stets gibt es einen Sprung, einen Bruch, einen Abstand, ein Risiko, eine Differenz zwischen einer Etappe und der folgenden, einer Vermittlung und der folgenden, n und n+1 entlang einem Weg von Alterierungen. Die Kontinuität fehlt immer.« (Ebd.: 301)
»Sein-als-anderes«
Beim ersten Anschein hat man es bei der Beschreibung der Existenzweise der Metamorphose mit etwas völlig Irrationalem zu tun, jedoch nur insofern, als es sich bei dieser Existenzform um die »offenkundigst immateriellsten Wesen« handelt (ebd.: 267). Anhand der Existenzweise [MET] weist Latour auf etwas hin, das im Zuge der Bekämpfung »der Irrationalität des Aberglaubens« aus der Welt der Modernen vertrieben wurde (ebd.). Die Modernen klagen andere dieser Irrationalität an, andere, die sich bspw. »den ganzen Tag und die ganze Nacht an Wesen richten, die sie sehr wohl, wenn auch nur in der Praxis, für Kräfte halten, die sie übersteigen, unterdrücken, beherrschen, entfremden« (ebd.: 271). Hiermit haben wir einen ersten Schritt zur Beschreibung dieser Existenzweise gewonnen: Sie äußert sich als Kraft, die das Menschliche übersteigt. Sie trifft Menschen, die von ihr ergriffen werden. Die Erfahrung von [MET] beschreibt einen Zustand, der den Menschen außer sich versetzen kann: »ein Wort, das verletzt hat, eine Haltung, die Anstoß erregt hat, eine Geste, die man als verkehrt bezeichnet und manchmal gar mit dem Ausdruck des bösen Blicks qualifiziert –, eine Bewegung, die dann den Eindruck erweckt, durch eine unkontrollierbare Woge mitgerissen zu werden – ›ich weiß nicht, was in mich gefahren ist‹, ›ich war außer mir‹, ›ich konnte mich nicht mehr kontrollieren‹. Nennen wir diese Erfahrung eine Krise. Und da man dabei stets ergriffen wird, nennen wir sie eine Krise des Ergriffenwerdens.« (Ebd.: 271)
[MET] zieht Trajektorien mit sich, den Einbruch (Hiatus) im Sein-als-sein –, was sich Latour zufolge im ersten Schritt anhand des Ergriffenwerdens, das jeder kennt, aufweisen lässt. Latour beschreibt den Existenzmodus [MET] in Hinblick auf existenziale Erfahrungen, die den Menschen treffen und ihn grundlegend erschüttern, ihn verändern, ihn anders werden lassen (Transformation). Dieses Ergriffenwerden von immateriellen Kräften wird von Seiten der Modernen umgedeutet. [MET] bezeichnet einen Existenzmodus, der bspw. in Kulturen, in denen der Mythos eine Existenzdignität innehat, eine weitreichende Bedeutung hat. Immaterielle Kräfte besitzen ein ›Existenzrecht‹. Die Modernen haben in ihrem Weltbild keinen Bereich, die Wirkung dieser Kräfte zu verorten (vgl. ebd.: 274). Sie sind mit den Kategorien der Modernen nicht in deren Sinne rational zu verorten, ihre eigenständige Dignität wird unterlaufen. Es geschieht mit Latour gesprochen eine Verschiebung, ein »kapitale[r] Kategorienfehler: Wenn es einen Fall gibt für eine Sache, die für eine andere gehalten wird, dann sind es die psychogenen Netzwerke, die für eine ›Schöpfung des menschlichen Bewußtseins‹ gehalten werden« (ebd.: 273).6 Diese Kräfte werden als Anzeichen einer 6 | Die Rede von psychogenen Netzwerken erinnert an Michel Foucaults genealogische Gesellschaftsanalysen seiner mittleren Schaffensperiode; Latours Darstellungen und Analysen greifen diesen Aspekt jedoch nicht auf.
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(bewusstseinsphilosophisch konstituierten) Innenwelt interpretiert. Sie werden als Produkte des menschlichen Bewusstseins, d. h. des Subjektes, interpretiert. Die Dignität des subjectiven (fundierenden) Bewusstseins wird überhöht, die Existenzweisen, die ›außerhalb‹ des cartesianischen Cogitos/Bewusstseins geschehen, sich ereignen, werden nivelliert – sogar eher unterlaufen. Die erkenntnistheoretische Spaltung der Modernen zwischen Subjekt und Objekt und damit einhergehend die Überbewertung des sinngebenden und erkennenden Subjektes wird verstärkt. Dies ist skizzenhaft gesagt der Kategorienfehler, auf den Latour aufmerksam macht. Latour bleibt jedoch bei dieser Beschreibung nicht stehen, sondern verfolgt sie weiter, indem er insbesondere seinem Gedanken der Kritik eines substanzontologischen Weltbildes treu bleibt. An dieser Stelle nimmt er die Kritik auf, um gerade die Stellung des neuzeitlichen (ontologischen) Subjektes, des unbezweifelbaren und »unbestreibare[n] Ego[s]«, allgemeiner gesprochen, des Sein-als-Seins, zu unterlaufen (vgl. ebd.: 270). Denn: »Die Kontinuität eines Ichs wird nicht durch seinen authentischen und gewissermaßen ursprünglichen Kern sichergestellt, sondern durch seine Fähigkeit, getragen zu werden, ohne sich hinreißen zu lassen, von Kräften, die in jedem Moment in der Lage sind, es zu zerbrechen oder, im Gegenteil, sich in ihm einzurichten.« (Ebd.: 285)
Gingen die Modernen bspw. davon aus, dass das Ego des Menschen – man kann hier sowohl an seine cartesianische erkenntnistheoretische als auch an seine substanzontologische Bedeutung denken – ›substanziell‹ und ›prinzipiell‹ die Identität des Menschen, oder eher von Etwas überhaupt, sichert, so weist Latour darauf hin, dass diese Persistenz gerade nicht einem grundlegenden autarken »Kern« geschuldet ist. Bleibt man – Latour folgend – der ›wirklichen‹ Erfahrung treu, so spüren auch die Modernen »Kräfte, von denen die Erfahrung sagt, daß sie äußerliche sind, während die offizielle Wiedergabe behauptet, sie seien nur innerlich – nein, einfach nur nichts« (ebd.). Diese Kräfte sind nicht irreale Schöpfungen des Bewusstseins, nein, es gibt sie.7 Sie können beunruhigend sein; sie widersprechen der einfriedenden Setzung eines mit sich identischen ursprünglichen Kerns, der sich nicht mit Fragen der Diffe7 | In Spuren zeigen sich die Wirkungen der Existenzweise der Metamorphose auch weiterhin bei den Modernen – Latour gibt ein sehr deutliches Beispiel. Er spricht nämlich davon, dass sich die Anthropologin nicht einfach nur den – von den Modernen – als primitive Völker Bezeichneten zuwendet; nein, »sie untersucht Menschen, die die riesigste pharmazeutische Industrie in der Geschichte entwickelt und einen verblüffenden Verbrauch an Psychopharmaka haben, von den illegalen halluzinogenen Substanzen ganz zu schweigen« (ebd.: 271).
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renz, der Diskontinuität, des Anderswerdens (in der Zeit) auseinandersetzen muss. Latours These ist nun, dass gerade diese Erfahrung den Existenzmodus der »METAMORPHOSE« zum Ausdruck bringt (ebd.). [MET] ist eine real erfahrbare und nicht irrationale Existenzweise. Sie zeigt sich bspw. in einer »Krise des Ergriffenwerdens« (ebd.: 277). Man weiß nicht, was einem geschieht. Man wird von ›etwas‹ mitgerissen, ergriffen. Dieses Etwas hat die Kraft zur Transformation und zur Verwandlung (vgl. ebd.: 278 f.). [MET] erweist sich als immer stattfindender Hiatus innerhalb der ›angeblichen‹ substanzontologisch gesetzten Kontinuität/Persistenz des Seins-als-Sein. Es stellt sich die Frage, warum die Modernen diese Existenzweise als irrational werten konnten. Eigentlich handelt es sich – mit Latour gesprochen – doch um eine »Erfahrung – des Ergriffenwerdens, der Entfremdung, […] der Transformation […] – [, die] sehr gewöhnlich« ist (ebd.: 284). Eine Antwort auf diese Frage gibt Latour, indem er auf die spezifische »Form des Wahrsprechens«, und zwar des guten, über diesen Modus eingeht. Denn: »Wir finden hier […] eine anspruchsvolle Form des Wahrsprechens wieder, da man von diesen Wesen gerade überhaupt nicht alles Beliebige sagen kann: ein schräges Wort, eine schlecht verstandene Geste, ein zusammengepfuschtes Ritual, und das war es – anstatt zu befreien, sperrt man ein, anstatt zu behandeln, tötet man.« (Ebd.: 285)
Das Sprechen über diesen Modus gestaltet sich zwar schwierig, es ist aber nicht unmöglich. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass das Reden über die Wirkungen der Existenzweise der Metamorphose »in die Wahrsagungen der Regenbogenpresse und an die Ränder der Pharmakologielabore« verdrängt worden sind (ebd.: 286). Aus der Perspektive der ›erkenntnistheoretischen-cartesianischen‹ Ratio bzw. mittels ihrer Kategorien gelingt kein gutes Wahrsprechen über diesen Modus [MET]. Um diesen Modus von der Wertzuschreibung der Irrationalität zu befreien, muss man einerseits die Praxis beachten, in der ein solches Reden sich schon in Ansätzen vollzieht. Latour schreibt, »daß man sich ins Sprechzimmer, in den Tempel, in das Kloster, in das Labor derer drängt, die zwar rar sind, aber wirksam darüber sprechen können« (ebd.). Man muss aber noch einen Schritt weitergehen. Hierbei verweist Latour auf die Bedeutung des »Adjektiv[s] rational«, wie er sie selbst in seiner Untersuchung fasst und definiert: »Rational ist die kontinuierliche Verfolgung eines Netzwerks, dem man seinen Interpretationsschlüssel, seine PRÄPOSITION hinzufügt.« (Ebd.: 288) Man muss der spezifischen »Tonalität« des Modus folgen. Erst dann kann man den Modus der Metamorphose ›gut‹ beschreiben und zur Sprache bringen. Zu dieser Beschreibung Latours möchte ich nun übergehen. Was versucht Latour zu zeigen? Es geht ihm darum, »diesen Wesen [der Metamorphose] eine gewisse Exteriorität zuzuerkennen, ohne daß sie […] dieselbe Kontinuität im Sein [haben] wie Tische oder Stühle. Sie sind keine Repräsen-
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tationen, Einbildungen, Phantasmen mehr, die von innen nach außen projiziert würden; sie kommen ohne Zweifel von woanders, sie drängen sich auf.« (ebd.: 290) Sie besitzen eine »ontologische Würde« (ebd.). Gerade der Existenzmodus [MET] zeichnet sich nämlich durch eine besondere Form der »Alterierung« aus: »Was würden wir ohne sie machen? Wir wären immerzu und immerfort dieselben. Durch das Multiversum […] zeichnen sie Wege der Alterierung, die gleichzeitig erschreckend sind – denn sie transformieren uns –, schwankend – denn man kann sie täuschen –, erfinderisch – denn man kann sich von ihnen transformieren lassen. […] Daher bezeichnet das Wort Metamorphose sowohl das, was diesen Wesen zustößt, als auch das, was den Menschen zustößt, die gerade mit ihnen verbunden sind.« (Ebd.: 291 f.)
Was Latour mit der Beschreibung dieser Existenzweise [MET] hervorhebt, sind die Aspekte, die vom Anderssein, von Veränderung, von Transformationen handeln. Innerhalb eines substanzontologischen Denkens haben diese wenig Platz. In der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die sich insbesondere durch Veränderung und Vergänglichkeit auszeichnet, wird in einem substanzontologischen Ansatz der höchste wie auch ursprüngliche und fundamentale Wert dem Ewigen und Unveränderlichen, dem Sein-als-Sein, zugeschrieben. Um auf philosophisches Vokabular zurückzugreifen: Die Existenzweise der Metamorphose steht im Gegensatz zu den (metaphysischen) Gedanken der platonischen Idee, des aristotelischen Ersten Bewegers, des Gottes der mittelalterlichen Philosophie, des Egos/Bewusstseins in der neuzeitlichen/modernen cartesianischen oder idealistischen Philosophie. Diese Ansätze mussten sich jedoch immer mit den Phänomenen der Veränderung, der Alterierung und des Identischbleibens (mit sich) in oder innerhalb der Veränderung auseinandersetzten, also mit all dem, was im Widerspruch zur Persistenz steht. Die Existenzweise der Metamorphose bringt gerade das zum Ausdruck, was in solchen Strömungen ausgeschlossen wurde.
3. [GEW] »Die Gewohnheit ist die Patronin aller gebahnten Straßen, Wege und Pfade.« (L atour 2014: 373)
Im Folgenden möchte ich den Existenzmodus der Gewohnheit [GEW] beschreiben. Es handelt sich hierbei um den Existenzmodus, »der neunundneunzig Prozent unseres Lebens ausfüllt und ohne den wir nicht existieren könnten […]. Der, durch den sich die HANDLUNGSVERLÄUFE definieren.« (Ebd.: 371) Mit diesem lenkt Latour den Blick insbesondere auf den Aspekt der
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Kontinuität, Stabilität und Wiederholbarkeit. Zur Darstellung dieses Existenzmodus wählt Latour u. a. als Beispiel die Kontinuität in empirischen Handlungsverläufen. Latours Hervorhebung von [GEW] hat jedoch weiterreichende Bedeutung. Zeichnete den Modus [MET] das Moment der Veränderung aus, so beschreibt Latour anhand von [GEW] sozusagen einen Brückenschlag innerhalb der Hiati des Existierens. Wie schon festgehalten wurde, wendet sich Latours Aufweis einer Pluralität an Existenzmodi gegen eine substanzphilosophische Auffassung, die er mit dem Titel »Sein-als-Sein« charakterisiert. Jeder Existenzmodus ist geprägt von Alterierung, Diskontinuität – diese Charakteristika werden jedoch auch immer ›überwunden‹ –, da ansonsten nichts als fortlaufend existierend aufgefasst werden könnte. In Latours Modell zeichnet sich [GEW] als Existenzmodus durch seine Überwindung von Diskontinuitäten aus. Aus [GEW] ergibt sich überhaupt erst die Wirkmächtigkeit des substanzontologischen Gedankens des »Seins-als-Sein« im Bewusstsein der Modernen. Folgen wir Latours Darstellung: »Nein, wird man einwenden, das kann kein wahrer Existenzmodus sein! Aber ja doch! Und der geläufigste, der vertrauteste von allen.« (Ebd.: 372) Der Modus [GEW] wird von Latour dem ersten Eindruck nach durchaus vage beschrieben. Ihm kommt ein »verhüllender« Charakter zu. Er »verbirgt« – insbesondere sich. Er zeigt sich mehr als Schein denn als Sein. Und dennoch bezeichnet ihn Latour als den »unerläßlichsten Existenzmodus« (ebd.: 371).8 Warum? Von ihm hängt ab (um ein Beispiel Latours aufzugreifen), dass der Mensch kontinuierliche Handlungsverläufe in seinem Lebensalltag vollzieht. Latour meint damit aber nicht einfach nur, dass durch routinierte Gewöhnung des Menschen an spezifische Tätigkeiten Handlungsverläufe ablaufen. Er schreibt: »Blicken Sie um sich. Die Existierenden sind nicht ständig mit ihrer Fortzeugung beschäftigt; die meiste Zeit gehen sie ihren Beschäftigungen nach, indem sie sich ihrer Existenz erfreuen [REP ∙ G EW]. Die Wesen, die die Psyche produzieren, lassen uns nicht immer in der Angst vibrieren, auf Metamorphosen zu surfen, wir fühlen uns einfach ›wohl in unserer Haut‹ [MET ∙ G EW].« (Ebd.: 372)
Die Existenzweise der Gewohnheit durchzieht den menschlichen Alltag. Durch diesen Modus kommt Kontinuität und Vertrautheit in diesen Alltag. Latour bleibt jedoch nicht bei dieser ontischen Beschreibung stehen, denn die Ge8 | Ohne dies an dieser Stelle verfolgen zu können: Demjenigen, der sich mit philosophisch tugendethischen Ansätzen in der Folge von Aristoteles bis in die gegenwärtige Zeit (u. a. Alasdair McIntyre) auskennt, und demjenigen, der sich mit den frühen Schriften Heideggers vor der sog. Kehre und insbesondere mit dem dort entfalteten Gedanken der »formalen Anzeige« befasst hat, werden viele Übereinstimmungen auffallen.
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wohnheit zeichnet sich durch eine Mehrzahl von Besonderheiten aus. Eine Besonderheit ist ihr verhüllender Charakter; es handelt sich um einen Modus, der »die Präpositionen verhüllt« (ebd.: 371). Latour spielt hiermit auf ein Phänomen an, das bei jeder empirischen Forschung wichtig ist. Hierbei greift Latour die Kreuzung [REF ∙ GEW] auf. Sein Beispiel besteht darin, dass der Planetologe die verschiedenen Glieder und Instrumente seiner Forschung vergessen muss. Momente der Forschung müssen »nicht sichtbar« gemacht werden, in Klammern gesetzt werden, um »richtig zu arbeiten«. Erst so kann er die »Extrempunkte bewahr[en] – den Bildschirm seines Rechners und das Bild der Landung eines Roboters auf dem Mars in Millionen Kilometer Entfernung« (ebd.: 387). Kommen wir aber wieder zur Verhüllung der Präpositionen9 zurück. Die Präpositionen sind Interpretationsschlüssel – wie bspw. die »Angabe ›Roman‹, ›Bericht‹ oder ›Dokument‹ zu Beginn eines schriftlichen Werks«. »Diese Angaben liefern den Sinn dessen, was folgen wird, aber unter der Bedingung, daß es eine Folge gibt, daß man ›die Seite umblättert‹, und nicht, daß man allein bei dieser Angabe stehenbleibt.« Es gibt also Folgen, kontinuierliche Reihen. Mit dem Modus der Gewohnheit spricht Latour eine »Weggabelung [an], die erlauben wird, dem eine Folge hinzuzufügen, was sie nur anzeigten« (ebd.: 372). Die Gewohnheit ist es, die den »Spezialeffekt« der »Kontinuität« hervorbringt (ebd.: 374). Sie verliert die Präpositionen nicht, sie umhüllt sie – wie auch die anderen Modi. Aufgrund ihrer Existenzweise ›handelt es sich‹ um kontinuierliche Handlungsabläufe, die nicht ständig reflektiert werden müssen, um zu gelingen. Diese Art von »Kontinuität ist stets der Effekt eines Sprungs über Diskontinuitäten hinweg« (ebd.: 375). Eines Sprunges, der Brücken in die Hiati des Existierens schlägt. Man kann davon sprechen, dass die Gewohnheit Unglattes glättet, Ungerades gerade macht, eine unreflektierte Kontinuität geschehen lässt. Aufgrund dieser Kontinuität wird die ›Welt‹ für Existierende als bewohnbare Welt lebbar. Diese Kontinuität, die der Modus [GEW] gewährleistet, veranlasst Latour zufolge jedoch einen folgenreichen Kategorienfehler innerhalb des philosophischen Denkens der Modernen. Der Existenzmodus [GEW] wurde aufgrund seiner Effekte substanzontologisch gedeutet. »Der besondere Beitrag der Gewohnheit besteht darin, daß sie gut Wesenheiten definiert, Kontinuitäten, die in der Tat dauerhaft und stabil erscheinen, weil ihre Unterbrechungen der Kontinuität übergangen werden, auch wenn sie in jedem Moment ›hervorgehoben‹ werden können und ›erinnerbar‹ bleiben.« (Ebd.: 377) Der substanzontologische Gedanke wird von hier als Scheinschluss entlarvt. Der Existenzmodus [GEW] bewirkt in gewissem Sinne einen doppelten Effekt. Zum einen, dass 9 | Für eine ausführliche Darstellung zum Modus der Präposition vgl. den Beitrag von Georg Kneer im vorliegenden Band.
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er »gut Wesenheiten definiert« – der Ausdruck Wesenheit spielt hier auf den Gedanken des »Seins-als-Sein« an. »Der durch die Gewohnheit hinterlassenen Spur verdanken wir diese Ambiguität zwischen dem Sein als SUBSTANZ und dem Sein als SUBSISTENZ, denn die Gewohnheit, und das ist ihre Tugend wie ihre Gefahr, erlangt Effekte der Substanz ausgehend von der Subsistenz.« (Ebd.: 382) Andererseits »heißt [das] nicht, daß ›die Existenz der Essenz vorausgeht‹, sondern daß sich wie eine Essenz, eine Wesenheit zu verhalten ein Existenzmodus ist, eine Seinsweise, die an die Stelle keiner anderen setzbar ist und die ihrerseits durch keine andere ersetzt werden kann.« (Ebd.) Plakativ, wie schon Jean-Paul Sartre, verwendet hier Latour in seiner Ausführung die Umkehrung des klassisch metaphysischen Grundsatzes: Die Essenz geht der Existenz voraus. Wichtig an dieser Stelle ist jedoch, dass Latour das »Wiesich-als-eine-Wesenheit-zu-verhalten« keinesfalls negativ bewertet. Denn nur aufgrund des Stattfindens dieses Existenzmodus erscheint die Lebenswelt für die darin Lebenden vertraut, wird händelbar, ist bewohnbar. Es gibt nicht nur Ungewohntes, Neues: »Ohne Gewohnheit hätten wir es nie mit Wesenheiten zu tun, sondern stets mit Diskontinuitäten. Die Welt wäre unerträglich. Es sieht so aus, als produzierte die Gewohnheit das, was an Ort und Stelle bleibt, ausgehend von dem, was dies nicht tut. Als gelangte sie dahin, die Welt des Parmenides aus der des Heraklit zu extrahieren. Wir können von der Gewohnheit sagen, daß sie die Welt, in der Tat, bewohnbar macht.« (Ebd.)
Die Möglichkeit der Bewohnbarkeit ist der positive Effekt, die Verwechslung zwischen Prozessontologie (Wesenheit-darstellen) und Substanzontologie (Wesenheit-sein) ist die negative Konsequenz. Mit der Beschreibung von [GEW] als Existenzmodus unter anderen Modi verfolgt Latour den gleichen Versuch, den alle Kritiker der abendländischen metaphysisch substanzontologischen Positionen in der Geschichte der Philosophie unternommen haben: Wir können kein mit sich identisches grundlegendes Sein festhalten/aufweisen, auch nicht als Postulat oder als grundlegende These. Schauen wir um uns, so gibt es Alterierungen, Alterität, Hiati. Dennnoch gibt es Kontinuität, vertraute Handlungsabläufe etc. Mit [GEW] lenkt Latour den Blick auf Beständigkeit, Beharrlichkeit, Kontinuität; mit [MET] hebt Latour die Existenzweise der Veränderung, Alterierung, Diskontinuität hervor. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die gegensätzlichen Attribute dieser Existenzweisen im Existenzmodus [REP] zusammengedacht werden.
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4. [REP] Latour bezeichnet mit Reproduktion [REP] »den Existenzmodus, durch den eine beliebige Entität den Hiatus ihrer Wiederholung überschreitet und so von Etappe zu Etappe eine besondere Trajektorie definiert, wobei das Ganze besonders anspruchsvollen Gelingensbedingungen gehorcht: sein oder nicht sein« (ebd.: 149). Diese Zeilen klingen auf den ersten Blick sehr formal und vielleicht etwas inhaltsleer. Aber es wird deutlich, mit diesem Modus geht es sozusagen um die grundlegende Frage nach dem Sein oder Nichtsein von überhaupt etwas. Mit dem Modus [REP] hebt Latour das »Risiko, welches die Existierenden eingehen, um sich durch die Reihe ihrer Transformationen zu wiederholen« (ebd.: 141), hervor. Zunächst beschreibt er dies im Rückgriff auf einen darwinistischen Gedanken (vgl. ebd.: 161), wobei er »zwei Formen« benennt, unter denen man den Existenzmodus [REP] begreifen kann, nämlich an »den KRAFTLINIEN und den ABSTAMMUNGSLINIEN, den beiden unterschiedlichen Weisen, den winzigen oder gewaltigen Hiatus zu definieren, der ihre Antezedenzien von ihren Konsequenzen, ihre Herkunft von ihrer Zukunft trennt« (ebd.: 160). Der Gedanke der Abstammungslinie ist der darwinistische Gedanke, den Latour in Bezug auf Lebewesen hervorhebt, den Gedanken der Kraftlinien verwendet Latour in Bezug auf Lebloses (vgl. ebd: 399 f.). Mit der Charakterisierung Kraftlinien weist Latour auf eine »eigene Beharrlichkeit« hin, ein »Reihungen bilden, […] weil trotz des Hiatus, trotz des Sprungs zwischen einem Augenblick und dem nächsten (der für die Augen der Menschen unmöglich zu erkennen ist10) jedes Ereignis etwas erbt, das ihm erlaubt, ›historische Routen‹ zu bilden« (ebd. 160). Neu Entstehendes – welcher Art auch immer – geht mit einem Erbe von Vorhergehenden Hand in Hand, wodurch es bspw. Kontinuitäten im »Entfalten von Kraftlinien als Netzwerk« (ebd.) gibt. Lebewesen »dauern« in der Zeit nicht einfach fort, »indem sie sich wiederholen«, sondern sie müssen sich »reproduzieren«, um nicht »vollkommen zu verschwinden«; sie lassen etwas »passieren […] an die nachfolgende Generation« (ebd.: 160 f.). Im Existenzmodus der Reproduktion wird ein »Paß« zwischen vergangenen und zukünftigen Generationen oder »leblosen Entitäten« geschlagen, was nicht mit einer Wiederholung von Identischem zu verwechseln ist (vgl. ebd: 398). Latour bleibt bei dieser Kennzeichnung von [REP] jedoch nicht stehen, er schreibt: »Aber die Erfassung der Existierenden nach dem Modus der Reproduktion beschränkt sich nicht auf die Kraftlinien und die Abstammungslinien, sondern sie betrifft ebenso alles, was sich aufrechterhält: eine Sprache, ein Körper, eine Idee und, selbstverständlich, eine Institution.« (Ebd.: 161) Von hier her zeigt sich also, wie allumgreifend und grundlegend Latour den Existenzmodus [REP] definiert. 10 | Sicher ist jedoch, dass dieser Sprung nachträglich festgestellt werden kann.
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Das, was ist, geht aus dem Geschehen der Reproduktion hervor, als Vollzug eines Re-Produzierens, und dies meint nicht nur ein Produzieren im Sinne eines (völligen) Neuherstellens. Das »Re« verweist auf einen sich wiederholenden Vorgang. Alles, was in der Welt ist, existiert laut Latour »entsprechend dem Modus der Reproduktion« (ebd.: 155). Die Reproduktion hat es demnach mit der Beständigkeit von Veränderlichem zu tun – und nur durch diese Existenzweise »gibt es« (ebd.: 147) etwas wie Lebewesen, Institutionen etc. Im Gedanken des Existenzmodus [REP] kulminiert Latours anti-substanz ontologische Gedankenführung. Existieren beruht nicht auf einem letzten Grund – wie der Substanz –, sondern auf einem kontinuierlichen, durativen und differierenden, alterierenden Prozess. Der Existenzmodus der Reproduktion hat es von hier aus gesehen mit einem Grundthema der Philosophie zu tun, nämlich mit der grundlegenden ontologischen Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?« Heidegger hat diese Frage gestellt – und über 2000 Jahre vorher schon Parmenides. In gewisser Weise wiederholt Latour mit der Beschreibung des Existenzmodus der Reproduktion diese grundlegende Frage – und gibt ihr eine Antwort im Aufweis einer Pluralität an Existenzweisen. Innerhalb der Reproduktion wird ein Hiatus, ein Sprung überwunden, der für die Fortdauer notwendig ist. Der Gedanke der Kontinuität wird jedoch nicht nivelliert. Hiermit verabschiedet sich Latour von dem Gedanken, dass die Essenz, die Substanz (im philosophischen Sinn) der Existenz vorausgeht. Er versucht von hier aus substanzontologische Ansätze zu unterlaufen. Diese nehmen nämlich nach Latour eine »Substanz [an], die hinter oder unterhalb der existierenden Wesen liegt und ihre Subsistenz, ihre Fortdauer erklärt« (ebd.). Mit dem Gedanken des Existenzmodus [REP] »hat [es] den riesigen Vorteil, von jeder Jenseits-Welt befreit zu sein – der Substanz –, ohne daß man deshalb die Kontinuität im Sein verloren hätte – die Subsistenz« (ebd.: 162). Trotz Alterierung, also Fortdauer, Kontinuität, Persistenz. Mit der Existenzweise [REP] unternimmt Latour den Versuch, sich diametral gegenüberstehende Qualitäten wie Kontinuität und Diskontinuität, Alterität und Identität, Beharrlichkeit und Veränderlichkeit etc. zusammenzudenken. Meines Erachtens muss von hier her gesehen der Modus [REP] als der fundierende Modus der Vielheit von Existenzweisen angesehen werden. Aufgrund des Stattfindens von [REP] gibt es Sein, Existierendes. »Wir haben weiter oben gesehen, daß ein Berg, eine Katze, eine Hefe, kurz, jede beliebige Kraftlinie oder Abstammungslinie zwangsläufig, um Kontinuität zu erlangen, eine Reihe von Diskontinuitäten [REP] durchlaufen muß. Um Sein zu gewinnen, braucht es Anderes. Für dasselbe muß man, wenn man so sagen kann, in Veränderungen oder ALTERIERUNGEN bezahlen. Diese Diskontinuitäten […] bilden die Pässe, die Passage, das Passierte, das Vergangene (le passé), dank deren dieser besondere Typ von Insistenz und Persistenz gewonnen wird. Er erlaubt dem Berg, derselbe zu bleiben, und der Katze,
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Nicole Thiemer selbst wenn sie altert, ihr Nachsinnen auf ihrer sprichwörtlichen Matte fortzusetzen, ohne vom Nachsinnen des nicht weniger sprichwörtlichen Philosophen unterbrochen zu werden, der seinen von den Hefen fermentierten Weißwein trinkt.« (Ebd.: 173)
Der Gedanke des Gewinns beschränkt sich bei Latour nicht darauf, den Existenzmodus [REP] als fundierenden Seinsmodus zu definieren. Er besteht auch darin, das Weltbild der Modernen in ein anderes Licht zu rücken. Dieses Weltbild bezeichnet Latour als »IDEALISMUS [eines] Materialismus« (ebd.: 156), worauf ich im Folgenden kurz eingehen werde. Das Kapitel 4: LERNEN, RAUM ZU LASSEN (ebd.: 155 ff.) ist das Kapitel, in dem sich Latour explizit dem Existenzmodus der Reproduktion widmet. Der Titel des Kapitels ist jedoch sehr treffend gewählt. Denn im Zuge der Beschreibung der Reproduktion kritisiert, unterläuft, entidealisiert Latour einen Raum- und Materiebegriff der Modernen. Auf diese Weise eröffnet er eine »bewohnbare« Welt, in der eine Pluralität an Existenzweisen Raum findet, in ihrer Wertigkeit und Werthaftigkeit geschätzt zu werden. Die Welt der Modernen ist – laut Latour – von einem »IDEALISMUS [eines] Materialismus« geprägt (ebd.: 156). Bei dieser Prägung handelt es sich um einen folgenreichen Kategorienfehler, der den Modernen unterlaufen ist, und zwar im Zuge des »Cartesianismus«, »mitten im 17. Jahrhundert« (ebd.: 366). Unter Cartesianismus versteht Latour in seiner Untersuchung hauptsächlich die Trennung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt im Sinne der Terminologie René Descartes: res cogitans – res extensa. Hierbei handelt es sich um einen erkenntnistheoretischen Dualismus, der zur Folge hatte, dass Existenzmodi wie die der Metamorphose und der Gewohnheit ihrer ontologischen Dignität entwürdigt wurden. Weshalb? Da mit dem Cartesianismus im Sinne Latours ein Weltbild Hand in Hand ging bzw. geht, das eine nur über einen geistig projizierten (idealisierten) Begriff von »Außenwelt«, von »Materie« – kurz, von dem was in der Welt vorkommt und ist – verfügt (vgl. ebd.: 156, 174 ff.). Durch diese Projektion wird die Welt erkennbar, aber eben nur in den Kategorien dieses Cartesianismus: »Die Welt ist in eine Bifurkation geraten.« (Ebd.: 179) Latour greift hier schablonenhaft den Gedanken Whiteheads auf, um auf eine Zweiweltentheorie hinzuweisen, die mit einer Abwertung der Erfahrung des sinnlich Erfahrbaren und der wissenschaftlichen empirischen Forschung einhergeht.11 Diese Zweiweltentheorie lässt sich folgendermaßen begreifen: »Einerseits gibt es eine unsichtbare, aber formale Realität […]; andererseits muß man sich weiterhin mit einem ganzen Ensemble von Merkmalen herumschlagen, die zwar für die Sinne sichtbar ist, aber unwirklich, jedenfalls 11 | Latour bedient sich hierbei einer Vielfalt von Auslegungen dessen, was er unter Cartesianismus oder auch Platonismus versteht, ohne dies zu konkretisieren; vgl. bspw. ebd. 176.
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ohne Substanz.« (Ebd.: 179) Kurz gesagt, Latour spricht hiermit eine Verdopplung der Welt in eine geistig erkennbare (daher der Ausdruck: Idealisierung/ Idealismus der Materie) und eine für die Erkenntnis uninteressante Welt (d. h. die sinnliche, empirische) an. Diese Erkenntnis ist ausgerichtet auf eine feste Form – unveränderlich, undynamisch (vgl. ebd. 168 ff.). Im Sinne Descartes ist sie darauf ausgerichtet ein fundamentum inconcussum für alle mögliche Wissenschaft überhaupt bereitzustellen.12 Dieses Fundament ist aber gerade nicht in der Empirie zu finden. Nein – allein im Geist, in der res cogitans des Cartesianismus. So versteht es jedenfalls Latour, auch wenn dies von den schriftlichen Dokumenten Descartes abweicht. Was geschieht nun im Zuge eines solchen Denkens mit der Materie, die sinnlich, empirisch erfahrbar ist? Ja, sie ist erkennbar – aber nur in Bezug auf eine Form, die der Pässe, der Diskontinuitäten entledigt wurde (vgl. ebd.: 168 ff.). Kurz, sie wird zur »res ratiocinans« (ebd.: 186), einer gedachten, berechneten, geschlussfolgerten Sache, die dem den Modernen eigenen cartesianisch dualistischen Rationalitätsverständnis und dessen Beurteilungskategorien entspringt (vgl. ebd.: 182 ff.). Diese materielle Welt der Modernen, die Institution eines »AMALGAN zweier Modi [REP ∙ REF]« (ebd.: 156), ist die »Idealwelt«, die Ideenwelt hinter den empirischen Erscheinungen. Eine gedachte und formalisierte Materie, ohne Dynamik, ohne Hiatus, ohne Risiko des Existierens, eine »res extensa-cogitans« (ebd.: 175). Eine solche idealisierte Welt hat keinen Raum, keinen Platz für eine Pluralität an Existenzweisen. Sie spricht ihre Sprache, und alles, was in dieser Sprache nicht zum Ausdruck gelangt – und das ist sehr vieles, folgt man Latour –, wird seines ontologischen Werts entledigt bzw. entwürdigt. Hierbei handelt es sich jedoch um eine eigentlich nicht bewohnbare Welt – es gibt sehr wenig Platz in ihr –; um eine Welt, die »unmöglich ist und der Erfahrung so entgegensteht« (ebd.: 180).
5. A bschliessende B emerkungen Im Zusammenhang mit den drei Modi [GEW], [MET] und [REP] verfolgt Latour immer wieder und aus unterschiedlichen Perspektiven die Gedanken der Kontinuität, der Diskontinuität, der Beharrlichkeit, der Persistenz, der Alterierung, der Transformation – im Grunde genommen die metaphysische Frage nach dem Zusammenhang und dem Widerspruch zwischen Werden und Sein. Unterläuft Latour mit seiner Beschreibung der Existenzmodi gerade jeden substanzontologischen Versuch einer Zwei-Welten-Theorie, so ringt er 12 | Der Gedanke entstammt der Schrift Meditationes de Prima Philosophia (Meditationen über die Erste Philosophie), zuerst 1641 erschienen.
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dennoch mit den Attributen und Qualitäten eines substanzontologischen Ansatzes. Mittels des Modus der Metamorphose beschreibt Latour Phänomene der Alterierung, der Transformation etc., Sein-als-anderes. Der Modus der Gewohnheit zeichnet sich durch Kontinuität, Beständigkeit etc. aus, Sein-als-anderes. Jedoch ist nur durch [REP] überhaupt etwas, und zwar in dem Sinne, dass Sein als Existieren überhaupt immer ein Sein-als-anderes ist und sich nur so zeigt. Neben der skizzenhaften Darstellung der Existenzmodi [REP], [GEW] und [MET], wie Latour sie beschreibt, war es Ziel dieses Beitrags, die genannten Modi von einem Grundthema der abendländischen Philosophie her zu lesen, nämlich dem Verhältnis, der Relation von Kontinuität und Differenz, von Selbigkeit und Alterierung/Alterität, von Sein und Werden. Dem versierten Leser wird sicherlich bspw. eine Auseinandersetzung zwischen dem Modus [GEW] mit dem aristotelischen Gedanken der Hexis fehlen. Der Möglichkeiten gibt es viele, weshalb ich einige Aspekte an dieser Stelle noch nennen möchte. Für weitere Untersuchungen wäre es interessant, Latours Ansatz nicht nur mit klassisch abendländisch philosophischen Fragen in ein Gespräch zu bringen, sondern auch mit phänomenologischen, hermeneutischen und narrativen Ansätzen der zeitgenössischen Philosophie. Denn diese – und das ist bei aller Differenz ihr gemeinsamer Nenner – stellen sich den von Latour benannten Problemen, nach der Hervorhebung des Alterierens und Differierens von Seiten postmoderner Strömungen auch die andere Seite der Medaille zu berücksichtigen, beide Seiten zusammenzudenken. Sie stellen sich im Verlauf der letzten hundert Jahre bspw. Fragen, wie Latour sie auch formuliert: »Wie stellt man es an, eine Erfahrung hervortreten zu lassen, die von den offiziellen Berichten nur erdrückt wird?« (Ebd.: 276) Eine Antwort entfaltet Peter Kemp in seinem Buch Das Unersetzliche. Eine Technologie-Ethik (Kemp 1992). Eine weitere findet sich bei Jean-François Lyotard in seinem Bedenken gewaltsamer Diskursarten. Hierbei denke ich nicht an Lyotard als Kritiker der »Großen Erzählungen« – ein Ausdruck den Latour selbst, und zwar positiv (!) aufgreift (vgl. Latour 2014: 397), sondern an den Verfasser der Schrift Der Widerstreit (Lyotard 1989). In Bezug auf die Relationen zwischen Idem-Ipse-Alterität, die bei Latour ein implizit leitendes Thema ist, möchte ich auf Ricœurs Ansatz verweisen, und zwar insbesondere auf Das Selbst als ein Anderer (Ricœur 2005), da er in diesem auch auf »Institutionen« eingeht. In Bezug auf das Denken Latours des »Seins-als-Anderes« würde eine Relektüre des Derridaschen Gedankens der Différance doch einige strukturelle Parallelen zeigen. Hiermit möchte ich die Liste auch abbrechen und mit einem Zitat Latours enden: »Um diesen Widerspruch aufzulösen, schlage ich vor, unsere Aufmerksamkeit auf die Interpretationskonflikte um die verschiedenen Wahrheitswerte zu konzentrieren, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind.« (Latour 2014: 22)
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L iter atur Descartes, René (2001): Meditationes de Prima Philosophie/Meditationen über die Erste Philosophie, übers. u. hg. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart: Reclam. Kemp, Peter (1992): Das Unersetzliche: eine Technologie-Ethik, Berlin: Wichern. Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Laux, Henning (2014): Soziologie der Existenzweisen: Bruno Latour. In: Jörn Lamla/Henning Laux/Hartmut Rosa/David Strecker (Hg.), Handbuch der Soziologie, Konstanz/München: UVK, S. 261–279. Liebsch, Burkhard (2014): Bruno Latour. Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Rezension. In: Philosophischer Literaturanzeiger 67 (4), S. 356–366. Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit, München: Wilhelm Fink. Ricœur, Paul (2005): Das Selbst als ein Anderer, München: Wilhelm Fink. Thurnherr, Urs/Hügli, Anton (Hg.) (2007): Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt: WBG.
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[DK] Vom Seelentöter der Differenz Doppelklick in den Existenzweisen Michael Schillmeier Nothing is, by itself, either reducible or irreducible to anything else ›The Principle of Irreducibility‹. B runo L atour (1988: 158)
1. S eelen (er) finder »Die Seele einer neuen Gesellschaft macht sich nicht von selbst, man muss an ihr arbeiten, und diejenigen, die an ihr arbeiten, bewirken sehr wohl ihre Entstehung.« (Souriau 2015: 202) Die Arbeit an der Entstehung einer neuen Seele der Gesellschaft, wie der französische Philosoph Étienne Souriau es formuliert hat, kann als Grundmotiv der Existenzweisen von Bruno Latour verstanden werden (Latour 2014).1 Im Sinne Souriaus können Existenzweisen als ein soziologisches Kunstwerk verstanden werden, dem jeglicher Anspruch auf Finalität fremd ist.2 Wie jedes Werk, so strebt auch Latours Existenzweisen nach Konkretisierung und setzt die »existenzielle Unfertigkeit von jedem Ding« (ebd.: 196) konzeptuell in Szene. Existenzweisen betont nicht nur den eigenen Entwurfscharakter, sondern den jeglicher Existenz. Mehr noch: Es ist der/die/ 1 | Zusammen mit der belgischen Philosophin Isabelle Stengers hat Latour in einem langen Vorwort zu Souriaus Modi der Existenz nicht nur die konzeptuelle Nähe zu den Existenzweisen herausgestellt (vgl. Stengers & Latour 2015: 9), sondern ein Erbe benannt, das es zu inventarisieren gilt (vgl. ebd.: 75). 2 | Die Befragungssituation betrifft den Latourschen Versuch eines »zweiten Empirismus« jenseits von Subjekt und Objekt, der sich dessen »Vorfahren« und WeggefährtInnen wie z. B. Leibniz, Deleuze, Serres, Searle, Whitehead, James, Tarde, Simondon, Greimas oder Stengers auf vielerlei und unterschiedlichen Wegen verpflichtet fühlt, mit ihnen eine Differenz zu instaurieren. Auf diese Differenzbildung wird in diesem Kapitel immer wieder explizit Bezug genommen.
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das Andere, den/die/das es für das Instaurieren3 des »zu vollbringenden Werkes« bedarf. Ohne Teilhabe Anderer, keine Existenzweisen. So ist auch dieser Beitrag zu den Existenzweisen zu verstehen. Dieses Kapitel hat Teil an einer »Befragungssituation« (Souriau 2015: 207), die die Existenzweisen konzeptuell wie empirisch auf die Probe stellt, indem die Frage gestellt wird, inwieweit Erfahrungsübereinkünfte dazu erzielt werden können. Die Befragungssituation entspricht einer Art Lackmustest der Existenzweisen und deren Wirklichkeitsbezüge. Ob und inwieweit Befragungssituationen wie diese das Werk verbessern, d. h. konkretisieren, bleibt zweifellos empirisch offen. Existenzweisen artikulieren ein »Dreipersonenstück« (Souriau 2015: 204), bestehend aus dem »Werk, das noch unausgereift ist«, dem »Werk, das bereits mehr oder weniger ausgemeißelt und geschrieben« ist, und dem Menschen, »der durch seine Akte versucht, die geheimnisvolle Entfaltung des Wesens zu verwirklichen, für das er die Verantwortung übernommen hat« (ebd.: 204). Letzteres betreffend sollten wir uns dennoch hüten, dem Menschen die Rolle des »unbewegten Bewegers« zu attestieren. Anknüpfend an Souriaus’ plurale Ontologie gilt es auch für Latours Existenzweisen, den »alten Menschen abzulegen, um den neuen Menschen zu finden« (ebd.: 206). Damit wird zugleich der Anspruch an eine neue Soziologie deutlich, die die überkommene soziologische Idee der Gesellschaft als ausschließlich menschlichen Handlungsraum ad acta legt, um die ontologische Pluralität kollektiver Existenz, d. h. die Wirklichkeit menschlicher und nicht-menschlicher Bezüge, zu versammeln. Alfred North Whitehead paraphrasierend, kann der (sozial-)philosophische Nutzen der Existenzweisen »in der Aufrechterhaltung einer aktiven Neuheit fundamentaler Ideen, die das soziale System erhellen« (Whitehead 2001: 201), gesehen werden. Darüber hinaus kann Existenzweisen als soziologisches »Werk« verstanden werden. Dadurch tritt der doppelwendige Bezug sozialwissenschaftlicher Konzeptualisierung einer ontologisch pluralen und parasitären Wirklichkeit deutlich hervor. »Das Werk betrifft uns« (ebd.: 196; Hervorhebung MS), so Souriau, indem es uns ergreift, ist es von Belang und manifestiert sich »mit einem Anspruch an uns« (Souriau 2015: 198).4 Der Parasitismus der Existenzweisen verweist dabei auf die radikale Umkehrung des modernistischen Subjektivismus und betont »die Ausbeutung des Menschen durch das Werk« (ebd.: 209), ohne dabei das Schöpferische des menschlichen Tuns zu igno3 | Latour übernimmt von Souriau den Begriff der Instauration, der im Gegensatz zur »Unternehmung« platziert wird und die erfahrungsspezifischen Besonderheiten, Risiken, Fehlschläge im Zuge der Konkretisierung einer »geistigen Form« betont. 4 | Man erinnert sich schnell an die Figuren eines solchen Parasitismus im Falle der Soziologie: Marx, Adorno, Bourdieu oder Luhmann – um nur einige besonders hartnäckige zu nennen.
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rieren. Für Latour wie Souriau gilt, dass das Arbeiten am Werk eine riskante Angelegenheit ist und jederzeit das Scheitern und Fehlschlagen desselben erwirken kann (ebd.: 202 f.). Das mögliche Scheitern als Risiko jeglicher Bewerkstelligung lässt sich nicht vollends kontrollieren, aber eventuell minimieren. Das mag die leidenschaftlichen Anstrengungen einer quasi-kollektiven Autorenschaft wie im Falle der Existenzweisen (mit Latour als einer Art Zentralmonade) begründen, das Entstehen der Existenzweisen als öffentliches Ereignis zu initiieren (siehe hierzu http://modesofexistence.org). Die digitale Begleitung der Entstehung der Existenzweisen eröffnete eine medial vermittelte und experimentell angelegte kollektive Befragungssituation.5 Die Arbeit an den Existenzweisen wurde dabei durch eine innovative, digitale Internetplattform unterstützt und als kollaboratives Ereignis verstanden, das potentiell alle diejenigen ansprechen sollte, die sich – wie Latour – von dem Anspruch, eine neue Soziologie zu begründen, »betroffen« fühlen. Die kollektive Arbeit an der Seele einer neuen Gesellschaft lässt sich als das »ins Werk setzen« einer pluralistischen Ontologie des Sozialen verstehen und dies mit Hilfe eines öffentlich vermittelten Schreibprozesses. Damit begründet Latours Existenzweisen ebenso eine globale Verantwortungssituation gegenüber dem soziologischen Werk. Anspruch an und Verantwortung für die Existenzweisen gelten in einem ganz bestimmten Sinne. Die Verantwortung der Existenzweisen hat Teil an der Verantwortung gegenüber unser aller Werk: der Erde (»Gaia«). Für Latour befinden sich Mensch und Erde in einem bedrohlichen kriegerischen Zustand, den wir nicht mit den Mitteln der Modernisierung befrieden können. Gaia wurde zum Werk der Modernisierung, zu einer unberechenbaren »Überexistenz« (Souriau 2015), an deren Wirklichkeit wir zwar großen Anteil haben, die jedoch gegenüber dem Fortdauern unserer menschlichen Wirklichkeit indifferent ist. Wir können uns auch hier der Ausbeutung durch das Werk (Gaia) nicht entziehen! Wir alle sind von Gaia ›betroffen‹: Gaia ist unser aller Belang, ob wir es wollen oder nicht. Die Arbeit an der Seele der Gesellschaft ist für Latour kein disziplinäres oder gar nationalstaatliches Projekt, sondern verweist auf die Erfahrung und die Empfindsamkeit gegenüber der Wirklichkeit von Gaia. Gaia ist die eine Erde, der wir gemeinsam zugehören, an der wir teilhaben und an deren prekären Zustand wir zweifellos beteiligt sind. Die möglichen Folgen lassen eine innerplanetarische Wirklichkeit erkennen, die gerade das Zusammenleben problematisiert und gefährdet. Die Erfahrung von Gaia, so Latour, bedarf eines zivilisatorischen Engagements, das die Grenzen einer Immer-Weiter-So-Moder5 | Existenzweisen ist ebenso eine Dokumentation von Latours Arbeit, die bereits in den frühen 1970er-Jahren an einer vergleichenden Analyse der Produktionsvielfalt von Wahrheitsansprüchen interessiert war (Latour 2010).
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nisierung (Ulrich Beck) deutlich macht (vgl. Latour 2014: 652 f.). Für Latour besteht die Verantwortung für Gaia genau darin, einen produktiven Kontrast zur Modernisierungsideologie zu setzen. Folgt man den Existenzweisen, so bedarf es eines Umdenkens, das sich vor der Ideologie der Immer-Weiter-So-Modernisierung zu bewahren vermag. Es bedarf, so Latour, der Arbeit an einem zivilisatorischen Kontrast, der sich den Rastern der bifurkatorischen Interpretationsund Handlungslogik modernistischer Prägung entzieht. Damit wird ein Blick auf uns »Moderne« möglich, der sich vom Parasitismus der Modernisierung zu schützen versucht. Dazu bedarf es einer radikalen, erfahrungsgeleiteten Absage an alle Formen der Bifurkation, mit denen »die Modernen« ihre Naturalismen, Humanismen, Essentialismen und Fundamentalismen begründen und absichern. Sei es die Dyade zwischen Subjekt und Objekt, primären und sekundären Qualitäten, Natur und Kultur, Wort und Zeichen, Mensch und Tier, Ding und Repräsentation, Realismus und Konstruktivismus, Materialismus und Idealismus usw. Ausgehend von der Subjekt/Objekt-Differenz ist es die anhaltende »ontologische Unterernährung der Modernen« (Latour 2014: 417), die uns nicht nur daran hindert »die Spielarten ihrer Erfahrung zu rekonstruieren« (ebd.), sondern auch einen globalen Modernisierungskampf entlang feindlicher, d. h. gegensätzlicher Differenzen entfesselt hat. Mit Hilfe »ontologische[r] Mastkuren« (ebd.: 259) wird in den Existenzweisen eine konzeptuelle wie empirische Ökologisierung, eine Art erfahrungspraxeologische Demokratisierung der zu mager geratenen ontologischen Politik der Modernen angestrebt. Für Latour erfordert dies den wenig bescheidenen Versuch einer Erneuerung der Anthropologie der Modernen. Diese wendet sich einem ontologischen Pluralismus zu, mit dem Ziel, den verschiedenen Erfahrungstonalitäten der Existenzweisen ihre »ontologische Dignität« zu geben. Das kann, so Latour, nur gelingen, wenn man die je spezifischen Wahrheits- und Gelingensbedingungen sorgfältig benennen kann, Kategorienfehler erkennt und sukzessive die je eigenen Interpretationsschlüssel im Vergleich zu anderen Modi herausfiltert. Jeder Existenzmodus ist das Resultat einer Differenzierung anhand derer die Kontinuität seines Seins aufrechterhalten und erweitert wird. »Ein Existenzmodus ist demnach immer gleichzeitig eine Version des SEINS-ALS-ANDERES (ein Muster von Diskontinuität und Kontinuität, von Differenz und Wiederholung, von Anderem und Selbem) und ein eigenes Regime des Wahrsprechens.« (Ebd.: 267)
Jeder Modus nimmt so auf originelle Weise »alle anderen unter seine Obhut« (ebd.: 646) und wiederholt damit gleichzeitig die je spezifische »rationale Tonalität« der unterschiedlichen Seelen der Existenzweisen. Die Arbeit an der Seele der Gesellschaft soll aber nicht verwechselt werden mit dem Versuch, eine Totalität oder gar eine gemeinsame Essenz der Existenzweisen zusammen
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zu schustern. Die Seele der Gesellschaft benennt die Seele einer »Überexistenz« (Souriau 2015) und verweist auf die Idee von Wirklichkeit und eben nicht auf Existenz. Die Seele der Gesellschaft existiert nicht, sondern ist wirklich, indem diese auf eine gemeinsame Wirklichkeit verweist, von der wir betroffen sind, von der wir ergriffen sind. Die Seele der Gesellschaft benennt die Erfahrung der Wirklichkeit, die zugleich ohne die Pluralität der Existenzweisen nicht spür- und damit erfahrbar wäre. Die Arbeit an der Seele der Gesellschaft ist somit nicht nur die Aufarbeitung der unterschiedlichen Existenzweisen, sondern immer auch mit der Idee eines Pragmatismus verbunden, dem es um die Erfahrung, ja um das Erleiden von Wirklichkeit geht und damit immer auch um Wirklichkeitsprobleme und deren etwaigen Lösungsmöglichkeiten. Existenzweisen kann als spekulativer Beitrag gelesen werden, der das Soziologisieren zu erweitern versucht, indem er eine sozialphilosophische und problemorientierte Mystik ins Werk setzt mit dem Zweck diese zu rationalisieren. Ganz im Sinne A. N. Whiteheads lässt sich Latours Vorhaben als Rationalisierung einer Mystik des Sozialen verstehen, »nicht indem sie diese wegerklärt, sondern indem sie neue verbale Charakterisierungen einführt, die auf rationale Weise koordiniert werden« (Whitehead 2001: 201 f.). Gerade die Strenge der rationalen Koordinierung der unterschiedlichen Existenzweisen und die damit verbundene spekulative Kohärenz kennzeichnet Latours »Suche nach neuen Ideen« (ebd.: 201), die sich als Folge langjähriger empirischer Forschung aufdrängen.
2. S eelentöter Dieser wichtige Unterschied zwischen »rationaler Koordinierung« und »wegerklären« bringt uns näher an die Existenzweisen, benennt aber zugleich deren größten Feind: immer gegenwärtig, Eigenname: Doppelklick. Doppelklick rationalisiert, indem er wegerklärt und lässt die rationale Koordinierung im Sud monotheistischer Rationalität ersticken. Doppelklick ist der allzeit bereite Werksteufel, der jeglicher Sinngebung pluralistischer Ontologie den Garaus macht. Doppelklick ist ein einfacher Geselle, aber dennoch überaus durchtrieben und ambitioniert. Ein Verkleidungsfetischist des ›Bösen Geists‹ der Existenzweisen: Wegerklärungsspezialist, Monopolisierer der Wahrheit, Rationalisierungskünstler, Liebhaber des Uniformen, Besserwisser, Handlanger der Kategorienfehler, stümperhafter Spurenverwischer und unerwünschter Tatortreiniger, Endproduktfanatiker, Prozessverheimlicher, Fürsorgedilettant, Kastrationsexperte, Pluralismusagnostiker, Informationssüchtling, Transportenthusiast und Transformationsallergiker, Sicherheitspropagandist, ein Hans Dampf in allen Existenzweisen, Feind jeder spekulativen Ontologie und Seelentöter der Differenz.
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Wie ein roter Faden zieht sich ein ganz bestimmtes Risikospektrum durch die Existenzweisen. Es ist Doppelklick, der »Teufel« in den Existenzweisen, immer präsent, wie der Mausklick digitaler Kommunikation. Doppelklick lässt selbst die größten Errungenschaften der Moderne wie die der generalisierten Kommunikationsmedien bzw. der inskriptiven Medientechnik und Visualisierungstechnologien (z. B. Buchdruck, Perspektivierung, Zahlen/Statistik, Kartographie, GPS), die sogenannten »immutable mobiles«, in einem dubiosen Licht erscheinen (Latour 2014: 151; Latour 1990). In den Händen von Doppelklick gerät alles in Verruf, was es zu denken gibt und was es zu verstehen gilt. Umso mehr, wenn es sich um die zentralen Technologien des Sozialen handelt, denen Latours Existenzweisen empirisch und konzeptuell auf der Spur ist. Existieren heißt für die Existenzweisen differieren (vgl. Tarde 2009), und differieren impliziert Techniken und Technologien der Übersetzung, des Inter-esses. Aber zunächst: Was bewirkt den Erfolg solcher Übersetzungstechniken des Sozialen wie die der für Latour so bedeutsamen immutable mobiles? Am Beispiel der Kartographie betont Latour was es heißt in Assoziationen zu denken und zu handeln, »ohne dass man je die beiden obligatorischen Etappen von Objekt und Subjekt passiert« (ebd.: 131): »Der Erkenntnisgewinn, den die unveränderlichen Mobile bieten, rührt gerade daher, dass die Karte in keiner Weise dem Territorium ähnelt, während sie gleichzeitig durch eine kontinuierliche Kette von Transformationen – eine Kontinuität, die ständig von der Differenz der eingeführten Materialen gebrochen wird – eine kleine Anzahl von Konstanten aufrechterhält. Gerade durch den Verlust der Ähnlichkeit wird die ungeheure Effektivität der Referenzketten gewonnen. Anders gesagt, dem Netzwerk gelingt es genau deshalb, sich auszubreiten, weil es keine irgendwie geartete Beziehung zwischen dem res und dem intellectus herstellt, sondern nicht aufhört, zwischen einer Inskription und der nächsten Brücken zu bauen.« (Latour 2014: 130 f.)
Die Errichtung und Zirkulation von immutable mobiles, d. h. die Kunst maximale Mobilität mit größter Unveränderlichkeit zu verbinden, wird anrüchig, wenn damit »das Problem als gelöst vorausgesetzt wird, indem man als eine Evidenz gelten lässt, dass es möglich ist, eine Fortbewegung ohne irgendeine Transformation durchzuführen, durch bloßes Gleiten von einer Identität zu einer Identität durch eine Identität« (ebd.: 129; vgl. auch Schillmeier 2012a, Schüttpelz 2009). Wir befinden uns im teuflischen Reich von Doppelklick sobald »das Endresultat einer Korrespondenz […] ohne irgendeine sichtbare Diskontinuität vollzogen wird« (Latour 2014: 130). Dadurch wird der Differenz ihre Seele – ihr Sein, ihr Wesen, ihre Differenz als Differenzierung – genommen. Doppelklick wird zum Seelentöter der Differenz.
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Ohne Differenz als Differenzierung wird weder der Zusammenhang von Kontinuität und Diskontinuität, weder die Beziehung zwischen Persistenz und Metamorphose oder der zwischen Verschiebung und Widerstand, Form und Deformation denkbar. Kein anderer hat das klarer erkannt als Gabriel Tarde in seiner Monadenlehre: »Die Wahrheit ist, dass die Differenz durch die Differenzierung, die Veränderung durch das Verändern entsteht; und indem sie sich so den Unterschied und die Veränderung zum einzigen Ziel setzen, bezeugen beide ihren notwendigen und absoluten Charakter. […] Existieren heißt differieren; die Differenz ist in gewisser Weise das Wesen der Dinge, was ihnen zugleich völlig eigen und gemeinsam ist. Dies muss der Ausgangspunkt sein, und entschieden sollte man verteidigen, dass man alles durch ihn erklärt, auch die Identität, welche bisher fälschlicherweise als Ausgangspunkt diente. Denn Identität ist nur ein Minimum und demzufolge nur eine Art, eine besonders seltene Art der Differenz […].« (Tarde 2009: 67, 71 f.)
Doppelklick entzieht der Differenz ihre eigene Referenz, die Differenzierung. Was man von den Monadenlehren seit Leibniz und Tarde lernen kann, ist, dass keine Seele ohne Körper existieren kann. Das heißt, dass die Differenz immer Differenzierung von etwas ist, und zwar von etwas Anderem. Nur so können die Seelen sich stabilisieren und ausbreiten und Dinge sich ändern. Nur so ist die Rede von Existenzweisen zu verstehen. Nur so gewinnt die Rede vom Seinals-Anderes seine metaphysische Bedeutung, was für Doppelklick freilich nur papperlapapp bedeutet.
3. D oppelklicks U nwesen Latour ist sich bewusst, wie schnell Doppelklick sein Unwesen treiben kann, gerade dann, wenn die Prozesse der Seelenvernetzungen mittels der immutable mobiles Erfolge erzielen und stabile Beziehungen zwischen heterogenen Zusammenhängen ermöglichen. Man denke etwa an Geldtransaktionen. Hierbei handelt es sich entgegen dem Doppelklick des gesunden Menschenverstandes nicht um aktive Subjekte, die mittels Geld passive Objekte erwerben. Vielmehr braucht es die Zirkulation von Geld mit ihren unterschiedlichen Inskriptionen und Technologien um Subjekt-Objekt-Beziehungen zu allererst zu ermöglichen (Schillmeier 2012a). Sobald diese Netzwerke funktionieren, und Geld als Geld zirkuliert, haben Subjekte in diesen Transaktionsnetzwerken Objekte. Wie man weiß, funktionieren Online-Überweisungen nur dann, wenn man eben Netz und die dazugehörigen Netzwerktechnologien hat. Das wiederum setzt eine Myriade an Vorbedingungen voraus (stabiler Wert des Geldes im Laufe der Transaktion, Computer, Software und Bedienungsknowhow, gute Augen
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und Lesbarkeit der Inskriptionen6, Strom, Geldreserven oder gutes Overdraft, liquide Banken usw.), die ein kontinuierliches aber ebenso fragiles Netzwerk bilden, damit die Transaktion so kurz und bündig, so angenehm wie möglich stattfinden kann. Und das alles kann mit ein paar Doppelklicks funktionieren, ohne dass man einen Euro in der Tasche zu haben braucht, ohne jemals Geld außer als lesbare Zahl gesehen zu haben, ohne Münzen oder Geldscheine jemals gefühlt zu haben. Handlung auf Distanz wird möglich, die Ferne zugänglich, »indem sie den Weg mit der in beiden Richtungen verlaufenden Bewegung der unveränderlichen Mobile pflastern«, wie Latour so schön sagt (ebd.: 149). Es ist ein aufwendiger und riskanter Mittler-Prozess, von Passage zu Passage, von Transformation zu Transformation, deren Übersetzungen an jeder Stelle und zu jedem Moment scheitern können. Dennoch, und das ist das Teuflische, wird Doppelklick suggerieren, »es sei besser, über einen kostenlosen, unbestreitbaren und unmittelbaren Zugang zur Information – rein und ohne Transformation – zu verfügen« (ebd.: 151). Für Doppelklick kommt nicht nur der Strom aus der Steckdose, sondern auch das Geld. Für Doppelklick verlaufen die Übersetzungen ohne Umweg, ohne Bruch, geradlinig und kontinuierlich. Existenzweisen aber zeigt, dass es gerade Brüche, Pässe und Umwege sind, d. h. die Topologien von Übersetzung und Transformation, die so etwas wie Geradlinigkeit und Kontinuität ermöglichen.
4. S ozialität oder J enseits der »V ernunf t ohne N e t z werk« Erhebt man den Anspruch »Fortbewegung ohne Transformation« zum Maßstab für Wahrheits- und Falschheitsansprüche, so wie dies die »Vernunft ohne Netzwerk« (ebd.: 152) tut – die unbewegte Bewegerin des Modernismus, der bewusste Subjektivismus als unmittelbar gegebener Existenzbegründer –, dann regiert das Unwesen Doppelklick. Es besteht darauf, sich und alles andere durch sich selbst zu verhandeln und so zum absoluten Herrscher zu werden über das, was als wahr und/oder fasch zu be- und verurteilen ist. Dieser »Vernunft ohne Netzwerk« muss eine andere Vernunft entgegengehalten werden, so Latour, eine Vernunft, die nicht ohne Netzwerk sein kann, um das zu sein was und wie sie ist. Rationalität etabliert sich je unterschiedlich entlang der verschiedenen Existenzweisen als deren »Quellen der Wahrheit« (ebd.: 153). Es ist unabdingbar sich in einem doppelten Sinne vor der teuflischen Präsenz von Doppelklick zu schützen. Existenzweisen kann in diesem 6 | Zum Verhältnis von Lesbarkeit der Inskriptionen und Alltagsszenarien der Behinderung und/oder Ermöglichung, siehe Schillmeier (2012a).
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Sinne als pharmakologisches Experiment verstanden werden, sich einerseits dem Absolutismus der Vernunft ohne Netzwerk und andererseits dem Ethos des Relativismus, der allen anderen Modi des Wahrsprechens ihre Validität entzieht, zu widerstehen. Mit dem Absolutismus einer netzwerklosen Vernunft geht nicht nur eine ontologische Armut einher, sondern das Unsichtbarwerden von Sozialität und damit das Absehen von der Vielfalt der Relationen heterogener Zusammenhänge (»Sein-als-Anderes«) und der Unmöglichkeit ihrer Spurensuche und Rekonstruktion. Durch das aus der Akteur-Netzwerk-Theorie bekannte »Nachzeichnen von Assoziationen« zwischen heterogenen Bestandteilen (Latour 2007 [2005]: 17) entgeht man der Crux zwischen rationaler Wahl der Individuen, sozialer Konstruktion und gesellschaftlicher Strukturierung wählen zu müssen, wenn man Soziologie betreiben will. Existenzweisen betont den Kontrast, den eine »Soziologie der Assoziationen« herbeiführt (Latour 2007, Tarde 2009). Wie ich an anderer Stelle betont habe, ermöglicht eine Soziologie der Assoziationen den »re-entry ontologischer Fragestellungen, Kontroversen und Politik jenseits der Bifurkation von Natur«, da sie »weder auf Natur noch auf wahrgenommene Natur zurückgreifen kann, um Wirklichkeit zu beschreiben« (Schillmeier 2013: 418). Für die Soziologie bedeutet dies, dass auch »Gesellschaft« als ihr Lieblingsbegriff für Identitätsansprüche an Erklärungskraft einbüßt, da dieser sukzessive weder im Unterschied zur Natur noch zum Individuum zu verstehen ist. Anstelle der Bifurkationen zwischen Natur und Gesellschaft, Natur und Mensch, Gesellschaft und Individuum treten Kollektive, die sich als ereignishafte Assoziationen von Unterschieden, von Andersheit bezeichnen lassen und sozialer Prozessualität Dauer verschaffen können (Latour 2007; Schillmeier 2012a). Das gilt für alle Praktiken, für alle Dinge, für Menschen, Tiere und Pflanzen, für Nano-, Mikro- und Makrozusammenhänge, für die Alltagspraxis ebenso wie für wissenschaftliches Experimentieren usw.
5. D oppelklick in der wissenschaf tlichen P r a xis Der gesunde Menschenverstand sagt der Wissenschaft nach, für Wahrheit, Fakten und Objektivität zuständig zu sein. Und zwar so, als ob Wissenschaft sich von Fakt zu Fakt bewegt, um am laufenden Band die Natur aller Fakten peu à peu sichtbar zu machen. Im Modus Doppelklick wird Wissenschaft zu dem Repräsentanten und Produzenten von Sicherheit, Stabilität und Notwendigkeit. Der common sense sagt uns in der Tat, dass wir ohne Wissenschaft auch keine Objektivität in die Welt bringen konnten und können. Jedoch weist uns die risikogesellschaftliche Wirklichkeitserfahrung unserer Zeit auch darauf hin, dass gerade mit Wissenschaft und Technik die Gefährdung unserer Welt schneller und eindringlicher gelingen kann, als die Wissenschaft das vor-
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hersehen oder gar verhindern konnte und kann (Beck 1986). In diesem Sinne verweist Existenzweisen darauf, die Risikogesellschaft nicht als Ausnahmesituation zu verstehen, sondern als wissenschaftlich vermittelte Alltagserfahrung. Sukzessive kann der lange unhinterfragte Doppelklick von Wissenschaft = Fortschritt nur noch dazu dienen, sich eindringlicher der wissenschaftlichen Praxis und ihrer möglichen Folgen zu widmen. Bereits ein kurzer Blick in die wissenschaftliche Praxis zeigt, dass der wissenschaftliche »Transfer von Notwendigkeiten« (Latour 2014: 194) keineswegs die Natur der Dinge widerspiegelt, sondern nur mit Hilfe experimenteller Ausdauer, einer Myriade von experimentellen Laboranordnungen von immutable mobiles, der Erfahrungen von Fehlschlägen und oftmals unerwarteter Effekte, nicht enden wollender ›Expertendiskurse‹ und neuen Bearbeitungs- und Visualisierungstechnologien zu Stande kommt. Nur so kann ein Netzwerk von Transformationen stabilisiert und aufrechterhalten werden und in der Folge Ideen, Erkenntnisse und Wissen sich auf unerwartete Weise materialisieren und vice versa. Nirgendwo im Labor trifft man auf Natur. Dennoch kann es der wissenschaftlichen Praxis gelingen – und das ist ihre Singularität, ihre Besonderheit – durch das Experiment ganz bestimmte Subjekte und Objekte ereignen zu lassen. Ganz im Sinne von Latour betont die Philosophin Isabelle Stengers: »Aus der Sicht, aus der sich das Experiment als besondere Praxis, die nicht voraussetzt, sondern sowohl das Subjekt und das Objekt, als auch ihre Beziehungen schafft, kann keine Version dieser Beziehungen, so bereinigt sie auch sei, mehr eine Allgemeingültigkeit anstreben.« (Stengers 1997: 205; vgl. auch Schillmeier 2012b)
Als Champion des black boxing und der unzulässigen Verallgemeinerung interessiert sich Doppelklick demgegenüber nur für die Endresultate sozialer Dynamiken und eben nicht für die »mühseligen Prozesse« (Latour 2014: 193), denen sich die Science and Technology Studies seit mehr als einer Generation leidenschaftlich zuwenden und dabei zu einem besseren Verständnis wissenschaftlicher Praxis maßgeblich beitragen (vgl. Schillmeier 2014a). Doppelklick übersieht, willentlich oder nicht, dass die wissenschaftliche Autorität nicht dazu genutzt werden kann, um als globale Machtinstanz an Stelle anderer, nicht-wissenschaftlicher Praxis gesetzt zu werden. Doppelklick über- und unterbewertet damit die wissenschaftliche Praxis gleichermaßen. Er überbewertet Wissenschaft, da die Besonderheit (und der Erfolg) der (Natur-)Wissenschaft an die Erfordernisse des Experiments gebunden ist. Die Rede von der Autonomie der (Natur-)Wissenschaften kann nur zu Doppelklick-Zwecken dienen, wenn Wissenschaft sich von jeglichen ›außerwissenschaftlichen‹ Praktiken, Bezügen und Folgen freizusprechen versucht. Die Analytik der ›Co-Produktion‹ von Wissenschaft und Gesellschaft hat dies
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schon lange zum Thema (vgl. Schillmeier 2014a). Andererseits unterbewertet Doppelklick Wissenschaft, sobald er deren Singularität außer Acht lässt, die durch das Experiment (und nur durch das Experiment) ermöglicht, menschliche und nicht-menschliche Akteure in ein mutuales kollektives, d. h. kosmopolitisches Machtverhältnis zu versetzen (vgl. Latour 2004; Schillmeier 2012b; Stengers 2010, 2011). Stengers betont: »The singularity of scientific arguments is that they involve third parties. Whether they be human or nonhuman is not essential: what is essential is that it is with respect to them that scientists have discussions and that, if they can only intervene in the discussion as represented by a scientist, the arguments of the scientists themselves only have influence if they act as representatives for the third party. With this notion of third party, it is obviously the ›phenomenon studied‹ that makes an appearance, but in the guise of a problem. For scientists, it is actually a matter of constituting phenomena as actors in the discussion, that is, not only of letting them speak, but of letting them speak in a way that all other scientists recognize as reliable.« (Stengers 2000: 85, Hervorhebung MS) »The art of the experimenter is in league with power: the invention of the power to confer on things the power of conferring on the experimenter the power of speaking in their name.« (Stengers 2000: 165, Hervorhebung im Original)
Das experimentelle Machtgefüge ist natürlich gänzlich missverstanden und gefährlich, wenn es der Wissenschaft dazu dient, dieses zu universalisieren, d. h. zur Grundlage und Referenz aller Wahrheitsbezüge zu machen und dabei die Gelingens- und Misslingensbedingungen missachtet, welche sich signifikant von denen der Wissenschaft unterscheiden. Man sollte sich in diesem Zusammenhang auch vor den Verlockungen in Acht nehmen, die Doppelklick im Gewand von anderen Existenzweisen inszeniert. Exemplarisch lässt sich das auch an der politischen Existenzweise zeigen, wo Doppelklick suggeriert, dass es in der Politik möglich ist, die Falschheit von Wahrheitsbezügen mit Hilfe des Einsatzes der Rhetorik »unbestreitbarer Notwendigkeiten« (Latour 2014: 201) zu entlarven oder aber gar dingfest zu machen. So als ob die Doppelklickversion der Wissenschaft, die sich nur für die erfolgreichen Endprodukte eines langwierigen Prozesses des Experimentierens interessiert, eine politische Sprache erlaubt, die, obzwar »in und durch die Diskussion geboren«, direkt und disputimmun spricht, so als ob das politische Sprechen »selbst keinerlei Paß passiert« (ebd.: 200). Die Fakten für sich selbst sprechen zu lassen, nichts als Fakten, Fakten, Fakten. Selbstgespräche führen und das Buchstabe für Buchstabe, das ist der Traum von Doppelklick. Der Politik gelingt das aber natürlich nur durch das ständige verschieben, in Frage stellen, verändern, auslegen, verwerfen, retuschieren, diskutieren und disputieren, betrügen, abschwächen oder verschwinden lassen
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all dieser Fakten, um die politische Sprache und immer auch die Wiederkehr des Selbstgesprächs der Fakten, Fakten, Fakten am Laufen zu halten. Unsere medialen Netzmaschinen sind in diesem Sinne grandiose politische Akteure. Ebenso gilt das für Experimentalanordnungen, die die Materialität wissenschaftlicher Kosmopolitik initiieren und dadurch die Handlungsmacht zwischen Menschen und Dingen verteilen und immer wieder neu aushandeln.
5.1 Biomolekularer Doppelklick und die Vision ›magischer Kugeln‹ Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Doppelklick, experimenteller Wissenschaft (Kosmopolitik) und Wissenschaftspolitik kurz anhand neuerer Entwicklungen in den Lebenswissenschaften am Beispiel der Nanomedizin skizzieren. Das Forschungsfeld Nanomedizin profitierte von der wissenschaftspolitisch motivierten »Kultur der Versprechungen« in Nanotechnologieforschung und verband Entwicklungen der molekularen Forschung, Genetik und Post-Genetik, um diese im Bereich nanoskalierter biochemischer und biophysikalischer Zusammenhänge zu erforschen und für etwaige innovative Diagnose- und Therapieverfahren nutzen zu können (vgl. dazu Schillmeier 2015a, 2015b, 2016b). Mit der Kultur der Versprechungen agiert Doppelklick, indem er Visionen und Fiktionen wissenschaftlich vermittelten Fortschritts Realität zuspricht, die sich jedoch den Gelingensbedingungen wissenschaftlicher Praxis entziehen. Nanomedizin ist kein völlig neues Forschungsfeld, sondern verweist zunächst auf eine stärkere Wahrnehmung der Trennschärfe zwischen mikro- und nanoskaligen Prozessen (1–100 nm)7 und den damit einhergehenden (oftmals wenig bekannten) biologischen, chemischen sowie physikalischen Interaktionen und Dynamiken, die man medizinisch nutzen möchte. Diese Entwicklung ist jedoch ohne die Bedeutung und den Einfluss der oben genannten Forschungstraditionen und insbesondere der Kolloid- sowie der Gen- und Genomforschung nicht denkbar. Das Präfix ›Nano‹ dient darüber hinaus als multifunktionale Klammer in der Antragstellung und Ressourcensicherung, in der Projektorganisation und -durchführung, sowie für Veröffentlichungs- und Öffentlichkeitsstrategien, um sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientierte und lebenswissenschaftlich-experimentelle Forschung voranzubringen. Mit nanomedizinischer Forschung verbindet sich nicht nur die Hoffnung einer zielgerichteten und nebenwirkungsarmen Diagnose und Therapie von 7 | 1–100 nm gilt als der am häufigsten genannte Größenbereich hinsichtlich nanoinduzierter Funktionalitäten. Dennoch können auch Pharmazeutika, die größer sind als 100 nm als ›Nano‹ (nm = 10 –9 m) bezeichnet und wichtig werden, wenn z. B. mit deren nanostrukturierter Oberfläche ein positiver therapeutischer Effekt oder eine Abnahme der Toxizität verbunden werden kann.
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Krankheiten, sondern es wird ein signifikanter und globaler Wandel des Gesundheitssystems erwartet (Schillmeier 2014a; 2015b). Nanomedizin steht nicht nur in Kontinuität mit den Anfängen der Krebsforschung, sondern aktualisiert die von Paul Ehrlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Umlauf gebrachte und noch immer aktuelle Idee von sogenannten ›Zauberkugeln‹ (»magic bullets«) zur allumfassenden und direkten Bekämpfung von diversen Krankheitsgründen. Ehrlichs magische Kugeln haben seither Anlass zu diversen Doppelklickvisionen und Doppelklickphantasien von sogenannten intelligenten Pharmazeutika gegeben und sind auch aus der nanomedizinischen Forschung nicht wegzudenken. Seit dem letzten Jahrhundert trat Doppelklick in vielerlei ›magischer‹ Gestalt in den Vordergrund: Als »Atom«, als »Gen«, als »Informationseinheit«, als genetischer »Buchstabe«, mit dem sich das Buch des Leben schreiben lässt, oder eben als »Nanopartikel«, mit dem sich potentiell alles von ›bottom up‹ rekonstruieren lässt (Feynman 2001). Ob nun Atom, Gen oder Nanopartikel, Doppelklick suggeriert, dass dessen unterschiedliche Anordnungen die Architektur der Natur ausmachen. Ist man in der Lage, so das Versprechen von Doppelklick, das Gen, das Atom, den Nanopartikel zu bestimmen, so kann man diese auch reproduzieren und manipulieren und so ›mit der Natur über die Natur hinaus‹ (Nordmann 2009) unser Leben verändern, bestimmen, verlängern, verbessern, Kriege effektiv führen oder Energie ›friedlich nutzen‹, Krankheiten vorhersehen, behandeln oder gar ausmerzen.
5.2 Doppelklickfiktionen und spekulative Praxis Für die Nanomedizin ist trotz der in Aussicht gestellten Revolution der medizinischen Praxis durch Nanotechnologien mittelfristig eine eher moderate Einschätzung gegenüber möglichen Anwendungsbezügen zu erwarten. Damit werden die in den öffentlichen, politischen und wissenschaftspolitischen Doppelklick-Diskursen beschriebenen fiktiven Zukünfte der Nanomedizin, vermittelt durch eine aufgeblähte Kultur der Versprechungen, stark relativiert. Das Entstehen der therapeutischen Verfahren bedarf zwar der Instrumentalisierung des Diskurses fiktiver Entwicklungstrajektorien von revolutionären Anwendungsszenarien, besteht in der lokalen Praxis aber primär in einem sukzessiven Herantasten und Experimentieren mit und an nichtwissensbeladenen, spekulativen Laborobjekten. Letztere sind im Gegensatz zu den DoppelklickVisionen unbestimmt, gestalten aber nichtsdestotrotz die Therapieforschung interessanter, komplexer und konkreter, indem diese situierte und kontextbezogene Fragen- und Problemzusammenhänge zur Diskussion und Disposition stellen, die Doppelklick allzu gerne übergeht, um sich weiterhin in der Kultur des Versprechens suhlen zu können.
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Die laborethnographischen Daten eigener Forschung haben hierzu gezeigt, dass derartige Doppelklick-Antizipationen durch die spekulative Forschungspraxis und ihre Objekte permanent in Frage gestellt werden.8 Während die Zukunftsantizipationen über fiktive Nano-Objekte den Doppelklick-Diskurs der Nanomedizin als Ausdruck einer fast science-Ideologie dominieren, bestimmen Unvorhersehbarkeit, Zeitintensität und Zukunftsoffenheit den aktuellen Alltagsprozess experimenteller nanomedizinischer Forschung. Es ist diese ambivalente Beziehung disparater Zeitlichkeiten und Zukünfte, d. h. die fragile und oftmals konfliktreiche Beziehung zwischen nanomedizinischer Fiktion (in Form fiktiver Doppelklick-Objekte) und nanomedizinischer Spekulation (in Form wirkkomplexer Objekte in the making), die das Spannungsfeld nanomedizinischer Forschung beschreibt (PourGasthasbi 2012; Schillmeier, Barz & Luxenhofer 2015; Schröpfer 2012). Als Doppelklick abstrahiert die Kultur der Versprechungen jedoch gezwungenermaßen von der eigentlichen Übersetzungsarbeit innerhalb des Labors, zwischen synthetischen Proben und organischer Komplexität, zwischen tierischen Modellen und menschlichen Körpern, zwischen Laborsituationen und klinischer Praxis, zwischen kranken und gesunden Körpern, zwischen individuell sich artikulierenden Krankheitsbildern und -symptomen, zwischen idiosynkratischen Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten, zwischen Ärzten, Patienten und interessierten Bürgern, zwischen kurz, mittel und langfristigen (Neben-)Folgen und den dabei emergierenden Forschungsprozessen, Fragestellungen und Problemkonstellationen. Dennoch ist die nanomedizinische Doppelklick-Beschreibung fiktiver Zukünfte und ihrer Objekte aus der Praxis der Wissenschaften nicht wegzudenken und dient insbesondere der globalen Bedeutungszuweisung nanomedizinischer Forschung, dem Outreach-Prozess der Wissenschaften, der kontinuierlichen Formulierung von Forschungsanträgen, der Akquirierung von Forschungsgeldern und natürlich auch der Netzwerkbildung. Zu beobachten ist auch, dass das zeitintensive spekulative Fundament experimenteller Praxis – und damit die machtvolle Besonderheit wissenschaftlicher Wissens- und Objektgenese – zunehmend in Gefahr gerät, in Richtung fiktiver Doppelklickvorstellungen und ökonomischer Verwertungslogik gedrängt zu werden und einen contra-innovativen Forschungsprozess zu evozieren (Schillmeier 2016b, Schröpfer 2012; 2015a/b; Stengers 2011). Doppelklick ist ein Hauptakteur der fast science-Ideologie, die sich einer »knowledge economy and […] new politics of public research« verschrieben hat und sich dem »general imperative of benchmark evaluation in the competitive academic 8 | Das Schumpeter-Fellowship Projekt »Innovationen in der Nanomedizin – Wissensund Objektgenese in interdisziplinärer Forschungspraxis« wurde über fünf Jahre von der Volkswagen-Stiftung gefördert.
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market« unterordnet (Stengers 2011: 1). Doppelklick unterwandert damit nicht nur den für verantwortliches wissenschaftliches Handeln erforderlichen Demokratisierungsprozess wissenschaftlicher Praxis, sondern gefährdet die institutionelle Besonderheit der Wissenschaft selbst, sobald außerwissenschaftliche (vor allem ökonomische) Gelingens- und Nichtgelingensbedingungen den wissenschaftlichen Forschungsprozess diktieren. Mehr noch: »Doppelklick«, so Latour, »hat geglaubt, in der Wissenschaft Gewissheiten zu finden, die kein Kunstgriff kontaminieren, keine Überlegung verlangsamen, keine kostspielige Instrumentierung fragil machen könnte« (Latour 2014: 230). Dazu treten andere Doppelklickstrategien der fast science wie z. B. die publish or perish-Ideologie, das Dickicht der Patente als Qualitätssicherung anstelle des intelligenten Experiments oder das forschungspolitisch überaus problematische Diktat, nur positive Ergebnisse zu publizieren (Auspurg, Hinz & Schneck 2014; Schillmeier 2015a). Darüber hinaus werden im Bereich lebenswissenschaftlicher und damit auch nanomedizinischer Forschung insbesondere Probleme der Reproduzierbarkeit und Reliabilität wissenschaftlicher Daten beklagt und kontrovers diskutiert (Bissell 2013; Kraus 2014). Dies insbesondere im Zusammenhang mit einem Translationsdefizit zwischen Forschung und Anwendung, zwischen in vitro und in vivo Forschung, zwischen prä-klinischer und klinischer Realität. Das Problem der Reproduzierbarkeit ist in einem doppelten Sinne virulent. Zum einen thematisiert es die Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, um allgemeine Aussagen für ein wissenschaftlich isoliertes Problem zu generieren. Damit wird zunächst der klassische Anspruch der Wissenschaften reproduziert, universales Wissen über einen spezifischen Problem- und Interaktionszusammenhang zu generieren und dies unabhängig von einer Bezugnahme auf andere Existenzweisen. Zum anderen werden dadurch die Defizite wissenschaftlicher Forschung im Umgang mit der eigenen experimentellen Praxis der Datengenerierung sichtbar. Sozialwissenschaftlich verweist das Problem der Reproduzierbarkeit auf die Diskussion laborinterner Fragen und Schwierigkeiten, die den adäquaten Umgang mit den Erfordernissen molekularer respektive nanoskalierter Prozesse und Objekte vermissen lässt. Die Legoland-Doppelklick-Rhetorik übersieht dabei, dass Nanopartikel nicht gleich Nanopartikel ist, dass diese sich in Interaktionen mit ihrer Umwelt befinden und sich dadurch spezifische Realität beschaffen und durch ihre Umwelt dazu aufgefordert werden, in dieser Beziehung zu existieren, um das zu bewirken, was sie bewirken. Mit dem Einschleusen von Nanopartikeln in Tumorzellen muss man z. B. detailliert über Strömungseigenschaften der Partikel, die Wechselwirkung der Partikel mit ihrer Umgebung, den Interaktionen mit der Zellmatrix und -membran, über das Magnetfeld usw. Bescheid wissen. Die Herstellung bzw. die Analytik und Charakterisierung von Nanopartikeln markiert ein gravierendes Problem, da es sich nicht um feststehende Einheiten oder Substanzen handelt, sondern um
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stark interagierende Konfigurationen in wechselnden körperlichen Umwelten mit je eigenen ›Biographien‹, die oftmals die intendierte Anwendung scheitern lassen (PourGashtasbi 2015). Ebenso komplex zeigt sich der Einsatz von TierModellen (insbesondere Maus-Modellen), für welche die nanomedizinische Forschung keine Alternativen aufweisen kann, obwohl deren Einsatz eine Vielzahl von translatorischen Schwierigkeiten, Unklarheiten und ethischen Problemen mit sich bringt (PourGashtasbi 2015; Schillmeier 2015a,b, Schillmeier, Barz & Luxenhofer 2015a,b). Auch hier ist die Dürftigkeit von Doppelklickstrategien virulent: Kein Transport ohne Transformation, weder von in vitro zu in vivo, noch vom Labor in die Klinik oder vom Tier zum Menschen usw.
5.3 Anti-Doppelklickstrategien Entgegen der Doppelklick-Rhetorik der fast science kann ein großer Teil nanomedizinischer Forschung als spekulative Arbeit an und mit nicht vorhersehbaren lokalen, d. h. ›individuellen‹ Problemzusammenhängen verstanden werden, die sich nur als Effekt sozialer Komplexität, d. h. als Übersetzungskomplexität, beschreiben und charakterisieren lassen (Schillmeier 2015a; Schillmeier, Barz & Luxenhofer 2015a,b). Anti-Doppelklickstrategien lassen sich z. B. mit einem wissenschaftspolitischen Fokus auf ›präklinische Forschung‹ in die Tat umsetzen. Dadurch wird einerseits das frühe Entwicklungsstadium nanomedizinischer Forschungspraxis reflektiert und anderseits die komplexen und vielfach noch unbekannten Prozesse nanoskalierter Objekte, die damit verbundenen Folgeprobleme sowie das langwierige »muddling« durch das Dickicht von Ungewissheiten, Unsicherheiten, Unvorhersehbarem und Fehlschlägen thematisiert, diskutiert und öffentlich zugänglich. Ohne Zweifel, Anti-Doppelklickstrategien wie diese haben ihren Preis: Sie verweisen auf einen deutlich komplexeren Übersetzungsprozess als dies die hastige Rede von »bed to benchside« der auf »fast science« getrimmten Nano-Doppelklick-Rhetorik suggeriert (PourGashtasbi 2015). Die Analytik und Herstellung z. B. eines Nano-Pharmazeutikums zur Krebstherapie zeigt sich keineswegs als die, wie auch immer komplexe Ordnung feststehender Einheiten oder Substanzen. Vielmehr verweist die Arbeit an neuen nanomedizinischen Wirkstoffen auf den fragilen, zeit- und materialaufwendigen Umgang mit umweltsensiblen, emergierenden Mittler-Konfigurationen, die oftmals den intendierten Wirkungszusammenhängen widersprechen oder diese gar gefährden (d. h. unwirksam oder toxisch sind). Lebenswissenschaftliche Forschungsarbeit setzt sich aber nicht nur unvorhersehbaren Reaktionen und komplexen Interaktionsprozessen aus, sondern generiert diese somit auch selbst. Der nanomedizinische Forschungsprozess artikuliert Anforderungen an die wissenschaftliche Praxis, für welche diese in den meisten Fällen keine reliablen Antworten, Lösungen oder gar Möglichkeiten des adäquaten Umgangs zur Verfügung hat. Der Risiko-Diskurs der nano-
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medizinischen Forschung (wie auch generell der Lebenswissenschaften) lässt primär den Doppelklick eines gewohnten Wahrscheinlichkeits- und Kontrollparadigmas der Naturwissenschaften agieren (cost/effect Paradigma). Die Implementierung eines sozialwissenschaftlichen Risiko-Begriffs, der Unwissen, Unsicherheit und die Grenzen des Wahrscheinlichkeits- und Kontrollparadigmas thematisiert, findet nur rudimentär statt. Damit bleibt auch die ontologische Pluralität des Risikos, wie er durch die unterschiedlichen Existenzweisen erzeugt wird, über weite Strecken unbeachtet. Es ist gerade die ethnographische Labor- und Wissenschaftsforschung, deren doppelklickresistenter Beitrag darin gesehen werden kann, die Folgen riskanter und risikoproduzierender Forschungsobjekte bereits in ihrer Entstehungsphase zu analysieren und diese für einen interdisziplinären, gesellschaftlichen Diskurs zu öffnen sowie transparent und anschlussfähig zu gestalten. Darüber hinaus trägt der ethnographische Blick dazu bei, ein realistischeres Bild nanomedizinischer Forschung zu vermitteln als dies die Legoland-Doppelklick-Rhetorik ›schneller, einfacher, sicherer, verträglicher, billiger‹ suggeriert und erlaubt. Der ethnographische Blick sollte sich darüber hinaus entlang der konkreten Genese der Fragen und Problemzusammenhänge nanomedizinischer Forschung entwickeln und Auskunft geben können, wie diese in und zwischen den Existenzweisen an Gestalt gewinnen (oder verlieren). Für eine pro-aktive Perspektive im Umgang mit (lebens-)wissenschaftlichen Innovationen ist demnach die Ko-Evolution von »Wissenschaft« und »Gesellschaft« keine primär mechanische oder einseitig rationalisierbare Aufgabe, sondern ein multipler sozialer Prozess, der sich gezielt den objekt- und problemorientierten Anforderungen und »Issues« (Marres 2005) aller Beteiligten und Betroffenen zuwendet. Im Sinne der Existenzweisen bedarf dies einer »Ökologie der Praxis« (Stengers 2011), deren Ziel es ist, die Generierung unterschiedlicher und oftmals konfliktreicher Interessens-, Wissens-, Praxis- und Seinszusammenhänge zu ermöglichen und zu rekonstruieren. Im Bereich medizinischer Forschung verlangt dies einen Kommunikationszusammenhang bezüglich etwaiger Folgen und Risiken neuer Diagnose- und Therapieverfahren, der alle daran beteiligten Akteure (menschliche wie nichtmenschliche) mit einzubeziehen gedenkt. Dabei gilt es insbesondere das klinische Erfahrungswissen und den Patienten respektive etwaige Patienten- und Bürgerorganisationen stärker in den Forschungsprozess einzubringen als dies derzeit geschieht. Entscheidend für diesen Prozess ist nicht so sehr Doppelklicks Manier der Durchsetzung einer Perspektive oder einer Praxis, als vielmehr die Möglichkeit, anhand offener, objekt- und praxisspezifischer Fragen und Problemzusammenhängen, die jeweils eigene Sichtweise, Argumentation und Praxis zu überdenken und ggf. zu reformulieren. Ganz im Sinne der Existenzweisen erfordert dies einen »praktischen Relationismus«, der nicht »unter den Auspizien von
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Doppelklick geschieht« und »der in einem Protokoll des In-Bezug-Setzens und In-die-Reihe-Stellens die Verwüstungen des RELATIVISMUS zu vermeiden sucht – dieses Absolutismus des Gesichtspunkts« (Latour 2014: 647; Hervorhebung im Original).
5.4 Öffentliche Für/Sorge-Strategien zur Therapie von Doppelklick Mit ethnographischer Forschung kann ein signifikanter Beitrag geleistet werden, der sich explizit um die soziale Komplexität als Gegengift zu Doppelklickstrategien im Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung sorgt (Puig de la Bella Casa 2011; Schillmeier 2014a,b; Schillmeier 2015a,b). Der Begriff der »Für/Sorge« wird so für die STS-Forschung relevant und produktiv anbindbar, um einen sozialwissenschaftlichen Beitrag zum »well-being« (lebens-)wissenschaftlicher Forschung zu leisten. Dabei sind insbesondere drei Formen experimenteller und miteinander verknüpfter Interaktionsformen der Für/Sorge für die Wissenschafts- und Technikforschung unverzichtbar und von signifikanter Bedeutung: 1) das Laborexperiment, 2) die öffentliche wissenschaftliche Kontroverse und 3) Öffentlichkeiten (publics) (vgl. Schillmeier 2015a). An dieser Stelle soll aber nur letztere und diese auch nur allzu kurz als mögliches Therapeutikum gegen etwaige Doppelklickstrategien in der Forschung und Wissenschaftspolitik angesprochen werden. Anknüpfend an Deweys Konzept emergierender Öffentlichkeiten (publics), gilt es im Sinne der Existenzweisen öffentliche Foren zu generieren, die all diejenigen zusammenbringt, »who share a concern for an issue for which no immediate answers and fixed solutions are given (or can be expected).« (Schillmeier 2015a: 3189; Callon, Lascoumes & Barthe 2009; Dewey 2012[1927]; Marres 2005; Serres 1992[1972]). Die Idee dabei ist nicht etwa sogenannte ›Laien‹ und ›Experten‹ ins Gespräch zu bringen oder etwaige Zukunftsszenarien zu generieren, sondern ausgehend von den diversen Unsicherheits- und Unwissensregimen wissenschaftlicher Forschung im Umgang mit wissenschaftlich generierten Objekten und Prozessen sowie deren Übersetzungsproblematiken, einen experimentellen Forschungsprozess jenseits der Auspizien von Doppelklick zu initiieren. Es erlaubt einen Verhandlungsrahmen zu Fragen und Problemzusammenhängen emergierender wissenschaftlicher Praktiken und anvisierten Technologien ins Zentrum von öffentlich-experimentellen Verfahren zu stellen, die Issues angeht, für die es noch keine hinreichenden Analyseprozedere und anerkannten Lösungsangebote gibt und schon gar nicht eine allein- und allgemeingültige Referenz- oder Repräsentationsstrategie. Öffentlichkeiten (publics) sind in diesem Sinne der Verhandlungsrahmen einer »endlosen Konferenz des Sinnes«, der »das Gewebe, in das die Objekte eingebunden sind, also die Dinge selbst, das teuflisch komplexe Weltnetz der wechselseitigen Information«, Übersetzung und Kommunikation, zirkulieren
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lässt (Serres 1992[1972]: 15 ff.). Öffentlichkeiten sind somit Praktiken der »Interferenz« (ebd.:), hot spots von Interferenzprozessen9 und können als Versammlungsprozedere der »Wesen dieser Welt« verstanden werden. Als hot spots der Interferenz gilt es allen Existenzweisen die Möglichkeit zu geben, sich auf je eigene Wesensweise in Bezug zu anderen zu setzen. Solche hot spots der Öffentlichkeiten sind »unablässig dezentrierte, weil in ständiger Bewegung begriffene Punkt[e]«, Irr- und Überfahrten durch »eine Vielzahl von Netzen« die dadurch immer auch mitkonstituiert werden. Öffentlichkeiten initiieren Wege durch ein »Gewirr von Botschaften […], die es im Prozess der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Existenzweisen durch die je eigene Existenzweise ›zu sortieren, zu trennen, zu decodieren gilt« (ebd.: 18). Erfinden ist übersetzen, es setzt ein faire faire in Szene, d. h. die Gleichursprünglichkeit von etwas ereignen lassen und jemanden etwas ereignen lassen, ein making to do things. Das ist die Maxime der Existenzweisen bei Serres, Souriau und Latour. Dadurch bietet sich die Chance, dass nichts so bleibt wie es war und das ohne sich dabei nur einem Modus der Rationalität unterwerfen zu müssen (z. B. der der ›rationalen‹ Akteure einer Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne). Michel Serres hat bereits früh mit aller Konsequenz die Relevanz von solchen Öffentlichkeiten als Modi der Interferenz erkannt: »Am Ort der Interferenzen«, so Michel Serres, »fehlt mir eine globale Referenz: Es ist wesentlich, daß ich darüber nicht verfüge« (Serres 1992[1972]: 84). In Öffentlichkeiten entstehen die Innovationen, die sich nicht einfach, wie Doppelklick vorgibt, von den Dingen ablesen lassen oder in einem humanistischen Subjektivismus aufgehen.10 Vielmehr versammeln sie die Dinge und eröffnen dadurch einen strittigen Streitbezirk (vgl. Heidegger, 1994: 260 f.) sozial komplexer Wirklichkeit: soziale Komplexität als ereignishafte Verbindung von Idee und Praxis, menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren sowie in der Verknüpfung unterschiedlich skalierter Prozesse, die molekulare Prozesse mit mikro- und makroskalierten Interaktionen verbindet und mögliche Ordnungspraktiken suggeriert. Um den Anforderungen sozialer Komplexität innerhalb der (lebens-)wissenschaftlichen Forschung gerecht zu werden, für deren Realität es im Sinne der Existenzweisen und ihrer öffentlichen Versammlung keinen ›universalen Repräsentanten‹ gibt, sondern eine Vielzahl von emergierenden ›issues‹ und Akteure, die sich im Laufe der Wissens- und Objektgenese zeigen, gilt es gerade die damit verbundenen, oft divergierenden Anforderungen, Perspektiven, Wahrnehmungen und Interessen sichtbar zu machen und in einen instaurati9 | Und das nicht von und durch Wissenschaften allein, wie bei Serres, sondern in der Einbeziehung aller relevanten Akteure, die teilhaben ›wollen‹. 10 | Zur Kunst der Sorge um das »more than human« und »less than inhuman« vgl. Schillmeier (2016a).
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ven Interaktionszusammenhang zu stellen. Dies impliziert auch, dass man sich den unterschiedlichen Strategien der jeweiligen Akteure gleichermaßen zuwendet, die Prozesse, Probleme und Unsicherheiten sichtbar machen oder aber ausklammern und verschleiern soll, um der eigenen Perspektive Gehalt und Dauer zu geben, diese zu stärken und in ein gutes Licht zu stellen und dabei Andere/s absent erscheinen zu lassen (Schillmeier 2015b; Rappert & Palmer 2015). Öffentlichkeiten können so als ›Gegengifte‹ für Doppelklickversuchungen und -verwüstungen angesehen werden. Latour paraphrasierend, ermöglichen Öffentlichkeiten Maßnahmen zur Therapie von Doppelklick: »Um Doppelklick zu therapieren und ihn davon abzuhalten, überall in seiner Spur Irrationalität zu hinterlassen, müsste man für jeden Modus dessen besondere Weise anerkennen, sich zu entfalten und sich zusammenzufalten, sich zu explizieren und sich zu ›implizieren‹.« (Latour 2014: 387)
Das Verhältnis von Explikation und Implikation kann als das von Komplexität und Simplexität verstanden werden und betont, dass es »keine Hierarchie vom Einfachen zum Komplexen geben kann« (Serres 1992[1972]: 11). Jeder Modus der Existenz oder jede Existenzweise entfaltet ihre eigene »Komplexion« (ebd.), die im Bezug zu anderen Modi der Existenz gewährleistet wird und zugleich dadurch sich signifikant von diesen unterscheidet. Das Endresultat dieses Prozesses der Komplexion kann nur in dem Sinne als Simplex verstanden werden, als dass es die idiosynkratischen Mittler-Komplexionen, die Passagen, Übersetzungen, die Arbeit an der jeweiligen Weise des Existierens verschleiert, unsichtbar macht und Doppelklick animiert all die Instaurationsprozesse, d. h. soziale Komplexität – Differenz als Differenzierung – vergessen zu machen. Als Simplex bietet es aber auch unvorhersehbare Anschlussmöglichkeiten für neue Explikationen und damit einhergehenden Komplexionen, pli sur pli der Differenzierung. Will man der Dignität eines ontologischen Pluralismus gerecht werden, dann müssen Öffentlichkeiten zur Gewohnheit werden, so wie das Experiment eine wenn auch historisch variable Gewohnheitsangelegenheit der Laborpraxis ist. Diese Gewohnheit rehabilitiert in einem gewissen Maße das elende Vereinheitlichen und wenig charmante Getue von Doppelklick.11 Öffentlichkeiten bleiben Öffentlichkeiten, wenngleich die Dramen, die sich dadurch abspielen, immer andere sein werden, unterschiedliche Issues unterschiedliche Akteure versammeln lassen, Altes neu erscheinen oder vergessen lässt, unterschiedliche Erfordernisse und Verpflichtungen sich artikulieren. Öffentlichkeiten 11 | Öffentlichkeiten zur Gewohnheit werden zu lassen verweist auf ein sozial zivilisiertes Doppelklickprozedere. In sozial zivilisierter Gestalt lässt sich mit Doppelklick auch in den Existenzweisen leben (vgl. Latour 2014: Kap. 10).
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sind in diesem Sinne kosmopolitische Technologien: Sie instaurieren Anlässe zur streitbaren Versammlung und Multiplikation von Wirklichkeiten aller Dinge. Öffentlichkeiten suggerieren aber auch die Möglichkeit von politischer Gewohnheit, die sich der institutionellen Antwortlosigkeit von institutionell erzeugten Problemen widmet und alle die versammeln lässt und in Beziehung setzt, für die das jeweilige Problem von Belang und Relevanz ist. Öffentlichkeiten wären dann politische Gewohnheiten, die das Experimentieren mit und durch Andersheit nicht lassen können. Ohne Issues keine Öffentlichkeiten, ohne die Gewöhnung an Öffentlichkeiten keine politische Kontinuität, ohne politisches Wesen kein Therapeutikum gegenüber dem transformationsimmunen Doppelklick, der in allen Modi der Existenz sein Unwesen treibt.
6. A nstelle eines S chlusses : E ine biogr aphische D anksagung Lassen sich mich zum Schluss noch eine kurze Geschichte erzählen, die sich auf Latours Idee des Doppelklicks, die sich bekanntermaßen aus der Gewohnheit, sich per Mausklick mit Anderen in Beziehung zu setzen, entwickelt hat, und es dabei schafft, all die damit verbundenen Pässe, Transformationen, diversen Akteure und deren Praktiken vergessen zu lassen. So verstanden ist auch Doppelklick keine schlicht gegebene Praxis oder ein vorhandenes Objekt. Anders gesagt, man wird nicht als Doppelklick geboren, man kommt nicht als Doppelklick in die Welt. In diesem Sinne erlebte ich während meiner Assistenzzeit, wie sich unser Professor dazu bewegte, den Übergang ins neue Millennium auch dafür zu nutzen, den Schritt in die digitale Welt zu wagen. Mit dem Doppelklick schien es aber zunächst nicht so gut zu funktionieren, da die Feinmotorik der Finger den mechanischen Anschlag gewohnt war, und aus dem erforderlichen schnellen, fast ununterbrochenen klickklick ein eher unterbrochenes kliiiick….kliiiick machte und so zu keinem Doppelklick im erwarteten Sinne führte. Es zeigte sich, dass auch Doppelklick erlernt werden muss, um zur Gewohnheit werden zu können, um sodann – technisch versierter – die Arbeit an der Zukunft des Sozialen mit noch flinkeren Fingern vorantreiben zu können. Dem soziologischen Freund des Risikos, dem ich nicht nur verdanke, Doppelklick immer wieder anzugehen und zu verstehen, sondern der mir ebenso Mut machte, Doppelklick zu widerstehen, ist dieser Beitrag gewidmet.
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[ORG], [BIN], [MOR] Organisieren, Verbinden, Moralisieren Latours Soziologie des Ökonomischen Ute Tellmann
Die Ökonomie hat eine Sonderstellung in Latours Anthropologie der Existenzweisen. Latour diagnostiziert, dass die Ökonomie das wichtigste, schwierigste und naturalisierteste Objekt der Modernen sei, welches am meisten zum modernistischen Missverständnis der Moderne beigetragen habe: »Hätten sie nur die technischen Innovationen herausgearbeitet, die Pracht der Werke, die Objektivität der Wissenschaften, die politische Autonomie, den Respekt der juristischen Verkettungen, die Anrufung des lebendigen Gottes, so hätten sie in der Welt als eine der schönsten, dauerhaftesten, fruchtbarsten Zivilisation geleuchtet […]. Aber sie haben noch etwas anderes erfunden: den Kontinent der Ökonomie. Wir müssen noch einmal ganz von vorn anfangen.« (Latour 2014: 516)
Für Latour ist die Vorstellung von »der Ökonomie« als einem Reich, in dem Notwendigkeit, Gesetze und die Kälte der kalkulierten Interessen herrschen, Ausdruck einer falschen Metaphysik und einem idealistischen Materialismus. Befreie man die Ökonomie von ihren Idealismen, dann stelle sich ein anderes Bild dar: statt übergeordneter Gesetzmäßigkeit gibt es nur die Brüchigkeit von organisierten Handlungssequenzen, statt kalter Kalkulation werde der Blick freigegeben auf die Hitze der affektiven Verbindung und statt effizientem Marktgleichgewicht trete die moralische Frage nach der »optimalen Verteilung« hervor. Anstelle der Ökonomie gibt es »nur« noch die (nicht-)ökonomischen Erfahrungen des Organisierens, Verbindens und Moralisierens (ebd.: 522 ff.). Wie für alle Existenzweisen, die Latour in seinem Werk vorstellt, ist sein Ziel auch im Falle der Ökonomie eine Neubeschreibung anzufertigen, die die Qualität und Spezifik der dahinterliegenden Erfahrung(en) angemessen aufnimmt, aber auf jede Überhöhung, Polemik und (Maxi-)Transzendenz verzichtet. Latours Existenzweisen ist ein affirmatives Projekt, insofern es diese (öko-
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nomischen) Werte zu bergen und zu bewahren versucht. Es ist zugleich ein transformierendes Projekt, weil seine Neubeschreibung eine »Häutung« und »Sortierung« beinhaltet, die eine Konzentration auf die zentrale Qualität verlangt und andere Ansprüche, die vormals mit modernen Praktiken verbunden schienen, zur Disposition stellt (Latour 2001: 265; Latour 2014: 36 ff., 44). Latour sucht damit die Bedingung der Möglichkeit einer friedlichen Ko-Existenz, Symbiose und Vermittlung von differenten Existenzweisen und ihren Wertorientierungen bereitzustellen. Er will die Hybridisierungen und Überkreuzungen von Existenzweisen besser benennbar, transparent und debattierbar machen. Er verfolgt, wie er selbst sagt, ein zutiefst diplomatisches Projekt (vgl. ebd.: 648). Vor diesem Hintergrund fällt zunächst die sehr undiplomatische Zerschlagung des Gegenstandes auf, die Latour propagiert. Die spezifischen Erfahrungen der (ökonomischen) Existenzweisen lassen sich für Latour paradoxerweise nur aus der Auflösung der Ökonomie gewinnen, weil »die Ökonomie […] nicht einer zuweisbaren Erfahrung entspricht« (Latour 2014: 576). Für die Soziologie ist das ein ungewohntes Vorgehen. Denn die klassische Soziologie hält das Feld der Ökonomie oftmals für ein Paradebeispiel der funktionalen Differenzierung in der Moderne. Der Code der Zahlung, die monetäre Abstraktion oder die einseitige Ausrichtung auf Wertsteigerung und Rationalisierung gelten als besonders eindrückliche Beispiele für die Ausdifferenzierung von Wertsphären (Marx 1989[1867]; Weber 1972[1921]; Parsons 2013[1951]; Luhmann 1984, Schimank 2000). Man kann fast sagen, dass es für die klassische Soziologie nichts Differenzierteres, Selbstreferenzielleres oder Spezifischeres als die Ökonomie gibt. Die Weigerung der Ökonomie, eine eigene Kategorie der Differenzierung zu gestatten, ist deshalb eine ungewohnte Haltung. Latour scheint damit von der klassischen Soziologie abzurücken und sich stattdessen in einer interdisziplinären Debatte zu verorten, die man mit dem Stichwort »Rethinking Economy« beschreiben kann (Mitchell 2008). Seit zwei Jahrzehnten wurde in einer Vielzahl von Studien aus der Anthropologie, der Wissensgeschichte, der Soziologie und der Literaturwissenschaft die moderne Vorstellung der einheitlichen Ökonomie in ihre historische, politische, statistische, kulturelle und narrative Entstehung zerlegt und diese in ihrer praktischen Wirkmächtigkeit problematisiert (Callon 1998; de Goede 2005; du Gay/ Pryke 2002; Escobar 1995; Gibson-Graham 1986; Ho 2009; Miller 2008; Mitchell 1998, Mirowski 1989; Poovey 1998). Aber Latour geht auch über die Stoßrichtung dieser Debatte hinaus. Denn er möchte die Ökonomie nicht »nur« in kulturelle Legitimation, Wissenstechniken, Fiktionen, Subjektivierungstechniken und politische Rationalitäten auflösen, sondern auch die Spezifik der (ökonomischen) Erfahrungen bestimmen und bewahren. Die Dezentrierung der Ökonomie mit der Frage nach der Spezifik des Ökonomischen zu verbinden, ist bisher nur selten versucht worden (Tellmann, i. E.). Seine Arbeit könnte
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ein Scharnier zwischen dem klassischen Differenzierungstheorem der Soziologie und den neueren Arbeiten im Feld der »Cultural Economy« bereitstellen. Latours Neuvermessung der modernen Ökonomie hat also erkennbar Großes vor. Er braucht dafür von seinen Leserinnen etwas Spielraum, wie er sagt, und guten Willen (Latour 2014: 642). All das sei ihm gegönnt. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, so dass man es zunächst lediglich in seinen Grundansätzen und Grundrichtungen zur Kenntnis nehmen kann. Im Folgenden möchte ich eine erste Einordnung und Einschätzung von Latours Anthropologie der ökonomischen Existenzweisen vornehmen. Meine übergeordnete These ist, dass das Projekt im Augenblick in seinen Stärken wie Schwächen von einer besonderen Ausgangskonstellation bestimmt wird: Es ist Ergebnis einer Begegnung eines Anthropologen, der in der Analyse experimenteller Wissenschaft geschult ist, mit dem liberalen Imaginären des Marktes. Unter liberalem »Imaginären« des Marktes verstehe ich die vereinfachte Verdichtung von stark verbreiteten Annahmen über die liberale Ökonomie, die nicht an konkrete liberale Theorien oder politische Rationalitäten rückgebunden ist (Taylor 2004: 77). Der Markt wird in diesem Imaginären als ein Koordinationsmechanismus verstanden, der durch Tausch, Effizienz, und Gleichgewichtsgesetze bestimmt wird. Latour nimmt dieses liberale Imaginäre als Vorlage für eine radikale Dezentrierung: Er ersetzt Tausch durch Verbindung, Effizienz durch Moral und Marktgesetz durch Organisation. Diese Dezentrierung und Ersetzung der Ökonomie durch Bindung, Organisation und Moralität ist durchaus erfrischend und interessant. In diesem Sinne mag es ein Vorteil sein, dass Latour weder ein Genealoge des Liberalismus noch Wirtschaftssoziologe ist. Für seine Bergung der ökonomischen Erfahrung will er nicht den Stand der sozialwissenschaftlichen Debatte rezipieren oder die historische Diversität des Liberalismus im Archiv studieren. Mit leichtem Gepäck reist es sich schneller und unbeschwerter. Aber sein Vorgehen birgt auch Nachteile. Diese Nachteile bestehen zum einen darin, dass das liberale Imaginäre kein Material für die Bestimmung der Spezifik des Ökonomischen bereitstellt, wenn man es von seinen zentrierenden Grundannahmen der Gesetzmäßigkeit, Effizienz und der Interessenkalkulation entkernt. Wie ich zeigen werde, verliert sich aus diesem Grunde die Spezifik der (ökonomischen) Erfahrungen in Latours Beschreibungen. Zum anderen bestehen die Nachteile darin, dass Latours Reformulierung der ökonomischen Erfahrung der liberalen Vorlage folgt und damit auch dessen Blindstellen und Vorentscheidungen nachvollzieht: die Medialität und Zeitlichkeit des Geldes verschwindet, die Frage der Macht tritt hinter die der Moral zurück, und die »gute« Ordnung wird durch den Begriff des Optimums bestimmt. Im Folgenden werde ich diese Leerstellen und Verengungen im Dreischritt von Dezentrieren, Spezifizierung und Hybridisieren aufzeigen.
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1. V om Tausch zur V erbindung Für den Liberalismus ist der Tausch bekanntermaßen die ursprünglichste, natürlichste und universellste Szene der Ökonomie und der gesellschaftlichen Ordnung generell. Er findet zwischen zwei unabhängigen Akteuren statt, die gemäß der Kalkulation ihrer Interessen und Präferenzen zu einer Übereinkunft kommen und Dienstleistungen oder Objekte als Äquivalente tauschen. Latour ersetzt diese Szene des Tausches zwischen isolierten Akteuren und äquivalenten Werten durch die Existenzweise der Bindung. Damit meint er eine affektive, wertende Beziehung zwischen Menschen und Nicht-Menschen, die er als Mobilisierung und bewegtes »Dazwischen« erfassen möchte (Latour 2014: 572, 578, 585). Er betont die »Hitze« der »leidenschaftlichen Interessen«, die darin produziert werden, die er der Kälte der Kalkulation gegenüberstellt (ebd.: 590). Hier werden nicht einzelne Akteure produziert, die Objekte tauschen, sondern »Wesen des leidenschaftlichen Interesses oder der interessierten Leidenschaften« (Latour 2014: 575). Es geht um das Besitzen und BesessenSein, um die Dinge, die man hat, und die einen definieren (ebd.: 574). Der Akt des Bewertens ist zentral für die Existenzweise der Bindung. Allerdings darf man den (ökonomischen) Wert hier nicht im Sinne der Kommensurabilität und Äquivalenz verstehen, wie es die soziologische Tradition ausgehend von Marx (1989[1867]) und Simmel (2014[1900]) bis hin zu den neueren Soziologien der Quantifizierung und Bewertung tut (Espeland/Stevens 1998; Espeland 2001; Espeland/Stevens 2008; Fourcade 2011; Heintz 2010). Wert bezeichnet für Latour nicht die Vergleichbarmachung von Dingen, sondern die Valorisierung eines Objekts als Teil der eigenen Existenz. (Ökonomischer) Wert ist damit Ausdruck einer Alterität und »Inäquivalenz«, mit der man sich verbindet (Latour 2014: 580, 587 ff.). »Wertschätzen heißt, das Auftauchen von Differenzen zu registrieren« und Werte beschreiben den Parcours, den man durchlaufen muss, um die eigene Subsistenz zu gewährleisten – wobei das Müssen hier nicht auf die Erfüllung von notwendigen Bedürfnissen bezogen ist, sondern alle möglichen Begehren einschließt (ebd.: 585, 587 f.). Werten und Verbinden werden dabei synonym. Latour verweist auf die »überraschenden Bewertungen […], welche die langen Ketten von Quasi-Objekten und QuasiSubjekten, von Gütern, Übeln und Menschen miteinander verbinden« (ebd.: 599). Diese Verbindungen und Valorisierungen sind »noch« keiner berechnenden Kalkulation unterworfen (ebd.: 590). Die Gültigkeitskriterien dieser Verbindung, d. h. die Frage, ob sie geglückt ist oder nicht, liegen im Akt des Valorisierens selbst. Latour möchte offensichtlich keine eigene theoretische Einschätzung und Kritik der existierenden Akte der Bewertung vornehmen. Sie gehören zu den »Erfahrungen« dieser Existenzweise:
Organisieren, Verbinden, Moralisieren »Was ist das Unterscheidungsvermögen eines Beichtvaters oder Psychoanalytikers neben dem Know-How einer leichtsinnigen Zwanzig jährigen, die beim Kauf fähig ist, den Unterschied zwischen zwei Stoffen von Unterhosen zu sehen und im fernen China dieses oder jenes Kurzwarenunternehmen reich oder bankrott zu machen?« (Latour 2014: 589)
Es sind die Marketingexperten, die um die »heißen« oder »leidenschaftlichen« Verbindungen wissen, und Steve Jobs Aussage »It’s not the consumers’ job to know what they want« gilt Latour als Antwort auf die Frage nach den Gelingensbedingungen dieser Existenzweise (ebd.: 590). Auf der Spur der »heißen« Verbindungen lassen sich »Handlungsverläufe« und »Mobilisierungen« rekonstruieren, mit einem »Plus-Zeichen« oder »Minus-Zeichen« versehen, je nachdem ob die Verbindungen aus Lust oder Schmerz entstehen (ebd.: 573 f., 585). Es handelt sich um eine Kette von Gütern, Leidenschaften, Gelüsten und Beschwernissen, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Konsum liegt, auch wenn Latour das Backen der Brioche erwähnt, für das die Zutaten und Geräte besorgt und Mühen durchgestanden werden müssen (ebd.: 573). Die Beispiele, die Latour anführt, drehen sich um Backwaren, das Parfüm im Warenhaus, das Hähnchen im Plastikbeutel, die Unterhose aus China oder die Salami aus der Slow-Food Abteilung des Supermarktes (ebd.: 572 ff., 580, 582, 589). Aber die Konsumsoziologie (vgl. Hellmann 2010; Schrage 2009) wird sich in diesen Illustrationen nicht wiederfinden können. Denn ihre Themen – z. B. Fragen der Distinktion, Gruppenzugehörigkeit, Konformität, symbolischen Ordnung, Subjektivierung, Erfahrung, Standardisierung, Vergesellschaftung oder Warenästhetik – verschwinden in dieser Art, Verkettungen aus Leidenschaften und Werturteilen zu beschreiben. Insbesondere der Allgemeinheitsgrad von Latours Ausführungen ist an diesem Punkt sehr auffällig. Fast kann man die Existenzweise des Verbindens nicht vom ontologischen Grundmodell des Existierens unterscheiden, welches Latour seiner Anthropologie der Modernen insgesamt zu Grunde gelegt hat. Hier wie dort beschreibt er Existieren als ein risikoreiches, temporalisiertes Unterfangen, das auf Alterierung angewiesen ist, um sich zu erhalten: »Wie diese ganze Untersuchung bezeugt, würde ein beliebiges Existierendes, das anderer Wesen beraubt wäre, auf der Stelle zu existieren aufhören […]. Seine Existenz, seine Subsistenz, definiert sich durch diese höchste Pflicht zu erkunden, welche anderen Wesen es passieren muß, um zu subsistieren, um seine Subsistenz zu gewinnen.« (Latour 2014: 611)
Im Falle des Verbindens geht es, wie im Modell der Existenzweisen allgemein, um das Fortschreiben oder Subsistieren einer Existenz an sich, vergleichbar nur mit dem Modus der Reproduktion: »Sie gleichen sich bereits darin, dass
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sich beide Modi durch die Serie der Wesen definieren, die man ›passieren‹ muss, um zu subsistieren.« (Ebd.: 593) Die Alterierung, um die es hier geht ist »die fundamentalste, […] diejenige, die für ein gegebenes Existierendes nicht nur die anderen Existierenden beschreibt, die es passieren muss, um zu subsistieren, sondern auch die, ohne die es nicht mehr auskommen kann und die miteinander verkettet bleiben müssen, damit es subsistieren kann.« (Latour 2014: 584)
Was ist hier mit der Metapher der Kette gemeint? Latour bleibt hier undeutlich und uneindeutig. Es handelt sich nicht um eine Luhmannsche Kette von Kommunikation, die auf Anschlüsse angewiesen ist und zur Strukturierung dieses Anschlussgeschehens Medien, Codes und Programme in Anspruch nimmt. Eher spricht Latour von »Verpflichtungen« und verweist darauf, »niemals quitt zu sein«, auch wenn man in der ökonomischen Kalkulation permanent danach streben würde (ebd.: 551 f., 586, 604). An diesen Stellen nimmt Latour auf die Anthropologie der Gabe von Marcel Mauss Bezug. Mauss versteht den (Gaben-) Tausch als Teil einer Beziehung der Verpflichtung und beschreibt den Tausch dabei als Verwicklung von Menschen und Dingen. Aber Latour will gerade nicht die Beziehungen der sozialen Verpflichtung und des Rangs, die durch die Zirkulation von Dingen ausgehandelt und aufrechterhalten werden, in den Vordergrund stellen. Es geht ihm alleinig um Bindung an Objekte als Teil der eigenen Subsistenz. Man gewinnt durchaus den Eindruck, dass er diese Bindung nicht grundsätzlich anders als »die alten Banden der sozialen Abhängigkeit und Verwickeltheit« betrachten will (ebd.: 581). Allerdings spricht Latour nur spärlich von Obligationen und Schulden. In erster Linie verweist er auf Konsumsituationen und betont das »Genießen, Haben, Besitzen, und Nutzen« (ebd.: 589). Welche Verkettungen damit verbunden sind, kann man laut Latour von der List des Marketing lernen, das so »viel mehr weiß, über das fabrizieren, verpacken, vermarkten und verkaufen« als die »Kritiker des Warencharakters« (ebd.: 582, vgl. auch 587). Von Latour selbst lernen wir nicht mehr darüber. Trotz aller Ungenauigkeit in der Erfassung und Allgemeinheit in der Beschreibung kann man festhalten, dass der Modus der Bindung die Szene des Tausches erhitzt, pulverisiert und relativiert. Die Isolation der Akteure im Tausch wird in einer übergeordneten Bewegung und Verbindung aufgehoben, in der Affekte und Valorisierungen jenseits der Kalkulation vorherrschen. Damit unterminiert und dezentriert Latour das liberale Imaginäre des Tausches. Gleichzeitig aber bleibt Latour diesem aber auch verhaftet. Genauso wie der klassische Liberalismus dem Geldmedium keine besondere Rolle beigemessen hat, um das Ökonomische zu erfassen, fehlt auch bei Latour das Geld in der Rekonstruktion der Erfahrung der Bindung zwischen Dingen und Menschen. Das Geldmedium ist schlicht irrelevant für seine Beschwörung »leidenschaftlicher Interessen,« die den ganzen Globus mobilisieren. Diese Blindstelle aber
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gibt zu denken: Kann man hier noch davon sprechen, dass Latour »Erfahrungen« rekonstruiert? In Zeiten der Finanzialisierung und der Schuldenkrise ist die Rolle des Geldes als Vermittler der Kette von Menschen und Nicht-Menschen besonders deutlich und virulent. Aber Latour hat den geldlosen Tausch, nicht den Kredit oder die Verschuldung zum Ausgangspunkt für seine Dezentrierung »der Ökonomie« genommen. Er kann von der Unruhe, der Zukunftsbindung, der Moralisierung, der Potentialität des Geldes nicht berichten, weil es ihm im liberalen Imaginären des Marktes nicht begegnet ist.
2. V om G ese t z des M ark tes zur V iel z ahl organisierender S krip te und K alkul ationen Im liberalen Imaginären ist der Marktmechanismus die grundlegendste Ordnungskategorie. Er beschreibt die Herstellung von Ordnung durch Koordination von Einzelinteressen. Die Vielzahl der Tauschhandlungen wird durch die angenommene ›unsichtbare Hand‹ des Marktes harmonisiert. Der Effekt der Marktkoordination ist eine Allokation von Ressourcen, die aus den Präferenzen und der Begrenzung durch Knappheit entsteht. Für Latour liegt dieser Marktvorstellung der fromme Glaube an eine Vorhersehung zu Grunde, die »alles kompatibel und kohärent macht« und der »Illusion eines Mega-Skripts« verfallen ist (Latour 2014: 540, 546). Man müsse eine quasi-göttliche Position eines »Metaverteilers« einnehmen (ebd.: 542), der jenseits der lokalen und begrenzten Logik der Interessen und Handlungen eine übergeordnete Harmonie herstellt. Latour fordert die Modernen auf, sich von diesen quasi-theologischen Vorstellungen zu befreien und fragt: »Können die Modernen endlich auf dem Gebiet der Ökonomie agnostisch werden?« (Ebd.: 632) Agnostisch in Bezug auf die Ökonomie zu sein, bedeutet für Latour, den Glauben an jede Vorhersehung aufzugeben und durch einen Fokus auf die Aggregation und Verbindung von organisierten Handlungssequenzen zu ersetzen. Die Existenzweise der Organisation löst den Markt als Ordnungs- und Koordinationsmechanismus ab. Im Unterschied zu der Existenzweise des Verbindens, die Latour als eine überbordende und zentrifugale Bewegung beschreibt, liefert die Existenzweise des Organisierens die notwendige Orientierung, Fixierung und Identifizierung: »Wenn die Berechnungen und Kalküle erscheinen, dann, um die Verteilungen der Instanzen zu stärken, zu betonen, zu verstärken, zu vereinfachen, zu autorisieren, zu formatieren und zu vollziehen.« (Ebd.: 577) Somit besteht ein Kontrast gegenüber der oben beschriebenen Erfahrung, »in Bewegung gesetzt, gebunden, hingerissen zu werden von jedes Mal unterschiedlichen Dingen« (ebd.: 626). Die Existenzweise der Organisation lässt sich laut Latour keinesfalls aus der Entität der Organisation ableiten, sondern nur aus dem Adverb: »Was heißt
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es also, organisatorisch zu handeln und zu sprechen?« (Ebd.: 527) Die Praxis des Organisierens definiert Latour als das Schreiben und Befolgen von »Skripten«, welche Handlungssequenzen festlegen und dabei andere Handlungssequenzen stören (ebd.: 532). Es sind »Geschichten, die verpflichten« (ebd.: 529), deren Autoren und Ausführende wir zugleich sind. Jedes Skript liefert einen Rahmen, der Handelnde und Handlungen festlegt, Anfangs- und Endpunkte setzt und so begrenzte Kontinuität erzeugt. Organisieren hat immer mit dem Scheitern von Skripten zu kämpfen: Subjekte fühlen sich nicht angesprochen und die Umsetzung erfolgt in anderer Weise als das Skript vorsieht (vgl. ebd.: 535). In der Abwesenheit eines »Mega-Skripts« gibt es nur das »Tohuwabohu der Skripte« (ebd.: 546), die sich überlagern, widersprechen und verknüpfen. Aus dieser Verbindung von Skripten entsteht eine »Änderung der Dimension« – ein Ausdruck, mit dem Latour auf die »relative Größe aller Gefüge« hinweisen möchte. Der Eindruck einer übergeordneten Ordnung entsteht aus der »fragilen und instrumentierten Erweiterung« der kleinen Skripte, die sich mit anderen Skripten verknüpfen (ebd.: 545, 546 f.). Die Existenzweise des Organisierens übernimmt die Rolle der Koordination, die der Liberalismus dem Markt zuschreibt. Wenn die Quantität der Skripte ansteige, die Anzahl der in Rechnung zu stellenden Elemente anwachse, der Rhythmus der Handlungssequenzen intensiver werde, dann stelle sich die Frage nach der Verflechtung der Skripte: »Wie bereitstellen, wie verteilen, wie teilen, wie koordinieren?« (Ebd.: 552) Die Koordination von Skripten wird durch Kalkulation und Wertmessung erreicht, denn diese erlaubten die Frage nach der Verflechtung »messbar, verbuchbar, quantifizierbar und demnach berechenbar« (ebd.) zu machen. Wertmesser transformieren die Valorisierungen der leidenschaftlichen Interessen in Daten, die quantifizierbar und kalkulierbar sind. Sie sind unabkömmlicher Teil von organisierenden Skripten, weil sie Rollen, Anordnungen und Rahmungen produzieren. Aber sie liefern darüber hinaus gemeinsame Fokussierungen und Verbindungsstellen für unterschiedliche Skripte: Sie produzieren, konzentrieren und visualisieren Datenströme, auf die sich Handelnde beziehen und an denen sie sich orientierten. Das Beispiel, was Latour hierfür anführt, ist der bereits vielfach untersuchte Börsenticker (vgl. Preda 2006; Stäheli 2004). Jener messe die Preise nicht im Sinne der Referenz, stattdessen »rhythmisiert [der Börsenticker] sie, gliedert sie zeitlich, visualisiert sie, arrangiert, beschleunigt sie, stellt sie dar, formatiert sie auf eine Weise, die gleichzeitig ein neues Phänomen entstehen lässt – kontinuierliche und fluktuierende Preise – und neue Beobachter und Profiteure dieser Preise.« (Latour 2014: 553) Interessant an dieser Beschreibung ist die strikte Sequenzialität der Ordnungsbildung. Anders als im liberalen Imaginären gibt es keinen Marktraum, in dem Angebot und Nachfrage zum Ausgleich kommen. In Latours Rekonstruktion sind Gleichgewichtsvorstellungen ad acta gelegt. Es gibt stattdessen
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nur Vermittlungen und Verbindungen zwischen Sequenzen, die auf kalkulative Knotenpunkte bezogen werden. An dieser Stelle treten Parallelen zu Niklas Luhmanns (1988) Beschreibung des Marktes als einem Beobachtungsregime und zu Karin Knorr-Cetinas (2009) Bestimmung von »skopischen Systemen« auf: In beiden Fällen liefern visuelle, kalkulative und quantifizierbare Zusammenstellungen von Informationen eine Form von Beobachtung, die gleichzeitig koordiniert und ordnet. Latour ist aber an dieser Stelle weniger an einer Analytik von Beobachtungsregimen interessiert und insgesamt wenig rezeptiv gegenüber soziologischen Einsichten. Sein Ziel ist die Spezifizierung des Ökonomischen oder des Ökonomisierens – und die gewinnt er aus der Existenzweise des Organisierens. Genau wie der Begriff Organisation, wird der Begriff Ökonomie von Latour nur noch als Verb oder Adjektiv verwendet. Er bezieht sich auf die Praktiken der Wertmessung und Kalkulation. Die durch diese Praktiken erbrachten Koordinationsleistungen sind die »Akte der Ökonomisierung« (ebd.: 548) schlechthin. Wertmessung und Kalkulationen werden dabei als »Disziplinen der Ökonomisierung« (ebd.: 548) charakterisiert, welche eine spezifische Form von Daten generieren: »Wenn die Disziplinen der Ökonomisierung auftauchen, manifestieren sie sich durch die Überfülle dieser so besonderen Typen von ›quali-quantitativen‹ Daten […]. Diese Arten von Quantitäten gleichen mehr den Tantiemen der Verteilung […]. Die Ökonomisierung produziert messende Maße.« (Ebd.: 553) Ganz grundsätzlich wird die Ökonomisierung dadurch, aus Latours Sicht, zu dem, »was die Entfaltung von Handlungsverläufen erlauben wird« (ebd.: 627). Ökonomisieren gehört damit zu der respektablen, unabdingbaren und unschuldigen Praxis des Organisierens und Koordinierens, auf die man auch in der zukünftigen, nicht-modernistischen Zivilisation nicht verzichten kann: »Ohne Ökonomisierung würde man niemals wissen, wann es ›an uns‹ ist und was ›uns zusteht‹, noch wie man die Wege der Optimierung wiederaufnehmen kann und zu welchen Fälligkeiten die Konten zu prüfen sind.« (Ebd.: 634) Um die Spezifik der ökonomisierenden Wertmessung und Kalkulation weiter herauszuarbeiten, verweist Latour auf die Differenz zwischen der Kalkulation als ökonomischer Disziplin und Kalkulation als Teil der Existenzweise der Referenz. Im einen wie im anderen Fall träfe man auf Inskriptionen, Modelle, Gleichungen, Messungen, Bücher, Papiere. Und im einen wie dem anderen Fall werde gerechnet und gemessen. Dennoch handelt es sich keinesfalls um die gleiche Existenzweise. So würde man niemals mittels der ökonomischen Disziplin Zugang zu entfernten Entitäten erlangen, wie im Fall der Referenz: »Wenn die von den Wertmessern produzierten Daten berechenbar sind, so aus Gründen, die von ihrer Natur als organisatorische Skripte herrühren, und überhaupt nicht, […] weil sie auf eine quantifizierbare Materie verweisen, zu der sie einen privilegierten Zugang bereitstellten.« (Ebd.: 555) Um die ökono-
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mische Disziplin angemessen zu erfassen, müssten wir uns »de-epistemologisieren«, was für Latour eine schwierigere Aufgabe ist, als uns zu »ent-ökonomisieren« (ebd.: 601). Mit der Betonung der »De-Epistemologisierung« ökonomischer Kalkulation setzt Latour einen neuen Akzent gegenüber den Markt-Studien der AkteurNetzwerk-Theorie. Obwohl seine gesamte Analyse des Ökonomisierens auf den Arbeiten seines Kollegen und Mitstreiters Michel Callon auf baut, markiert der Aufruf zur »De-Epistemologisierung« eine gewisse Absatzbewegung (Callon 1998; Callon/Muniesa 2005; Callon/Millo/Muniesa 2007). Die Performativitätsstudien, die von Callons Arbeiten inspiriert sind, legen nahe, dass man die Herstellung einer ökonomischen Ordnung durch die Analyse der Wissenspraktiken verstehen kann. Dass der Zugang zur Ökonomie über die Frage des Wissens gelegt wird, findet sich in dem Slogan »Economics performs the Economy« mehr als deutlich manifestiert (vgl. Callon/Muniesa 2005). Dagegen verweist Latour in seinen Existenzweisen nun darauf, dass die Frage der Ökonomie sich nicht in der Analyse epistemologischer Praktiken erschöpfen darf und sucht danach, die Spezifik des Ökonomischen genauer zu bestimmen. Was also transformiert das referentielle Messen in ein ökonomisches Messen? Was ist ökonomisches Messen? Für Latour ist ökonomisches Messen durch die Akte der Aufteilung und Verteilung bestimmbar, die mittels Wertmessung und Kalkulation vollzogen werden. Jene Wertmessungen und Kalkulationen »sollen dem Grenzen geben, was ohne sie ohne Grenze und ohne Ziel wäre; sie sollen denen Instrumente anbieten, die Mittel und Zwecke verteilen müssen« (ebd.: 626). Sie haben die »merkwürdige Funktion, gleichzeitig das zu verteilen, was zählt und die, die zählen« (ebd.: 550). Aufteilung und Verteilung lassen sich dabei unterscheiden. Die Aufteilung bezieht sich auf den Akt der Grenzziehung zwischen dem, »was zählt«, d. h. was in die Kalkulation aufgenommen wird, und dem, was nicht oder noch nicht gezählt wird. Auf diese Weise wird eine Grenze zwischen Internalisierung und Externalisierung gezogen (vgl. auch Callon 1998). Latour beschreibt diese Grenze als die Erlaubnis, sich um den Rest nicht kümmern zu müssen: als Ausschluss von der Sorge um die Existenz (Latour 2014: 551). Demgegenüber bezieht sich die Verteilung auf die interne Gliederung. Leider erfährt man von ihm nicht konkret, was intern verteilt wird. Latour spricht in seinen Büchern und Artikeln wahlweise von Verantwortlichkeiten, Eigentum, Verpflichtungen, Intentionalität, Handlungsfähigkeit (vgl. ebd.: 550 ff.; 2005: 16). Dass aber die Verteilung im Zentrum der Analyse der Existenzweisen steht, wird immer wieder deutlich. Schließlich geht es um die Explikation von »Verteilungsschlüsseln«, die ein »Optimum« hervorbringen können und sollen (ebd.: 567, 550, 617). Gemessen werden nicht einfach empirische Daten, sondern hier wird vermessen, was dazu gehört (Aufteilung) und wer was erhält (Verteilung).
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Für Latour ist also das Verteilen, Aufteilen und Zuteilen die differentia specifica der ökonomischen Kalkulation. Doch wie spezifisch ist diese Bestimmung? Sollen wir mit Latour davon ausgehen, dass jede Verteilung per se ökonomisch ist? Oder wird sie dies nur, wenn man die Annahme der Knappheit hinzuzieht und sich auf die Verteilung gegebener Ressourcen bezieht? Ist jedes Verteilen ein Ökonomisieren oder wird Verteilen erst dann zum Ökonomisieren, wenn man Kriterien der Profitabilität bzw. der Rationalisierung heranzieht und die Methoden des Wettbewerbs in Anschlag bringt (vgl. Schimank/Volkmann 2008)? Latour scheint weder Knappheit noch Profit oder Wettbewerb in seine Neubeschreibung der Ökonomie aufnehmen zu wollen. Zweifellos sind die in diese Konzepte eingeschriebenen Grundannahmen über das Ökonomische kritisch zu befragen. Zugleich haben sie es bisher erlaubt, Prozesse des Ökonomisierens in ihrer Spezifik zu beschreiben. Wenn man sie aufgibt, müsste man deshalb andere theoretische Angebote vorlegen. Aber Latour liefert hier keine weiteren Vorschläge – und je länger man über das Verhältnis von Ökonomie, Messen und Verteilen nachdenkt, umso stärker verlieren sich die Konturen des Ökonomischen. Denn beinhaltet nicht jedes Messen und Quantifizieren ein Mindestmaß an Verteilung und Aufteilung – von Entitäten, Beziehungen, Kausalitäten, wie Latour selbst sagt? Ist nicht umgekehrt jedes ökonomische Messen auch ein empirisches Beschreiben und Erfassen? Wo genau liegt die Trennlinie zwischen der Kalkulation als Wissenstechnik und der Kalkulation als organisierendes und koordinierendes Medium? Die Grenze zwischen beiden Formen der Kalkulation scheint fließend zu sein, doch gleichzeitig hängt es von dieser Grenze ab, ob man den Idealismen der alten Ökonomie entkommen und die Spezifik des Ökonomischen bewahren kann. Latour macht deutlich, dass ein »kleiner Rechenfehler über die Natur der Berechnung ein fatales Schicksal nach sich« zieht (ebd.: 626). Ein solcher Fehler scheint so fatal wie schwer festzulegen zu sein. Wie im Falle der Existenzweise des Verbindens verläuft die Absatzbewegung von der modernen Ökonomie somit im Ungefähren. Es gelingt Latour nicht, die von ihm vollzogene Dezentrierungsbewegung in eine hinreichend spezifische Neubeschreibung des Ökonomischen zu überführen.
3. V on der E ffizienz zur M or alität Wie bereits zu Beginn des letzten Abschnitts angedeutet, ist der Markt für den Liberalismus nicht nur ein Koordinationsmechanismus. Er firmiert auch als Garant für die bestmögliche Allokation von Ressourcen, indem er die effizienteste Verteilung knapper Mittel sicherstellt. Ein Marktgleichgewicht entsteht, wenn der Nutzen insgesamt die höchste Steigerung erfahren hat. Es handelt sich um eine optimale Verteilung, die nur um den Preis von Ineffizienz verän-
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dert werden kann. Für Latour ist die Frage nach dem Optimum das singuläre, wertvolle und großartige Erbe der modernen Ökonomie (vgl. Latour 2014: 614). Es ist das, was es zu bewahren gilt. Aber diese Größe der Ökonomie sei von den Modernen in dem Augenblick verspielt worden, als sie die Frage nach dem Optimum glaubten mit dem Hinweis auf den Markt beantworten zu können: »Sie haben versucht, dem Universum die Frage des Optimums wieder zu stellen«, aber sie haben die Frage »auf der Stelle beiseite [geschoben] durch ihr Vertrauen in eine Vorhersehungsökonomie« (ebd.: 617). Damit wurde die Frage nach dem Optimum niemals für eine Debatte geöffnet: »Während man erwartete, die Agora von lebhaften und betroffenen Agenten bevölkert zu sehen, ist sie leer. Wie hat sich der Schauplatz der Bewertungen und der Verteilungen leeren können?« (Ebd.: 607) Damit sich die Agora wieder füllen kann, muss die Frage nach dem Optimum wiedergewonnen werden. Es wäre eine Form von »intellektueller Lepra«, wenn man behauptete, man könne das Optimum durch eine Rechnung entdecken, welche einen Abschluss der Bilanzen erlaube (ebd.: 604, 607, 622, 628). Die Obsession »quitt zu sein« und die »Bücher zu schließen« müsse man bekämpfen, denn tatsächlich sei die Rechnung immer offen (ebd.: 604). Dabei dürfe man den Versuch, das Optimum zu kalkulieren, nicht aufgeben; man müsse nur gleichzeitig wissen, dass dieses Optimum niemals kalkuliert werden könne: »Man muss alles möglichst gut kombinieren, obwohl alles nur inkommensurabel ist. Man muss zum Optimum gelangen, während es keinerlei Mittel gibt, dieses Optimum durch welche Berechnung auch immer zu optimieren […]. Man kann Güter und Übel nicht ausgleichen, während man sie dennoch ausgleichen muss.« (Ebd.: 621)
Durch eine derart paradoxe Fundierung wird ein unendlicher Zirkel eröffnet, bei dem jeder Versuch der Berechnung und Festlegung eines Optimums immer schon von einem Zweifel begleitet wird: »Wieso wisst ihr, dass es sich dabei um eine optimale Kombination handelt« (ebd.: 614)? Die »Wiederaufnahme der Skrupel hinsichtlich der optimalen Verteilung der Zwecke und Mittel« zeichnet für Latour die Existenzweise der Moralität aus (ebd.: 613). Die moralische Existenzweise schlägt permanent einen Neuanfang vor: »Wieder anfangen ist das einzige Fegefeuer, zu dem wir Zugang haben, um tastend wieder herauszufinden.« (Ebd.: 619) Damit widerspricht die Moral der Organisation, welche danach trachtet zu begrenzen und festzulegen. Gegenüber den organisierenden Praktiken der »ökonomischen Disziplin« hat die moralische Existenzweise zwei Aufgaben, denn sie unterbricht die Aufteilung und streut Zweifel über der Verteilung. Erstere wird unterbrochen, indem sie jede Grenzziehung problematisiert. Es sei gerade die Originalität dieses Seinsmodus, keine Grenzen zu kennen: »Sobald er eine Grenze sieht, wird
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daraus ein Skrupel, wieso man nicht versucht, über sie hinauszugehen. Wenn man sich beschränkt, wenn man sich quitt glaubt, hat man sich dann nicht fürchterlich getäuscht?« (Ebd.: 629) Bezüglich der internen Verteilung lässt die Moral die Kalkulation in Skrupel übergehen. »Die kleinen Kiesel, die zum Zählen dienen, können sich auch in den Sandalen wiederfinden und sich ins Fleisch bohren.« (Ebd.: 621) Die moralische Existenzweise produziere also eine Sensibilität nach außen und einen Zweifel nach innen und sorge so für eine permanente Wiederaufnahme der Frage nach dem Optimum. Das Optimum ist deshalb nur als Streit und Auseinandersetzung denkbar. Latour reserviert für diese Kalkulation, die nichts einfach kalkulieren kann, weil die »Berechnungen niemals aufgehen« den Slogan des »Calculemus«. Für Latour ist Calculemus der Skrupel, der einen zögern lässt, die gefundenen Lösungen für ausreichend zu befinden. Der lateinische Ausdruck »Calculemus« erinnere uns daran, dass Kalkulation und Skrupel die gleiche Etymologie teilen: »Man muss alles wieder anfangen. Nehmen wir unsere Rechnung wieder auf. Calculemus.« (Ebd.: 636 f.) Die Existenzweise der Moralität ist der fulminante Schlussstein von Latours Anthropologie der Modernen. Dabei dürfte es die Moral als eigene Existenzweise eigentlich gar nicht geben. Denn wie Latour ausführt, ist Moral jeder Existenzweise zu Eigen: Jede habe ihre eigenen Kriterien der Gültigkeit und des Gelingens, die Anforderungen und Verpflichtungen beinhalten (vgl. ebd.: 609). Existenzweisen haben Bindung an andere Entitäten, auf die sie unhintergehbar verwiesen sind: Sie müssen sich alterieren, um zu bestehen. Mit dieser Alterierung sind Werte und Wertschätzungen verbunden, von denen sich eine Existenzweise nicht lösen kann, ohne sich selbst aufzulösen. Es gibt »kein existierendes Wesen, das nicht ausruft: ›Du musst‹, ›Du darfst nicht‹ und das an diesem Zögern die Differenz zwischen Sein und Nicht-Sein misst.« (Ebd.: 610) Auf diese Weise versucht Latour die Frage der moralischen Bewertung nicht als Addendum zur Wirklichkeit zu behandeln, sondern als deren konstitutiver Teil: »Anstatt ›das Sein und das Sollen‹ einander entgegenzusetzen, sollte man eher zählen, wie viele Wesen man passieren muss und wie vielen Alterierungen sich zu fügen man lernen muss, um weiterhin zu existieren. In diesem Punkt hat Nietzsche recht, das Wort ›Wert‹ ist ein Begriff ohne Gegenteil – jedenfalls ist es nicht das Wort Tatsache.« (Ebd.: 610 f.)
Was aber ist dann die Rolle einer zusätzlichen Existenzweise der Moralität? Was ist ihr Milieu? Was ist ihre Alterität? Die Daseinsberechtigung der Moral ergibt sich aus dem Bestreben, den Kosmos aus den unterschiedlichen Existenzen zu errichten. Moralität gehört zu der »Pluralität von Existierendem, deren Zusammenfügung man optimieren müsste, indem man jedes Mal durch
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eine besondere Untersuchung die Kompatibilität der Zwecke und Mittel wiederaufnähme« (ebd.: 616 f.). Anders als die Existenzweise des Organisierens, die auf die brüchige und sequentielle Verschaltung von Handlungssequenzen bezogen bleibt, wird mit der Existenzweise der Moralität die Frage nach dem Ganzen und der Ordnung des Kollektivs gestellt. Sie ersetzt »die Ökonomie« als Figur der Totalität. Als immer wieder zu erneuernder Zirkel gleicht die Moralität der Politik in der Herstellung eines Kollektivs. Aber Kollektivität scheint unterschiedliche Dimensionen zu haben. Während die Politik ihre Existenzweise auf die Produktion der Legitimität und Zustimmung ausrichtet, liefert die Moralität die Substanz für die Aushandlung von materieller Kollektivität: res, die gemeinsame Sache der Res-Publika (Latour 2005). Diese gemeinsame Sache besteht in der Bestimmung des Optimums und der Kompatibilität der Existenzweisen. Die herausgehobene und starke Rolle der Moralität für die Frage nach der Zusammensetzung des Kosmos ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens scheint sie der Politik nicht nur Konkurrenz in der Produktion von Kollektivität zu machen, sondern sie scheint auch die »materielle« Seite der Politik zu markieren, weil sie die gemeinsame Sache der Auseinandersetzung hervorbringt. Zweitens bleibt diese Moral eine Form von Ökonomie, insofern sie sich um die Erreichung eines Optimums dreht, das aus der Verteilung und Anordnung von Zwecken und Mitteln besteht. Die Kommensurabilität von Werten, ihre Hierarchisierung und Verteilung sind das Metier dieser ökonomischen Moral oder moralischen Ökonomie. Das Optimum kann nicht einfach berechnet werden, aber die Zusammensetzung des Kollektivs bleibt eine Frage nach dem Optimum (Tellmann 2016). Die Dezentrierung der Ökonomie ist deshalb im Fall der Moralität unvollständig. Latour verbleibt auch hier dem liberalen Imaginären des Marktes zu sehr verhaftet, welches er unterminieren und aushöhlen möchte. Der Liberalismus lokalisiert die Emergenz einer bestmöglichen Ordnung in der spontanen und natürlichen Ordnung des Marktes. Politik fungiert als Wächter, Errichter und Garant dieser Ordnung. Machtbeziehungen innerhalb des Marktes fallen in den blinden Fleck des Liberalismus, während die Politik lediglich prozedurale Garantien und Sicherheiten bereitstellt. Zwar hat das »Optimum« bei Latour weder etwas mit Natürlichkeit noch Spontaneität zu tun. Aber auch er bleibt blind gegenüber den Machtbeziehungen, die Teil der »optimalen« Verteilung von Handlungsfähigkeit, Sprachfähigkeit und Ressourcen sind. Für Latour sind die Fragen der Aufteilung und Verteilung moralisch, vielleicht auch politisch oder eher kosmopolitisch, aber nichts davon ist mit einer Analyse von Machtbeziehungen verknüpft (vgl. Opitz 2016). Mit Latour lassen sich Ökonomie und Moral ineinander verschränken, Moral und Macht jedoch nicht.
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4. D ezentrieren , S pezifizieren und H ybridisieren Latours Vorschlag »die Ökonomie« aufzulösen, hat eine erfrischende Radikalität. Die Effekte einer solchen Auflösung auf die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft sind nicht zu überschätzen. Man stelle sich konkret vor, wie gesellschaftspolitische Debatten verlaufen würden, wenn man nicht »die Ökonomie« als Referenzobjekt zur Verfügung stehen hätte. Man stelle sich des Weiteren vor, was es bedeuten würde, wenn »die ökonomische Disziplin« nur noch ein riesiges Feld konkurrierender Vermessungen wäre, die weder auf monetäre Größen noch auf Anordnung von knappen Gütern bezogen wären. Man stelle sich nicht zuletzt Debatten wie diejenige um die europäische Schuldenkrise vor. Diese könnte sich nicht länger hinter einer makroökonomischen und finanzpolitischen Rechnung verstecken, sondern müsste explizit und offensiv die Komposition Europas als kosmopolitisches Projekt begreifen. In der Tat liegt hier eine »Häutung« der modernen Erfahrung vor. Das Agnostisch-Werden der Modernen gegenüber der Ökonomie würde alte Denkgewohnheiten und Autoritätsansprüche durchkreuzen. Unbestreitbar ist der Schritt des Zerschlagens und Dezentrierens der Ökonomie von Latour mit großer Verve durchgeführt worden. Was aber konnte er in den Ruinen der Ökonomie für sein diplomatisches Projekt der Neubeschreibung der Moderne bergen? Wie lassen sich in der Folge die Überkreuzung oder Hybridisierung neu verhandeln? Wie ich versucht habe zu zeigen, ist Latours Arbeit in den Ruinen der modernen Ökonomievorstellung weniger ertragreich als man es sich wünschen würde. Zwar gibt es hier durchaus wertvolle Fundstücke und Akzentsetzungen – dazu gehört die Ontologie der affektiven Verbindung oder die sequentielle Umschreibung der Marktkoordination. Aber diese gewinnen keine analytische Schärfe, was auch daran liegen mag, dass sie nicht mit den bestehenden Einsichten der Soziologie verbunden werden. Vielmehr resultiert der Versuch, die Spezifik der Erfahrungen hinter der Ökonomie zu bergen, in einer erstaunlichen Verallgemeinerung und Konventionalität. Das kann abschließend an den drei Einsatzpunkten von Latours Reartikulation des Ökonomischen nachvollzogen werden. Im Falle des Verbindens treffen wir zunächst auf eine Verengung der ökonomischen Erfahrung. Latour spricht weder über die Medialität des Geldes noch über Arbeit, ihn interessieren weder Dienstleistungen oder Care-Ökonomien, weder Haushalte noch Kredit sind sein Thema. Seine Beispiele sind die SlowFood Salami im Supermarkt, der Turnschuh und das Brioche – Dinge, die man haben möchte und die von Konsumenten bewertet werden. Es geht um das leidenschaftliche Haben-Wollen, über das man jedoch nicht viel erfährt. Gleichzeitig werden diesen Erfahrungen durch existentielle Begrifflichkeiten höhere ontologische Weihen verliehen, die aber keine tiefere Erfassung der Verbindungen von (Konsum-)Dingen und Menschen erlauben.
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Im Falle des Organisierens treffen wir auf eine Ordnungskategorie, die dem Modus des Verbindens an die Seite gestellt wird: Diese Existenzweise liefert Identitäten, legt Zahlungen und Eigentum fest, bestimmt Zuständigkeiten und Handlungsabläufe. Latour sucht hier wie in keiner der anderen beiden Existenzweisen nach der Spezifik des Ökonomischen und findet jene in der Kalkulation, die aufteilt und verteilt. Aber diese Spezifik entgleitet Latour im selben Augenblick, denn die Begriffe des Verteilens und Aufteilens verlaufen im Ungefähren und die Grenze zwischen der Kalkulation, die Referenz organisiert, und jener Kalkulation, die ökonomisiert, bleibt unklar. Latour verzichtet auf alle Bestimmungen des Ökonomischen durch Knappheit, Profit, Wettbewerb oder ähnliches, die die Verteilungsfrage bisher »ökonomisiert« haben, aber er setzt auch nichts an dessen Stelle. Weil er die Bedeutung des ökonomischen Verteilens so undeutlich lässt, meint Ökonomisieren jegliche Art der Ordnung und Koordination von Handlungssequenzen. Es bleibt unklar, warum jeder Ordnungsleistung ein Ökonomisieren sein soll. Im Falle der Moralität haben wir es schließlich mit einer gleichzeitigen Adoption und Aushöhlung der ökonomischen Kategorie des Optimums zu tun. Die Spezifik »der Ökonomie« als Frage nach dem Optimum wird gewahrt, aber in einen Streit um die Errichtung des Ganzen umgewandelt. Jener kennt allerdings keine Machtfragen, sondern nur moralische Sensibilitäten und Einsichten in die Notwendigkeit, Werte zu hierarchisieren. Mit der Übernahme des »Optimums« lässt sich Latour die Form der kosmopolitischen Frage aus der Ökonomie diktieren. An dieser Stelle ist die Dezentrierung nicht so durchschlagend, wie man hoffen könnte. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form des Optimums wäre es wert gewesen, eingehend »gehäutet« zu werden. Latour hat sein Projekt der Anthropologie der Modernen mit dem Ziel verfasst, nicht nur die Unterschiedlichkeit der Existenzweisen herauszuarbeiten, sondern ihre Überkreuzungen transparent, verstehbar und neu verhandelbar zu machen. Im Falle der Re-Formierung der Ökonomie wird die Gleichzeitigkeit von Differenzierung und Hybridisierung sehr deutlich. Offensichtlich sind der Modus des Verbindens und des Organisierens aufeinander verwiesen: Sie liefern sich gegenseitig Rahmung und Energie und können ohne einander nicht bestehen. Die Überkreuzung mit dem Modus der Moralität scheint allerdings weniger konstitutiv zu sein. Denn keine dieser beiden Existenzweisen stellt von sich aus die Frage nach dem gesamten Kosmos und der optimalen Verteilung. Man mag das Ganze nicht berechnen können, aber die Existenzweise des Organisierens kennt keine Totalität. Die Überkreuzung von Moralität, Verbinden und Organisieren erscheint deshalb als kosmopolitisch gewollte Hybridisierung. Sie ist kein Effekt der »Häutung« und Auflösung »der Ökonomie,« sondern ihr Umschreiben als kosmopolitisches Projekt. Am Ende der Anthropologie der Existenzweisen wird es nicht mehr heißen »gib mir ein La-
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bor und ich werde die Welt aus den Angeln heben« (Latour 2002: 157). Stattdessen könnte das Motto lauten: Gib mir die Disziplinen des Ökonomisierens und ich werde den Kosmos errichten.
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[REL] Religion als Form des In-der-Welt-Seins Latours andere Soziologie der Weltbeziehung Hartmut Rosa Ganz am Ende seines monumentalen Buches über die Existenzweisen macht Bruno Latour deutlich, dass es ihm um nichts weniger als ums Ganze geht: um die Rettung der Welt einerseits, andererseits aber auch um die Grundfrage aller, nicht nur der menschlichen Existenz: In was für eine Welt sind wir gestellt, wem oder was stehen wir gegenüber, wenn wir existieren, wie ist unsere Beziehung zur Welt beschaffen? Die Modernen, so stellt Latour dabei fest, fanden sich in ihren wissenschaftlich, technisch, ökonomisch, rechtlich und politisch institutionalisierten Handlungsweisen in eine Natur gestellt, »die ihren Projekten gegenüber gleichgültig war« (Latour 2014: 652). Im Zeitalter des Anthropozäns aber scheint diese Natur, oder besser, dieses Gegenüber plötzlich empfindsam zu werden für menschliches Handeln, es scheint darauf zu reagieren (etwa mit Naturkatastrophen). Die Spätmodernen gewinnen daher den Eindruck, es mit einem antwortenden Gegenüber zu tun zu haben, das Latour mit dem Namen der griechischen Göttin ›Gaia‹ belegt; und Gaia steht uns vielleicht nicht gleichgültig, sondern sogar feindlich gegenüber: »Wenn Gaia gegen uns ist, dann ist nicht mehr sehr viel erlaubt. In Erwartung Gaias ist es nicht mehr wie einst der Sinn des Absurden, der uns bedrohen könnte, sondern eher die Hochstapelei hinsichtlich unserer unzulänglichen Vorbereitung für die kommende Zivilisation.« (Ebd.: 653) Neben diese beiden Modi der Beziehung zur Welt (den indifferenten und den feindlichen) stellt Latour in einer Reihe von Arbeiten einen dritten Modus, nämlich den eines Weltverhältnisses, das auf Transformation und sogar Erlösung setzt, auf eine (An-)Verwandlung, die uns (nicht nur uns Menschen, sondern allen Entitäten) ein gleichsam liebendes, singendes oder jubilierendes Weltverhältnis erlaubt: Nicht zufällig betitelt Latour seine monographische Untersuchung über die Religion mit »Jubilieren« (Latour 2011). Lässt man sich auf Latours Diktion ein, so bringen diese drei Modi verschiedene ›Existenzweisen‹ zum Ausdruck, die sich der Wahrheitsfrage a priori ent-
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ziehen, weil sie ihre eigenen Wahrheiten hervorbringen. In Existenzweisen geht es nach meiner Auffassung um die Pluralität möglicher Beziehungsformen und damit um die Pluralität von Existenzen und von Welten. In diesem Sinne ist Latours Buch ein Buch über die Weltbeziehungen der Moderne, oder der Modernen, und damit ein gewichtiger Beitrag zu einer Soziologie der Weltbeziehung (vgl. Rosa 2016). Die Rede von der Pluralität der Existenzweisen, oder der Ontologien, macht dabei deutlich, dass Subjekt und Objekt als das ›Seiende‹ nicht schlechthin gegeben sind, so dass nur danach gefragt werden könnte oder müsste, wie die beiden Seiten jeweils zueinander in Beziehung treten. Der Clou von Latours Argumentation besteht vielmehr in der Überzeugung, dass die Beziehungsformen, die etwa durch die Wissenschaft oder durch das Recht, durch Politik, Kunst oder Religion hervorgebracht werden, oder besser, die Wissenschaft, Recht oder Religion sind, nicht nur über ihre je eigenen Repräsentationen und Interpretationen ›der Welt‹ verfügen, sondern, radikaler, auch jeweils ihre eigenen Welten, ihre eigenen Realitäten und Entitäten, Prozessketten und Verknüpfungsmodi hervorbringen – deshalb spricht er von Existenzweisen. Mithilfe dieses Begriffs, so meint Latour, lassen sich die steril und unfruchtbar gewordenen Gegensätze von Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Immanenz und Transzendenz etc. gleichermaßen überwinden (vgl. dazu auch Laux 2014): Jede Existenzweise, jeder Seinsmodus bringt je eigene Transzendenzen, Entitäten und Strukturen, je eigene Ontologien hervor. Auf diese Weise will Latour den in Wissenschaft und Kultur vorherrschenden konzeptuellen »Monismus des Seins«, der sich überall dort zeigt, wo etwa Religion oder Naturwissenschaft meinen, ›die Welt‹ (oder die Funktionsgesetze der Welt) erklären zu können, und der zu einer »ontologischen Unterernährung« der Modernen geführt habe (Latour 2014: 417), zu Gunsten einer größeren »Diversität bei den Wesen, die zur Existenz zugelassen sind«, überwinden (ebd.: 55 f.). Latours Konzeption zielt damit gleichsam auf eine ›Viele-Welten-Theorie‹ der Moderne ab, wobei sein Hauptinteresse der Frage gilt, was passiert, wenn sich diese Welten berühren oder ›kreuzen‹; wenn sie miteinander in Konflikt geraten und sich gegenseitig transformieren. Es sind diese Kreuzungen (Crossings), welche Bewegung und Dynamik in das Spiel der Welten bringen. Was zeichnet nun aber die Existenzweise der Religion [REL] als einen besonderen Beziehungsmodus aus? Zunächst einmal schließt Latour wiederholt und explizit an William James’ wegweisende Untersuchung über die Vielfalt der religiösen Erfahrung an, in der sich folgende Bestimmung von Religion findet: »Religion ist, was immer sie sonst noch sein mag, die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben. […] Gesamtreaktionen sind etwas anderes als situationsbedingte Reaktionen, und Grundhaltungen sind etwas anderes als das Verhalten im Alltag und im
Religion als Form des In-der-Welt-Seins Beruf. Um zu ihnen zu gelangen, muß man durch die Oberfläche der Existenz hindurch hinabreichen zu jenem eigenartigen Empfinden, in dem wir den ganzen übrigen Kosmos als etwas ständig Gegenwärtiges erfahren, sei es uns vertraut oder fremd, erschreckend oder erheiternd, liebens- oder hassenswert. Dieses Empfinden für die Gegenwart der Welt nimmt einen mehr oder weniger in Besitz, und je nachdem, wie es sich auf unser jeweiliges individuelles Temperament auswirkt, macht es unser Verhältnis zum Lebensganzen anstrengend oder unbekümmert, unterwürfig oder anmaßend, schwermütig oder exaltiert; und unsere unwillkürliche und unartikulierte und kaum bewußte Reaktion ist selbst schon die erschöpfendste aller unserer Antworten auf die Frage: ›Wie beschaffen ist dieses von uns bewohnte Universum?‹« (James 1997: 67 f.; vgl. Latour 2005: 27 f.)
Diese Bestimmung von Religion legt nahe, dass es sich bei ihr um einen Modus handelt, sich auf Welt und Existenz als Ganzes bezieht: Nicht nur situativ und instrumentell, sondern in einem umfassenden Sinne. Religion ist die Existenzweise, in der es um unsere Beziehung zur Welt, oder, den Welten, insgesamt geht. Wenngleich Latour dies nicht explizit so formuliert, könnte man vielleicht sagen, dass es in der Religion um die Beschaffenheit der Beziehung zu Gaia geht, wobei Gaia als Chiffre für ein Umgreifendes im Sinne Karl Jaspers’ zu stehen scheint: »Von nun an sind wir geladen, vor GAIA zu erscheinen, Gaia, jene merkwürdige Figur, die doppelt buntscheckig ist, da aus Wissenschaft und Mythologie bestehend, dient manchen Spezialisten dazu, die Erde, die uns umfaßt und die wir umfassen, zu bezeichnen, dieses Möbiusband, dessen Inneres und Äußeres wir gleichzeitig bilden, diesen wahrhaft globalen Globus, der uns bedroht, während wir gleichzeitig ihn bedrohen.« (Jaspers 2001: 42).
Weil es unmöglich ist, sich zur Welt als dem Umgreifenden nicht zu verhalten, ist es nach Latour auch unmöglich »nicht vom Religiösen zu sprechen« (Latour 2014: 409). Damit ist aber noch nicht viel über Wesen und Natur der religiösen Erfahrung ausgesagt. Latour will die Existenzweisen ja (in der Tat ähnlich wie James) über die in ihnen verfolgten Wertideen und vor allem über die durch sie ermöglichten Erfahrungsgehalte analysieren. Und hier nun bricht Latour mit den dominanten und gängigen wissenschaftlichen wie alltäglichen Konzeptionen von Religion, indem er sie radikal von der Frage des Glaubens und von kognitiven Repräsentationen trennt. Nach seiner Auffassung geht es in der religiösen Erfahrung und mithin in der Religion nicht darum, an etwas zu glauben; mithin ist es auch völlig irrelevant, welche Arten von transzendenten Wesenheiten dabei postuliert oder repräsentiert (oder geleugnet) werden. In der Annahme, bei religiösen Dingen gehe es um kognitive Gehalte und Reprä-
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sentationen, liegt für Latour einer der zentralen Kategorienfehler der Moderne, der es schwer macht, über Religion überhaupt vernünftig zu sprechen. »Wie soll man […] sagen, daß es überhaupt nicht um den Glauben geht? Und vor allem nicht darum, an etwas, an jemanden, an den unaussprechlichen, an den unanrufbaren G. zu glauben? Wie verständlich machen, daß der Glaube oder Unglaube an G. auf dasselbe hinausläuft, wenn es gilt, von jenen Dingen zu sprechen, ausgehend von ihnen? Daß darin nicht das Problem besteht, daß hier sogar eine Kategorienverwechslung vorliegt, eine irrtümliche Adresse, ein syntaktischer Fehler, eine Vertauschung von Gattungen? Ja, mit Religion […] hat der Glaube an G. überhaupt nichts zu tun, und folglich taugt er nicht dazu, eine Grenze zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Anhängern und Gegnern zu ziehen.« (Latour 2011: 10)
Deshalb, so argumentiert Latour, ist es immer schon falsch zu fragen, was eine Religion ›sagt‹ – die richtige Frage lautet, was sie tut. Religion sagt nichts, sie macht etwas. Aber was? Latour wird hier ganz explizit und gleichsam orthodox: Religion, oder genauer, die religiöse Erfahrung spendet Atem und Heil, weil sie uns auf eine Weise mit der Welt in Beziehung setzt, die lebendig macht. »Man hat den Atem der Religion jedesmal verloren, wo man fragte: ›Aber was sagt sie letztendlich?‹ Auf der Stelle ist sie in eine […] Monstrosität verwandelt. Denn streng genommen sagt sie nichts, sie macht etwas Besseres: Sie bekehrt, sie rettet, sie transportiert Transformationen, sie erweckt Personen wieder zum Leben.« (Latour 2014: 440) Konsequent stellt Latour dann auch fest, »vom Religiösen zu verlangen, an etwas Substantielles zu glauben«, sei »absurd« (ebd.: 441). Aber was kennzeichnet denn nun die religiöse Erfahrung als solche, »welchem Faden soll man folgen, um die Präsenz von Wesen aufzufinden, die Träger von Religion sind« (ebd.: 416)? Überraschenderweise nimmt Latour die Erfahrung von ›Liebeskrisen‹ als Muster, auch für religiöse Erfahrungen. Ihr Spezifikum ist es, dass sich Subjekte in der Erfahrung der Liebe verwandeln: dass sie sich adressiert, gemeint und berührt fühlen, und dass sie sich in dieser Berührung transformieren. Die Erfahrung der Liebe ist wie die religiöse Erfahrung eine der Öffnung und des Ergriffenseins von einem Anderen: Es ist die Erfahrung der Fähigkeit, gleichsam von innen und von außen her auf eine Weise transformiert zu werden, die sich nicht als kausal-mechanische Wechselwirkung begreifen lässt, sondern deren Besonderheit darin besteht, dass sie lebendig macht und Ganzheit stiftet. Der Kern der religiösen Erfahrung wie der Liebe besteht demnach in einer Antwortbeziehung oder Begegnung, welche die Fremdheit und Gleichgültigkeit in der Beziehung zwischen Ich und Welt zu überwinden vermag: »Die Liebesworte haben dies an Besonderem, daß sie der Person, an die sie adressiert sind, Existenz und Einheit geben, welche diese nicht hatte. ›Ich fühlte mich fern‹, ›Ich war gleichgültig‹, ›Ich war wie tot‹.«
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(Ebd.: 418) Religion, so will ich daher in meiner eigenen Diktion sagen, ist für Latour eine, oder sogar die Existenzweise, welche eine Resonanzbeziehung zwischen Subjekt und Welt, und mehr noch, wie wir gleich sehen werden, sogar zwischen allen Entitäten oder Wesen zu stiften vermag und sie auf diese Weise vom Verdammtsein zu einer ewig gleichgültigen oder feindlichen Weltbeziehung errettet. Das aber bedeutet: Jede Erfahrung, die uns auf eine lebendige, atmende, transformative Weise mit ›der Welt‹ oder ›dem Kosmos‹ verbunden sein lässt, jede Erfahrung, welcher die Kraft einer berührenden und transformativen Begegnung innewohnt, ist letztlich eine religiöse Erfahrung im Sinne Latours. »Welches Elend, nie etwas anderes als Gleichgültigkeit hervorgerufen zu haben! Das wovon die Erfahrung die stets wiederaufzunehmende Sicherheit gibt, ist, daß wir diese Gewißheit, zu existieren und nahe zu sein, vereint und vollständig zu sein, nicht aus uns selbst ziehen, sondern daß sie von woanders her kommt, daß man sie empfängt, daß sie stets unverdiente Gabe ist, die durch den engen Kanal dieser heilsamen [Liebes-]Worte zirkuliert. Sehr besondere Worte: Worte, die Träger von Wesen sind, die fähig sind, diejenigen zu erneuern, an die sie gerichtet sind.« (Ebd.: 418 f.)
Religiösen Erfahrungen eignet damit immer etwas Unverfügbares: Sie lassen sich nicht erzwingen oder systematisch herstellen, sie kommen von außen. Deshalb sind für Latour nicht Götter, sondern (verblüffenderweise) Engel die paradigmatischen Wesenheiten des Religiösen: Sie sind »Träger von Erschütterungen der Seele« (ebd.: 419) und als solche unverfügbar; ihr Erscheinen entfaltet eine transformative Wirkung, sie bewirken eine Verwandlung von Personen (vgl. ebd.: 419 f.). Latour changiert dann im Fortgang seiner Argumentation zwischen Engeln und Worten als den Trägern des Religiösen, indem er den Worten selbst jene transformative Kraft zuspricht; in jedem Falle aber verleiht er ihnen einen ontologischen Status: »Es würde zu nichts Großem dienen, zu sagen, daß die religiösen Wesen [REL] ›nur Worte‹ sind, weil es Worte sind, die die Wesen transportieren, die Personen umwandeln, auferwecken und retten. Daher sind es wirklich Wesen, es gibt wahrhaftig keinen Grund, daran zu zweifeln. Sie kommen von außen, sie fassen uns, bewohnen uns, sprechen zu uns, fordern uns auf; man wendet sich an sie, betet zu ihnen, fleht zu ihnen.« (Ebd.: 425)
Mit anderen Worten: Man tritt zu ihnen in ein Antwortverhältnis, und es ist diese Existenzweise des Angesprochenseins und des reagierenden Sichverwandelns, welche Latour als die Religiöse identifiziert. In der Wiederentdeckung dieser Existenzweise und in der ›Befreiung‹ der Religion von allen dogmatischen und kognitiven Lasten liegt für Latour des-
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halb eine Chance, den Verwirrungen und Gefährdungen der Moderne zu entkommen, weil sie uns die reale Erfahrung und Erfahrbarkeit einer gegenüber den dominanten Existenzweisen der Wissenschaft und der materiellen und technischen Reproduktion alternativen Art und Weise des In-die-Welt-Gestelltseins und des Auf-Welt-Bezogenseins in Erinnerung ruft. Hören und Sprechen stehen nach Latour im Zentrum dieser Existenzweise (vgl. ebd.: 423), und eben nicht Beherrschen und Verfügen, welche die Kernmerkmale der vorherrschenden wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Weltbeziehung bilden (vgl. auch Rosa 2016: 762). Diese letzteren (und die kognitivistische Verengung der Religion) haben dazu geführt, dass sich die Modernen einer ›toten‹ und stummen Natur gegenübergestellt fühlen, die es zu beherrschen, oder neuerdings, zu bewahren gilt. Demgegenüber stellt uns die religiöse Erfahrung in eine lebendige Welt, die fortwährend von berührenden und transformierenden und in diesem Sinne kreativen Begegnungen erfüllt ist – sie verändert die Natur unserer Beziehung zur Welt, weil sie die starre Trennung zwischen resonanzfähigen menschlichen Wesen auf der einen Seite und einer stummen und toten Welt der ›Natur‹ und der ›Artefakte‹ auf der anderen Seite, welche Latour als irreführende asymmetrische Anthropologie identifiziert (Latour 1991), überwindet. In diesem Sinne, schreibt Latour in seinem Aufsatz Will non-humans be saved? An argument in ecotheology (2009), kann Religion nicht nur Menschen, sondern auch die Dinge bzw. nicht-menschliche Wesen erretten oder ›erlösen‹ (salvation), indem sie die Fähigkeit besitzt, das ›Nächste‹ lebendig und zu kreativer Transformation bereit werden zu lassen: »I defined the religious tradition by its ability to operate two transformations: a radical transformation of the far away into the close and the proximate (what was dead is now alive) and a positive view of all artificial transformations (against any tendency to conserve what it is). And I suggested that this could be exactly what was needed to extend the range of concerns, passions, and energy that the overly narrow ›ecological consciousness‹ could not possess because of its unfortunate adhesion to the ›conservation of nature‹ and its ilk. When religion encounters nature, one of them has to go. If religion flees from any involvement with non-humans and with science, it becomes irrelevant and will be damned for having forfeited the world to save only the souls of humans in a spiritual nowhere land. Incarnation would have been in vain. But what happens if religion is allowed to weave its highly specific form of transcendence into the fabric of the other two modes of existence, Reproduction and Reference?« (Latour 2009: 473)
Interessanterweise diagnostiziert Latour in den Existenzweisen einen gleichsam doppelten Weltverlust der Moderne: Indem die wissenschaftliche, technische und ökonomistische Konzeption und Bearbeitung von ›Natur‹ in ihren langen und zahllosen Ketten der Übersetzung und Manipulation die Welt um uns herum zu etwas Leblosem, Unnahbarem, Fernem, nur über viele Vermittlungen
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Erfahrbarem werden lässt, fehlt uns die lebendige Nähe ebenso wie sie in einer Religion verloren geht, welche glaubt, es mit einem transzendenten, abstrakten, gleichsam weltlosen ›Fernsten‹ zu tun zu haben: »Eine ontologische Entgleisung ohne Ausweg, denn die Religion hat den einzigen Zugang aufgeben müssen, den sie bieten konnte: den Zugang zum Nahegelegenen. Und so laufen die Modernen Gefahr, sowohl das Nahe wie das Ferne zu verlieren.« (Latour 2014: 443 f.) In anderen, resonanztheoretischen Worten: Der Moderne droht ohne Erinnerung an die religiöse Existenzweise, ohne eine Praxis, welche den Beziehungsmodus der genuinen Begegnung realisiert, ein totales Weltverstummen. Die Kraft, die Latour der Religion zuschreibt, ist die der Transformation dieses stummen, gleichgültigen Weltverhältnisses in eines der (gleichsam libidinösen, durch Liebe gestifteten) Bezogenheit, und er lässt keinen Zweifel daran, dass es dieser Kraft bedarf, wenn die planetare ökologische Krise (und die »Dystopie der Ökonomie«, ebd.: 60) überwunden werden soll, denn die ›Ökologisierung‹ erfordert nichts weniger als eine andere Form der Weltbeziehung. Der mysteriös und esoterisch anmutende Begriff der Gaia dient ihm dabei auch als Chiffre für diese Transformation: Die Vorstellung, der lebendigen, mit eigener Stimme sprechenden Gaia gegenüberzustehen, evoziert ein völlig anderes Weltverhältnis als die Idee, eine schutzlose oder gleichgültige Natur bewahren zu sollen. »There is no question: religion, in the various traditions elaborated around Christianity, is all about a radical change in the make-up of daily existence. ›Let the Holy Spirit renew the face of the Earth‹ the monks chant eight times a day […]. [R]eligion demand[s] a level of radical transformation compared to which the ecological gospel looks like a timid appeal to buy new garbage cans […]. [P]erhaps we can postpone […] [the] Apocalypse: religion could become a powerful alternative to modernizing and a powerful help for ecologizing, provided that a connection can be established (or rather re-established) between religion and Creation instead of religion and nature.« (Latour 2009: 262 ff.)
Religion, so lässt sich Latours Argumentation zusammenfassen, bezeichnet eine Existenzweise (und einen Beziehungsmodus), bei der es (entgegen den dominanten religiösen Überlieferungen und Traditionen) nicht darum geht, eine andere Welt zu erreichen, sondern darum, der gegebenen Welt auf eine andere Weise zu begegnen. Der mit dem Eintritt in diese Existenzweise verbundene Perspektivenwechsel, oder besser, der damit einhergehende Wandel der Weltbeziehung, ist aus Latours Sicht keine Option, sondern eine ökologische Notwendigkeit: »The dream of going to another world is just that: a dream, and probably also a deep sin. But to seize, or seize again, this world, this same, one and only world, to grasp it otherwise, that is not a dream, that is a necessity.« (Latour 2009, 473) Ist diese Sichtweise originell? Ist sie plausibel? Diese Fragen lassen sich aus zwei Richtungen stellen: Erstens: Ist Latours Argumentation erhellend für das
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Verständnis von Religion? Und zweitens: Ist Latours Konturierung der Möglichkeit und Notwendigkeit eines alternativen Modus der Weltbeziehung, einer gegenüber den dominanten modernen Welthaltungen alternativen Existenzweise, als Zeitdiagnose und im Hinblick auf das Verständnis der Moderne, als sozialer Formation – als große Versammlung – überzeugend? Mir fehlen die disziplinären Mittel, um Latours Konzeption aus religionswissenschaftlicher oder theologischer Perspektive zu beurteilen. Es scheint offensichtlich, dass seine völlige Verabschiedung kognitiver und dogmatischer Gehalte – die Preisgabe aller religiösen ›Substanz‹– in diesen Disziplinen auf wenig Gegenliebe stoßen oder zumindest starke Widerstände hervorrufen wird. Auf der anderen Seite aber könnte Latours Insistieren darauf, dass es zum Verständnis der Religion auf die Natur der religiösen Erfahrung ankomme, einen Schlüssel für die Erklärung der anhaltenden Attraktivität religiöser Praxis auch in der Spätmoderne liefern: Diese Attraktivität, so lässt sich mit Latour vermuten, liegt nicht in der Fähigkeit der Religionen, die Welt und das Schicksal zu erklären und Sinn zu stiften, und vielleicht auch nicht einmal so sehr in ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft, sondern vielmehr darin, dass sie in ihren rituellen Praktiken die Erfahrung einer anderen, einer resonanten Art und Weise, auf Welt bezogen zu sein und in die Welt gestellt zu sein, möglich machen. Religiöse Erfahrung besteht dann im Kern darin, mit der umgreifenden Realität, oder dem Weltganzen, auf eine aktive und kreative Weise verbunden zu sein. Dies scheint mir nicht nur religionswissenschaftlich anschlussfähig zu sein, etwa an William James (1997) oder auch an Martin Bubers (1994) Konzeption des Dialogischen Prinzips, sondern darüber hinaus auch beträchtliche und aktuelle zeitdiagnostische Relevanz zu besitzen. Indem Latour diese Verbundenheit zu einer gleichberechtigten Existenzweise neben vielen anderen macht, nimmt er der ›theologischen‹ und epistemologischen Frage nach der ›Realität‹ einer solchen Verbundenheit den Stachel und vielleicht auch den Sinn. Denn der Clou von Latours Ansatz liegt ja eben darin, dass Wirklichkeit nicht einfach gegeben ist, sondern stets konstruiert wird – freilich nicht von den Menschen allein, sondern von den verschiedensten Entitäten aus den unterschiedlichsten ontologischen Seins-Ebenen, die in diesem Prozess der anhaltenden Konstruktion und Rekonstruktion gleich miterzeugt werden (vgl. dazu auch Gertenbach 2015). Ob diese meta-epistemische Konzeption – Latour selbst nennt als Ziel die Entwicklung eines neuen ›Koordinatensystems‹ (Latour 2014: 43) – in ihrer Gesamtheit plausibel ist, ob Latours Ansatz als solcher als sozial- und gesellschaftstheoretischer Entwurf tragfähig ist, darf und muss weiterhin mit Fug und Recht bezweifelt werden. Leider unternimmt Latour im Schlusskapitel seines Buches ja nicht einmal den Versuch, sein Werk den vier formulierten Tests (vgl. ebd.: 640 ff.) zu unterziehen – es steht zu befürchten, dass es sie nicht bestehen würde; zu zahlreich sind die Inkonsistenzen (etwa dort, wo es einmal so scheint, als ließen sich
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alle Existenzweisen auf der Basis und mit den Mitteln derselben Vernunft und in einer Welt untersuchen (vgl. ebd.: 424), dann aber wieder so klingt, als erzeuge jede Existenzweise ihre eigene Vernunft und ihre eigene Welt (vgl. ebd.: 95 ff.)), die fehlenden empirischen Evidenzen, die Argumentationslücken und die durch raunende Rede erzeugten Unschärfen (vgl. dazu auch die von Henning Laux verfasste Einleitung zum vorliegenden Band). Deshalb handelt es sich bei Latours Buch weniger um einen kohärenten gesellschaftstheoretischen Entwurf, als vielmehr um einen leidenschaftlichen Versuch, Weltverhältnisse neu und anders zu denken. Dass das moderne Weltverhältnis insgesamt in eine – nicht nur ökologische und ›spirituelle‹– Krise geraten ist, lässt sich angesichts der gravierenden politischen, religiösen, psychischen und ökologischen Konflikte der Gegenwart kaum bestreiten. Latours Versuch besitzt daher in der Tat ein hohes Anregungspotential und eine ebenso große gesellschaftspolitische Relevanz.
L iter atur Buber, Martin (1994): Das dialogische Prinzip, Gerlingen: Schneider. Gertenbach, Lars (2015): Entgrenzungen der Soziologie. Bruno Latour und der Konstruktivismus, Weilerswist: Velbrück. James, William (1997): Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a. M.: Insel. Jaspers, Karl (2001): Von der Wahrheit, München: Piper. Latour, Bruno (1991): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (2005): »Thou Shall Not Freeze-Frame« or How Not to Misunderstand the Science and Religion Debate. In: Science, Religion and The Human Experience, ed. By James D. Proctor, Oxford, New York: Oxford University Press, S. 27–48. Latour, Bruno (2009): Will Non-Humans be Saved? An Argument in Ecotheology. In: Journal of the Royal Anthropological Institute (N. S.), 15, S. 459–475. Latour, Bruno (2011): Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin: Suhrkamp. Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin: Suhrkamp. Laux, Henning (2014): Soziologie im Zeitalter der Komposition: Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, Weilerswist: Velbrück. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp.
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Sina Farzin ist Juniorprofessorin für Soziologische Theorie an der Universität Hamburg. Studium der European Studies (MA) sowie der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaften und Kunstgeschichte (Mag. phil.) in Bochum und Peking. Anschließend Promotion in Soziologie an der Bremen International Graduate School of Social Sciences. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Gesellschaftstheorie, Theorien sozialer Inklusion/Exklusion, Literatursoziologie, insbesondere Utopien/Dystopien sowie Methoden der Theorieanalyse und -vermittlung. Zu den wichtigsten/ jüngsten Veröffentlichungen gehören: Gründungsszenen soziologischer Theorie, VS 2004 (hg. mit Henning Laux); Die Rhetorik der Exklusion, Velbrück 2011. Dr. Lars Gertenbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Soziologische Theorie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Poststrukturalistische Soziologien, Akteur-Netzwerk-Theorie und Soziologie ökonomischen Denkens. Zu den wichtigsten/ jüngsten Veröffentlichungen gehören: Entgrenzungen der Soziologie. Bruno Latour und der Konstruktivismus, Velbrück 2015; Konnektivität und Zusammenhalt. Von den zwei Soziologien des sozialen Bandes. In: Thomas Bedorf/Steffen Herrmann (Hg.), Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Campus 2016, S. 45–68; Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus, Parodos 2010. Emanuel Herold, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM, Abteilung für theoretische und normative Grundlagen an der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Soziologische Theorie, utopische und dystopische Narrative sowie Techniksoziologie. Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Die »offenen« Objekte und ihre Gesellschaft: Zur Kritik der technischen Verhältnisse. In: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 3 (1), S. 151–181.
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Bruno Latours Soziologie der »E xistenzweisen«
Prof. Dr. Georg Kneer ist Inhaber der Professur für wissenschaftliche Grundlagen an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Soziologische Theorie, Wissenschaftsforschung, Gesellschaftstheorie. Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Handbuch Soziologische Theorien, VS 2009 (hg. gemeinsam mit Markus Schroer); Rationalisierung, Disziplinierung und Differenzierung. Zum Zusammenhang von Sozialtheorie und Zeitdiagnose bei Jürgen Habermas, Michel Foucault und Niklas Luhmann, Westdeutscher Verlag 1996 (gemeinsam mit Armin Nassehi); Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, Fink (UTB) 1993. Prof. Dr. Jörn Lamla ist Inhaber der Professur für Soziologische Theorie an der Universität Kassel. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Konsum und Demokratie sowie Privatheit in der Digitalen Welt. Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Verbraucherdemokratie. Politische Soziologie der Konsumgesellschaft, Suhrkamp 2013; Arenen des Demokratischen Experimentalismus. Zur Konvergenz von nordamerikanischem und französischem Pragmatismus. Berliner Journal für Soziologie, Jg. 23 (2013), H. 3–4, S. 345–365; Die Reterritorialisierung des Digitalen. Zur Reaktion nationaler Demokratie auf die Krise der Privatheit nach Snowden, Kassel University Press 2016 (Open Access, gemeinsam mit Barbara Büttner, Christian L. Geminn, Thilo Hagendorff, Simon Ledder, Carsten Ochs und Fabian Pittroff). Dr. Henning Laux ist Vertretungsprofessor für allgemeine und theoretische Soziologie an der TU Chemnitz und Leiter des DFG-Forschungsprojektes »Desynchronisierte Gesellschaft. Politische Herausforderungen an den Schnittstellen des Sozialen«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Soziologische Theorien, Kultursoziologie, Wissenschafts- und Technikforschung und Politische Soziologie. Zu den jüngsten Veröffentlichungen gehören: Gründungsszenen – Eröffnungszüge des Theoretisierens am Beispiel von Heinrich Popitz’ Machtsoziologie. In: Zeitschrift für Soziologie Jg. 45, Heft 4/2016 (zus. mit Sina Farzin); Clockwork Politics. Fünf Dimensionen politischer Zeit. In: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 43/2015, S. 52–70 (zus. mit Hartmut Rosa); Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, Velbrück 2014. Prof. Dr. Hartmut Rosa ist seit 2005 Inhaber der Professur für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und seit 2013 Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt. Er ist Herausgeber der internationalen Fachzeitschrift Time & Society. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Zeitdiagnose und Moderneanalyse,
Autorinnen und Autoren
Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung. Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne, Suhrkamp 2005; Soziologische Theorien, UVK (UTB) 2007 (zus. mit David Strecker und Andrea Kottmann); Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp 2016. Prof. Dr. Thomas Scheffer ist Inhaber der Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Interpretative Sozialforschung an der Goethe Universität Frankfurt. Seine Forschungen verbinden Ethnographie und Diskursanalyse im Fokus auf Diskursarbeiten, insbesondere im Rahmen staatlicher Settings (Parlamentsbetrieb, Rechts- und Verwaltungsverfahren, militärische Kampfeinsätze und ihre Aufarbeitung, polizeiliche Kriminalprävention etc.). Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Asylgewährung: Eine ethnographische Analyse des deutschen Asylverfahrens, Lucius & Lucius 2001; Adversarial Case-Making: An Ethnography of English Crown Court Procedure, Brill 2010; Polizeilicher Kommunitarismus: Eine Praxisforschung urbaner Kriminalprävention, Campus 2016 (zus. mit Christiane Howe, Eva Kiefer, Dörte Negnal und Yannik Porsché). Prof. Dr. Michael Schillmeier ist Inhaber der Professur für Soziologie am Institut für Soziologie, Philosophie und Anthropologie der Universität Exeter (UK). Schillmeiers Arbeit ist cross-disziplinär ausgerichtet. Er lehrt prozessorientierte Soziologie und Philosophie, Science and Technology Studies (STS), Disability Studies, Sociology of Health and Illness, Körpersoziologie, Soziologie der Sinne und Affekte. Schillmeier ist Mitherausgeber der internationalen Zeitschrift Space & Culture. Zusammen mit Juliane Sarnes hat Schillmeier Gabriel Tardes Monadologie et Sociologie übersetzt (Suhrkamp, deutsche Erstauflage). Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Eventful Bodies. The Cosmopolitics of Illness, Ashgate; Rethinking Disability: Bodies, Senses and Things, Routledge; Un/knowing Bodies, Wiley-Blackwell (zus. mit Joanna Latimer); New Technologies and Emerging Spaces of Care, Ashgate (zus. mit Miquel Domènech); Disability in German Literature, Film, and Theater, Camden House (zus. mit Eleoma Joshua); Agency without Actors – New Approaches to Collective Action, Routledge (zus. mit Jan Passoth und Birgit Peuker). Dr. Marco Schmitt ist Postdoc am Institut für Soziologie an der RWTH Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Netzwerktheorie, Wissenschafts- und Technikforschung, Kommunikationstheorie, Big Data, OnlineForschung. Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Zur Aktualität von Harrison C. White. Wiesbaden, VS 2015 (zus. mit Jan Fuhse); Themenessay »Netzwerkforschung«. In Soziologische Revue 38 (1) (2015), S. 30–43; Trennen und Verbinden. Soziologische Untersuchungen zur Theorie des Gedächtnisses, VS 2009.
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Bruno Latours Soziologie der »E xistenzweisen«
Dr. Ute Tellmann ist Postdoc am Institut für Soziologie an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Historische Epistemologie, Kulturelle Ökonomie, moderne politische Theorie und soziologische Theorie. Sie hat zu den Themen ökonomische Temporalität, Biopolitik, Genealogie des Ökonomischen, Politische Ökologie und Infrastrukturen gearbeitet. Gegenwärtig forscht sie zu der moralischen Ökonomie globaler Schulden. Zu den wichtigsten/jüngsten Veröffentlichungen gehören: Life and Money. The Genealogy of the Economic in Liberalism, Columbia University Press (im Erscheinen); Historical Ontology of Uncertainty: Rethinking the Current Critique of Finance. In: Journal of Cultural Economy, Vol 9, Issue 1/2016. Dr. Nicole Thiemer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Phänomenologie, narrative Philosophie und Hermeneutik. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Zwischen Hermes und Hestia – Hermeneutischen Lektüren zu Martin Heidegger und Jacques Derrida, Bautz 2014; Das ›stille Sprechen‹ in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert. In: Das Denken Wilhelm Schapps – Perspektiven für unsere Zeit (hg. v. Karen Joisten unter Mitarbeit v. Nicole Thiemer, Karl Alber 2010, S. 142–158. Narrativität und Ethik – Ein bibliographischer Kommentar. In: Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (hg. v. Karen Joisten), Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17 (2007), S. 293–301.