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German Pages [404] Year 2016
Papsttum im mittelalterlichen Europa BA N D 5
Herausgegeben von Jochen Johrendt und Harald Müller
Florian Hartmann (Hg.)
BRIEF UND KOMMUNIKATION IM WANDEL Medien, Autoren und Kontexte in den Debatten des Investiturstreits Unter Mitarbeit von Anja-Lisa Schroll und Eugenio Riversi
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn, sowie der Deutschen Post AG.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: ,Die dichte Textualität der Kommunikation‘. Bildliche Personifikationen der argumentativen Strukturen des Textes am Rand des ersten Psalms „Beatus vir qui non abiit in consilio impiorum“ – Psalterium Davidicum, secc. XI ex. – XII in. (San Benedetto Polirone) – Mantova, Biblioteca comunale Teresiana, ms. 340 (C.III.20), f. 8r.
© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50529-5
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Florian Hartmann Kommunikation im Wandel. Medien, Autoren und Kontexte in den Debatten des Investiturstreits. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rudolf Schieffer Deutungen des Investiturstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Thomas Wetzstein Von der Unmöglichkeit zu kommunizieren. Briefe, Boten und Kommunikation im Investiturstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Oliver Münsch Gerüchte und ihre Verbreitung. Beobachtungen zur Propaganda im Investiturstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Christian Heinrich Was versteht man unter einer Streitschrift? Vorschlag einer Neudefinition . 91 Jochen Johrendt Papstgeschichtliche Wende und produktive Zerstörung. Päpstliche Briefe im Zeitalter des Investiturstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gerhard Lubich Die „Öffentlichkeiten“ von Heinrich IV. und Heinrich V. Zum Bild ihrer Herrschaftsgestaltung in Geschichtsschreibung, Briefen und Urkunden . . . 129 Matthias Schrör Zur brieflichen Korrespondenz des Bischofs Hezilo von Hildesheim am Beginn des Investiturstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Roland Zingg Streit ohne Streitschriften? Die englische Investiturproblematik im Spiegel der Briefsammlungen Lanfrancs und Anselms von Canterbury . . . . . . . . . . . 157
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Wilfried Hartmann Sigebert von Gembloux – ein radikaler Antigregorianer? . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Eugenio Riversi Res tam nodosas. Die literarische Darstellung des Investiturstreits in die Vita metrica Anselmi des Bischofs Ranger von Lucca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Georg Strack Antagonistische Positionen zur politischen Redekultur im 11. Jahrhundert. Benzo von Alba und Rangerius von Lucca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Nicolangelo D’Acunto Brieftradition und Argumentationsformen in den Briefen Petrus Damianis 261 Matthias Becher Gregor VII. und Heinrich IV. vor dem Streit. Missglückte Kommunikation oder Provokation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Anja-Lisa Schroll Von blutigen Schwertern und heiligen Canones. Das Cadalus-Schisma aus wibertinischer und gregorianischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Klaus Herbers Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts. Überlieferung und Gebrauch zur Zeit der papstgeschichtlichen Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Lotte Kéry Recht im Dienst der Reform. Kanonistische Sammlungen der Reformzeit und ihre „Adressaten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Florian Hartmann Kommunikation im Wandel. Ergebnisse, Ausblick und Desiderate . . . . . . . . 381
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Register der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
Vorwort Ein durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt von Prof. Dr. Matthias Becher in Kooperation mit dem Herausgeber über „Rhetorik und Öffentlichkeit im Investiturstreit“ war Ausgangspunkt und Anlass, die im Kontext der vielschichtigen epochalen Auseinandersetzungen des 11. Jahrhunderts entstandenen Schriften einer wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen. Um der Polyphonie der Texte gerecht zu werden, schien der Zugriff durch ein Kollektiv an Forscherinnen und Forschern vielversprechend. Dieses Gemeinschaftsprojekt wurde im Februar 2014 auf einer öffentlichen Konferenz in Bonn umgesetzt. Die lebhaften Diskussionen haben das Potenzial und die aktuelle Bedeutung des alten Themas deutlich gemacht, Forschungsdesiderate offengelegt und zu weiterführenden Fragestellungen angeregt. Allen Diskutanten sei an dieser Stelle für ihr Engagement aufrichtig gedankt. Mit der vorliegenden Publikation werden die Ergebnisse nun einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Den Referenten ist für ihre Bereitschaft zu danken, die Vortragsmanuskripte für die Publikation zu überarbeiten und bisweilen um weiterführende Überlegungen zu ergänzen. Die Durchführung der Tagung und die Drucklegung der Beiträge wären ohne die Unterstützung vieler nicht möglich gewesen. Der Deutschen Forschungs gemeinschaft sowie der Deutschen Post AG ist für die finanzielle Unterstützung zu danken. Ferner haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DFG-Projektes von Matthias Becher in Bonn, Dr. Eugenio Riversi und Anna-Lisa Schroll, maßgeblich zur reibungslosen Durchführung der Tagung beigetragen. Die dabei von Matthias Becher gewährten Hilfen und Freiheiten sind kaum hoch genug einzuschätzen. Bei der redaktionellen Bearbeitung und Durchsicht der eingereichten Beiträge hat zudem das Team des Lehrstuhls für Mittlere Geschichte an der RWTH Aachen hervorragende Arbeit geleistet. Dafür gebührt ihm und dem Lehrstuhl inhaber Prof. Dr. Harald Müller aufrichtiger Dank. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Papsttum im mittelalterlichen Europa“ ist den Herausgebern Jochen Johrendt und Harald Müller zu danken. Die Zusammenarbeit mit ihnen sowie mit dem Böhlau Verlag, namentlich Julia Beenken und Dorothee Rheker-Wunsch, war stets sehr angenehm und fruchtbar. Bonn, im Mai 2016
Florian Hartmann
Kommunikation im Wandel Medien, Autoren und Kontexte in den Debatten des Investiturstreits Eine Einführung Florian Hartmann Dass das 11. Jahrhundert von einem vielfältigen Wandel geprägt war, ist auch jenseits der Debatte um die Bedeutung des Canossaganges unbestritten1. Kirchenreform, Investiturstreit, der Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum sowie die insgesamt lang andauernden, bisweilen auch militärischen Auseinandersetzungen im Reich sind dafür nur die prominentesten Symptome. Strukturell wesentlich folgenreicher waren die rapide Bevölkerungszunahme, das neue Selbstbewusstsein der Städte, die Formierung der Ministerialität, das Aufleben wirtschaftlichen Handels und ein vielfältiger Mentalitätswandel, der auf lange Sicht mit zunehmender Rationalität, Dynamik und Vielfalt verbunden war2. Das in diesem Kontext zu verortende 1 So schon sehr prägnant Tilman Struve, Die Wende des 11. Jahrhunderts. Symptome eines Epochenwandels im Spiegel der Geschichtsschreibung, in: HJb 112 (1992), S. 324–365; Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge 1994, S. 4: “The years between about 1040 and 1160 were a period of intense, rapid, and to a high degree self-conscious change in almost all aspects of human thought and activity”; vgl. an weiterer Literatur zu diesen Wandlungsprozessen Karl Leyser, Am Vorabend der ersten europäischen Revolution. Das 11. Jahrhundert als Umbruchszeit, in: HZ 257 (1993), S. 1–26; Cinzio Violante, Johannes Fried (Hg.), Il secolo XI: una svolta?, Bologna 1993 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico 35); Robert I. Moore, The First European Revolution, c. 970–1215, Oxford 2000; Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung, München 2006 (MittelalterStudien, 13); Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007. 2 Vgl. die einzelnen Beiträge in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich. Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1992; zudem Stefan Weinfurter, Das Jahrhundert der Salier (1024–1125), Ostfildern 2004, S. 67–88; Klaus Herbers, Einführung: Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, Stuttgart 2001, S. 9–22, sowie weitere Beiträge aus demsel-
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Ringen zwischen dem Reformpapsttum und weltlichen Herrschern hatte als Folgeerscheinung weit reichende Konsequenzen. Allerdings wurde die Relevanz der Investiturfrage im engeren Sinn schon vor Längerem relativiert, zugleich aber betont, dass mit dieser zunehmend grundsätzlichen Auseinandersetzung das Verhältnis zwischen König, Kirche und Papst neu definiert worden sei3. Das gilt freilich auch, wenn der Gang nach Canossa nicht als Ursache für die vielfältigen Wandlungen des 11. Jahrhunderts verstanden wird, sondern als ein Symptom. Gleichwohl hat nicht zuletzt die neu belebte Debatte um die Ereignisse des Jahres 1077 den Fokus einmal mehr auf die politischen Entwicklungen gelenkt, auf Absichten und Strategien von Papst, König und Fürsten4. In den Hintergrund rücken dadurch solche Fragen, welche die kommunikative Situation ernst nehmen, nach Medien und Mitteln der Auseinandersetzung fragen, nach ihrer räumlichen Dimension und nach den argumentativ und inhaltlich relevanten Veränderungen, die sich in diesem Kontext erkennen lassen. Dieser Befund überrascht umso mehr, als der Prozess bekanntlich begleitet war von einem bemerkenswerten Aufleben schriftlicher Kommunikation, das schon ben Band; zur Bewertung des 11. Jahrhunderts als Epoche des Wandels vgl. auch Thomas Wetzstein, Europäische Vernetzungen. Straßen, Logistik und Mobilität in der späten Salierzeit, in: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa, Darmstadt 2007, S. 341–370, S. 341; aus angelsächsischer Perspektive Kathleen G. Cushing, Reform and Papacy in the eleventh century. Spirituality and social change, Manchester, New York 2005. 3 Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König, Stuttgart 1981 (Schriften der MGH, 28); zu den ideellen Grundlagen vgl. Johannes Laudage, Priesterbild und Reformpapsttum im 11. Jahrhundert, Köln, Wien 1984 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 22); Johannes Laudage, Nochmals: Wie kam es zum Investiturstreit?, in: Vom Umbruch zur Erneuerung (wie Anm. 1), S. 134–150. 4 Zur immer noch andauernden Debatte um die Bedeutung des Canossa-Ganges vgl. an jüngerer Literatur vor allem Johannes Fried, Der Pakt von Canossa. Schritte zur Wirklichkeit durch Erinnerungsanalyse, in: Wilfried Hartmann, Klaus Herbers (Hg.), Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter, Köln, Weimar, Wien 2008 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii, 28), S. 133–197; Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012; kritisch dazu die Rezensionen von Jürgen Dendorfer, Claudia Zey, Matthias Becher, Hans-Werner Goetz und Ludger Körntgen unter http://www.sehepunkte.de (zuletzt eingesehen am 18.03.2016), Jahrgang 2013/01; Hartmut Hoffmann, Canossa – eine Wende?, in: DA 66 (2010), S. 535–568; Rudolf Schieffer, Worms, Rom und Canossa (1076/77) in zeitgenössischer Wahrnehmung, in: HZ 292 (2011), S. 593–612; zuletzt Gerd Althoff, Das Amtsverständnis Gregors VII. und die neue These vom Friedenspakt in Canossa, in: Frühmittelalterliche Studien 48 (2014), S. 261–276.
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mit dem Reformpapsttum um die Mitte des 11. Jahrhunderts begonnen hatte, und von einer bemerkenswerten Ausweitung der in dieser Kommunikation erfassten Öffentlichkeit5. Selbst wenn also etwa in „der englischsprachigen Mediävistik dem Kaiser-Papst-Konflikt keine Schlüsselrolle mehr für das Verständnis der sozialen, kulturellen und politischen Wandlungsprozesse des Hochmittelalters [zugewiesen wird]“6, so war dennoch das mit dem Konflikt verbundene Schriftgut ein unverkennbares Kennzeichen eines bemerkenswerten Wandels. Zugleich sind die dadurch in erstaunlicher Zahl auf uns gekommenen Quellen ein Glücksfall für die Historiker. Es ist demnach richtig, wenn Ludger Körntgen forderte: „Die deutsche Forschung sollte sich insbesondere für das internationale Gespräch endgültig aus der Suggestionskraft alter Konzepte befreien, im Investiturstreit insgesamt oder auch nur im Bußgang von Canossa die eine wesentliche Ursache für den Aufbruch hochmittelalterlicher Rationalität oder weitreichende soziale und politische Differenzierungsprozesse zu sehen.“7 Solch monokausale Ansätze greifen sicher zu kurz, verwechseln eventuell auch Ursache und Wirkung; und dennoch haben diese Kon5 Vgl. zur zunehmenden Schriftlichkeit und der damit verbundenen Ausprägung neuer Kommunikationsräume Thomas Wetzstein, Wie die urbs zum orbis wurde. Der Beitrag des Papsttums zur Entstehung neuer Kommunikationsräume im europäischen Hochmittelalter, in: Jochen Johrendt, Harald Müller (Hg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin, New York 2008 (Neue Abh. Göttingen, N.F., 2), S. 47–75; zur Bedeutung der Öffentlichkeit im 11. Jahrhundert vgl. Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: HZ 154 (1936), S. 491–512; dazu die Kritik von Monika Suchan, Publizistik im Zeitalter Heinrichs IV. – Anfänge päpstlicher und kaiserlicher Propaganda im ,Investiturstreit‘, in: Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2002, S. 29–45; ferner Oliver Münsch, Fortschritt durch Propaganda? Die Publizistik des Investiturstreits zwischen Tradition und Innovation, in: Jarnut, Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? (wie Anm. 1), S. 151–167; Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030–1122), Leiden, Boston 2007 (Brill’s Studies in Intellectual History, 154/1–2). 6 Ludger Körntgen, Rezension von: Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/01/21983.html (zuletzt eingesehen am 18.03.2016); vgl. Ludger Körntgen, Der Investiturstreit und das Verhältnis von Religion und Politik im Frühmittelalter, in: Ludger Körntgen, Dominik Wassenhoven (Hg.), Religion and Politics in the Middle Ages. Religion und Politik im Mittelalter. Germany and England by Comparison. Deutschland und England im Vergleich, Berlin 2012, S. 89–115, bes. S. 91f.; Stuart Airlie, A View from Afar. English Perspectives on Religion and Politics in the Investiture Conflict, ebd., S. 71–88, bes. S. 71–73. 7 Körntgen, Rezension (wie Anm. 6).
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zepte die Forschung nachhaltig geprägt. Man denke an Harold Bemann der 1983 in seiner einflussreichen Studie „Law and Revolution“ die westliche Rechtstradition auf den Investiturstreit zurückführte8. Oder an Ronald Witt, der 2012 in seiner sehr gelehrten Abhandlung „The Two Latin Cultures and the Foundation of Renaissance Humanism in Medieval Italy“ genau diese epochale Wirkung des Investiturstreits starkmacht: In der Verbindung von Investiturstreit, Entstehung der Kommunen und Verbreitung von Rechts- und Rhetorikschulen für Laien sieht Witt den Ursprung der Renaissance. Denn aus dem Investiturstreit folge die Dominanz einer „legal-rhetorical mentality“9. In dieser Stringenz ist diese These wohl überzogen; sie reduziert die vielfältigen Wandlungen des 11. und 12. Jahrhunderts einseitig auf den Investiturstreit und auf die damit verbundenen Streitformen und Streitschriften. Doch erlauben die in diesem Streit in ganz vielfältiger Form produzierten Texte einen hervorragenden Einblick in die kommunikative Situation, die als solche bislang kaum im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand. Seit Carls Mirbts Pionierstudie liegt keine umfassende Arbeit zum Schriftgut im Kontext der Auseinandersetzungen um 1100 mehr vor10. Der vorliegende Band soll auf diesem Feld Anreize und Anregungen geben. Die folgenden Ergebnisse einer im Frühjahr 2013 in Bonn ausgerichteten Tagung leisten dazu aus unterschiedlichen Perspektiven ihren Beitrag. Die Deutungen des Investiturstreits sind immer noch umstritten und sie unterlagen in den letzten Jahrhunderten allzu oft dem Zeitgeist. Johannes Fried hat am Beispiel des Gangs nach Canossa sehr anschaulich die Interpretationen aus den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten überzeugend als bisweilen überaus zeitgebunden entlarvt11. Nicht nur Canossa, sondern insgesamt der Investiturstreit 8 Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt am Main 1991. 9 Ronald Witt, The two Latin cultures and the foundation of Renaissance humanism in medieval Italy, Cambridge 2012. 10 Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894; vgl. aber eine Reihe von Beiträgen von Oliver Münsch, Fortschritt durch Propaganda? Die Publizistik des Investiturstreits zwischen Tradition und Innovation, in: Vom Umbruch zur Erneuerung (wie Anm. 1), S. 151–167; Münsch, Heuchlerischer Tyrann oder Opfer päpstlicher Willkür? Die Darstellung Heinrichs IV. in publizistischen Texten des Investiturstreits, in: Tilman Struve (Hg.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln 2008, S. 173–205; Münsch, Die Orthodoxa defensio imperialis. Ein Beitrag zur Publizistik des Investiturstreits, in: Thomas Martin Buck (Hg.), Quellen, Kritik, Interpretation. Festgabe zum 60. Geburtstag von Hubert Mordek, Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 135–154; Münsch, Tiersymbolik und Tiervergleiche als Mittel der Polemik in Streitschriften des späten 11. Jahrhunderts, in: HJb 124 (2004), S. 3–43. 11 Vgl. dazu die in Anm. 4 genannte Literatur.
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hat stets neue Interpretationen erfahren. Rudolf Schieffer stellt diese Komplexität der immer neuen Deutungen des Investiturstreits systematisch vor. Die Erforschung dieser wechselvollen Periode europäischer Geschichte wird durch eine vielfältige und umfangreiche Quellenlage erleichtert und bereichert. Die in dem damaligen Kontext verfassten Briefe, Traktate, Heiligenviten, historiographischen Werke und Texte vieler anderer Gattungen, die manche kollektiv unter dem Titel Streitschriften subsumieren, stellen einen Glücksfall für die Historiker dar: Denn sie erlauben einen ganz spezifischen Einblick in die Gedanken, Argumente und Mentalitäten jener Elite, der die Umbrüche ihrer eigenen Gegenwart durchaus bewusst waren12. Und gleichwohl gibt es auch hinsichtlich dieser Texte mehr Fragen als Antworten: Versuche von Monika Suchan, den heute als Streitschriften bekannten Texten statt der zuvor postulierten Propaganda die Funktion zuzuweisen, Streitpartner auf Verhandlungssituationen vorzubereiten, wurden in der Forschung kaum überschwänglich aufgenommen13. Die Frage nach der Funktion und damit nach den Empfängern der Texte ist also neu zu stellen. Ob dafür Öffentlichkeit der richtige Begriff ist, und was Öffentlichkeit meint, bleibt auch nach der magistralen Studie Leidulf Melves in Teilen noch unklar14. Die Öffentlichkeit, oder besser: die Adressaten eines Textes sind wohl eher in jedem Einzelfall neu zu definieren. Verallgemeinerungen verbieten sich. Damit ist das große, erst jüngst wieder aufgegriffene Problemfeld mittelalterlicher Öffentlichkeit insgesamt angesprochen15. An dem Begriff der Öffentlichkeit oder Publizistik ist, ebenso wie an jenem der Propaganda, für jene Zeit mit dem Hinweis auf den begrifflichen Anachronismus Kritik geäußert worden.16 Das hat auch historische Gründe. Denn der geschichtswissenschaftliche Habitus des 19. Jahrhunderts und der Zeit des Nationalsozialismus hatte bekanntlich einen Gegensatz zwischen Mittelalter und Moderne konstruiert. Dieses Alteritätsparadigma fand in der mittelalterlichen Unfähigkeit, Öffentliches und Privates zu trennen, seinen vermeintlichen Beleg. Diese in der „Mittelaltermythisierung“17 wurzelnde Vorstel12 Constable, Reformation (wie Anm. 1), S. 4. 13 Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit, Stuttgart 1997 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 42). 14 Melve, Public Sphere (wie Anm. 5). 15 Vgl. dazu und zum Folgenden den exzellenten Überblick bei Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Peter von Moos, Gert Melville (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln 1998 (Norm und Struktur 10), S. 3–83, bes. S. 11–19. 16 So vor allem von Suchan, Publizistik (wie Anm. 5). 17 Ebd. S. 12.
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lung wurde durch Otto Brunner gewissermaßen kanonisiert18. Ausgerechnet Jürgen Habermas, der gewiss nicht im Verdacht steht, den Denkidealen des Nationalsozialismus nahezustehen, verhalf der ideologisch belasteten Dichotomie zwischen mittelalterlicher und moderner Öffentlichkeit zur weiteren Verbreitung, stützt er sich doch in seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit auf die Thesen Otto Brunners19. Brunner und Habermas also Seite an Seite, wenn auch mit unterschiedlichen Bewertungen: Für den einen war die moderne Trennung von Öffentlichem und Privatem das – traurige – Aufbrechen völkisch-gemeinschaftlicher Einheit, für den anderen liberale Befreiung aus ideologischer Totalität20. Das Mittelalter wurde bei beiden zur – hier negativen, dort positiven – Kontrastfolie, ohne dass die Vorstellungen mit dem mittelalterlichen Quellenmaterial angemessen abgeglichen worden wären. Das Paradigma von Brunner und Habermas blieb dennoch wirkmächtig. Vor einigen Jahren hat schließlich Leidulf Melve im Investiturstreit unter Rückgriff auf die habermassche Semantik eine spezifisch vormoderne Ausprägung von Öffentlichkeit nachgezeichnet, die freilich im Wesentlichen aus einem kleinen elitären Kreis von im Lateinischen versierten Klerikern bestanden und nur selten eine halbelitäre Gruppe erreicht habe21. Fast zeitgleich hat Steffen Patzold die Gerüchte und Vorwürfe gegen Heinrich IV. in den Blick genommen und ihre schriftliche Verbreitung als Aufgreifen der bereits vorher umlaufenden Gerüchte und Diskurse in einer weiter zu fassenden Öffentlichkeit gedeutet22. Er hat damit die vornehmlich auf die schriftliche Kommunikation der Zeit ausgerichteten Analysen der Forschung um die Bedeutung und Funktion der Gerüchte erweitert. Es ist darum folgerichtig, dass sich mit Oliver Münsch einer der besten Kenner der Streit18 Vor allem Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Wien 1939; 4. überarbeitete Auflage 1959, bes. S. 510; vgl. zu Otto Brunner aus der inzwischen sehr reichen Literatur Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne: Mittelalter beschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Susanna Burghartz (Hg.), Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen 1992, S. 125–153. 19 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M 132013, S. 58–60; vgl. dazu Rüdiger Brandt, Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter, München 1993, S. 29ff. 20 Vgl. von Moos, Das Öffentliche (wie Anm. 15), S. 12–14. 21 Melve, Public Sphere (wie Anm. 5). 22 Steffen Patzold, Die Lust des Herrschers. Zur Bedeutung und Verbreitung eines politischen Vorwurfs zur Zeit Heinrichs IV., in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen, 69), S. 219–253.
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schriften und ihrer Öffentlichkeit in diesem Band dezidiert der Aufgabe stellt, die damals virulenten Gerüchte in den Blick zu nehmen. Die erwähnten Texte und die vermeintliche Einbindung einer Öffentlichkeit gewannen ihre spezifische Bedeutung erst im Kontext einer allgemeinen Intensivierung europäischer Kommunikation. Erst unter der Verdichtung und Homogenisierung des lateineuropäischen Raumes, den schon Timothy Reuter nachdrücklich angesprochen und zuletzt Jochen Johrendt und Harald Müller im europäischen Zugriff erfasst haben, ist dieser Wandel überhaupt möglich gewesen23. Die „kommunikative Erschließung des orbis durch den Papst“, wie es Thomas Wetzstein bezeichnete24, bildete den Nährboden für die Verbreitung der in den damaligen religiösen und politischen Auseinandersetzungen vorherrschenden Argumente, Quellen und insgesamt der einflussreichen Texte. Die rapide Zunahme päpstlicher Briefe vom 11. bis zum 12. Jahrhundert, die Ernst-Dieter Hehl statistisch erfasst hat25, diente den Reformpäpsten zur weiteren Verbreitung ihrer Reformziele in ganz Europa26. Europa, so könnte man sagen, rückte näher zusammen, und diese 23 Vgl. Timothy Reuter, Ein Europa der Bischöfe. Das Zeitalter Burchards von Worms, in: Winfried Hartmann (Hg.), Bischof Burchard von Worms 1000–1025, Mainz 2000 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 100), S. 1–28, hier S. 7; Alfons Becker, Das 12. Jahrhundert als Epoche der Papstgeschichte, in: Ernst-Dieter Hehl u. a. (Hg.), Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen 6), S. 293–323, hier S. 298f.; Johrendt/Müller (Hg.), Römisches Zentrum (wie Anm. 5). 24 Wetzstein, urbs, (wie Anm. 5), S. 54. 25 Ernst-Dieter Hehl, Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts. Einleitende Bemerkungen zu Anforderungen und Leistungen, in: Ernst Dieter Hehl, Ingrid Heike Ringel u. a. (Hg.), Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen, 6), S. 9–23, S. 9f.; vgl. mit ganz ähnlichen Befunden auch Hubertus Seibert, Kommunikation – Autorität – Recht – Lebensordnung. Das Papsttum und die monastische-kanonikale Reformbewegung (1046–1124), in: Vom Umbruch zur Erneuerung? (wie Anm. 1), S. 11–29, bes. S. 14f.; Rudolf Hiestand, Die Leistungsfähigkeit der päpstlichen Kanzlei im 12. Jahrhundert mit einem Blick auf den lateinischen Osten, in: Peter Herde/ Hermann Jakobs (Hg.), Papsturkunden und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert, Köln 1999 (Beihefte zum Archiv für Diplomatik, 7), S. 1–26, bes. S. 3ff. 26 Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: HJb 122 (2002), S. 27–41; Schieffer., Gregor VII. und die Könige Europas, in: La riforma Gregoriana e l’Europa, Roma 1989 (Studi Gregoriani, 13), S. 189–211; Schieffer, Die päpstliche Kurie als internationaler Treffpunkt des Mittelalters, in: Claudia Zey/ Claudia Märtl (Hg.), Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, Zürich 2008, S. 23–39, bes. S. 29; vgl. auch Wetzstein, urbs, (wie Anm. 5), S. 54, mit weiteren Angaben.
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kommunikative Verdichtung dürfte letztlich auch die Kommunikation und Mobilität weiterer Kreise angeregt haben. In diesem weiteren Kontext ist die Kommunikation des Investiturstreits zu verorten. Vor diesem Hintergrund erhöhte beispielsweise die Exkommunikation Heinrichs IV. nur noch den Informationsbedarf, denn der Umgang mit Exkommuni�zierten war verboten, Verträge mit ihnen ungültig. Die Durchsetzung der Exkommunikation konnte also letztlich nur den Gläubigen, der Glaubensgemeinschaft durch ihr Handeln zufallen. Sie mussten den Kontakt vermeiden. Der Erfolg der Exkommunikation hing also maßgeblich von der Reaktion der Gläubigen, wenn man will: von der Öffentlichkeit ab. Fiel es jedem Einzelnen zu, über die Rechtmäßigkeit der Exkommunikation zu urteilen und daraus seine Konsequenzen abzuleiten, so mussten Beurteilungskriterien eingeholt und evaluiert werden. Denn es hatte unter Umständen Konsequenzen, sich dem päpstlichen Diktum zu widersetzen27. Es sind zwei Seiten derselben Medaille: Informationsbedarf und kommunikative Einflussnahme, die man früher Propaganda oder Publizistik nannte. Gefördert wurde die Möglichkeit der Informationsverbreitung durch vielfältige Instrumente der Netzwerkbildung wie Kathedralschulen und Schulfreundschaften, Klosterverbände, Konzilientätigkeit und so weiter. Im Wesentlichen profitierten also Geistliche von einem räumlich immer weiter ausgreifenden Netzwerk. Die kommunikative Erschließung erschöpft sich nicht in der Zunahme schriftlicher Kommunikation. Schon unter Leo IX. wurde mit der raschen Zunahme der Konzilien insgesamt Mobilität gefördert28, so wie dann unter Alexander II. und verstärkt unter Gregor VII. mittels der obligatorischen Pallienreisen29. Harald Müller hat zudem nachdrücklich die Rolle der Delegationsgerichtsbarkeit als eines
27 Vgl. Heike Johanna Mierau, Exkommunikation und Macht der Öffentlichkeit: Gerüchte im Kampf zwischen Friedrich II. und der Kurie, in: Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Forschung zur Geschichte des Mittelalters, 6), S. 47–80, hier S. 71. 28 Vgl. Thomas Wetzstein, Zur kommunikationsgeschichtlichen Bedeutung der Kirchenversammlungen des hohen Mittelalters, in: Gisela Drossbach/Hans-Joachim Schmidt (Hg.), Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen im Mittelalter, Berlin, New York 2008 (Scrinium Friburgense, 22), 247–297; zur Mobilität Leos IX. selbst Jochen Johrendt, Die Reisen der frühen Reformpäpste – ihre Ursachen und Funktionen, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 96 (2001), S. 57–94. 29 Vgl. Wetzstein, urbs, (wie Anm. 5), S. 67f.
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der Instrumente zur kommunikativen Verdichtung Europas betont30. War also die persönliche Anwesenheit oder zumindest die Anwesenheit von Legaten und delegierten Richtern im 11. Jahrhundert der entpersonalisierten, rein schriftlichen Kommunikation noch überlegen? Dreh- und Angelpunkt dieser Kommunikation jedenfalls war Rom, wie Thomas Wetzstein diagnostizierte: Rom, und allein Rom, erschloss sich damals neue Kommunikationsräume, sorgte so für die Inte gration peripherer Räume in den lateinischen orbis Christianus31. Im Zusammenspiel von Gerüchten, Öffentlichkeit und persönlicher Mobilität mit der Erschließung neuer Kommunikationsräume rücken die so genannten Streitschriften in den Blick, mit dem wirkmächtigen Titel Libelli de lite in drei Bänden bei den MGH ediert32. Wie schwer Funktion, Gestalt oder Definition dieser heterogenen Texte zu fassen sind, erkennt jeder schon bei der ersten Lektüre. Eine Typologisierung fällt schwer. So ist wohl eine Schwäche der ansonsten sehr überzeugenden Studie von Leidulf Melve, dass er im Wesentlichen vier Texte in der Tiefe analysiert, deren Repräsentativität für die Streitschriften insgesamt erst noch zu erweisen wäre33. Umso erstaunlicher muten andere Versuche an, wie jener von Monika Suchan, für diese uneinheitliche Gattung eine einheitliche Funktion zu postulieren. Viel wichtiger ist es, die Pluralität dieser Texte in Einzelstudien zu erfassen. Gleichwohl bleibt es analytisch wichtig, das weite Feld diese Texte zu kartographieren. Christian Heinrich unternimmt hier diese Aufgabe, verbunden mit dem Versuch, eine Definition der Gattung „Streitschrift“ vorzulegen. Zunächst ist es also wohl erforderlich, vor dem Hintergrund jüngerer Arbeiten über die Propaganda des Investiturstreits oder über die erstmalige Einbindung von Öffentlichkeiten zurückzutreten. Denn die alte Vorstellung von einer einheitlichen Gattung Libelli de lite ist nicht folgenlos geblieben. Diese durch die MGH-Edition sicher begünstigte Vorstellung hatte Auswirkungen auch auf die weitere Erforschung dieser vermeintlich homogenen Textgattung. So seien durch den Investiturstreit DIE Streitschriften komplexer geworden, sowohl in ihrer stilistischen Ausschmückung als auch in ihrer logischen und rechtlichen Argumentation: Statt der tradi30 Harald Müller, Entscheidung auf Nachfrage. Die delegierten Richter als Verbindungsglieder zwischen Kurie und Region sowie als Gradmesser päpstlicher Autorität, in: Römisches Zentrum (wie Anm. 5), S. 109–131. 31 Vgl. nochmals Wetzstein, urbs, (wie Anm. 5); vgl. auch Schieffer, Motu proprio (wie Anm. 26). 32 MGH. Libelli de lite imperatorum et pontificum saeculis XI et XII conscripti, MGH 3 Bde., Hannover 1891–1897. 33 Weitere Kritikpunkte sind versammelt bei Georg Strack, Sehepunkte 9 (2009), Nr. 12, http://www.sehepunkte.de/2009/12/17232.html (zuletzt eingesehen am 18.03.2016).
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tionellen antik-paganen Grammatik und Logik, die unter den Reformern an Bedeutung verloren habe, habe nun eine eigene Rhetorik unter Anwendung des kanonischen Rechts als argumentative Waffe gedient34. Dagegen meinte Monika Suchan, im Verlauf des Investiturstreits lasse sich bei der Art und Methode zu streiten kein Fortschritt erkennen35. Auch diese These scheint wohl zu simpel und vereinfachend, wenngleich es schwierig ist, angesichts der Individualität der Streitschriften generelle Entwicklungen nachzuzeichnen. Ehe man eine kontinuierliche Entwicklung zunehmender Rationalität im Gefolge des Investiturstreits postuliert, wären aber zunächst Vergleichsparameter zu benennen. Zu wenig wurde bei dem Vergleich zwischen Streitschriften die je spezifische Tradition beachtet, der die jeweiligen Entstehungskontexte verpflichtet waren. Die Rhetorik eines Petrus Damiani wurde auch von Autoren zum Anfang des 12. Jahrhunderts nur selten erreicht36. Was aber bedeutet das für die Entwicklung einer longue durée? Hier heißt es zunächst, die Charakteristika einzelner Kontexte zu erfassen, jedenfalls aber als solche wahrzunehmen. Dieser Verpflichtung dienen die Beiträge des zweiten Themenbereiches mit einem Blick auf Kontexte der Textproduktion im Einzelnen und ohne den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Dabei rücken primär die Briefe in den Fokus. Denn das wohl wichtigste Genre unter den Streitschriften waren Briefe. Ihre Bedeutung wird in der rasanten Zunahme der erhaltenen Briefsammlungen im 11. Jahrhundert sichtbar37. Hinzu treten die zahlreichen rhetorischen Briefsammlungen, die den Bedarf an einer Schulung in der Briefrhetorik belegen. Und nicht zuletzt erfand man damals in Rom auch noch die ersten theoretischen Lehrbücher darüber, wie man Briefe überhaupt verfasst: die 34 Vgl. Witt, Two Latin Cultures (wie Anm. 9). 35 Suchan, Königsherrschaft (wie Anm. 13), S. 238, u.ö. 36 Vgl. auch die Rezeption Pseudoisidors in den kanonistischen Sammlungen des 11. Jahrhunderts. Wilfried Hartmann hat hier gezeigt, dass eine eindimensionale Entwicklung gerade nicht zu konstatieren ist, sondern dass der Anteil pseudoisidorischer Texte zunächst zwar zunehmend steigt bis zu einem Anteil von 47% in der so genannten 74–Titel-Sammlung, um dann aber schnell wieder zu sinken auf den Stand des Dekrets Burchards von Worms; vgl. Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit. Autoritätenwechsel und Überzeugungsstrategien in der späteren Salierzeit, in: Salisches Kaisertum (wie Anm. 1), S. 65–84, bes. S. 70–72. 37 Zu den Briefsammlungen des 11. Jahrhunderts immer noch Grund legend Carl Erdmann, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert, Leipzig 1936 (MGH Schriften, 1); vgl. auch den konzisen Überblick bei Roland Zingg, Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070–1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte, Köln, Weimar, Wien 2012 (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 1), S. 64–67.
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ars dictaminis38. All das belegt, wie wichtig der Brief im 11. Jahrhundert genommen wurde. Aber Brief ist nicht gleich Brief – und so scheint es angebracht, zunächst einmal unterschiedliche Kontexte der Briefproduktion separat in den Blick zu nehmen. Das geschieht in den Beiträgen von Jochen Johrendt über die päpstliche Kanzlei, von Gerhard Lubich zur Kanzlei Heinrichs IV. und Heinrichs V. und von Matthias Schroer über die Briefsammlungen im Umfeld der Reichsbischöfe. Zu diesem Komplex zählt auch die von Matthias Becher behandelte briefliche, bisweilen provokante oder vielleicht nur missverständliche Kommunikation zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. Erfassen diese zuletzt genannten Beiträge also die unterschiedlichen Kontexte der Textproduktion separat, so geht ein dritter Themenkomplex von unterschiedlichen Genres aus. Streitschriften können alle möglichen Textsorten sein. Gerade das erschwert bisher alle Versuche, dieser Gattung seit Carl Mirbt eine Monographie zu widmen39. Um diese Pluralität als solche zu betonen, werden in einem dritten Themenblock sehr unterschiedliche Gattungen präsentiert, die jede auf ihre Art symptomatisch ist für die Kommunikation während des Investiturstreits. Nicol angelo d’Acunto und Roland Zingg behandeln zwei der bedeutendsten Brief autoren der Zeit in Europa: Petrus Damiani und Anselm von Canterbury. Das Besondere sind im zweiten Fall nicht nur die Briefe, sondern auch ihre systematische Sammlung40. Mit Sigebert von Gembloux lässt Wilfried Hartmann jemanden zu Wort kommen, der wie wenige andere für die Traktate oder Streitschriften im engeren Sinn steht und darüber hinaus die Geschichtsschreibung im Streit prägte41. Fast ebenso vielseitig wie Sigebert im nordalpinen Reich war in Italien Ranger von Lucca, dem Eugenio Riversi hier eine detailreiche Studie widmet. Neben Briefen und Traktaten als Formen schriftlicher Kommunikation sind viel stärker als bisher auch die Formen mündlicher Kommunikation zu berücksichtigen. Insbesondere die Predigten verdienen besondere Aufmerksamkeit, die Georg Strack in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Die Formen der Beteiligung am Streit waren vielseitig: schriftlich und mündlich, in Predigten, kurzen Briefen und langen Traktaten, als privates und öffentliches Rundschreiben. Nachweislich nahm die Zahl der Schriften erheblich zu. Auch die 38 Vgl. Florian Hartmann, Das Enchiridion de prosis et rithmis Alberichs von Montecassino und die Flores rhetorici, in: QFIAB 89 (2009), S. 1–30. 39 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 10). 40 Vgl. Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 37). 41 Vgl. den Überblick von Jutta Krimm-Beumann, Sigebert von Gembloux OSB, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., 8, Berlin, New York 1992, Sp. 1214–1231.
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Argumentation wurde geschärft. Zu verweisen wäre auf die neuartige Gewichtung der Autoritäten bei Bernold von Konstanz42. Hinzu tritt der vermeintliche Beginn der Scholastik. Neuartig sei zudem der Verweis auf historische Präzedenzfälle43. Dass man bei der Suche nach historischen Präzedenzfällen nicht nur in der fernen Vergangenheit suchte, bei Theodosius I. und Ambrosius etwa, oder bei Zacharias und Childerich im Jahr 751, zeigt in ihrem Beitrag Anja-Lisa Schroll. Das damals gut 20 Jahre zurückliegende Cadalus-Schisma wurde neu gedeutet, als seit der Erhebung Wiberts von Ravenna zu Papst Clemens (III.) im Jahr 1080 und vor allem seit seiner Inthronisation 1084 erneut ein Schisma die katholische Welt entzweite: Vergangenheitsbewältigung als Kontingenzbewältigung. Mag der Umgang mit der Geschichte als Magistra vitae bzw. als Iudex partium auch innovativ gewesen sein: DAS Instrument der Argumentation war – neben der Heiligen Schrift – das kanonische Recht. Pseudo-Isidor wurde in bis dahin unbekanntem Maß rezipiert44, die kanonistischen Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts fanden gerade damals Verbreitung. Bekanntlich wurde bei der Zusammenstellung der Sammlungen im Investiturstreit der Urtext bisweilen bewusst verfälscht45. Die Rezeption der alten Texte war also immer auch deren Anverwandlung an aktuelle Fragen. Klaus Herbers erörtert den zeitgebundenen Umgang mit 42 Vgl. dazu Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit (wie Anm. 36), S. 76; vgl. schon Hartmann, Autoritäten im Kirchenrecht und Autorität des Kirchenrechts in der Salierzeit, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich, 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1992, S. 425–446. 43 Jürgen Ziese, Historische Beweisführung in Streitschriften des Investiturstreites, München 1972 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung, 8), Hans-Werner Goetz, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 31–69; Stefan Beulertz, Das Verbot der Laieninvestitur im Investiturstreit (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 2), Hannover 1991, S. 8f. Beispielhaft ist der Bezug auf Karl den Großen, vgl. Oliver Münsch, Das Bild Karls des Großen in der Publizistik des Investiturstreits, in: Oliver Münsch, Thomas Zotz (Hg.), Scientia veritatis. Festschrift für Hubert Mordek, Ostfildern 2004, S. 311–326; Matthias Becher, Nunquam enim eum imperiali legimus auctum fuisse potestate. Das Bild Karls des Großen im Investiturstreit, in: Franz Fuchs, Dorothea Klein (Hg.), Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Akten eines interdisziplinären Symposions anlässlich des 1200. Todestages Kaiser Karls des Großen, Würzburg 2015 (Rezeptionskulturen in Literatur und Mediengeschichte, 1), S. 79–91. 44 Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit (wie Anm. 36), S. 70–72. 45 Vgl. Ute Renate Blumenthal, Fälschungen bei Kanonisten der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Gemaniae Historica München, 16.–19. September 1986, Teil II: Gefälschte Rechtstexte. der bestrafte Fälscher, Hannover 1988 (MGH Schriften 33, II), S. 241–262.
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den frühmittelalterlichen Briefen insbesondere des 9. Jahrhunderts. Auf Grund der hier erkennbaren Bedeutung der Kanonistik darf ein Beitrag zu den kanonistischen Sammlungen nicht fehlen. Lotte Kéry zeigt, dass die kanonistischen Sammlungen des 11. Jahrhunderts nicht beliebig zusammengestellt, sondern mit bewussten Anpassungen an aktuelle Bedürfnisse und Adressatenkreise neu zusammengestellt wurden. Die Vielfalt der in den folgenden Beiträgen angesprochenen Text- und Quellengattungen ist keinesfalls zufällig gewählt. Schließlich soll der Band zur Diskussion über Funktion und Einfluss, über Argumentation, Wirkung und Empfänger der damals produzierten Texte einen differenzierten Beitrag leisten. Der Vorteil gegenüber manchen älteren Forschungen liegt hier in der Möglichkeit, im Kollektiv, im gemeinsamen Zugriff vieler Experten an diese komplexen Texte heranzutreten und dabei ihre Individualität anzuerkennen. Seit Carl Mirbt hat sich niemand mehr an die im Investiturstreit entstandenen Texte in ihrer Gesamtheit gewagt. Mögen die folgenden Beiträge Ansporn sein, diese Arbeit wieder aufzunehmen.
Deutungen des Investiturstreits Rudolf Schieffer In einem „Blick von weitem“ hat uns kürzlich ein angesehener britischer Fachkollege, tätig an der Universität Glasgow, ins Stammbuch geschrieben, dass die Vorliebe für den Investiturstreit mit seinem schrillen Höhepunkt auf der Burg von Canossa eine zutiefst deutsche Leidenschaft sei, die nicht bloß im Schrifttum der Spezialisten, sondern auch in publikumswirksamen Ausstellungen und Fernsehdokumentationen immer aufs Neue ihren Ausdruck finde, während sich der Rest der wissenschaftlichen Welt doch längst von der Papst/Kaiser-Problematik abgekehrt und anderen, lebensnäheren Betrachtungsweisen des Zeitalters zugewandt habe wie „plurality, diversity and locality“, „social theory“ oder „gender“1. An dieser Diagnose ist sicher richtig, dass die Beschäftigung mit dem Widerstreit zwischen den salischen Herrschern und dem zeitgenössischen Papsttum hierzulande eine lange und prägende Tradition hat, die sich allein schon dadurch erklärt, dass dieser Kampf das Imperium in der Mitte Europas länger und heftiger erschüttert hat als die übrigen Teile der lateinischen Christenheit. Dass dabei um die königlichen Investituren der Bischöfe und mancher Äbte gerungen wurde, ergibt sich zumal aus dem Wormser Konkordat von 1122 und den jahrelangen Verhandlungen unter Heinrich V., die ihm vorausgingen und schließlich zu einer differenzierten Regelung eben dieses Problems führten, nachdem man sich in Frankreich und England schon Jahre früher eher informell einig geworden war über die Modalitäten der Besetzung höchster Kirchenämter und den sichtbaren Anteil, den der König daran haben durfte2. Folgerichtig ließen sich in den ersten Jahrzehnten nach 1122 gelegentlich Beobachter vernehmen, die die Zeit davor mit Wendungen wie investiturae controversia, de investituris pontificum et abbatum dissensio oder querela investiturarum auf den Begriff brachten. Allerdings 1 Stuart Airlie, A View from Afar. English Perspectives on Religion and Politics in the Investiture Conflict, in: Ludger Körntgen, Dominik Wassenhoven (Hg.), Religion und Politik im Mittelalter. Deutschland und England im Vergleich/Religion and Politics in the Middle Ages. Germany and England by Comparison, Berlin, Boston 2013 (Prinz-Albert-Studien, 29), S. 71–88, Zitate S. 75, 83, 84. 2 Vgl. Werner Goez, Investiturstreit, in: Theologische Realenzyklopädie 16 (1987), S. 237– 247, hier S. 243–245; Wilfried Hartmann, Der Investiturstreit, München 32007 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 21), S. 34–41.
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ist daraus kein dauerhaftes Periodisierungsmuster geworden, weil diese Äußerungen nicht in die Universalchronistik einmündeten, die das globale Geschichtsbild des weiteren Mittelalters und auch noch der Frühen Neuzeit bestimmt hat3. Aus der Zeit vor dem Wormser Konkordat sind solche prägnanten Etikettierungen, soweit ich sehe, gar nicht überliefert; vielmehr verdient festgehalten zu werden, dass namhafte Geschichtsschreiber zumindest der Zeit Heinrichs IV. wie Lampert von Hersfeld, Bruno von Magdeburg, Bernold von Konstanz, Marianus Scottus oder Frutolf von Michelsberg das Investiturproblem nirgends erwähnen4 und stattdessen völlig gebannt sind von der Tyrannei Heinrichs IV., den Sanktionen Gregors VII., dem Schisma und dem turbulenten Kampf gegen Simonie und Klerikerehe. Trotz aller Manifeste und Streitschriften, worin die Investituren und ihr Verbot immerhin eine gewisse Rolle spielten, scheint es lange kaum das vorherrschende Zeitgefühl in Deutschland und Italien, geschweige denn im übrigen Europa, gewesen zu sein, einen Investiturstreit zu erleben. * Gleichwohl war es eben dieser Aspekt der Auseinandersetzung, der seit dem 19. Jahrhundert stärkste Aufmerksamkeit gefunden und eine kirchenrechtliche Einzelfrage, umstritten zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, zur Signatur eines ganzen Zeitalters hat werden lassen. Der früheste Beleg für das deutsche Wort Investiturstreit, den ich ermittelt habe5, findet sich, vermutlich ohne bewusste Anknüpfung an die vereinzelten lateinischen Entsprechungen aus dem 12. Jahrhundert, bereits im Jahre 1795 in einer kleinen Schrift von 46 Seiten über den „Verfall der kaiserlichen Würde“ unter den Saliern infolge der päpstlichen Politik6. Der Terminus taucht danach immer wieder einmal auf, freilich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eher beiläufig und mehr oder minder eindeutig auf die Zeit Heinrichs V. bis 1122 bezogen. Wie eine Durchsicht der einzelnen Auflagen des 1830 von Friedrich 3 Vgl. Rudolf Schieffer, Der Investiturstreit im Bilde der Zeit nach 1122, in: Klaus Herbers (Hg.), Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, Stuttgart 2001, S. 248–260. 4 Vgl. Stefan Beulertz, Das Verbot der Laieninvestitur im Investiturstreit, Hannover 1991 (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, 2), S. 70–80. 5 Vgl. Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König, Stuttgart 1981 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica, 28), S. 3 Anm. 8. 6 Siegmund Manso, Ueber den Verfall der kaiserlichen Würde und Macht unter den Kaisern aus der fränkischen Familie durch das ihnen von den Päbsten entzogene Investiturrecht, Oldenburg 1795, S. 38, 42.
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Christoph Dahlmann begründeten, später von Georg Waitz fortgeführten bibliographischen Standardwerks „Quellenkunde der deutschen Geschichte“ ergeben hat, begegnet bis zur 4. Auflage von 1875 kein Titel, worin das Wort Investiturstreit vorkäme; erstmals ist dies in der 5. Bearbeitung von 1883 der Fall, und seit der 7. Auflage von 1905 gibt es einen gesonderten, seither ständig gewachsenen Unterabschnitt mit der Spezialliteratur zu diesem Stichwort, das nun stets auf den gesamten Zeitraum von 1073/76 bis 1122 bezogen wurde und in dieser Erstreckung auch in alle maßgeblichen Hand- und Lehrbücher eingegangen ist7. Die terminologischen Entsprechungen in anderen europäischen Sprachen („investiture contest“, „querelle des investitures“, „lotta per le investiture“) sind ersichtlich vom Deutschen herzuleiten. Die steile Karriere, die der Epochenbegriff seit etwa 1870 durchlief, fiel kaum zufällig zeitlich zusammen mit den Anfängen des Bismarckreiches, das bei der endlich erreichten politischen Einigung aller Deutschen unter monarchischer Führung unverhohlen am Reich der mittelalterlichen Kaiser Maß nahm. Jenes „Erste Reich“ war, zunächst einig und stark, die Vormacht im damaligen Europa gewesen, aber seit der späten Salierzeit zunehmend den Gegenkräften der deutschen Fürstenmacht und des römischen Papsttums ausgesetzt, in der politischen Sprache des 19. Jahrhunderts des Partikularismus und des Ultramontanismus, die es auf die Dauer zu Fall gebracht hatten. Um solchen Gefahren von vornherein zu entgehen oder vorzubeugen, führte Bismarck nach der Einbeziehung der zuvor souveränen Bundesfürsten in das neue Reich den so genannten Kulturkampf, der den Vorrang des säkularen Nationalstaates vor allen geistlichen Autoritätsansprüchen, zumal der universalen katholischen Kirche, demonstrieren und befestigen sollte8. Sein sogleich zum geflügelten Wort gewordenes Dictum im Reichstag: „Seien Sie außer Sorge: Nach Kanossa gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig“, stellte eine ausdrückliche Analogie zur Zeit Heinrichs IV. und Gregors VII. her und war, wie wir heute wissen, mindestens indirekt angeregt durch die Darstellung Wilhelm von Giesebrechts im 3. Band seiner „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“, der gerade als Bestseller in den gebildeten Kreisen zirkulierte9. 7 Vgl. Schieffer, Entstehung (wie Anm. 5), S. 4. 8 Vgl. Gerhard Besier, Kulturkampf, in: Theologische Realenzyklopädie 20 (1990), S. 209– 230, hier S. 217f. 9 Vgl. Dietmar Klenke, Bismarck, „Canossa“ und das deutsche Nationalbewußtsein, in: Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hg.), Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Anfang der Romanik, Bd. 1: Essays, München 2006, S. 613–624; Rudolf Schieffer, Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889), in: Katharina Weigand (Hg.), Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre
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Es entsprach ganz dem bevorzugt verfassungsgeschichtlichen Denken der Zeit, dass sich der Konflikt bereits unter Heinrich IV. auf die Investiturfrage zugespitzt haben sollte, obwohl davon bekanntlich in den Manifesten von 1076/77 nirgends die Rede war. Ein päpstliches Investiturverbot als Ursache des ganzen Streits wurde für 1075, bald sogar für 1059 postuliert, machte Heinrich IV. zum unverschuldet Attackierten und begründete einen roten Faden der Handlung, der sich dann bis zum Wormser Konkordat hinzog10. Das Verbot, abgeleitet aus einem langfristig bedachtsamen „Programm“ der römischen Reformer schon seit den 1050er Jahren, erschien als ein dreister Angriff auf das von Otto dem Großen geschaffene Gefüge des Reiches, das wesentlich auf der königlichen Hoheit über die Bischofsstühle und auf der Dienstbereitschaft der Kirche bis hin zur militärischen Gefolgschaft beruht hatte. Dies alles in Frage zu stellen, ja offen zu verwerfen, musste einen genuin politischen Machtkampf heraufbeschwören, in dem beide Seiten einander mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen bestrebt waren. Er erschöpfte sich also gewiss nicht im juristischen Disput um das Gewohnheitsrecht der Investitur, war aber doch von diesem Problem in seinen tieferen Beweggründen und seinem zeitlichen Verlauf geprägt und daher treffend als Investiturstreit zu bezeichnen. Der politikgeschichtlichen Betrachtungsweise gemäß konnten jahrzehntelang lebhafte Debatten darüber geführt werden, wer in Canossa auf kürzere und auf weitere Sicht den Sieg davongetragen habe oder wie der Kompromiss des Wormser Konkordats vor dem Hintergrund der langen Auseinandersetzung letztlich zu gewichten sei11. Die Fixierung auf ein spezielles Verfassungsproblem mit der Dimension einer politischen Machtfrage bestimmte mit völliger Selbstverständlichkeit klassische Darstellungen der späten Salierzeit wie Gerold Meyer von Knonaus „Jahrbücher“12, Albert Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität, München 2010 (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, 5), S. 119–136, hier S. 134f. 10 Vgl. Wilhelm von Giesebrecht, Die Gesetzgebung der römischen Kirche zur Zeit Gregors VII., in: Münchner Historisches Jahrbuch für 1866, S. 91–193, hier S. 112, 127–130; Otto Meltzer, Papst Gregor VII. und die Bischofswahlen. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, Dresden ²1876, S. 43f., 89f.; Anton Scharnagl, Der Begriff der Investitur in den Quellen und der Literatur des Investiturstreites, Stuttgart 1908 (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 56), S. 19–21, 30–33. 11 Vgl. zusammenfassend Harald Zimmermann, Der Canossagang von 1077. Wirkungen und Wirklichkeit, Mainz, Wiesbaden 1975 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1975 Nr. 5), S. 163–197. – Nur am Rande sei auf die jüngste Canossa-Kontroverse verwiesen, die unter ganz anderen Vorzeichen stand: Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012, dazu www.sehepunkte.de/2013/01/forum/canossa. 12 Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 1–7, Leipzig 1890 –1909; vgl. Rudolf Schieffer, Gerold Meyer von
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Haucks „Kirchengeschichte Deutschlands“13 oder Karl Hampes „Deutsche Kaisergeschichte“14. Sie hat vielleicht ihren prägnantesten Ausdruck in Johannes Hallers Doppelessay über Gregor VII. und Innozenz III. gefunden, der 1922 in dem Sammelwerk „Meister der Politik“ erschienen ist. Haller, der aus Gregors Briefen den Gesamteindruck ableitete: „Man fühlt es: dieser Mann mit dem eisernen Trotz und dem unbändigen Angriffsmut liebt die Gewalt“, befand über die auslösende Ursache des Konflikts: „Indem nun Gregor VII. im Frühjahr 1075 sich anschickte, mit dem Verbot der Laieninvestitur Ernst zu machen, erklärte er der Laienschaft und in erster Linie den Staaten und Fürsten den Krieg.“15 Diese strikt politische Sichtweise blieb im Übrigen nicht auf die deutsche Mediävistik beschränkt, wie man an der „Cambridge Medieval History“ der Zwischenkriegszeit ablesen kann, deren fünfter Band über das europäische 11. und 12. Jahrhundert 1926 unter dem Gesamttitel „Contest of Empire and Papacy“ auf den Markt kam, gefolgt 1929 vom sechsten Band, der das 13. Jahrhundert als „Victory of the Papacy“ abhandelte. Zachary N. Brooke, der darin den Investiturstreit als „the first contest between empire and papacy“ darstellte, sah Gregor ganz als die treibende Kraft; er bescheinigte ihm Unzufriedenheit mit dem vorsichtigeren Agieren seiner päpstlichen Vorgänger und von vornherein den ungestümen Drang, „to see the policy carried into immediate effect“16. Aus Frankreich ist auf das dreibändige Werk von Odon Delarc über Gregor VII. zu verweisen, der 1889 gleich zu Beginn seine Leser damit zu beeindrucken suchte, dass er den Papst in seinem europaweiten Ehrgeiz seitenlang mit Napoleon verglich17. * Knonaus Bild von Heinrich IV., in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen, 69), S. 73–86. 13 Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 3, Leipzig 3.41906, S. 516–923; vgl. Kurt Nowak, Hauck, Albert, in: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), S. 472–474. 14 Karl Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, Leipzig 1906, 81943; vgl. Folker Reichert, Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 79). 15 Johannes Haller, Gregor VII. und Innozenz III., in: Erich Marcks, Karl Alexander von Müller (Hg.), Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen, Bd. 1, Stuttgart, Berlin 1922, S. 323–401, Zitate S. 329, 334. 16 Zachary N. Brooke, Gregory VII and the First Contest between Empire and Papacy, in: J. R. Tanner u. a. (Hg.), The Cambridge Medieval History, Bd. 5, Cambridge 1926, S. 51–111, Zitate S. 51, 53, J. R. Tanner u. a. (Hg.), The Cambridge Medieval History, Bd. 6, Cambridge 1929. 17 Odon Delarc, Saint Grégoire VII et la réforme de l’église en XIe siècle, Bd. 1–3, Paris 1889, hier Bd. 1 S. X-XIII.
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Ernsthafter Widerspruch ist zuerst von dezidiert katholischer Seite angemeldet worden, namentlich von Augustin Fliche, langjährigem Professor in Montpellier, der die bestens dokumentierte Gedankenwelt Gregors VII. in den Mittelpunkt seiner Forschungen rückte18. Ihm kam es darauf an, zu zeigen, dass das Handeln des Papstes jenseits allen machtpolitischen Kalküls von grundsätzlichen theologischen Überzeugungen getragen war, die ihn dazu drängten, das eigentliche Wesen der Kirche als einer vom geweihten Klerus mit dem Papst an der Spitze geleiteten Heilsgemeinschaft göttlichen Rechts wieder zum Vorschein zu bringen. Dabei verstand er die in der Investiturpraxis sichtbar gemachte Dominanz der weltlichen Gebieter nur als ein Symptom der Abirrung neben anderen wie dem verbreiteten Kauf geistlicher Ämter oder der Missachtung des Zölibats. Im Titel seines dreibändigen Hauptwerks, das von 1924 bis 1937 erschien, prägte Fliche den Begriff der „gregorianischen Reform“, der seither vielfache Resonanz gefunden hat 19. In einem ersten Band über „Le mouvement prégrégorien“ fasste er alle einschlägigen Regungen von Kritik und Reformwillen vom 10. Jahrhundert bis 1073 zusammen und bezog sie zielgerichtet auf die historische Rolle Gregors, dem der ganze zweite Band galt, während er sich im dritten Band mit der „opposition antigrégorienne“ auseinandersetzte. So entstand das Gesamtbild eines großen geistigen Ringens, worin Fliche Gut und Böse genauso klar verteilt sah wie zuvor Giesebrecht und andere, natürlich mit umgekehrten Vorzeichen, denn für den Nimbus und die soziale Prägekraft des sakral fundierten Königtums frühmittelalterlichen Zuschnitts hatte Fliche keinen Sinn; er sprach bloß von „usurpations laïques“20. In seinem Windschatten segelten bald auch andere wie sein geistlicher Landsmann Henri-Xavier Arquillière, der Schöpfer der Formel vom „politischen Augustinismus“, der 1934 mit einem stark systematisierenden Buch über Gregors VII. Konzept von päpstlicher Herrschaft hervortrat21 und sich mit Fliche nicht mehr 18 Vgl. Eugène Jarry, Fliche (Augustin), in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques 17 (1971), Sp. 490–492. 19 Augustin Fliche, La réforme grégorienne, Bd. 1–3, Louvain, Paris 1924 – 1937 (Spicilegium sacrum Lovaniense. Études et documents, 6, 9, 16); vgl. Gerd Tellenbach, “Gregorianische Reform”. Kritische Besinnungen, in: Karl Schmid (Hg.), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach, Sigmaringen 1985, S. 99–113, jüngst Sylvain Gouguenheim, La réforme grégorienne. De la lutte pour le sacré à la sécularisation du monde, Paris 2010. 20 Augustin Fliche, La querelle des investitures, Paris 1946, S. 7. 21 Henri-Xavier Arquillière, Saint Grégoire VII. Essai sur sa conception du pouvoir pontifical, Paris 1934 (L’Église et l´Etat au Moyen Âge, 4); vgl. Pierre Riché, Arquillière, Henri Xavier, in: Dictionnaire du monde religieux contemporain 9 (1996), S. 15f.
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darüber stritt, ob Gregor in Canossa mit Recht die Oberhand behalten hatte, sondern ob es seiner Denkungsart eher entsprach, Heinrich IV. nur vom Bann gelöst oder doch wieder als König anerkannt zu haben22. Auch der Salesianer Don Giovanni Battista Borino, Scrittore an der Biblioteca Vaticana, ist hier zu nennen, der kurz nach dem Krieg die Schriftenreihe „Studi Gregoriani“ als ein jahrzehntelang erfolgreiches internationales Forum für die Erforschung von Gestalt und Epoche Gregors VII. begründete23, und mit ihm der deutsche Jesuit Friedrich Kempf, der an der römischen Gregoriana lehrte und 1960 die „Gregorianische Reform“ als „vielleicht den entscheidendsten Durchbruch römisch-katholischer Wesensart in der Geschichte“ charakterisierte24. Dementsprechend unterschied er 1966 in dem von ihm betreuten dritten Band des Handbuchs der Kirchengeschichte zwischen einem ersten Teil „Die Kirche unter der Herrschaft der Laien“ (vom 8. bis zum mittleren 11. Jahrhundert) und dem zweiten Teil „Die Kirche im Zeitalter der gregorianischen Reform“ (von 1046 bis 1124)25. Kennzeichnend für diese Richtung ist eben, dass der innere Wandel der lateinischen Kirche, ihre rasch zunehmende Romorientierung, wahrlich ein Vorgang von erheblicher Tragweite für das ganze zweite Jahrtausend, in den Vordergrund rückt, während der Investiturstreit mit Heinrich IV. und Heinrich V. allenfalls als dessen Begleiterscheinung oder logische Konsequenz gesehen wird26. Reform als tatsächliche oder vermeintliche Rückführung zu einem vergangenen Idealzustand blieb in den Augen vieler Forscher des 20. Jahrhunderts nicht auf die höchste Ebene des immer selbstbewussteren päpstlichen Kirchenregiments beschränkt, sondern wurde als eine in weiten Kreisen von Kirche und Gesellschaft verbreitete Grundströmung erkannt, die Lateineuropa insgesamt einen neuen kräf22 Vgl. Augustin Fliche, Grégoire VII, à Canossa, a-t-il réintégré Henri IV dans sa fonction royale?, in: Studi Gregoriani 1 (1947), S. 373–386; Henri Xavier Arquillière, Gregoire VII, à Canossa, a-t-il réintégré Henri IV dans sa fonction royale?, in: Studi Gregoriani, 4 (1952), S. 1–26. Beide Aufsätze in deutscher Übersetzung in: Hellmut Kämpf (Hg.), Canossa als Wende. Ausgewählte Aufsätze zur neueren Forschung, Darmstadt 1963 (Wege der Forschung, 12), S. 250–264, 265–298. 23 Vgl. Ottorino Bertolini, Giovanni Battista Borino, in: Studi Gregoriani, 9 (1972), S. 1–15. 24 Friedrich Kempf, Gregorianische Reform, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (21960), Sp. 1196–1201, Zitat Sp. 1196. 25 Friedrich Kempf u. a., Die mittelalterliche Kirche 1: Vom kirchlichen Frühmittelalter zur gregorianischen Reform, Freiburg u. a. 1966 (Handbuch der Kirchengeschichte, 3/1); vgl. Heinrich W. Pfeiffer, In memoriam Friedrich Kempf, S. I., in: Archivum Historiae Pontificiae, 40 (2002), S. 9–13. 26 So noch Johannes Laudage, Gregorianische Reform und Investiturstreit, Darmstadt 1993 (Erträge der Forschung, 282).
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tigen Schub der inneren Christianisierung vermittelte. Neben grundsätzlichen Reflexionen mit Rückgriff bis in die Ära der Kirchenväter, die 1959 in dem Buch „The Idea of Reform“ des 1938 nach Amerika emigrierten Österreichers Gerhart B. Ladner gipfelten27, waren es vor allem eindringliche Forschungen über die innere Differenzierung und den sozialen Rückhalt des geistlichen Gemeinschaftslebens, die einem tieferen Verständnis des Wandels den Weg ebneten. In Auseinandersetzung mit dem klassischen Werk von Ernst Sackur, der 1892/94 unter dem Oberbegriff „Cluniacenser“ das Mönchtum des 10./11. Jahrhunderts pauschal als Wegbereiter und dann Verbündeten Gregors VII. im Kampf gegen die Vormacht der Laien dargestellt hatte28, öffneten auf unterschiedliche Weise Kassius Hallinger und Joachim Wollasch seit den 1950er Jahren den Blick für die inneren Verwerfungen der monastischen Welt, die sich weder generell im Widerstreit mit den weltlichen Eliten befand noch einhellig die Postulate Gregors VII. teilte29. Dazu kam eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die zuvor wenig beachteten Kanoniker an Dom- und Stiftskirchen mit ihrem stärkeren Weltbezug30. Dass deren Regulierung schon früh Hildebrands spezielles Anliegen war, wurde erst voll begreiflich, seitdem sich abzeichnet, dass der spätere Papst nicht als Mönch, wie von seinen Gegnern behauptet, schon gar nicht als Cluniacenser, sondern als Kanoniker wohl am römischen Lateran seinen Aufstieg genommen hat und somit die These aufgegeben
27 Gerhart B. Ladner, The Idea of Reform. Its Impact on Christian Thought and Action in the Age of the Fathers, Cambridge Mass. 1959; vgl. Herwig Wolfram, Gerhart B. Ladner †, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 102 (1994), S. 510–513. 28 Ernst Sackur, Die Cluniacenser in ihrer kirchlichen und allgemeingeschichtlichen Wirksamkeit bis zur Mitte des elften Jahrhunderts, Bd. 1–2, Halle 1892–1894; vgl. Dorothea Kies, Die Juden und die MGH. Jüdische und jüdischstämmige Monumenta-Mitarbeiter im Spiegel ihrer Zeit, Magisterarbeit Tübingen ca. 2012, S. 63 (www.mgh-bibliothek.de/ dokumente/b/b070295.pdf ). 29 Vgl. Kassius Hallinger, Gorze-Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im Hochmittelalter, Bd. 1–2, Rom 1950–1951 (Studia Anselmiana, 22–25); Joachim Wollasch, Mönchtum des Mittelalters zwischen Kirche und Welt, München 1973 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 7); Hermann Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter 1046–1215, München 31994 (OGG 7), S. 126–128. 30 Vgl. Charles Dereine, Chanoines (des origines au XIIIe s.), in: Dictionnaire d’ histoire et de géographie ecclésiastiques 12 (1953), Sp. 353–405; Stefan Weinfurter, Neuere Forschung zu den Regularkanonikern im Deutschen Reich des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 224 (1977), S. 379–397, Michel Parisse (Hg.), Les Chanoines réguliers. Émergence et expansion (XIe – XIIIe siècles). Actes du sixième colloque international du CERCOR, Saint-Étienne 2009 (Travaux et recherches, 19).
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werden muss, mit ihm habe das Mönchtum die Führung der Kirche übernommen31. Inzwischen ist es Gemeingut unter den internationalen Fachleuten, dass die aus den Reformanstrengungen erwachsene Verbandsbildung, die zur Formierung der Zisterzienser, der Prämonstratenser, der Kartäuser und anderer Orden führte, ebenso eine Frucht des so genannten Investiturstreits ist wie die papalistische Wendung der Kirchenverfassung. * Mit einem anderen Ansatz als Augustin Fliche hat fast gleichzeitig Gerd Tellenbach, ein liberaler Protestant, Front gemacht gegen die traditionell vorherrschende Einschätzung des Investiturstreits als einer genuin politischen Auseinandersetzung. In seiner 1932 vorgelegten Heidelberger Habilitationsschrift, die als Buch 1936 mit dem lapidaren Titel Libertas aufhorchen ließ32, ging es ihm um die „Freiheit der Kirche“, also das auch von Fliche herausgestellte autonomistische Selbstverständnis der Reformer, jedoch eingebettet in eine entwicklungsgeschichtliche Erörterung der Wertmaßstäbe aller Beteiligten. Dabei unterschied Tellenbach zwischen 1. der „monarchisch-theokratischen Hierarchievorstellung“ des frühmittelalterlichen, unmittelbar auf Gottes Willen zurückgeführten Königtums in seiner alle Untertanen einbeziehenden Heilsverantwortung, 2. der „asketischen Hierarchievorstellung“ der einzeln oder in Gemeinschaft lebenden monastischen Elite mit Cluny an der Spitze und 3. der „sakramentalen Hierarchievorstellung“, orientiert an der Weihegewalt, also am Priestertum und Bischofsamt, gipfelnd im römischen Papst, die alle Laien, mithin auch Könige, in die Schranken zu weisen befugt ist. Die als Investiturstreit bezeichnete Auseinandersetzung fügte sich nach Tellenbach ein in ein umfassendes Ringen um die christliche Weltordnung, worin alle drei Kräfte ihren angemessenen Platz suchten. Ihr Antagonismus, der eben damals erst voll ins Bewusstsein trat, konnte seiner Natur nach nicht mit politischen oder gar militärischen Mitteln entschieden und auch nur partiell durch einen Kompromiss wie das Wormser Konkordat entschärft werden, denn er betraf die Grundlagen der
31 Vgl. Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001, S. 24–43; Rudolf Schieffer, War Gregor VII. Mönch?, in: HJb 125 (2005), S. 351–362. 32 Gerd Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites, Stuttgart 1936 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 7); vgl. Michael Borgolte, Gerd Tellenbach, Libertas, in: Volker Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997 (Kröners Taschenausgabe, 435), S. 626–629.
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mittelalterlichen Gesellschaft und sollte in jeweils zeitgemäßer Form noch mehrfach wiederkehren. Tellenbachs Buch fand sogleich eine starke, überwiegend positive Resonanz und wurde dank einer bereits 1940 publizierten englischen Übersetzung33 sehr früh in Amerika bekannt, wo es bis heute eines der meistbeachteten Erzeugnisse deutscher Mediävistik geblieben ist34. Es entstand, wie im Rückblick deutlich wird, auf dem Höhepunkt einer geistes- und ideengeschichtlichen Ausrichtung nicht bloß der deutschen Mittelalterforschung und steht insofern in einer Reihe mit Carl Erdmanns „Entstehung des Kreuzzugsgedankens“ und Herbert Grundmanns „Religiösen Bewegungen im Mittelalter“, beide von 1935, die allesamt jenseits von nationalgeschichtlichen Konventionen nach übergreifenden geistigen Triebkräften bedeutender hochmittelalterlicher Veränderungen suchten35. Trotz solcher Zeitgebundenheit, der niemand von uns entgeht, bedeutete Tellenbachs Libertas-Buch einen entscheidenden Durchbruch zu größerer Quellennähe sowohl in terminologischer als in inhaltlicher Hinsicht36. Es wurde klar, dass Analogien zu neuzeitlichen Konflikten zwischen der säkularen Macht des Staates und der moralischen Autorität der Kirche von vornherein verfehlt sind, vielmehr regnum und sacerdotium, zwei Größen von je eigener Legitimation innerhalb der christlichen Weltordnung, einander gegenüberstanden. Zugleich zeigte sich, warum aller militärische Kraftaufwand Heinrichs IV. und Heinrichs V., der ihnen 1084 zur Erstürmung Roms, 1111 gar zur Gefangennahme des Papstes verhalf, ins Leere ging, weil er eben die Doktrin von der höheren Verantwortung der geistlichen Hirten nicht aus den Köpfen der Zeitgenossen zu verbannen vermochte. Ein kaiserlicher Anspruch auf Verfügung über den Stuhl Petri nach Art Ottos des Großen oder Heinrichs III. wäre nach 1122
33 Gerd Tellenbach, Church, State and Christian Society at the Time of the Investiture Contest, Oxford 1940 (Studies in Mediaeval History, 3), nachgedruckt 1948, 1959 und Toronto 1991. 34 Vgl. Edward Peters, More Trouble With Henry: The Historiography of Medieval Germany in the Angloliterate World, 1888–1995, in: Central European History 28 (1995), S. 47–72, hier S. 54–57. 35 Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 6); Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Berlin 1935 (Historische Studien, 267). 36 Vgl. Hagen Keller, Das Werk Gerd Tellenbachs in der Geschichtsschreibung unseres Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 28 (1994), S. 374–397, hier S. 385–387.
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überhaupt nicht mehr verstanden worden und entfiel daher als Handlungsoption bei den Konfrontationen der Staufer mit dem Papsttum. Vor diesem Hintergrund haben in den letzten Jahrzehnten mancherlei Versuche die Runde gemacht, dem mit Libertas ecclesiae umschriebenen Streitgegenstand37 weitere spezifische Aspekte abzugewinnen, die sich – um es gleich zu sagen – keineswegs gegenseitig ausschließen. Dazu gehören auf dem engeren Felde der Theologie die Arbeiten des französischen Dominikaners Yves Congar über eine intensivierte Petrus- und Romfrömmigkeit als Symptom für das gewandelte Verständnis der Reformer von der einen Kirche als umfassender Gesamtheit38 sowie das Konzept des früh verstorbenen Düsseldorfer Kollegen Johannes Laudage, der in seiner Kölner Dissertation ein schärfer konturiertes „Priesterbild“ in den Vordergrund rückte, getragen von dem Bedürfnis nach einem „reineren“, von der Laienwelt deutlich abgehobenen Klerus als Garanten einer gottgefälligen und damit heilswirksamen Sakramentenvermittlung39, oder erst jüngst Gerd Althoffs Hervorkehrung der gewaltsamen Züge im Umgang mit Gegnern innerhalb und außerhalb der Kirche, womit Gregor VII. und seine Nachfolger die Kreuzzüge anbahnten40. Auch das neuartige Amtsverständnis der frühen Reformpäpste vor Gregor VII., die als erfahrene Bischöfe von auswärts zur höchsten Würde in Rom gelangt waren und dazu übergingen, im Sinne der Idee vom Universalepiskopat die ganze Kirche fühlbar
37 Vgl. Brigitte Szabó-Bechstein, Libertas ecclesiae. Ein Schlüsselbegriff des Investiturstreits und seine Vorgeschichte, 4. – 11. Jahrhundert, Rom 1985 (Studi Gregoriani, 12); Rudolf Schieffer, Freiheit der Kirche: Vom 9. zum 11. Jahrhundert, in: Johannes Fried (Hg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1991 (Vorträge und Forschungen, 39), S. 49–66, Brigitte Szabó-Bechstein, „Libertas ecclesiae“ vom 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Verbreitung und Wandel des Begriffs seit seiner Prägung durch Gregor VII., ebenda, S. 147–175. 38 Yves Congar, Der Platz des Papsttums in der Kirchenfrömmigkeit der Reformer des 11. Jahrhunderts, in: Jean Daniélou, Herbert Vorgrimler (Hg.), Sentire ecclesiam. Das Bewußtsein von der Kirche als gestaltende Kraft der Frömmigkeit, Freiburg u. a. 1961, S. 196–217; Yves Congar, Église et papauté. Regards historiques, Paris 1994 (Cogitatio fidei, 184); vgl. Ekkart Sauser, Congar, Yves, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 21 (2003), Sp. 282–285. 39 Johannes Laudage, Priesterbild und Reformpapsttum im 11. Jahrhundert, Köln, Wien 1984 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 22); vgl. Rudolf Schieffer, „Priesterbild“, Reformpapsttum und Investiturstreit. Methodische Anmerkungen zu einer Neuerscheinung, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 479–494. 40 Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013.
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als ihre Diözese zu regieren, gehört in diesen Zusammenhang41. Folgenreicher noch als solche Konkretisierungen von Tellenbachs „sakramentaler Hierarchievorstellung“ war die Deutung als Wiederentdeckung, besser: Wiederbelebung der in der Spätantike formulierten Grundregeln des Kirchenrechts, die eigentlich nie außer Kraft gesetzt worden waren, in der erfahrbaren Praxis (z. B. der Besetzung geistlicher Ämter) aber seit langem faktisch ignoriert wurden. Das um die Mitte des 11. Jahrhunderts aufkeimende Bewusstsein der Diskrepanz von Rechtsüberlieferung und Rechtswirklichkeit macht in der Tat einen zentralen Impuls des Konflikts aus, der von der regen kanonistischen Forschung des 20. Jahrhunderts durch Untersuchungen über die Verbreitung handschriftlicher Rechtsbücher, die juristische Fundierung der Reformforderungen oder die bedachtsame Umformulierung traditioneller Postulate ergründet worden ist, u. a. mit dem Resultat, dass Gregor VII. persönlich weniger als versierter Jurist denn als religiös beseelter Mann der Tat zu betrachten ist42. Tellenbachs „monarchisch-theokratische Hierarchievorstellung“, die in letzter Zeit gern mit dem Terminus „Sakralkönigtum“ umschrieben wird, ist keineswegs infolge des Investiturstreits untergegangen, wie zuletzt noch mit Recht Hartmut Hoffmann und Ludger Körntgen betont haben43. Aber sie hat zweifellos empfindliche Einbußen erlitten, und zwar nicht so sehr durch den Akt von Canossa wie durch die Exkommunikationen und Suspendierungen des Königs ein Jahr zuvor und drei Jahre danach44. Die jahrzehntelange Anomalie eines von der Kirche ausgeschlossenen Trägers der Kaiserkrone legte es vielleicht weniger den Saliern selber 41 Vgl. Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: HJb 122 (2002), S. 27–41. 42 Vgl. Horst Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, Sigmaringen 1973 (Vorträge und Forschungen, 17), S. 175–203; Hubert Mordek, Kanonistik und gregorianische Reform. Marginalien zu einem nicht-marginalen Thema, in: Schmid (Hg.), Reich (wie Anm. 19), S. 65–82; Wilfried Hartmann, Autoritäten im Kirchenrecht und Autorität des Kirchenrechts in der Salierzeit, in: Stefan Weinfurter, Hubertus Seibert (Hg.), Die Salier und das Reich, Bd. 3, Sigmaringen 1991, S. 425–446. 43 Vgl. Hartmut Hoffmann, Canossa – eine Wende?, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 66 (2010), S. 535–568, Ludger Körntgen, Der Investiturstreit und das Verhältnis von Religion und Politik im Frühmittelalter, in: Körntgen, Wassenhoven (Hg.), Religion (wie Anm. 1), S. 89–115. 44 Vgl. Rudolf Schieffer, Worms, Rom und Canossa (1076/77) in zeitgenössischer Wahrnehmung, in: Historische Zeitschrift 292 (2011), S. 593–612; Hanna Vollrath, Lauter Gerüchte? Canossa aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen, Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen, 38), S. 153–198.
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als den Gebildeteren unter ihren Parteigängern beiderseits der Alpen nahe, zur Verteidigung ihrer Autorität und ihrer Autonomie nach anderen Argumenten als den herkömmlichen Ausschau zu halten. Dazu gehörten zumal Rückgriffe auf das römische Kaiserrecht, die zunächst in Diplomata aus den Jahren Heinrichs IV. in Italien und stärker noch bei Heinrich V. auftauchen, und erst recht die ausdrücklichen Bemühungen von Publizisten und Juristen ihres Umfelds, das Herrschaftsrecht der Salier mit Sätzen aus dem römischen Sachen- und Familienrecht als unanfechtbaren Erbbesitz zu deklarieren45. Aber auch das ostentative Bestreben des späten Heinrich IV., als oberster Wahrer des Friedens im Reich nördlich der Alpen neue allgemeine Anerkennung zu finden, weist in dieselbe Richtung46. Gewiss hat also die Auseinandersetzung mit dem Reformpapsttum die Auffassung vom Königtum nicht unberührt gelassen, doch plakativ von einer Entsakralisierung oder gar Säkularisierung der Monarchie zu sprechen, muss als anachronistisch eingeschätzt werden, schon angesichts der Tatsache, dass es erst (oder noch) Barbarossas Umgebung war, die 1157 das Schlagwort vom sacrum imperium kreierte, um eigenständig und gleichrangig der Papstkirche gegenübertreten zu können47. * Trotz dieser Sachlage sind in der anglophonen Fachwelt Versuche nicht ausgeblieben, den Investiturstreit in Anbetracht der tiefgreifenden Veränderungen, die er für Kirche und Welt mit sich gebracht habe, als erste europäische Revolution zu interpretieren und mit der deutschen Reformation des 16. Jahrhunderts, der englischen „rebellion“ von 1640, der Amerikanischen und der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts sowie der russischen Oktoberrevolution von 1917 in eine Entwicklungslinie zu rücken. Ein bemerkenswert lebhaftes Echo (bis in die Tagespresse) fand der amerikanische Rechtshistoriker Harold J. Berman, 45 Vgl. Tilman Struve, Kaisertum und Romgedanke in salischer Zeit, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44 (1988), S. 424–454; Tilman Struve, Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreits, Stuttgart 1999 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1999 Nr. 5). 46 Vgl. Elmar Wadle, Heinrich IV. und die deutsche Friedensbewegung, in: Fleckenstein (Hg.), Investiturstreit (wie Anm. 42), S. 141–173. 47 Vgl. Stefan Weinfurter, Um 1157. Wie das Reich heilig wurde, in: Bernhard Jussen (Hg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 190–204; Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, S. 211f.
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eigentlich ein Spezialist für sowjetisches Recht, mit seinem 1983 erschienenen Buch „Law and Revolution“, das seit 1991 auch in einer deutschen Version vorliegt und sich in seinem chronologisch ersten Kapitel mit der „papal revolution in law“ befasst48, will sagen: der hochmittelalterlichen Papstkirche in ihrer institutionellen Ausgestaltung und juristischen Fundierung, die für Berman das eigentliche Faszinosum darstellt, weil sie das Muster für alle späteren Innovationen der „westlichen Rechtstradition“ abgegeben und gleich den Revolutionen neuerer Zeit alle damaligen Lebensbereiche erfasst habe, dazu mit Plötzlichkeit und Gewalt durchgesetzt worden und von dauerhafter Fortwirkung gewesen sei. Berufen konnte sich Berman bei seinen kühnen, im Detail alles andere als fehlerfreien Deduktionen auf den 1933 in die USA ausgewanderten, zuvor Breslauer Rechtshistoriker und Kulturphilosophen Eugen Rosenstock-Huessy, dessen 1931 publiziertes Hauptwerk „Die europäischen Revolutionen“ 1951 und 1961 überarbeitete Neuauflagen erfahren hatte. Darin fand sich bereits dieselbe Abfolge von fünf revolutionären Umbrüchen in der Geschichte des alten Kontinents, deren frühester, die „Papstrevolution“ des 11. Jahrhunderts, hier allerdings mehr im „Kampf zwischen Kaiser und Papst“, also im Investiturstreit nach klassischem Verständnis, erblickt wurde49. Als umwälzende Phänomene vermerkte Rosenstock-Huessy die Gedanken der apostolischen Autorität, des geistlichen Schwertes, des zölibatären Klerus und des heiligen Krieges, Vorstellungen mithin, die fraglos die Gemüter der Zeitgenossen in Wallung gebracht und das umfassende Drängen der Reformpäpste nach Veränderung begleitet und beflügelt haben, aber als Indikatoren einer Revolution, wie sie die Neuzeit mehrfach erleben sollte, doch ziemlich blass wirken. Gleichwohl begegnet ohne ausdrücklichen Bezug auf Rosenstock-Huessy die Einschätzung des Investiturstreits als der ersten von insgesamt vier Weltrevolutionen auch 1958 in der Einleitung von Norman F. Cantors gewichtiger Dissertation 48 Harold J. Berman, Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge Mass., London 1983; Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt 1991; vgl. Rudolf Schieffer, “The Papal Revo lution in Law”? Rückfragen an Harold J. Berman, in: Bulletin of Medieval Canon Law, New Series 22 (1998), S. 19–30. 49 Eugen Rosenstock, Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena 1931; Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Stuttgart, Köln 21951, Stuttgart 31961; vgl. Hanna Vollrath, Ein universaler Blick auf Könige und Päpste des Mittelalters: Eugen Rosenstock-Huessys (1888 – 1973) Buch »Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen«, in: Joachim Dahlhaus, Armin Kohnle (Hg.), Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 1995 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 39), S. 629–657.
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aus Princeton über das Investiturproblem im anglonormannischen England50. Der Autor stützt sein Urteil auf die generalisierende Feststellung, „world revolutions“ begännen stets mit der Kritik an begrenzten Missständen und würden dann von Ideologen bis zum Umsturz der bestehenden Ordnung und deren Ersetzung durch eine völlig andere vorangetrieben, wobei auf heftige Dispute und eine Flut von Streitschriften erbitterte und langwierige bewaffnete Auseinandersetzungen zu folgen pflegten. Wie viel eine derart schematische Phänomenologie taugt, bleibt dahingestellt. Zumindest im Hinblick auf die gewaltsame Durchsetzung dürfte Cantor recht vordergründig geurteilt haben, denn anders als bei den neueren Revolutionen ist der Ausgang des Ringens von regnum und sacerdotium gerade nicht durch militärische Gewalt entschieden worden. Wäre es darauf angekommen, hätten die Salier und später auch Friedrich Barbarossa den Kampf gar nicht verlieren können; das Erregende ist vielmehr, dass die gregorianischen Ideen trotz aller kaiserlichen Gegenwehr keineswegs untergingen, sondern ihre revolutionäre Kraft im Sinne Cantors ganz ohne militärische Überlegenheit zu entfalten vermochten. Auch Karl Leyser, ein englischer Mediävist wiederum von deutscher Herkunft, machte sich 1993 die Vokabel von der „ersten europäischen Revolution“ in einem Aufsatz der Historischen Zeitschrift (und dann in einem englischen Sammelband) zu eigen, wobei es ihm weniger um die Einreihung in ein universalhistorisches Konzept von Revolution ging als um einige Wesenszüge der Zeit ab 1050, die er im Vergleich zum früheren Mittelalter als revolutionär empfand. Dazu gehört die „neue und wütende Intoleranz gegenüber dem Bestehenden in der Kirche“, die sich vielerorts – und, wie ich hinzufügen möchte, durchaus nicht immer auf Betreiben des Papsttums – regte, um unkanonische Zustände wie Simonie, Klerikerehe und laikale Verfügungsgewalt über geistliche Würden offen ins Visier zu nehmen, nachdem man sie jahrhundertelang hingenommen hatte. Dem schlechten Gewissen, das dadurch geschürt wurde, entsprach eine schwindende Selbstsicherheit führender Kreise der vorgregorianischen Kirche, die nach Leyser auch Kaiser Heinrich III. einschloss und jedenfalls Rechtfertigung und Bewahrung des Status quo mehr und mehr hemmte. Beides zusammen gab Raum für das, was er „die erste religiöse Massenbewegung in Europa“ nennt. Mit Hinblick auf Mailand formuliert Leyser nicht zu Unrecht: „Die Mobilisierung der städtischen Massen machte ein radikales Vorgehen gegen Simonie und Priesterehe erst möglich.“ Zweifellos sind hier wesentliche Bedingungen des historischen Umbruchs treffend diagnostiziert, doch bleibt fraglich, inwieweit das Mailänder Exempel als zeittypisch gelten darf, zumal ja in 50 Norman F. Cantor, Church, Kingship, and Lay Investiture in England, 1089–1135, Princeton 1958 (Princeton Studies in History, 10), S. 6–9.
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dieser Stadt die Pataria letztlich gescheitert ist. Viel weniger überzeugt es schon, wenn auch der deutsche Thronstreit der Könige Heinrich und Rudolf zwischen 1077 und 1080 als „Revolutionskrieg“ eingestuft wird, denn diesen Vorgang hat noch vieles andere als der Zusammenstoß zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. in Gang gebracht und entschieden. Vorsichtshalber flicht Leyser denn auch die Bemerkung ein: „Von einer Revolution im marxistischen Sinne, wonach eine herrschende von einer bisher beherrschten und unterdrückten Klasse überwältigt, verdrängt und beseitigt wird, kann selbstverständlich nicht die Rede sein.“51 Wovon aber dann? Die zur Sprache gebrachten Versuche, den Begriff der Revolution auf Kirchenreform und Investiturstreit des gregorianischen Zeitalters zu adaptieren, scheinen nicht eben dazu zu ermuntern, auf diesem Wege fortzufahren. Entweder zwingt die terminologische Vorgabe dazu, von den Quellen einen ziemlich voreingenommenen und eklektischen Gebrauch zu machen, damit möglichst viele und sichtbare Parallelen zu den neueren Revolutionen aufgewiesen werden können, oder aber der Leitbegriff schrumpft zu einer Chiffre für jedweden geschichtlichen Umbruch von einiger Tragweite, wie etwa bei Robert I. Moore, der 2000 (deutsch 2001) seiner allgemeinen, vornehmlich sozialhistorischen Darstellung der europäischen Geschichte vom späten 10. bis ins 13. Jahrhundert den Titel „Die erste europäische Revolution“ gegeben hat52. Ein erkennbarer heuristischer Wert kommt derartigem Sprachgebrauch nicht zu53. * Da empfiehlt es sich eher, den Investiturstreit als Durchbruch zu neuen und seither nicht mehr verschwundenen Formen der öffentlichen Kommunikation und theoretischen Reflexion von Zeitfragen aufzufassen. Den Grund dazu hat gleich nach 51 Karl Leyser, Am Vorabend der ersten europäischen Revolution. Das 11. Jahrhundert als Umbruchszeit, in: Historische Zeitschrift 257 (1993), S. 1–26, Zitate S. 3, 16, 2, 17, englische Version: Karl Leyser, On the eve of the first European revolution, in: Timothy Reuter (Hg.), Karl Leyser, Communications and Power in the Middle Ages, Bd. 2: The Gregorian Revolution and beyond, London 1994, S. 1–19; vgl. Henry Mayr-Harting, Karl Joseph Leyser, in: Proceedings of the British Academy 94 (1997), S. 598–624. 52 Robert I. Moore, The First European Revolution, c. 970 – 1215, Oxford 2000, Robert I. Moore, Die erste europäische Revolution. Geschichte und Kultur im Hochmittelalter, München 2001. 53 Angemessener erscheint, wenn auch wenig beachtet, die Etikettierung von Paul Egon Hübinger, Das Rheinland in der Wendezeit des Mittelalters, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 162 (1960), S. 7–34.
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dem Erscheinen der ersten beiden Bände der Libelli de lite von 1891/9254 der evangelische Kirchenhistoriker Carl Mirbt mit seiner systematisierenden Synthese über die Publizistik im Zeitalter Gregors VII. gelegt, die von 1894 stammt. Er definierte den Gattungsbegriff „Streitschrift“ über die beiden Merkmale der bewussten Parteilichkeit und der beabsichtigten Breitenwirkung und gab einen fundierten Überblick der Erscheinungsformen, der Verbreitungswege, der zeitlichen Staffelung von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zum Wormser Konkordat, zumal aber der strittigen Themen und ihrer polemischen Behandlung, was ihn auch bereits zu Überlegungen über die Argumentationsstile und die politische Tragweite dieser Texte führte55. Im 20. Jahrhundert ist dann vor allem die kräftig anschwellende Briefliteratur der Salierzeit als weiteres Medium des Meinungsstreits neben der Geschichtsschreibung und den Traktaten der Libelli de lite erschlossen worden, woran niemand größeren Anteil hatte als Carl Erdmann, der Entdecker Meinhards von Bamberg und Herausgeber der Briefe Heinrichs IV.56. In der Situation des Jahres 1936 beschrieb er in der Historischen Zeitschrift die gegen Gregor VII. gerichteten Manifeste Heinrichs IV. von 1076 als „Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit“57 und führte damit eine Vokabel in die Diskussion ein, die seither gerade wegen ihrer modernen Bedeutungsbreite immer wieder zu spezifizierenden Erwägungen aus mediävistischer Perspektive herausgefordert hat58. 54 Monumenta Germaniae Historica. Libelli de lite imperatorum et pontificum saeculis XI. et XII. conscripti, Bd. 1–2, Hannover 1891–1892. 55 Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894; vgl. Rudolf Schieffer, Mirbt, Carl, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 557. 56 Carl Erdmann, Die Briefe Meinhards von Bamberg, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 49 (1932), S. 332–431; Die Briefe Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann, Leipzig 1937 (Monumenta Germaniae Historica. Deutsches Mittelalter, 1); Carl Erdmann, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert, Leipzig 1938 (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, 1); vgl. Friedrich Baethgen, Carl Erdmann, in: Carl Erdmann, Forschungen zur politischen Ideenwelt des Frühmittelalters, Berlin 1951, S. VIII-XXI, hier S. XVI-XIX. 57 Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: Historische Zeitschrift 154 (1936), S. 491–512. 58 Vgl. Wolfgang Schieder, Christof Dipper, Propaganda, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 5 (1984), S. 69–112 (ohne Berücksichtigung des Mittelalters); Monika Suchan, Publizistik im Zeitalter Heinrichs IV. – Anfänge päpstlicher und kaiserlicher Propaganda im „Investiturstreit“?, in Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11. – 16. Jahrhundert), Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Denkschriften, 307), S. 29–45; Oliver Münsch, Fortschritt durch Propaganda? Die Publizistik des Investiturstreits zwischen Tradition und Innovation, in: Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das
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Im Gefolge Erdmanns und anderer hat dann Ian Stuart Robinson die Briefe voll in sein 1978 publiziertes Buch über die „Polemical Literature of the Eleventh Century“ einbezogen und Gregor ebenso wie Heinrich als Publizisten in eigener Sache vorgestellt, darüber hinaus aber auch kirchenrechtliche Sammlungen in Handschriften als Ausdruck polemisierenden Zeitgeistes gewürdigt59. Er unterschied zwischen drei Lagern: den königlichen, den päpstlichen und den bischöflichen Publizisten mit je eigenen Zielsetzungen, auch zwischen Werken aus Deutschland und solchen aus Italien, entdeckte dabei aber zugleich manche Gemeinsamkeiten in der formalen Bildung, im Denkstil und in der Quellenbenutzung, was sich bald auch in einer ganzen Serie von Studien weiterer Autoren über den Gebrauch historischer Beispiele und die Instrumentalisierung von Geschichte bei Gregor selbst und in den nachfolgenden Streitschriften widerspiegelte60. Monika Suchans (im Übrigen nicht unproblematischer) Gießener Dissertation, einem Buch von 1997 über die Herrschaftskrise Heinrichs IV., verdanken wir eine generelle Betonung der durch den Streit stark stimulierten Schriftlichkeit in den verschiedensten Formen, die dem zielgerichteten Transport von Gedanken und Formulierungen dienen sollte, und die daraus resultierende, eigentlich schon auf Mirbt zurückgehende Einsicht, dass die Intention der Urheber weniger darin bestand, die jeweilige Gegenseite umzustimmen, als vielmehr die eigenen Parteigänger zu festigen und für mündliche Konfrontationen zu wappnen61. Erst die jüngste, 2007 erschienene einschlägige Monographie, hervorgegangen aus der Bergener Dissertation des Norwegers Leidulf Melve, thematisiert entschlossen, worauf alle diese Publizisten aus waren: eine Öffentlichkeit, die sich durchweg mündlich verständigte und vor der Erfindung des Buchdrucks von Geschriebenem 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, München 2006 (MittelalterStudien, 13), S. 151–167. 59 Ian Stuart Robinson, Authority and Resistance in the Investiture Contest. The Polemical Literature of the Late Eleventh Century, Oxford, New York 1978. 60 Vgl. Jürgen Ziese, Historische Beweisführung in Streitschriften des Investiturstreites, München 1972 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung, 8); Hans-Werner Goetz, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 31–69; Jacques van Wijnendaele, Un exemple d’utilisation de l’histoire: Les empereurs ottoniens (962–1002) dans la polémique des Investitures, in: Revue belge de philologie et d’histoire 79 (2001), S. 1095–1132; Oliver Münsch, Das Bild Karls des Großen in der Publizistik des Investiturstreits, in: Oliver Münsch, Thomas Zotz (Hg.), Scientia veritatis. Festschrift für Hubert Mordek, Ostfildern 2004, S. 311–326. 61 Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit, Stuttgart 1997 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 42), S. 202–229.
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nur sehr begrenzt erreichbar war. Dass dennoch der Versuch ihrer autoritativen Beeinflussung unternommen und in gewissem Maße auch anscheinend wirksam wurde, lag an der außergewöhnlichen Situation der extremen Zuspitzung des Konflikts der höchsten Gewalten seit 1076 und zumal seit 1080, ist also evident als eine Frucht des so genannten Investiturstreits zu erkennen. Er bewirkte, dass zuvor in ganz begrenzten intellektuellen Zirkeln zu Pergament gebrachte Gedanken wachsendes Aufsehen erregten und nach dem Muster der königlichen und päpstlichen Manifeste zugleich neue Formen der Kommunikation wie offene Briefe oder Streitgedichte entwickelt wurden, die sich an ein breiteres Publikum, eine „semielitist public sphere“ richteten62. Als sich die Dispute nach 1100 zunehmend auf die argumentativen Grundlagen des schließlich gefundenen Kompromisses verengten, waren die Fachleute wieder mehr unter sich. Eine wichtige Rolle spielt bei alldem die Beobachtung der zumeist spärlichen Überlieferung dieser Libelli, was zum einen mit der extremen Zeitgebundenheit der Inhalte erklärt werden kann, die späterer Aufbewahrung oder Abschrift im Wege war, andererseits aber auch die Vermutung rechtfertigt, dass der akute Streit womöglich noch mehr Federn in Bewegung gesetzt hat als die, die sich uns vermitteln konnten. Damit sind wir vollends bei dem Thema angelangt, das diesen Band bestimmen soll. Der oft beredete Investiturstreit, ein komplexes historisches Phänomen, war und ist eben vielerlei Deutungen zugänglich. Ihn als Kommunikationsereignis zu begreifen ist mindestens so gut begründet wie sein Verständnis als politisches Kräftemessen, als päpstliche Kirchenreform, als Ringen um die christliche Weltordnung oder als die erste europäische Revolution.
62 Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030–1122), Leiden u. a. 2007 (Brill’s Studies in Intellectual History, 154), Zitat S. 131f.
Von der Unmöglichkeit zu kommunizieren Briefe, Boten und Kommunikation im Investiturstreit Thomas Wetzstein In den ersten Wochen des Jahres 1106 gelang dem vom eigenen Sohn abgesetzten König Heinrich IV. die Flucht aus der Pfalz Ingelheim. Kaum dem Zugriff seines aufsässigen Sohnes entronnen, ließ der entmachtete Salier Abt Hugo von Cluny, seinem Taufpaten, einen Brief überbringen. Hier schilderte er ausführlich sein beklagenswertes Schicksal und bat um Unterstützung. Uns soll es bei diesem vielbeachteten Quellenzeugnis auf ein für die Exordialtopik mittelalterlicher Briefe ausnehmend verbreitetes Detail ankommen: Gerne, so lässt der Herrscher mitteilen, würde er seinem Paten all dies persönlich berichten, aber longa terrarum inter iecta spacia und die Nachstellungen der Feinde hinderten ihn daran, den Abt des burgundischen Klosters selbst aufzusuchen1. Tatsächlich – auch ohne die besonderen Umstände wäre das knapp 700 Kilometer entfernte Cluny von Köln aus, wo sich der entmachtete Herrscher zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich aufhielt, bei großer Anstrengung für einen König mit Gefolge allenfalls in drei Wochen zu erreichen gewesen2. Ein Bote, dessen Entsendung wir voraussetzen dürfen, der aber in diesem Schreiben nicht ausdrücklich erwähnt ist, konnte den Brief mit Pferdewechsel in kürzerer Zeit befördern und eine Tagesleistung von 50 Kilometer errei-
1 Die Briefe Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann, Leipzig 1937 (MGH Dt. MA, 1), ep. 37, S. 46–51, hier S. 47. 2 Kurzzeitig erreichte König Konrad III. Tagesleistungen von bis zu 66 km; Martina Reinke, Die Reisegeschwindigkeit des deutschen Königshofes im 11. und 12. Jahrhundert nördlich der Alpen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 128 (1987), S. 225–251, hier S. 245 und S. 248. Üblicherweise aber lagen die Reisegeschwindigkeiten des deutschen Königshofes bei 20 bis 30 km am Tag; Carlrichard Brühl, Fodrum, gistum, servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Bd. 1, Köln u. a. 1968 (Kölner Historische Abhandlungen, 14), S. 163. Vgl. zu den Reisegeschwindigkeiten des Hofes auch die ältere Studie von Friedrich Ludwig, Untersuchungen über die Reise- und Marschgeschwindigkeit im XII. und XIII. Jahrhundert, Berlin 1897.
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chen3. Gehen wir von diesem Wert aus, so dürfte das eilige Schreiben den Paten des Saliers immerhin nach 14 Tagen erreicht haben. Wir sehen – die longa terrarum interiecta spatia, die wir so schon in den Briefen der Spätantike finden können, sind keineswegs allein ehrwürdiges rhetorisches Schmuckwerk4. Der Raum stellte sich vor der noch unabgeschlossenen Kommunikationsrevolution der Industrialisierung allen Formen des Austauschs mit einer Entschiedenheit entgegen, die wir uns in einer bis zum Überdruss vernetzten Welt vergegenwärtigen müssen. Erst vor diesem Hintergrund dürften die raumgreifenden „Debatten des Investiturstreits“ im rechten Licht erscheinen5. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, den Investiturstreit in die Kommunikationsgeschichte des Mittelalters einzuordnen und ausblickend nach Konsequenzen für die Auswertung der meist in Briefform überlieferten Streitschriften als wichtige Quellengattung des Investiturstreits zu fragen.
Kommunikation im Mittelalter – ein blinder Fleck der Kommunikationstheorie Nicht erst seit jüngster Zeit hat das Phänomen der Kommunikation das Interesse unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen auf sich gezogen. Dies lässt sich schon an den Schwierigkeiten ablesen, diesen alltagssprachlich omnipräsenten Begriff einer für wissenschaftliche Zwecke verwendbaren Definition zu unterziehen: Bereits 1977 konnte der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten nicht weniger als 177 verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Kommunikation“ namhaft machen6. Im Deutschen tritt der Befund einer bemerkenswerten Bedeutungsverengung hinzu: Während zahlreiche europäische Sprachen das ursprünglich breite Bedeutungsspektrum bewahrt haben, das mit „Kommunikation“ auch im Deutschen ursprüng3 Vgl. Thomas Szabó, Botenwesen. I. Allgemein. Westliches Europa, in: LexMA 2 (1983), Sp. 484–487. 4 Vgl. etwa die Formulierung propter spatia interiecta terrarum, Ruricius, ep. 9, in: MGH Auct. ant., 8, ed. Christian Lütjohann, Berlin 1887, S. 318; spatia sunt longa interposi tam, Sidonius, ep. 8, in: MGH Auct. ant., 8, ed. Christian Lütjohann, Berlin 1887, S. 112. 5 Vgl. dazu bereits meine Skizze Thomas Wetzstein, Canossa – ein Wendepunkt in der Kommunikationsgeschichte?, in: Wolfgang Hasberg, Hermann-Josef Scheidgen (Hg.), Canossa: Aspekte einer Wende, Regensburg 2012, S.112–123. 6 Klaus Merten, Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Bd. 1: Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, Münster u. a. 1999 (Aktuelle Medien- und Kommunikationsforschung 1), S. 76–79.
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lich alle Formen räumlichen Austauschs bezeichnete, konzentrierten sich in unserer Sprache die Verwendungsmöglichkeiten des Begriffs seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs rasch auf den immateriellen Austausch von Informationen7. Damit trat die in anderen Sprachen in Merkmalen wie Infrastruktur oder Mobilität durchaus noch vitale räumliche Komponente des Kommunikationsbegriffs weitgehend in den Hintergrund8. Diese Bedeutungsverengung illustriert in eindrucksvoller Weise die Karriere eines dezidiert raumfeindlichen, in der Nachrichtentechnik entwickelten Kommunikationsmodells, wie es etwa 1949 von den Fernmeldeingenieuren Shannon und Weaver entwickelt wurde9. Hier werden Möglichkeiten zur Überwindung des Raumes selbstverständlich vorausgesetzt. Es liegt somit auf der Hand, dass sich ein solcher Kommunikationsbegriff für ein breites Spektrum mittelalterlicher Kommunikation nur sehr eingeschränkt eignet. Die gleichen Vorbehalte gelten für die prägnante Lasswell-Formel aus dem Jahre 1948: „Who says what in which channel to whom with what effect“, ebenso wie für die „historische Medientheorie“ Marschall McLuhans aus dem Jahre 1962 mit der schlagwortartigen Formel „the medium is the message“, während Watzlawicks erstes kommunikationstheoretisches Axiom von der „Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren“ für Räume 7 Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts gibt „Meyers Konversations-Lexikon“ für den Singular die Bedeutung „Mitteilung; auch soviel wie Verbindung, Verkehr“ an, während der Plural für „Verbindungs- oder Verkehrswege aller Art zu Lande und zu Wasser, besonders im militärischen Sinne“ steht. Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig, Wien 51897, S. 413. Die 22. Ausgabe des „Kluge“ führt hingegen als Bedeutung einzig an: „sprachliche Verständigung, Unterhaltung“, Friedrich Kluge, Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearbeitet von Elmar Seebold, Berlin, New York 221989. S. 393. 8 Vgl. etwa Le nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. Paris 1993, S. 417: « Ce qui permet de communiquer: passage d’un lieu à un autre » mit Verweis auf « circulation, transport »; The Oxford English Dictionary, Bd. 3, Oxford 21989; S. 578–579, hier S. 578: “A means of communication, channel, line of connexion, passage or opening” neben “the imparting, conveying, or exchange of ideas, knowledge, information, etc. (whether by speech, writing or signs)”. 9 Es handelt sich um das äußerst einflussreiche Kommunikationsmodell, das Claude Shannon in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Warren Weaver für die US-amerikanische Telefongesellschaft Bell nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erarbeitet hat. Es besteht aus den Komponenten 1. Sender und Empfänger, 2. Kanal bzw. Medium, 3. Kode (Zeichenvorrat), 4. Nachricht, 5. Interferenzen (Störungen), 6. Rückkoppelung (feedback); Hadumod Bussmann, Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart 21990 (Kröner Taschenausgabe, 452), S. 392–393. Vgl. auch (mit etwas anderer Schwerpunktsetzung) Marco Mostert, New approaches to medieval communication?, in: Marco Mostert (Hg.), New Approaches to Medieval Communication, Turnhout 1999 (Utrecht Studies in Medieval Literacy, 1), S. 15–37, hier S. 18f.
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ohne gemeinsamen Lebenszusammenhang geradezu paradox erscheint10. Doch selbst für mittelalterliche Kommunikationssituationen, die aufgrund räumlicher Nähe der Beteiligten auf den ersten Blick Analogien zu modernen Bedingungen sprachlichen Austauschs aufzuweisen scheinen, hat die seit einigen Jahrzehnten intensiv betriebene Erforschung der „symbolischen Kommunikation“ zeigen können, dass auch hier neben der rein sprachlichen Informationsübermittlung nichtsprachliche Zeichen eine weitaus größere Rolle spielten, als dies gegenwärtig der Fall ist11. Kommunikation scheint somit im Mittelalter grundsätzlich anderen Bedingungen unterworfen gewesen zu sein. 10 Vgl. zu diesen Theorieangeboten die Darstellung bei Achim Landwehr, Stefanie Stockhorst, Einführung in die europäische Kulturgeschichte, Paderborn u. a. 2004 (UTB, 2562), S. 125–131. 11 Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527, hier bes. S. 492–496; Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 370–389. Der dort vorgenommenen Unterscheidung von verbaler, schriftlicher und symbolischer Kommunikation des Mittelalters (hier S. 373) dürfte eine Ergänzung durch räumliche Kategorien durchaus zugutekommen. Darüber hinaus lassen beide Beiträge eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen symbolischer Kommunikation im Rahmen großer Versammlungen (hier wäre an die Schwierigkeit unmittelbarer Massenkommunikation ohne die Zuhilfenahme technischer Mittel der Stimmverstärkung zu erinnern) vermissen. So berichtet etwa Eadmer über die Teilnahme des Anselm von Canterbury am römischen Konzil von 1099: „Daher wurden zwar auf jenem Konzil viele Dinge behandelt, vieles wurde verfügt, vieles als allgemeine Norm festgelegt, doch konnte dies nicht von allen deutlich verstanden werden, teils wegen der Größe der Versammlung, teils wegen des Lärms und der andauernden Geräusche der Pilger zum Petrusgrab.“ Igitur dum in ipso concilio multa tractarentur, multa disponerentur, multa observari decernerentur, nec tamen ab omnibus partim propter conventus immensitatem, partim propter intrantium et exeuntium a corpore Beati Petri strepitum et concrepationem, clare intelligerentur. Eadmeri Historia novorum in Anglia, ed. Martin Rule, London u. a. 1884 (RS, 81), S. 112. Vor dem Hintergrund dieses Beispiels wird unmittelbar klar, warum gerade bei derartigen Versammlungen symbolische Kommunikation und Ritual von entscheidender Bedeutung waren, vgl. dazu auch die Bemerkung bei Thomas Haye, Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin, New York 2005, S. 24. Dieser technische Aspekt fehlt auch bei Roland Zingg, Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070–1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte, Köln 2012, (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 1), S. 43–47, der vor allem auf die geringe Alphabetisierungsquote zur Erklärung der im Vergleich zum Mittelalter größeren Bedeutung symbolischer Kommunikation abhebt – was angesichts der Kommunikationssituationen, in denen symbolische Kommunikation zum Einsatz kam, nicht ganz einleuchten mag. Ob es allerdings bei verbaler Kommunikation um „ständige Vergewisserung und Verpflichtung aller Beteiligten“ ging und stän-
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An dieser Stelle scheint allerdings eine in der Kommunikationswissenschaft vorgenommene Unterscheidung durchaus sinnvoll, nämlich die Differenzierung von Kommunikation in Primär- und Sekundärkommunikation: Während Primärkommunikation kleinräumig – etwa in der Familie oder in einer Gruppe – und unvermittelt stattfindet, kann Sekundärkommunikation nur über Medien hergestellt werden, „die imstande sind, räumliche und zeitliche Distanzen zu überwinden“12. Im Folgenden werden wir uns auf raumüberwindende Sekundärkommunikation konzentrieren und die Primärkommunikation, zu der auch die symbolische Kommunikation zu zählen ist, weitgehend außer Acht lassen13. Dies hat neben der Rücksicht auf das Thema auch überlieferungsbedingte Gründe, denn die Bindung der Sekundärkommunikation an Medien bietet mit Ausnahme der keineswegs unbedeutenden Botenkommunikation zumindest für einen Teil dieser Kommunikationsvorgänge prinzipiell die Chance, uns in schriftlichen Quellen zugänglich zu sein. Primärkommunikation hingegen ist flüchtig und unserem Zugriff für immer entzogen, falls sie nicht durch spätere Berichte einen nachträglichen, quellenkritisch allerdings nicht unproblematischen Verschriftlichungsprozess durchlaufen hat14. Eine solche Konzentration auf Sekundärkommunikation führt in Verbindung mit der Berücksichtigung des Raumes zwangsläufig zur Mobilitätsgeschichte, da jede Form des Austauschs von materiellen und immateriellen Entitäten im Mittelalter an die Bewegung von Menschen im Raum geknüpft war15. Aus diesem Grunde dig zum Ausdruck gebracht wurde, dass man die bestehenden Verhältnisse akzeptierte, so Althoff, Bedeutung (wie Anm. 11), S. 373, scheint keineswegs zwingend. 12 Otto B. Roegele, Kommunikation. I. Kommunikationswissenschaftlich, in: Staatslexikon 3 (1987), Sp. 582–583, hier Sp. 582. 13 Mit „mündlicher Kommunikation“ ist Primärkommunikation gerade angesichts der Bedeutung symbolischer Kommunikation nicht exakt definiert. Andererseits sind gerade mündlich übermittelte Botschaften von Boten als Sekundärkommunikation anzusprechen, da sie vermittelt und nicht unmittelbar übertragen wurden. 14 Ob hier zur klassischen Quellenkritik tatsächlich die Neurowissenschaft zur Ermittlung der „Modulationsfaktoren“ treten muss, ist keineswegs unumstritten; vgl. aber Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 370. Die besondere Problematik des Verhältnisses von lateinischer und volkssprachlicher verbaler Kommunikation behandelt umfassend Michael Richter, Kommunikationsprobleme im lateinischen Mittelalter, in: HZ 222 (1976), S. 43–80. 15 Gerade die Canossareise Heinrichs IV. ist, angeregt von Überlegungen zu den dabei in Anschlag zu bringenden Entfernungen und Reisegeschwindigkeiten, jüngst von Johannes Fried einer Neudeutung unterzogen worden – der sich allerdings zahlreiche Kollegen nicht anschließen wollten; Johannes Fried, Der Pakt von Canossa. Schritte zur Wirklichkeit durch Erinnerungsanalyse, in: Wilfried Hartmann, Klaus Herbers, Die Faszination der Papstgeschichte, Köln u. a. 2008 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mit-
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haben wir uns mit der Frage zu befassen, wie Nachrichten und Informationen – um die es uns ja vorrangig geht – unter den besonderen Bedingungen, denen Mobilität und Kommunikation im Mittelalter unterworfen waren, befördert wurden.
Boten im hohen Mittelalter Boten können das ganze Mittelalter hindurch nicht mit Briefträgern im modernen Sinne verglichen werden16. Sie sind auch im technischen Sinne als Medium der Kommunikation zu betrachten. Vor allem die brieflichen Quellen des Investiturtelalters, 28), S. 133–97. Vgl. zur Diskussion seiner Ergebnisse Patrick Bahners, Nach Canossa gehen wir nicht zurück, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2015, S. N3. 16 Vgl. zum mittelalterlichen Botenwesen Hartmut Hoffmann, Zur mittelalterlichen Brieftechnik, in: Konrad Repgen, Stephan Skalweit (Hg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964, Münster/Westf. 1964, S. 141–170; Reinhard Elze, Über die Leistungsfähigkeit von Gesandtschaften und Boten im 11. Jahrhundert. Aus der Vorgeschichte von Canossa 1075–1077, in: Histoire comparée de l’administration (IVe – XVIIIe siècles). Actes du XIVe colloque historique franco-allemand, Tours, 27 mars – 1er avril 1977, organisé en collaboration avec le Centre d’Etudes Supérieures de la Renaissance par l’Institut Historique Allemand de Paris. Préface par André Stegmann, München 1980 (Beihefte der Francia, 9), S. 3–16; Thomas Szabó, Botenwesen (wie Anm. 3); Bernd Schneidmüller, Briefe und Boten im Mittelalter. Eine Skizze, in: Wolfgang Lotz (Hg.), Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder, Berlin 1989, S. 10–19; Stephan Freund, Boten und Briefe. Formen und Wege bayerisch-italienischer Kommunikation im Früh- und Hochmittelalter, in: Heinz Dopsch u. a. (Hg.), Bayern und Italien. Politik, Kultur, Kommunikation (8.–15. Jahrhundert). Festschrift für Kurt Reindel zum 75. Geburtstag. Im Auftrag der Kommission für bayerische Landesgeschichte, München 2001, S. 55–103; Stephan Freund, Offene Briefe, fehlende Boten, mühsame Reisen – Nachrichtenübermittlung und Kommunikation am Beispiel des Petrus Damiani, in: Andreas Laubinger u. a. (Hg.), Text – Bild – Schrift. Vermittlung von Information im Mittelalter, München 2007 (Mittelalter-Studien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, Paderborn, 14), S. 45–64; Volker Scior, Stimme, Schrift und Performanz. ‹Übertragungen› und ‹Reproduktionen› durch frühmittelalterliche Boten, in: Britta Bussmann u. a. (Hg.), Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2005 (Trends in medieval philology, 5), S. 77–99; Volker Scior, »Veritas« und »certitudo« oder: Warten auf Wissen. Boten in frühmittelalterlichen Informationsprozessen, in: Das Mittelalter 11 (2006), S. 110–131; Volker Scior, Bemerkungen zum frühmittelalterlichen Boten- und Gesandtschaftswesen, in: Walter Pohl, Veronika Wieser (Hg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, Wien 2009 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften, 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 16), S. 315–330.
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streits wimmeln geradezu von Belegen, in denen davon gesprochen wird, der Kommunikationspartner solle entweder mit Boten oder per Brief antworten – und auch dieser war natürlich durch einen Boten zu befördern17. Bei rein mündlichen Botschaften mag man an Marshall McLuhans bereits erwähnten Satz „the medium is the message“ denken, aber in jedem Fall lassen sich über die Inhalte dieser Botenkommunikation naturgemäß keine verlässlichen Aussagen treffen18. In hohem Maß verbreitet war noch während der Zeit des Investiturstreits eine mündlich-schriftliche Mischkommunikation19. Erst im ausgehenden Mittelalter vertraute man zuneh17 Bischof Embricho von Augsburg schreibt etwa an Bischof Burchard von Halberstadt im Oktober 1075, er solle antworten vel per litteras vel per fidelem nuntium; Briefsammlungen aus der Zeit Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann, Norbert Fickermann, Weimar 1950 (MGH. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit, 5), Nr. 54, S. 101. Gregor VII. richtet an Hugo von Die als seinen Legaten folgende Anweisung: tam viva voce quam litteris ex nobis te super hac re commonitum esse meminimus, ut, quicquid in synodis ageres, diligenter conscriptum nobis dirigeres, Das Register Gregors VII., ed. Erich Caspar, 2 Bände, Berlin 1923 (MGH Epp. sel. 2), hier: Bd. 2, Reg. IX 15, 1081, S. 595. Eine ähnliche Anweisung des Papstes erreicht auch den Dogen von Venedig: Quicquid igitur inde inter vos consultum et constitu tum fuerit, nobis per litteras aut certos nuntios quamtotius renuntiate, Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 1, Reg. II 39, 1074 Dez. 31, S. 176. An Heinrich IV. schreibt Gregor in einer frühen Phase des Investiturstreits: De cętero mirum nobis valde videtur, quod totiens nobis tam devotas epistolas et tantam humilitatem tuę celsitudinis per legatorum tuorum verba transmittis; Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 1, Reg. III 10, 1075 Dez. 8, S. 264. 18 Auch für die Fernkommunikation gilt somit zumindest über weite Strecken der Satz Hanna Vollraths: „Das soziale Leben des frühen und hohen Mittelalters vollzog sich weitgehend mündlich.“ Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: HZ 223 (1981), S. 571–594, hier S. 589. 19 Vgl. dazu für das Frühmittelalter die Belege bei Scior, Stimme, Schrift und Performanz (wie Anm. 16). Das Problemfeld wird knapp behandelt bei Michael T. Clanchy, From memory to written record. England 1066–1307, Oxford u. a. 21993, S. 260–266 (mit der eindrücklichen Gegenüberstellung von Botenbericht und Papstbrief im Zuge des englischen Investiturstreits); vgl. auch die entsprechenden Ausführungen bei Hoffmann, Zur mittelalterlichen Brieftechnik (wie Anm. 16), hier S. 145–147. Ausschließlich auf die Darbietungsformen mittelalterlicher Literatur beschränkt sich der in unserem Zusammenhang häufig zitierte Beitrag von Ruth Crosby, Oral Delivery in the Middle Ages, in: Speculum 11 (1936), S. 88–110. Weitere Literatur bei Scior, »Veritas« und »certitudo« (wie Anm. 16), S. 112 mit Anm. 11. Horst Wenzel, Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger, in: Horst Wenzel (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen, 143), S. 86–105, widmet sich dem Thema ausführlich unter bevorzugter Berücksichtigung literarischer mittelhochdeutscher Quellen (vgl. auch, auf den höfischen Boten beschränkt, Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 252–269). Vgl. zu dieser Thema-
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mend ganz der Schrift und löste die Botschaft vom Körper des Boten ab20. Erst die völlige Umstellung auf die rein schriftliche Kommunikation ermöglichte nun die Einführung von Stafetten21. Bis zu diesem Zeitpunkt legte in aller Regel ein einzitik im Epistolar Bernhards von Clairvaux Jürg Zulliger, „Ohne Kommunikation würde Chaos herrschen“. Zur Bedeutung von Informationsaustausch, Briefverkehr und Boten bei Bernhard von Clairvaux, in: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 251–276, bes. S. 266–272; einige frühere Belege sind zusammengestellt bei Freund, Boten und Briefe (wie Anm. 16), hier S. 68–73. 20 Vgl. dazu, allerdings auf der Grundlage literarischer Quellen, Wenzel, Hören und Sehen (wie Anm. 19), S. 269: „Der Medienwechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit hat sich also auch im 13. und 14. Jahrhundert noch nicht endgültig vollzogen. In vieler Hinsicht gilt das ähnlich selbst noch für das 14. und 15. Jahrhundert.“ In eine ähnliche Richtung weisen die Überlegungen von Jürgen Herold, Empfangsorientierung als Strukturprinzip. Zum Verhältnis von Zweck, Form und Funktion mittelalterlicher Briefe, in: Karl-Heinz Spiess (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 15), S. 265–287, hier S. 267: „Eine (zumeist) vollständige inhaltliche Lösung von Bote und Brief wurde erst in der Moderne durch das weitgehend anonyme Zustellsystem der Post erreicht.“ Monika Suchan geht – ohne sich dabei Rechenschaft über die Folgen dieser Einschätzung für die historische Erforschung jener Epoche abzulegen – gar davon aus, zur Zeit des Investiturstreits und im besonderen während der Auseinandersetzung um Heinrich IV. sei die Kommunikation insgesamt von Mündlichkeit dominiert worden; Monika Suchan, Publizistik im Zeitalter Heinrichs IV. – Anfänge päpstlicher und kaiserlicher Propaganda im „Investiturstreit“?, in: Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften, 307 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 6), S. 29–45, hier S. 34. 21 Einen Abriss der im Herzogtum Mailand der 1380er Jahre einsetzenden, den römischen cursus publicus erneuernden „Renaissance der Stafette“ bietet Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 189), S. 52–64, vgl. zum antiken cursus publicus Erik J. Holmberg, Zur Geschichte des Cursus publicus, Uppsala 1933, bes. S. 69–85. Vgl. auch Yves Renouard, Informations et transmissions des nouvelles, in: Charles Samaran (Hg.), L’histoire et ses méthodes, Paris 1961 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 95–142, hier S. 106f., sowie den Überblick bei Szabó, Botenwesen (wie Anm. 3). Nördlich der Alpen liegen bereits Belege für die temporäre Nutzung von Botenstafetten durch die rheinischen Städtebünde für die Zeit um 1400 vor, vgl. Christian Jörg, Kommunikative Kontakte – Nachrichtenübermittlung – Botenstafetten. Möglichkeiten zur Effektivierung des Botenverkehrs zwischen den Reichsstädten am Rhein an der Wende zum 15. Jahrhundert, in: Romy Günthart, Michael Jucker (Hg.), Kommunikation im Spätmittelalter. Spielarten – Wahrnehmungen – Deutungen, Zürich 2005, S. 79–89, bes. S. 85–86. Das Fehlen eines Relaissystems im Mittelalter betont auch Schneidmüller, Briefe und Boten (wie Anm. 16), hier S. 15. Elze vermutet anhand der Transportgeschwindigkeiten von Briefen zur Zeit des deutschen Investiturstreits, wenn
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ger Bote die gesamte Strecke zwischen beiden Kommunikationspartnern zurück und trug zumeist einen Teil der Botschaft auch – oder eben nur – mündlich vor22. Damit kommt bei der Auswertung brieflicher Quellen neben dem Problem der stets zu unterstellenden Unvollständigkeit der uns überlieferten Sekundärkommunikation ein weiteres hinzu: Selbst wenn wir davon ausgehen könnten, ein uns im Rahmen einer Sammlung überlieferter Brief dokumentiere vollständig und unverändert die schriftlich übermittelte Botschaft des einst physisch übermittelten Schreibens und habe alle späteren Überarbeitungsschritte auf dem Weg in seine Sammlung unbeschadet überstanden, so müssen wir in aller Regel davon ausgehen, dass Teile der zwischen Absender und Empfänger ausgetauschten Informationen uns nicht zur Verfügung stehen, weil sie allein mündlich durch den Boten übermittelt wurden. Nur gelegentlich finden sich in Briefen Hinweise, fehlende Teile der Nachricht werde der Bote mündlich vortragen, doch es wäre voreilig, im Umkehrschluss beim Fehlen solcher Bemerkungen von rein schriftlicher Kommunikation auszugehen23. Angesichts der beträchtlichen Mobilitätskosten, zu denen überdies die erheblichen, zeittypischen Mobilitätsrisiken traten, war Verfügung über Boten ein bestimmender Faktor bei der Etablierung von Kommunikationsmacht24. Selbst Gregor VII. auch Belege für ein regelrechtes System von Poststationen fehlten, seien doch Gelegenheiten zum Wechseln der Pferde vorauszusetzen: Elze, Leistungsfähigkeit (wie Anm. 16), hier S. 8–9. 22 Zahlreiche instruktive, vorwiegend englische Beispiele für die bis ins 12. Jahrhundert nachweisbare Praxis der Entsendung von Boten mit mündlichen Botschaften verzeichnet Pierre Chaplais, English diplomatic practice in the middle ages, London u. a. 2003, S. 2–45. Nach Chaplais’ Ansicht war es unter Lesekundigen allerdings obligatorisch, den Überbringer einer mündlichen Botschaft mit einem Begleitschreiben auszustatten (Chaplais, English diplomatic practice, wie oben, S. 12). Giles Constable vermutet gar eine genetische Entwicklung von der schriftlichen Boteninstruktion zum Brief, was streng evolutionistisch einer graduellen Emanzipation der schriftlichen von der mündlichen Kommunikation entspräche vgl. dazu Giles Constable, Letters and letter-collections, Turnhout 1976 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, 17), S. 13. 23 Geradezu paradigmatisch beschreibt ein Reim des Abts Reinhard von Reinhausen aus dem Jahre 1148 diesen Sachverhalt gegenüber Wibald von Stablo: cetera verborum / narrabit portitor horum; Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo, ed. Martina Hartmann, Hannover 2012 (MGH. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit, 9), ep. 100, S. 87, auch wenn die Motive zur mündlichen Übermittlung eines Teils der Information in diesem konkreten Fall offensichtlich im Versuch ihrer Geheimhaltung lagen (vgl. MGH, Die Briefe der deutschen Kaiserzeit, 9, ep. 100, S. 87, Anm. 5). 24 Vgl. zu den Mobilitätsrisiken die Nachweise bei Thomas Wetzstein, Europäische Vernetzungen. Straßen, Logistik und Mobilität in der späten Salierzeit, in: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa in der Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, S. 341–370, hier S. 347f., Fn. 23 (und
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nutzte offenbar bei der Kommunikation mit Herrschern systematisch die Boten seiner Kommunikationspartner, nachdem diese ihm eine Nachricht hatten überbringen lassen, und ordnete nicht selten deren erneuten Einsatz für weitere Kommunikationsanliegen an25. Nicht selten diktierte die Verfügbarkeit eines Boten sogar die Rhythmen der Kommunikation, und Belege mit der Aussage „Ich schreibe Dir, weil gerade ein Bote zur Verfügung steht“ oder „Mein Brief endet hier, weil der Bote drängt“ sind keineswegs als reine Topik abzutun.26 Die Bindung mittelalterlicher Fernkommunikation an die Mobilität von Boten brachte somit nicht nur eine erhebliche soziale Determinante ins Spiel, sondern bewirkte durch die Praxis der mündlich-schriftlichen Mischkommunikation auch, dass uns die Fernkommunikation des 11. Jahrhunderts immer nur ausgesprochen fragmentarisch zugänglich und selbst bei besten Überlieferungsbedingungen nicht vollständig rekonstruierbar ist.
Hochmittelalterliche Briefe als historische Quelle Mittelalterliche Briefe, die mit Ausnahme der nach wie vor wegweisenden Studie Erdmanns in der Vergangenheit zumeist mit Einzelbelegen als Quelle herangezogen wurden, erfahren derzeit eine wachsende Hochschätzung27. Die scheinbare Nähe weitere Quellennachweise). Einschlägig zu dieser Thematik ist hier bislang vor allem der Beitrag von Timothy Reuter, Die Unsicherheit auf den Straßen im europäischen Frühund Hochmittelalter: Täter, Opfer und ihre mittelalterlichen und modernen Betrachter, in: Johannes Fried (Hg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, Sigmaringen 1996 (Vorträge und Forschungen, 43), S. 169–201. 25 Im berühmten, bereits erwähnten Brief Gregors an Heinrich IV. vom 8. Dezember 1075 verlangt der Papst ausdrücklich, die königlichen Boten, denen er diesen Brief überreicht hatte, sollten dem König die Anliegen des Papstes vortragen und dann wieder mit der entsprechenden Stellungnahme des Königs zu ihm zurückkommen, vgl. Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 1, Reg. III 10, 1075 Dez. 8, S. 267. 26 So schrieb etwa Meinhard von Bamberg 1063/64 an Bischof Gunther von Bamberg: Plura vellem licet inepta effutire, sed nuntius urget, Briefsammlungen aus der Zeit Heinrichs IV. (wie Anm. 17), Nr. 27, S. 224. Erzbischof Bartholomäus von Tours sandte zwischen 1061 und 1068 Papst Alexander II. einen offenbar von Berengar von Tours konzipierten Gruß nur, weil sich anläßlich der Romreise einer seiner Kleriker die Gelegenheit dazu bot: Pro cessuri ad limina beati Petri ecclesię nostrę clerici exitus opportunitatem dedit, ut paternitatis tuę sublimitati devotę salutationis meę obsequium non deesset, Briefsammlungen aus der Zeit Heinrichs IV. (wie Anm. 17) ep. 94, S. 161. 27 Carl Erdmann, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert, Lepizig 1938 (MGH. Schriften des Reichsinstituts für Ältere Deutsche Geschichtskunde, 1). Bei-
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mittelalterlicher Briefe zur im Verschwinden begriffenen Briefkultur der Gegenwart darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Epistolographie des Mittelalters in mehrfacher Hinsicht grundlegend von ihrem modernen Pendant unterscheidet28. In einer idealtypischen Vereinfachung, die von einzelnen historischen Phasen der mittelalterlichen Epistolographie absieht, betreffen diese Unterschiede besonders die Entstehung und die Überlieferung von Briefen. Im Detail wird sich unser Augenmerk dabei im folgenden primär auf das Hochmittelalter beschränken. Hinsichtlich der Entstehung von Briefen sollte dabei zunächst darauf hingewiesen werden, in welchem Maße die unmittelbare Beteiligung an der mittelalterlichen Briefkultur auf eine kleine soziale Gruppe beschränkt war. Zum Abfassen eines Briefes waren zumindest bis zum Aufkommen erster volkssprachlicher Briefe um 120029 nicht nur Lateinkenntnisse erforderlich, sondern auch ein hoher Bildungsgrad, der die komplexen Regeln der Abfassung eines lateinischen Briefes zu umfassen hatte30. Diese Voraussetzungen beschränkten die aktiven Briefschreiber bis zum Ende des Hochmittelalters weitgehend auf das klerikale Milieu. Laien bis hinauf zu Herrschern hatten sich daher aus technischen und sprachlichen Gründen gleichermaßen der Hilfe Dritter zu bedienen, wollten sie den Brief als Medium der spielhaft herausgegriffen seien Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten, Köln u. a. 2011 (Norm und Struktur, 39), sowie – methodisch weitaus durchdachter – Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 11). 28 Grundlegende Literatur: Erdmann, Studien (wie Anm. 27); Jean Leclercq, Le genre épistolaire au moyen âge, in: Revue du Moyen Âge Latin 2 (1946), S. 63–70; Hoffmann, Zur mittelalterlichen Brieftechnik (wie Anm. 16); Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22); Franz-Josef Schmale, Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen. IV. Lateinisches Mittelalter, in: LexMA 2 (1983), Sp. 652–659; Rolf Köhn, Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters, in: Jörg O. Fichte u. a. (Hg.), Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongreßakten zum Ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984, Berlin, New York 1986, S. 340–356; Schneidmüller, Briefe und Boten (wie Anm. 16); John van Engen, Letters, Schools, and Written Culture in the Eleventh and Twelfth Centuries, in: Johannes Fried (Hg.), Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert, München 1997 (Schriften des Historischen Kollegs, 27), S. 97–132; zusammenfassend zuletzt Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 11), S. 64–106. 29 Köhn, Latein und Volkssprache (wie Anm. 28), hier S. 342. 30 Vgl. dazu nun umfassend Florian Hartmann, Ars dictaminis. Briefsteller und verbale Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Ostfildern 2013 (Mittelalter-Forschungen, 44), hier bes. S. 1–34.
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Fernkommunikation nutzen31. Noch in den Augen eines Chronisten der Mitte des 12. Jahrhunderts stellte es eine bemerkenswerte Ausnahme dar, wenn ein Fürst wie der 1088 verstorbene sächsische Pfalzgraf Friedrich II. von Goseck aufgrund seiner in Fulda erworbenen Bildung imstande war, selbständig einen lateinisch verfassten Brief zu entziffern und zu verstehen – und dies, obwohl es im Verlauf des 12. Jahrhunderts eine immer größere Anzahl von Herrschern wie etwa auch Heinrich IV. gab, die über umfassende Bildung verfügten32. Neben diesen erheblichen Bildungsvoraussetzungen limitierten allerdings auch materielle Voraussetzungen die Epistolographie: Ein Schreiber, möglicherweise auch ein dictator, war zumindest zeitweise zu unterhalten, teures Pergament musste als Beschreibstoff beschafft werden und zum Transport eines Briefes musste ein Bote zur Verfügung stehen33. Der komplexe Entstehungsprozess eines Briefes, der aus mehreren Schritten bestand und sich unter Beteiligung mehrerer Personen vollzog, bringt es mit sich, dass sich die tatsächliche Urheberschaft brieflicher Inhalte und damit die Authentizität von Briefen häufig nicht rekonstruieren lässt34. Nur selten ist, wie etwa im Falle des berühmten antigregorianischen Schreibens des Bischofs Dietrich von Verdun aus dem Jahre 1080, angegeben, dass ein anderer – in diesem Fall Wenrich von Trier – als Autor 31 Vgl. Van Engen, Letters, Schools, and Written Culture (wie Anm. 28), hier S. 111; vgl. auch nach wie vor Herbert Grundmann, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 1–65, hier S. 3. Auf S. 45–52 nennt Grundmann Belege für den weit verbreiteten Analphabetismus unter den europäischen Herrschern des hohen Mittelalters. Weiterführende Angaben dazu finden sich bei Haye, Lateinische Oralität (wie Anm. 11), S. 24, Anm. 76. Umfassend wurde das Thema der Verbreitung von Lesekenntnissen auf breiter lateineuropäischer Ebene behandelt von James Westfall Thompson, The literacy of the medieval laity in the Middle Ages, Berkeley 1939 (ND New York 1960) (Univ. of California Publications in education, 9) (Burt Franklin research and source works series, 2). 32 Chronicon Gozecense, ed. Rudolf Köpke, in: MGH SS, 10, Hannover 1852, S. 140–157, hier S. 148/10: Ferunt etiam quia litterarum scientia adeo in curia Vuldensi instructus fue rit, ut epistolas transmissas per se legeret et intelligeret. Eine umfassende Darstellung des im fraglichen Zeitraum gewachsenen Bildungsstandes der europäischen Herrscher findet sich bei Thompson, The literacy of the medieval laity (wie Anm. 31), S. 82–195. Einige Beispiele finden sich mit Nachweisen auch bei Grundmann, Litteratus – illiteratus (wie Anm. 31), S. 45. 33 Zur Unterscheidung von Formulierung und Diktat eines Briefes (componere, dictare) und seiner technischen Herstellung (scribere) vgl. die Ausführungen bei Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22), S. 42f. Die materiellen Voraussetzungen behandelt (mit weiteren Verweisen) Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 11), S. 52f. 34 Vgl. dazu auch die zu recht skeptische Einschätzung bei Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 11), S. 57.
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des unter dem Namen des Bischofs von Verdun zirkulierenden Schreibens zu betrachten ist35. Stets gilt hinsichtlich der Authentizität darüber hinaus zu berücksichtigen, dass an Briefe des Hochmittelalters schon bei ihrer Entstehung, in noch größerem Umfang freilich bei einer späteren, noch zu behandelnden Aufnahme in eine Sammlung, der Anspruch hoher literarischer Qualität gestellt wurde36. Damit stehen Rhetorizität und Intertextualität einer unmittelbaren Auswertung von Briefen als historischer Quelle im Wege. Ein weiterer Faktor beeinträchtigt den Quellenwert hochmittelalterlicher Brief literatur: die Existenz von Übungsbriefen, Briefen also, die als fingierte Stilübungen zu betrachten sind und einen möglicherweise angegebenen Empfänger niemals erreichten. Für das Reich ist Erdmann allerdings überzeugt, dass derartige fiktive Briefe erst zu Beginn des 12. Jahrhunderts mit der wachsenden Bedeutung der aus Italien übernommenen artes dictandi aufkamen37. Ein entscheidendes Merkmal der uns bekannten mittelalterlichen Briefe liegt in ihrer besonderen Form der Überlieferung begründet. Vor allem für die in unserem Kontext relevanten hochmittelalterlichen Briefe gilt, dass sie in aller Regel nicht im Original, sondern lediglich in Form abschriftlicher Überlieferung und
35 Vgl. dazu Wenrici scolastici Trevirensis epistola sub Theoderici Episcopi Virdunensis nomine composita, ed. Kuno Francke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 280–299; Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894 ( ND Leipzig 1965) S. 23–35. Ob dieses Schreiben ursprünglich tatsächlich „nicht unter dem Namen des wahren Verfassers (über den man allerdings in beiden Lagern Bescheid wusste)“ zirkulierte (Wilhelm Wattenbach, Robert Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier. Zweiter Teil. Drittes und viertes Heft: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050–1125). Neuausgabe, besorgt von Franz-Josef Schmale, Berlin 1940/1943 (ND Darmstadt 1967), S. 631) und Explicit epistola theoderici episcopi edita ex persona ipsius a Guenrico scolastico Trevirensi (MGH Ldl, 1, S. 299) eine spätere Beifügung ist, lässt sich der Edition zumindest nicht entnehmen. Dass Dietrich von Verdun von Weinfurter als Adressat, nicht aber als eigentlicher Absender des Briefs bezeichnet wird, muss auf einem Irrtum beruhen; Stefan Weinfurter, Canossa: Die Entzauberung der Welt, München 2006, S. 137. 36 Vgl. dazu die Überlegungen bei Erdmann, Studien (wie Anm. 27), S. 2. Im besonderen hat Erdmann etwa im Epistolar des zeitlich in die Frühphase des Investiturstreits passenden Meinhard von Bamberg zahlreiche umfangreiche Übernahmen aus der antiken Literatur und im besonderen „stillschweigende Entlehnungen“ aus Livius und Quintilian namhaft machen können (Erdmann, Studien [wie Anm. 27], S. 106). 37 Erdmann, Studien (wie Anm. 27), S. 200f. Vgl. zu diesem Problem auch die Ausführungen bei Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 11), S. 69.
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dies zumeist im Rahmen einer Sammlung auf uns gekommen sind38. Lassen wir Fragen der Authentizität zunächst einmal beiseite, ergibt sich für die Auswertung der in dieser Form überlieferten Briefe zunächst das Problem, für wie repräsentativ wir die uns erhaltenen Briefe für die gesamte briefliche Kommunikation einer bestimmten Person, einer Institution oder einer Gruppe von Briefpartnern halten können39. Das berühmte Registrum Vaticanum 2 mit den Briefen Gregors VII. etwa enthält 360 Stücke. Über 70 Briefe sind bekannt, von denen sich im Briefregister des Papstes keine Spur findet. Schätzungen der ursprünglich vorhandenen Anzahl von Briefen Gregors VII. schwanken zwischen 600 oder 700 bis hinauf zu 150040. Nach welchen Kriterien Briefe Aufnahme ins Register fanden, andere hingegen nicht, ist dabei nach wie vor unklar. Nur selten können wir überdies davon ausgehen, dass wir in den Briefsammlungen die Abschrift eines gewissenhaft geführten Briefbuchs oder gar – wie im Falle Gregors VII. – das Original selbst vor uns haben41. In den meisten Fällen müssen wir annehmen, dass zwischen der eigentlichen Entstehung eines Briefes und seiner Aufnahme in eine Sammlung ein größerer zeitlicher Abstand liegt. Diese besondere Problematik der Überlieferung mittelal38 Eine ausführliche Beschreibung mittelalterlicher Originalbriefe am Beispiel einer Gruppe von 30 Briefen aus dem 12. Jahrhundert gibt Walter Wache, Eine Sammlung von Originalbriefen des 12. Jahrhunderts im Kapitelarchiv von S. Ambrogio in Mailand, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 50 (1936), S. 261–333. Weitere wenige Beispiele finden sich bei Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22), S. 56. Die 1986 von Rolf Köhn angekündigte Auswertung einer Sammlung von – durchweg zufällig erhaltenen – Originalbriefen aus dem Zeitraum zwischen dem 8. und frühen 13. Jahrhundert ist leider bislang nicht erschienen; Köhn, Latein und Volkssprache (wie Anm. 28), S. 346 mit Anm. 19. Köhn gibt andernorts für diesen Zeitraum als „Ergebnis jahrelangen Sammelns“ eine Zahl von maximal 200 erhaltenen Originalbriefen an; Rolf Köhn, Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelalterlichen Korrespondenz, in: Gert Melville, Peter von Moos (Hg.), Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, Köln u. a. 1998 (Norm und Struktur, 19), S. 309– 357, hier S. 338f. Vorschläge zu einer Typologie der Briefsammlungen nach ihrer Funktion finden sich bei Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22), S. 56. 39 Schon Erdmann nahm für das von ihm edierte Epistolar des Meinhard von Bamberg mit 68 Briefen aus der Zeit des Investiturstreits an: „Es liegt auf der Hand, daß auch hierbei das Erhaltene nur ein Bruchteil des einstmals Vorhandenen ist“. Erdmann, Studien (wie Anm. 27), S. 23. 40 Die Diskussion und die Berechnungsmodalitäten sind wiedergegeben bei Leidulf Melve, Inventing the public sphere. The public debate during the Investiture Contest (c. 1030– 1122). 2 Bde., Leiden u. a. 2007 (Brill’s studies in intellectual history, 154, 1–2), hier Bd. 1, S. 179–181. 41 Vgl. zur Diskussion um das Register Gregors VII. die weiterführenden Angaben bei Melve, Inventing the Public Sphere (wie Anm. 40), S. 179 Anm. 63.
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terlicher Briefe lässt sich an einem Beispiel aus unserem Zeitraum gut illustrieren. Carl Erdmann ging in der Blütephase der Stilforschung davon aus, einige Konzipienten von Briefen aus dem „Codex Udalrici“ anhand stilistischer Kriterien identifizieren zu können, und schloss so auf die Beteiligung Erlungs, des Kanzlers Heinrichs IV. in den Jahren 1103–1105. Dieser nämlich habe sich stilistisch an seinem Onkel Meinhard von Bamberg orientiert, von dem ebenfalls zwölf Briefe aus den 1090er Jahren stammen sollen. Robinson hat hingegen überzeugend darlegen können, dass der ursprüngliche Stil der Briefe nicht mehr erhalten ist. Vielmehr habe der Kompilator des „Codex Udalrici“ im 12. Jahrhundert Meinhard und die Bamberger Schule besonders verehrt und deren Stil bei der Zusammenstellung der Briefe schlicht imitiert42. Dieser Fall vermag zu zeigen, welche Probleme sich für eine historische Auswertung hochmittelalterlicher Briefe aus dem dominierenden Überlieferungsmuster der Briefsammlung ergeben können. Überarbeitungen wie im geschilderten Beispiel waren bei der Herstellung von Briefsammlungen die Regel43. Auch schwerwiegende Eingriffe in möglicherweise bereits bestehende Briefkorpora wie die Auswahl einzelner Briefe und die Unterdrückung anderer Stücke, sprachlich-stilistische Glättungen und Tilgungen sowie andererseits die Beifügung fiktiver Briefe erklären sich in vielen Fällen aus einer didaktischen Zweckbestimmung der Briefsammlung. Bei der Aufbereitung einzelner Stücke für eine Sammlung wurden häufig etwa die salutatio, der Briefschluss und, falls überhaupt jemals vorhanden, auch fast immer eine Datierung getilgt44. Zusammenfassend lässt sich 42 Carl Erdmann, Untersuchungen zu den Briefen Heinrichs IV., in: Archiv für Urkundenforschung 16 (1939), S. 184–253, hier S. 241; Ian Stuart Robinson, Authority and Resistance in the Investiture Contest. The Polemical Literature of the Late Eleventh Century, Manchester, New York 1978, S. 66. 43 Vgl. grundlegend dazu: Rolf Köhn, Zur Quellenkritik kopial überlieferter Korrespondenz im lateinischen Mittelalter, zumal in Briefsammlungen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 101 (1993), S. 284–310; Hans Martin Schaller, Briefe und Briefsammlungen als Editionsaufgabe. Die Zeit nach 1100, in: Mittelalterliche Textüberlieferungen und ihre kritische Aufarbeitung. Beiträge der MGH zum 31. Deutschen Historikertag Mannheim 1976, München 1976, S. 63–69. Wieder abgedruckt in: Hans Martin Schaller, Stauferzeit. Ausgewählte Aufsätze, Hannover 1993 (MGH Schriften, 38), S. 409–416. Der Versuch Schmeidlers einer schematischen Typologie von Briefsammlungen kann mittlerweile als gescheitert betrachtet werden, vgl. Bernhard Schmeidler, Über Briefsammlungen des früheren Mittelalters in Deutschland und ihre kritische Verwertung, in: Vetenskaps-Societeten i Lund. Årsbok 1926, S. 5–27, mit den Bemerkungen bei Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22), S. 58–59. 44 Vgl. zu den Teilen eines mittelalterlichen Briefes Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22), S. 16–20. Wie weit derartige Überarbeitungen gehen konnten, zeigt das in die 1170er Jahre gehörende Epistolar der Hildegard von Bingen. Hier wurde zur
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festhalten: Briefe sind als historische Quelle nur mit größter Vorsicht zu verwerten. Sie ermöglichen, selbst wenn es nicht als zusätzliches Problem die überragende Bedeutung der Mündlichkeit zu berücksichtigen gälte, keinen Zugang mehr zur ursprünglichen Kommunikation45.
Der Investiturstreit und die Umbrüche der Kommunikationsgeschichte Briefliche Kommunikation spielt in den uns überlieferten Schriften des Investiturstreits im Reich eine erhebliche Rolle. Dabei standen neben Fragen der Gattungszugehörigkeit auch stets der Brief als Medium, die Schrift als Träger von Kommunikationsinhalten und Versuche der Meinungsbeeinflussung im Sinne einer Vorform von „Propaganda“ im Fokus der Forschung46. So hat bereits Carl Mirbt in seiner Suggerierung eines möglichst weiten Adressatenkreises ein Großteil der Empfängernamen schlicht ausgetauscht; vgl. dazu Konrad Bund, Zu methodischen Problemen der Neuedition des Epistolariums der Hildegard von Bingen, eines Briefwechsels mit komplizierter Überlieferungslage, in: Rheinische Vierteljahresblätter 57 (1993), S. 338–349, hier S. 341, sowie Monika Klaes, Von der Briefsammlung zum literarischen Briefbuch. Anmerkungen zur Überlieferung der Briefe Hildegards von Bingen, in: Edeltraud Forster (Hg.), Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, Freiburg i. Br. 1997, S. 153–170, hier S. 166. 45 Haseldine stellt zusammenfassend fest: “As a work of literature a letter collection is neither a complete nor an accurate guide to the exchange of missives.” Julian P. Haseldine, The creation of a literary memorial. The letter collections of Peter of Celle, in: Sacris erudiri 37 (1997), S. 333–379, hier S. 373. 46 Vgl. zum Zusammenhang von Brief und Frühformen öffentlichen Diskurses Jürgen Miethke, Publizistik. A. Westlicher Bereich. II. Spätmittelalter, in: LexMA 7 (1995), Sp. 315–317, hier Sp. 315, während Tilman Struve, Publizistik. A. Westlicher Bereich. I: Hochmittelalter, in: LexMA 7 (1995), Sp. 313–315, vorwiegend inhaltliche Aspekte der Streitschriften des Investiturstreits behandelt. Einen an Klaus Merten angelehnten Definitionsvorschlag von „Propaganda“ macht Oliver Münsch, Fortschritt durch Propaganda?: Die Publizistik des Investiturstreits zwischen Tradition und Innovation, in: Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung; Historischer Begleitband zur Ausstellung „Canossa 1077, Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik“, München 2006 (Mittelalterstudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, 13), S. 151–167, hier S. 151: „Propaganda als solche ist keine Kommunikationstechnik, sondern muss als Kommunikationssituation verstanden werden.“ Eine Ausnahme hinsichtlich der Berücksichtigung kommunikationsgeschichtlicher Implikationen des Investiturstreits macht hier besonders Leyser, der zwar von „forms of agitation which were novel to anyone who had grown up in the cloisters
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magistralen Studie zu den Streitschriften des Investiturstreits argumentiert47. Mirbt war dabei seiner Zeit weit voraus, indem er neben umfänglichen inhaltlichen Analysen der für ihn vorwiegend durch die Aufnahme in die „Libelli de lite“ der Monumenta Germaniae Historica definierten polemischen Literatur des Investiturstreits auch auf deren Verbreitung einging48. Carl Erdmann wies in einem schon wegen des Erscheinungsjahres 1936 bemerkenswerten Aufsatz zu den „Anfängen der staatlichen Propaganda“ im Investiturstreit auf die Verbindung einer spezifischen literarischen Form mit bestimmten, von Zielen politischer Propaganda definierten Verbreitungsmodalitäten von Schriftstücken im Investiturstreit hin49. Auch Robinson hat in einem vorwiegend der Rezeption der Streitschriften im 12. Jahrhundert gewidmeten Aufsatz betont, dass deren Autoren weitgehend einer bereits von Petrus Damiani praktizierten Entscheidung folgten und für ihre Schriften die Briefform wählten50. Umfassend hat sich schließlich Leidulf Melve, neben Habermas’ auf das Mittelalter nur bedingt übertragbarem Begriff von „Öffentlichkeit“ vor allem insand cathedral schools of early Salian times“ spricht, im folgenden jedoch ausschließlich auf inhaltliche Aspekte der Streitschriften eingeht; Karl Leyser, The polemics of the papal revolution, in: Beryl Smalley (Hg.), Trends in medieval political thought, Oxford 1965, S. 42–64, hier S. 42. 47 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 35), S. 5: „Am häufigsten begegnet [unter den Streitschriften – Th.W.] die Form der theologischen Abhandlung, daneben finden wir die Form des Briefes.“ 48 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 35), S. 2 (zur Zusammenfassung des „grösste[n] Teil[s]“ der Streitschriften in den Bänden der „Libelli de lite“); vgl. zum rasch vom Titel einer Unterreihe der MGH zur Gattungsbezeichnung aufgestiegenen Bezeichnung auch Rudolf Schieffer, Gregor VII. und die Könige Europas, in: Studi Gregoriani 13 (1989), S. 189– 211 (mit der Bezeichnung der entsprechenden Texte als „Manifeste“ und dem Hinweis, daß aus der spärlichen Überlieferung abzuleiten sei, „daß ihre Resonanz von vornherein gering“ war, andererseits aber der kommunikationsgeschichtlichen Bewertung, aus den Orten der Entstehung und den Verbreitungswegen der Schriften ließen sich Erkenntnisse über „Bibliotheken, Schulen und Reformzentren“ gewinnen; S. 198); kritische Überlegungen zur Problematik der Gattungsbezeichnung finden sich auch bei Münsch, Publizistik (wie Anm. 46), S. 153. Der dritte, 1897 erschienene Band der „Libelli“ lag Mirbt allerdings noch nicht vor. Mit der „Verbreitung der Streitschriften“ setzt sich Mirbt systematisch in einem eigenen Kapitel auseinander (S. 95–121). 49 Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: HZ 154 (1936), S. 491–512, bes. S. 506 und S. 510; vgl. auch Erdmann, Studien (wie Anm. 27), S. 3. Vgl. zu Erdmanns Ansatz die streckenweise recht kritischen Überlegungen bei Suchan, Publizistik (wie Anm. 20). 50 Ian Stuart Robinson, The ‘Colores Rhetorici’ in the Investiture Contest, in: Traditio 32 (1976), S. 209–238, hier S. 229–232. Vgl. in diesem Sinne auch Giles Constable, Papal, imperial and monastic propaganda in the eleventh and twelfth centuries, in: George Makdisi, Dominique Sourdel u. a. (Hg.), Prédication et propagande au Moyen Âge. Islam,
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piriert von Brian Stocks Theorie der Entstehung von „textual communities“ im hohen Mittelalter, auch mit der brieflichen Form der Streitschriften und ihren besonderen Verbreitungsbedingungen befasst51. Der als Kommunikationsereignis weitgehend auf das Reich und Italien beschränkte Investiturstreit steht zunächst kommunikationsgeschichtlich zwischen zwei großen, raumgreifenden Debatten: dem von Berengar von Tours ausgelösten Zweiten Abendmahlstreit (ca. 1049–1088), der neben Frankreich, Italien und dem Reich auch weit entfernte Räume wie England und Irland einbezog, und den ebenfalls räumlich weit ausgreifenden Auseinandersetzungen um das Papsttum im Alexandrinischen Schisma (1159–1177)52. Anhand dieser drei großen Debatten lassen sich das 11. und das 12. Jahrhundert als kommunikationsgeschichtliche Umbruchzeit mit der Herausbildung weitreichender institutionalisierter und dauerhafter Kommunikationszusammenhänge und zarten Anfängen einer „Öffentlichkeit“ identifizieren, die Kommunikationsräume hervorbrachten, wie sie dann wenig später etwa in der Teilnehmerliste des Vierten Laterankonzils greifbar werden53. Byzance, Occident, Paris 1983, S. 179–199, der sich neben Gattungsfragen auch mit den Verbreitungsmodalitäten befasst. 51 Hier stellt Melve den offenen Brief als Merkmal der mittleren Phase des Investiturstreits (1073–1099) besonders in den Vordergrund, wodurch die elitären Kreise der frühen Phase des Investiturstreits durch eine von brieflicher Propaganda geprägte „Teilöffentlichkeit“ geprägt gewesen seien; Melve, Inventing the Public Sphere (wie Anm. 41), S. 646. 52 Zum Abendmahlstreit ist nach wie vor zu verweisen auf Jean de Montclos, Lanfranc et Bérenger. La controverse eucharistique du XIe siècle, Leuven 1971 (Spicilegium sacrum lovaniense. Études et documents, 37). Einen dezidiert kommunikations- und diplomatiegeschichlichen Ansatz verfolgte zum Schisma Timothy Reuter, The Papal Schism, the Empire and the West, 1159–1169. Thesis Submitted for the Degree of Doctor of Philosophy, Merton College 1976. Reuter machte für die Durchsetzung Alexanders III. vor allem dessen erfolgreiche, von Zisterziensern und Prämonstratensern unterstütze Propagandaoffensive verantwortlich (ibid., S. 35). 53 Vgl. zur kommunikationsgeschichtlichen Bedeutung des Vierten Laterankonzils die Bewertung bei Thomas Wetzstein, Die Welt als Sprengel. Der päpstliche Universalepis kopat zwischen 1050 und 1215, in: Cristina Andenna u. a. (Hg.), Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen, 2: Zentralität. Papsttum und Orden im Europa des 12. und 13. Jahrhundert, Stuttgart 2013 (Aurora, 1.2), S. 169–187, hier S. 170, sowie, in einem umfassenderen Kontext, Thomas Wetzstein, Zur kommunikationsgeschichtlichen Bedeutung der Kirchenversammlungen des hohen Mittelalters, in: Gisela Drossbach, Hans-Joachim Schmidt (Hg.), Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen im Mittelalter, Berlin, New York 2008 (Scrinium Friburgense, 22), S. 247–297. Ausführlich hat sich, wie bemerkt, Leidulf Melve mit der neuen Bedeutung der „Öffentlichkeit“ im Investiturstreit auseinandergesetzt. In der späten Phase der Auseinandersetzungen (1099–1022) sieht er erstmalig eine Emanzipation der
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Dieser neuartige Zusammenhalt, der kaum einen Teil Lateineuropas aussparte, war getragen von einer Steigerung der Mobilität, die auch Gelehrte in zunehmendem Maße erfasste und zum Phänomen des Wanderlehrers, aber auch zu regelrechter Bildungsmobilität führte und seit dem 12. Jahrhundert zunehmend auch Gelehrte aus dem Reich an die hohen Schulen Nordfrankreichs lockte54. Ohne Zweifel haben darüber hinaus eine erste Blüte der Briefkultur sowie die gewachsene Schriftlichkeit die Entstehung der Streitschriften begünstigt und, durch die zunehmende Bedeutung schriftgestützter Sekundärkommunikation, uns in der Überlieferung zugänglicher gemacht55. Eine mit dem Investiturstreit im Zusammenhang stehende erste Herausbildung regelrechter kommunikativer Netzwerke konnte Johanne Autenrieth kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer Münchener Dissertation bereits für das gregorfreundliche Umfeld der Konstanzer Domschule namhaft machen56. Franz-Reiner Erkens hat vergleichbare Ergebnisse für das antigregorianische ZenÖffentlichkeit von päpstlicher Kanzlei und königlichem Hof; Melve, Inventing the Public Sphere (wie Anm. 41), S. 646. 54 Eine knappe Skizze dieser Entwicklungen bietet Thomas Wetzstein, New masters of space: the creation of communication networks in the West (11th–12th centuries), in: Meredith Cohen, Fanny Madeline (Hg.), Space in the medieval West. Places, territories, and imagined geographies, Farnham 2014, S. 115–133. Eine Verbindung zwischen den erhitzten Debatten des Investiturstreits und dem Anwachsen der Gelehrtenmobilität stellt auch Leidulf Melve her: Melve, Inventing the Public Sphere (wie Anm. 41), S. 55. 55 Vgl. zu diesem Zeitansatz der Briefkultur hier statt vieler die Ausführungen bei Constable, Letters and Letter-Collections (wie Anm. 22), S. 31. Zur neuen Bedeutung der Schriftlichkeit ist zu verweisen auf das anregende Panorama bei Hagen Keller, Die Entwicklung europäischer Schriftkultur im Spiegel der mittelalterlichen Überlieferung. Beobachtungen und Überlegungen, in: Paul Leidinger, Dieter Metzler (Hg.), Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Festschrift für Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag, Münster 1990, S. 171–204. Ob allerdings tatsächlich auch für diese erste Blüte der mittelalterlichen Briefkultur, wie dies in der Tradition der älteren deutschen Mediävistik für zahlreiche weitere Innovationsprozesse üblich ist, der Investiturstreit veranwortlich gemacht werden kann (eine Fülle von Belegen für diese Hypothese ist bei Melve zusammengestellt: Melve, Inventing the Public Sphere, wie Anm. 41, S. 181), ist zum einen nicht belegbar und zum anderen aufgrund der herausragenden Bedeutung des vom Investiturstreit im Reich kaum berührten Nordwesten Frankreichs für die hochmittelalterliche Epistolographie wenig plausibel. 56 Johanne Autenrieth, Die Domschule von Konstanz zur Zeit des Investiturstreits. Die wissenschaftliche Arbeitsweise Bernolds von Konstanz und zweier Kleriker dargestellt auf Grund von Handschriftenstudien, Hechingen 1956 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte. Neue Folge, 3). In einer resumierenden Kontextualisierung der Debatten des Investiturstreits sieht Melve den „revolutionary aspect“ dieser neuen Form einer öffentlichen Debatte vorbereitet durch ein „rebirth of the literary culture“ im 11. Jahrhundert und das gleichzeitige Anwachsen der Schriftlichkeit sowie durch „the emergence of popular
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trum Trier erzielen können57. Ian Stuart Robinson hat die Studien Autenrieths vertieft und einen Kreis vorwiegend süddeutscher Gregorianer identifiziert, der für einen freilich noch beschränkten geographischen Raum für die Weitergabe reform orientierten Schrifttums verantwortlich gemacht werden kann: In progregorianischen Zentren in Schwaben, Bayern, Lothringen, Sachsen, Bamberg und wohl auch in Mainz wurden etwa die ursprünglich durch Legaten verbreiteten einschlägigen Schreiben Gregors VII. gesammelt und zielgerichtet weiterverbreitet58. Mit der hier genannten primären Verbreitung eines päpstlichen Schreibens durch einen Legaten ist angesichts der eingangs angeführten Darlegungen über das Botenwesen ein zentraler Aspekt hochmittelalterlicher Kommunikationsstrukturen angesprochen: Wer Informationen verbreiten wollte, vielleicht gar mehrere geographische Räume gleichzeitig zu erreichen suchte, musste über entsprechende Ressourcen verfügen, um die mit der Entsendung eines Überbringers verbundenen Mobilitätskosten zu decken. Hier hatte der Papst eine Sonderstellung inne, die ihm auch gegenüber seinem ebenfalls mit großer Kommunikationsmacht ausgestatteten königlichen Widersacher aufgrund spezifischer rechtlicher Grundlagen einen unschlagbaren strategischen Vorteil sicherte: die als procuratio canonica bezeichnete Unterhaltspflicht der lateinischen Kirche für die vom Papst entsandten Legaten59. Sie wird wohl kaum zufällig erstmals im Pontifikat Gregors VII. nachweisbar, der wie kein Papst vor ihm den movements“ wie Häresien, die Gottesfriedensbewegung und die Pataria; Melve, Inventing the Public Sphere, wie Anm. 40, S. 654f. 57 Franz-Reiner Erkens, Die Trierer Kirchenprovinz im Investiturstreit, Köln, Wien 1987 (Passauer historische Forschungen, 4), S. 127–148. 58 Ian Stuart Robinson, The Dissemination of the Letters of Pope Gregory VII during the Investiture Contest, in: The Journal of Ecclesiastical History 34 (1983), S. 175–193, hier bes. S. 188f. Vgl. auch Ian Stuart Robinson, The friendship circle of Bernold of Constance and the dissemination of Gregorian ideas in late eleventh-century Germany, in: Julian P. Haseldine (Hg.), Friendship in Medieval Europe, Stroud 1999, S. 185–198; Ian Stuart Robinson, Zur Arbeitsweise Bernolds von Konstanz und seines Kreises. Untersuchungen zum Schlettstädter Codex 13, in: DA 34 (1978), S. 51–122; Ian Stuart Robinson, The friendship network of Gregory VII., in: History. The Journal of the Historical Association 63 (1978), S. 1–22. 59 Vgl. dazu die weiteren Nachweise bei Wetzstein, Welt (wie Anm. 53), hier S. 182–185. Eine knappe Zusammenfassung der besonderen Merkmale päpstlicher Kommunikationsmacht findet sich auch (mit weiteren Verweisen) bei Wetzstein, Canossa (wie Anm. 5), hier S. 118f. Carl Erdmann stellte ebenfalls fest: „Ein päpstlicher Propagandaappell drang weiter als ein kaiserlicher“, und dies sei für den Verlauf des Investiturstreits ein „nicht unwesentlicher Punkt“ gewesen; Erdmann, Anfänge (wie Anm. 49), hier S. 512. Auf den materiellen Aspekt der procuratio canonica geht er dabei allerdings nicht ein.
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Anspruch umsetzte, im weiten Raum der lateinischen Christenheit auch in der Praxis als episcopus omnium zu agieren60. Praktisch zu greifen ist die hinsichtlich seiner Kommunikationsmacht besondere, prinzipiell tatsächlich universale Stellung des Papstes im wohlbekannten Schreiben Gregors VII. an Bischof Hermann von Metz (Reg. VIII 21) aus dem Jahr 1081.61 Hier schlägt sich das universale Amtsverständnis des Papstes im deutlich erkennbaren Bestreben nieder, die Christenheit mit seinem Schreiben tatsächlich zu erreichen und seine dort geäußerte „Auffassung zu den strittigen Fragen der Zeit“ allgemein bekannt zu machen62. Einschließlich der im Register Gregors VII. überlieferten Version sind insgesamt vier Fassungen dieses Schreibens bekannt, die möglicherweise allesamt auf Gregor selbst oder seine Kanzlei zurückgehen63. Beulertz rekonstruiert plausibel die Ausstellung einer ersten Fassung an Hermann von Metz, die diesem durch Abt Rudolf von Vannes überbracht worden sei64. Dieser habe gleichzeitig eine zweite, zur weiteren Verbreitung gedachte Version des Schreibens erhalten. Mindestens eine weitere Version sei wenig später ebenfalls vom Papst ausgesandt worden, deren Verbreitungsweise allerdings nicht bekannt ist. Nachweislich wurde das Schreiben auf dieser Grundlage zunächst in Lothringen, Sachsen und Franken rezipiert. Eine breitere Rezeption erfolgte erst durch die Aufnahme von Reg. VIII 21 in kirchenrechtliche Sammlungen, die in erster Linie in Italien und im Südwesten Frankreichs kompiliert wurden. Das Beispiel zeigt nicht nur, wie weit universaler Anspruch und kommunikationsgeschichtliche Wirklichkeit noch unter den Bedingungen des 11. Jahrhunderts auseinanderklaffen können, sondern auch, wie schwierig und häufig unmöglich es ist, die Verbreitungswege der Schriften des Investiturstreits im Einzelnen zu rekonstruieren. Damit sind auch Vorbehalte gegenüber der Verbreitung jener Schreiben angebracht,
60 Vgl. dazu Schieffer, Gregor VII. (wie Anm. 48), sowie Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: HJb 122 (2002), S. 27–41. 61 Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 2, Reg. VIII 21, 1081 Mär. 15, S. 544–563. 62 Stefan Beulertz, Gregor VII. als „Publizist“. Zur Wirkung des Schreibens Reg. VIII 21, in: Archivum Historiae Pontificiae 32 (1994) S. 7–29, hier S. 9. An anderer Stelle spricht Beulertz von einer „nachdrücklichen Verbreitungsabsicht“ Gregors VII. für dieses Schreiben (Beulertz, Gregor VII., wie oben, S. 14). Das 11. Jahrhundert gilt gemeinhein als die Entstehungszeit der päpstlichen Enzyklika, vgl. dazu Rudolf Schieffer, Die Erfindung der Enzyklika, in: Wilfried Hartmann, Gerhard Schmitz (Hg.), Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen. Beiträge zum gleichnamigen Symposium an der Universität Tübingen vom 27. und 28. Juli 2001, Hannover 2002 (MGH Studien und Texte, 31), S. 111–124. 63 Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 2, Reg. VIII 21, 1081 Mär. 15, S. 545 Anm. 2. 64 Diese Angaben und das folgende nach Beulertz, Gregor VII. (wie Anm. 62), hier S. 14f.
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die sich noch heute aufgrund der Adressaten in der Überlieferung als Rundschreiben präsentieren65. Betrachten wir die Gegebenheiten des Investiturstreits im Reich unter kommunikationsgeschichtlicher Perspektive, so treten Merkmale hervor, durch welche diese Jahrzehnte vor und nach dem Jahr 1100 als Übergangsphase gelten dürfen. Dies betrifft zunächst einmal die Ausdehnung der Kommunikationsräume, wie sie uns in den erhaltenen Schriften des Investiturstreits entgegentreten. Carl Mirbt verdanken wir dabei die aus der Überlieferungslage der Texte gewonnene Erkenntnis, dass die Konfrontation zwischen Papst und Kaiser in erster Linie ein Problem war, das gelehrte Kleriker im Reich diesseits und jenseits der Alpen beschäftigte66. Lassen sich somit im Investiturstreit bemerkenswerte kommunikationshistorische Veränderungen beobachten, bleibt die Reichweite dieser sich zaghaft konstituierenden „Öffentlichkeit“ doch in räumlicher und sozialer Hinsicht ausgesprochen begrenzt. Vielfach stehen auch die eingangs angesprochenen Regeln der Rhetorik gegen eine allzu wörtliche Interpretation der Quellenaussagen, die in Einzelfällen das Gegenteil – nämlich eine universale Beteiligung der gesamten Christenheit an der Konfrontation zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. – zu belegen scheinen. Jenseits des bemerkenswerten lexikalischen Befundes zu orbis romanus darf etwa die gern zitierte Aussage des Bonizo von Sutri, die Exkommunikation Heinrichs IV. durch Gregor VII. sei ein solch unerhörter Akt gewesen, dass universus noster Roma nus orbis contremuit, als maßlose Hyperbolik betrachtet werden67. Um die soziale Dimension der Auseinandersetzungen des Investiturstreits zu belegen, wird immer wieder die Aussage des Sigebert von Gembloux herangezogen, „bis in die Spinn65 Vgl. hierzu nach wie vor Erdmann, Anfänge (wie Anm. 49), hier S. 491f., der Rundschreiben des (deutschen) Königs, wie sie vor allem in den verschiedenen Versionen der Gehorsamsaufkündigung der Reichsbischöfe vom 24. Januar 1076 vorliegen, für ein Novum hält – und zwar nicht nur, weil diese Schreiben als Rundschreiben betitelt waren, sondern weil ihre Verbreitung nahelegt, dass auch tatsächlich eine weite Diffusion durch Heinrich IV. angestrebt war und damit eine Vorform der Propaganda auch auf königlicher Seite fassbar wird. Nur noch im weiteren Sinne ins Umfeld des Investiturstreits gehören die zahlreichen Briefe, die Heinrich IV. nach der Absetzung durch seinen Sohn an unterschiedliche Personen und Personengruppen sandte und von denen eines unsere Überlegungen einleitete, vgl. Die Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 1), epp. 37, 38, 39, 41, 42, passim. 66 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 35), S. 86. 67 Bonizonis episcopi Sutrini Liber ad amicum, ed. Ernst Dümmler, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 568–620, hier VIII, S. 609. Vgl. zum Beleg von orbis romanus die Erläuterungen bei Schieffer, Gregor VII. (wie Anm. 48), S. 189f. Vgl. zur Sinnfigur der Hyperbel Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 42008 (Philologie), § 909f., S. 454.
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stuben der Frauen und die Werkstätten der Handwerker“ seien die weltstürzenden Gedanken der Reformer nun bereits vorgedrungen68. Sigebert beklagt allerdings einleitend die große perturbatio matris ecclesiae, die durch die machinationes herbeigeführt worden wäre.69 Diese rhetorische Überzeichnung, die einzig auf die negativen Folgen der Reformideen für den Zusammenhalt von Laien und Klerikern abzielt und den Vorwurf der seductio populi erhebt, ist wohl kaum als historisch verwertbare Quellenaussage zu betrachten.70 Auch der Vorwurf des Manegold von Lautenbach, der „Liber ad Gebehardum“ des Wenrich von Trier werde wie ein heiliges Buch verehrt und zur Verspottung der Kirche in allen Straßen verbreitet, ist nicht nur „kaum wörtlich“ zu nehmen oder „übertrieben“, sondern als rhetorisches Stilmittel und unverhohlener Vorwurf der Verführung der Laien durchaus ernst zu nehmen71. Als historische Beschreibung scheidet das Quellenzeugnis schon deshalb aus, weil es mit nur wenigen Varianten im Zweiten Abendmahlstreit bereits gegenüber Berengar von Tours erhoben worden war. Hier wurde von einem sonst wenig bekannten Gegner Berengars in Süditalien um 1078 brieflich an Gregor VII. berichtet, die verurteilte Lehre des Berengar werde nicht nur von Klerikern und Mönchen, sondern auch von Laien auf den Straßen und Plätzen heftig diskutiert72. 68 Sigeberti monachi Gemblacensis apologia contra eos qui calumiantur missas coniugatorum sacerdotum, ed. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 436–448, hier c. 2, S. 438: Quid enim aliud etiam muliercularum textrina et opificum officinae iam ubique per sonant, quam totius humanae societatis iura confusa. 69 Sigebert von Gembloux, Apologia (wie Anm. 68), c. 2, S. 438. 70 Im Gefolge Mirbts, Mirbt, Publizistik (wie Anm. 35), S. 96, haben sich manche Historiker seiner gegenläufigen Bewertung angeschlossen, so etwa Tilman Struve, Die Wende des 11. Jahrhunderts. Symptome eines Epochenwandels im Spiegel der Geschichtsschreibung, in: HJb 112 (1992), S. 324–365, hier S. 357. Vgl. zu einer kritischen Bewertung dieser und ähnlicher Passagen bereits Wetzstein, Canossa (wie Anm. 5), hier S. 122. 71 Manegoldi ad Gebhardum liber, ed. Kuno Francke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 300–430, hier S. 311: Qui denique libellus quia ab illis pro autentico et iam iam canonizato undique circumfertur, immo pene per omnes plateas et andronarum recessus ad ecclesie ludi brium propalatur, cum in manus etiam nostras devenisset. Die der rhetorischen Qualität des Textes wenig angemessene Deutung findet sich bei Münsch, Publizistik (wie Anm. 46), hier S. 160. Der implizite Vorwurf des scandalum war ein Klassiker der Gelehrtenkritik. Sita Steckel kann etwa bereits für das 9. Jahrhundert einen entsprechenden Beleg für das Milieu karolingischer Gelehrsamkeit anführen; Steckel, Kulturen (wie Anm. 27), S. 581. 72 Der Brief liegt ediert vor bei Germain Morin, Bérenger contre Bérenger. Un document inédit des luttes théologiques du XIe siècle, in: Recherches de Théologie ancienne et médiévale 4 (1932), S. 109–133, hier S. 117: Noviter ad nos, beatissime pater, de corpore et sanguine domini exortae quaestionis allata relatio sic totam subito hanc terram replevit, ut non solum clerici ac monachi, quorum intentio in talibus vigilare debet, verum etiam ipsi laici de hoc inter se in plateis confabulentur.
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Es ist allerdings nicht unvorstellbar, dass während des Investiturstreits hochrangige Laien im Reich in die Diskussionen um Probleme mit unmittelbarer Wirkung auf die Laienwelt einbezogen gewesen sein könnten, wie dies etwa die Absetzung des Königs und die Durchsetzung des Klerikerzölibates waren73. Leider ist jedoch nahezu alles, was sich in diesem Zusammenhang außerhalb der Gelehrtenmilieus zutrug und in Kirchen bei der Predigt, vielleicht sogar tatsächlich auf Plätzen und Straßen die Laien einbezog – hier allen voran den Adel, vielleicht sogar das entstehende städtische Bürgertum und niedere soziale Schichten in den Städten –, flüchtig und einer verlässlichen Rekonstruktion dauerhaft entzogen. Nur in Einzelfällen wie beim „Zitatenkampf von Gerstungen“ des Jahres 1085 lassen sich hier einigermaßen gesicherte Erkenntnisse gewinnen74. Überhaupt besteht kein Zweifel, dass – anders etwa als beim „Kampf der Kanzleien“ in der Auseinandersetzung zwischen Gregor IX. und Innozenz IV. einerseits und Friedrich II. andererseits ein Dreivierteljahrhundert später – die Konflikte des Investiturstreits im Reich noch zu bedeutenden Teilen im Rahmen von Versammlungen wie Hoftag und Synode bearbeitet wurden und damit stark von unvermittelter und heute verlorener Primärkommunikation geprägt wurden75. Selbst in einer so bedeutenden Angelegenheit wie einer Definition der Simonie und selbst bei einer für die Nutzung der Schrift geradezu berühmten Persönlichkeit wie Gregor VII. können wir beispiels�73 Es kann freilich kein Zweifel daran bestehen, dass die etwa mit der Gründung Clunys durch Wilhelm von Aquitanien im Jahre 910 bis ins 10. Jahrhundert zurückreichende religiöse Laienbewegung des Hochmittelalters ein günstiges Milieu für Fragen der religiösen Praxis schuf; vgl. dazu Joachim Wollasch, Cluny – „Licht der Welt“. Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft, Zürich, Düsseldorf 1996. An keinem Beispiel dürfte dies in der Folge wohl ähnlich gut fassbar sein wie in der Mailänder „Pataria“, die sich aber zunächst gänzlich unabhängig von der Kirchenreform entwickelt hatte; vgl. Olaf Zumhagen, Religiöse Konflikte und kommunale Entwicklung. Mailand, Cremona, Piacenza und Florenz zur Zeit der Pataria, Köln 2002 (Städteforschung A, 58). Hartmann dürfte Ursache und Wirkung verkehren, wenn er den Investiturstreit als Auslöser für eine neue laikale Religiosität darstellt; Hartmann, Der Investiturstreit, München 2007 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 21), S. 116. 74 Vgl. dazu die weiteren Angaben bei Hartmann, Investiturstreit (wie Anm. 73), S. 120. 75 Vgl. zum „Kampf der Kanzleien“ Peter Herde, Federico II e il Papato. La lotta delle cancellerie, in: Federico II e le nuove culture: Atti del XXXI Convegno storico internazionale, Todi, 9–12 ottobre 1994, Spoleto 1995, S. 69–87. Wiederabdruck in: Peter Herde, Gesammelte Abhandlungen und Aufsätze, 2: Studien zur Papst- und Reichsgeschichte, Teilbd. 1, Stuttgart 2002, S. 277–291. Zur Sache: Thomas Wetzstein, Die Autorität des ordo iuris. Die Absetzung Friedrichs II. und das zeitgenössische Verfahrensrecht, in: Hubertus Seibert u. a. (Hg.), Autorität und Akzeptanz. Das Reich im Europa des 13. Jahrhunderts, Ostfildern 2013, S. 149–182.
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weise verfolgen, dass auch für entscheidende Festlegungen offenbar von vornherein einzig eine mündliche Form vorgesehen war: Im Schreiben, das Gregor VII. wohl am 8. Dezember 1075 an Heinrich IV. sandte, heißt es, die im Rahmen einer Syn�ode vorgenommene Änderung eines Gewohnheitsrechts werde von vielen als untragbare Last empfunden76. Dies wird von der Forschung nicht allein auf die seit langem verurteilte buchstäbliche Simonie, sondern auf eine unbekannte Art von Simonie bezogen – auf welche genau, das wurde wahrscheinlich in mündlichen Botschaften verhandelt, die zwischen beiden Parteien im Jahr 1075 hin und her gingen, uns aber nicht mehr zugänglich sind77. Ein solcher Einsatz von Boten als Überbringer mündlicher oder gemischt mündlich-schriftlicher Botschaften wurde eingangs bereits erwähnt, doch hier spielt ein weiteres Problem eine Rolle: Eine strenge Unterscheidung von einfachen Boten und bevollmächtigten Repräsentanten kennt das 11. Jahrhundert weder dem Terminus noch der Sache nach. Die förmliche Stellvertretung durch einen schriftlich bevollmächtigten Vertreter ist eine Innovation im diplomatischen Verkehr des 12. Jahrhunderts78. In unseren Quellen hingegen lässt sich ohne weitere Informationen nicht entscheiden, ob ein nuntius oder ein legatus lediglich eine Nachricht zu übermitteln hatte oder mit einer Verhandlungsvollmacht ausgestattet war79. Damit ist schon auf terminologischer Ebene nicht nur der Anteil mündlicher Kommunikation in den Kontakten der einzelnen Protagonisten unklar, sondern auch die Frage, ob ein im Namen einer der beteiligten Personen Entsandter lediglich als Medium der Kommunikation oder aber als dessen Repräsentant zu betrachten ist.
Fazit Der Investiturstreit gehört in eine kommunikationsgeschichtliche Übergangsphase, in der sich Kommunikationsräume und institutionalisierte Formen von Sekundärkommunikation gerade entwickelten. Ob eine „Erschütterung des römischen Erd76 Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 1, Reg. III 10, 1075 Dez. 8, S. 266: quidam dicunt humanos divinis honoribus preponentes importabile pondus et inmensam gravitudi nem. 77 Uta Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 175. 78 Vgl. dazu die Verweise bei Wetzstein, Welt (wie Anm. 53), S.185f. 79 Vgl. beispielsweise Gregor VII., Register (wie Anm. 17), hier Bd. 1 Reg. I 78; II 29; VIII 20a (hier nuntius als rechtlicher Stellvertreter); III 5 (legatus als Bote); IV 12 (legatus als rechtlicher Stellvertreter).
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kreises“ durch die Exkommunikation Heinrichs IV. in jenen Tagen bereits denkbar war, darüber wird wohl erneut nachzudenken sein. Den Debatten des Investiturstreits tatsächlich noch näher zu kommen, als dies eine optimistisch gestimmte Mediävistik der Kulturkampfzeit bereits erreicht hat, muss angesichts der „Unmöglichkeit, zu kommunizieren“ – mit anderen Worten: mit Blick auf die Rekonstruierbarkeit hochmittelalterlicher Sekundärkommunikation der hier in Frage stehenden Umbruchzeit –, vielleicht nicht Ziel unserer Bemühungen sein.
Gerüchte und ihre Verbreitung Beobachtungen zur Propaganda im Investiturstreit Oliver Münsch An neueren Forschungen zur mittelalterlichen Kommunikationsgeschichte besteht kein Mangel: So sind Begriff und Phänomen der Kommunikation selbst ebenso in den Fokus des Interesses geraten1 wie die Frage der Nachrichtenübermittlung und der Entstehung von Öffentlichkeit(en)2. Die unter dem Schlagwort „Investiturstreit“ zusammengefasste Zeitspanne3 von der Mitte des 11. bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts spielt dabei eine zentrale Rolle, charakterisiert die Forschung diese Phase 1 Vgl. etwa Klaus Schreiner, Gabriela Signori (Hg.), Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion politisch-rechtlicher Kommunikationsmedien in Stadt- und Adelsgesellschaften des späten Mittelalters, Berlin 2000 (ZHF, Beiheft 24); Gerd Althoff (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2001 (VuF, 51); Hedwig Röckelein (Hg.), Kommunikation, Berlin 2001 (Das Mittelalter, 6, 1); Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften, 307); Karl-Heinz Spiess (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 15); Martin Kintzinger, Bernd Schneidmüller (Hg.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, Ostfildern 2011 (VuF, 75), außerdem die einschlägigen Arbeiten Gerd Althoffs zur rituell-symbolischen Kommunikation. 2 Vgl. besonders Thomas Wetzstein, Wie die urbs zum orbis wurde. Der Beitrag des Papsttums zur Entstehung neuer Kommunikationsräume im europäischen Hochmittelalter, in: Jochen Johrendt, Harald Müller (Hg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin, New York 2008 (Neue Abh. Göttingen, N. F. 2), S. 47–75, der nach der Verbreitung des päpstlichen Universalanspruchs fragt und die mit dem Anwachsen der Schriftlichkeit verbundenen Veränderungen in der Kommunikationstechnik verdeutlicht. Zur Auseinandersetzung mit modernen Kommunikationstheorien (Lasswell, Watzlawick, Luhmann) und zur notwendigen Verbindung von Kommunikations- und Mobilitätsgeschichte vgl. Wetzsteins Beitrag im vorliegenden Band. 3 Klug differenziert Hanna Vollrath, Sutri 1047 – Canossa 1077 – Rome 1111: Problems of Communication and the Perception of Neighbors, in: Thomas F. X. Noble, John Van Engen (Hg.), European Transformations. The Long Twelfth Century, Notre Dame 2012 (Notre Dame Conferences in Medieval Studies), S. 132–170, zwischen der modernen Auffassung eines Gesamtgeschehens „Investiturstreit“ und den Wahrnehmungen der Zeitgenossen, die lokal begrenzt, heterogen und nicht selten widersprüchlich waren.
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doch mit freilich unterschiedlicher Schwerpunktsetzung als Epoche der Reform, der Erneuerung, des Umbruchs oder als historische Wende4. Der letztgenannte Begriff wurde und wird immer wieder mit der Begegnung Heinrichs IV. und Gre�gors VII. in Canossa (1077) in Verbindung gebracht5. In jüngster Zeit verlagerte sich der Akzent vom Ereignis zur Struktur: Nicht der Vorgang in Canossa, sondern die allmähliche Durchsetzung des römischen Universalanspruchs berechtigt demnach dazu, von einer „papstgeschichtlichen Wende“ (Rudolf Schieffer) zu sprechen. In den zeitgenössischen Streitschriften ist an vielen Stellen erkennbar, dass die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Reich weit über den Rahmen einer theologischen Gelehrtenkontroverse hinausging. Damit rücken deren Methoden und Verbreitungsformen – mit anderen Worten: die Konstruktion neuer Kommunikationssituationen – ins Blickfeld. Bei der Analyse der Libelli de lite sollte neben ihrer Argumentation stets auch ihre äußere Form sowie die beabsichtigte (und nachweisbare) Wirkung der Polemik beachtet werden. Dabei kann es nicht darum gehen, die Äußerungen der Autoren mit moralischen Maßstäben zu messen und Abweichungen von den Regeln gelehrter Argumentation negativ zu bewerten. 4 Vgl. Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung. Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, München 2006 (MittelalterStudien, 13); Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007. 5 So zuletzt Wolfgang Hasberg, Hermann-Josef Schneidgen (Hg.), Canossa. Aspekte einer Wende, Regensburg 2012. Hartmut Hoffmann, Canossa – eine Wende?, in: DA 66 (2010), S. 535–568, erklärt, warum Heinrichs Buße in Canossa kaum Widerhall in den Streitschriften fand und geht auf die längerfristigen Wirkungen des Bußaktes ein. Er erkennt in Canossa das Ende der ottonischen Ära der Papstgeschichte, wertet das Ereignis selbst aber nicht als Wende (vgl. S. 557–560). Pointiert formuliert Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012, S. 147: „Canossa war keine Wende“. Frieds Abwertung der zeitgenössischen Quellen hat freilich Widerspruch hervorgerufen; aus der Vielzahl der Reaktionen sei nur genannt: Rudolf Schieffer, Rezension: Fried, Canossa, in: DA 69 (2013), S. 292–293. Ebenfalls Rudolf Schieffer, Worms, Rom und Canossa (1076/77) in zeitgenössischer Wahrnehmung, in: HZ 292 (2011), S. 593–612, besonders S. 598–606, macht, ähnlich wie Hoffmann, darauf aufmerksam, dass die Erinnerung an Canossa bei den Zeitgenossen relativ rasch verblasste, während die Exkommunikation Heinrichs IV. eine überaus starke Wirkung entfaltete. Stefan Weinfurter, Canossa als Chiffre. Von den Möglichkeiten historischen Denkens, in: Canossa. Aspekte einer Wende, S. 124–140, hier S. 139, erkennt in Canossa „die Chiffre für einen gewaltigen Ordnungswandel im Reich und im gesamten westchristlichen Europa“. Ähnlich zuvor Stefan Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006, besonders S. 207 f.: Canossa sei die „historische Chiffre“ für einen Umbruch im Sinne eines Differenzierungsprozesses, in dem die überkommene Einheit zugunsten einer scharfen Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre aufgegeben wurde.
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Vielmehr lässt sich zeigen, dass Manipulation, Verzerrung und Einseitigkeit beabsichtigt waren, um das Publikum – das heißt im konkreten historischen Kontext: auch ein Laienpublikum – zu beeinflussen. An zahlreichen Textstellen sind Strukturen der Mündlichkeit sichtbar, was auf eine mögliche mündliche Umsetzung der Texte hindeutet. Schriftlichkeit und Mündlichkeit überlagerten und ergänzten einander. Die nachfolgenden Ausführungen wollen am Beispiel von Gerüchten zeigen, inwiefern diese in den Streitschriften als Kommunikationssituationen sui generis fassbar werden6 und mit welchen Mitteln die Autoren versuchten, auf ihr Publikum einzuwirken. Gerüchte wurden und werden weitaus häufiger mündlich als schriftlich kommuniziert; ihre Inhalte aber können durch Verschriftlichung verfestigt und verstetigt werden. Für die Erforschung von Wechselwirkungen zwischen Oralität und Literalität sind sie daher besonders geeignet. Aus mehreren Gründen nehmen Gerüchte innerhalb der Kommunikation eine besondere Position ein: Ihr Informationsgehalt ist nicht klar definiert; mit ihrer Verbreitung geht ihre Veränderung einher; oft fehlt ihnen ein identifizierbarer Autor oder eine gesicherte Grundlage; ihre Inhalte sind geeignet, Stimmungen bei den Rezipienten zu evozieren oder zu manipulieren7. In bestimmten kommunikativen Kontexten treten Gerüchte beson6 Vgl. die systemtheoretisch geprägte Analyse von Klaus Merten, Zur Theorie des Gerüchts, in: Publizistik 54 (2009), S. 15–42, besonders S. 39 f., der Gerüchte als eine Form reflexiver Kommunikation auffasst – diese dient vor allem dazu, neue Kommunikationsprozesse zu generieren – und fünf Indikatoren für das Auftauchen eines Gerüchts benennt: 1) die erfolglose Nachfrage nach seinem Ursprung, 2) das Auftreten seines Inhalts in mehreren Varianten, 3) die Anpassung an die jeweilige Situation, 4) die fehlende Falsifizierbarkeit seiner Aussagen, 5) die Immunisierung gegen Versuche seiner Widerlegung. Mertens Definition lautet: „Ein Gerücht ist ein Mechanismus kollektiver sozialer Selbsthilfe, der durch Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation entsteht und bei Mangel an Information, an Informationskanälen und/oder bei Beschädigung von Normen und Werten aktiviert wird, und dies umso stärker, je mehr Personen davon betroffen oder daran interessiert sind“ (S. 40). Vgl. auch die kritische Kommentierung von Rudolf Stöber, Das halte ich für ein Gerücht. Zu Klaus Mertens Beitrag „Zur Theorie des Gerüchts“, in: Publizistik 54 (2009), S. 431–435, sowie die Replik von Klaus Merten, Fama et Rumores? Anmerkungen zu Rudolf Stöbers Beitrag „Das halte ich für ein Gerücht“, in: Pubizistik 54 (2009), S. 553–556. Für die historische Forschung fordert Egon Flaig, Wie Kaiser Nero die Akzeptanz bei der Plebs urbana verlor. Eine Fallstudie zum politischen Gerücht im Prinzipat, in: Historia 52 (2003), S. 351–372, hier S. 351, „das Gerücht als einen Gegenstand von spezifischem Eigenwert zu konturieren“. 7 Vgl. dazu meinen Beitrag: Heuchlerischer Tyrann oder Opfer päpstlicher Willkür? Die Darstellung Heinrichs IV. in publizistischen Texten des Investiturstreits, in: Tilman Struve (Hg.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln u. a. 2008, S. 173–208, hier S. 191.
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ders häufig auf und verdienen als Variante der Propaganda die Aufmerksamkeit der Historiker8. Die römische Antike kannte das Gerücht als (häufig personifizierte) Fama; ihr griechisches Äquivalent, die Φήμη, bezeichnete bereits Hesiod aufgrund ihrer Unvergänglichkeit als Gottheit9. Vergil ließ die Fama als letzten Abkömmling der Giganten auftreten, als Monster mit unzähligen Augen, Ohren, Mündern und Flügeln. Bedrohlich wirkt sie durch ihre rasende Schnelligkeit, die verbunden ist mit einem immensen Zuwachs an Größe und Kraft. Infolge der Tatsache, dass sie zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre angesiedelt ist, kann sie ihre Wirkung in beide Richtungen entfalten10. Als rein akustisches, nicht als körperliches Phänomen erscheint sie bei Ovid, der abgestufte Grade ihrer Intensität (Gerede, verstreute Äußerungen, Gemurmel) erwähnte sowie einige Effekte, welche ihre Verbreitung begünstigen, etwa Leichtgläubigkeit und Furcht11. 8 Propaganda wird gemäß der Definition von Klaus Merten, Struktur und Funktion von Propaganda, in: Publizistik 45 (2000), S. 143–162, hier S. 146 f. und S. 161, als Kommunikationssituation verstanden. Ähnlich Klaus Arnold, Propaganda als ideologische Kommunikation, in: Publizistik 48 (2003), S. 63–82, hier S. 77–79. Kommunikationstheoretische Überlegungen zum Umbruch des 11./12. Jahrhunderts sind zu finden in meinem Beitrag: Fortschritt durch Propaganda? Die Publizistik des Investiturstreits zwischen Tradition und Innovation, in: Vom Umbruch zur Erneuerung (wie Anm. 4), S. 151–167, hier S. 157–159. Vgl. auch Birgit Studt, Geplante Öffentlichkeiten: Propaganda, in: Kintzinger ‒ Schneidmüller (Hg.), Politische Öffentlichkeit (wie Anm. 1), S. 203–236, hier S. 208, die Mertens Propagandabegriff als „Arbeitsdefinition“ für brauchbar hält und am Beispiel der spätmittelalterlichen Auseinandersetzung der Kirche mit den Hussiten feststellt, „die kommunikative Anwendung von Gewalt“ sei „in absichtsvoll geplanten, ineinander abgestuften Teilöffentlichkeiten“ (S. 236) gesteuert worden. Rainer Gries, Zur Ästhetik und Architektur von Propagemen. Überlegungen zu einer Propagandageschichte als Kulturgeschichte, in: Rainer Gries (Hg.), Kultur der Propaganda, Bochum 2005 (Herausforderungen, 16), S. 9–36, hier S. 12–14 und S. 21 f., stellt den Begriff in einen kommunikationstheoretischen und einen kulturwissenschaftlichen Kontext und spricht vom systemischen Charakter von Propaganda. 9 Vgl. Hesiod, Ἔργα καὶ ἡμέραι, V. 756–760; dazu Hans Jürgen Scheuer, Art. „Fama“, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 4, Stuttgart, Weimar 1998, Sp. 404–405, hier Sp. 404, sowie Hans-Joachim Neubauer, Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 1998, S. 31. 10 Vgl. Vergil, Aeneis IV 173–197 (ed. R. A. B. Mynors, Oxford 1969, S. 181 f.). Dazu Scheuer, Fama (wie Anm. 9), Sp. 404. 11 Ovid, Metamorphoses XII 39–63 (ed. Wiliam S. Anderson, Stuttgart, Leipzig 51991, S. 279 f.). Dazu Scheuer, Fama (wie Anm. 9), Sp. 405. Zur antiken Begrifflichkeit sowie zu Deutungen und Wertungen der fama vgl. Dorothee Gall, Monstrum horrendum, ingens – Konzeptionen der fama in der griechischen und römischen Literatur, in: Jürgen Brokoff u. a. (Hg.), Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen 2008, S. 24–43.
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Die lateinische Sprache verwendet das Wort fama zwar durchaus ambivalent; es kann den guten wie den schlechten Ruf bezeichnen12. Jedoch überwog bereits in der Antike die negative Konnotation13. Für das Mittelalter wegweisend erläuterte Isidor von Sevilla unter Rückgriff auf Vergil Begriff und Phänomen und betonte, die fama sei meist trügerisch und verlogen, da sie die Wahrheit verändere und vieles Erfundene hinzufüge14. In den Quellen des späten 11. Jahrhunderts heißt das Gerücht fama oder rumor, sofern es überhaupt als solches gekennzeichnet ist. Es fällt auf, dass Gerücht und Öffentlichkeit einander geradezu bedingen und dass Sprache in Gestalt der fama eine Eigendynamik und eine spezifische, Wahres und Falsches vermischende Wirkung erhält15. Im Investiturstreit als einer Phase politischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Umbrüche treten Gerüchte vermehrt auf; gleichwohl sind sie aufgrund der Tatsache, dass sie viel häufiger mündlich als schriftlich kommuniziert wurden (und werden), im Kern oft nur schwer zu fassen16. Von psychologischer Seite wurde das Gerücht definiert als Aussage, die auf Glauben, nicht auf Wissen basiert und üblicherweise mündlich von einem Menschen zum nächsten, also per Face-to-Face-Kommunikation, weitergetragen wird, ohne dass sichere Belege für den Inhalt der Aussage mitgeliefert werden17. Die Sozialwissenschaften fassen Gerüchte als nicht verifizierte oder sogar falsche Mitteilungen überraschenden Inhalts auf, die innerhalb eines gesellschaftlichen 12 Vgl. Neubauer, Fama (wie Anm. 9), S. 56–58. Die bona fama ist für den antiken Römer Maßstab für den Nachruhm. Das Gegenteil des guten Rufs, die mala fama, häufig infamia genannt, spielt im Recht der Spätantike und des Mittelalters eine wichtige Rolle. 13 Nach Quintilian (Institutio oratoria V 3, 1) kann auch der rhetorische Einsatz der fama ambivalent sein. Zur bona fama der römischen Antike vgl. auch Achatz von Müller, Gloria bona fama bonorum. Studien zur sittlichen Bedeutung des Ruhmes in der frühchristlichen und mittelalterlichen Welt, Husum 1977 (Historische Studien, 428), S. 28–38, zur ambivalenten Haltung der Bibel und des Christentums Ruhm und Ansehen gegenüber sowie zur Haltung der Kirchenväter S. 39–78. 14 Vgl. Isidor, Etymologiae V 27, 26 f. (ed. Wallace M. Lindsay, Bd. 1, Oxford 1911, S. 205). 15 Vgl. Scheuer, Fama (wie Anm. 9), Sp. 404. Heike-Johanna Mierau, Fama als Mittel zur Herstellung von Öffentlichkeit und Gemeinwohl in der Zeit des Konziliarismus, in: Kintzinger-Schneidmüller (Hg.), Politische Öffentlichkeit (wie Anm. 1), S. 237– 286, hier S. 241–243, warnt mit Recht davor, mittelalterliche Fama-Kommunikation mit moderner Öffentlichkeit gleichzusetzen. 16 Vgl. Heike Johanna Mierau, Exkommunikation und Macht der Öffentlichkeit: Gerüchte im Kampf zwischen Friedrich II. und der Kurie, in: Hruza (Hg.), Propaganda (wie Anm. 1), S. 47–80, hier S. 53. 17 Vgl. Gordon W. Allport, Leo Postman, The Psychology of Rumor, New York 1947, S. IX.
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Milieus als bedeutsam oder als wahr angesehen werden in dem Sinne, dass sich in ihnen bestimmte Befürchtungen oder Hoffnungen einer sozialen Gruppe artikulieren18. Gerüchte entstehen und entfalten ihre Wirkkraft besonders in Krisenzeiten und Ausnahmesituationen19; daher können Revolutionen als „Hochkonjunkturen des Gerüchts“20 gelten, da es sich um Perioden politischer, oft auch sozio ökonomischer Instabilität handelt und der öffentliche Diskurs dementsprechend emotionalisiert ist. Unter solchen Umständen findet keine nüchterne Analyse mehr statt, sondern es breiten sich Gerüchte aus, die „scheinbar plausible Erklärungen“21 und möglichst simple Deutungsmuster für komplexe Vorgänge bieten: Das Gerücht erklärt, es rechtfertigt, es interpretiert. Insofern mag es auch zu einer anhaltenden Emotionalisierung beim Rezipienten führen. Scharfe Unterscheidungen zwischen rationaler (kognitiver) und emotionaler (affektiver) Wahrnehmung sind, psychologisch gesehen, ohnehin unangebracht22. Für die Weitergabe von Gerüchten spielt zudem das menschliche Kommunikationsbedürfnis eine wichtige Rolle. Es ist umso größer, je stärker das Gefühl der Betroffenheit beim Rezipienten eines Gerüchts ausfällt, und speist sich zudem aus der
18 Vgl. Jean-Bruno Renard, Art. „Rumors and Urban Legends“, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Bd. 20, Amsterdam u. a. 2001, S. 13413–13416, hier S. 13413. Ungenau Jean-Noël Kapferer, Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, Leipzig 1996 [zuerst frz. unter dem Titel: Rumeurs. Le plus vieux média du monde, Paris 1987], S. 18 u. ö., der das Gerücht zum einen als kommunikativen Prozess (so auch Horst Schuh, Das Gerücht. Psychologie des Gerüchts im Krieg, München 1981, S. 9), zum anderen als Medium ansieht. 19 Vgl. Allport, Postman, Psychology of Rumor (wie Anm. 17), S. VII. Ähnlich Edmund Lauf, Gerücht und Klatsch. Die Diffusion der „abgerissenen Hand“ Berlin 1990 (Hochschul-Skripten, Medien, 31), S. 15. Als Nachrichtenersatz ist das Gerücht „ein Krisenphänomen, das den Ausfall formeller Kommunikation voraussetzt“ (S. 23). 20 Rüdiger Hachtmann, Die Macht des Gerüchts in der Revolution von 1848 – Das Berliner Beispiel, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt am Main 1999, S. 189–216, hier S. 199. 21 Hachtmann, Macht des Gerüchts (wie Anm. 20), S. 200. Dazu auch Schuh, Das Gerücht (wie Anm. 18), S. 14 f. 22 Die Erkenntnis von der Doppelfunktion der Gerüchte, einerseits der kognitiven, also des Wunsches nach Erklärung und Information, andererseits der affektiven, zum Beispiel als Ausdruck von Angst oder Feindseligkeit, ist das Verdienst von Gordon Allport und Leo Postman. Demnach ist keine mentale Aktivität jemals rein kognitiv; vielmehr durchdringen kognitive und emotionale Erkenntnisprozesse einander. Vgl. Allport, Postman, Psychology of Rumor (wie Anm. 17), S. 99 f.
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Plausibilität des Gerüchts selbst sowie aus der Glaubwürdigkeit des Erzählers23. Nicht auf den objektiven Wahrheitsgehalt, sondern auf die subjektive Bedeutsamkeit eines Gerüchts kommt es an24. Noch vor drei Jahrzehnten ließ sich ein grundlegender Unterschied zwischen der sozialpsychologischen und der historischen Interpretation von Gerüchten ausmachen: Die Sozialwissenschaften neigten dazu, Gerüchte als zweckmäßig, manchmal geradezu als therapeutisch für eine Gesellschaft zu betrachten, während die Historiker in ihnen bloße Symptome sahen25. Indes hat die historische Forschung mittlerweile eine Modifizierung vorgenommen, indem sie heute kommunikativen Phänomenen eine weitaus höhere Wertigkeit beimisst26. Was das Gerücht betrifft, dürfte mittlerweile auch unter Historikern unstrittig sein, dass es sich um ein soziales Phänomen handelt27. Als nicht verifizierte Nachricht oder kursierendes Gerede muss es nicht falsch sein – verbreitet wird es vor allem, weil darin enthaltene Informationen und Interpretationen für wahr gehalten werden oder werden sollen –, aber es ist unklar bezüglich seiner Herkunft, inhaltlich oft unpräzise, voller Anspielungen und Ausschmückungen28. Gerade die Vermischung von Wahrem und Fal23 Vgl. Lauf, Gerücht und Klatsch (wie Anm. 19), S. 135 f. Vgl. auch Neubauer, Fama (wie Anm. 9), S. 15. „Ohne den Rezipienten gibt es kein Gerücht; er ist der entscheidende Faktor dafür, daß eine Erzählung zum Gerücht wird“ – so mit Recht Flaig, Kaiser Nero (wie Anm. 6), S. 360. 24 Vgl. Münsch, Heuchlerischer Tyrann (wie Anm. 7), S. 192. Zur subjektiven Bedeutsamkeit von Gerüchten als Motivationsfaktor für ihre Verbreitung vgl. Allport, Postman, Psychology of Rumor (wie Anm. 17), S. 36, deren Deutung nach den Erfahrungen mit der Propaganda des Zweiten Weltkriegs verständlicherweise sehr stark den Faktor der Beeinflussbarkeit des Menschen berücksichtigte. Gleichwohl sollte man daraus nicht eine behavioristisch anmutende Manipulierbarkeit ableiten, zumal sie selbst von zwei Faktoren, Affekt und Verstand, beim Erkenntnisprozess sprachen und den Menschen gerade nicht aus der Verantwortung für sein eigenes Handeln entlassen wollten. 25 Vgl. Peter Lienhardt, The Interpretation of Rumour, in: John H. M. Beattie, Ronald G. Lienhardt (Hg.), Studies in Social Anthropology. Essays in Memory of Edward E. Evans-Pritchard by his former Oxford Colleagues, Oxford 1975, S. 105–131, hier S. 123– 128. 26 Hier sei nur auf die in Anm. 1 genannten Arbeiten verwiesen. 27 Vgl. bereits Allport, Postman, Psychology of Rumor (wie Anm. 17), S. 49 und nochmals S. 159. Gemäß der Definition Egon Flaigs liegt „eine außerinstitutionelle Produktion von politisch relevanten Zeichen innerhalb eines Kräfteverhältnisses zwischen Gruppen, unter bestimmten kulturellen Bedingungen“ vor – so Flaig, Kaiser Nero (wie Anm. 6), S. 361, unter Rückgriff auf sein Werk: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt am Main, New York 1992, S. 67–74. 28 Vgl. Hachtmann, Macht des Gerüchts (wie Anm. 20), S. 192; Kapferer, Gerüchte (wie Anm. 18), S. 24. „Gerüchte arbeiten mit der Lücke. Man erinnert sich unklar, man extrapo-
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schem ist ein Charakteristikum des Gerüchts: Fama […] pariter facta atque infecta canebat, wie schon Vergil wusste. Benzo von Alba zitierte in seinen „Sieben Büchern an Kaiser Heinrich IV.“, einer Mischung aus Geschichtswerk und Streitschrift, warnend und in nur geringfügiger Variation diese Stelle und hob damit sowohl die Ambivalenz der gerüchteweise verbreiteten Nachrichten als auch den Öffentlichkeitsaspekt hervor: Et ne fama, quę indifferenter canit facta et infecta, posset istud divulgare per campos et tecta […]29. Unentschlossene Zeitgenossen, die nicht wissen, welcher Seite sie glauben sollen, sind umso empfänglicher für scheinbar sichere Informationen. Auch für schlecht Informierte ist kaum zu entscheiden, ob es sich bei einer auf den ersten Blick seriösen Nachricht um Lüge oder Wahrheit handelt. Insofern erlangen Gerüchte bisweilen den Rang einer „Gegenmacht“30 zu offiziellen Verlautbarungen und üben, je intensiver sie kursieren und Unbekanntes, Verborgenes oder Unausgesprochenes an die Öffentlichkeit bringen, erheblichen Einfluss aus31. Im Kommunikationsprozess nehmen Gerüchte eine besondere Stellung ein. Sie sind „Artefakte“32, die nur im Augenblick ihrer Mitteilung existieren; ein paradoxes Moment wohnt ihnen insofern inne, als sie Öffentlichkeit einerseits herstellen, diese aber andererseits repräsentieren. „Gerüchte deuten“ – vielleicht sollte man vorsichtiger formulieren: sie geben vor zu deuten –, „und sie verlangen selber nach Deutungen. Sie können richtig sein oder falsch, in jedem Fall stellen sie Bedeutung her. Denn sie sind symbolisch und öffentlich, ‚ineinandergreifende Systeme auslegliert und ergänzt aus der Phantasie, damit auch stimmig wird, was alle sagen“ – so Hans-Joachim Neubauer, Wildes Erzählen. Von der Magie der Gerüchte, in: Neue Rundschau 107 (1996), S. 64–76, hier S. 74. Vgl. auch Renard, Rumors and Urban Legends (wie Anm. 18), S. 13413 f.; Schuh, Das Gerücht (wie Anm. 18), S. 9 f.; Mierau, Exkommunikation (wie Anm. 16), S. 49. 29 Vgl. Vergil, Aeneis IV 190; Benzo von Alba, Sieben Bücher an Kaiser Heinrich IV. (Ad Heinricum imperatorem libri VII), hg. und übersetzt v. Hans Seyffert, Hannover 1996 (MGH SS rer. Germ., 65), S. 286 Z. 23 f. (III 7). 30 Der Begriff bei Kapferer, Gerüchte (wie Anm. 18), S. 261. 31 Vgl. Kapferer, Gerüchte (wie Anm. 18), S. 261–263 und S. 298–301. Am Rande sei darauf verwiesen, dass bereits Tacitus, bezeichnenderweise derjenige römische Historiker, der psychologischen Aspekten in seiner Geschichtsschreibung die höchste Aufmerksamkeit widmet, durch die Wiedergabe von Gerüchten die Atmosphäre der Zeit und die Stimmung des Volkes (der multi oder plerique) schildert. Er betont die Breitenwirkung eines Gerüchts, das zudem einem Automatismus unterworfen ist: Die Mächtigen müssen auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen; diese ist umgekehrt „ein Machtfaktor ersten Ranges“ (Wolfgang Ries, Gerücht, Gerede, öffentliche Meinung. Interpretationen zur Psychologie und Darstellungskunst des Tacitus, Diss. phil. Heidelberg 1969, S. 172). 32 Neubauer, Fama (wie Anm. 9), S. 13.
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barer Zeichen‘. Erst in ihrem Kontext lässt sich ihre Bedeutung definieren.“33 Einfacher ausgedrückt: Gerüchte konstruieren symbolische Wirklichkeiten34. Der Glaube an ein Gerücht ist abhängig von den Normen und Werten einer sozialen Gruppe, denen der Rezipient angehört. Umgekehrt können auch durch die Teilhabe an Gerüchten Gruppenidentitäten entstehen sowie durch ihre Weitergabe gesellschaftliche Normen entworfen und kontrolliert werden35. Wenn Gerüchten geglaubt wird, rührt dies oft daher, dass sie bestehende Stereotype und Vorurteile bestätigen36. Eine gewisse Nähe zur Lüge weisen Gerüchte, denen ein sicheres Fundament fehlt, insofern auf, als beide Phänomene eine Täuschung beabsichtigen oder eine Irreführung des Publikums37 zumindest billigend in Kauf neh33 Neubauer, Fama (wie Anm. 9), S. 168 f.; das Zeichenzitat aus Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 7–43 [zuerst engl. unter dem Titel: Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture, in: Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, S. 3–30], hier S. 21. 34 Vgl. Neubauer, Fama (wie Anm. 9), S. 13, der das Gerücht vor diesem Hintergrund als „Information im Medium des Hörensagens“ definiert und es so von anderen Kommunikationsformen abgrenzt. Allerdings beschränkt er Gerüchte in ihrer Funktion auf die Informationsweitergabe, wie Gerhard Sälter, Rezension: Neubauer, Fama, URL: http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/2000/sage0200.htm (zuletzt eingesehen am 18.03.2016), kritisiert. Sälter selbst sieht in Gerüchten zugleich einen Meinungsaustausch in Gang gesetzt. „Gerüchte sind also insofern Medien, als sie Träger von um Deutungen erweiterten Informationen sind“. 35 Vgl. Neubauer, Fama (wie Anm. 9), S. 187. 36 Vgl. Lauf, Gerücht und Klatsch (wie Anm. 19), S. 31. Dazu auch Renard, Rumors and Urban Legends (wie Anm. 18), S. 13413. 37 Wenn im Folgenden vom Publikum oder von einer ‚Öffentlichkeit‘ die Rede ist, kann dies nur verstanden werden im Sinne einer Teilöffentlichkeit, einer „situativen, dynamischen ‚okkasionellen Öffentlichkeit‘“ – so Bernd Thum, Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert, in: Hedda Ragotzky (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 65–87, hier S. 70; vgl. auch Bernd Thum, Öffentlich-Machen, Öffentlichkeit, Recht. Zu den Grundlagen und Verfahren der politischen Publizistik im Spätmittelalter (mit Überlegungen zur sog. „Rechtssprache“), in: Zs. für Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), S. 12–69, hier S. 47; ähnlich schon Helene Wieruszowski, Vom Imperium zum nationalen Königtum. Vergleichende Studien über die publizistischen Kämpfe Kaiser Friedrichs II. und König Philipps des Schönen mit der Kurie, München, Berlin 1933 [ND: Aalen 1965] (HZ, Beiheft 30), S. 117. Vgl. auch Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kon trollierten Anachronismus, in: Gert Melville, Peter von Moos (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln u. a. 1998 (Norm und Struktur, 10), S. 3–83, hier
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men. In beiden Fällen sollen die Rezipienten nicht merken, dass sie getäuscht werden38. Auch die während des Investiturstreits verbreiteten Gerüchte verschleierten ihre eigene Unzuverlässigkeit. Den Propagandisten musste es darauf ankommen, den Gerüchtecharakter einer Mitteilung entweder zu verschweigen oder das Gerücht als allgemein bekannte Tatsache darzustellen. Ihr Ziel war es, Unentschlossene durch Negativmeldungen über Vorgehen und Charakter der Gegner auf ihre Seite zu bringen und ihnen die Entscheidung, wem sie sich anschließen sollten, zu erleichtern. Dies gelang umso besser, je glaubhafter sie selbst auftraten und je zuverlässiger die mitgeteilten Nachrichten erschienen. Der Propaganda kam es dabei zugute, dass beim Streuen von Gerüchten nicht die Frage nach dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt im Vordergrund steht; entscheidend ist vielmehr, ob mit Hilfe von Gerüchten die Konstruktion von „Realitäten“ gelingt39. Dies scheint der gregorianischen Seite mit ihrer Kritik an der Ehemoral und am Sexualverhalten Heinrichs IV. geglückt zu sein. In der Forschung wurde vor einigen Jahren über die Bewertung der diesbezüglichen Gerüchte diskutiert: Tilman Struve behandelte die im Umfeld der geplanten Trennung Heinrichs von seiner Frau Bertha entstandenen Gerüchte, aus denen im Verlauf des Konflikts zwischen Regnum und Sacerdotium regelrechte Affären mit Konkubinen wurden, und warf die Frage auf, ob der König tatsächlich „ein vollendeter Wüstling“ war, als der er in
S. 35. Klaus Zechiel-Eckes, Florus von Lyon als Kirchenpolitiker und Publizist. Studien zur Persönlichkeit eines karolingischen „Intellektuellen“ am Beispiel der Auseinandersetzung mit Amalarius (835–838) und des Prädestinationsstreits (851–855), Stuttgart 1999 (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, 8), hat gezeigt, wie die historische Mediävistik sinnvoll mit dem Öffentlichkeitsbegriff umgehen kann. Florus von Lyon habe „öffentliche Resonanz bei einer Zielgruppe, die für geeignet gehalten wurde, den beklagten Mißständen entgegenzuwirken“ (S. 222), erzielen wollen. In einigen Texten spreche er ein fiktionales Publikum an, eine „Wunschöffentlichkeit“ (S. 224); „Öffentlichkeitswille als konstitutives Element von Publizistik“ (S. 225) lässt sich bei ihm klar nachweisen. 38 Vgl. Hans-Jürgen Bachorski, Lügende Wörter, verstellte Körper, falsche Schrift. Miß/ gelingende Kommunikation, in: Horst Wenzel u. a. (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen, 143), S. 344–364, hier S. 345 f.; dazu auch Harald Weinrich, Linguistik der Lüge, München 62000, S. 11 f. Zum in den einschlägigen Quellen häufig auftauchenden Vorwurf, die jeweiligen Gegner im Investiturstreit würden Lügen verbreiten, und zu seinem Einsatz als Mittel der Propaganda vgl. Münsch, Heuchlerischer Tyrann (wie Anm. 7), S. 194 (mit Belegstellen und weiterer Literatur). 39 Dazu auch Mierau, Exkommunikation (wie Anm. 16), S. 65.
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Brunos Buch De bello Saxonico erscheint40. Steffen Patzold hingegen fragte nach dem Sitz im Leben der Anschuldigungen und nach ihrem Zweck, nach Verbreitung und Wirkung sowie nach den Konsequenzen, die sich für das Bild moderner Historiker von Heinrich IV. daraus ergeben können41. Damit steht nicht mehr der Wahrheitsgehalt der Vorwürfe im Vordergrund, sondern ihre Intention. Gerd Althoff warnte vor einer isolierten Interpretation der sexuellen Vorwürfe und sah sämtliche Anschuldigungen gegen Heinrich in Verfahren der Konfliktführung integriert42, unabhängig davon, ob jene zutrafen oder nicht43. In den Anschuldigungen spiegele sich die politische Krise der Zeit44. Dass letztlich beide Komponenten, persönliche 40 Tilman Struve, War Heinrich IV. ein Wüstling?, in: Oliver Münsch, Thomas Zotz (Hg.), Scientia veritatis. Festschrift für Hubert Mordek zum 65. Geburtstag, Ostfildern 2004, S. 273–288, hier S. 274. Zur Verarbeitung von Gerüchten bei Bruno urteilt Tania Brüsch, Die Brunonen, ihre Grafschaften und die sächsischen Geschichte. Herrschaftsbildung und Adelsbewußtsein im 11. Jahrhundert, Husum 2000 (Historische Studien, 459), S. 65: „Da er [Bruno] von der Lasterhaftigkeit des Königs überzeugt war, nahm er üble Nachreden vermutlich nur als Bestätigung seiner vorgefaßten Meinung wahr“. 41 Vgl. Steffen Patzold, Die Lust des Herrschers. Zur Bedeutung und Verbreitung eines politischen Vorwurfs zur Zeit Heinrichs IV., in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (VuF, 69), S. 219–253, hier S. 222–226. Patzold erkennt drei Wellen der Verbreitung von Vorwürfen gegen den Salier: eine erste im Kontext der ersten Exkommunikation 1076, die vor allem mit Andeutungen arbeitete, eine zweite zwischen 1080 und 1085 als Reaktion auf den zweiten Bann, die sich durch gesteigerte Intensität und Ausführlichkeit der Vorwürfe auszeichnet, sowie eine dritte durch Praxedis nach ihrer Flucht vom Hof initiierte Phase (vgl. S. 235–240). Allerdings, so ist einzuwenden, schlug sich die letzte Phase kaum in Streitschriften nieder; außerdem begegnet der Verzicht auf Einzelheiten nicht nur in der Frühphase, und ob Vorwürfe, die das Hinzudenken der Details durch die Rezipienten evozieren, weniger polemisch sind, sei dahingestellt. Als neuen Akzent erkennt Patzold die Rede von der fürstlichen Verantwortung für das Reich, und zwar vor allem bei antisalischen Autoren wie Lampert (so in dessen Annales ad ann. 1073). Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik, in: FMSt 41 (2007), S. 75–103, hier S. 90 und S. 94 f., liest diese Passage als Versuch Lamperts, Heinrich IV. abzuwerten. 42 Dazu Gerd Althoff, Noch einmal zu den Vorwürfen gegen Heinrich IV. Genese, Themen, Einsatzfelder, in: Althoff (Hg.), Heinrich IV. (wie Anm. 41), S. 255–267, hier S. 258–260. 43 Insofern geht es nicht vorrangig darum, ob es zutrifft, dass Heinrich sich selbst hinsichtlich der Ehemoral kaum von anderen zeitgenössischen Herrschern unterschieden habe; vgl. zu dieser Auffassung Philippe Buc, Die Krise des Reiches unter Heinrich IV., mit und ohne Spielregeln. „Par malvais roi est mains frans hom honnis“ (Raoul de Cambrai, v. 650), in: Claudia Garnier, Hermann Kamp (Hg.), Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, Darmstadt 2010, S. 61–93, hier S. 84. 44 Vgl. Buc, Krise (wie Anm. 43), S. 266. Ähnlich Gerd Althoff, Einleitung, in: Althoff (Hg.). Heinrich IV. (wie Anm. 41), S. 7–12, hier S. 10, der die Bedeutung der Tatsache
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Defizite und der politische Rahmen, als Ursachen für das Aufkommen so zahlreicher Vorwürfe zu betrachten seien, betonte Matthias Becher. Festzuhalten bleibt, dass erst im Investiturstreit Vorwürfe an die Adresse des Herrschers selbst gerichtet wurden und einen entehrenden Charakter annahmen45. Nicht zuletzt lassen sich anhand der Anschuldigungen gegen Heinrich IV. Bezüge und Wechselwirkungen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit aufzeigen. Die schriftliche Fixierung diente der Verfestigung bei den (schriftkundigen) Gegnern Heinrichs und letztlich der weiteren Verbreitung. War das mündlich tradierte Gerücht veränderbar und geriet leicht außer Kontrolle, konnte ein auf schriftlicher Ebene gezielt in Umlauf gesetzter Vorwurf gleichsam haltbar gemacht und durch Propagandisten wiederum mündlich weitergetragen werden. Wenn im Folgenden das Auftauchen und die Verarbeitung einiger Gerüchte in den zeitgenössischen Quellen thematisiert werden, soll es ebenfalls weniger um deren Wahrheitsgehalt gehen. In den Vordergrund rücken vielmehr die propagandistischen Techniken der Autoren sowie die Verbreitungsformen von Gerüchten. Diese werden im Anschluss an Niklas Luhmann nicht als fest umrissenes Mittel der Kommunikation, sondern als flexible kommunikative Situation verstanden46. herausstellt, dass gegen den Salier überhaupt so zahlreiche Vorwürfe erhoben wurden; sie seien „Teil der politischen Realität“ und begleiteten Heinrichs Handeln als Herrscher. „Die Intensität, mit der über längere Zeiträume die vorwurfsvollen Argumente vorgebracht und wiederholt wurden, spricht sehr dafür, dass man von der Wahrheit und der Wirksamkeit des Vorgebrachten überzeugt war“ – so Gerd Althoff, Heinrich IV., Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 20. Insofern besitzen die Vorwürfe jenseits ihres Wahrheitsgehalts einen hohen Quellenwert, indem sie einen „entscheidenden Baustein zur Beurteilung des Herrschers“ (S. 255) liefern. 45 Vgl. Matthias Becher, Luxuria, libido und adulterium. Kritik am Herrscher im Spiegel der zeitgenössischen Historiographie (6. bis 11. Jahrhundert), in: Althoff (Hg.), Heinrich IV. (wie Anm. 41), S. 41–71, hier besonders S. 71. Auf Wechselwirkungen zwischen Vorwürfen und bestehenden Konflikten geht Hermann Kamp, Die Vorwürfe gegen Heinrich IV. – eine Zusammenfassung, in: Althoff (Hg.), Heinrich IV. (wie Anm. 41), S. 355–367, ein. Es sei daran erinnert, dass an einer zentralen Stelle päpstlicher Propaganda, im Brief Gregors VII. an die deutschen Bischöfe, Herzöge und Grafen vom Sommer 1076, der über Heinrich IV. verhängte Bann auch mit der inhonesta fama der königlichen Übeltaten begründet wird; vgl. The Epistolae vagantes of Pope Gregory VII, hg. und übersetzt v. Herbert E. J. Cowdrey, Oxford 1972, S. 32–41, bes. S. 34. 46 Grundlegend dazu Niklas Luhmann, Was ist Kommunikation?, in: Information Philosophie 1 (1987), S. 4–16 [wiederabgedruckt in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung. Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 113–124]. Frank Buskotte, Resonanzen für Geschichte. Niklas Luhmanns Systemtheorie aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, Berlin 2006 (Kulturwissenschaft, 12), S. 14, erkennt und beschreibt den zentralen Rang des Kommunikationsbegriffs für die Systemtheorie; Luh-
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Beachtung verdient dabei, dass einige Propagandisten durchaus über Chancen und Risiken des Einsatzes von Gerüchten reflektierten und auf diese Weise auch ihre eigene Rolle thematisierten. Dass der fama nichts verborgen bleibt und dass sie früher oder später alles ans Licht bringt, diesen Öffentlichkeitsaspekt hat wohl kein Autor so deutlich hervorgehoben wie Benzo von Alba im Prolog zum letzten seiner „Sieben Bücher an Kaiser Heinrich“. Das siebte Buch, das wohl im Frühjahr 1084, also zum Zeitpunkt der Einnahme Roms durch Heinrich IV. und der Vertreibung des Papstes aus der Stadt entstand, behandelt die Frage, ob Gregor VII. rechtmäßig Papst sei47. Zum Charakter des Gerüchts schreibt Benzo: Fama nichil celans bona vel mala cuncta revelans retulit ubique, quod iusto iudicio Dei condempnatus est Prandellus, collega Scariothei48. An gleicher Stelle spricht er über ein angebliches Konzil, das die Absetzung Gregors VII. vollzogen habe, und äußert sich zu den Verbreitungswegen der antigregorianischen Propaganda: So habe Heinrich beschlossen, dass allen der
mann zufolge gründet „alles Soziale auf Kommunikation“ (dazu auch S. 62–64). Von Talcott Parsons hebt Luhmann sich ab, indem er Kultur „als Gedächtnis sozialer Systeme, insbesondere des Gesellschaftssystems, identifiziert“ (S. 139). 47 Der von den Papstgegnern bestrittenen Legitimität tritt in der Mitte der 1080er Jahre Bonizo von Sutri im Liber ad amicum entgegen; die Heftigkeit seines Widerspruchs mag zugleich ein Indiz für die weite Verbreitung jener Behauptung sein. Bonizos Entgegnung verläuft in zwei Schritten: Zunächst behauptet er, die Gegner würden mit ihren Verleumdungen keinen Erfolg haben, danach erläutert er näher, worin diese Verleumdungen bestehen und worauf sie sich gründen, und bescheinigt der Argumentation seiner Widersacher, sie sei falsch oder zumindest wirkungslos und ohne Belang (MGH Ldl 1, S. 615 Z. 13–15). Zu seinen Darlegungen vgl. Thomas Förster, Bonizo von Sutri als gregorianischer Geschichtsschreiber, Hannover 2011 (MGH Studien und Texte, 53), S. 145–193. AnjaLisa Schroll macht darauf aufmerksam, dass Benzo von Alba auch unter Verweis auf die Wahl des Cadalus das Vorgehen Heinrichs IV. im Jahre 1084 legitimiert und dass ein Brief innerhalb der Gesta Romanae ecclesiae diese Wahl durch die Kardinäle als vorbildlich erscheinen lässt, während Hildebrand-Gregor sich unrechtmäßig verhalten habe. Umgekehrt hingegen bewertet Bonizo im Liber ad amicum das Geschehen: Wibert gilt ihm als Verschwörer, in Cadalus erkennt er einen Präzedenzfall (vgl. dazu ihren Beitrag im vorliegenden Band). Auf die tumultuarische Erhebung Hildebrands zum Papst (1073) sowie auf die daraus entstandenen Vorwürfe geht Wido von Ferrara gleich zu Beginn seiner Schrift De scismate Hildebrandi ein (vgl. MGH Ldl 1, S. 534 Z. 4–10). 48 Benzo, Ad Heinricum imperatorem libri VII (wie Anm. 29), S. 578 Z. 2–4. Benzo nennt Gregor VII. häufig beim Spottnamen Prandellus (statt Hildebrandus) und stellt ihn auf eine Stufe mit Judas Iskarioth.
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Wahnsinn des Prandellus bekannt gemacht werde (notificari cunctis Prandelli insa niam)49, und daher die italienischen Bischöfe in Verona versammelt. Schon wesentlich früher trifft man die fama in den Streitschriften an. Im anonymen Traktat De ordinando pontifice, der um die Jahreswende 1047/48 entstand, ist die Rede von Benedikt IX., dessen Papsttum simonistisch gewesen sei. Für die Behauptung, Benedikt sei unrechtmäßig ins Amt gekommen, führt der Verfasser die sich überall verbreitende Kunde ( fama volitans) an, deren Wahrheitsgehalt er offenbar vertraut50. Damit läutet er den publizistischen Umgang mit Gerüchten in der Epoche des Investiturstreits ein; zugleich scheint der argumentative Einsatz des umlaufenden Geredes für ihn selbstverständlich zu sein. Beide Autoren, Benzo und der Anonymus, akzeptieren etwas, das bereits allgemein bekannt und verbreitet ist, als Wahrheit oder suggerieren dies zumindest. Wenn die Streitschriften Gerüchte erwähnen, dominiert andererseits häufig der Aspekt der Unzuverlässigkeit sowie der Verfälschung oder Erfindung von Tatsachen51. So verhält es sich beispielsweise bei Manegold von Lautenbach. Als Kanoniker lebte er zunächst in Lautenbach, später im Augustinerchorherrenstift Marbach im Elsass und besaß als Prediger einen erheblichen Einfluss in der Region; auch zählte er zum Kreis der süddeutschen Gregorianer, deren Zentrum in Konstanz lag. Die Studien in der dortigen Domschule führten dazu, dass gregorianische Autoren mit Beispielen und Argumenten für ihre Werke versorgt wurden; Manegold selbst rezipierte insbesondere die frühen Schriften Bernolds von Konstanz. Wahrscheinlich im Jahr 1085 vollendete er seine umfangreiche Streitschrift, den Liber ad Gebehardum, der wesentliche Aspekte des Konflikts in streng gregorianischem Sinne deutet. Im Vor49 Benzo, Ad Heinricum imperatorem libri VII (wie Anm. 29), S. 580 Z. 4. Zu Benzos Auftreten als Redner und zu seinen persuasiven Strategien vgl. den Beitrag von Georg Strack im vorliegenden Band. 50 Vgl. Erwin Frauenknecht, Der Traktat De ordinando pontifice, Hannover 1992 (MGH Studien und Texte 5), S. 81. Der Verfasser war „vermutlich ein Bischof aus dem Herzogtum Burgund“ (S. 69). Zum Inhalt Horst Fuhrmann, Beobachtungen zur Schrift De ordin ando pontifice, in: Hubert Mordek (Hg.), Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kottje zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1992 (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte, 3), S. 223–237. 51 Häufig erscheint dann in den lateinischen Texten nicht fama, sondern rumor als Terminus für das Gerücht; anders als fama ist er unzweideutig und erlaubt keine ambivalente Interpretation. Mierau, Exkommunikation (wie Anm. 16), S. 51, macht darauf aufmerksam, dass im klassischen Latein fama die offene, rumor „eher die schwelende Verbreitung“ von Gerede meint. Renard, Rumors and Urban Legends (wie Anm. 18), S. 13413, und Andreas Würgler, Fama und Rumor. Gerücht, Aufruhr und Presse im Ancien Régime, in: WerkstattGeschichte 15 (1996), S. 20–32, hier S. 20, erkennen eine große Nähe des als rumor bezeichneten Gerüchts zum potentiellen oder tatsächlichen Aufruhr.
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dergrund steht die Auseinandersetzung mit Wenrich von Trier; der Trierer Domschullehrer hatte einen offenen Brief an Gregor VII. gerichtet und dessen Schritte gegen Heinrich IV. scharf kritisiert52. Gerüchte scheinen für Manegold etwas ganz und gar Negatives zu sein. So beklagt er sich an einer Stelle des Liber ad Gebehardum darüber, dass sein Gegner Wenrich Behauptungen über den Papst aufstelle, ohne diese belegen zu können. Dabei schöpfe jener aus dem Gerede der Leute (ex vulgi rumore) und füge eigene Verdächtigungen hinzu53. Er selbst, Manegold, hingegen wolle Zeugnisse dafür anführen, dass seine eigenen Ausführungen über den Papst der Wahrheit entsprächen, damit es nicht so aussehe, als habe er sie frei erfunden oder aus dem Gerede der Leute (ex vulgari rumore) aufgeschnappt54. Ähnlich verfährt er in denjenigen Passagen, in denen es um moralische Vorwürfe gegen Heinrich IV. geht: Wenn er für sich in Anspruch nimmt, gerade die extremen Anschuldigungen nicht in Form eines Gerüchts, sondern aus sicherer Kenntnis der Sachlage wiederzugeben, so ist er sich der negativen Konnotation und der Wirkung von Gerüchten bewusst55. Sowohl bei der Verteidigung des Papstes als auch bei den Angriffen auf den salischen Herrscher benutzt er dieselben Mittel: Vordergründig behält er seine Skepsis Gerüchten gegenüber bei, gleichzeitig wertet er seine eigenen Behauptungen über Heinrichs Ehemoral dadurch auf, dass er sie explizit nicht als Gerüchte bezeichnet. Das Publikum soll auf die schädliche Wirkung gegnerischer Anschuldigungen hingewiesen werden und den als Wahrheit deklarierten Behauptungen Manegolds glauben. Ganz in diesem Sinne versucht Erzbischof Gebhard von Salzburg in seiner in Briefform verfassten Streitschrift (Epistola) die propagandistische Strategie der Gegner zu enttarnen. Konkret plädiert er dafür, keinen Kontakt mit Exkommunizierten zu pflegen; Menschen geringeren Verstandes würden nun aber von den Anhängern Heinrichs IV. irregeleitet. Diese verbreiteten nach Gebhards Ansicht ihre Thesen dadurch, dass sie jenen Fallen stellten, indem sie ihm zur Zerstörung der wahren Anschauung etwas vorsetzten, was der Wahrheit täuschend ähnlich sei56. Wendet man sich Gerüchten zu, die über Heinrichs Gegenspieler, Papst Gregor VII., im Umlauf waren, dann rückt unweigerlich der schon erwähnte Wenrich von Trier ins Blickfeld. In seiner Epistola spricht er davon, er habe gehört, dass auf 52 Vgl. Wilfried Hartmann, Manegold von Lautenbach, in: VL 5 (21985), Sp. 1214–1218. 53 Vgl. MGH Ldl 1, S. 355 Z. 43. 54 Vgl. MGH Ldl 1, S. 358 Z. 29. 55 Vgl. außer den genannten Stellen auch die Passage MGH Ldl 1, S. 363 Z. 11–20. Dazu bereits Münsch, Heuchlerischer Tyrann (wie Anm. 7), S. 192 f. 56 Vgl. MGH Ldl 1, S. 266 Z. 34.
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Geheiß des Papstes ein Toter auferweckt werden sollte57. Diese Nachricht ist in den zeitgenössischen Quellen sonst nicht überliefert58; ob es sich um ein tatsächlich kursierendes Gerücht handelt, scheint fraglich. Vielmehr dürfte Wenrich eine wirkungsvolle Ergänzung zu seiner Behauptung benötigt haben, Tausende Menschen seien durch päpstliche Schuld umgekommen. So kann er den einen angeblich Wiedererweckten den Tausenden Opfern gegenüberstellen und Gregors Handeln als umso verwerflicher erscheinen lassen59. Im weiteren Verlauf seines Briefs wendet er sich gegen ein neues Ziel, Rudolf von Rheinfelden, und gibt dem Publikum Nachricht von der Polygamie des Gegenkönigs, dessen drei Frauen zur selben Zeit lebten60. Einmal mehr wird hier das Gerücht als solches unkenntlich gemacht, da Wenrich seine Behauptung als sicheres Wissen vorbringt. Wenngleich unklar bleibt, ob er die dritte, sonst nicht bezeugte Gemahlin schlicht erfunden hat oder ob es sie tatsächlich gab61, zeugt die Passage von propagandistischem Geschick: Wenrichs Behauptung ist so schlicht, dass man sich durchaus ein Publikum vorstellen kann, das eine solche „Information“ für bare Münze nahm. Ein konkretes Gerücht über Gregor VII. findet sich in der Defensio Heinrici IV regis, einer Verteidigungsschrift, die bislang meist einem gewissen Petrus Crassus zugeschrieben wurde. Datierung und Verfasserschaft sind in der Forschung seit langem umstritten; unstrittig ist, dass die Schrift Heinrich IV. anlässlich der Kaiserkrönung im Frühjahr 1084 überreicht wurde62. Innerhalb eines Appells an die 57 Vgl. MGH Ldl 1, S. 287 Z. 20–22. 58 Vgl. MGH Ldl 1, S. 287 Anm. 2. Ohne weitere Belege meinte indes Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. Bd. 3: 1077 (Schluß) bis 1084, Leipzig 1900 [ND: Berlin 1965] ( Jbb. der Deutschen Geschichte 15, 3), S. 409, es handle sich um eine „verbreitete Erzählung“. 59 Überhaupt gibt der Trierer Domscholaster in seiner Schrift eine Reihe von Verdächtigungen und Behauptungen wieder, die er ungenannt bleibenden Dritten in den Mund legt und die wie Gerüchte über Gregor und dessen Maßnahmen erscheinen (vgl. MGH Ldl 1, S. 286 Z. 7 bis S. 287 Z. 29). 60 Vgl. MGH Ldl 1, S. 294 Z. 13 f. 61 Mathilde, die Tochter Heinrichs III., verstarb schon 1059, während Rudolfs zweite Frau Adelheid, die Tochter der gleichnamigen Markgräfin von Turin, bis 1079 lebte. 62 Zur Verfasserfrage Ingrid Heidrich, Ravenna unter Erzbischof Wibert (1073–1100). Untersuchungen zur Stellung des Erzbischofs und Gegenpapstes Clemens III. in seiner Metropole, Sigmaringen 1984 (VuF, Sonderbd. 32), S. 151 f.; Hans Hubert Anton, Beobachtungen zur heinrizianischen Publizistik: die Defensio Heinrici IV. regis, in: Dieter Berg, Hans-Werner Goetz (Hg.), Historiographia mediaevalis. Beiträge zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters. Festschrift für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, Darmstadt 1988, S. 149–167, hier S. 162 f.; Tilman Struve, Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in
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Sachsen, ihre feindselige Haltung aufzugeben und künftig Heinrich zu unterstützen, berichtet der Autor, der König sei, wie allgemein bekannt, schon des Öfteren vor das Gericht des Papstes gerufen worden. Unbekannt aber sei bislang die böse und trügerische Hinterlist (calliditas iniqua et dolosa), mit welcher Gregor VII. Beweise gesucht habe, um den König anklagen zu können. Um die päpstliche Motivation zu illustrieren, benutzt der Autor ein Gerücht, das durch den Hinweis ut fama est offen als solches ausgewiesen ist. Es besagt, dass der Papst sich öffentlich (coram cunctis, qui aderant) um das Seelenheil des Königs besorgt gab, im Verborgenen aber den Entzug des Königtums, ja sogar den Tod Heinrichs und von dessen Kindern geplant habe. Deshalb sei der Papst selbst als Ankläger, Zeuge und Richter aufgetreten63. Dies aber, so der juristisch gebildete Verfasser der Defensio Heinrici, sei unzulässig, und da jegliche Beweise für Heinrichs Schuld fehlten, sei das päpstliche Urteil über den König ungültig. Damit will er sein Publikum glauben machen, dass rechtlich gegen Heinrich gar nichts vorlag, weshalb der Papst den König allenfalls auf unlautere Weise belangen konnte64. Das mitgeteilte Gerücht bezieht sich sowohl auf den konkreten Vorgang der Anklage als auch besonders auf die dahinter vermutete Geisteshaltung des Papstes. Es steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Absicht der gesamten Textpassage, dem Papst grobe Verletzungen seiner Amtspflichten und zugleich moralische Verkommenheit nachzuweisen. Eine besondere Note erhalten derartige Mitteilungen, wenn man berücksichtigt, dass der Verfasser der Defensio Heinrici IV regis an anderer Stelle eindringlich davor warnt, falsche Anschuldigungen in die Welt zu setzen65. Offenkundig scheint er selbst nicht willens, diese Mahnung zu beherzigen. Seine Anklage gegen den Papst weitet sich sogar noch aus und umfasst schließlich auch den Vorwurf der Wahrsagerei, die Gregor schon seit langem betreibe. Der Autor deutet zusätzliches Detailder Zeit des Investiturstreites, Stuttgart 1999 (Abh. Mainz, 5), S. 7–89, besonders S. 67 f. Am Rande sei darauf hingewiesen, dass die Defensio Heinrici auch als Beleg für die Verlagerung hin zu einer stärker säkularen – in diesem Fall: einer römisch-rechtlichen – Legitimation der Herrschaft gelesen werden kann; dazu Ludger Körntgen, „Sakrales Königtum“ und „Entsakralisierung“ in der Polemik um Heinrich IV., in: Althoff (Hg.), Heinrich IV. (wie Anm. 41), S. 127–160, hier S. 159 f. 63 Vgl. MGH Ldl 1, S. 446 Z. 4–20. Der Vorwurf, Gregor habe mit seinem Vorgehen das Recht gebeugt, um Heinrich das Königtum zu entziehen, erscheint später auch im Liber de unitate ecclesiae conservanda; vgl. MGH Ldl 2, S. 201 Z. 1–8 (I 12). 64 Der Topos vom lauteren, friedliebenden Herrscher Heinrich begegnet überaus häufig in salierfreundlichen Quellen; zahlreiche Belege liefert Tilman Struve, Der „gute“ Kaiser Heinrich IV. Heinrich IV. im Lichte der Verteidiger des salischen Herrschaftssystems, in: Althoff (Hg.), Heinrich IV. (wie Anm. 41), S. 161–188. 65 Vgl. MGH Ldl 1, S. 447 Z. 39 f.
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wissen an, um seine angeblich präzisen Kenntnisse zu belegen: Insuper in veritate compertum est inter nos, unde et quo modo ipsum librum mortiferae artis acquisivit66. Hier wird das Gerücht durch vermeintliche Fakten angereichert, um eine höhere Glaubwürdigkeit zu erlangen. Bedenkt man, dass der Vorwurf nigromantischer Praktiken gegen den Papst bereits im Brixener Dekret des Jahres 1080 erhoben wurde und dass er nochmals in einem Brief innerhalb der Gesta Romanae ecclesiae in den 1090er Jahren auftaucht, so erhält man einen Eindruck von der Verbreitung und der Langlebigkeit eines solchen Gerüchts67. Im Kontext der Anschuldigungen gegen Gregor VII. ist auch ein kurzes Textstück von Interesse, das anonym und ohne Titel am Beginn der aus St. Alban in Mainz stammenden Handschrift London, British Library, Cott. Nero C. V (auf fol. 1v) tradiert wird68 und wohl zur Verbreitung in antigregorianischen Kreisen verfasst wurde69. Es enthält die Nachricht vom Sündenbekenntnis, das Gregor, im Text apostolicus Hildebrandus genannt, kurz vor seinem Tod abgelegt habe. Der Papst habe die Exkommunikation Heinrichs IV. zurückgenommen und den Kaiser durch Boten um Vergebung für sein falsches, sündhaftes Handeln gebeten, mit dem er suadente diabolo contra humanum genus odium et iram erregt habe.
66 MGH Ldl 1, S. 452 Z. 2 f. 67 Vgl. MGH Const. 1, S. 119 Z. 41 (Brixener Dekret); MGH Ldl 2, S. 373 Z. 3–23 (Gesta Romanae ecclesiae). 68 Zur Handschrift des späten 11. Jahrhunderts vgl. Sigrid Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters. Teil 2: Köln – Zyfflich, München 1989 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Ergänzungsbd. 1), S. 525; A Catalogue of the Manuscripts in the Cottonian Library deposited in the British Museum, London 1802 [ND: Hildesheim, New York 1974], S. 234; Thomas Smith, Catalogus librorum manuscriptorum Bibliothecae Cottonianae, Oxford 1696 [annotierter ND, hg. v. Colin G. C. Tite, Cambridge 1984], S. 54. Die kurze Notiz wird bei Smith und, ihm folgend, auch im jüngeren Bibliothekskatalog aufgeführt als „Nota de poenitentia Hildebrandi P. [Gregorii VII.] dum in extremis ageret“. 69 Abgedruckt zuerst in einer Fußnote zur Chronik Hugos von Flavigny (MGH SS 2, S. 470 f.; zu Hugo vgl. Patrick Healy, The Chronicle of Hugh of Flavigny. Reform and the Investiture Contest in the Late Eleventh Century, Aldershot 2006 [Church, Faith and Culture in the Medieval West], besonders S. 63–88 und S. 215–228, sowie Mathias Lawo, Studien zu Hugo von Flavigny, Hannover 2010 [MGH Schriften, 61], besonders S. 1–36), dann von Herbert E. J. Cowdrey, The Age of Abbot Desiderius. Montecassino, the Papacy, and the Normans in the Eleventh and Early Twelfth Centuries, Oxford 1983, S. 250. Wesentliche Teile des Textes zitiert Sigebert von Gembloux in seiner Chronik ad ann. 1085 (MGH SS 6, S. 365). Vgl. zu ihm den Beitrag von Wilfried Hartmann im vorliegenden Band, der die These einer antigregorianischen Tendenz Sigeberts kritisch beleuchtet.
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Diese Notiz stellt offenkundig nichts anderes dar als die inhaltliche Umkehrung einer „Aufzeichnung über den letzten Willen Gregors VII.“70. Darin löst der Papst alle Exkommunizierten vom Bann pręter H. regem dictum et Ravennatem archiepis copum […] et omnes illas principales personas, quę aut consilio aut auxilio favent nequitię et impietati illorum71. Man kann sich leicht vorstellen, welche Wirkung die angebliche Selbstaussage des Papstes entfachen sollte. Berücksichtigt man zudem die Möglichkeit, dass auch die „Aufzeichnung über den letzten Willen Gregors“ nicht authentisch ist, sondern ihrerseits vielleicht „eine Antwort auf kaiserlich wibertinische Propaganda darstellte“72, so gewinnt man ein Bild von der Heftigkeit des auf beiden Seiten mit denselben Mitteln und Methoden geführten Kampfes, der vor Gerüchten und Verfälschungen aller Art nicht zurückschreckte. Es geht nicht an, über Gerüchte im Investiturstreit zu handeln, ohne den Liber de unitate ecclesiae conservanda zu erwähnen. Verfasst von einem unbekannten Mönch aus dem Kloster Hersfeld, entstanden in den Jahren 1090 bis 1093, plädiert er für eine Einheit der Kirche im althergebrachten Sinne. Die Rückkehr zu Frieden und Eintracht ist aus seiner Sicht nur mittels einer Führungsrolle der weltlichen Gewalt realisierbar. Der Hauptvorwurf an die Gregorianer lautet, Gregor VII., der mittlerweile längst verstorben war, habe diese Einheit zerstört, indem er sich in
70 Überliefert in der Hildesheimer Briefsammlung der Handschrift Hannover, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. XI 671 (auf fol. 224r–v); vgl. Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., bearb. v. Carl Erdmann und Norbert Fickermann, Weimar 1950 (MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit, 5), S. 75 f. Weniger vollständige Überlieferungen bieten die Chronik Hugos von Flavigny und die Vita Gregorii VII Pauls von Bernried. Dazu auch Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2000, S. 329 f. (mit weiterer Literatur). Sita Steckel deutet Briefsammlungen wie die Hildesheimer und die ältere Wormser Sammlung als Kompilationen für Lehrer zum Einsatz in der rhetorischen Unterrichtspraxis; die Aufnahme von Invektiven in solche Sammlungen sieht sie im Kontext des Investiturstreits (vgl. ihren Beitrag im vorliegenden Band). 71 Erdmann, Fickermann, Briefsammlungen (wie Anm. 70), S. 75 Z. 19–23. 72 Blumenthal, Gregor VII. (wie Anm. 70), S. 330 Anm. 14, die hier die These von Paul Egon Hübinger, Die letzten Worte Papst Gregors VII., Opladen 1973 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften; Vorträge, G 185), S. 93, wiedergibt. Nicolangelo D’Acunto, Das Wibertinische Schisma in den Quellen des Regnum Italiae, in: Harald Müller, Brigitte Hotz (Hg.), Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien u. a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 1), S. 83–96, verweist darauf, dass Wibert (Clemens III.) in Reichsitalien über einen erheblichen Anhang verfügte; allerdings spiegele sich sein Rang dort in den nur schmal überlieferten antigregorianischen Streitschriften ebenso wenig wie in der Urkundenüberlieferung, was mit einer späteren damnatio memoriae Wiberts zu erklären sei.
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Angelegenheiten der weltlichen Gewalt eingemischt habe73. Eine Gelegenheit, Fakten und Fiktionen zu kombinieren, bot sich dem Verfasser des Liber de unitate bei der Mitteilung, Papst Viktor III. sei an einer Durchfallerkrankung (dysenteriae morbo) gestorben74. Dabei dürfte es sich um mehr als ein Gerücht handeln, berichten doch andere zeitgenössische Quellen von einer nicht näher bestimmten Krankheit des vormaligen Abtes von Montecassino bereits im Kontext der Papsterhebung75. Der Liber de unitate verband das päpstliche Dahinscheiden nun aber mit dem Vorwurf, schon Viktors Inthronisation sei unrechtmäßig gewesen. Die tödlich verlaufende Erkrankung mit ihrem qualvollen Siechtum soll wie eine göttliche Strafe erscheinen. Daher vergleicht der Hersfelder Anonymus den Tod Viktors III., der in Anspielung auf Papst Sergius III. stets Sergius genannt wird, mit dem schmählichen Ende des Häretikers Arius, das er aus der Kirchengeschichte des Rufinus wiedergibt76. 73 Die bislang einzig bekannte, inzwischen verlorene Handschrift des umfangreichen Werkes entdeckte Ulrich von Hutten 1519 in der Bibliothek des Klosters Fulda. Er war es auch, der der Schrift den Namen gab und sich dabei an Cyprians Werk De unitate catholicae ecclesiae, eine zentrale Quelle des Liber de unitate, anlehnte. 74 Vgl. MGH Ldl 2, S. 232 Z. 36. 75 Bernold von Konstanz teilt im Chronicon ad ann. 1087 den Tod Viktors nach jahrelanger Krankheit mit, die auch zum Zeitpunkt der Ordination schon bestanden habe; vgl. Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz 1054–1100, ed. Ian Stuart Robinson, Hannover 2003 (MGH SS rer. Germ., N. S. 14), S. 467. Die Vita des Papstes enthält lediglich die Information, dieser sei auf dem im Sommer 1087 abgehaltenen Konzil schwer erkrankt (graviter infirmatus), nach Montecassino zurückgekehrt und, nachdem er sich für Odo von Ostia als Nachfolger ausgesprochen habe, verschieden; vgl. Pontificum Romanorum qui fuerunt inde ab exeunte saeculo IX usque ad finem saeculi XIII Vitae ab aequalibus conscriptae, ed. Johann Baptist Matthias Watterich. Bd. 1, Leipzig 1862, S. 569. Diese Angabe stimmt überein mit der Information in der Chronik von Montecassino (ed. Wilhelm Wattenbach, in: MGH SS 7, Hannover 1846, S. 551–844, hier S. 753). Von einer Krankheit Viktors wissen auch Frutolf von Michelsberg und Sigebert von Gembloux; weitere Quellen listet Cowdrey, The Age of Abbot Desiderius (wie Anm. 69), S. 206 f. Anm. 90 auf. 76 MGH Ldl 2, S. 270 Z. 8–15 (unter Benutzung von Rufinus, Historia ecclesiastica I 13): Atque statim in ipso ordinationis suae ingressu profluvio ventris solutus, paulo post interiit, divino iudicio percussus. Sic quippe legitur in Ecclesiastica Historia Arrium ad ecclesiam pergentem, episcoporum et populorum frequentia constipatum, humanae necessitatis causa ad secretum locum declinasse, ubi cum sedisset, intestina eius atque omnia viscera in secessus cuniculum defluxisse et ita dignam mortem blasphemiae et foetidae mentis exolvisse. Ob das lateinische dysenteria die Ruhr oder eine andere Durchfallerkrankung meint, lässt sich nicht entscheiden. Zum negativen Bild, das der Liber de unitate von Desiderius zeichnet, Cowdrey, The Age of Abbot Desiderius (wie Anm. 69), S. 211.
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Die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren, die in der Verbreitung von Gerüchten lagen, waren den Propagandisten des Investiturstreits bewusst. Sie scheuten sich vielfach, Gerüchte als solche zu kennzeichnen, warnten gar ihr Publikum vor Leichtgläubigkeit, benutzten jene aber immer wieder. Dabei folgten sie einem doppelten Grundsatz: Sind Gerüchte zur Festigung des eigenen Standpunkts nützlich oder vermögen sie es, den Gegner herabzusetzen, werden sie benutzt, möglichst ohne dass ihr zweifelhafter Charakter deutlich wird. Umgekehrt soll einer gegnerischen Behauptung dadurch der Boden entzogen werden, dass diese als bloßes Gerücht dargestellt wird. So entsteht in den Streitschriften und in streitschriftennahen Texten ein kaum mehr durchschaubares Konglomerat aus Fakten und Fiktionen. Manche Autoren arbeiten beim Einsatz von Gerüchten mit der Kontrastierung zwischen „Offen“ und „Verborgen“: Was allgemein bekannt ist, dient als Ausgangspunkt des Gerüchts; von dort aus werden weitere, zuvor nicht zugängliche „Informationen“ mitgeteilt und interpretiert. Häufig erfolgt mit Hilfe des Gerüchts der Schritt vom äußeren Faktum zu den Motiven einer Handlung, womit meist die Verlagerung von der mehr oder weniger rationalen Argumentation auf die Ebene moralischer Angriffe einhergeht. Darin, in der moralischen Abwertung des Gegners vor dem Hintergrund einer aufgeheizten kirchenpolitischen Atmosphäre, liegt der eigentliche Sinn der in den Streitschriften verarbeiteten Gerüchte. Wie die Propaganda insgesamt, so haben auch die Gerüchte auf beiden Seiten konkrete Kontexte: Vorwürfe und Halbwahrheiten entstehen nicht selten im Vorfeld oder in Ergänzung, gleichsam korrespondierend, zu bestimmten historischen Vorfällen; ebenso können sie auch kontrastierend, als Entgegnung auf von der Gegenseite in Umlauf gebrachte Gerüchte generiert werden. Diese Beobachtung hat Folgen für das Verständnis mittelalterlicher Kommunikation in Krisensituationen: Neben zweifellos vorhandenen Verständigungsbemühungen müssen die Methoden zur Verschärfung und Intensivierung des Streits analysiert werden; dabei dürfen Kommunikationswege und -mittel ebenso wenig außer Acht gelassen werden wie psychologische Dispositionen, auf welche die Propaganda in der konkreten Auseinandersetzung trifft. Was die Erforschung der propagandistischen Texte des Investiturstreits betrifft, so fehlt bislang ein vertiefter Blick auf deren Überlieferungskontexte und auf die Rezeption. Zu beachten ist dabei auch die literarische Form einer Streitschrift. Neben dem gleichsam klassischen Traktat, in den Quellen als Liber oder Libellus betitelt, tritt der Brief immer stärker in den Vordergrund, was ein Indiz für den Dialog- und Diskussionscharakter mancher Texte sein kann, auf jeden Fall aber die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten sowie die inhaltliche Variationsbreite von Briefen
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belegt77. Wie lässt es sich vor diesem Hintergrund deuten, dass Briefe und Traktate häufig im selben Überlieferungsträger begegnen? Warum werden immer wieder nur Auszüge aus den polemischen Texten tradiert? Gerade Vorwürfe und Gerüchte lösen sich vom ursprünglichen Kontext und tauchen anderswo wieder auf; Beispielsammlungen etwa für die Absetzung weltlicher Herrscher werden ebenfalls exzerpiert und separat tradiert. Wo und wozu wurden solche Exzerpte und Teilüberlieferungen noch Jahrzehnte nach dem Ende des Konflikts hergestellt und verbreitet? Es gibt zahlreiche nicht zufriedenstellend beantwortete Fragen im Umfeld des so genannten Investiturstreits, der für die Forschung noch vieles zu bieten hat – auch jenseits der so oft traktierten Szene von Canossa.
77 Florian Hartmann, Ars dictaminis. Briefsteller und verbale Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Ostfildern 2013 (Mittelalter-Forschungen, 44), S. 58 f. und S. 64, betont die Rolle, welche das Breviarium de dictamine des Alberich von Montecassino (gestorben vor 1105), ein Lehrbuch zur Abfassung von Briefen, für die Anfänge der ars dictaminis in den 1070er und 1080er Jahren spielte. Derselbe Alberich verfasste auch eine leider verlorene Streitschrift gegen Heinrich IV., war rhetorisch und dialektisch geschult und korrespondierte mit Petrus Damiani. Hartmann hält es daher für möglich, dass Alberichs Corpus sogar auf Anweisung Gregors VII. entworfen wurde; enge Verbindungen Alberichs mit Rom sind belegt. Giles Constable, Communication between Religious Houses in the Middle Ages, in: Cristina Andenna u. a. (Hg.), Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen. Bd. 1: Netzwerke: Klöster und Orden im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts, Stuttgart 2012 (Aurora, 1.1), S. 165–180, besonders S. 170, stellt fest, es fehle bislang ebenso eine systematische Studie zur Verbreitung der Briefe bekannter mittelalterlicher Autoren wie zu den Netzwerken, welche durch Briefwechsel zustande kamen oder durch sie aufrechterhalten wurden.
Was versteht man unter einer Streitschrift? Vorschlag einer Neudefinition Christian Heinrich „Die folgende Abhandlung scheut die Kontroverse nicht. Ob sie eine Streitschrift ist, mag der Leser entscheiden. Auf jeden Fall aber will sie einen nicht unpolemischen Beitrag zur historischen Methodologie liefern.“1 Mit diesen Worten beginnt die in der Mediävistik viel diskutierte Monografie Johannes Frieds zu Canossa. Neben der Ankündigung, energisch für die eigene Position Stellung zu beziehen, offenbart er dabei eine ungeklärte Frage: Was ist eine Streitschrift?2 Zwei wichtige Merkmale dieser Kategorie nennt Fried bereits: Eine Streitschrift scheut die Kontroverse nicht. Eine Streitschrift beinhaltet Polemik. Letztendlich kapituliert aber auch er vor der Aufgabe einer klaren Definition und überlässt die Einordnung oder Nicht-Einordnung in diese Kategorie seiner LeserInnenschaft. Dabei hat der Streit um die Kategorie „Streitschrift“, also um die Einordnung von Texten in selbige und deren Definition, in der Mediävistik eine lange Tradition. Am prominentesten ist dabei die Diskussion anhand von Texten aus der Salierzeit: Zwischen zirka 1030 und 11303 mit dem Schwerpunkt der Jahre 1075 bis 1100, zu einer Zeit also, als die traditionellen Rituale der Konfliktbeilegung versagten und die in der deutschen Forschung zumeist als „Investiturstreit“ bezeichnet wird, werden im lateinischen Europa eine ganze Reihe von Texten abgefasst, die sich in Bezug auf Verbreitung, Inhalt, Struktur und AutorInnenintention durch große Heterogenität auszeichnen, aber eines gemeinsam haben: In ihnen wird zu Streitfragen Stellung bezogen. In Rezeption des Werks von Carl Mirbt aus dem 1 Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012, S. 7. 2 Diese Frage stellt eine Kernfrage meiner in Entstehung befindlichen Dissertation dar. Dieser Aufsatz fußt auf ersten Erkenntnissen. Der Vortragsstil ist auch in dieser Druckfassung beibehalten worden. 3 In Rezeption Mirbts wurden auch andere Zeiten des Mittelalters in Bezug auf die Verbreitung von Streitschriften untersucht, u. a. die Regierungszeit Friedrichs II. Exemplarisch sei hierzu genannt: Helene Wieruszowski, Vom Imperium zum nationalen Königtum. Vergleichende Studien über die publizistischen Kämpfe Kaiser Friedrichs II. und König Philipps des Schönen mit der Kurie, Berlin 1933 (HZ. Beihefte, 30).
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Jahr 18944 werden diese Texte als „Streitschriften“5 bezeichnet. Mirbt ist nicht der erste Forscher, der für diese Texte den Begriff „Streitschrift“ verwendet. Bereits in Publikationen aus den 1850er Jahren taucht er auf und in diesen wird wiederum auf ältere verwiesen. Die Mediävistik des 19. Jahrhunderts blickt dabei nicht direkt auf diese Texte. Ihr Blick wird gebrochen durch die Brille der Reformationszeit: Insbesondere auf protestantischer Seite ist ein großes Interesse an den Schriften, die zum Streit über regnum und sacerdotium Stellung nehmen, deutlich ersichtlich. Dort werden diese Stellungnahmen als glaubensbegründeter Angriff auf die Macht des Papsttums verstanden, die den eigenen Kampf bereits vorwegnehmen – ein Urteil, das in den Beurteilungen des 19. Jahrhunderts fast nahtlos übernommen wird6. Auch in heutigen Beiträgen sind zum Teil noch Reste dieser Sichtweise erkennbar. Auch der Begriff „Streitschrift“ ist wohl in Anlehnung an die Literatur der Reformationszeit gewählt worden. Die Streitschriften des 11. und 12. Jahrhunderts werden unter anderen Grundvoraussetzungen produziert, insbesondere was die Möglichkeit der Weiterverbreitung betrifft, weshalb es nicht sinnvoll erscheint, eine überzeitliche Kategorie „Streitschriften“ zu definieren, sondern zeitspezifische, in diesem Fall also „Streitschriften im Investiturstreit“. Die Monografie Mirbts ist bis heute das Standardwerk in Bezug auf die Streitschriften des Investiturstreits und dieses Textkorpus (bestehend aus den in seiner Monografie vorgestellten und den in der MGH-Edition der Libelli de lite herausgegebenen Texten7) ist – von einigen Ergänzungen abgesehen – bis heute das von 4 Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894. Er beschäftigte sich allerdings auch zuvor schon mit dieser Frage, insbesondere in folgender Monografie: Carl Mirbt, Die Stellung Augustins in der Publizistik des gregorianischen Kirchenstreits, Leipzig 1888. 5 Die Begrifflichkeit divergiert z.T.: Am meisten verbreitet ist sicherlich die Bezeichnung „Streitschrift“, Carl Mirbt verwendet synonym dazu oftmals den Begriff „Kontroversliteratur“. Horst Fuhrmann beispielsweise benutzt den Begriff „Flugschrift“ statt „Streitschrift“, was epochenübergreifend eher ungewöhnlich ist: Neuzeithistoriker bezeichnen oftmals die Streitschrift als Subkategorie der Flugschrift. Siehe z. B.: Horst Fuhrmann, Ein in Briefform verschicktes Constitutum Constantini aus der Zeit des Investiturstreits, in: Hubert Mordek u. a. (Hg.), Geschichtsschreibung und Geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 1978, S. 346–355; Thomas Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1520–1522, Tübingen 1996 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, 6), insb. S. 159 und Carl Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4) erstmals S. 5. 6 Auch wenn man festhalten muss, dass Mirbt eine für seine Zeit methodisch hervorragende Monografie verfasst hat, ist obige Interpretation doch oftmals erkennbar. 7 Ernst Dümmler u. a. (Hg.), Libelli de lite imperatorum et pontificum saeculis XI. et XII. conscripti, 3 Bände, Hannover 1881–1897 (MGH Ldl). Zur Zeit der Veröffentlichung der
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praktisch allen WissenschaftlerInnen verwendete, wenn sie sich zur Streitschriftenthematik dieses Zeitraums äußern. Auch der fast schon ketzerische Aufsatz von Monika Suchan aus dem Jahr 20028, der am mirbtschen Grundschema wackelt, beziehungsweise ihm das interessante, in der von ihr vorgenommenen Generalisierung jedoch meines Erachtens nicht zielführende9 Gegenkonzept entgegenstellt, dass es sich bei Streitschriften um Argumentationshilfen für bevorstehende Verhandlungen mit der Gegenseite handle, die nie mit dem Ziel verfasst worden seien, von nicht daran Beteiligten rezipiert zu werden, tangiert die Zusammenstellung des Textkorpus nicht. Carl Mirbt definiert die Kategorie „Streitschrift“ wie folgt: „Darüber darf allerdings Einverständnis vorausgesetzt werden, dass die ‚Streitschrift‘ einerseits den Zweck voraussetzt, zu irgendeiner Kontroversfrage Stellung zu nehmen, andererseits die Absicht, für diese besondere Auffassung Propaganda zu machen. Die ‚Streitschrift‘ vereinigt demnach die zwei Momente: 1) Parteinahme 2) beabsichtigte Öffentlichkeit.“10 An sich hat Mirbt damit eine klare, eine griffige Definition verfasst. Unmittelbar im Anschluss daran schränkt er diese jedoch schon wieder ein: Monografie Mirbts war der dritte Teil der libelli de lite noch nicht veröffentlicht, sodass er auf die in dieser Edition gesammelten Texte nicht eingehen konnte. 8 Monika Suchan, Publizistik im Zeitalter Heinrichs IV. Anfänge päpstlicher und kaiserlicher Propaganda im Investiturstreit, in: Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit, Wien 2006 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 6), S. 29–45. 9 In der Forschung wurde er daher vielfach kritisiert. U.a. wandte Patzold gegen Suchans Auffassung ein: „Zweifellos konnte es hilfreich sein, wann man derartige Texte zur Vorbereitung auf Verhandlungen las und sich dadurch noch einmal gewichtiger Argumente versicherte (auch wenn schon dafür jene schlichten und konzisen Sammlungen von Sentenzen praktikabler waren, von denen sich Beispiele erhalten haben). Als gezielte Instruktion für Vermittler erscheinen die umfangreichen, bisweilen langatmigen, rhetorisch ausgefeilten Streitschriften ziemlich ungeschickt gestaltet.“ Steffen Patzold, Die Lust des Herrschers. Zur Bedeutung und Verbreitung eines politischen Vorwurfs zur Zeit Heinrichs IV., in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen, 69), S. 248. In Anmerkung 146 auf derselben Seite fährt er fort: „Tatsächlich fehlt jeder direkte Quellenbeleg, dass eine uns heute bekannte Streitschrift zu diesem Zweck eingesetzt oder gar vornehmlich zu diesem Zweck abgefasst worden wäre. Plausibel ist dagegen die Vermutung von Horst Fuhrmann [Horst Fuhrmann, Pseudoisidor, Otto von Ostia (Urban II.) und der Zitatenkampf von Gerstungen (1085), in: ZRG Kan. 68 (1982), S. 52–69.] Ihm zufolge benutzten Gebhard von Salzburg und die Gregorianer in Gerstungen eine systematische Kirchenrechtssammlung oder aber eine kleine Sammlung einschlägiger Sentenzen; die Heinrizianer zitierten dagegen aus einer Pseudoisidor-Handschrift.“ 10 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 4. Wie im Folgenden auch wurde das Zitat an die Neue Deutsche Rechtschreibung angepasst.
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„Diesen Anforderungen genügt jedoch in vollem Maße nur eine geringe Anzahl von Schriften aus der Periode des gregorianischen Kirchenstreits. Es liegt nun aber auf der Hand, dass, während das erstgenannte Kriterium unerlässlich ist, bezüglich der zweiten Milderungen möglich sind. Denn die Absicht der Veröffentlichung braucht nicht ausgesprochen zu sein und kann doch vorhanden gewesen sein, oder es kann, auch wenn diese nicht bestand, tatsächlich durch andere eine Veröffentlichung stattgefunden haben.“11 Die meisten Streitschriften des relevanten Zeitraums seien in Form von Traktaten oder Briefen verfasst worden, aber auch andere Formen, selbst lyrische, seien vorhanden gewesen12. Die mirbtsche Definition folgt vor allem inhaltlichen, nicht literaturtheoretischen Kriterien, die allerdings seinerseits nicht immer sinnbewusst angewendet werden: Nicht immer ist ersichtlich, warum eine Schrift als Streitschrift bezeichnet wird und eine andere nicht. Als Beispiel hierfür sei genannt, dass Mirbt sich in seiner der bekannten Monografie vorangehenden Dissertation zu einem ähnlichen Thema vehement dagegen wendet, die ausgesprochen tendenziösen Annalen Lamperts von Hersfeld13 zu den Streitschriften zu zählen, da dieser Text als historiografisch zu beurteilen sei14, das ausschließlich im Lorscher Kodex überlieferte Carmen Laureshamense15 über das Handeln der Hirsauer im dortigen Kloster jedoch, welches seiner eigenen Definition weit weniger entspricht, in seinem Korpus vorhanden ist. Einen Ersatz der Arbeit Mirbts hat bis heute niemand gewagt. Das hat erst einmal einen trivialen Grund: Die Monografie ist gut. Mirbt verfügt über eine beneidenswerte Textkenntnis und seine Argumente werden meist so vorsichtig und logisch vorgebracht, dass sie auch heute noch nicht als veraltet angesehen werden. Da ein Ersatz dieser Arbeit nicht nur die genaue Kenntnis eines Großteils der Quellen ab spätestens Mitte des elften bis Anfang des zwölften Jahrhunderts voraussetzte, sondern auch die Rezeption von einhundertfünfzig Jahren Sekundärliteratur zu 11 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 4. 12 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 5. 13 Lamperti Hersfeldensis Annales, ed. Oswald Holder-Egger, in: MGH SS rer. Germ. [38], Hannover u. a. 1894, S. 1–304. 14 Mirbt, Stellung Augustins (wie Anm.4), S. 4. Dass historiografische Texte kategorial von Streitschriften unterschieden werden, zieht sich bis in die neueste Forschung. Nach der Unterteilung von Patzold sind zu dieser Zeit Streitschriften von Briefen und Historiografie zu unterscheiden. Er gibt allerdings gleichzeitig zu bedenken, dass die Übergänge fließend sind: Patzold, Lust des Herrschers (wie Anm. 9), S. 235–236. 15 Carmen Laureshamense, ed. Karl Glöckner Darmstadt 1929 (Codex Laureshamensis, 1), S. 418–422.
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diesen benötigte, wäre ein solches Werk heute höchstens im Rahmen eines mittelgroßen Forschungsprojekts möglich, jedenfalls auf keinen Fall als Einzelarbeit. Die mirbtsche Schematik allerdings wurde immer wieder (teilweise) kritisiert. Dies passierte als erstes durch Carl Erdmann – zumindest indirekt: Erdmann fiel die große Heterogenität der mirbtschen Textauswahl und ihre Unabgeschlossenheit auf. Erdmann, der sicherlich über eine der breitesten Quellenkenntnisse für den betreffenden Zeitraum verfügt hat, gab an, dass fast alle Texte des späten elften Jahrhunderts über eine polemische Grundstimmung verfügten, also zumindest nach Mirbt als Streitschriften im weiteren Sinne bezeichnet werden können16. Wir könnten, seinen Ansatz zu Ende denkend, für die Literatur des späten elften Jahrhunderts also die Kategorie „Streitschrift“ abschaffen und durch die Kategorie „Text“ ersetzen. Etwas weniger überspitzt ausgedrückt: Wir müssen die Streitschriftenschublade so groß machen, dass sie keine Hilfe mehr wäre. Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch diese Einteilung kann in der Mittelalterforschung hilfreich sein, beispielsweise, wenn die verschiedenen Standpunkte zu unterschiedlichen Streitpunkten der damaligen Zeit Untersuchungsgegenstand sind. Aber als Analysegrundlage eines literarischen Phänomens ist diese Einteilung untauglich. Zumindest die Ansicht, dass es sich bei der mirbtschen Zuteilung um eine nicht immer nach objektiven Kriterien nachvollziehbare, will sagen: willkürliche Zuordnung handelt, ist in der Forschung Common Sense. Gestritten wird in der Forschung momentan vor allem darüber, welchen Einfluss die Streitschriften auf die Öffentlichkeit hatten. Die Frage, was unter „Öffentlichkeit“ im elften Jahrhundert genau zu verstehen ist, möchte ich an dieser Stelle bewusst aussparen und stattdessen auf die zweibändige Arbeit von Leidulf Melve aus dem Jahr 200717 verweisen, der die Thematik meiner Meinung nach hervorragend aufgearbeitet hat. Ich möchte mich an dieser Stelle mit der Arbeitsdefinition begnügen, dass ein Text eine Öffentlichkeit erreicht, wenn er von einer Menge aus mindestens fünfundzwanzig Personen – die Zahl ist rein willkürlich gewählt und gründet nicht in tiefergehenden Überlegungen – zur Kenntnis genommen wird, welche sich nicht aus dem direkten Umfeld des Verfassers zusammensetzt. Es ist naturgemäß leichter, im städtischen Umfeld Öffentlichkeit zu kreieren und zu beeinflussen als im ländlichen, weshalb in der Salierzeit in Mitteleuropa meines Erachtens erst die Voraussetzungen zu einer im 16 Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: HZ 154 (1936), S. 491–512. Auch Mirbt selbst erwähnt bereits die polemische Grundstimmung eines Großteils der damaligen Literatur, dies fand in seiner Rezeption jedoch keinen Widerhall: Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 4f. 17 Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030–1122), 2 Bde., Leiden u. a. 2007.
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weitesten Sinne fundamentalpolitischen Öffentlichkeit, also einer Öffentlichkeit, die sich aus allen Bevölkerungsteilen zusammensetzt18, geschaffen werden. Die Öffentlichkeit der Streitschriften nach Mirbts Definition kann allerdings in praktisch allen Fällen nicht als fundamentalpolitisch bezeichnet werden: Diejenigen Texte, die auf eine Öffentlichkeit abzielten, suchten diese fast ausschließlich in der Elite der Gesellschaft. Mirbt selbst äußert sich zur Frage der Öffentlichkeit der Streitschriften noch eher reserviert19, seine direkten Rezipienten gehen meist schon von einer ausgesprochen breiten Öffentlichkeit aus20. Die heutige Forschung ist da im Gros zurückhaltender und geht zumeist von einer sehr eingeschränkten Öffentlichkeit der Texte aus, einzelne Stimmen wie Monika Suchan plädieren sogar für ein absolutes Nichtvorhandensein. Für eine sinnkonstituierende und zeitbezogene Definition des Begriffs „Streitschrift“ ist die Frage der tatsächlichen Öffentlichkeitsbeeinflussung jedoch eine sekundäre. Für viel wichtiger halte ich die Frage, ob Öffentlichkeitsbeeinflussung wichtige Autorintention gewesen ist. Wenn man sich die Texte einzeln anschaut, so bleibt festzuhalten, dass die Texte hinsichtlich dieses Ziels als ausgesprochen heterogen zu betrachten sind. Dem Brief Wenrichs von Trier21 kann die Öffentlichkeitsintention ohne Weiteres unterstellt werden: Nicht nur die Art der Formulierung des Texts, auch dessen Rezeptionen lassen nur diesen Schluss zu: So gibt Manegold von Lautenbach in seinem Liber ad Gebehardum, das eine Antwort auf Wenrich darstellt, über die Verbreitung dessen Texts an: „[…] 18 Tatsächlich erreicht wurde dies erst im 19. Jahrhundert, da hierfür politische Freiheiten notwendig waren, die erst entwickelt werden mussten. Im 11. und 12. Jahrhundert kann also nur eine von eingeschränkter Freiheit geprägte Fundamentalpolitisierung stattgefunden haben: Gerade während des Wirkens der Pataria in den oberitalienischen Städten ist fassbar, dass auch einfache Menschen gezielt angesprochen wurden, um Volksmassen als Druckmittel einzusetzen. Siehe hierzu u. a. Olaf Zumhagen, Religiöse Konflikte und kommunale Entwicklung. Mailand, Cremona, Piacenza und Florenz zur Zeit der Pataria, Köln u. a. 2010. In den deutschen Gebieten sind derartige Entwicklungen zu dieser Zeit noch nicht fassbar. Zur den hiesigen Entwicklungen siehe u. a. (mit dortigen Querverweisen): Bernd Thum, Anmerkungen zu Stadt und Politik um 1300. Zur Erfahrung politisch-gesellschaftlicher Interpendenz in volkssprachigen Texten des Südosten, in: Danielle Buschinger (Hg.), Sammlung – Deutung – Wertung: Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. Mélanges der littérature médiévale et linguistique allemande offerts à Wolfgang Spiewok à l’occasion de son soixantième anniversaire par ses collègues et amis, Amiens 1988, S. 341–356. 19 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 4. 20 U.A. Alois Fauser, Die Publizistik des Investiturstreites. Persönlichkeiten und Ideen, München 1935. 21 Wenrici scholastici Trevirensis epistola sub Theoderici episcopi Virdunensis nomine composita, ed. Kuno Franke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1881, S. 280–299.
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undique circumfertur, immo pene per omnes plateas et andronarum recessus […]“ 22. Auch wenn dies wohl eine Übertreibung darstellt, so muss doch davon ausgegangen werden, dass es nicht nur Ziel der Auftraggeber Wenrichs war, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, sondern dies auch erreicht wurde. Bei dem Carmen Laures hamense23 fällt die Interpretation einer solchen Zielsetzung schwer, meines Erachtens war sie nicht vorhanden. Praktisch auszuschließen ist die Öffentlichkeitsintention bei dem seitens Mirbt als Streitschriften betrachteten Briefwechsel zwischen Bernold und Alboin24, in welchem beide über die Behandlung von verheirateten Priestern streiten. Das bisherige Korpus der Streitschriften wurde vor allem nach inhaltlichen Kriterien zusammengestellt, was den mirbtschen Begriff der Streitschrift zu einer inhaltlichen, nicht literaturwissenschaftlichen Kategorie macht. Eine literarische Gattung unterscheidet sich von einer inhaltlichen Kategorie dadurch, dass inhaltliche Kriterien – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle spielen. Stilistische Fragen und Fragen der Form, zum Teil auch des AdressatInnenkreises sind hingegen entscheidend. Eine literaturwissenschaftlich griffige Definition des Begriffs „Streitschrift im Investiturstreit“ ist durchaus möglich, gegen Ende dieses Beitrags soll geklärt werden, ob bzw. inwiefern sie sinnvoll sein kann. Allerdings beinhaltet diese neue Gattung nur einen Bruchteil der Texte, die dem MGH- und mirbtschen Korpus entstammen. Die Arbeitsbezeichnung „Gattung Streitschrift im Investiturstreit“ ist in sich eine ausgesprochen problematische. Dass der Begriff „Investiturstreit“ für die so bezeichnete Epoche nur bedingt zielführend ist, da sie eine ganze Epoche auf eine einzige Kontroverse reduziert, die selbst in den Streitschriften der mirbtschen Definition noch kaum eine Rolle spielt und erst gegen Ende des so bezeichneten Zeitraums an Relevanz gewinnt, hat die Forschung schon lange aufgezeigt, spätestens seit den 1980er Jahren herrscht hierüber weitestgehend Konsens25. Dennoch wurde der Begriff bisher nicht ersetzt, gelegentlich wird er um ein „sogenannt“ ergänzt. 22 Manegoldi ad Gebehardum liber, ed. Kuno Franke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1881, S. 311. 23 Carmen Laureshamense (wie Anm. 15). 24 Libelli Bernaldi persbyteri monachi, ed. Friedrich Thaner, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 1–168. 25 Rudolf Schieffer zeigte 1979 auf, dass bei Ausbruch des Streits um regnum und sacerdo tium die Frage der Bischofsinvestitur keine Rolle spielte. Erst nach dem Tod Heinrichs IV., zu einer Zeit also, als der Investiturstreit bereits deutlich an politischer Sprengkraft verloren hatte, wurde diese Frage zur zentralen des Konflikts. Siehe: Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König, Stuttgart 1981. Dafür, dass das allgemeine Verbot der Laieninvestitur bereits vor Ausbruch des Streits aus-
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Problematisch am Begriff Streitschrift ist sicherlich, dass er in Bezug auf Verbreitung und Adressatenkreis Assoziationen weckt, die frühestens in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, eher in die Zeit der Konfessionalisierung passen. Daneben ist die Gefahr der Verwechslung mit der ursprünglichen mirbtschen Definition bei Beibehaltung des Begriffs nicht von der Hand zu weisen. Auch der Begriff „Gattung“ ist kein unumstrittener, aber im Gegensatz zum Begriff „Streitschrift“ kann die wissenschaftliche Diskussion ob seiner Sinnhaftigkeit als erledigt betrachtet gelten: Die moderne Literaturwissenschaft hat erkannt, dass Gattungen Kunstprodukte sind. Bis zur Jahrhundertwende wurden literarische Gattungen in der Rezeption Goethes26 noch als natürliche Kategorien betrachtet, erst die Radikalkritik Croces von 190227, der die Meinung vertrat, dass Gattungen nicht existierten, leitete ein Umdenken ein. Heute werden literarische Gattungen als Hilfskonstrukte betrachtet, die uns das Untersuchen von Literatur erleichtern sollen. Hierin liegt allerdings ein Problem: Literarische Gattungen konstituieren sich immer aus der Retrospektive. Unsere Einteilungen sind nicht per se deckungsgleich mit den zeitgenössischen Kategorien. Dies zeigt sich auch beim Streitschriftenthema: Der Text des Petrus Crassus28 beispielsweise fällt nach der meinerseits entwickelten neuen Einteilung nicht mehr unter die Kategorie „Streitschrift“. Der Autor selbst hätte seinen Text sicherlich als Beitrag der Streitschriftendiskussion gesehen. Es scheint dennoch zielführend zu sein, an der Begrifflichkeit „Streitschrift im Investiturstreit“ vorerst festzuhalten – und dies zuvorderst aus pragmatischen Überlegungen: Insbesondere, weil mit dieser Bezeichnung weitestgehend Klarheit über das Bezeichnete herrschen sollte. Außerdem waren alle weiteren Begriffe, die ich in den letzten Jahren ausprobiert habe, so unschön, dass ich das als Deutschlehrer nicht verantworten konnte. Die meinerseits vorgeschlagene neue Kategorie, die eine literarische Gattung ist, wird wie folgt entwickelt: Als gegeben wurde ausgehend von der mirbtschen gesprochen wurde, argumentiert u. a. Johannes Laudage in mehreren Beiträgen. Zuerst: Johannes Laudage, Priesterbild und Reformpapsttum im elften Jahrhundert, Köln u. a. 1984. Zuletzt: Johannes Laudage, Nochmals: Wie kam es zum Investiturstreit?, in: Jörg Jarnut u. a. (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, München 2006, S. 133–150. 26 Johann Wolfgang von Goethe, Naturformen der Dichtung, ed. Erich Trunz, in: Erich Trunz (Hg.), Goethes Werke. 2: Gedichte und Epen, Hamburg 1949, S. 187–188. 27 Benedetto Croce, Estetica, Bari 1902. 28 Petri Crassi defensio Heinrici IV. regis, ed. Lothar von Heinemann, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1881, S. 432–453. Dass der Autor dieses Textes tatsächlich den Namen Petrus Crassus trug, ist umstritten, da der entsprechende Textabschnitt seines Werks verschiedenartig interpretiert werden kann.
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Definition die These gesetzt, dass es sich bei einer Streitschrift um einen Text handelt, der zu einer Kontroverse Stellung nimmt und dessen Zweck es ist, eine breitere Öffentlichkeit zu beeinflussen29. Im Gegensatz zu Mirbt halte ich die intendierte Öffentlichkeit jedoch für essenziell: Ein Text, der sich nicht an eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit richtet, ist keine Streitschrift – was allerdings in vielen Fällen die Frage aufwirft, wie dies nachweisbar ist. Im Anschluss an diese Prämissen wurden und werden die relevanten Texte analysiert und Streitschriften identifiziert, um diese dann miteinander zu vergleichen und Gemeinsamkeiten zu identifizieren, um die Definition der Kategorie zu verfeinern. Das zu analysierende Textkorpus geht dabei über die Sammlung Mirbts und der MGH30 hinaus und bezieht beispielsweise auch Texte aus dem französischen Raum mit ein. Bis dato konnte nur etwa ein Drittel der infrage kommenden Texte analysiert werden, weshalb an dieser Stelle nur ein Zwischenfazit gezogen werden kann: Es handelt sich bei einer Streitschrift im Investiturstreit um einen an eine Öffentlichkeit gerichteten, nicht-belletristischen, sprich der Sachliteratur zuzuordnenden, situativ entstehenden Prosatext. Er beinhaltet stets eine Stellungnahme zu einer aktuellen Kontroverse. Jeder dieser Texte verfügt über eine deutlich fassbare polemische Grundstimmung, wobei zwischen offener und verdeckter Polemik zu unterscheiden ist31. Alle diese Texte zeichnen sich durch eine relative Kürze aus. Eine dieser Modellrechnungen schließt beispielsweise aus, dass ein sonst immer den Streitschriften zuzurechnender Text als solche bezeichnet werden kann: Ein in ein mäßig bedeutendes Kloster als Vertriebener geflüchteter Intellektueller wie Manegold von Lautenbach verfügte sicherlich nicht über die erforderlichen Mittel, um seinen in der Edition über 100 Seiten langen Text32 in – sagen wir mal – 25–facher Ausführung herstellen zu lassen. Dieses Projekt würde schon daran scheitern, dass dafür die Haut von über 1000 toten Ziegen benötigt würde, um über genügend Pergament zu verfügen – das dann immer noch nicht beschrieben wäre. Die meiner Meinung nach maximale Länge einer Streitschrift kann 20 MGH-Seiten kaum übersteigen – und in diesem Fall müssten die Auftraggeber (wie im Fall Wenrichs) bereits finanziell ausgesprochen potent sein. Meist ist also von deutlich kürzeren 29 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 9), S. 4. 30 Siehe Anm. 4 und 7. 31 Als Beispiel für eine Streitschrift mit verdeckter Polemik kann beispielsweise der Text Wenrichs von Trier dienen, der sich selbst als glühenden Anhänger Gregors VII. ausgibt, der an den üblen Unterstellungen der Gegenseite verzweifelt. Dann legt er den Gegnern all diese bösen Anschuldigungen in den Mund, die er natürlich nie tätigen würde – und so sind die eben doch gesagt. Siehe: Wenrici scholastici (wie Anm. 21), S. 280–299. 32 Manegoldi ad Gebehardum liber (wie Anm. 22).
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Texten auszugehen. Streitschriften zeichnen sich außerdem dadurch aus, dass es sich um rhetorisch sehr ausgefeilte Texte handelt. Sehr häufig, aber nicht immer, verfügen sie über kurze Zitate des christlichen Autoritätenkanons. Lange Zitate desselben sind in der neuen Streitschriftenkategorie eher selten. Daneben sind noch eine ganze Reihe von Charakteristika ausfindig gemacht worden, die aber eher marginaler Natur sind und an dieser Stelle nicht angegeben werden – diese werden in meiner (hoffentlich) bald erscheinenden Dissertation veröffentlicht. Ein Detail sei jedoch noch erwähnt: Es zeichnet sich ab, dass es sich bei Streitschriften der neuen Definition nach ausschließlich um in Briefform geschriebene Texte handelt; unter weiteren Textformen, die Mirbt den Streitschriften zuordnet33, wie beispielsweise den Traktaten, konnte bisher kein Text gefunden werden, der der neuen Definition nach noch als Streitschrift bezeichnet werden kann. Es erscheint in diesem Fall sinnvoll, die Briefliteratur in fünf Kategorien einzuteilen: geheime, private, halboffene, offene und Quasibriefe. Die Intention eines geheimen Briefes ist es, Rezeption durch Dritte um jeden Preis zu verhindern, auch wenn dies nicht immer gelingt. Private Briefe sind nicht dafür gedacht, von Dritten gelesen zu werden, sie zeichnen sich jedoch eher durch Intimität denn Geheimheit aus. Ein halb offener Brief unterscheidet sich von einem offenen dadurch, dass bei einem offenen die Kommunikation mit der Öffentlichkeit im Vordergrund steht und die Kommunikation mit dem Gegenüber in den Hintergrund tritt, bei einem halboffenen ist es umgekehrt. Bei beiden Modellen sind jedoch stets beide Kommunikationen vorhanden. Anders bei einem Quasibrief: Dies ist ein in Briefform geschriebener Text, dessen Ziel niemals die Kommunikation mit dem Adressaten war, sondern ausschließlich diejenige mit der Öffentlichkeit. Geheime Briefe – das liegt auf der Hand – haben fast nie die Überlieferung überdauert und spielen in der hier skizzierten Thematik kaum eine Rolle. Ein Beispiel für einen privaten Briefwechsel ist meines Erachtens derjenige zwischen Alboin und Bernold34, auch wenn für einen privaten Briefwechsel ausgesprochen viel Inhaltliches und wenig Persönliches thematisiert wird. Als ein Beispiel für einen halboffenen Brief kann der Brief Bischof Gebhards von Salzburg an Hermann von Metz35 dienen. Als Beispiel für einen offenen Brief sei an dieser Stelle der Brief Heinrichs IV. genannt, mit dem er Gre�gor VII. für abgesetzt erklärt36. Geradezu prototypisch für einen Quasibrief steht 33 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 5. 34 Libelli Bernaldi (wie Anm. 24). 35 Epistola ad Herimannum Mettensem episcopum data, ed. Kuno Franke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 263–279. 36 Die Briefe Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann, Leipzig 1937 (MGH Dt. MA, 1), Nr. 12, S. 15–17.
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derjenige Wenrichs von Trier. Allem Anschein nach hat bei diesem niemals das Ziel bestanden, dass Gregor VII. ihn zu lesen bekommt. Ob dieser ihn las oder nicht, war meines Erachtens den Veranlassenden schlichtweg egal – Ziel war die Beeinflussung von Menschen vor Ort. Es bleibt jedenfalls festzuhalten, dass alle Texte, die ich bisher nach der neuen Definition als Streitschriften identifizieren konnte, entweder offene oder Quasibriefe sind. Gerade unter den Briefen Gregors VII. finden sich übrigens ausgesprochen viele Streitschriften37. Abschließend sei noch ein Ausblick auf die Zusammensetzung des neuen Textkorpus gewagt: In den Jahren ab 1030 entsteht eine Vorform der Streitschrift. Mit dem Amtsantritt Gregors VII. definiert sich diese Gattung immer mehr aus, im Jahr 1075 ist der erste Text nachweisbar, der der neuen Definition völlig entspricht. Es handelt sich dabei um einen offenen Brief Gregors VII. an Phillip von Frank� reich38. Auch die weiteren frühen Streitschriften39 werden im Kontext dieses Streits abgefasst. Bisher ist die Wichtigkeit des französisch-päpstlichen Streits bei der Genese der Streitschriften im Investiturstreit in der Forschung noch weitgehend unbeachtet geblieben, was nicht weiter verwunderlich ist, handelt es sich bei der Frage nach den Streitschriften des Investiturstreits doch um ein sehr deutsches Thema: Die beherrschende Sprache des Diskurses ist Deutsch und auch die wenigen englischsprachigen Arbeiten – vielleicht mit Ausnahme derjenigen Melves40 – rezipieren den deutschen Forschungsstand und setzen das mirbtsche Schema als Grundlage voraus. Die Gattung der Streitschrift des Investiturstreits41 ist jedenfalls bereits entwickelt, als der Streit zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. 1076 ent�brennt. Eine Reihe von Texten in dieser Auseinandersetzung entspricht der neuen Kategorie, mit dem Tod Gregors VII. verringert sich die Zahl der Streitschriften jedoch deutlich. Die Frage nach dem Warum konnte meinerseits noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Gestritten wird zwar weiter – auch mit der Feder –, aber die Öffentlichkeit wird immer seltener vermittels Texten angesprochen. Es handelt sich also bei den Streitschriften des Investiturstreits um eine Gattung, deren Blütezeit nur rund zehn Jahre umfasste. Die Texte sind wohl auch recht schnell in 37 Dass Heinrich IV. und seine Anhängerschaft mit dem Wormser Absageschreiben eine Strategie Gregors VII. und seiner Kurie kopieren, ist bereits der Grundtenor des Aufsatzes Erdmanns. Siehe Erdmann, Propaganda (wie Anm. 4). 38 Das Register Gregors VII., ed. Erich Caspar, 2 Bde., München 1920–1923 (MGH Epp. sel. 2/1–2), hier 1, II, 5, S. 129–133. 39 U.a. Register Gregors VII. (wie Anm. 38), II, 18, S.150–151. 40 Melve, Public sphere (wie Anm. 17). 41 Eventuell ist der Begriff „Investiturstreit“ noch zu überdenken, wird wie erwähnt diese Gattung doch bereits vor Beginn desselben vor dem Hintergrund eines anderen Konflikts entwickelt.
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Vergessenheit geraten42, bevor Teile von ihnen in der Reformationszeit wiederentdeckt wurden. Abschließend ist die Frage zu klären, welchen Mehrwert die neue Kategorie für die Forschung erzielen kann: In Bezug auf die Diskussion, wie mithilfe von Schriftlichkeit eine weitestgehend mündlich geprägte Gesellschaft beeinflusst wird, bietet die neue Kategorie eine beträchtliche Hilfestellung an, beispielsweise bei der Fragestellung, inwiefern die damalige politische Klasse versucht hat, Öffentlichkeit zu kreieren und zu beeinflussen. Werden beispielsweise Fragestellungen in den Fokus genommen, die auf Argumentationslinien der verschiedenen Parteiungen dieser Zeit abzielen, so bietet die vorgestellte Kategorie eine nur sehr geringe Hilfe, erscheint eventuell sogar kontraproduktiv, da dann ein Großteil der relevanten Literatur ausgeblendet würde. Es erscheint daher als nötig, neben der erarbeiteten literaturwissenschaftlichen Gattung eine weitere Kategorie zu formulieren, eine inhaltliche Kategorie, die alle Texte des relevanten Zeitraums umfasst, in denen zu damaligen Kontroversen Stellung bezogen wird. Die Streitschriften wären eine Teilmenge dieser Kategorie. Als Arbeitsbegriff für diese wird meinerseits momentan „Kontroversliteratur“ verwendet, auch wenn dies zu Irritationen führen kann, da Carl Mirbt diesen Begriff wie erwähnt synonym zu „Streitschrift“ verwendet43. Diese Kategorie orientiert sich an der Anmerkung Erdmanns, wonach die meisten Texte des letzten Drittels des 11. Jahrhunderts über eine polemische Grundstimmung verfügten. Das Textkorpus der Kontroversliteratur wäre weit größer als das bisher gebräuchliche, das sich an Mirbt und der MGH-Edition orientiert. Letzteres ist wie erwähnt in Teilen willkürlich und lückenhaft zusammengestellt und kanalisiert die Forschung in großem, jedoch oftmals nicht begründbarem Maße.
42 So begründet beispielsweise Suchan ihre These u. a. mit der geringen Überlieferung der Streitschriften nach Mirbt: „So lässt sich mit der skizzierten „Propaganda-These“ nur schwer mit dem Befund vereinbaren, dass gerade Streitschriften in wenigen, häufig sogar nur in einer Handschrift überliefert worden sind – von Texten, die die eigene Position ‚verbreiten‘ und ‚publik‘ machen sollten, dürfte man auch unter den Kommunikationsbedingungen des 11. Jahrhunderts andere Stückzahlen erwarten. Weil sich ‚Propaganda‘ in diesem Sinn aber auch und gerade an Sympathisanten und die eigenen Parteigenossen richtete, könnte man die „beabsichtigte Öffentlichkeit“ auch als eine parteiinterne auffassen. […] Allerdings ist auch mit diesem eingeschränkten Interpretationsansatz das Problem der geringeren handschriftlichen Verbreitung nicht gelöst.“ Siehe: Suchan (wie Anm. 8), S. 29–30. 43 Mirbt, Publizistik (wie Anm. 4), S. 5.
Papstgeschichtliche Wende und produktive Zerstörung Päpstliche Briefe im Zeitalter des Investiturstreits Jochen Johrendt Die papstgeschichtliche Wende führte in der Folge der Synode von Sutri und dann vor allem durch den Pontifikat Leos IX. zu einer grundlegenden Wandlung des Papsttums1. Verkürzt wird man sie so beschreiben können: Die Päpste lösten sich aus ihrer reaktiven Haltung und leiteten die Gesamtkirche zunehmend aktiv. Am Ende dieser Entwicklung sah Paul Fridolin Kehr unter Innozenz III. an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert ein „die Welt regierendes Papsttum“2. Die zunehmende 1 Vgl. dazu grundlegend Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: HJb 122 (2002), S. 27–41; dazu zuletzt der Beitrag von Johannes Laudage, Die papstgeschichtliche Wende, in: Stefen Weinfurter (Hg.), Päpstliche Herrschaft im Mittelalter: Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen, Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen, 38), S. 51–68, der jedoch allein als Vortragsmanuskript vorlag und von Matthias Schrör mit Fußnoten versehen wurde. 2 Paul Fridolin Kehr, Über den Plan einer kritischen Ausgabe der Papsturkunden bis Innocenz III., in: Nachrichten Göttingen 1896, S. 72–86, hier S. 79; Wiederabdr. in: Kehr: Ausgewählte Schriften, hg. von Rudolf Hiestand, 2 Bde., Göttingen 2005 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge, 250), 1, S. 3–17, hier S. 10. Diese Entwicklung und neuere Forschungsfragen dazu skizzierend Jochen Johrendt, Harald Müller, Zentrum und Peripherie. Prozesse des Austausches, der Durchdringung und der Zentralisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter, in: Jochen Johrendt, Harald Müller (Hg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 2), S. 1–16, sowie den gesamten Band. Auf diese Ansätze aufbauend sind inzwischen etliche weitere Studien erschienen, genannt sei hier als jüngst erschienen Klaus Herbers, Ingo Fleisch (Hg.), Erinnerung – Niederschrift – Nutzung. Das Papsttum und die Schriftlichkeit im mittelalterlichen Westeuropa, Berlin, New York 2011 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, 11); Jochen Johrendt, Harald Müller (Hg.), Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter, Berlin, Boston 2012 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, 19); Klaus Herbers u. a. (Hg.), Das begrenzte Papsttum. Spielräume päpstlichen Handelns. Legaten – delegierte Richter – Grenzen, Berlin 2013 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, 25).
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Ausrichtung auf den gesamten orbis christianus hatte jedoch auch Rückwirkungen auf den lokalen Bezug des Papsttums. Denn die Reformpäpste lösten sich zunehmend aus dem lokalen römischen Kontext und entwuchsen ihm. Sie entwickelten sich tatsächlich zu einem episcopus catholicus3. Sutri bewirkte in dieser Lesart die Überwindung der Beschränkung auf den lokalen Kontext zugunsten einer Universalisierung des päpstlichen Amtes – in Anspruch und Wirklichkeit. Die Bedeutung der urbs wurde zugunsten des orbis zurückgedrängt. Die Entwicklung liest sich auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte, bei der in Sutri der Samen eines später mächtigen Baumes gepflanzt worden war, in dessen Schatten sich unter Innozenz III. europäische Reiche versammelten. Die verkürzte Darstellung suggeriert einen linearen Prozess, der seine teleologische Qualität durch die Umsetzung eines Masterplans gewinnt. Sie impliziert, dass die Reformpäpste Stück für Stück ein Programm umsetzten, das einen willentlich und maßgeblich durch sie selbst gesteuerten Prozess zum Ziel hatte. Am päpstlichen Willen zur Veränderung, zur Ausrichtung der Kirche auf Rom besteht kein Zweifel, doch gilt es wohl in stärkerem Maße zu beachten, wie das Papsttum zu einer „die Welt regierenden“ Institution wurde. Dabei ist weniger auf die Kontinuitäten zu achten, als vielmehr auf die Brüche, die Krisen, die Schismen und – das ist vor allem entscheidend – nicht allein auf die retrospektive Darstellung der Entwicklung durch die Päpste selbst4. Zu einem guten Teil wurde das Papsttum durch seine Krisen geformt – und für die Phase der Reformpäpste wird man sagen dürfen: Durch ein Legitimationsde3 Vgl. dazu Thomas Wetzstein, Wie die urbs zum orbis wurde. Der Beitrag des Papsttums zur Entstehung neuer Kommunikationsräume im europäischen Hochmittelalter, in: Johrendt, Müller (Hg.), Zentrum (wie Anm. 2), S. 47–75; sowie Jochen Johrendt, Rom zwischen Kaiser und Papst – die Universalgewalten und die Ewige Stadt, in: Gerhard Lubich (Hg.), Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters, Köln u. a. 2013 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, 34), S. 169–190; sowie die Skizze von Ders.: Ubi papa, ibi Roma? Die Nutzung der Zentralitätsfunktion Roms durch die Päpste, in: Cristina Andenna u. a. (Hg.), Die Ordnung der Kommunikation und die Kommunikation der Ordnungen im mittelalterlichen Europa, Workshop (Villa Vigoni [Loveno di Menaggio], 16. bis zum 19. Juni 2010), 2: Zentralität: Papsttum und Orden im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts, Stuttgart 2013 (Aurora, 1/2), S. 191–212. 4 Besonders deutlich wird die Formung durch äußere Einflüsse in den Schismen, in denen das Papsttum oftmals einen Entwicklungsschub durchlebte, vgl. dazu etwa die ausgezeichnete Einführung von Harald Müller, Gegenpäpste. Prüfsteine universaler Autorität im Mittelalter, in: Harald Müller, Brigitte Hotz (Hg.), Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien u. a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 1), S. 13–53, bes. S. 30–52, sowie die weiteren Beiträge dieses Bandes.
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fizit. Die Kompensation dieses Defizits führte nicht nur zur Ausformung neuer Institutionen, sondern auch zur Entwicklung neuer Ausdrucksformen, mit deren Hilfe Legitimität hergestellt werden sollte. Die alten Ausdrucksformen wurden dabei aufgegeben und neue geschaffen. Es war eine – zumal aus der Rückschau – produktive Zerstörung der bisherigen Ausdrucksformen5. Diese produktive Zerstörung war eine Folge der papstgeschichtlichen Wende. Doch zunächst noch ein paar Worte zur papstgeschichtlichen Wende aus der römischen Perspektive, womit Rom selbst und nicht die Päpste gemeint sind. Zu eigen ist der 1046 beginnenden Entwicklung eine permanente Spannung zwischen urbs und orbis, zwischen Rom und der restlichen Christianitas. Sie prägte und formte das Reformpapsttum. Die Ewige Stadt steht in diesem Spannungsverhältnis für die beharrenden, die traditionellen Kräfte – der orbis für die Überwindung der urbs als Legitimationsfundament des Papsttums. Immer wieder rang die traditionelle Linie mit den vielfältigen Innovationen der Reformpäpste, die sich in Abgrenzung von der stadtrömischen Tradition in Teilen neu erfanden6. Bis 1046 war die Besetzung der Kathedra Petri eine Angelegenheit der Römer gewesen. Die Pontifices des Adelspapsttums entstammten der adeligen Führungsschicht Roms – und das seit über 100 Jahren7. Stadt und Papsttum waren eng 5 Zum Konzept der produktiven Zerstörung vgl. Horst Bredekamp, Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Bau und Abbau von Bramante bis Bernini, Berlin 2000 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, 63), bes. S. 110–113. 6 Vgl. Johrendt, Ubi papa (wie Anm. 3), S. 209–211; Ders., Rom (wie Anm. 3), S. 153– 156 u. 180–186. 7 Vgl. zu dieser Epoche nach wie vor Heinrich Fichtenau, Vom Ansehen des Papsttums im zehnten Jahrhundert, in: Hubert Mordek (Hg.), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag und fünfzigjährigen Doktorjubiläum, Sigmaringen 1983, S. 117–124; Gerd Tellenbach, Zur Geschichte der Päpste im 10. und frühen 11. Jahrhundert, in: Lutz Fenske u. a. (Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, S. 165–177; Harald Zimmermann, Die Päpste des „dunklen Jahrhunderts“, in: Martin Greschat (Hg.), Das Papsttum 1 (Gestalten der Kirchengeschichte 11), Stuttgart 1985, S. 129–139; Wiederabdruck in: Ders.: Immo Eberl, Hans-Henning Kortüm (Hg.), Im Bann des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen- und Rechtsgeschichte. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag, Sigmaringen 1986, S. 70–80; Ders., Der Bischof von Rom im saeculum obscurum, in: Michele Maccarrone (Hg.), Il primato del vescovo di Roma nel primo millennio. Ricerche e testimonianze, Città del Vaticano 1991, S. 643–660; Sebastian Scholz, Politik – Selbstverständnis – Selbstdarstellung. Die Päpste in karolingischer und ottonischer Zeit, Stuttgart 2006 (Historische Forschungen, 26); zu den Päpsten aus der Familie der Tuskulaner Klaus-Jürgen Herrmann, Das Tuskulanerpapsttum (1012–1046). Benedikt VIII., Johannes XIX., Benedikt IX., Stuttgart 1973 (Päpste und
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miteinander verwoben, die Päpste waren Römer und in der Regel Teil der städtischen Führungsschichten. Das änderte sich grundlegend mit der Einsetzung der Reformpäpste. Die enge personelle Verbindung von römischem Bischof und Römern wurde durchtrennt. Abgesehen von der Ausnahme Gregors VII. waren die Reformpäpste durchweg Fremde in der Stadt8. Und betrachtet man den heftigen Widerstand, mit dem sich die Reformpäpste in Rom konfrontiert sahen, so wird man wohl auch konstatieren müssen, dass sie Fremde blieben. Dazu hatte sicherlich auch die Art ihrer Erhebung beigetragen, die nicht dem von Cölestin I. und dann vor allem von Leo I. entwickelten kirchenrechtlichen Grundsatz entsprach: nullus invitis detur episcopus – keiner Gemeinde sollte ein Bischof gegen deren Willen aufoktroyiert werden9. Diese Sachlage scheint auch Leo IX. bewusst gewesen zu sein10. Papsttum, 4); sowie zuletzt neuere Forschungstendenzen aufnehmend Ernst-Dieter Hehl, Zwischen Ansehen und Bedrängnis. Das Papsttum im 10. Jahrhundert, in: Wilfried Hartmann, Klaus Herbers (Hg.), Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter, Köln 2008 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Reg. Imp., 28), S. 81–96. 8 Die Päpste ab 1046 blieben bis zu Gregor VII. alle Bischöfe ihres alten Bistums, papae qui et episcopi, ein Phänomen, das bis zu Calixt II. reichte und das den Traditionen vor 1046 diametral entgegenstand. Zu den deutschen Päpsten vgl. als Überblick Karl Augustin Frech, Die deutschen Päpste – Kontinuität und Wandel, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich, 2, Sigmaringen 21992, S. 303–332; Franz-Josef Schmale, Die Anfänge des Reformpapsttums unter den deutschen und lothringisch-tuszischen Päpsten, in: Greschat (Hg.), Papsttum (wie Anm. 7), S. 140–154. Zu den papae qui et episcopi vgl. klar die neue Sicht der Reformpäpste auf das Papsttum herausarbeitend Werner Goez, Papa qui et episcopus. Zum Selbstverständnis des Reformpapsttums im 11. Jahrhundert, in: AHP 8 (1970), S. 27–59. 9 Der Grundsatz beruht auf einer Dekretale Cölestins I.; JK 369, ed. Migne PL 50, Sp. 434B, Nr. 4, c. 5; vgl. dazu Dieter Hägermann, Das Papsttum am Vorabend des Investiturstreits. Stephan IX. (1057–58), Benedikt X. (1058) und Nikolaus II. (1058–1061), Stuttgart 2008 (Päpste und Papsttum, 36), S. 120f.; Robert L. Benson, The bishop-elect. A study in medieval ecclesiastical office, Princeton 1968, S. 25. Diese allgemeinen Aussagen zur Wahl eines Bischof sind nicht berücksichtigt bei Agostino Paravicini Bagliani, Morte e elezione del papa. Norme, riti e conflitti, Roma 2013 (La corte dei papi, 22), der in seiner sehr gelungenen Analyse und Zusammenstellung alle Stellen bietet, die sich ganz konkret auf die Wahl des römischen Bischofs beziehen. 10 Aus diesem Grund dürfte Leo IX. darauf bestanden haben, dass er vor seinem Einzug nach Rom durch Volk und Klerus von Rom gewählt wurde. Das berichten folgende drei Quellen: Vie et miracles du pape S. Léon IX, ed. Albert Poncelet, in: Analecta Bollondiana 25 (1906), S. 258–297, hier S. 277; Die Touler Vita Leos X., II c. 6, hg. und übers. v. HansGeorg Krause, unter Mitwirkung v. Detlev Jasper, Veronika Lukas, Hannover 2007 (MGH SS rer. Germ., 70), S. 184, Z. 5–8; sowie der die weitere Entwicklung aus seiner sehr
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Doch die Reformpäpste gingen nicht auf die römischen Bedürfnisse ein, sondern setzten die personelle Trennung von Stadt und Papst institutionell fort. Denn auch das 1059 von Nikolaus II. erlassene Papstwahldekret verschärfte die Distanzierung des Papsttums vom römischen Einfluss. Es sollte nachträglich die im Grunde unkanonische Erhebung Nikolaus’ II. rechtfertigen und gleichsam die Abweichung von der Regelung des Erhebungsaktes zur neuen Norm machen. Denn zuvor galt auch für den römischen Bischof – wie für alle Bischöfe der lateinischen Christenheit – der von Leo I. formulierte Grundsatz, dass der Bischof einer Stadt durch Klerus und Volk dieser Stadt zu wählen sei11. Das Papstwahldekret jedoch verdrängte Klerus und Volk von Rom, reduzierte seine Rolle auf einen zustimmenden Akt und erklärte die Kardinäle zum exklusiven Wahlkörper. Allein die Kardinäle sollten von nun an die Päpste wählen dürfen. Nicht einmal mehr die Stadt sollte eine Rolle spielen12. Das war nicht nur ein eklatanter Bruch mit dem Kirchenrecht, sondern aus der Perspektive der Römer auch ein Bruch mit einer jahrhundertelang geübten Praxis. Auch dies trug dazu bei, dass sich die Päpste von der Stadt distanzierten und alte Traditionen kappten. Die Reformpäpste waren kein Teil dieser so beschriebenen Tradition. Und dennoch war diese Tradition in Rom in der ersten Phase der Reformen immer noch stark. Dass sich Damasus II. nur durch die militärische Gewalt Markgraf Bonifaz’ von Tuszien Zugang zu Rom verschaffen konnte, ist ein deutliches Zeugnis dieses Widerstandes gegen das neue Papsttum13. Auch Leo IX. musste sich seiner Widerrömischen beziehungsweise reformerischen Perspektive beschreibende Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, ed. Ernst Dümmler, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 568–620, hier S. 587. Nach der Touler Vita habe Leo IX. bereits nach seiner Wahl nördlich der Alpen diese nur vorbehaltlich einer gleichlautenden Wahl durch Klerus und Volk von Rom angenommen, vgl. jetzt das ausführliche Regest bei Reg. Imp. III/5/2, Nr. 402. Zum Hintergrund vgl. immer noch Horst Fuhrmann, Pseudoisidor in Rom, in: ZKG 78 (1967), S. 15–66, hier S. 55. 11 Es handelt sich um das Schreiben JK 411 Leos I. an Bischof Anastasius von Tessalonike (um 446), ed. Migne PL 54, Sp. 673B, c. 5. 12 Die Regelung des Papstwahldekret lautete: Quod si […] electio fieri in urbe non possit […] ius potestatis obtineant eligere apostolice sedis pontificem, ubi congruentius iudicaverint; Detlev Jasper, Das Papstwahldekret von 1059. Überlieferung und Textgestalt, Sigmaringen 1986 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 2), S. 105A, Z. 92–101; sowie jetzt die Edition von Jasper bei MGH Conc., 8, Nr. 43, S. 386, Z. 4–7. Vgl. dazu seinen Forschungen resümierend Hägermann, Papsttum (wie Anm. 9), S. 102–127. 13 Vgl. dazu jetzt Reg. Imp. III/5/2, Nr. 394. Erst auf den Druck Heinrichs III. hin war Bonifaz dazu bereit, Damasus den Einzug in Rom am 17. Juli 1048 zu ermöglichen. Im Frühjahr hatte Bonifaz dies noch abgelehnt, offenbar weil er – damals noch – Benedikt IX. unterstützte, der von den Römern erhobenen worden war, vgl. ebd. Nr. 391. Zum immer noch
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sacher in und um Rom militärisch erwehren. Beide kurz nach dem Tod dieses Papstes entstandenen Leoviten berichten etwa zum Jahre 1051 von einer Rebellion der Grafen von Tusculum gegen Leo IX.14, in Palestrina musste er sich mit Girard, dem Grafen von Galeria, auseinandersetzen15. Und auch die nordalpinen Quellen berichten von militärischen Konflikten zwischen Leo IX. und dem römischen Adel in der Ewigen Stadt und ihrer Umgebung16. Aus der päpstlichen Perspektive waren das confinales tiranni, die sich Kastelle, Besitzungen und Kirchen der römischen Kirche unrechtmäßig angeeignet hatten17. Die Tatsache, dass die Annales Romani zur Anhängerschaft Benedikts X. in Rom ausführen, es gäbe multos fideles quos ipse in hac urbe adebat vel extra18, deutete
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sehr starken Einfluss des römischen Adels vgl. Rudolf Hüls, Kardinäle, Klerus und Kirchen Roms 1049–1130, Tübingen 1977 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 48), S. 255–270. Vgl. Vie et miracles, ed. Poncelet (wie Anm. 10), S. 281, Z. 3–5: Audiens haec sanctissi mus et Deo dilectus papa nimis congratulatus est et extulit seditiones a Tusculano et Beneven tum perrexit. Durch die Angabe, dass Leo nach Benevent weitergezogen sei, ist der Bericht auf Juli 1051 zu datieren, die Beendigung der offenen Kampfhandlungen mit den Tuskulanern auf Mitte Juli 1051, vgl. ebd., S. 281, Z. 3–5; so auch Reg. Imp. III/5/2, Nr. 901; vgl. auch Hartmut Hoffmann, Der Kirchenstaat im hohen Mittelalter, in: QFIAB 57 (1977), S. 1–45, hier S. 27; Jochen Johrendt, Die Reisen der frühen Reformpäpste – ihre Ursachen und Funktionen, in: RQ 96 (2001), S. 57–94, hier S 65f. Vgl. Reg. Imp. III/5/2, Nr. 521; vgl. dazu Johrendt, Reisen (wie Anm. 14), S. 65; sowie Hüls, Kardinäle (wie Anm. 13), S. 255–258; Willi Kölmel, Rom und der Kirchenstaat, im 10. und 11. Jahrhundert bis in die Anfänge der Reform. Politik und Verwaltung; Rom und Italien, Berlin 1935, S. 159. So bei Herimanni Augiensis Chronicon ad a. 1050, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS, 5, Hannover 1844, S. 67–133, hier S. 129, Z. 17–19: Domnus papa post pascha synodum item Romae collegit, et subsecuto tempore ultra Romam progrediens, nonnullos eo locorum principes et civitates tam sibi quam imperatori iureiurando subiecit. Vgl. Vita et obitus sancti Leonis noni papae, c. 13, ed. Antonio Vuolo, in: Ders.: Agiografia d’autore in area beneventana. Le „vitae“ di Giovanni da Spoleto, Leone IX e Giovanni Crisostomo (secc. XI–XII), Firenze 2010 (Quaderni di „hagiographica“, 8), S. 19–90, hier S. 30: Eodem quoque tempore, multa sedis Apostolicae praedia multaque castella, vel a suis praedecessoribus iniuste tradita, sive a confinalibus tirannis, seu etiam ab extraneis crudeliter invasa ac possessa, in huius pristinum Ecclesiae non sine labore redegit. Vermutlich sind die confinales tiranni mit dem römischen Adel zu identifizieren und die Normannen wohl mit den extranei, vgl. dazu Johrendt, Reisen (wie Anm. 14), S. 66 Anm. 44. Annales Romani, ed. Pertz, in: MGH SS, 5, Hannover 1844, S. 468–480, hier S. 472 Z. 8f. = Annales Romani, ed. Louis Duchesne, in: Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire par l’abbé Louis Duchesne, Cyrille Vogel, 3 Bde., Paris 1886–1957 (Bibliothèque des Ecoles françaises d’Athènes et de Rome, 2e sér.), 2, S. 329–337, hier S. 336 Z. 13f. Zum eigenständigen Charakter der Annales Romani für die Zeit von 1014
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darauf hin, dass das Legitimationsdefizit der Reformpäpste auch nach dem Pontifikat Leos IX. noch nicht beseitigt war. Demgemäß konnte sich Nikolaus II. nur mit Gewalt gegen Benedikt X. durchsetzen, gegen den Papst, der aus der Perspektive der Römer der rechtmäßige Papst war, weil er gemäß den Traditionen der Römischen Kirche zum Papst erhoben worden war19. Noch das Attentat auf Gregor VII. könnte von dieser Ablehnung des Reformpapsttums durch einen Teil der Römer zeugen20. Die Reformpäpste blieben weiterhin Fremde in der Ewigen Stadt. Und dass die römischen Kräfte, welche die Tradition trugen und nach wie vor unterstützten, sich immer wieder gegen die Reformpäpste wandten, erklärt vermutlich auch, wieso die Reformpäpste materielle Ausdrucksmittel suchten, die kein Teil dieser Tradition waren. Vielleicht sorgte auch gerade dieser Mangel an Rückhalt in der Stadt für die Schaffung neuer Ausdrucksformen21. *
bis 1121 vgl. Davin Whitton, The Annales Romani and Codex Vaticanus Latinus 1984, in: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il medio evo 84 (1972/73), S. 125–144. 19 Vgl. dazu Hägermann, Papsttum (wie Anm. 9), S. 82–84. Zu den möglichen Unterstützern Benedikts X. in Rom und der Suche nach den Gründen für seine Unterstützung in der Historiographie vgl. Mary Stroll, Popes and Antipopes. The Politics of Eleventh Century Church Reform, Leiden, Boston 2012 (Studies in the History of Christian Traditions, 159), S. 69–83. 20 Vgl. dazu Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 315–318: Gregor wurde in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember durch Cencius gefangengenommen, der offenbar mit Gerard von Galeria in Verbindung stand, der wiederum Benedikt X. Zuflucht gewährt hatte. Doch sollte man die Partei hinter Cencius offenbar für nicht zu groß einschätzen, sondern ihn vielmehr als Einzeltäter einordnen, so ebd., S. 317; in diesem Sinne auch Herbert Edward John Cowdrey, Pope Gregory VII (1073–1085), Oxford 1998, S. 326–328. 21 Auf den Mangel an Kontinuität auch beim „Kanzleipersonal“ sowie die „Reorganisation der Kanzlei“ durch Leo IX. hat eindringlich hingewiesen Paul Fridolin Kehr, Scrinium und Palatium. Zur Geschichte des päpstlichen Kanzleiwesens im XI. Jahrhundert, in: Engelbert Mühlbacher (Hg.), MIÖG Ergbd. 6, Innsbruck 1901, S. 70–112, hier S. 80–85, Wiederabdr. in: Ders.: Ausgewählte Schriften, hg. von Hiestand (wie Anm. 2), 1, S. 130–172, hier S. 140–145, der zur fehlenden Kontinuität der Schreiber bei Leo IX. ausführt, ebd. S. 82 (142): „es ist als ob jede Beziehung zum alten Rom abgebrochen wäre.“ Eine Zusammenstellung des Personals bis 1099 findet sich bei Leo Santifaller, Saggio di un elenco dei funzionari, impiegati e scrittori della cancelleria pontifica dall’inizio all’anno 1099, 2 Bde. (Bullettino dell’Istituto Storico Italiano, 56,1–2), Roma 1940.
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Dieser Bruch, diese Zerstörung und ihre Produktivität sind bereits bei einem auch nur kurzen Blick auf die Materialität der Papstbriefe beziehungsweise Papsturkunden seit Leo IX. zu erkennen22. Damit war der Weg für die weitere Gestaltung der Papsturkunden eingeschlagen23. Die markanteste Veränderung war ohne Frage die Einführung der Rota mit der Devise des Papstes auf den Privilegien, die Umwandlung des ausgeschriebenen Bene Valete in ein monogrammatisches Bene Valete24 und unter Leo IX. noch die Einfügung des Rekognitionskommas, das dann unter Nikolaus II. und Alexander II. praktisch auslief und unter Urban II. endgültig ver22 Für die Zeit der karolingischen Epoche vgl. jetzt den sehr guten Überblick bei Mark Mersiowsky, Papstprivilegien in der graphischen Welt karolingerzeitlicher Originalurkunden, in: Irmgard Fees u. a. (Hg.), Papsturkunden des frühen und hohen Mittelalters. Äußere Merkmale – Konservierung – Restaurierung, Leipzig 2011, S. 139–173, dort die weitere Literatur. 23 Vgl. dazu zusammenfassend Thomas Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit, Stuttgart 22000 (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen, 2), S. 19–23; Peter Rück, Die hochmittelalterliche Papsturkunde als Medium zeitgenössischer Ästhetik, in: Erika Eisenlohr, Peter Worm (Hg.), Arbeiten aus dem Marburger Hilfswissenschaftlichen Institut, Marburg 2000 (Elementa diplomatica, 8), S. 3–29; als Überblick über den Wandel in der Kanzlei immer noch grundlegend Kehr, Scrinium (wie Anm. 21). Zu den Urkunden Leos IX. vgl. auch Karl-Augustin Frech, Die Urkunden Leos IX. Einige Beobachtungen, in: Georges Bischoff, Benoit-Michel Tock (Hg.), Léon IX et son temps. Actes du colloque international organisé par l’Institut d’Histoire Médiévale de l’Université Marc-Bloch, Strasbourg-Eguisheim, 20–22 juin 2002, Turnhout 2006 (Atelier de recherches sur les textes médiévaux, 8), S. 161–186. 24 Vgl. dazu Joachim Dahlhaus, Aufkommen und Bedeutung der Rota in den Urkunden des Papstes Leo IX., in: AHP 27 (1989), S. 7–84, mit unter anderem auch einer Liste der Originalurkunden und 23 Abbildungen, die dortigen Angaben sind jetzt durch den Band Reg. Imp. III/5/2 durch Karl Augustin Frech überholt; zur Rota vgl. jedoch noch Joachim Dahlhaus, Aufkommen und Bedeutung der Rota in der Papsturkunde, in: Peter Rück (Hg.), Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden Beiträge zur diplomatischen Semiotik (Historische Hilfswissenschaften, 3), Sigmaringen 1996, S. 407–423; Ders., Rota oder Unterschrift. Zur Unterfertigung päpstlicher Urkunden durch ihre Aussteller in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (Anhang: Die Originalurkunden der Päpste von 1055 bis 1099), in: Fees u. a. (Hg.), Papsturkunden (wie Anm. 22), S. 249–303; zum Bene Valete vgl. nun die ausgezeichnete Zusammenstellung und monographische Untersuchung von Otfried Krafft, Bene Valete. Entwicklung und Typologie des Monogramms in Urkunden der Päpste und anderer Aussteller seit 1049, Leipzig 2010; sowie Ders., Der monogrammatische Schlußgruß (Bene Valete). Über methodische Probleme, historisch-diplomatische Erkenntnis zu gewinnen, in: Fees u. a. (Hg.), Papsturkunden (wie Anm. 22), S. 209–247. Zur Gestaltung des Papstnamens am Beginn der Urkunden Leos IX. vgl. jetzt Karl Augustin Frech, Die Gestaltung des Papstnamens in der Intitulatio der Urkunden Leos IX., in: Fees u. a. (Hg.), Papsturkunden (wie Anm. 22), S. 175–208.
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schwand25. Am Ende des Reformpapsttums, unter Innozenz II., fand diese Entwicklung einen gewissen Abschluss. Die „Experimentierphase“ war nicht nur hinsichtlich der Festigung des Papsttums in Rom und der Standardisierung der Instrumente des Kirchenregiments zu einem gewissen Abschluss gekommen, sondern auch hinsichtlich der äußeren Form der Ausdrucksmittel26. Denn nun wurden auch die Gestaltung des in perpetuum, das dreifache Amen und die Unterschrift der Kardinäle nach Anciennität unterteilt in die drei Ordines der Kardinalbischöfe, -presbyter und -diakone und anderes mehr kanonisch27. Nach einer Experimentierphase, in der nicht nur das Papsttum, sondern auch seine Ausdrucksmittel eine entscheidende Formung erhalten hatten, kam nun eine Phase der konsequenten Anwendung und Umsetzung. Die Ursachen für die Veränderungen und den Einfluss der maßgeblichen Kreise darauf können wir nicht in allen Details fassen. Wir können die Veränderung beschreiben, doch sind wir uns nicht immer sicher, wer den Anstoß gab, von wem Gestaltungselemente etwa direkt übernommen wurden oder indirekt, kurzum, wir können den exakten Verlauf der Formung der Papstbriefe nicht immer genau erklären28. Wie vielschichtig die Einflüsse und die Motive der Päpste dabei allein am Beispiel der Bleibulle sein können, haben zuletzt Irmgard Fees, Jörg Bölling und Manfred Groten deutlich gemacht29. Letzterer hat vor allem die nordalpinen Ein25 Vgl. dazu die kurzen Bemerkungen bei Thomas Frenz, Graphische Symbole in päpstlichen Urkunden (mit Ausnahme der Rota), in: Rück (Hg.), Symbole (wie Anm. 24), S. 399– 405, hier S. 404f. 26 Zu dieser Einteilung der Entwicklung in einer „Experimentierphase“ und eine sich anschließende Phase der Umsetzung vgl. Johrendt, Müller (Hg.), Zentrum (wie Anm. 2), S. 6–8. 27 Vgl. zuletzt Jochen Johrendt, Das Innozenzianische Schisma aus kurialer Perspektive, in: Müller, Hotz (Hg.), Gegenpäpste (wie Anm. 4), S. 127–163, hier S. 154–156. 28 So geht Kehr, Scrinium (wie Anm. 21), beispielsweise allein auf die personellen Veränderungen ein. Zum Einfluss der Papsturkunde auf andere Kanzleien vorrangig ab dem 12. Jahrhundert vgl. den Sammelband Peter Herde, Hermann Jakobs (Hg.), Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis zum 15. Jahrhundert, Köln u. a. 1999 (AfD, Beih., 7). 29 Vgl. Irmgard Fees, Zur Bedeutung des Siegels an den Papsturkunden des frühen Mittelalters, in: Werner Maleczek (Hg.), Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich Appelt, Wien 2014 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 62), S. 53–69, hier S. 65–68; Jörg Bölling: Die zwei Körper des Apostelfürsten. Der heilige Petrus im Rom des Reformpapsttums, in: RQ 106 (2011), S. 155–192, hier S. 177–183; Manfred Groten, Die gesichtslose Macht. Die Papstbullen des 11. Jahrhunderts als Amtszeichen, in: Weinfurter (Hg.), Herrschaft (wie Anm. 1), S. 199–220; vgl. dazu vor allem Julius von Pflugk-Harttung, Die Bullen der Päpste bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts, Gotha 1901, S. 45–58; Ingo Herklotz, Zur Ikono-
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flüsse auf die Gestaltung der Bleibullen hervorgehoben, welche über die von Heinrich III. eingesetzten und kurzerhand als „deutsche Päpste“ bezeichneten Inhaber der Kathedra Petri in Rom Wirkung entfalteten30. Dennoch sei das Beispiel der Bleibullen hier nochmals aufgegriffen, um an diesem Detail der Papstbriefe die starke Fluidität der Formensprache zu demonstrieren. Zum Teil ist die Formung der Bleibullen sicherlich auch als eine Distinktion von Vorgängern zu verstehen, als eine bewusste Abkehr von ihnen mit einer weitreichenden programmatischen Aussage. Jahrhunderte benutzte Formen wurden abrupt zerstört, wieder verworfen, neu abgeändert oder durch ein ganz neues Konzept verdrängt. Eines geschah jedoch nie: Man kehrte nie wieder zur traditionellen Formung der Bleibullen zurück, wie sie Leo IX. noch benutzt hatte, der ansonsten bei der äußeren Gestaltung der Papsturkunde wenig an seinem Platz gelassen hatte. Mit der von Leo IX. noch aufrechterhaltenen Tradition der Bleibullen brach Viktor II. Er setzte auf die eine Seite Petrus, dem durch die himmlische Hand der Schlüssel als Sinnbild der Binde- und Lösegewalt übergeben wird, auf die andere Seite in die Umschrift seinen Namen und seine Amtsbezeichnung: Victoris papae secundi, und ließ in der Mitte in symbolischer Form Rom darstellen, kenntlich gemacht durch die Umschrift AUREA ROMA31. Cum grano salis folgte auch Stephan IX. diesem Beispiel, auch wenn dann aus der AUREA ROMA die FELIX ROMA wurde. Das Reformpapsttum befand sich immer noch in der Phase der ungehemmten und produktiven Zerstörung der Tradition, auch wenn man vielleicht schon eine Linie von Viktor II. zu Stephan IX. erkennen möchte32. Einen Einschnitt bildete dann allerdings ein Gestaltungsversuch, der sich kurzfristig nicht durchsetzte, aber auf lange Sicht das Erscheinungsbild des Avers prägte: die Bleibulle des retrosgraphie der Papstsiegel im 11. und 12. Jahrhundert, in: Hans-Rudolf Meier u. a. (Hg.), Für irdischen Ruhm und himmlischen Lohn. Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst, Berlin 1995, S. 116–130; die Bullen weniger voneinander abgrenzend als vielmehr insgesamt als eine Selbstdeutung des Papsttums betrachtend Ingo Herklotz, Bildpropaganda und monumentale Selbstdarstellung des Papsttums, in: Ernst-Dieter Hehl u. a. (Hg.), Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen, 6), S. 273–291, dort wie bei Grothe die weiterführende Spezialliteratur; sowie jüngst in Hinblick auf die Rolle Roms auch Johrendt, Ubi papa (wie Anm. 3), S. 209f. 30 Vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), bes. S. 210f.; zustimmend und zudem den Einfluss der Siegelbilder der Königs- und Kaiserbullen Heinrichs III. betonend Fees, Bedeutung (wie Anm. 29), S. 66 u. 68. 31 Zur Umgestaltung unter Viktor II. vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 204–213; Herklotz, Ikonographie (wie Anm. 29), S. 121–123; Fees, Bedeutung (wie Anm. 29), S. 66. 32 Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 213, spricht von einer Übernahme des „für Viktor II. entwickelten Bullentyp in veränderter Form“.
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pektiv zum Gegenpapst gewordenen Benedikt X. Der regelwidrig zum Papst erhobene Nikolaus II. folgte bei der Gestaltung seiner Bleibullen sehr deutlich der Formensprache seines Vorgängers. Benedikt X. hingegen brach mit den Bullen Viktors II. und Stephans IX. und stellte sich an die Stelle der aurea Roma. Doch aufgrund des Avers war seine Bulle im Grunde „römischer“ als die Nikolaus’ II. Denn Benedikt X. setzte die beiden Apostelfürsten an die Stelle der Schlüsselübergabe33. Und damit nahm er eine typisch römische Tradition auf, wie sie den Römern aus der Apsisgestaltung etlicher ihrer Kirchen vertraut war34. Diese Anordnung übernahm Benedikt X. und „verrömisierte“ damit die Formensprache Viktors II. Doch Benedikt X. setzte sich nicht durch. Der Nachfolger Nikolaus’ II., der vormalige Bischof Anselm I. von Luca, blieb bei der Schlüsselübergabe als Motiv, entfernte jedoch die aurea Roma und ersetzte sie durch seine eigene Ordnungszahl. Fünf Jahre nach der grundlegenden Umgestaltung durch Viktor II. kehrten damit wieder traditionelle Elemente in die Formensprache der päpstlichen Bleibullen zurück35. Gregor VII. seinerseits nahm ein von Benedikt X. ins Spiel gebrachtes Motiv auf, so dass auf dem Avers wieder die beiden Apostelfürsten erschienen36. Die Gestaltung der Rückseite übernahm er hingegen praktisch unverändert von seinem Vor33 Die Bulle Benedikts X. existiert heute nicht mehr, sondern allein noch eine Umzeichnung bei Julius von Pflugk-Harttung (Hg.), Acta Pontificum Romanorum inedita, 3 Bde., Tübingen 1881–1886, hier: 1, S. 26f., Nr. 30; sowie Germ. Pont. V/2, S. 34, Nr. 49, dort hat Hermann Jakobs auch die weitere Literatur sowie die Beschreibungen der Bulle zusammengestellt. 34 Eines der ältesten und noch heute erhaltenen Apsismosaiken, in denen Petrus und Paulus in dieser Anordnung dargestellt sind, findet sich in SS. Cosma e Damiano. Die Mosaiken stammen aus der Zeit Felix’ IV. (526–530), vgl. dazu Peter Cornelius Claussen, Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter: 1050–1300, 1: A–F, Stuttgart 2002 (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie, 20 = Corpus Cosmatorum, II/1), S. 360; Walter Buchowiecki, Handbuch der Kirchen Roms. Der römische Sakralbau in Geschichte und Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, 1, Wien 1967, S. 598. Weitere Literatur zu den Mosaiken findet sich zusammengestellt bei Joachim Poeschke, Vis superbae formae – Zur Theophanie im Apsismosaik von SS. Cosma e Damiano in Rom, in: Christian Hecht (Hg.), Beständigkeit im Wandel. Innovationen – Verwandlungen. Konkretisierungen. Festschrift für Karl Möseneder zum 60. Geburtstag, Berlin 2009, S. 35–46, hier S. 44 Anm. 4; zur bildlichen Tradition der Traditio legis in Rom vgl. ebd., S. 37. Bölling, Körper (wie Anm. 29), S. 178, vermutet hingegen, dass die Darstellung der beiden „Apostelhäupter“ auf die beiden Apostelschädel von Petrus und Paulus in der Sancta Sanctorum zurückgeführt werden könnte. 35 Vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 216f. 36 Vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 217, der angesichts der Überlieferung der Bulle Benedikts X. jedoch zur Vorsicht mahnt.
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gänger. Doch wie das Papsttum, so kamen auch die Bullen mit Gregor VII. in kein ruhiges Fahrwasser. Gregor VII. war nach der zweiten Bannung Heinrichs IV. zunehmend in die Isolation geraten. Immer mehr Reformern galt er als ein starrsinniger Fanatiker, der dem Reformanliegen mehr schadete als nutzte. 1084 schließßlich öffneten die Römer Heinrich IV. die Tore. 13 Kardinäle fielen von Gregor VII. ab und es kam zur Erhebung Wiberts von Ravenna zu Papst Clemens (III.). Gregor musste die Stadt verlassen und starb schließlich in Salerno im Exil37. Wibert erfreute sich rasch nicht nur in Rom breiter Unterstützung38. Und seine Bleibulle war zugleich Programm: Er nahm die alte Form Viktors II. wieder auf39. Clemens (III.) besetzte damit eine Traditionslinie und demonstrierte, dass er das Erbe der frühen Reformpäpste weiterführen würde. Und in der Tat wäre Clemens (III.) wohl auch als ein Reformpapst in die Geschichte eingegangen, wenn er nicht auf lange Sicht unterlegen wäre40. Der erst ein Jahr nach dem Tod Gregors VII. erhobene Viktor III. war kein ernsthafter Konkurrent und Clemens (III.) konnte sich einer breiten Obödienz erfreuen. Erst Urban II. und dann endgültig Paschalis II. gelang es, sich gegen Clemens (III.) durchzusetzen. Erneut veränderten sie die Bleibullen – und grenzten sich damit für jeden Empfänger einer Papsturkunde offensichtlich von Clemens (III.) ab. Auf diese Weise visualisierten sie, dass sie Repräsentanten eines anderen Papsttums waren. Urban II. entfernte in einem radikalen Schritt jegliche bildliche Darstellung: Beim Namensstempel griff er wieder auf die alte Tradition zurück, gemäß derer der Name in Zeilen dargestellt wurde. Beim Apostelstempel wählte er zwar auch die abstrakte Namensvariante, nahm jedoch eine durch Benedikt X. vorgeprägte und von Gregor VII. verwendete Form auf41. Er verband damit in seiner Bullengestaltung die Tradition des Papsttums und verknüpfte sie mit der Gestaltung durch den radikalen Reformer Gregor VII. Paschalis II. setzte diese Gestaltung durch Urban II. fort, kam indessen zur bildlichen Darstellung der bei37 Zur Situation vgl. Blumenthal, Gregor VII. (wie Anm. 20), S. 320–326; Cowdrey, Gregory VII (wie Anm. 20), S. 221–229; Tilman Struve, Gregor VII. und Heinrich IV. Stationen einer Auseinandersetzung, in: Studi Gregoriani 14 (1991), S. 29–60, hier S. 53–55. 38 Vgl. Tommaso di Carpegna Falconieri, Il clero di Roma nel medioevo. Istituzioni e politica cittadina (secoli VIII–XIII), Roma 2002, S. 66f.; Jürgen Ziese, Wibert von Ravenna. Der Gegenpapst Clemens III. (1084–1100), Stuttgart 1982 (Päpste und Papsttum, 20), S. 99–103; Hüls, Kardinäle (wie Anm. 13), S. 260f. 39 Vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 220. 40 Zur Einordnung jetzt Rudolf Schieffer, Das Reformpapsttum und seine Gegenpäpste, in: Müller, Hotz (Hg.), Gegenpäpste (wie Anm. 4), S. 71–82, hier S. 79f. 41 Vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 218–220.
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den Apostelfürsten wieder zurück. Er schuf damit die das gesamte weitere Mittelalter gültige Form des Apostelstempels42. Wenn man es verkürzt formulieren will, so ist diese Form das Produkt einer permanenten Veränderung in bewusster Abgrenzung von Gegnern, die auf der Zielgeraden durch den Schub eines Schismas seinen Abschluss gefunden hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Reformpäpste immer wieder dazu bereit, die eben erst geschaffene Formensprache der Bleibullen über Bord zu werfen, zaghafte Ansätze einer neuen Tradition wieder zu zerstören beziehungsweise diese produktiv weiterzuentwickeln. Man könnte geradezu sagen, dass die Bereitschaft zum fortwährenden Wandel auch ein Wesenszug des Reformpapsttums war. Diese Formung war nicht die Umsetzung eines seit Sutri feststehenden Masterplans, sondern die Reaktion auf akute Bedrohungen und Legitimationsdefizite. Die sichtbaren materiellen Ausdrucksmittel der Päpste dienten ihnen zu einer Positionierung zu ihren Gegnern – und wirkten langfristig formend auf das Reformpapsttum43. Dass die permanente Veränderung der Bullen mit dem Ende des wibertinischen Schismas abgeschlossen war, macht die institutionelle Verfestigung des Papsttums während und durch dieses Schisma deutlich. Es war eine Ausreifungsphase, deren Ergebnisse nicht mehr ohne weiteres über Bord geworfen werden konnten. Die Krise wurde gleichsam zu einer Phase produktiver Zerstörung, aus der die Bleibullen in neuem Gewand hervorgingen. Was ich am Beispiel der Bulle demonstriert habe, ließe sich auch auf andere Elemente der Papstbriefe übertragen. Sie sind immer auch eine Abgrenzung von Vorgängern oder Gegnern, wie es etwa im innozenzianischen 42 Vgl. Groten, Macht (wie Anm. 29), S. 218; Herklotz, Bildpropaganda (wie Anm. 29), S. 275, jedoch ohne den Verweis auf Benedikt X. Nicht nur der Apostelstempel ist nun ausgeformt, auch die zuvor recht unterschiedlich gestaltete Rota hatte unter Paschalis II. feste Formen angenommen, vgl. Dahlhaus, Rota oder Unterschrift (wie Anm. 24), S. 251. Eine mögliche Erklärung für diese Fluidität der Formensprache könnte in der jüngst von Fees, Bedeutung (wie Anm. 29), bes. S. 65–69, formulierten These liegen, dass die Siegel erst am Ende des 11. Jahrhunderts zu einem Beglaubigungsmittel wurden. Erst mit dieser rechtlichen Bedeutung komme die Wandlung der Bullengestaltung zu einem Abschluss. 43 Zur Bedeutung von Bildern in der Auseinandersetzungen des Investiturstreites vgl. als Beispiel der Identifikation einer ganzen Gemeinschaft anhand des Bildprogramms in der unter Desiderius errichteten Basilika von Montecassino die 2012 in Helsinki abgeschlossene Dissertation von Teemu Immonen, Building the Cassinese Monastic Identity. A Reconstruction of the Fresco Program of the Desiderian Basilica (1071), Mustasaari 2012; in Hinblick auf Metaphern Andreas Matena, ,Unum ex suis ydolum erexerunt‘. Der Papst als Bildkörper im Diskurs der Gregorianischen Reform, in: Jean Ehret (Hg.) Primato pontificio ed episcopato: dal primo millennio al Concilio Ecumenico Vaticano II. Studi in onore dell’arcivescovo Agostino Marchetto, Città del Vaticano 2013 (Storia e attualità, 19), S. 165–188.
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Schisma die Drei-Buchstaben-Elongata des Papstnamens am Beginn der Litterae cum filo canapis bei Innozenz II. in Abgrenzung zu Anaklet II. deutlich macht44. Der fluide Charakter der äußeren Merkmale belegt, dass sich das Papsttum teilweise noch bis zu Innozenz II. hinsichtlich seiner Ausdrucksmittel in einer Experimentierphase befand, die durch eine gewisse Freiheit und eine nicht allzu strenge Anlehnung an die Tradition möglich war. Doch wie sah es mit den inneren Merkmalen, den Formulierungen, der Rhetorik der päpstlichen Briefe aus? Gab es auch hier einen so deutlichen Bruch, eine Zerstörung der Tradition? * Wenn wir die inneren Merkmale der Briefe und Urkunden näher analysieren, ihre Rhetorik betrachten, so ist zunächst auf einen grundsätzlichen Unterschied zur physischen Gestalt hinzuweisen. Das Material, die äußeren Merkmale der Papsturkunden, wurden in der päpstlichen Kanzlei hergestellt – oder besser gesagt von den Schreibern der Kanzlei, die dann ab dem beginnenden 12. Jahrhundert tatsächlich zur Kanzlei im Sinne einer personell klar strukturierten Institution wurden45. Hier folgte meist alles einer gewissen Regelmäßigkeit46. Die Bleibullen wurden nicht durch den Empfänger mitgebracht, sondern in Rom nach den Regeln der Kanzlei 44 Vgl. dazu Andrea Birnstiel, Diana Schweitzer, Nicht nur Seide oder Hanf ! Die Entwicklung der äußeren Merkmale der Gattung Litterae im 12. Jahrhundert, in: Fees u. a. (Hg.), Papsturkunden (wie Anm. 22), S. 305–334, hier S. 311 und 319. 45 Erst unter Paschalis II. werden die stadtrömischen Schreiber als Aussteller päpstlicher Urkunden verstärkt zurückgedrängt, vgl. dazu Kehr, Scrinium (wie Anm. 21), S. 105– 107; Paul Rabikauskas, Die römische Kuriale in der päpstlichen Kanzlei, Rom 1958 (Miscellanea historiae pontificiae, 20 = Collectionis totius, 59), S. 131 und S. 236–241; Carlo Servatius, Paschalis II. (1099–1118), Stuttgart 1979 (Päpste und Papsttum, 14), S. 59. Vor dieser institutionellen Verfestigung sollte man besser nicht von einer Kanzlei, sondern lediglich von Schreibern und Notaren sprechen, vgl. dazu Hans-Henning Kortüm, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896–1046, Sigmaringen 1995 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 17), S. 396–402; aufbauend auf den Beobachtungen von Paul Rabikauskas, Zur fehlenden und unvollständigen Skriptumzeile in den Papstprivilegien des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Miscellanea historiae pontificiae 21 (1959), S. 91–116; und Reinhard Elze, Das „Sacrum Palatium Lateranense“ im 10. und 11. Jahrhundert, in: Studi Gregoriani 4 (1952), S. 27–54; Wiederabdruck in: Ders.: Päpste – Kaiser – Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Bernhard Schimmelpfennig, Ludwig Schmugge, London 1982, 1, S. 27–54. 46 Die breite Varianz der offiziellen Dokumente hat am Beispiel der Datierung der päpstlichen Schriftstücke deutlich gemacht Rudolf Schieffer, Zum Datierungsformular der Papsturkunden des 10. und frühen 11. Jahrhunderts, in: Klaus Herbers u. a. (Hg.), Ex
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hergestellt. Das galt normalerweise auch für den Beschreibstoff und die Art und Weise, wie die Urkunden geschrieben wurden, welche Schrift verwendet wurde, welche Auszeichnungen, welche Verzierungszeichen, welche Abkürzungen47. Doch wie sah es mit der Sprache der Papsturkunden aus? Gilt auch hier: alles neu durch die Reformpäpste? Wie wurden einzelne Phrasen zu typischen stilistischen Formen einer Papsturkunde? Nach Leo Santifaller war der so genannte Liber Diurnus eine Art Kanzleibuch, an dem sich die päpstliche Kanzlei orientierte48. Er besteht im Kern aus Vorlagen aus dem Briefregister Gregors I. Er ist somit ein Formularbuch mit Musterbriefen, derer man sich bedienen konnte, wollte man einen Brief oder eine Urkunde abfassen. Den konkreten Geschäftsgang in Rom muss man sich in etwa so vorstellen: Ein Petent trat mit dem Wunsch nach einer Urkunde an den Papst heran, der den Wunsch bewilligte und die Kanzlei beziehungsweise einen Schreiber anwies, eine kanzleigemäße Urkunde auszustellen. Der Schreiber der Urkunde wiederum orientierte sich dabei maßgeblich am Liber Diur nus. Wollte er etwa Besitzungen bestätigt haben, so griff man auf das Formular V 86 zurück und setzte die entsprechenden Besitzungen in die Formelvorlage ein. Nach dieser Vorstellung ist die Ausfertigung einer Urkunde ein allein durch die Kanzlei gesteuerter Akt, die Urkunde Ausfluss der Formulierungskunst der Kanzlei und ihrer Normen. Doch spätestens seit den Forschungen von Hans-Henning Kortüm besitzen wir die Einsicht, dass die prägende Kraft der Kanzlei nicht überbewertet werden darf 49. Vielmehr ist der Anteil der Petenten an der Formulierung der Urkunden bis zur papstgeschichtlichen Wende erheblich. Demnach müssen wir uns den Ablauf der Ausfertigung eher so vorstellen, dass die Petenten ein bereits ausformuliertes Konipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik. Festschrift für Harald Zimmermann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1991, S. 73–84. 47 Lediglich die Empfängerausfertigungen weichen von dieser generellen Prägung durch die Kanzlei grundsätzlich ab. 48 Die unterschiedlichen Studien von Santifaller zum Liber Diurnus sind bereits seit 1976 durch Harald Zimmermann geschlossen publiziert: Leo Santifaller, Liber Diurnus. Studien und Forschungen von Leo Santifaller, hg. von Harald Zimmermann (Päpste und Papsttum, 10), Stuttgart 1976; ein Zusammenstellung der Literatur findet sich ferner bei Achim Thomas Hack, Codex Carolinus: Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert, 2 Bde., Stuttgart 2006 (Päpste und Papsttum, 35), S. 143 Anm. 229. 49 Vgl. Kortüm, Urkundensprache (wie Anm. 45); eine gewisse Fortsetzung fand diese Studie auf der inhaltlichen Ebene durch Jochen Johrendt, Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896–1046), Hannover 2004 (MGH Studien und Texte, 33), zum Zusammenhang von Empfängereinfluss und Formulierungen als Grundlage der Untersuchung vgl. ebd. S. 22–25.
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zept nach Rom mitbrachten, dieses vorlegten und die päpstlichen Schreiber es in der Regel schlicht übernahmen. Bei einer Urkundenbestätigung konnte dies die zu bestätigende Vorurkunde selbst sein50. Doch es konnte auch ein Entwurf sein, für den es im Archiv des zukünftigen Empfängers keine Vorlage gab. Die sprachlichen Gemeinsamkeiten bestimmter Räume machen es vielmehr sehr wahrscheinlich, dass ein Petent sich bei anderen Rat holte – auch in Form von ganz konkreten Formulierungen51. Die Urkunde wurde also in Form eines Konzeptes vom späteren Empfänger vorformuliert. Im Fall des Magdeburger Primatsprivilegs von 968 scheint es sogar so zu sein, dass wir kopial sowohl die Vorlage, das nach Rom mitgebrachte Konzept, als auch die daraus entstandene Urkunde überliefert haben – ein seltener Überlieferungsglücksfall52. Etliche der Formulierungen, die dem Liber Diurnus entsprachen, dürften nach diesem Modell also nicht durch die Kanzlei in die Urkunden gekommen sein, sondern durch die Empfänger, die auf andere Urkunden oder schlicht das weit verbreitete Register Gregors I. zurückgriffen. Die papstgeschichtliche Wende scheint auch in Hinblick auf die Sprache der Urkunden, ihre Rhetorik, eine Entwicklung von der Passivität hin zur Aktivität befördert zu haben. Konkret bedeutete das für die Urkunden, dass sich ihre Formulierungen änderten. Die Benutzung des Liber Diurnus lief aus und neuartige Ausdrucksweisen schlichen sich in die päpstlichen Schriftstücke ein. In einer Experimentierphase wurde zunächst sowohl Bewährtes weiterverwendet als auch Neues ohne Bezug zur bisherigen Gestaltungspraxis geschaffen53. Eine fundierte Unter50 Diese sind in der Edition stets ausgewiesen, vgl. Papsturkunden 896–1046, ed. Harald Zimmermann, 3 Bde., Wien 21988/1989 (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., 174, 177 u. 198). 51 Vgl. dazu nun die sehr schöne Studie von Hermann Jakobs, Spätottonische Klosterfreiheit. Die Privilegien „Creditae speculationis“ Johannes’ XIII. und Benedikts VII. für Thankmarsfelde/Nienburg, Alsleben und Arneburg, in: Hermann Jakobs, Wolfgang Petke, Papsturkundenforschung und Historie. Aus der Germania Pontificia Halberstadt und Lüttich, Köln u. a. 2008 (Studien und Vorarbeiten zur Germ. Pont., 9), S. 1–128, zusammenfassend S. 75–95. 52 Vgl. dazu Jochen Johrendt, Das Magdeburger Primatsprivileg aus dem Jahr 968. Zur Echtheitsfrage von JL †3729 und †3730, in: AfD 47/48 (2001/2), S. 1–7. Das Konzept und die Urkunde wurden in den Liber privilegiorum sancti Mauricii eingetragen auf fol. 1r und 15r. 53 Vgl. dazu vor allem Leo Santifaller, Die Verwendung des Liber Diurnus in den Privilegien der Päpste von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, in: MIÖG 49 (1935), S. 225–366, Wiederabdruck in: Ders., Liber Diurnus, hg. von Zimmermann (wie Anm. 50), S. 14–158, dort auch die tabellarische Übersicht über die Verwendung des Liber Diurnus S. 52–55. Arengen des Liber Diurnus werden nach Gregor VII. faktisch nicht mehr benutzt, vgl. ebd., S. 22.
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suchung dieser Periode, die etwa den Einfluss Montecassinos deutlich machen würde, fehlt jedoch bis heute, obwohl die Notwendigkeit einer derartigen Untersuchung bereits vor fast 80 Jahren angemahnt wurde54. Auch eine Nachzeichnung des Empfängereinflusses nach 1046 wäre ein sehr lohnenswertes Unterfangen, das unsere Kenntnisse um die Formung des Reformpapsttums substantiell erweitern könnte. Diesen Mühen hat sich bis heute niemand unterzogen, trotz moderner Datenbanken, zunehmender Digitalisierung von Editionen und Originalen und damit einer wesentlich einfacheren Zugänglichkeit des Materials. Diktatvergleiche fehlen, weswegen wir die Phasen der Veränderung und deren Beeinflussung anders als bei den immer wieder identisch nachgegossenen Bleibullen nicht recht nachzeichnen können. Die Forschung konzentriert sich lieber auf viel zitierte historiographische Nachrichten über Veränderungen der Formulierungspraxis päpstlicher Schriftstücke, wie die Darstellung des Liber Pontificalis, der offiziösen Papstgeschichtsschreibung, dass der Casinenser Mönch Johannes von Gaeta als Kanzler Urbans II. „durch seine ihm von Gott übertragene Beredsamkeit den Stil alter Anmut und Eleganz, der am apostolischen Stuhl schon fast ganz verloren gegangen war, […] reformiert“ habe55. Auch dies war ein Moment der Unterscheidung von Clemens (III.) – eine Abgrenzung von den Papsturkunden seiner Kanzlei. Doch eine systematische Untersuchung der Urkundensprache nach 1046 fehlt bis heute. Die Umgestaltung unter Urban II. stellt der Liber Pontificalis als eine Rückkehr zum Bewährten dar, es ist de facto jedoch der Beginn einer neuen Phase, bei dem vor allem die sprachliche Normierung der Papsturkunden im Vordergrund stand. Die bunte Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten sollte reduziert werden. Die Homogenisierung der lateinischen Kirche hin zu einer Papstkirche sollte auch in den konkreten Formulierungen der päpstlichen Briefe und Urkunden umgesetzt werden56. Dies kann hier bei weitem nicht 54 Vgl. Hans-Walter Klewitz, Montecassino in Rom, in: QFIAB 28 (1937/38), S. 36–47; vgl. auch Jochen Johrendt, Rusticano stilo? Papst und Rhetorik im 11. und 12. Jahrhundert, in: Florian Hartmann (Hg.), Cum verbis ut Italici solent suavibus atque ornatissimis. Funktionen der Beredsamkeit im kommunalen Italien. Funzioni dell’eloquenza nell’Italia comunale, Göttingen 2011 (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, 9), S. 153–176, hier S. 153–156. 55 Liber pontificalis, ed. Duchesne, Vogel (wie Anm. 18), 2, S. 311, Z. 28–30: ut per elo quentiam sibi a Domino traditam antiqui leporis et elegantiae stilum, in sede apostolica iam pene omnem deperditum, sancto dictante Spiritu, Iohannes Dei gratia reformaret ac leoni num cursum lucida velocitate reduceret. Vgl. dazu Richard Krohn, Der päpstliche Kanzler Johannes von Gaeta (Gelasius II.), Marburg 1918, S. 22–26. 56 Vgl. dazu die Hinweise bei Jochen Johrendt, Italien als Empfängerlandschaft (1046– 1198): ein Vergleich aus der Perspektive des Urkundenalltags in Ligurien, Umbrien und
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in vollem Umfang dargestellt werden. Daher möchte ich zwei Aspekte herausgreifen, zum einen die Vereindeutigung der Sprache in den Papsturkunden und zum anderen die bewusste Anknüpfung an spätkarolingische Konzepte beziehungsweise Ausdrucksweisen in den Papstbriefen. Zunächst zum Ausscheiden einzelner Formulierungen, was am Beispiel des Papstschutzes verdeutlicht werden soll: In den 150 Jahren vor Sutri wurde der Papstschutz immer wieder auch an Empfänger im Reich nördlich der Alpen verliehen57. Dabei wurde der Schutz als defensio, patrocinium, mundiburdium, scutum, dominium, securitas oder iurisdictio bezeichnet. Auch in anderen Regionen war die Formulierung unterschiedlich, wenn auch nirgends so variabel wie im Reich nördlich der Alpen58. Zwei Termini stechen besonders hervor, da sie in keiner anderen Region Europas Verwendung fanden: mundiburdium und scutum. Das scutum ist ein ganz regulär gebrauchter lateinischer Begriff, mundiburdium hingegen ein in den meisten germanischen und romanischen Sprachen vorkommender Begriff, der aus der Munt und dem fränkischen, angelsächsischen oder althochdeutschen beran im Sinne von „tragen“ abgeleitet ist. Es meint also eine Munt- beziehungsweise Schutzgewalt über andere59. In den Quellen tritt uns mundiburdium seit der Merowingerzeit in den Königsurkunden als der Schutz des Königs für Personen und Institutionen entgegen. Es handelt sich terminologisch damit ursprünglich um eine weltliche Form des Schutzes. Doch in der Ottonenzeit wurde diese weltliche Vorstellung beziehungsweise Begrifflichkeit vom Schutz auch in Papsturkunden verwendet, so in Papsturkunden für Quedlinburg und Bamberg sowie in einer Fälschung für Magdeburg60. Diese Einschreibung des Terminus und der damit verbundenen Vorstellungen in eine Papsturkunde war möglich gewesen, da die Formulierung der Papsturkunde zu weiten Teilen durch die Petenten erfolgte. Das erklärt auch, wieso sich mundiburdium als Papstschutz allein bei Empfängern im Reich der Ottonen Kalabrien, in: Klaus Herbers, Jochen Johrendt (Hg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia, Berlin, New York 2009 (Abh. Göttingen, N. F., 5), S. 183–213, hier S 203–211; Ders., Rusticano stilo (wie Anm. 54), S. 173–175. 57 Vgl. dazu Johrendt, Papsttum (wie Anm. 49), S. 149–154. 58 Vgl. Johrendt, Papsttum (wie Anm. 49), S. 166f. 59 Vgl. Albrecht Cordes, Art. Mundiburdium, in: Lex.MA 6 (1993), Sp. 898f.; sowie mit den Nachweisen der Verwendung des Terminus‘ in: Ders., Art. mundiburdis, in: Jan Frederik Niermeyer, Co van de Kieft (Bearbeiter zusammen mit Burgers), Mediae latinitatis lexicon minus = Lexique latin médiéval = Medieval latin dictionary = Mittellateinisches Wörterbuch, überarbeitet von Jan W. J. Burgers, Darmstadt 22002, S. 922–924. 60 Papsturkunden, ed. Zimmermann (wie Anm. 50), Nr. 178 für Quedlinburg (1 , S. 350), Nr. 435 für Bamberg (2, S. 832), und †412 für Magdeburg ( 2, S. 784), vgl. auch Johrendt, Papsttum (wie Anm. 49), S. 153f.
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findet61. Das mundiburdium der Papsturkunden ist Ausweis der Vorstellungswelt im Reich nördlich der Alpen – und keine Formulierung oder Vorstellung der Päpste oder ihrer Schreiber. Diese Prägung der päpstlichen Ausdrucksweise durch die Empfänger und deren uns sonst in Königsurkunden entgegentretendes Gedankengut war für die Schreiber der päpstlichen Privilegien dieser Epoche offenbar kein Problem. Doch was bedeutete die papstgeschichtliche Wende für diese Wortwahl und die damit verbundenen Vorstellungen? Das mundiburdium ist nach der epochemachenden Synode von Sutri im Jahre 1046 bis einschließlich zu Gregor VII. lediglich in drei Urkunden zu fassen, die alle unter Leo IX. ausgestellt wurden. Zwei davon sind echt, die dritte Urkunde ist ein Spurium. Und alle drei gingen an Empfänger im Reich nördlich der Alpen, die beiden echten an St. Stephan in Besançon62 und an das Bistum Bamberg63, die 1116 entstandene Fälschung erhielt St. Maximin in Trier als Empfänger64. Dabei dient der Terminus mundiburdium zweimal zur Kennzeichnung des königlichen Schutzes, im Falle von St. Stephan in Besançon und in St. Maximin in Trier. Im Bamberger Fall hingegen bezeichnet es eindeutig den Papstschutz, denn dort heißt es: Sit ille episcopatus liber, Romano tantum mun diburdio subditus. Die Formulierung stammt aus der Vorurkunde unter Johannes XVIII. vom Juni 1007, durch die der Papst die Bistumsgründung durch Heinrich II. bestätigte65. Leo IX. war es also ohne weiteres möglich, die Vorurkunde wörtlich zu wiederholen. Und damit übertrug er erneut das mundiburdium in die päpstliche Sphäre. Das war sicherlich kein von Leo forcierter Akt, sondern dies ging 61 Zur im Vergleich zu anderen Königen starken Stellung der ottonischen und frühsalischen Herrscher im Rahmen der Kommunikation von Empfängern und Papst vgl. Johrendt, Papsttum (wie Anm. 49), S. 36–48, 200f.; zum Charakter des Papstschutzes für Empfänger im Reich nördlich der Alpen vgl. zusammenfassend ebd. S. 202–208. 62 Reg. Imp. III/5/2, Nr. 692 (= JL 4198), Edition bei Pierre François Chifflet, Histoire de l’abbaye royale et de la ville de Tournus. Avec les preuves, enrichies de plusieurs pieces d’histoire tresrares, et les tables necessaires pour en faciliter l’usage, Dijon 1664, S. 367–369, hier S. 367: Et quia postulastis a Romana sede […] corroborari privilegia […] dignum duxi mus satisfacere vestrae iustae petitioni; sicut enim continetur in mundiburdio serenissimi filii nostri Heinrici secundi, Romanorum Imperatoris Augusti, […]. 63 Reg. Imp. III/5/2, Nr. 1012 (= JL 4283; Germ. Pont. 3, S. 252f., Nr. 11), ed. Migne PL 143, Nr. 75, Sp. 697C–700C, hier Sp. 699C: Sit ille episcopatus liber, Romano tantum mun diburdio subditus. 64 Reg. Imp. III/5/2, Nr. †860 (= JL 4251), ed. Migne PL 143, Nr. 54, Sp. 669D–671A, Nr. 54, hier Sp. 670D: […] sub mundiburdio regum et imperatorum constat […] Zum fraglichen Zeitpunkt der Fälschung vgl. Reg. Imp. III/5/2, Nr. †860 sowie Germ. Pont. 10/1, S. 205, Nr. †11. 65 Papsturkunden, ed. Zimmermann (wie Anm. 50), Nr. 435, S. 832.
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auf das Verlangen Bischof Hartwigs von Bamberg zurück, der die entsprechende Vorurkunde möglichst identisch bestätigt wissen wollte. Das am 6. November 1052 von Leo IX. ausgestellte Privileg war damit ein in dieser Passage bis in den Wortlaut hinein erfüllter Empfängerwunsch. In der konkreten Ausführung der Urkundenform, ihren äußeren Merkmalen, wich Leo IX. dabei vermutlich deutlich von der nur noch kopial überlieferten Vorlage ab, doch im Wortlaut blieb er ihr treu und verwendete mundiburdium im alten Sinne66. Handelt es sich also nur um alten Wein in neuen Schläuchen? Ja und Nein – denn in der Tat wird hier lediglich in einer neuen äußeren Form der alte Inhalt in der alten Formulierung wiederholt. Und dennoch bilden die Urkunden Leos IX. einen Einschnitt – oder besser gesagt einen letzten Haltepunkt, bevor die Begrifflichkeiten auseinandertraten und damit eindeutig den temporalia oder den spiritualia zugeordnet wurden67. Danach sah es am Beginn der Reformära in den Papsturkunden und -briefen zunächst noch nicht aus, wie die Urkunden Leos IX. zeigen. Danach sah es auch in den Königsurkunden nicht aus, denn in den Urkunden Heinrichs IV. wird das mundiburdium wie in den Urkunden der folgenden Könige bis in die Stauferzeit fast ausschließlich für die Bezeichnung des Königsschutzes verwendet. Doch es lässt sich für Heinrich IV. auch ein Fall nachweisen, in dem die Kanzlei des Saliers 1057 etwa in Hinblick auf die Immunität der Kirche von Utrecht ausführt, dass die dieser unterstellten Personen sub mun diburdio et tuitione ipsius ecclesie consisterent68. Dies ist ein Einzelfall, doch in diesem konnte mundiburdium durchaus die Schutzgewalt einer Kirche bezeichnen. Eine wohl zwischen 1080 und 1090 auf Heinrich IV. gefälschte Urkunde für Hirsau demonstriert, dass der gedankliche Spielraum der Zuweisung sogar noch weiter reicht. Denn die Fälschung formuliert in Hinblick auf den Schutz des Klosters Hirsau: ut predictum coenobium sub Romane ecclesie mundiburdio et maiestate secu rum semper stabiliatur et defendatur […]69. Mit anderen Worten, im vorletzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts, eine halbe Generation nach der Exkommunikation 66 Zur Überlieferung siehe die Vorbemerkungen bei Papsturkunden, ed. Zimmermann (wie Anm. 50), 2, S. 830f. 67 Zur Diskussion der Begrifflichkeiten und der Unterscheidung der beiden Sphären vom Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Wormser Konkordat vgl. Hartmut Hoffmann, Ivo von Chartres und die Lösung des Investiturproblems, in: DA 15 (1959), S. 393–440; sowie jetzt auch Charles de Miramon, Spiritualia et Temporalia – Naissance d’un couple, in: ZRG kan. Abt. 92 (2006), S. 224–287. 68 MGH D H IV 13, S. 17 Z. 35. Gemäß dem Kommentar zu Reg. Imp. III/2/2, Nr. 102 handelt es sich um eine außerhalb der Kanzlei formulierte Urkunde, die jedoch MGH D O I 19 als Vorurkunde benutzt hat, so bereits die Einleitung zu MGH D H IV 13. 69 MGH D H IV †280, S. 361, Z. 20f.
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Heinrichs IV., die mit den Worten Bonizos von Sutri den Erdkreis erschüttert hatte70, war es den Fälschern nördlich der Alpen durchaus noch möglich, den eindeutig aus dem Bereich des Königsschutzes stammenden Begriff mundiburdium als Ausdruck für den Schutz der Römischen Kirche zu verwenden – und Fälschungen haben in der Regel das Bestreben, nicht sofort als solche erkannt zu werden. Nördlich der Alpen war dieser Gedankengang und diese Ausdrucksweise trotz der Verwerfungen zwischen regnum und sacerdotium möglich. Die Fälschung wurde in der Kanzlei Heinrichs V. und Lothars III. sogar zur Vorlage für einige Urkunden, so dass man die Hirsauer Wendung sowohl in der am 26. August 1114 für Paulinzella ausgestellten Urkunde71 als auch in der Fälschung zugunsten des Klosters Bürgel auf Lothar III. und den 15. Mai 1136 findet, die vermutlich zwischen 1228 und 1234 entstand72. Die königliche Kanzlei Heinrichs V. sprach also auch nach dem Ende des Investiturstreites immer noch von einem mundiburdium Romane ecclesie. Eine sprachliche Vereindeutigung, eine Abgrenzung der kirchlichen Schutzterminologie war für die kaiserliche Kanzlei offenbar nicht vonnöten. Doch eine derartige begriffliche Offenheit ist für die päpstliche Kanzlei nach Leo IX. nicht mehr nachzuweisen. Die Kanzlei verwendete den Terminus zunächst überhaupt nicht mehr. Er ist bis zu Innozenz II. nicht mehr belegt73. Erst 1139 für das Domkapitel von Ferrara74 und 1140 erneut für St. Maximin in Trier taucht mundiburdium wieder in Papsturkunden auf – sofern sie bei Migne erfasst sind75. Doch beide Male kennzeichnet mundiburdium den Schutz des Kaisers – eine Kennzeichnung des Papstschutzes mit diesem Ausdruck ist nun endgültig nicht mehr denkbar. Als Frucht des grundsätzlichen Ringens zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt war der Terminus nun eindeutig verortet. Er war nicht mehr zur Artikula70 Bonizonis episcopi Sutrini Liber ad amicum, ed. Ernst Dümmler, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 568–620, hier S. 609, Z. 12f. 71 MGH D H V 135: ut predictum cenobium sub Romanę ęcclesię mundiburdio et maiestate securum semper stabiliatur et defendatur, zu benutzen in der Vorabedition der Diplome Heinrichs V. auf der Homepage der MGH. 72 MGH D Lo III 84, S. 132, Z. 41: ut predictum cenobium sub Romanę ęcclesię mundiburdio et maiestate securum semper stabiliatur et defendatur. Zum Fälschungszeitpunkt vgl. das ausführliche Regest bei Reg. Imp. IV/1/1, Nr. †481. 73 Diese Aussage beruht jedoch lediglich auf den bei Migne PL edierten Stücken, anders als die Aussagen für die Urkunden bis zu Gregor VII. 74 It. Pont. 5, S. 222, Nr. 7 (= JL 8033), ausgestellt am 23. Mai 1139, Edition bei Migne PL 179, Nr. 409, Sp. 472B–473B. 75 Im Stück für Ferrara, It. Pont. 5, S. 222, Nr. 7 (= JL 8033), ausgestellt am 23. Mai 1139, Edition bei Migne PL 179, Nr. 409, Sp. 472B–473B, hier Sp. 472C; und am 6. Mai 1140 für St. Maximin in Trier, Germ. Pont. 10/1, S. 210, Nr. 33, Edition bei Minge PL 179 Nr. 445, Sp. 511C–514B, hier Sp. 512D.
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tion päpstlichen Schutzes einsetzbar, wie dies noch 90 Jahre zuvor unter Leo IX. möglich war, der an eine nordalpine Tradition anknüpfte. Der so genannte Investiturstreit hatte daher auch sprachlich zu einem Auseinandertreten der geistlichen und weltlichen Sphären geführt. Die Verwendbarkeit des Terminus mundiburdium war von der päpstlichen Kanzlei eingeengt, die ursprüngliche Weite des Begriffs beschnitten worden. Das Beispiel des gladius soll den Rückgriff und die Weiterentwicklung von Begrifflichkeiten und Formulierungen durch die Reformpäpste beleuchten. Der Begriff gladius ist in den Papstbriefen aufgrund seiner häufigen Verwendung in der Bibel naturgemäß sehr früh und häufig zu fassen76. Doch es ist zunächst ein negativ konnotierter Begriff, denn es ist vor allem das Schwert, mit dem Christen getötet oder bedroht werden, das Schwert als Martyriumsinstrument, das gegen die Rechtgläubigen gerichtet ist. Es ist ein für den christlichen Glauben ungeeignetes Instrument. So ermahnt etwas Cölestin I. (422–432) Kaiser Theodosius II., dass ein wahrer Christ seinen Sieg auf Erden nicht mit Kriegen und Schwertern, sondern allein durch Gottergebenheit erlangen wird77. Das bleibt auch bei Gregor I. so und findet durch die zahlreichen Abschriften seines Registers weite Verbreitung. Es sind die Schwerter der Langobarden, der Barbaren und Feinde, die sich in seinem Register fassen lassen78. Abgesehen von zwei Ausnahmen79 mit Bezug auf Häretiker ist 76 Zur Ikonographie des Schwertes vgl. Friedrich Merzbacher, Art. Schwert, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie 4 (1972), S. 136f. 77 JK 386, Edition bei Acta conciliorum oecumenicorum iussu atque mandato Societatis Scientiarum Argentoratensis ed. Eduardus Schwartz, 1/2: Collectio Veronensis, Berlin 1925/26, S. 88–90, hier S. 88 Z. 35f.: […] hanc omni mundo victoriam, quam non bellis, non gladiis, sed sola devotione, qua deo estis dediti, conquisitis, zur Überlieferung des Briefes vgl. Detelv Jasper, Horst Fuhrmann, Papal Letters in the Early Middle Ages, Washington, D. C. 2001, (History of Medieval Canon Law), S. 38f. 78 S. Gregorii Magni Registrum epistularum, libri I–XIV, ed. Dag Norberg, 2 Bde., Turnhout 1982 (CChr SL 140–140A). Als gladius Langobardorum erscheint es im Register nach der Zählung bei Norberg in: V/39 ( JE 1352), V/40 ( JE 1353), V/42 ( JE 1355), V/36 ( JE 1359), VI/61 ( JE 1442), VII/23 ( JE 1469), XII/16 ( JE 1866) und in XII/39 ( JE 1906); als gladius barbarorum in V/43 ( JE 1356), VIII/2 ( JE 1489), IX/175 ( JE 1702) und XIII/43 ( JE 1910); als gladius inimicorum/hostium in V/45 ( JE 1358) und V/37 ( JE 1360). 79 So bei Anastasius I. in JE 281, Edition bei Migne PL Supplementum I, der in einem Brief von 400/401 an den Mailänder Bischof Venerius rückblickend zu Arius ausführt, Sp. 791: Frater honorabilis, ergo sicut ex Egypto exiens Arius cum suis blasphemiis divino gladio truci datus est […]; und Leo I. in JK 425 einem Brief vom 13. Juni 449, Edition bei Migne PL 54, Nr. 31, Sp. 789B–796A, hier Sp. 794B: […] ut omnes haereticorum opiniones solo ipsius possint gladio detruncari.
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das im positiven Sinne geführte Schwert bis in die Mitte des 7. Jahrhunderts lediglich das zur Bestrafung von Sünden durch Gott geführte Schwert in Anlehnung an das zweite Kapitel der Offenbarung und dessen Vers 16: „Tue Buße; wenn aber nicht, so werde ich bald über dich kommen und gegen sie streiten mit dem Schwert meines Mundes.“ Kurzum, das Schwert ist negativ konnotiert und wird, wenn überhaupt, allein von Gott geführt, nie jedoch durch den Papst. Selbst das Bild aus dem Epheserbrief 6, 16f.: „Vor allen Dingen aber ergreift den Schild des Glaubens, mit dem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösen, und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes“, ist selten zu fassen. Doch das ändert sich mit Papst Nikolaus I., dessen Briefe bereits im 9. Jahrhundert eifrig abgeschrieben wurden80. Denn nun wird das Schwert nicht mehr allein als das verbum dei gedeutet, sondern Nikolaus I. setzte es mit dem Anathem gleich, beschreibt die Exkommunikation von Häretikern als Einsatz des gladius sancti spiritus, wie etwa in seinem Schreiben an Kaiser Michael III. von Byzanz zu den Auseinandersetzungen um den Patriarchen Ignatios, in dem er grundlegende Rechte des Papsttums darlegt81. Dass er dieses Schwert auch selbst einzusetzen gedachte, es aktiv zu führen bereit war, macht er in einem Schreiben an Ludwig den Deutschen deutlich, als er in Hinblick auf Ingiltrud, die Ehefrau Graf Bosos ausführt: „Und schließlich, geliebter Sohn, glauben wir, dass Euch nicht verborgen geblieben ist, welche große Mühen wir wegen der Flucht jener Gattin des Boso haben.“ Er führt weiter aus, dass er diese ermahnt und ermuntert, zu ihrem Mann zurückzukehren, „doch wenn sie in ihrer Liederlichkeit unablässig verharrt, so werden wir sie mit dem Schwert des Anathems durchstoßen“ – gladio anathematis percusserimus82.
80 Zur Rezeption nicht nur in kanonistischem Kontext vgl. Wilfried Hartmann, Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht, Hannover 2008 (MGH Schriften, 58), S. 32–35; Jasper, Fuhrmann, Papal Letters (wie Anm. 77), S. 110–125; sowie nun die knappen Bemerkungen von Klaus Herbers bei Reg. Imp. I/4/2/2, S. XII–XV. Grundlegend ist nach wie vor die Studie von Ernst Perels, Die Briefe Papst Nikolaus’ I. Teil I, in: NA 37 (1912), S. 535–686; Teil II in: NA 39 (1914), S. 43–153. 81 Reg. Imp. I/4/2/2, Nr. 777 (= JE 2796), zum Hintergrund vgl. zusammenfassend Scholz, Politik (wie Anm. 7), S. 206–208, sowie die weitere Literatur bei Reg. Imp. I/4/2/2, Nr. 777. Zur Exkommunikation als päpstliches Strafinstrument vgl. den knappen Überblick bei Martin Kaufhold, Gladius spiritualis. Das päpstliche Interdikt über Deutschland in der Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1324–1347), Heidelberg 1994 (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, 6), S. 10–15. 82 Reg. Imp. I/4/2/2, Nr. 845 (= JE 2874), Edition bei MGH Epp. 6, S. 332–334 Nr. 49, hier S. 333, Z. 16–19.
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Der Papst greift nunmehr selbst zum Schwert und betritt damit neue Bahnen – sowohl in der generellen Formulierung als auch in der Drastik der Wortwahl. Und er macht damit Schule, denn auch etliche Briefe seines Nachfolgers, Johannes VIII., greifen diese Wortwahl auf, wenn Johannes VIII. etwa König Ludwig den Jüngeren daran erinnert, dass Nikolaus I. in der Eheangelegenheit Lothars II. nicht habe anders handeln können, als die Schuldigen divino gladio zu bestrafen83. Doch dann tut sich eine deutliche chronologische Lücke in der Rezeption der martialischen Worte Nikolaus’ I. auf. In den 150 Jahren vor Sutri gab es zwei erneute Androhungen des gladius anathematis84 und Silvester II. und Sergius IV. nehmen es je einmal in die negative Sanctio ihrer Urkunden auf85. Zu einem grundlegenden Wandel kam es dann durch die Reformpäpste86, namentlich mit Leo IX., der die Androhung, mit dem apostolicus gladius anathe matis durchstoßen zu werden, regelmäßig in seine Urkunden aufnimmt87. Leo IX. wurde damit prägend für die weiteren Reformpäpste, wobei dann vor allem Gregor VII. sich in seinen Briefen reichlich des Bildes vom Schwert bedient, mit dem durchstoßen, geteilt und abgeschnitten wird88. Leo IX. dürfte die Formulierung 83 Reg. Imp. I/4/3, Nr. 412 (= JE 3211), Edition bei Migne PL 126, Sp. 811. 84 Stephan V. in JL 3414 und Agapit II. in JL 3662 (= Reg. Imp. II/5, Nr. 238) sowie die wohl zur Zeit Alexanders III. entstandene Fälschung JL 3844 auf Johannes XV., Edition bei Papsturkunden, ed. Zimmermann (wie Anm. 50), Nr. †309, die Vorbemerkungen zum Fälschungszeitpunt auf S. 600. 85 Silvester II. in JL 3931 (= Reg. Imp. II/5, Nr. 893) und Sergius IV. in JL 3966 (= Reg. Imp. II/5, Nr. 1050). 86 Die Sanctio Clemens’ II. in Reg. Imp. III/5/2, Nr. †339 kann nicht gewertet werden, da es sich um eine wohl um 1095 entstandene Fälschung handelt, vgl. die Bemerkungen des Bearbeiters Karl Augustin Frech ebd. 87 So in JL 4169 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr.567), JL 4192 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. 663), JL 4204 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. 709), JL 4249 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. 856), JL 4269 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. 954), JL 4320 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. 730) u. JL 4385 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. 1385). Hinzu tritt die Fälschung JL 4182 (= Reg. Imp. III/5/2, Nr. †631). 88 Vgl. dazu Alfons Stickler, Il „gladius“ nel registro di Gregorio VII, in: Studi Gregoriani 3 (1948), S. 89–103, der neben dem Schwert als Umschreibung der Exkommunikation auch das Schwert als Bild der pastoralen Fürsorge bei Gregor VII. betont; zur Aufladung der Sprache vgl. Jochen Johrendt, „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und die Ungerechtigkeit gehasst“ – Gregor VII. in Konflikt und Krise, in: Michael Matheus, Lutz Klinkhammer (Hg.), Eigenbild im Konflikt. Krisensituationen des Papsttums zwischen Gregor VII. und Benedikt XV., Darmstadt 2008, S. 20–44, hier S. 26f. Zum Thema Gewalt bei Gregor VII. vgl. jetzt auch die an einigen Stellen wegen ihres eher unreflektierten Umgangs mit den Quellen problematische Studie von Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013, bes. S. 165–188.
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und damit das Bild eines Schwertes des Anathems, mit dem andere vom Papst durchstoßen werden, aufgrund der Verbreitung der Briefe Nikolaus’ I. in unterschiedlichen Sammlungen auch nördlich der Alpen aus diesen gekannt haben89. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass die Reformpäpste selbst bei der Formulierung scheinbar so unwichtiger Urkundenteile wie der Sanctio ausgerechnet auf den Papst der Karolingerzeit zurückgriffen, der wie kein Zweiter den römischen Primat, seinen Anspruch und die Folgen ausbuchstabiert hatte. Auch damit war durch die Reformpäpste eine bisherige Formulierungstradition, in der Nikolaus I. und Johannes VIII. gewissermaßen eine Ausnahme darstellen, produktiv im Sinne einer Neufindung des Papsttums zerstört worden. Durch den Rückgriff auf Nikolaus I. und damit auf einen ersten Höhepunkt der Entfaltung päpstlicher Ansprüche kommunizierten die Reformpäpste in ihren Urkunden und Briefen ein neues Papstbild, das nun immer weniger durch die Empfänger und immer stärker vom Eigenbild der Reformpäpste geprägt wurde. Beides, die Ausführungen zur Formulierung des Papstschutzes wie auch der Nachweis, dass die Reformpäpste bei der sprachlichen Gestaltung ihrer Urkunden und Briefe ganz dezidiert auf Nikolaus I. zurückgriffen, sind nur zwei Mosaiksteine aus einem großen Bild. Und anders als bei den anhand der Bleibullen verdeutlichten äußeren Merkmalen der Papsturkunden scheint der Befund bei der Ausdrucksweise nicht so eindeutig auszufallen. Dennoch meine ich, dass es sich nicht um irgendwelche Mosaiksteine handelt, sondern um sehr aussagekräftige. Fest steht ebenso, dass ein Großteil der Formulierungen auch in der Epoche der papstgeschichtlichen Wende erhalten blieb. Natürlich war der Empfängereinfluss auch nach 1046 immer noch erheblich. Doch das Beispiel der Sanctio unter Leo IX. hat zugleich den Nachweis erbracht, dass dieser Einfluss geringer wurde. Der Beitrag hat sicherlich zudem deutlich gemacht, dass wir in Hinblick auf die Formulierungen der Papsturkunden in der Phase der papstgeschichtlichen Wende für eine tiefergehende Untersuchung erst am Anfang stehen. Doch würde eine auf die sprach89 Beide Briefe gehören nicht zu den besonders breit überlieferten Stücken, doch lassen sich nach der Zusammenstellung bei Perels, Briefe (wie Anm. 80), für jeden Brief bis ins 11. Jahrhundert zwei, bis ins 12. Jahrhundert drei Textzeugen finden. Für JE 2796 sind dies: BAV Vat. lat. 3827 (s. X–XI), Perels, Briefe I, S. 541; Cod. Valentian. 160 (s. IX), Perels, Briefe I, S. 544f.; Cod. Casin. 220 (s. XII), Perels, Briefe I, S. 544. Für JE 2874 sind es: Cod. Paris. lat. 1557 (s. X), Perels, Briefe I, S. 566f.; Cod. Paris. lat. 1456 (s. X–XI), Perels, Briefe I, S. 569–571; Cod. Treverensis 1081 (s. XII, 1. H.), Perels, Briefe I, S. 562f. Die Rezeption über die zahlreichen Nikolaus-Exzerpte in der kanonistischen Literatur ist auszuschließen, da beispielsweise Regino von Prüm und Burchard von Worms bei ihren Exzerpten nicht die entscheidende Sanctio überliefern, vgl. Jaspers, Fuhrmann, Papal Letters (wie Anm. 77), S. 117f.
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liche Gestaltung ausgerichtete Studie uns nicht nur das Geben und Nehmen zwischen den Ortskirchen und Rom deutlicher erkennen lassen. Es wäre ein wichtiger Baustein, um die innere Verfestigung und Ausreifung dessen, was wir dann Kurie nennen, zumindest in Hinblick auf die Kanzlei deutlicher fassen zu können.
Die „Öffentlichkeiten“ von Heinrich IV. und Heinrich V. Zum Bild ihrer Herrschaftsgestaltung in Geschichtsschreibung, Briefen und Urkunden Gerhard Lubich Wohl nur wenige Tage nach dem Tod Heinrichs V. wandten sich die wenigen Fürsten, die sich zum Zeitpunkt des Ablebens bei dem letzten Salier befunden hatten, mit einer brieflichen Mitteilung an Otto von Bamberg. Die Situation (ordo rei et temporis qualitas) erfordere nunmehr dringliche Beratungen de statu et de pace regni, so ließ man den Bischof wissen. Da aber in diesem Zusammenhang seine Anwesenheit und die weiterer Fürsten dienlich und geboten sei, habe man weder seinem Willen noch seinen Überlegungen vorgreifen wollen und überdies davon Abstand genommen, geheime oder nicht abgesprochene Entscheidungen zu fällen. Vielmehr habe man, da auch weitere Fürsten nicht zugegen seien, für den Bartholomäustag eine Versammlung nach Mainz anberaumt, um die notwendigen Debatten zu führen und den Nachfolger Heinrichs zu wählen1. Wie wir wissen, sollte dies schließlich Lothar III. sein, unter dessen Namen der Brief auch in der Reihe der Constitutiones ediert wurde, selbst wenn der abwesende Sachsenherzog nicht an seiner Entstehung beteiligt war. Dieser Brief führt in zweierlei Hinsicht zum Thema der folgenden Überlegungen. Zum einen war das Ziel des Schreibens die Herstellung einer Öffentlichkeit, genauer: der für eine Wahlversammlung konstitutiven Öffentlichkeit. Wie bereits die Ausdrucksweise des Briefes deutlich macht, dachte man hierbei kei1 Die Darstellung stellt eine freie Übersetzung der folgenden Zeilen dar, die entnommen sind aus: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum inde ab a. DCCCCXI usque ad a. MCXCVII (911–1197), ed. Ludwig Weiland, Hannover 1893, ND 2003 (MGH Const., 2), Nr. 112, S. 165 f., hier S. 165: ordo rei et temporis qualitas exigere videbatur, ut de statu et pace regni conferremus, si non abesset praesenciae vestrae consilium et aliorum principum, tanto negocio utile et pernecessarium. […] curiam in festo Bartholomei apud Moguntiam cele brare et ibidem convenientibus principibus de statu et successore regni ac negociis necessariis […] ordinare. Nullum tamen praeiudicium deliberationi et voluntati vestrae facientes, nichil nobis singulare ac privatum in hac re usurpamus.
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neswegs an die Allgemeinheit, wie dies bei demokratischen Wahlen der Fall sein müsste. Vielmehr ging es um eine definierte Gruppe, nämlich die principes, die maßgeblichen, einflussreichen weltlichen wie geistlichen Fürsten2, im Wortlaut des Briefes die utriusque professionis principes. Offensichtlich hatte man eine klare Vorstellung davon, wer dem dadurch angesprochenen Kreis von Fürsten zuzurechnen war, der über das Reich zu befinden hatte. Zumindest dem Grundsatz nach gestaltete sich die Zusammensetzung dieses vom Bestand her keineswegs festgelegten Kreises in gewissem Rahmen immer wieder neu; das Ableben einzelner Mitglieder, deren mögliche Nachfolge oder der Auf- und Abstieg einzelner Familien sorgten für veränderte Zusammensetzungen. Eine deutlich aufsteigende Entwicklung nahm die Bedeutung dieser Gemeinschaft gerade in der späten Salierzeit. Als eine Art Fanal hierfür mag die Wahl Rudolfs von Rheinfelden als erstem ostfränkisch-deutschen Gegenkönig gelten, bei der die Fürsten den status regni in die Hand nahmen, um in der Terminologie des eingangs erwähnten Briefes zu bleiben3. An den letzten Jahren Heinrichs V. lässt sich schließlich deutlich machen, wohin diese Entwicklung führen sollte, bedurfte es doch weder der Absetzung noch des Ablebens eines Herrschers, damit die Korporation der Fürsten als Verkörperung des „Reiches“ tätig werden konnte4. Hierfür inszenierte man sich etwa auf Versammlungen als Verantwortungsgemeinschaft für das „Reich“, etwas, das dann in der Stauferzeit durch königliche Inszenierung geschehen sollte5. Hierdurch
2 Das Thema der Königswahl hat die ältere Forschung insbesondere in deren Verhältnis zum „Geblütsrecht“ sowie hinsichtlich der Ausprägung eines geregelten, auf die Kurfürsten zulaufenden Wählergremiums interessiert; einen Überblick liefert das Handbuch von Jörg Rogge, Die deutschen Könige im Mittelalter – Wahl und Krönung, Darmstadt 2006; die Frage nach dem Selbstverständnis der Gruppe und ihrem Verfassungsrang wurde für den zu untersuchenden Zeitraum grundlegend gestellt von Jutta Schlick, König, Fürsten und Reich 1056–1159. Herrschaftsverständnis im Wandel, Stuttgart 2001. 3 Vgl. zuletzt Michaela Muylkens, Reges geminati: Die Gegenkönige in der Zeit Heinrichs IV., Husum 2012 (Historische Studien, 501), S. 129f.; für die ältere Forschung maßgeblich war Walter Schlesinger, Die Wahl Rudolfs von Rheinfelden zum Gegenkönig 1077 in Forchheim, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, Sigmaringen 1973 (Vorträge und Forschungen, 17), S. 71–85. 4 Schlick, König (wie Anm. 2), S. 80, sieht hinsichtlich der Würzburger Versammlung von 1122 die Entwicklung „zum Abschluß gekommen“. 5 Exemplarisch mit der älteren Literatur Gerhard Lubich, Das Kaiserliche, das Höfische und der Konsens auf dem Mainzer Hoffest (1184). Konstruktion, Inszenierung und Darstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts am Ende des 12. Jahrhunderts, in: Stefan Burckhardt u. a. (Hg.), Staufisches Kaisertum im 12. Jahrhundert. Konzepte – Netzwerke – Politische Praxis, Regensburg 2010, S. 277–294.
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schuf man das, was man mit Habermas eine „veranstaltete Präsenzöffentlichkeit“ nennen könnte6. Die skizzierten Veränderungen resultierten aus einem Prozess, der zeitlich parallel, oft aber in engen Wechselwirkungen mit dem sogenannten „Investiturstreit“ verlief, will man unter diesem Begriff tatsächlich allein die Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium verstehen7. Der von den religiös motivierten Konflikten erfasste Personenkreis war mit Sicherheit größer als die gerade angesprochenen Kreise der Führungseliten, die das „Reich“ repräsentierten. Denn für nicht weniger als die Allgemeinheit musste christlicher Auffassung nach der Konflikt von Belang sein, berührten doch die debattierten Fragen von Sünde und Reinheit der Priester und, daraus resultierend, die Gültigkeit von Sakramenten das Seelenheil eines jeden Christen. „Wir sind alle verdoppelt“ – das bekannte Diktum der Augsburger Annalen trifft also nicht allein in der Beschreibung der Schwierigkeiten der Zeit zu, den richtigen Bischof, Papst oder Herrscher zu identifizieren, sondern auch in der Betonung, dass dies ein Problem für die Gesamtheit der Christenmenschen sei8. Beide Faktoren, sowohl die allgemeine Sorge um das Seelenheil als auch die gestiegene Bedeutung „öffentlicher“ Kreise für die Herrschaftsgestaltung, wurden von ihren Zeitgenossen in einem Ausmaß reflektiert, das insgesamt eine neue Stufe öffentlichen Meinungsaustausches zeigt. Ob in der Darstellung der Ereignisse, also der „Geschichtsschreibung des Investiturstreits“, oder aber in den Diskussionen der „Streitschriften“ – der Austausch innerhalb der Gesellschaft des ausgehenden 11. Jahrhunderts stellte sich bereits der älteren Forschung dar als ein regelrechter 6 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 452 bezeichnet damit eine Form der Öffentlichkeit, die sich hinsichtlich ihrer Kommunikationsdichte, Organisationskomplexität und Reichweite von anderen Formen der Öffentlichkeit abhebt. 7 Zur Scheidung von Epochenbegriff und engerem Konfliktfeld zwischen Papsttum und Königen vgl. prägnant Hermann Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter 1046– 1215, München 1999 (Oldenburg Grundriß der Geschichte, 7), S. 163 f. 8 Annales Augustani ad a. 1079, ed. Georg H. Pertz, in: MGH SS, 5, Hannover 1839, S. 123–136. hier S. 130: „Sicut in quodam comico Omnes sumus geminati legitur, papae geminati, pontifices geminati, reges geminati, duces sunt geminati!“ – Die Wahrnehmung der universalen Dimension des Konfliktes ist bereits älter und äußert sich etwa in der Adresse an die Allgemeinheit, etwa bei den beiden „offenen Briefen“ des Petrus Damiani, vgl. Stephan Freund, Offene Briefe, fehlende Boten, mühsame Reisen – Nachrichtenübermittlung und Kommunikation am Beispiel des Petrus Damiani, in: Andres Laubinger u. a. (Hg.), Text – Bild – Schrift. Vermittlung von Information im Mittelalter, München 2007 (Mittelalterstudien, 14), S. 45–64, hier S. 47–54.
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Streit der Meinungen9. In Fortsetzung dieser Überlegungen wurde schließlich jüngst wieder erwogen, ob man nicht adäquater von der Entstehung einer „Öffentlichkeit“ sprechen solle, die zwar deutlich engere Kreise erfasste als die moderne bürgerliche und auch noch keineswegs über deren Institutionalisierungsgrad verfügte, sich aber doch am ehesten als – wenn auch eingeschränkter – Verhandlungsraum begreifen lässt10. Die immer wieder bemerkte Intensität und Autoreferenti9 Werner Goez, Kirchenreform um Investiturstreit 910–1122, Stuttgart u. a. 2000, S. 143: „Neutralität im Meinungskampf zu wahren, wurde immer schwieriger, auch in der Geschichtsschreibung“; zur Geschichtsschreibung ausführlicher Tilman Struve, Die Wende des 11. Jahrhunderts. Symptome eines Epochenwandels im Spiegel der Geschichtsschreibung, in: HJb 112 (1994), S. 324–365; gekürzter Wiederabdruck unter dem Titel: „Geschichtsschreibung als Seismograph“, in: Ders., Salierzeit im Wandel. Zur Geschichte Heinrichs IV. und des Investiturstreites, Köln u. a. 2006, S. 12–34; Hans-Werner Goetz, Der Investiturstreit in der deutschen Geschichtsschreibung von Lampert von Hersfeld bis Otto von Freising, in: Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hg.), Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romantik, Band 1: Essays, München 2006, S.47–59; Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter, Berlin ²2008 (Orbis medievalis, 1), bes. S. 243–280; zu den Streitschriften vgl. ebenfalls Hans-Werner Goetz, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: HZ 245 (1987), S. 31–70; Hans-Werner Goetz, Fälschung und Verfälschung der Vergangenheit. Zum Geschichtsbild der Streitschriften des Investiturstreits, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.-19. September 1986, Bd. 1, Hannover 1988 (Schriften der MGH, 33, 1), S. 165–188; Tilman Struve, Das Problem der Eideslösung in den Streitschriften des Investiturstreites, in: ZRG Kan. 75 (1989), S. 107–132. 10 Die Auffassung von Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 132013, S. 58–60, wonach die aus dem römischen Recht bekannte Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem im Mittelalter faktisch keine Geltung hatte und Öffentlichkeit „als ein eigener, von einer privaten Sphäre geschiedener Bereich“ nicht existiert habe, wurde von der Geschichtswissenschaft vielfach aufgegriffen, weitgehend zustimmend etwa von Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979 (Sprache und Gesellschaft, 4); vgl. ebenso Lucian Hölscher, Öffentlichkeit, in: Otto Brunner, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 41994, S. 413–467. Öffentlichkeit ist im Habermaschen Sinne eine prinzipiell allen zugängliche und sich als Gegengewicht zur Herrschaft formierende zivilgesellschaftliche Diskursarena, in der freie, uneingeschränkte und rationale Kommunikation zur politischen Willensbildung führt, vgl. dazu Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 52010, S. 242 f.; diese bürgerlich-moderne Konzeption ist auf das Mittelalter nicht übertragbar, wenngleich der als „Öffentlichkeit“ bezeichnete Kommunikationszusammenhang durchaus vorliegen kann; vgl. bereits Bernd Thum, Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur
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alität der Debatten sowie die Menge des produzierten Schriftgutes können sicherlich als Argumente für eine solche Perspektive gelten, die ein neues Licht zu werfen verspricht auf die bereits früher postulierten „Anfänge staatlicher Propaganda“11, zugleich aber auch die Kommunikationszusammenhänge innerhalb der anti-königlichen Opposition12. Wenn nun vor diesem Hintergrund die Herrschaftsausübung der beiden letzten Salier untersucht und verglichen werden soll, dann sind Leitfragen schnell formuliert: Wie positionierte sich das jeweilige Königtum in diesem Streit der Meinungen, über welche Mittel der Kommunikation, der Schaffung und Beeinflussung von „Öffentlichkeit“ verfügte man, und wie setzte man diese ein? Suchte man gezielt politisch relevante Teilöffentlichkeiten anzusprechen, oder adressierte man die Allgemeinheit, unternahm es also, die Universalität des Konfliktes zu instrumentalisieren? Zugleich aber erhebt sich die Frage, ob eine solche Untersuchung überhaupt der Mühe wert ist – immerhin scheint die Antwort bereits festzustehen, sofern man dem in der Forschung vorherrschenden Bild folgen will: Ein wesentlicher Unterschied zwischen Heinrich IV. und seinem Sohn habe ja gerade darin bestanden, Herstellung von Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert, in: Hedda Ragotzky, Hort Wenzel (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 65–87, der den Begriff der „okkasio nellen Öffentlichkeit“ eingebracht hat und vor allem die Notwendigkeit der öffentlichen Kommunikation politischer Entscheidungen betont. Peter von Moos, Das Öffentliche und Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Ders., Gert Melville (Hg.), Das Öffentliche und das Private, Köln 1998 (Norm und Struktur, 10), S. 3–83 betont die Notwendigkeit einer intellektuellen Distanznahme bei der Verwendung des Begriffes. Schließlich hat Leidulf Melve, Inventing the public sphere. The public debate during the Investiture Contest, c. 1030–1122, Bd. 1–2, Leiden u. a. 2007 (Brill’s studies in intellectual history, 154), die Formierung einer kommunikativen Öffentlichkeit im „Investiturstreit“ postuliert und dafür das Habermas’sche Modell modifiziert; „Öffentlichkeit“ erscheint demnach als ein vornehmlich von den Großen und den schreibenden Eliten getragenes und sich eher okkasionell bzw. höchstens „semi-institutionalized“ konstituierendes Kommunikationsnetzwerk, in dessen Rahmen diskursive Auseinandersetzungen letztlich zur Bildung auch von weiteren Kreisen getragenen Meinungen führten , die – nicht zuletzt mit Hinblick auf die viel beschworene ‚konsensuale Herrschaft‘ – auch für den König zu einem gewissen Grad verbindlich war. 11 Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: HZ 154 (1936), S. 491–512. 12 Diese Kommunikationszusammenhänge wurden zuletzt nochmals deutlich gemacht von Tilman Struve, War Heinrich IV. ein Wüstling? Szenen einer Ehe am salischen Hofe, in: Oliver Münsch (Hg.), Scientia veritatis. FS Hubert Mordek, Ostfildern 2004, S. 273– 288.
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dass es Heinrich V. wesentlich besser verstand, sich als Amtsperson im Kreis der Fürsten eine akzeptierte Position zu verschaffen und dabei maßgeblich den Lauf der Dinge zu bestimmen – insbesondere in seiner Anfangszeit13, doch phasenweise auch noch um 112014. Die hierzu notwendige Beherrschung der konkreten assem bly politics, um einen von Timothy Reuter in die Diskussion eingebrachten Ausdruck aufzunehmen15, scheint hingegen nicht die Sache seines Vaters gewesen zu sein. Heinrich IV. steht vielmehr in dem Ruf, eine Art Kommunikationsverweigerer gewesen zu sein, ein unzeitgemäßer Herrscher, der eine eigentlich hergebrachte Vorstellung vom Königtum unsensibel, letztlich auch ungeschickt zu behaupten suchte16. Indem Heinrich IV. seine Gesprächspartner vom „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ ausschloss, das nach Habermas Öffentlichkeit auszeichnet17, habe er sich als unzuverlässig erwiesen und am Ende selbst isoliert. Doch gilt es zu berücksichtigen, dass dieses Urteil in erster Linie auf dem Zeugnis der erzählenden Quellen beruht, deren Bewertung schwer fällt, zumal ihre Autoren ja durch die skizzierte Betroffenheit als Christenmenschen, zugleich aber auch als Parteigänger im politischen Diskurs und als Teile weiterer Netzwerke involviert 13 Diese Wertung geht zurück auf die grundlegende Neubewertung durch Stefan Weinfurter, Reformidee und Königtum im spätsalischen Reich. Überlegungen zu einer Neubewertung Kaiser Heinrichs V., in: Ders. (Hg.): Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich, Mainz 1992 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 68), S. 1–45. Die Forschung folgt diesem Bild, so etwa Gerd Althoff, Heinrich V. (1106–1125), in: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519), München 2003, S. 181–200; Jürgen Dendorfer, Fidi milites? Die Staufer und Kaiser Heinrich V., in: Hubertus Seibert, Jürgen Dendorfer (Hg.), Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich, Stuttgart 2005 (Mittelalter-Forschungen, 18), S. 213–265. 14 Jürgen Dendorfer, Heinrich V. Könige und Große am Ende der Salierzeit, in: Tilman Struve (Hg.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Ostfildern 2008, S. 115–170. 15 Die deutsche Forschung basiert zumeist auf den Überlegungen von Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; Timothy Reuter, Assembly politics from the eight Century to the twelfth, in: Janet Nelson (Hg.), Medieval Polities and Modern Mentalities, Cambridge 2006, S. 193–216 (ursprünglich 2003); zuletzt Leidulf Melve, Assembly Politics and the “Rules-of-theGame” (ca. 650–1150), in: Viator 41,2 (2010), S. 69–90. 16 So der Grundtenor bei Gerd Althoff, Heinrich IV., Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance); im Grunde als konservativer, aber erfolgreicher charakterisiert die Gesamtleistung Ian Robinson, Henry IV. of Germany (1056–1106), Cambridge 1999. 17 Habermas, Faktizität (wie Anm. 6), S. 436.
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waren, mithin also keineswegs die für Neutralität notwendige Distanz zum Geschehen aufbringen konnten. Dass sich aus dieser komplexen Gemengelage möglicher Darstellungsabsichten simplifizierende Zuschreibungen wie „königlich gesinnt“ oder „papsttreu“ fast von selbst verbieten, ist immer wieder betont worden18. Wäre es denn nicht möglich, dass in einer Zeit, in der die Rolle der Fürsten auch ohne einen Bürgerkrieg oder einen Konflikt mit dem Papsttum als bedeutend, ja beinahe als „staatstragend“ angesehen werden konnte19, die Isolation des Herrschers weniger einen Sachverhalt wiedergibt denn als Darstellungsstrategie zu bewerten ist? Es sind ja insbesondere die Berichte aus den 1070er Jahren, die Heinrich IV. oft genug isoliert und alleine zeigen, deutlich etwa bei der ehrrührigen Behandlung der sächsischen Fürsten im Sommer 107320, aber auch in Canossa, gleichsam im Showdown mit dem Papst, von der deutschen Allgemeinheit zwar bemerkt, doch nicht spürbar eingebunden in einen größeren Kreis von Parteigängern, Anhängern oder zumindest Kommunikationspartnern – beides Resultate einsamer Entscheidungen, die den Darstellungen der Zeit nach so gut wie ohne Berater getroffen und beileibe nicht von breitem fürstlichen Konsens getragen wurden21. Sicherlich wird man zu konstatieren haben, dass Heinrich IV. selbst oder seine Parteigänger nichts hervorbrachten, das mit diesem eindrucksvollen Bild des Herrschers im Abseits konkurrieren könnte. Wie aber passt hierzu, dass es Heinrich (und/oder seinem Umkreis) an der Jahreswende 1075/76 so eindrucksvoll gelungen ist, eine briefliche Äußerung Gregors VII. derartig öffentlichkeitswirksam zu inszenieren, dass aus einer unserem Verständnis nach eigentlich persönlichen, das Verhalten des Herrschers stärker als Sachthemen thematisierenden Botschaft über die Verlesung bei Hofe22 schließlich das von so gut wie allen Fürsten, weltlichen 18 Für den Forschungsgang wichtig ist die Dissertation von Tilman Struve, Lampert von Hersfeld. Persönlichkeit und Weltbild eines Geschichtsschreibers am Beginn des Investiturstreits, in: Hess. Jb. F. Landesgeschichte 19 (1969), S. 1–123 und 20 (1970), S. 32–142; vgl. ansonsten die in Anm. 9 genannte Literatur. 19 Muylkens, Reges geminati (wie Anm. 3), S. 61–71. 20 J. F. Böhmer, Regesta Imperii III. Salisches Haus (1024–1125). 3. Abt.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich IV. 2. Lief.: 1065–1075, ed. Tilman Struve u. a., Köln u. a. 2010; (im weiteren: RI III/3, 2), Nr. 637. 21 Dies gilt insbesondere für die lange Zeit maßgebliche Darstellung durch Lampert von Hersfeld ad a. 1076 und 1077, in: Lamperti monachi Hersfeldensis Opera, Anhang: Anna les Weissenburgenses, ed. Oswald Holder-Egger, Hannover 1894, ND 1984 (MGH SS rer. Germ., 38), S. 282–298 = Lampert von Hersfeld, Annalen, ed. Adolf Schmidt, Darmstadt 1957 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 13), S. 392–414. 22 Reg. Imp. III/3,2 Nr. 778 (dort auch die vielfältige Literatur); Heinrich wird vor absichtsvollem Kontakt mit Exkommunizierten gewarnt und seine Aufrichtigkeit in Zweifel gezo-
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Gerhard Lubich
wie geistlichen, getragene Absageschreiben resultierte, das ja bekanntlich in verschiedenen, nach Empfängern differenzierten Fassungen ausgefertigt wurde23? Allein dieser Vorgang zeigt keineswegs den unterstellten mangelnden Sensus hinsichtlich kommunikativer Inszenierung, sondern das genaue Gegenteil. Was den „Akt“ oder „Pakt“ von Canossa betrifft, so dürfte in unserem Zusammenhang aus den Kontroversen der jüngsten Zeit zumindest resultiert haben, dass von einer gewissen Abstimmung zwischen Heinrich und Gregor ausgegangen werden kann, mithin einmal mehr die Isolation des Herrschers nicht in dem Maße vorlag, wie es das Bild des alleine barfuß im Schnee Büßenden suggeriert24. Für eine tatsächliche Isolation spricht ebenso wenig, dass im Jahre 1106 Heinrichs Leichnam geradezu als heiligmäßig verehrt wurde, als er nach seinem Tode nach Speyer überführt wurde25. Die Tendenz, einem Herrscher Scheitern zuzuschreiben und dies durch seine angebliche Isolation zu illustrieren, findet sich später schließlich auch bei der Beurteilung Heinrichs V. wieder, die ja hauptsächlich auf dem Urteil Ekkehards von Aura beruht26. Ekkehards Haltung zu Heinrich änderte sich im Laufe der Zeit gen, bevor die Ablehnung angesprochen wird, in Verhandlungen einzutreten. 23 Die Briefe Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann, Leipzig 1937 (MGH Dt. MA, 1), Nr. 10–12. 24 Die Kritiken an seiner ursprünglichen These nimmt selbst auf: Johannes Fried, Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012; Auseinandersetzungen mit diesem Werk wiederum liefern die Mehrfachbesprechungen im Forum der Zeitschrift sehepunkte 13,1 (2013); online: http://www.sehepunkte.de/2013/01/#forum (zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 25 Nach dem Tod Heinrichs in Lüttich versuchten die Bewohner der Stadt, den Leichnam zu berühren und Erde vom Grab zu nehmen, um diese auf ihren Felder zu verstreuen (Sigeberti Gemblacensis Chronographia ad a. 1106, ed. Ludwig Conrad Bethmann, in: MGH SS, 6, Hannover 1844, S. 268–474, hier S. 371), worin Egon Boshof, Die Salier, Stuttgart 42000, S. 263 „uralte, magische Vorstellungen vom Königsheil“ lebendig sieht. Folglich sei die anschließende Umbettung Heinrichs, zunächst in eine ungeweihte Kapelle außerhalb der Stadt und schließlich nach Speyer, der Verhinderung einer „gefährlichen Entwicklung“ in der heiligmäßigen Verehrung des Verstorbenen dienlich gewesen, vgl. Caspar Ehlers, Ein Erinnerungsort im 12. Jahrhundert?: Das Speyerer Domkapitel und Heinrich V., in: Franz J. Felten u. a. (Hg.), Robert Folz (1910–1996): Mittler zwischen Frankreich und Deutschland: Actes du colloque »Idée d’empire et royauté au moyen âge: un regard Franco-Allemand sur l’oeuvre de Robert Folz« Dijon 2001, Stuttgart 2007 (Geschichtliche Landeskunde, 60), S. 35–49. hier S. 37–39. 26 Ekkehardi Chronicon ad a. 1125, ed. Georg Waitz, in: MGH SS, 6, Hannover 1888, S. 1–267, hier S. 265 = Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik, ed. Franz-Josef Schmale, Irene Schmale-Ott, Darmstadt 1972 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 15), S. 374: Hic, ut prescriptum est, primo sub specie religionis patrem excommunicatum imperio privavit, confirmatus in honoribus mores mutavit, sed post iniurias apostolice sedi illatas sem
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wesentlich, was uns in den verschiedenen Redaktionsstufen seiner Weltchronik überliefert ist. Heinrich wird letztlich eine Entwicklung vom Paulus zum Saulus unterstellt, was in zunehmender Vereinsamung des Herrschers geendet habe – wodurch schließlich auch Ekkehards Urteil belegt werden soll. Gewiss mag es zutreffen, dass der Anhang des Herrschers im Laufe der Zeit tendenziell geringer wurde, doch lassen sich auch in den 1120er Jahren immer wieder andere Abschnitte nachweisen27. Hinzukommt, dass Ekkehards Darstellung in Ermangelung von Vergleichsquellen für die Zeit Heinrichs V. eigentlich ein fast alleiniger Deutungsanspruch zukommt. Dies ist eine ansonsten eher aus dem Frühmittelalter vertraute Situation28, die eigenartig anmutet angesichts des gemeinhin postulierten allgemeinen Anwachsens von Schriftlichkeit, das ganz besonders durch den schließlich erst 1122 beendeten Investiturstreit befördert worden sein soll. Ein genauerer Blick auf die Überlieferungslage zeigt einen deutlichen Höhepunkt der literarischen Produktion in der ersten, mit Gregor VII. in Verbindung stehenden Phase des Investiturstreites sowie kleinere Ausläufer bis in die 1090er Jahre, die von Autoren gefertigt wurden, die durch den vorhergehenden Konflikt geprägt waren. Die „Öffentlichkeit“ des Meinungskampfes von Geschichtsschreibung und Streitschriften scheint demnach ein vorübergehendes Phänomen gewesen zu sein – die zweite Hälfte des „Investiturstreits“ verlief offensichtlich in anderen Bahnen. All diese Konstellationen bedürfen noch weiterer Untersuchungen und können an dieser Stelle allein angesprochen werden. Doch dürften sie zumindest einen Anfangsverdacht hinsichtlich einer gewissen Fragilität der narrativ-diskursiven Bewertungsgrundlage für die salischen Herrscher liefern, weswegen im Folgenden das Kommunikationsverhalten der Herrscher selbst im Zentrum stehen soll, ihre eigenen Versuche also, „Öffentlichkeit“ zu schaffen und den Diskurs zu beeinflussen. In der Forschungsdiskussion zur „Öffentlichkeit“ spielen die dokumentarischen Quellen, insbesondere der Urkunden, eine vergleichsweise geringe Rolle. Dies mag per se ipso inferior fuit, iusticiis regni non multum invigilavit, acer fuit ingenio, fortis et audax, licet parum felix in preliis, nimius in appetendis alienis. Pecunias, ut aiunt, infinitas conges serat, quas secundum scripturas cui thesaurizasset, ipse sine liberis obiens heu! heu! ignorabat! 27 Hierzu Dendorfer, Heinrich V. (wie Anm. 14), S. 159–167; mit Nuancen Gerhard Lubich, Statt einer Zusammenfassung: Worms, das Reich und Europa, in: Ders. (Hg.), Heinrich V. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters, Köln, Wien 2013 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Reg. Imp., 34), S. 301–338, hier S. 318–324. 28 Bislang hat man Ekkehard noch nicht mit demselben Arsenal der Quellenkritik bearbeitet, das man in den letzten zwei Jahrzehnten etwa bei Gregor von Tours oder in den 1990er Jahren bei Widukind von Corvey zum Einsatz gebracht hat.
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Gerhard Lubich
auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, wenn man eine Urkunde im modernen Sinne allein als Rechtdokumentation verstehen will. Doch ist gerade diese Verwendung für das frühere Mittelalter eigentlich kaum nachzuweisen; gerade das Königtum verfügte keineswegs über das früher angenommene „Reichsregister“, und auch die Archivführung war praktisch inexistent29. Doch bieten sich gerade hochmittelalterliche Herrscherdiplome an, verschiedene Ebenen von Kommunikationskreisen und unterschiedlich involvierten Beteiligten deutlich zu machen. Die Rechtsgeltung, die beansprucht wurde, war eine allgemeine, so wie sich auch die Publicatio an die Allgemeinheit wandte. Doch wurden daneben innerhalb der Urkunde auch andere Arten von Öffentlichkeit dargestellt, die weniger als passiv der Rechtssetzung unterworfen dargestellt wurden denn als aktive Gestalter im Prozess auftauchen30. Die Rede ist von den Petenten und Intervenienten sowie von den – ausgerechnet erst seit der Zeit Heinrichs IV. regelmäßig auftauchenden – Urkundenzeugen31. Eben diese Kreise sind es, für die die Urkundenausstellung einen Platz in der politischen Kommunikation einnahm, zumal sie Außenstehenden das fragile Gleichgewicht zwischen dem königlichen Aussteller und der ihn umgebenden Gemeinschaft zu verdeutlichen in der Lage war; in dieser kommunikationsgeschichtlichen Perspektive sind Urkunden weniger Rechtsaufzeichnungen denn komplexe Herrschaftszeichen32, die wiederum Auskunft geben über die Einbindung, die ein Urkundenaussteller in die Gesellschaft seiner Zeit suchte. Diese qualitative Wertung gilt es zu beachten, wenn die Urkundentätigkeit der letzten Salier betrachtet wird. Wenn Urkundenausstellung als Zeichen der verstärkten Integration der Fürsten zu interpretieren ist, als ein stärkeres Zusammenwachsen des politischen Apparates, mithin eine Intensivierung von „Öffentlichkeit“, dann müsste dem gängigen Urteil nach Heinrich V. deutlich mehr Urkunden ausgestellt haben als sein Vater. Dies ist jedoch nicht in dem Maße der Fall, dass man Heinrich V. ganz generell als einen stärker die „Öffentlichkeit“ seiner Zeit suchen29 Hansmartin Schwarzmaier, Das ‚salische Hausarchiv‘, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich, Band 1: Salier, Adel und Reichsverfassung, Sigmaringen 1992, S. 97–116; Hanna Vollrath, Überforderte Könige. Die Salier in ihrem Reich, in: Lubich (Hg.), Heinrich V. (wie Anm. 27), S. 11–42. 30 Reuter, Assembly Politics (wie Anm. 15), S. 195 f. 31 Vgl. dazu grundsätzlich Alfred Gawlik, Intervenienten und Zeugen in den Diplomen Kaiser Heinrichs IV. (1056–1105). Der Übergang von der Interventions- zur Zeugenformel, Kallmünz 1970 (Münchener Historische Studien. Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften, 7). 32 Zu dieser Betrachtungsweise zuletzt eingehend der zweite Band von Mark Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit. Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation, Wiesbaden 2015 (MGH Schriften, 60).
Die „Öffentlichkeiten“ von Heinrich IV. und Heinrich V.
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den, also von sich aus die Teilhabe der Fürsten suchenden Herrscher einstufen müsste. Der längerfristige Vergleich macht zudem deutlich, wie schwierig der Schluss vom quantitativen Befund der Urkundenausstellung zur qualitativen Zuschreibung der Öffentlichkeitsintegration zu ziehen ist: Im Vergleich zu den beiden letzten Saliern urkundeten nämlich ihre gleichnamigen, der konsensualen Herrschaft vollkommen unverdächtigen Vorgänger Heinrich II. oder Heinrich III. deutlich häufiger. Ohnehin lag die Frequenz der Herrscherurkunden vor und nach 1100 wenn überhaupt, dann nur unwesentlich über derjenigen im „dunklen“ 10. Jahrhundert – von einer Produktionssteigerung durch den „Investiturstreit“ ist zumindest im Bereich der Herrscherurkunden nichts zu finden. Die folgende Tabelle mag grob veranschaulichen, wie sich die Überlieferungsverhältnisse im Einzelnen darstellen; der Einfachheit halber wurde hierbei der MGH-Edition gefolgt, auch was die Einstufung diplomatisch strittiger Stücke angeht, zumal sich hierdurch der Jahresschnitt nicht signifikant ändert; Mandate wurden der urkundlichen Überlieferung zugerechnet. Herrscher
Otto I.
Gesamt anzahl der Urkunden 470
Davon Briefe 1
Originale Urkunden 438
Fälschungen
31
Herrscher jahre (gerundet) 37
Original urkunden/ Jahr 11,84
Otto II.
328
0
320
8
22
14,54
Otto III.
439
4
422
13
18
23,44
Heinrich II.
539
0
510
29
22
23,18
Konrad II.
294
0
281
13
15
18,73
Heinrich III.
420
2
381
37
17
22,41
Heinrich IV.
550
0
490
60
60
8,17
Heinrich V.
341
41
253
47
20
12,65
Lothar III.
131
3
121
7
12
10,08
Konrad III.*
297
48
224
25
14
16,0
Friedrich I.
1306
56
1164
86
38
32,11
* Das MGH D K III Nr. 1 wurde ebenso wie die gesamte Periode des beinahe nicht belegten Gegenkönigtums von der Rechnung ausgenommen.
Doch bleibt auch hier vor einer zu schnellen Interpretation des Zahlenmaterials nur warnen, zumal „Öffentlichkeit“ als graduell abgestufter Kommunikationszusammenhang (zwischen Allgemeinheit und kleinsten „Teilöffentlichkeiten“) nicht zu verwechseln ist mit „politischer Partizipation“, die zwar zumindest eine Öffentlichkeit voraussetzt, nicht aber zwangsläufig aus ihr resultiert – der Zugang zu
140
Gerhard Lubich
Informationen und die Erwähnung im Diskurs bedeuten noch nicht unbedingt aktives Mitwirken. Damit lässt der hier erhobene quantitative Befund aus den Urkunden allein einen Rückschluss auf Kommunikationsarten zu, nicht aber auf den Integrationsgrad der beteiligten Öffentlichkeit. Ganz offensichtlich scheint das Jahrhundert zwischen dem Tod Heinrichs III. und der Herrschaft Friedrich Barbarossas eine Übergangsperiode darzustellen, bei der die Urkundenausstellung als kommunikatives Herrschaftsmittel vorübergehend aus dem Blick geriet – einen Zusammenhang mit dem Investiturstreit bietet dieser Zeitansatz wohl kaum. Wenn man also diese Form der Herstellung von Öffentlichkeit nicht mehr im selben Maße praktizierte, dann liegt damit die Frage nahe, ob diese geminderte Frequenz nicht kompensiert werden musste; hier geraten schließlich die Briefe in den Blick, die ja in den seltensten Fällen tatsächlich als „Privatbriefe“ konzipiert waren, wie sich immer wieder an der salischen Korrespondenz zeigen lässt33, die damit aber per se Teil der Herstellung von Öffentlichkeit waren. Zunächst ein paar nüchterne Zahlen: Von Heinrich IV. sind uns insgesamt 42 Briefe im Wortlaut erhalten, die von Carl Erdmann 1937 ediert34 und im folgenden Jahr im Rahmen seiner umfangreichen, bis heute nicht überholten Studien zur Briefliteratur Deutschlands im 11. Jahrhundert bearbeitet und kommentiert wurden35. Franz-Josef Schmale hat diese Edition als Grundlage seiner 1968 erschienenen Sammlung der „Quellen zur Geschichte Heinrichs IV.“ verwendet36; hierunter befindet sich ein Mandat, das seinen Weg auch in die Diplomataausgabe Heinrichs IV. gefunden hat37. Die Briefe Heinrichs V. hingegen sind bislang nicht als Gesamtheit ediert worden. Allerdings sind sie mittlerweile im Internet zugänglich, ohne Einleitung, Angaben zur Provenienz oder textkritische Kommentare im Rahmen einer Vorabedition der Diplomata Heinrichs V.38 Ihre Anzahl beträgt 41, was auf den ersten Blick ganz eindeutig für einen deutlichen Anstieg der brieflichen Kommunikation zu sprechen scheint: Obwohl Heinrichs Sohn nur die Hälfte der Regierungszeit zur Verfügung stand, die sein Vater als volljähriger König regierte, ist die Zahl ihrer Briefe beinahe identisch – im Jahresschnitt sind uns also ein Brief 33 So etwa in den Schreiben Heinrichs IV. an Gregor VII. 34 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23). 35 Carl Erdmann, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert, Leipzig 1938 (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, 1). 36 Franz-Josef Schmale, Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. Die Briefe Heinrichs IV., das Lied vom Sachsenkrieg, Brunos Sachsenkrieg, das Leben Kaiser Heinrichs IV., Darmstadt 1963 (FSGA, 12). 37 MGH D H IV Nr. 367, S. 489f. 38 URL: http://www.mgh.de/ddhv/ (zuletzt eingesehen am 18.03.2016).
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Heinrichs IV., hingegen zwei Schreiben seines Sohnes erhalten, wodurch der Sohn zunächst einmal als doppelt so kommunikativ wie sein Vater erscheint. Doch auch hier bedarf es eines zweiten Blickes. Die Vorabedition der Diplomata Heinrichs V. hat nämlich nicht allein diejenigen Briefe aufgenommen, die uns im Volltext erhalten sind, sondern überdies Briefdeperdita verzeichnet, immer dann, wenn in den Quellen ausdrücklich von einer Briefübersendung die Rede ist. Eine derartige Auflistung liegt für Heinrich IV. nicht vor, was den Vergleich erschwert39; der Sinn einer solchen Auflistung erscheint auch fraglich, denn auch wenn Vorgänge wie etwa die Ladung zu einer Versammlung oder einem Feldzug unspezifisch berichtet werden, verschweigt uns die Überlieferung zumeist die Form der Ladung – kann hier, nur weil in einigen wenigen Fällen wie dem Eingangsbeispiel tatsächlich Briefe erhalten sind, immer von schriftlichen Ladungen ausgegangen und ein Deperditum postuliert werden? Hinzu kommt gerade für die Briefe der Faktor des Überlieferungszufalls, zumal Briefsammlungen erst wieder im 12. Jahrhundert in nennenswertem Umfang angelegt wurden, insbesondere der für die königliche Korrespondenz so bedeutende Codex Udalrici40. Im Unterschied zu den Urkunden, bei denen keine wesentlich neue Überlieferungsform auftritt, erhöhte sich für die Briefe dadurch die Überlieferungschance, insbesondere für Schreiben, die aus der Anlagezeit der Sammlung stammen – eine weitere kleine Verzerrung, derer man sich bewusst sein sollte. Will man dennoch nicht von einem quantitativen Vergleich absehen, so lässt sich lediglich sagen, dass nach Abzug der 11 ausgewiesenen verlorenen Briefe Heinrichs V. das Verhältnis der aktiven Korrespondenz keine beeindruckenden Unterschiede aufweist, nämlich im Jahresmittel lediglich 1 zu 1,6 beträgt (wobei hierfür die Regierungszeiten ab der Volljährigkeit gerechnet wurden, zumal Briefe im Unterschied zu Urkunden nicht belegt sind). Sinnvoller mit Hinblick auf mögliche Unterschiede erscheint das einfache Verfahren, die Adressaten der jeweiligen Korrespondenzen zu qualifizieren. Dies ist für Heinrich IV. recht schnell getan. Der weitaus überwiegende Teil richtete sich an kirchliche Empfänger: 25 Briefe an einzelne Würdenträger der Reichskirche sind
39 Einzelne Hinweise finden sich, im Bestand der bislang erschienenen Regesten etwa Reg. Imp. IV/3, 1 Nr. 348, Reg. Imp. IV/3, 2 Nr. 417, Nr. 669, evtl. Nr. 693, 746 und 751. 40 Hier kommt insbesondere dem Codex Udalrici große Bedeutung zu. Die Echtheit der darin enthaltenen Briefe ist jedoch zum Teil angezweifelt worden, etwa von Schmale, Quellen (wie Anm. 37), S. 9–12, wohingegen Peter Classen, Heinrichs IV. Briefe im Codex Udalrici, in: DA 20 (1964), S. 115f., von der Authentizität der Briefe ausgeht.
142
Gerhard Lubich
erhalten41, überdies fünf Schreiben an den Papst42. Von den verbleibenden 10 Briefen gingen drei an die Bewohner und den Klerus der Stadt Rom43, drei an die Fürstengemeinschaft44 sowie je einer an die Westfalen45, die Bewohner der Marken46, Phillip von Frankreich47 und Herzog Almus48, im Familienkreis dann an seine Mutter49 und seinen Sohn50. Dieses Bild stellt sich nur geringfügig anders dar für die Korrespondenz Heinrichs V. Noch immer sind die häufigsten Empfänger von Briefen einzelne Würdenträger der Reichskirche, die mit insgesamt 15 Briefen bedacht wurden51, dicht gefolgt vom Papst, an den insgesamt acht Briefe gerichtet wurden52. Einzelne Reichsfürsten erhielten insgesamt fünf53, die Gemeinschaft der Fürsten fünf Briefe54, an die Römer gingen zwei55. Die Bewohner von Mainz, Cambrai und Savoyen erhielten je ein Schreiben56, ebenso der Vater57 und die Schwiegermutter in spe58; hinzu tritt ein Mandat zu Regelungen der Zustände im Kloster Rheinau59. Die Unterschiede zwischen den Adressaten in den Korrespondenzen von Vater und Sohn sind also recht gering: Zwar sprach Heinrich V. unter den kirchlichen Empfängern die Reichskirche weniger stark an, dafür das Papsttum etwas stärker, doch ist diese Binnenverschiebung wenig aussagekräftig. Noch weniger Abweichungen weist die Korrespondenz mit den anderen Gruppen auf. Insbesondere die Ansprache der Reichsfürsten in ihrer Gemeinschaft steigerte sich nicht wesentlich – die konsensuale Herrschaftsphase Heinrichs V. hinterließ also offenbar keine Spuren in 41 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 1–4, Nr. 6, Nr. 8–9, Nr. 13, Nr. 18, Nr. 20, Nr. 22, Nr. 24–33, Nr. 35–38. 42 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 5, Nr. 7, Nr. 11–12, Nr. 34. 43 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 10, Nr. 16–17. 44 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 14, Nr. 41–42. 45 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 19. 46 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 21. 47 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 39. 48 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 23. 49 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 15. 50 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 40. 51 MGH DD H V Nr. 3, *15, 22, *51, 53, 55, 68, *105, 151, 185, 200, 218, 227, 245, 277. 52 MGH DD H V Nr. *2, *10, *63, *93, 152, *220, 243, *251. 53 MGH DD H V Nr. 4, 56, *141, 226, 228. 54 MGH DD H V Nr. *6 -7, 142, 230, *263. 55 MGH DD H V Nr. 64, *181. 56 MGH DD H V Nr. *131, 196. 57 MGH D H V Nr. 1. 58 MGH D H V Nr. 42. 59 MGH D H V Nr. 11.
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der Korrespondenz. Eine gewisse Tendenz ließe sich vielleicht mit aller Vorsicht in der verstärkten Korrespondenz mit Stadtgemeinden erblicken, was jedoch nicht zu weitergehenden Schlüssen etwa mit Hinblick auf eine planvolle „Städtepolitik“ Anlass geben sollte60. Überhaupt sollte man sich nochmals die zahlenmäßige Begrenztheit des Materials und damit auch die schmale Basis für Aussagen vor Augen halten und geringfügige statistische Abweichungen wie die vorliegenden nicht überbewerten. Erscheinen also im Bereich der Briefe wie für die Urkunden auch die Konstanten zu überwiegen, so finden sich doch in der Korrespondenz Heinrichs V. drei Briefe oder briefähnliche Schriftstücke, die in dieser Form neuartig sind. Inhaltlich stehen alle drei Stücke mit den Ereignissen des Jahres 1111 in Verbindung und wenden sich offenbar an ein größeres, allerdings nur einmal explizit genanntes Publikum. Dieses Publikum ist erstmals die Allgemeinheit, die in dem Rundschreiben Heinrichs vom Frühjahr 1111 über seine Verhandlungen mit Paschalis II. unterrichtet wird. Der Adresse nach richtet sich das Schreiben – ganz wie eine Urkunde mit ihrer Publicatio an die Allgemeinheit, also an „alle Getreuen Christi und der Kirche“, omnibus Christi et ecclesie fidelibus61. Zudem existierte dieses Schreiben auch in konkret adressierter Form, da auch eine Ausfertigung an Volk und Klerus von Parma erhalten ist62. Ein weiterer Reflex der schicksalsträchtigen Verhandlungen dieses Jahres findet sich ebenfalls in den zwei kaiserlichen Fassungen eines sog. „Manifestes“ und einer collectio sowie einer päpstlichen Version, bei der allerdings kein Ansprechpartner benannt ist. Dieses unbesiegelte Schriftstück beginnt mit einer verbalen Invocatio und der Inhaltsangabe: Hoc est conventio inter dominum papam Paschalem et Heinricum imperatorem, inter regnum et sacerdotium63. Das Charakteristikum der Adressenlosigkeit gilt denn auch für ein drittes Schriftstück vom Jahresende 1112, in dem Heinrich sein wohl viele überraschendes Vorgehen gegen den Erzbischof Adalbert von Mainz zu begründen versucht – und dies ein Jahr, nachdem Heinrich bei seiner Rückkehr krank darniedergelegen und Adalbert sich offenbar bereits Gedanken über die Nachfolge gemacht hatte64. Sicherlich scheint bei diesem letzten Stück die Dramatik des Geschehens geringer als bei den ersten beiden Äußerungen, doch kam es Heinrich offenbar darauf an, in der schwierigen Lage nach dem „Pravileg“ auch in den „innenpolitischen“ 60 Gabriel Zeilinger, Zwischen familia und coniuratio. Stadtentwicklung und Städtepolitik im frühen 12. Jahrhundert, in: Lubich (Hg.), Heinrich V. (wie Anm. 27), S. 103–118. 61 MGH D H V Nr. 68 (kaiserliche Überlieferung). 62 MGH D H V Nr. 68. 63 MGH D H V Nr. 70. 64 MGH D H V Nr. 110; vgl. hierzu Lubich, Statt einer Zusammenfassung (wie Anm. 27), S. 308–310.
144
Gerhard Lubich
Konsequenzen eine möglichst breite Öffentlichkeit zu schaffen, und zwar eine Öffentlichkeit, die über einige wenige, konkret benennbare Entscheidungsträger hinausging. Alles in allem scheint ein abstrakteres und zugleich grundsätzlicheres Verständnis der formulierten Zusammenhänge vorgelegen zu haben, das in der Kommunikation berücksichtigt und verargumentiert werden konnte. Im Unterschied dazu adressierte Heinrich IV. immer konkrete Empfänger, womit eine Kleinstöffentlichkeit im Dialog konstruiert wurde, selbst wenn Schreiben wie der Brief an den „falschen Mönch Hildebrand“ tatsächlich verbreitet wurden und man damit eine breite Öffentlichkeit zu schaffen suchte65. Sammeladressen sind eher selten, zog man es doch offenbar vor, auch „Serienbriefe“ wie die Hilfeersuchen an die Fürsten vor dem Wormser Tag von 1076 einzeln personalisiert zu versenden66. In diese Linie passt, dass die unter Heinrich IV. verwendete Sammeladresse archiepis copis episcopis ducibus marchionibus comitibus et cuiuscumque dignitatis ordini67 schließlich im eingangs als Beispiel angeführten Schreiben schlank als utriusque professionis principes formuliert werden konnte68. Sicherlich werden Ereignisse wie „Canossa“ (das ja anscheinend nicht in ähnlicher Weise kommuniziert wurde wie „Ponte Mammolo“) in diesem Prozess eine gewisse Rolle gespielt haben; doch scheinen die wenn überhaupt, so nur umrisshaft sich abzeichnenden Entwicklungen es nicht zu rechtfertigen, hierin eine grundsätzliche Wende zu erblicken69. Mit dem Verweis auf „Canossa“ als markantem Punkt im „Investiturstreit“ sowie dem Rückbezug auf das einleitend zitierte Schriftstück schließt sich der Kreis; zugleich ist damit nochmals der Zeitraum abgesteckt, dessen Überlieferung darauf hin untersucht werden sollte, ob sich aus dem herangezogenen Corpus unter der Perspektive „Öffentlichkeit“ Bausteine für eine Differenzierung der Herrschaft der letzten beiden Salier ergeben. Die Antwort auf diese Frage scheint ein recht weit reichendes „Nein“ zu sein. Immerhin überwiegen bei Urkunden und Briefen die Gleichheiten zwischen beiden Beständen, wohingegen die Differenzen lediglich allmähliche Entwicklungen widerspiegeln, die keinesfalls von Brüchen oder Gegensätzlichkeiten in 65 Daher resultiert auch die Überlieferung in Brunos Sachsenkrieg, vgl. die Einleitungen zu Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 10–12. 66 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 13. 67 Briefe Heinrichs IV. (wie Anm. 23), Nr. 14. 68 Wie Anm. 1. 69 Zu diesem Ergebnis kommt bei anderem Ansatz ebenfalls Thomas Wetzstein, „Seine Schriften streute er über den Erdkreis“. Canossa – ein Wendepunkt in der Kommunikationsgeschichte?, in: Wolfgang Hasberg, Hermann-Josef Scheidgen (Hg.), Canossa. Aspekte einer Wende, Regensburg 2012, S. 112–123.
Die „Öffentlichkeiten“ von Heinrich IV. und Heinrich V.
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der Gestaltung der Kommunikation ausgehen lassen. Dies gilt hinsichtlich der Urkundenfrequenz, aber auch bei den Briefen, zumal in diesem letztlich doch recht dünnen Bestand nur graduelle Veränderungen auffallen. Sehr ähnlich waren auch die Anlässe zur brieflichen Herstellung von Öffentlichkeit, nämlich die großen Auseinandersetzungen mit dem Papsttum und damit verbundene Streitigkeiten, die zur Einbeziehung weiterer Kreise nötigten. Dass sich dabei ein wenig erstaunlicher Prozess von Abstraktion, mentaler wie begrifflicher Neufassung andeutet, legen einige wenige Indizien wenigstens nahe. Insgesamt also lässt sich auch auf die Frage, ob die Briefe und ihre Praxis der Herstellung von Öffentlichkeit den beiden letzten Saliern ein jeweils spezifisches Profil verleihen, kaum eine positive Antwort geben. Dennoch scheinen einige der erhobenen Negativbefunde durchaus bemerkenswert, wenn man sie in einen weiteren Kontext stellt. So lässt sich hinsichtlich der Korrespondenz im Umkehrschluss darauf aufmerksam machen, dass für eine Zeitspanne von immerhin 70 Jahren die briefliche Kommunikation von Seiten des Königtums aus anscheinend (sofern die Überlieferung nicht trügt) relativ stabil blieb, und dies in einer Zeit, die zumindest für die deutsche Geschichte immer als eine Zeit deutlichen, mitunter gar abrupten Wandels auch und gerade in Bezug auf die Schriftlichkeit bewertet wird. Einen Ersatz für die unter den späten Saliern deutlich gesunkene Häufigkeit der Einbeziehung der Öffentlichkeit qua Urkunden stellten die Briefe damit also offensichtlich nicht dar, da allgemeine, „offene“ oder „öffentliche“ Briefe zum einen zu selten sind und zum anderen erst spät auftauchen. Die Frage nach dem Herstellen von Öffentlichkeit und darüber der Schaffung von Verbindlichkeiten und Verbünden ist damit weiterhin offen. Man wird wohl auch andere Formen der Vergemeinschaftung ins Auge zu nehmen haben, um den eigentümlichen Wechsel der Dynamik zwischen Heinrich IV. und seinem Sohn zu erklären, Elemente wie religiös fundierte Zusammenschlüsse, Generationalitätsfragen oder räumliche Zusammenhänge. Man wird aber auch fragen müssen nach dem Kommunikationszusammenhang von Geschichtsschreibung, historisch interessierten Teilöffentlichkeiten und den Interpretationsmöglichkeiten der Historiker. Auch hierfür ließe sich über die Frage nach „Öffentlichkeit“ vielleicht feststellen, dass die Historiographie – wie die Briefe auch – nicht vordringlich etwas mit dem religiös motivierten „Investiturstreit“ zu tun hatte, zumal ja weder der Beginn noch das Ende des Investiturstreits mit den Frequenzen der Historiographie übereinstimmen; ab 1100 herrschten zwar noch jahrzehntelange Konflikte, doch schildert dies ausschließlich Ekkehard von Aura, eigentlich eine methodisch recht problematische Situation, wie sie ansonsten nur für die Zeit des 6.–8. Jahrhunderts vorliegt, wo schriftlich hergestellte Öffentlichkeit klein, die Fragen der Historiker aber umso größer sind. Doch ist dies ein anderes Thema.
Zur brieflichen Korrespondenz des Bischofs Hezilo von Hildesheim am Beginn des Investiturstreits Matthias Schrör Der Investiturstreit, so ist sich die gelehrte Welt einig, brachte eine bis dato unbekannte Art und Weise von Schriftlichkeit hervor. Zum einen ist hier der immense Anstieg in der Überlieferung schriftlicher Quellen ganz allgemein zu vermerken, zum anderen brachte der Konflikt um die Investitur ganz spezifische literarische Genres hervor: Zu nennen sind hier etwa politisch-kirchliche Traktate, oft nichts anderes als Pamphlete, öffentliche Rechtfertigungsschreiben, ja regelrechte Kampfschriften kursierten im Streit der päpstlichen Partei und ihrer Gegner. Geschichtsschreiber wie Lampert von Hersfeld, der Sachse Bruno oder Berthold von Reichenau und Bernold von Konstanz – ihre Namen stehen hier für viele – unterrichten uns in ihren historiographischen Werken, wenn auch nicht immer zuverlässig, von zahlreichen Details und Wegmarken des großen Konflikts um die Investitur, bei dem bekanntermaßen nicht lediglich um das Recht der Einsetzung ins Bischofsamt gerungen wurde, sondern hinter dem das weitaus bedeutendere gesamtkirchliche Reformprogramm stand, das man seit gut zehn Jahren unter der Begrifflichkeit der „papstgeschichtlichen Wende“ subsumiert1. Neben den politischen „Propagandaschriften“ und den Werken geschichtsschreibender Mönche hat sich eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Briefen erhalten, die eine besondere Berücksichtigung rechtfertigen2. Sie stammen in der Regel aus der Feder der maßgeblich politisch Handelnden selbst. Die in die Ereignisse unmittelbar involvierten Briefschreiber sind üblicherweise besser informiert als die im Kloster schreibenden Historiographen, aber eben umso mehr Partei und an einer tendenziösen Verzerrung der eigenen Position oder politischen Handlung interessiert. Vor diesem Hintergrund ist der Informationsgehalt dieser Schreiben stets kritisch zu begutachten. Da jedoch jeder der uns hier interessierenden Briefe Gegenstand des politischen Geschehens ist und seinen Wert in der Übermittlung 1 Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: HJb 122 (2002), S. 27–41. 2 Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., ed. Carl Erdmann (†), Norbert Fickermann, Hannover 1950, ND 2003 (MGH. Briefe d. dt. Kaiserzeit, 5).
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von für Absender und Empfänger relevanten Informationen erfährt, sind die in den Schreiben getroffenen Aussagen für den Historiker von höchster Bedeutung. Im Folgenden unternehme ich den Versuch, anhand der brieflichen Korrespondenz eines prominenten Reichsbischofs in der frühen Phase des Investiturstreits, etwa 1073 bis 1076, knapp darzulegen, welcher Art Informationen aus jenen Briefen ersichtlich ist, die unser Bild vom Konflikt zwischen König und Papst in Detailfragen ergänzen können. Ausdrücklich vorausgeschickt sei an dieser Stelle, dass ich mich nicht näher mit der Sprache, dem Stil oder dem Aufbau der Briefe auseinandersetzen werde. Wesentliches dazu wurde etwa von Bernhard Schmeidler und vor allem Carl Erdmann bereits gesagt3. Zum Jahre 1076 berichtet die Hildesheimer Chronik von der Beteiligung des Bischofs Hezilo von Hildesheim (1054–79) an der berühmten Wormser Absetzungssentenz an Papst Gregor VII. vom 24. Januar4. In der Abschrift des Absageschreibens innerhalb der von Carl Erdmann edierten Hildesheimer Briefsammlung (H 20) findet sich – anders als in weiteren Textzeugen – in der Adresse eine Namenliste, die u. a. Hezilo aufführt5. Die Hildesheimer Chronik unterrichtet uns, Hezilo habe das Synodalschreiben nur unter Todesangst (timore mortis) unterzeichnet6. Da er aber ein kluger Mann gewesen sei, habe er seine Unterschrift sogleich durch ein daruntergesetztes Tilgungszeichen (obelus) ungültig gemacht7. Auf dieses zunächst widersprüchlich erscheinende Verhalten Hezilos werden wir nach der Analyse weiterer Briefe noch zurückzukommen haben. Die Hildesheimer Chronik führt des Weiteren aus, Hezilo habe sich nach der Versammlung von Worms in Corvey von den Bischöfen Adalbero von Würzburg und Eilbert von Minden auc toritate apostolica vom päpstlichen Bann lösen lassen, in den er durch seine Beteiligung am Wormser Absageschreiben geraten war8. Darüber hinaus, so unsere Quelle, 3 Carl Erdmann, Studien zur Briefliteratur im elften Jahrhundert, Leipzig 1938 (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, 1) (grundlegend); vgl. allgemein: Bernhard Schmeidler, Über Briefsammlungen des früheren Mittelalters in Deutschland und ihre kritische Verwertung, in: Arsbok. Vetenskaps-Societeten i Lund (1926), S. 5–27; Rudolf Schieffer, Hans Martin Schaller, Briefe und Briefsammlungen als Editionsaufgabe, in: Mittelalterliche Textüberlieferungen und ihre kritische Aufarbeitung. Beiträge der Monumenta Germaniae Historica zum 31. Historikertag in Mannheim 1976, München 1978, ND 1982, S. 60–70. 4 Chronicon episcoporum Hildesheimensium, ed. Wilhelm Wattenbach, Hannover 1846, ND 1995 (MGH SS 7), S. 854. 5 Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 46–50, hier S. 47, Z. 17. 6 Chronicon (wie Anm. 4), S. 854, das Zitat ebd. Z. 30. 7 Chronicon (wie Anm. 4), S. 854, Z. 30f. 8 Chronicon (wie Anm. 4), S. 854, Z. 36–40.
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habe Hezilo fortan jeden Umgang mit weiterhin Exkommunizierten gemieden9. Mit dieser Nachricht verträgt es sich aufs Beste, dass Hezilo vom Frühjahr 1076 bis zu seinem Tod am 5. August 1079 nicht mehr am königlichen Hof Heinrichs IV. nachzuweisen ist10. Hezilo, vermutlich fränkischer Herkunft und ausgebildet an der damals noch jungen Bamberger Domschule, begegnet bereits unter Heinrich III. als Mitglied der Hofkapelle11. Anfang der 1050er Jahre stieg er zum Propst von St. Simon und Juda in Goslar und zum Kanzler für Italien auf12. 1054 wurde er als Nachfolger Azelins als Hildesheimer Bischof investiert13. Aus Hezilos brieflicher Korrespondenz haben sich einige bemerkenswerte Stücke erhalten, die einen detaillierteren Einblick in die Geschehnisse der Frühphase des Investiturstreits, insbesondere der Jahre 1073 bis 1076, erlauben. Zu betonen ist dabei der Umstand, dass Hezilo als Hildesheimer Oberhirte direkt in die Wirren des Sachsenaufstands gegen Heinrich IV. involviert und der so wichtige Ort Goslar innerhalb seiner Diözese zu finden war. Im Hildesheimer Bistum hat das Wirken Hezilos tiefe Spuren hinterlassen – nicht zuletzt noch heute erkennbar am romanischen sog. Heziloleuchter über dem Domaltar, den der Bischof stiftete. Er veranlasste auch den Neubau des 1046 abgebrannten Hildesheimer Doms, gründete das Moritz- und Kreuzstift und stattete diese Kirchen großzügig aus14. Weder in der Zeit Heinrichs III. noch in der Phase der Regentschaft für den noch unmündigen Heinrich IV. trat Hezilo politisch besonders hervor, als Intervenient in königlichen Diplomen begegnet er selten15. Der Hezilo feindlich gesinnte Chronist Lampert ist unser Hauptgewährsmann für die Ereignisse rund um den zweimaligen Zusammenstoß des Hildesheimers mit Abt Widerad von Fulda im sog. Goslarer Rangstreit, auf den hier nicht einzugehen ist16. Als Heinrich IV. das Osterfest 1070 in Hildesheim beging, kam es zwischen den milites regis et milites episcopi zu einer blutigen Auseinandersetzung, aus der die 9 Chronicon (wie Anm. 4), S. 854, Z. 36–40. 10 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 148. 11 Ulrich Mattejiet, Hezilo, in: LexMA 4 (1989), Sp. 2206; zu Hezilos Briefen insgesamt: Erdmann, Studien (wie Anm. 3), passim. 12 Mattejiet, Hezilo (wie Anm. 11), Sp. 2206. 13 Mattejiet, Hezilo (wie Anm. 11), Sp. 2206. 14 Mattejiet, Hezilo (wie Anm. 11), Sp. 2206. 15 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 120. 16 Lampert von Hersfeld, Annalen, ed. Oswald Holder-Egger, Hannover, Leipzig 1894 (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [38]), S. 81–84; vgl. dazu Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich IV. und Heinrich V., 7 Bde., Berlin 1890–1909, hier Bd.1, Berlin 1890, S. 657 und Bd. 2, Berlin 1894, S. 188; Tuomas Heik-
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Dienstmannen des Königs siegreich hervorgingen, Männer Hezilos gefangen setzten und in Ketten legten17. Inwieweit diese Geschehnisse das Verhältnis Hezilos zum jungen König beeinflussten, lässt sich nur schwer ermessen. Dass sich die Verbindung Hezilos zu Heinrich IV. nicht problemlos gestaltete, belegen zwei erhaltene Briefe des Hildesheimers an den Herrscher, von denen wir gleich kurz handeln werden. Doch zunächst wenden wir den Blick auf das einzig erhaltene Schreiben Hezilos an Papst Alexander II. (1061–73)18. Der – wie bei den Stücken der Hildesheimer Sammlung üblich – undatierte Brief hat eine Streitsache des Bischofs von Osnabrück zum Gegenstand. Dieser Osnabrücker Oberhirte wird in der aus dem 16. Jahrhundert stammenden Handschrift als „Alvernus“ aufgeführt, was mit Sicherheit eine Falschschreibung aus „Alvericus“ darstellt19. Alberich fungierte 1037–52 als Bischof von Osnabrück, kann hier also unmöglich gemeint sein20. Vielmehr fällt das Schreiben in die Amtszeit des Bischofs Benno (1068–88), vormals Hildesheimer Domscholaster und Dompropst und deshalb von Hezilo in diesem Brief als ecclesię nostrę filius aufgeführt21. Hezilo gibt an, vom Osnabrücker Bischof um Fürsprache in dessen causa22 aufgesucht worden zu sein; einer causa, zu der sich Hezilo gegenüber dem Papst nur vage äußert und dabei noch betont, dass die Bischöfe zu einer Beilegung der Streitsache nicht die Mittel besäßen. Bei der causa handelte es sich um den Osnabrücker Zehntstreit, d.h. die Revindikation der Zehnt ansprüche gegenüber den mächtigen Abteien Corvey und Herford. Offenkundig suchte Benno II. nach Mitteln und Wegen, durch Zehnteinnahmen die seelsorgerische Tätigkeit innerhalb der Osnabrücker Diözese zu gewährleisten, während – so Hezilo – zur Zeit noch „Volk, das Christo verloren geht“, zu beklagen sei23. Das Schreiben ist mit Carl Erdmann etwa ins Jahr 1072 anzusetzen, die Schreibweise des Namens Alvernus ein Versehen des Kopisten24. Da wir aus gesicherter anderer Quelle, nämlich dem Register Papst Gregors VII., von der Existenz des
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kilä, Das Kloster Fulda und der Goslarer Rangstreit, Helsinki 1998 (Annales Academiae Scientarum Fennicae. Humaniora, 298). Lampert, Annalen (wie Anm. 16), S. 112, das Zitat ebd. Z. 25; vgl. dazu Meyer von Knonau, Jahrbücher, 2 (wie Anm. 16), S. 7. Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 23, S. 54–56. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 55, Z. 13. Zum Versehen des frühneuzeitlichen Kopisten vgl. Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 122. Vgl. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 122. Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 23, S. 55, Z. 13. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 55, Z. 14. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 55, Z. 19f. Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 121f.
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Zehntstreits erst zum Jahre 1074 erfahren25, finden wir in diesem Brief Hezilos (H 23) den frühesten Beleg für den Konflikt, der bis in den Pontifikat Alexanders II. zurückreichen muss, der bekanntlich im April 1073 starb26. Hezilo kam der Bitte seines Amtsbruders, des „Sohnes unserer Kirche“, nach Fürsprache beim Papst nur halbherzig nach27. Im Klima des heraufziehenden Sachsenaufstands hatte ein diplomatisch veranlagter Bischof wie Hezilo auch noch jeden Grund, sich nicht eindeutig zu positionieren und zwischen die Fronten seines Amtsbruders und zweier Großklöster zu geraten, zumal er sich in Hildesheim im westlichen Teil Sachsens befand und die Initiatoren des Aufstandes gegen den Salierkönig v.a. im Ostteil zu finden waren (Werner von Magdeburg, Burchard von Halberstadt, Markgraf Dedi oder Hermann von Lüneburg)28. Hezilos Brief, in dem er auch eine persönliche Reise zum Papst in Aussicht stellte29, ist ein beredtes Zeugnis für die Tatsache, dass es bei aufziehenden Konflikten zweier oder mehr Parteien fast immer direkt oder indirekt Betroffene gibt, die ihre Position zunächst noch nicht zu erkennen geben wollen oder können. Da lediglich Lampert von Hersfeld – und dazu noch sehr unspezifisch und eventuell unzutreffend – von einer Beteiligung Hezilos am Sachsenaufstand des Jahres 1073 berichtet30 (alle weiteren Chronisten erwähnen Hezilo nicht), ist Hezilos politische Rolle viel schlüssiger im Schreiben an Alexander II. zu ersehen. Er befürchtete offensichtlich, bei einer deutlicheren Positionierung – etwa zugunsten Bennos von Osnabrück – in den sich abzeichnenden Konflikt verwickelt zu werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Brief Hezilos an den Bischof Burchard II. von Halberstadt (1059–88) (H 25)31, der wie Hezilo zuvor Propst des Stifts St. Simon und Juda in Goslar gewesen war32. In diesem Schreiben bat der Hildesheimer seinen Amtsbruder Burchard, auf dem bevorstehenden mar chiale colloquium widerspenstige und gebannte Hildesheimer Ministerialen in die Schranken zu weisen, und das ausdrücklich mit der Unterstützung durch den cog natus vobis archiepiscopus, womit Burchards Onkel Werner von Magdeburg gemeint war33. 25 Das Register Gregors VII., ed. Erich Caspar, 2 Bde., München 1920–1923 (MGH Epp. sel. 2,1, 2,2), hier 1, II, 25, S. 156f. 26 Georg Schwaiger, Alexander II., in: LexMA 1 (1980), Sp. 371f. 27 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 122f. 28 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 124f. 29 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 23, S. 55. 30 Lampert, Annalen (wie Anm. 16), S. 141f. 31 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 25, S. 59f. 32 Theodor Schieffer, Burchard II., in: LexMA 2 (1983), Sp. 943f. 33 Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 60, Z. 3f.
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Die Forschung hat bereits vor geraumer Zeit das erwähnte marchiale colloquium als Bezeichnung für die bekannte Versammlung von Hötensleben im Juli 1073 identifiziert34 und Carl Erdmann35 daran die Vermutung angeschlossen, dass Hezilo nicht nur nicht an dieser für die Formierung der sächsischen Opposition um Otto von Northeim so wichtigen Versammlung teilgenommen haben kann, sondern darüber hinaus gar nicht in die Verschwörungspläne gegen den König involviert gewesen sei, da er dann dieses Großtreffen nicht als eher unbedeutendes marchiale colloquium bezeichnet hätte, das seine Anwesenheit überhaupt nicht erforderte. Doch ist es plausibel anzunehmen, dass die Verschwörer um Otto von Northeim, Burchard von Halberstadt und Werner von Magdeburg den Hildesheimer Bischof – zu dem insbesondere Burchard regen Kontakt pflegte36 – über den wahren Hintergrund der Versammlung in Hötensleben bewusst täuschten bzw. im Unklaren ließen? Ich denke ja. Die lavierende Haltung Hezilos im Osnabrücker Zehntstreit ist zumindest ein Indiz, dass mit der Unterstützung des Hildesheimers in der sächsischen Sache nicht unbedingt zu rechnen war. Fassen wir zusammen: Bezieht sich das von Hezilo so genannte marchiale col loquium tatsächlich auf die Versammlung von Hötensleben, so zeigt uns das Schreiben an Burchard von Halberstadt, dass Hezilo aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu den Initiatoren des Sachsenaufstands zählte. Dass zumindest Heinrich IV. in der ersten Hälfte der 1070er Jahre an der politischen Haltung bzw. an der Königstreue des Hildesheimer Bischofs Zweifel hegte, legen die zwei Briefe aus dem Hildesheimer Corpus nahe, die mit vollem Recht als außergewöhnlich bezeichnet werden können (H 53 und 5)37. Der erste uns inter essierende Brief, H 53, nennt konkret weder Absender noch Empfänger, doch richtet er sich an den regis regum insigni vicarius38, worin Gerold Meyer von Knonau39 den Papst erkennen wollte. Jedoch hat Carl Erdmann40 völlig zu Recht eingewandt, dass es sich beim vicarius Dei vielmehr um den König, also Heinrich IV., handelt. In der Hannoverschen Briefsammlung befindet sich ein weiteres Stück, dass die Identifizierung mit der Person des Königs plausibel erscheinen lässt: In 34 Reg. Imp. III, 2,3, Nr. 640 mit einem Überblick der Forschungsliteratur zur Versammlung und zur Identifizierung der Örtlichkeit mit Hötensleben. 35 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 124. 36 Vgl. etwa Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 47, S. 91f., H(ezilo) an B(urchard v. Halberstadt), wohl i.J. 1074. 37 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 53, S. 99f., Nr. 5, S. 21–23. 38 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 53, S. 99, Z. 17. 39 Meyer von Knonau, Jahrbücher, 2 (wie Anm. 16), S. 281, Anm. 160. 40 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 131f.
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einem Schreiben Wilhelms von Hirsau an Hermann von Salm (H 18) heißt es wörtlich: vicem dei suscepistis41. Doch auch unser Stück H 53 enthält Formulierungen, die sich auf die Person des Königs beziehen: filius ecclesię; pater patrię; […] interpretare tu […] nomen tuum te ipsum regendo42. Der Absender, so ist sich die Forschung seit dem 19. Jahrhundert einig43, kann nur ein Reichsfürst sein. Verschiedentlich vermutete man Rudolf von Rheinfelden als Absender und gar Papst Gregor VII. als Empfänger des Briefes44. Aufgrund der Überlieferung des Schreibens in der Hildesheimer Briefsammlung und aufgrund stilistischer Übereinstimmungen lässt sich dieses Schreiben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls Hezilo von Hildesheim zuordnen45. Worum geht es? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, so vage und unspezifisch sind die Ausführungen des Schreibers, die klare Vorkenntnisse des Empfängers bezüglich des zu erörternden Gegenstands voraussetzen. Es muss also bereits im Vorfeld zu einem schriftlichen oder mündlichen Austausch zwischen Hezilo und dem König gekommen sein, über den sich aber keine weiteren Spuren erhalten haben. Hezilo berichtet in seinem Schreiben von einer geplanten Zusammenkunft, über deren Verhandlungspunkte er aber nichts wisse, doch sei klar, ut omnem controversiam iustitię respectus apud te determinet46. Dem offensichtlich vom Herrscher erbetenen Rat in der großen Streitfrage versucht sich Hezilo indes zu entziehen, weist als Motivation seines Handelns aber den Vorwurf der perfidia ausdrücklich zurück47. Zugleich mahnt er den König, die virtus, die lange ein leerer Name gewesen sei, durch sich selbst mit Leben zu füllen, sodass diese durch den Herrscher Lohn und Zuflucht erhalte ([…] ut virtus diu nomen inane per te quasi animata sibi in te et speret pręmium et polliceatur asilum […])48. Ist dies eine Anspielung auf die über den König im Umlauf befindlichen Gerüchte über dessen Privatleben49? Wie dem auch sei, bei der im Schreiben nur nebulös umschriebenen Kontroverse dürfte es sich mit ziemlicher Sicherheit um den Sachsenkrieg gehandelt 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 18, S. 41–43, das Zitat S. 41, Z. 31f. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 100. Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 131–133. Vgl. die ältere Literatur, aufgeführt und diskutiert bei Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 131–133. So bereits Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 131–133. Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 53, S. 100, Z. 5f. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 99, Z. 26. Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 100, Z. 14f. Zu den in der Forschung viel diskutierten Vorwürfen gegen Heinrich IV. vgl. zuletzt Gerd Althoff, Noch einmal zu den Vorwürfen gegen Heinrich IV. Genese, Themen, Einsatzfelder, in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen
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haben, in dem Hezilo stets eine zwischen den Fronten lavierende Haltung zeigte. Dies spricht für eine Datierung in die Jahre 1073 bis 1075. Hezilo gegenüber mag sich Heinrich IV. längere Zeit nachgiebig gezeigt haben, denn im Hildesheimer Bistum lag Goslar, eines der Reichszentren, Sitz des Stifts St. Simon und Juda und der Königspfalz, Nährboden und Personalreservoir für den Reichsepiskopat, die Region bedeutend aufgrund ihrer Rohstoff- und Silbervorkommen. Kein Zweifel: Heinrich IV. hatte allen Grund, mit Hezilo von Hildesheim gesondert zu verfahren als mit einem beliebigen anderen Reichsbischof. Die Nichterteilung des vom König erbetenen Ratschlags, von dessen Hintergrund wir nichts erfahren, erfolgt bei Hezilo mit dem Verweis auf die mangelnde Kenntnis der Sachlage50. Wer nichts weiß, der kann auch keinen Ratschlag erteilen. Grundsätzlich ähnlich argumentiert der Schreiber eines weiteren Briefes, den man seit den Forschungen Carl Erdmanns ebenfalls mit Hezilo identifiziert51. Hezilo wandte sich ganz offensichtlich erneut an Heinrich IV., und das Verhältnis zwischen Bischof und König scheint sich, sofern man diesen Brief H 552 nach dem zuvor erörterten H 53 datiert, stark verschlechtert zu haben. Der Empfänger des Briefes hatte dem Schreiber mit dem Entzug der Huld gedroht, ein Umstand, der Letzteren mit Sorge erfüllt. Der Inhalt des Schreibens ist überaus kryptisch und wohl nur dem Empfänger verständlich. Es ist von einer res amata die Rede, die zum Streitfall zwischen Bischof und König avancierte, ohne dass erkennbar ist, worum es sich dabei handelte53. Der König monierte den vertrauensvollen Umgang Hezilos mit einer nicht näher genannten Person, den der Herrscher mit Argwohn betrachtete54 – hier könnte es sich um Burchard von Halberstadt gehandelt haben, der zugleich enger Freund Hezilos55 und strenger Gegner Heinrichs IV. war. Nur am Rande sei erwähnt, dass Hezilo neben Burchard von Halberstadt auch noch mit dem streng königstreuen Erzbischof Liemar von Hamburg-Bremen einen engen freundschaftlich-kollegialen Kontakt pflegte (H 15)56. 69), S. 255–267 (online: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/vuf/article/ view/17900/11708, zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 50 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 53, S. 99. 51 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 133f. 52 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 5, S. 21–23. 53 Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 23, Z. 5. 54 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 5, S. 22. 55 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 47, S. 91f, H(ezilo) an B(urchard), wohl von 1074, hier S. 91, Z. 16f: Pręcordialiter et unice dilecto B. episcopo H. ille ex integro suus, quicquid unanimis amici intimus valet affectus. 56 Briefsammlungen (wie Anm. 2), Nr. 15, S. 33–35, mit der berühmten Bezeichnung Gregors VII. als periculosus homo durch Liemar.
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Doch zurück zu unserem Brief: Dort wird ein consilium erwähnt, dass der Empfänger eingefordert habe und das der Schreiber nicht zu erteilen wagt, da jede schriftliche Antwort „die andere Seite“ zu Gesicht bekommen könnte ([…] nequa quam ausim, ut quasi oculis alienis perarandum, quasi auribus alienis hauriendum, malefidis kartulis commendetur […])57. Es geht also um höchste Geheimhaltung. Es wäre überaus interessant zu erfahren, ob es in diesem oder einem ähnlich gelagerten Fall der brieflichen Geheimdiplomatie zu einem parallel verlaufenden Austausch schriftlicher und mündlicher Nachrichten kam. Doch leider lässt uns hier – wieder einmal – die Überlieferung im Stich. Die in H 5 zu erkennende Geheimhaltung lässt sich wohl nur schlüssig erklären, wenn der zentrale Gegenstand des Briefes die Stellung Hezilos zum Sachsenkrieg darstellt. Hezilo, der, wie wir bereits gehört haben, zwischen den Parteien stand, zog sich durch seine unentschiedene Haltung offenbar zusehends den Unmut des Königs zu. Im Sommer 1075 kam es schließlich zur Versöhnung des Hildesheimer Bischofs mit Heinrich IV.58, sodass wir das Schreiben H 5 wohl in die Jahre 1073/74 zu datieren haben. Im Januar 1076 sehen wir Hezilo dann an der Seite zahlreicher Reichsbischöfe die Wormser Absagesentenz unterschreiben. Trifft die eingangs erwähnte Schilderung der Hildesheimer Chronik zu und Hezilo machte seine Unterschrift durch einen Obelus kurzerhand ungültig, so fügt sich dieses Bild gut ein in das taktierende Verhalten des Hildesheimer Bischofs kurz nach Ausbruch des Sachsenkriegs. Wären wir alleine auf die urkundliche und historiographische Überlieferung zur Rolle Hezilos in der ersten Hälfte der 1070er Jahre angewiesen, hätten wir kaum Rückschlüsse auf die tatsächliche Haltung des Bischofs ziehen können. Erst der Glücksfall der erhaltenen Schreiben Hezilos verhilft uns dazu, Einzelfragen für das politische Geschehen im Reich in der frühen Phase des Investiturstreits zu erhellen. Es fällt dabei auf, dass die Briefe Hezilos in politisch brisanten Fällen wie dem Osnabrücker Zehntstreit oder dem beginnenden Sachsenkrieg einerseits von einer bemerkenswerten diplomatischen Zurückhaltung geprägt sind. Zugleich sind die Schreiben an Papst Alexander II. und Heinrich IV. in unterschiedlich hohem Maße gleichsam codiert, sodass ihr Inhalt nicht nur heutigen Historikern, sondern wohl bereits Zeitgenossen so manche Nuss zu knacken gab – nur eben nicht dem Empfänger.
57 Briefsammlungen (wie Anm. 2), S. 22, Z. 13–15. 58 Erdmann, Studien (wie Anm. 3), S. 134.
Streit ohne Streitschriften? Die englische Investiturproblematik im Spiegel der Briefsammlungen Lanfrancs und Anselms von Canterbury Roland Zingg
Vom Ende her betrachtet Am Palmsonntag, dem 19. April 1109, lag ein alter Mönch im Sterben: Anselm, Erzbischof von Canterbury, Primas von ganz England, seit 1494 als Heiliger verehrt und seit 1720 gar dem exklusiven Kreis der Kirchenlehrer zugerechnet. Als höchster Kirchenfürst Britanniens war er natürlich auch in diesen Momenten nicht allein, sondern hatte die Mönche von Christ Church, deren Abt er ja auch war, um sich. Einem unter diesen Mönchen, dem bekannten Chronisten Eadmer, verdanken wir einen Augenzeugenbericht: Illuxerat Dominica dies Palmarum, et nos pro more circa illum sedebamus. Dixit itaque ei unus nostrum, ‘Domine pater ut nobis intelligi datur, ad paschalem Domini tui curiam relicto secula vadis.’ Respondit, ‘Et quidem si voluntas ejus in hoc est volun tati ejus libens parebo. Verum si mallet me adhuc inter vos saltem tam diu manere, donec quaestionem quam de origine animae mente revolvo absolvere possem gratanter acciperem, eo quod nescio utrum aliquis eam me defuncto sit soluturus’ 1. 1 Eadmeri monachi Cantuariensis Vita Sancti Anselmi. The Life of St Anselm, Archbishop of Canterbury by Eadmer, ed. Richard W. Southern, London u. a. 1962 (Oxford Medieval Texts), c. 66, S. 141f. Der Palmsonntag dämmerte herauf, und wir saßen wie gewöhnlich um ihn herum. Deshalb [weil er krank war und immer schwächer wurde] sagte einer von uns zu ihm: ,Mein Herr und Vater, wie uns zu verstehen gegeben wurde, wirst Du an die österliche Kurie Deines Herrn gehen, nachdem Du diese Welt verlassen hast.‘ Er antwortete: ,Wenn dies in der Sache Sein Wille ist, so werde ich Seinem Willen gerne gehorchen. Wenn es Ihm aber lieber sein sollte, dass ich wenigstens noch so lange bei Euch bleibe, bis ich die Frage nach dem Ursprung der Seele, die ich mit mir herumtrage, lösen kann, würde ich es dankbar annehmen, weil ich nicht weiß, ob jemand diese Frage lösen wird, nachdem ich gestorben bin.‘ Sämtliche deutschen Übersetzungen in diesem Beitrag sind diejenigen des Verfassers.
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Es sollte Anselm nicht mehr vergönnt sein, diese letzte Frage seines Gelehrtenlebens zu beantworten. Zwei Tage später, am 21. April, starb er im Alter von etwa 76 Jahren friedlich im Kreise seiner Mönche. Es ist nicht unbedingt das Ende, das man für einen Mann erwarten würde, der unter zwei verschiedenen Königen Jahre im Exil zugebracht hatte und bis zu seinem Tode mit dem Elekten von York, dem zweiten Mann in der Hierarchie der englischen Kirche, in einem heftigen Streit lag2. Das gilt insbesondere, wenn man im Kontrast den bitteren Tod Gregors VII. eine Generation zuvor3 oder gar das blutige Ende Thomas Beckets gut ein halbes Jahrhundert später betrachtet4. Hatte Anselm einfach nur mehr Glück, war er der geschicktere Politiker oder gibt es andere Erklärungen dafür, warum ihm ein ähnliches Schicksal erspart blieb? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sei darauf hingewiesen, dass die eben zitierte Quelle Anselm in zwei Punkten auf eine Art charakterisiert, die wir in seinem Gesamtwerk und insbesondere auch in seinen Briefen bestätigt finden: Erstens war sein Erkenntnisinteresse ganz offensichtlich lebenslang und entsprang einem tiefen inneren Antrieb. So fromm er auch sein mochte, war ihm zweitens in dieser Hinsicht auch eine gewisse Eitelkeit eigen, wenn er nur sich selbst die Lösung einer bestimmten Frage zutraute. Wie schon angetönt, herrschte während Anselms sechzehnjährigem Pontifikat an Streit im Allgemeinen und an Investiturstreitigkeiten im Besonderen durchaus kein Mangel; werfen wir also einen Blick auf diese Konflikte und die Art, wie sie ausgetragen wurden. Hierzu ist es notwendig, zunächst einmal die Bühne auszumessen, welche Anselm 1093 betrat. Das bedeutet konkret, dass wir uns mit seinem 2 Anselm stand schon mit Gerhard v. York in einem schwierigen Verhältnis, was sich sehr schön an einigen Stücken aus Anselms Briefsammlung zeigt: S. Anselmi opera omnia, ed. Franciscus Salesius Schmitt, Edinburgh 1938–1961, Briefe Nr. 238, S. 145f., 250, S. 161, 253, S. 164f., 255, S. 166–168, 256, S. 168f., 326, S. 257f., 363, S. 304f., 372, S. 315, 373, S. 316f., 440, S. 387f. Nachdem Gerhard gestorben war, akzentuierten sich die Probleme bezüglich des alten Streits um die Primatialrechte mit dessen Nachfolger Thomas gar noch, was innerhalb eines Jahres zu einem Wechsel von etlichen, teilweise in sehr scharfem Ton verfassten Briefen führte (Nr. 443, S. 390, 444, S. 391f., 445, S. 392f., 453, S. 401f., 455, S. 404, 456, S. 404f., 472, S. 420). 3 Vgl. hierzu Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 327–331. 4 Thomas Beckets Tod gehört sicherlich zu den berühmtesten Morden des Mittelalters, der bezüglich öffentlicher Aufmerksamkeit höchstens noch mit Königsmorden vergleichbar ist. Dies dürfte selbstverständlich auch dazu beigetragen haben, dass wir heute so präzise und anschaulich über die Details der Bluttat informiert sind; vgl. Amalie Fössel, Thomas Becket. Canterbury, 29. Dezember 1170, in: Michael Sommer (Hg.), Politische Morde. Vom Altertum bis zur Gegenwart, Darmstadt 2005, S. 109–116, hier S. 109.
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unmittelbaren Amtsvorgänger Lanfranc zu befassen haben, um Anselms Handeln und dessen Spezifika erkennen zu können.
Lanfranc und Wilhelm I.: Für England, gegen jede Einflussnahme von außen Selbstverständlich spielte die Eroberung Englands durch die Normannen im Jahre 1066 nicht nur in politischer und sozialer Hinsicht eine enorm wichtige Rolle, sondern auch für Status und Entwicklung der englischen Kirche. Die Bedeutung dieses Ereignisses und seine Auswirkungen auf die Kirche gilt es hier kurz zu umreißen. Besieht man sich das Personal des englischen Episkopats, so ist keine jähe Zäsur feststellbar. Die angelsächsischen Bischöfe blieben in der Regel im Amt und wurden erst bei ihrem Ableben durch normannische Vertrauensleute Wilhelms I. ersetzt5. Das galt zunächst auch für Stigand, den letzten angelsächsischen Erzbischof von Canterbury. Der war schon seit seiner Erhebung 1052 wegen kanonisch unhaltbarer Vorgänge bei eben dieser ein Problem gewesen6. Darum sicherlich wissend, bemühte er sich jahrelang gar nicht um die päpstliche Bestätigung seiner Metropolitanrechte, da ihm das Unterfangen aussichtslos erscheinen musste; erst als mit der Wahl Benedikts X. ein neuerliches Papstschisma eintrat, unternahm er den erfolgreichen Versuch, von diesem auf Unterstützung angewiesenen Prätendenten die übliche Anerkennung zu erlangen7. Der Nutzen erwies sich freilich als gering, da Benedikt X. sich gegen Nikolaus II. nicht durchzusetzen vermochte; dieser wurde, wohl auf Betreiben Hildebrands (nachmalig Gregor VII.), sogar auf der Fastensynode 1060 in einem demütigenden Verfahren, das unangenehm an die berüchtigte Leichensynode gemahnte, formell seiner Ämter entkleidet und verurteilt8. Die von ihm ausgestellten Bestätigungen und Verleihungen verloren dadurch jeglichen Wert. Schlimmer noch als die Umstände der Amtseinsetzung Stigands war jedoch die Art und Weise seiner Regierung: Weder war er in der Lage, die englische Kirche 5 Vgl. Veronica Ortenberg, The English Church and the Continent in the Tenth and Ele venth Centuries. Cultural, Spiritual, and Artistic Exchanges, Oxford 1992, S. 233f. 6 Vgl. Nicholas P. Brooks, The Early History oft he Church of Canterbury. Christ Church from 597 to 1066, Leicester 1984 (Studies in the Early History of Britain), S. 303f. 7 Vgl. Frank Merry Stenton, Anglo-Saxon England (The Oxford History of England 2), Oxford 31971 (The Oxford History of England 2), S. 465f. 8 Vgl. Dieter Hägermann, Das Papsttum am Vorabend des Investiturstreits. Stephan IX. (1057–1058), Benedikt X. (1058) und Nikolaus II. (1058–1061), Stuttgart 2008 (Päpste und Papsttum 36), S. 165–167.
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durch Macht und Entschlossenheit zu führen, noch eignete er sich durch seine Amts- und Lebensführung als persönliches Beispiel und Vorbild – er war als Primas schlicht und einfach ein Totalausfall9. Es ist eigentlich erstaunlich, dass ihn der neue König nicht gleich nach der Eroberung aus dem Amt entfernte, zumal Stigand 1052 bei der Absetzung und Vertreibung Roberts von Jumièges und der normannischen Bischöfe in England mitgespielt hatte, in der für ihn persönlich günstigsten Interpretation der Ereignisse also zumindest eine Schachfigur gegen die Normannen gewesen war10. Ohne dass ein besonderer Anlass ersichtlich wäre, folgte dann einige Jahre später aber doch Stigands Absetzung. Wilhelm I. hätte selbstverständlich die Möglichkeit gehabt, diese einfach mit Gewalt durchzudrücken. Doch genau dies tat er nicht. Es ist noch nicht einmal sicher, ob er oder Papst Alexander II. die treibende Kraft bei der Einberufung des Legatenkonzils von 1070 war, welches u. a. Stigand absetzte11. Wie auch immer: Von Streit zwischen König und Papsttum konnte hier also gewiss noch keine Rede sein. Und als Stigand erst einmal abgesetzt war, da konnte Wilhelm I. seinen Wunschkandidaten als Primas von England einsetzen: Lanfranc, den Prior des normannischen Klosters Le Bec, hatte er 1063 zum Abt seiner Gründung und späteren Grablege St-Étienne in Caen gemacht12 und war mit dessen Amtsführung offenbar so zufrieden, dass er den alten Vertrauten 9 Es muss nicht alles wahr sein, was Stigand nachgesagt wurde. Zumindest konnte man ihm aber wirkungsvoll Bereicherungsabsichten bei Vakanzen in der englischen Kirche unterstellen; und weil er sein ursprüngliches Bistum Winchester behielt, mithin also ein Pluralist war, sind diese Vorwürfe auch nicht völlig unglaubwürdig; vgl. Brooks, Early History (wie Anm. 6), S. 305. Aus historischer Perspektive war das sicher alles andere als kluges politisches Verhalten, aber man darf nicht vergessen, dass er es dennoch schaffte, seine Position 18 Jahre lang zu halten. 10 Zu den Vorgängen von 1051/1052 vgl. Brooks, Early History (wie Anm. 6), S. 303f. 11 Nach der Eroberung Englands gestand Wilhelm I. Stigand an seinem Hofe den ihm gebührenden Platz zu; vgl. Herbert E. J. Cowdrey, Lanfranc, the Papacy, and the See of Canterbury, in: Giulio D’Onofrio (Hg.), Lanfranco di Pavia e l’Europa del secolo XI nel IX centenario della morte (1089–1989), Rom 1993, S. 439–500, hier S. 454f. Deshalb sieht Stenton, Anglo-Saxon England (wie Anm. 7), S. 669 hinter der Absetzung von 1070 eine päpstliche Initiative. Durchaus wahrscheinlich ist die vorsichtige Annahme, dass Wilhelm I. durch die Schonung Stigands den angelsächsischen Episkopat für die Festigung seiner Herrschaft zu gewinnen hoffte (vgl. Hanna Vollrath, Der Investiturstreit begann im Jahr 1100. England und die Päpste in der späten Salierzeit, in: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, S. 217–244, hier S. 222f.). Eine Stütze erfährt diese Deutung in der bereits erwähnten Tatsache, dass der Eroberer mit Ausnahme des Legatenkonzils von 1070 angelsächsische Bischöfe und Äbte grundsätzlich nicht aus ihren Ämtern entfernte; vgl. Ortenberg, English Church (wie Anm. 5), S. 233f. 12 Vgl. Frank Barlow, The English Church 1066–1154, London 1979, S. 60.
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nun 1070 gegen dessen Widerstand, aber mit der Unterstützung Papst Alexanders II. ins höchste Kirchenamt Englands hievte, das dieser bis zu seinem Hinschied 1089 bekleiden sollte13. Aus heutiger Perspektive fühlt man sich durch diese Ausgangslage natürlich frappant an die so unglückselige Konstellation zwischen Thomas Becket und Heinrich II. knapp ein Jahrhundert später erinnert, aber im Gegensatz zu seinem Urenkel mit dessen Kanzler sollte Wilhelm I. mit Lanfranc keine bösen Überraschungen erleben14. Vielmehr war Lanfranc seinem König ein treuer Gefolgsmann und nahm bei längerer Abwesenheit des Herrschers, wie sie bei den Anglonormannen aus der politischen und geographischen Natur ihrer verschiedenen Herrschaftsgebiete häufiger erwuchs, zeitweise faktisch die Stellung eines Reichsverwesers ein. Dass sich Lanfranc in weltlichen Angelegenheiten auch selbst als Vasall des Königs verstand, geht sehr klar aus der salutatio zweier Schreiben an Wilhelm I. aus dem Jahre 1075 hervor, in denen er sich wörtlich als fidelis suus L.15 bezeichnet. Diese beiden und ein weiterer Brief zeigen Lanfranc als Verantwortlichen für militärische Operationen gegen Feinde des Königs und zeugen davon, wie politisch er diese Rolle auch praktisch interpretierte16. Selbst bei großzügiger Auslegung gehörte dies gewiss nicht zu den vorrangigen Pflichten eines Erzbischofs, sondern war Teil einer rein weltlichen Rolle Lanfrancs innerhalb des Königreichs. Die erwähnten Briefe sind, wie dies den Regelfall darstellt, nicht einzeln überliefert, 13 Zu Lanfrancs Widerstand gegen die Erhebung zum Erzbischof vgl. Margaret Gibson, Normans and Angevins, 1070–1220, in: Patrick Collinson u. a. (Hg.), A History of Canterbury Cathedral, Oxford 1995, S. 38–68, hier S. 38f. mit Anm. 3. Aus Lanfrancs eigener Korrespondenz erhellen die Umstände, warum er diesen Widerstand schließlich gezwungenermaßen aufgab: Zwei päpstliche Legaten in der Person Bischof Ermenfrieds von Sitten und Kardinal Huberts hatten ihm dies kraft apostolischer Autorität befohlen; The Letters of Lanfranc, Archbishop of Canterbury, ed. Helen Clover, Margaret Gibson, Oxford 1979, Brief Nr. 1, S. 30–34. 14 Lanfrancs Macht hatte gewiss Grenzen und die Gunst des Königs war auch ihm nicht ohne Weiteres auf alle Zeiten sicher. Insgesamt bleibt aber schon die Feststellung, dass Lanfranc mit Wilhelm I. über weite Strecken in bestem Einvernehmen stand; vgl. Margaret Gibson, Lanfranc of Bec, Oxford 1978, S. 150–161. 15 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Briefe Nr. 34 u. 35, S. 124–126. 16 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Brief Nr. 36, S. 126. Lanfranc teilt hier im Spätjahr 1075 Bischof Walcher von Durham im Namen des Königs mit, dass er seine Burg in Erwartung der anrückenden Dänen mit Männern, Waffen und Vorräten bestücken solle. Dass er im Namen des Königs spricht, wird nicht nur anhand des Textes klar, sondern geht auch aus der kirchlichen Struktur Englands hervor: Der Bischof von Durham war der einzige Suffragan des Erzbischofs von York. In seiner Funktion als Erzbischof von Canterbury hätte Lanfranc auf ihn keinen direkten Zugriff gehabt, wohl aber wenn er als Vertreter des Königs einen königlichen Vasallen zum Handeln anwies.
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sondern Teil einer Briefsammlung. Solche Briefsammlungen gelten ja nicht zu Unrecht als Fundgruben, wenn man sich für Streitschriften und Polemiken aller Art interessiert. Was aber wird man diesbezüglich von der Briefsammlung eines Mannes erwarten dürfen, der die meiste Zeit in vorzüglichem Einvernehmen mit seinem König stand? Nun, vielleicht ist die Ausbeute doch reicher, als man im ersten Moment vermuten würde. Um die einzelnen Briefe in Lanfrancs Sammlung verstehen zu können, muss man sie im Gesamtkontext der Sammlung sehen. Diese nimmt sich mit 61 Stück für eine Amtsdauer von 19 Jahren auf den ersten Blick relativ bescheiden aus. Ihre Zusammenstellung unterlag mit Sicherheit einer starken Selektion, wie wir an einigen Punkten anhand anderer Sammlungen nachprüfen können17. Dennoch ist sie allein schon deshalb von großer Bedeutung, weil es sich um die erste überhaupt erhaltene Briefsammlung eines englischen Bischofs handelt. Die Forschung ist indes uneins in der Frage, wann und von wem diese angelegt wurde. Aus inhaltlichen Gründen muss sie mit Sicherheit noch vor 1100 entstanden sein und die Ausgangsbasis dürfte das reichhaltige Archiv von Christ Church in Canterbury gewesen sein18. Die These, wonach die Briefsammlung während der langen Sedisvakanz zwischen dem Tode Lanfrancs 1089 und Anselms Amtsantritt 1093 entstand, kann in meinen Augen die größte Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen19. Der Inhalt orientiert sich stark an Rechtsgeschäften und dokumentiert vorrangig, welche Ansprüche Canterbury unter Lanfranc durchzusetzen vermochte. Das spricht doch sehr für den Versuch einer Absicherung in unsicheren Zeiten, wie sie Canterbury und Christ Church während der Sedisvakanz unter der Herrschaft Wilhelms II. durchmachten. Eine auf propagandistische Wirkung bedachte Streitschriftensammlung war dies also gewiss nicht. Doch trotz des ausgeprägt juristischen Charakters der Briefsammlung Lanfrancs zeichnen sich an einigen Stellen schon sehr genau die sachlichen Bruchlinien ab, entlang derer die erweiterten Investiturstreitigkeiten in England wenig später verlaufen sollten. Diese verliefen hier im Unterschied zu später allerdings nicht zwischen König und Erzbischof, sondern zwischen diesen beiden auf der einen und jeweils anderen Parteien auf der Gegenseite. Ein besonders schönes Beispiel hierfür ist der Brief, den Lanfranc zwischen 1080 und 1085 an Hugo Candidus, einen Legaten des Gegenpapstes Clemens III., schickte. Dieser 17 Vgl. The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), S. 183f. 18 Vgl. The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), S. 10f. 19 Vgl. Roland Zingg, Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070–1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte, Köln u. a. 2012 (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 1), S. 112–117.
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hatte ganz offensichtlich in einem nicht erhaltenen Schreiben sein Ansinnen mitgeteilt, nach England zu kommen, was Lanfranc ziemlich schroff abwies. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung: Während er im ersten Teil seiner Antwort noch ausführt, dass man gegenwärtig noch nicht wissen könne, wer denn nun der richtige Papst sei, und Hugo für dessen Schmähungen Gregors VII. tadelt, ist der eigentliche Hauptpunkt extrem knapp gefasst: Non laudo ut in Anglicam terram uenias, nisi a rege Anglorum licentiam ueniendi primus accipias20. Nach Meinung des Primas von England ist es also der englische König, der über den Besuch von Legaten auf der Insel zu befinden hat! Es geht nicht etwa darum, dass Hugo als Legat des Gegenpapstes der Besuch verweigert würde, davon ist keine Rede. Vielmehr akzeptiert hier Lanfranc, dass der König über den Kontakt des englischen Klerus zur Kurie verfügt. Die Position ist deshalb so bemerkenswert, weil sie bereits unter der Regierung Anselms zu erheblichen Problemen führen sollte. Noch aber war sie politisch haltbar, da das Papsttum vom Schisma geschwächt war und keiner der Prätendenten es sich leisten konnte, einen so mächtigen Fürsten wie Wilhelm I. zu vergraulen, der zudem den höchsten kirchlichen Würdenträger seines Reiches auf seiner Seite wusste. Zeugnis dieser einmütigen Linie von König und Erzbischof gegenüber dem Papsttum ist auch ein aufschlussreiches Briefpaar an Papst Gregor VII.: Der Papst hatte von Wilhelm I. offensichtlich verlangt, den Peterspfennig zu bezahlen und ihm einen Treueid zu leisten: Hubertus legatus tuus religiose pater ad me ueniens ex tua parte me admonuit quati nus tibi et successoribus tuis fidelitatem facerem, et de pecunia quam antecessores mei ad Romanam aecclesiam mittere solebant melius cogitarem. Vunum admisi, alterum non admisi. Fidelitatem facere nolui nec uolo, quia nec ego promisi nec antecessores meos antecessoribus tuis id fecisse comperi.21 Die Anerkennung der päpstlichen Forderung verbot sich nach normannischem Herrschaftsverständnis selbstredend, aber die Formulierung der Ablehnung lässt dennoch aufhorchen. Allein schon die lapidare Wortwahl des Eroberers, er hätte zu einem solchen Treueid noch nie Lust gehabt und verspüre auch jetzt keine, muss 20 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Brief Nr. 52, S. 164. 21 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Brief Nr. 39, S. 130–132: Dein Legat Hubert, Hei liger Vater, kam in Deinem Auftrag zu mir und ermahnte mich, Dir und Deinen Nachfolgern die Treue zu geloben und besser an das Geld zu denken, das meine Vorgänger an die Römische Kirche zu schicken pflegten. Das eine habe ich gestattet, das andere nicht. Die Treue geloben wollte ich nicht und will ich auch jetzt nicht, weil ich das nicht versprochen habe und es mir auch nicht offensichtlich ist, dass meine Vorgänger sie den Deinen gelobt hätten.
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für Gregor VII. ein regelrechter Affront gewesen sein, auch wenn die sich auf beide päpstlichen Anliegen beziehende historische Argumentation für sich allein genommen durchaus korrekt ist. Wenn man nun aber glaubt, die Zahlung des Peterspfennigs wäre zumindest ein kleiner Versuch gewesen, sich mit Gregor VII. wenigstens halbwegs gut zu stellen, sieht man sich sogleich eines Besseren belehrt: Pecunia tribus ferme annis in Gallis me agente neglegenter collecta est. Nunc uero diuina misericordia me in regnum meum reuerso quod collectum est per prefatum legatum mittitur, et quod reliquum est per legatos Lanfranci archiepiscopi fidelis nostri cum opportunum fuerit transmittetur22. König Wilhelm I. zieht sich hier persönlich zunächst mit einer ziemlich dürftigen Ausrede aus der Verantwortung für die aufgelaufenen Rückstände, um dem Papst im gleichen Atemzug zu erklären, er schicke ihm, was gerade da sei, und den Rest werde er dann bei passender Gelegenheit erhalten. Das ist sicher nicht die Art, wie man mit einem als gleichwertig respektierten Akteur auf der politischen Bühne umgeht. Der Versuch, in dieser Sache über Lanfranc auf den König einzuwirken, scheiterte ziemlich kläglich schon am nur notdürftig bemäntelten Unwillen des Erzbischofs23. Es spricht Bände, dass die königliche Zurückweisung der päpstlichen Ansprüche der einzige Brief des englischen Königs ist, der in Lanfrancs Briefsammlung aufgenommen wurde. Zusammen mit dem Brief Lanfrancs an Gregor VII. handelt es sich um den Versuch, sich von direkterer päpstlicher Einflussnahme möglichst abzugrenzen – das ursprünglich gute Verhältnis Lanfrancs zu Hildebrand/ Gregor VII. hatte sich offensichtlich abgekühlt und war im Sommer 1080 keines�wegs mehr ungetrübt; wie das Schreiben des Erzbischofs belegt, hatte ihm der Papst offenbar vorgeworfen, der Römischen Kirche und ihm gegenüber nicht mehr in gleicher Weise zugeneigt zu sein, wie er das in der Zeit als Abt von St-Étienne in Caen war24. So lange sich König und Primas einig waren, stellte dies eine für beide 22 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Brief Nr. 39, S. 132: Beinahe drei Jahre lang, während derer ich in Frankreich beschäftigt war, wurde das Geld nachläßig eingezogen. Nun aber, da ich durch Gottes Barmherzigkeit in mein Reich zurückgekehrt bin, schicke ich Dir das, was eingezogen wurde, durch besagten Legaten. Und den Rest schicke ich Dir durch die Legaten Erzbischof Lanfrancs, unseres Gefolgsmannes, sobald es sich als günstig erweisen wird. 23 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Brief Nr. 38, S. 128–130. 24 The Letters of Lanfranc (wie Anm. 13), Brief Nr. 38, S. 128–130: In quarum fere omni con textu paterna me dulcedine reprehendere studuistis, quod in episcopali honore positus sanctam Romanam aecclesiam uosque ob eius reuerentiam minus diligam quam ante ipsius honoris susceptionem diligere quondam solebam, presertim cum apostolica sedis auctoritate ad ipsius apicem honoris me peruenisse non dubitem, nec quenquam dubitare existimem.
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günstige Position dar, denn sie sicherte natürlich ihre eigene Macht über die englische Kirche. Abgerundet wird dieser Eindruck, wenn man sich vor Augen führt, welche Position Lanfranc bezüglich besitzrechtlicher Fragen und insbesondere des Privilegium fori einnahm – also genau die Frage, welche den Streit zwischen Thomas Becket und Heinrich II. 1163/64 eskalieren lassen sollte. Für Lanfranc war es noch völlig klar, dass ein Bischof, der zugleich königlicher Vasall war, in seiner Eigenschaft als Lehnsmann des Königs sich auch vor dem Königsgericht zu verantworten hatte. Er sah noch kein Problem darin, dass eine Person zwei Rechtssystemen zugehörig sein konnte. Wenn ein Bischof keine Lust hatte, sich den königlichen Anweisungen zu fügen, dann sollte er die vom König erhaltene Burg eben zurückgeben25.
Vom Tode Lanfrancs (1089) bis zum Tode Wilhelms II. (1100): Ein persönlicher Konflikt ohne Investiturstreit 1093 folgte Anselm nun nach vierjähriger Sedisvakanz seinem alten Lehrer Lanfranc als Erzbischof von Canterbury nach. Er trat damit in ein System ein, das de facto noch immer die volle Verfügungsgewalt des Königs über die Kirche kannte. Und dieser Eintritt erfolgte mit Wilhelm II. unter einem Herrscher, der sich im Zusam� menhang mit der Kirche vornehmlich für die Frage interessierte, wie er sich deren finanzielle Ressourcen aneignen konnte26. Das waren alles andere als gute Startbedingungen für den brillanten, aber weltabgewandten Denker. Der Beginn seines Pontifikats verlief denn auch mehr als schwierig: Er wollte vom König die Erlaubnis, ein Reformkonzil zu veranstalten. Als Hauptthemen nannte er diesem zwei im damaligen Diskurs übliche Probleme und deren Bekämpfung: Simonie und Sodomie. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Anselm nur das Beste im Sinn hatte und ehrlich überzeugt war, dies seien die Übel, die es vorrangig zu bekämpfen gelte. Eine politisch kluge Wahl war das aber gewiss nicht, denn auf beiden Feldern musste sich Wilhelm II. persönlich angegriffen fühlen27. Damit wäre beiläufig auch gleich die Frage beantwortet, ob Anselm in seinen Anfängen als Primas ein geschickter Politiker war, wie
25 Zur Haltung Lanfrancs im Streit zwischen König Wilhelm I. und Wilhelm von Calais vgl. Herbert E.J. Cowdrey, Lanfranc. Scholar, Monk, and Archbishop, Oxford 2003, S. 219– 224. 26 Vgl. George Garnett, Conquered England. Kingship, Succession, and Tenure, 1066– 1166, Oxford 2007, S. 120–123. 27 Vgl. Walter Fröhlich, The Letters of Saint Anselm of Canterbury 1, Kalamazoo 1990 (Cistercian Studies Series), S. 10f.
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man das für Lanfranc gewiss annehmen darf28. Wie zu erwarten, verweigerte der König denn auch die Bewilligung und er sollte mit seinem Primas bis zu seinem Tod im Jahre 1100 nie zu einer funktionierenden Zusammenarbeit finden. 1097 hatte Anselm genug von der königlichen Verweigerungshaltung und kündigte eine Reise nach Rom an, die Wilhelm umgehend verbot und ihm angesichts seines Ungehorsams die Wiedereinreise nach England verunmöglichte29. Doch von diesem ganzen Streit zeugt nicht ein einziger der 475 Briefe, die uns Anselm hinterlassen hat – notabene die bis dahin größte Briefsammlung des Mittelalters. Wilhelm II. kommt als Korrespondenzpartner schlicht nicht vor. Streit herrschte zwischen den beiden ganz gewiss, aber er brachte keine Schriften hervor. Als Wilhelm im Jahre 1100 auf einem Jagdausflug das Schicksal in Form eines wohl verirrten Pfeils ereilte30, gelang es seinem jüngeren Bruder Heinrich, durch rasches und entschlossenes Handeln den Ansprüchen des ältesten Bruders Robert zuvorzukommen und sich zum König von England krönen zu lassen.
Heinrich I. und Anselm: Ein unpersönlicher Investiturstreit Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Herrschers war es, den exilierten Primas wieder ins Land zu rufen. Der kam – und mit ihm der vergleichsweise kurze Inves28 Anselm konnte mit Sicherheit politisch denken, vgl. Thomas Michael Krüger, Persönlichkeitsausdruck und Persönlichkeitswahrnehmung im Zeitalter der Investiturkonflikte. Studien zu den Briefsammlungen des Anselm von Canterbury, Hildesheim 2002 (Spolia Berlinensia 22), S. 46. Aber es gab für ihn ganz offensichtlich wichtigere Punkte bei seinen Entscheidungen als die politische Opportunität oder auch nur Machbarkeit. So gesehen halte ich ihn mit der älteren Forschung (vgl. insbesondere Richard William Southern, Saint Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1990, S. 231) zumindest in seinen frühen Jahren als Erzbischof für politisch unbedarft. Allerdings, und dies in Abgrenzung zur älteren Forschung, nicht, weil es ihm an den Fähigkeiten gemangelt hätte, sondern weil er nicht willens war, das Spiel auf diese Weise zu spielen. 29 Vgl. hierzu Frank Barlow, William Rufus, London 1983, S. 373–376 und Sally N. Vaughn, Anselm of Bec and Robert of Meulan. The Innocence of the Dove and the Wisdom of the Serpent, Berkeley, Los Angeles 1987, S. 198–203. 30 Für einen Mord hätten zwar etliche Leute ein Motiv gehabt, aber es fehlt schlicht jeder Hinweis darauf, während Unfälle dieser Art nicht ungewöhnlich waren, vgl. zusammenfassend Charles Warren Hollister, The Strange Death of William Rufus, in: Speculum 48 (1973), S. 637–653. Jüngst wurde zwar wieder eine Mordthese vertreten, welche die Verschwörer im kirchlichen Umfeld Anselms oder gar Paschalis II. sieht – Beweise konnten aber auch hier keine vorgelegt werden, vgl. Sally N. Vaughn, Archbishop Anselm, 1093–1109. Bec Missionary, Canterbury Primate, Patriarch of Another World, Farnham, Burlington 2012 (The Archbishops of Canterbury Series), S. 123.
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titurstreit in England. Anselm mochte Heinrich I. nämlich keinen Lehnseid für das Erzbistum Canterbury leisten31. Das war neu und kann nur als Ironie der Geschichte bezeichnet werden. Zwar war Anselm nie der kanonistisch ungebildete Schöngeist, als den man ihn bisweilen darzustellen suchte32. Bei aller Schärfe des Verstandes dominierte in seinen Charakterzügen aber doch die Milde, er war kein rigoroser Dogmatiker. Sein Interesse galt intellektuellen Debatten – persönlichem Streit ging er nach Möglichkeit aus dem Weg. Doch hier konnte er nach eigenem Empfinden die Konfrontation nicht mehr vermeiden: Während seines Exils hatte er in Italien Konzile besucht und dort aus dem Mund des Papstes selbst das Verbot der Laieninvestitur und der Huldigung gegenüber Laien gehört, ja er hatte diesen Verboten sogar selber zugestimmt33, auch wenn Heinrich I. das nicht verstehen konnte und wollte. Hatte Anselm sich 1093 noch von Wilhelm II. investieren lassen, so weigerte er sich 1100 standhaft, Heinrich den Handgang zu leisten34. Darüber kam es zwischen König und Erzbischof zum Zerwürfnis. 1103 reiste Anselm an die Kurie, um den Fall dem Papst persönlich vorzutragen. Zwar unterstützte dieser die Position Anselms deutlich, aber sein in sehr moderatem Ton abgefasstes Schreiben an Heinrich I. verfehlte die erhoffte Wirkung35. Und so wurde die Romreise Anselms zu dessen zweitem Exil, das sich bis 1106 hinzog. Diese kurze Phase, welche mit der Weigerung Anselms, Canterbury als königliches Lehen anzunehmen, im Jahr 1100 begann und mit dem Konkordat von London 1107 bereits ihren Abschluss fand, bezeichnete Hanna Vollrath als den englischen Investiturstreit36. Damit liegt sie gewiss richtig, wenn man eine enggezogene Definition des Terminus wählt. Verglichen mit den 31 Vgl. Charles Warren Hollister, St Anselm on Lay Investiture, in: Reginald Allen Brown (Hg.), Anglo-Norman Studies 10. Proceedings of the Battle Conference 1987, Woodbridge 1988, S. 145–158, hier S. 149. 32 Vgl. Mark Philpott, „In primis…omnis humanae prudentiae inscius et expers putaretur“. St Anselm’s Knowledge of Canon Law, in: David E. Luscombe, Gillian Rosemary Evans (Hg.), Anselm – Aosta, Bec and Canterbury. Papers in Commemoration of the Nine-Hundredth Anniversary of Anselm’s Enthronement as Archbishop, 25 September 1093, Sheffield 1996, S. 94–105, hier S. 98f. 33 Vgl. Hollister, St Anselm on Lay Investiture (wie Anm. 31), S. 150–156. 34 Anselms Weigerung, sich den Hirtenstab von Wilhelm II. in die Hand drücken zu lassen war Zeichen seines eigenen Unwillens, das Amt zu übernehmen, jedoch keineswegs eine Ablehnung des königlichen Investiturrechts an sich, vgl. Barlow, The English Church (wie Anm. 12), S. 287. 35 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 348, S. 286f. 36 Vgl. Hanna Vollrath, Der Investiturstreit begann im Jahr 1100. England und die Päpste in der späten Salierzeit, in: Bernd Schneidmüller, Stephan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, S. 217–244.
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Streitigkeiten, die in den Jahrzehnten danach die englische Kirche erschüttern sollten, waren sowohl Umfang als auch Auswirkungen dieser Kontroverse überschaubar. Die Angelegenheit war aber doch ernst genug, dass wir in diesem Zusammenhang nun tatsächlich Dokumente der Auseinandersetzung zwischen dem Primas und dem König von England finden. Das nimmt sich dann beispielsweise so aus: De amore quidem et benignitate gratias ago. Ut autem ita sim vobiscum, sicut ante� cessor meus fuit cum patre vestro, facere non possum, quia nec vobis homagium facere, nec accipientibus de manu vestra investituras ecclesiarum propter praedictam prohibi tionem me audiente factam audeo communicare37. Dies schrieb Anselm seinem König 1104 aus dem Exil. Er betont also ganz klar, dass er Heinrich in dieser Frage nicht entgegenkommen darf, und lässt zwischen den Zeilen durchblicken, dass er vielleicht gerne würde. Auf jeden Fall ließ er durch seinen Suffragan, Gundulf von Rochester, dem König mitteilen, man könne sich mit der Lösung der Frage gerne noch etwas Zeit lassen, sofern er bereit sei, Anselm die Einkünfte der Erzdiözese Canterbury im Exil zukommen zu lassen, damit der Erzbischof seine Lebenshaltungskosten decken könne38. Auf diesen Vorschlag eines zwischenzeitlichen Modus vivendi bis zu einer endgültigen Entscheidung ging Heinrich I. ein39. Er verstand aber noch immer nicht, warum Anselm plötzlich überkommenes Recht aus den Zeiten Wilhelms I. für nicht mehr annehmbar hielt, wie aus einem königlichen Schreiben klar hervorgeht:
37 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 308, S. 230f.: Für die Liebe und die Güte Danke ich Euch. Jedoch kann ich nicht so mit Euch leben, wie dies mein Vorgänger mit Eurem Vater tat, weil ich es, aufgrund des obgenannten, von mir gehörten Verbotes, nicht wage, Euch den Handgang zu leisten oder mit jenen zu sprechen, die von Eurer Hand in kirchliche Ämter eingesetzt wurden. 38 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 316, S. 243f.: Quod si adhuc in alium ter minum differre voluerit responsum: accipiam dilationem et alium terminum respondendi, si me interim saisitum, sicut eram, quando exivi de Aglia, permiserit, ut vos mihi de rebus nostris mittere possitis, sicut mando et mandabo. 39 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 318, S. 246: Quapropter volo legatos meos Romam mittere, et consilio dei et baronum meorum domino papae inde respondere, et hoc requirere quod mihi requirendum est. Et accepto responso a papa, mandabo tibi hoc quod mihi deus annuerit. Interim autem consentiam quod tu de beneficio Cantuariensis ecclesiae conve nienter habeas. Es erstaunt vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung natürlich nicht, dass der König hier den Begriff beneficium benutzt.
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Mandasti mihi quod ad me venire non poteras, nec mecum esse sicut LANFRANCUS, antecessor tuus, cum patre meo multis annis fuit. Unde valde doleo quod facere non vis. Quia si facere voluisses, libenter te susciperem et omnes illos honores et dignitates et amicitias, quae pater meus antecessori tuo fecit, tibi fecissem40. Wir lesen hier keinen direkten Vorwurf und schon gar keine Drohung, nein, die Taktik ist eine ganz andere, nämlich die eines äußerst verlockenden Angebots. Gut möglich, dass Heinrich hierbei auch seine Königin im Nacken saß, die wie manch andere Adlige eine glühende Verehrerin Anselms war und mit diesem in einer erstaunlich regen Korrespondenz stand41. Und aus anderen Zusammenhängen wissen wir, dass Anselm bei nicht ganz einfach zu überzeugenden Fürsten gerne einmal deren Ehefrau anschrieb und dieser die Sorge um das Seelenheil des Gatten ganz besonders ans Herz legte42. Gänzlich ungeschickt oder gar naiv war er also gewiss nicht. Trotzdem konnte er das Angebot des Königs natürlich nicht annehmen, wie er in seiner Antwort ausführte: In litteris vestra celsitudinis, quas nuper accepi, mandavit mihi vestra dignatio amici tiam, et quia nullum mortalem hominem libentius in regno vestro habere quam me velletis, si ego vellem ita vobiscum esse, sicut archiepiscopus LANFRANCUS fuit cum patre vestro. De amicitia et de bona voluntate gratias ago. Ad hoc quod dicitis de patre vestro et archiepiscopo LANFRANCO, respondeo quia neque in baptismo neque in in aliqua ordinatione mea promisi me servaturum legem vel consuetudinem patris vestri aut LANFRANCI archiepiscopi, sed legem dei et omnium ordinum quos suscepi43.
40 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 318, S. 246: Du hast mir geschrieben, dass Du nicht zu mir kommen noch mit mir leben könntest, so wie es Dein Vorgänger Lanfranc viele Jahre mit meinem Vater tat. Es schmerzt mich sehr, dass Du dies nicht willst. Denn wenn Du es wolltest, so nähme ich Dich gerne auf und ließe all jene Ehren, Würden und Freundschafts bezeugungen, die mein Vater Deinem Vorgänger erwies, Dir angedeihen. 41 Vgl. Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 19), S. 193f. 42 Vgl. Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 19), S. 213f. 43 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 319, S. 247: Im Brief, den ich neulich von Eurer Hoheit erhielt, versicherten mich Euer Ehren der Freundschaft, und dass Ihr keinen Sterblichen lieber in Eurem Reich hättet als mich, wenn ich denn so mit Euch leben wollte, wie Erzbischof Lanfranc mit Eurem Vater gelebt hat. Für die Freundschaft und den guten Willen danke ich Euch. Auf das, was Ihr über Erzbischof Lanfranc und Euren Vater sagt, antworte ich, dass ich mich weder bei der Taufe noch bei irgendeiner meiner Weihen auf das Gesetz oder die Gebräuche Eures Vaters oder Erzbischof Lanfrancs verpflichtet habe, wohl aber auf das Gesetz Gottes und aller Weihegrade, die ich erhielt.
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Anselm lehnte es also explizit ab, nach dem Gewohnheitsrecht zu leben, wie es seinem verehrten Lehrer Lanfranc billig gewesen war. Diese Ablehnung resultierte aber nicht etwa aus einer tiefen reformatorischen Überzeugung heraus – auch wenn hier vom Gesetz Gottes die Rede ist –, sondern war das Resultat positiver Rechtssätze, die er schlechterdings nicht mehr ignorieren konnte. Er betonte aber auch nochmals, dass er an einer Lösung mit dem König interessiert sei: Paratus sum redire ad vos in Angliam et servire deo et vobis et omnibus mihi commis sis secundum officium mihi a deo iniunctum, ipso adiuvante. Siquidem cum nullo alio rege aut principe mortali volo tam libenter esse aut ei servire. Und er fügte hinzu: Si autem hoc nequaquam suscipitis, vos facietis quod vobis placebit; ego vero deo annuente non abnego legem eius44. Aus diesen Worten spricht ganz klar der Konflikt zwischen diesen beiden Männern, wobei es im Falle Anselms sicherlich so ist, dass er diesen Konflikt quasi als Stellvertreter führte. Insofern war es gewiss kein persönlicher Konflikt, sondern derjenige von Amtsträgern. Anselm lag persönlich sachlich wohl nicht viel an der Investiturfrage. Die im März 1106 gefundene und im August 1107 im Konkordat von London geschlossene Übereinkunft zeigt dies deutlich: Während die eigentliche Investitur für den König künftig nicht mehr erlaubt sein sollte, durfte er von den Bischöfen weiterhin den Handgang verlangen – sie blieben also Vasallen des Königs45. Doch selbst diesen Kompromiss setzte Anselm nicht strikt um, wie sich am 1108 vakanten Erzbistum York zeigte: Er gab seine Zustimmung zum Kandidaten, den der König nach Konsultation seiner wichtigsten Berater haben wollte (dass er sich mit dem Elekten Thomas darauf völlig zerstritt und gegen diesen kirchenrechtliche Sanktionen verhängte, hatte mit Primatsansprüchen zu tun und nicht mit Investiturfragen)46. Ein Radikaler ist Anselm in Investiturfragen also mit Bestimmtheit nicht gewesen; das zeigt sich auch daran, dass er sich nirgendwo in seinem Werk 44 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 319, S. 247: Ich bin bereit, zu Euch nach England zurückzukehren und Gott und Euch und allen mir Anvertrauten gemäß dem mir von Gott auferlegten Amt zu dienen, so mir Gott helfe. Denn mit keinem anderen sterblichen König oder Fürsten will ich lieber verweilen oder ihm dienen. Wenn Ihr dies aber gar nicht annehmen könnt, dann tut, was Euch beliebt. Ich jedoch werde mit Gottes Zustimmung sein Gesetz nicht verleugnen. 45 Vgl. Vollrath, Investiturstreit (wie Anm. 11), S. 241. 46 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Brief Nr. 443, S. 390: Quoniam autem regi placuit, consilio baronum suorum et nostra concessione, ut vestra persona eligeretur ad archiepiscopa tum Eboracae […].
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mit dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen Königtum und Kirche beschäftigte47. Ein ähnliches Verständnis der Amtspflichten attestiert die Forschung zwar auch bereitwillig – meines Erachtens etwas zu bereitwillig – Thomas Becket in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich II. zwei Generationen später48. Doch gerade im Vergleich zu Anselm und Heinrich I. stellt sich dies nicht so dar. Während hier zwei Amtsträger einen durchaus schweren Konflikt in sachlicher und stets höflicher Weise beizulegen versuchten, prallten mit Thomas Becket und Heinrich II. vor allem und mit zunehmender Konfliktdauer immer stärker zwei Kontrahenten persönlich aufeinander. Trotzdem kann man natürlich, so man denn will, auch die Interaktionen Anselms und Heinrichs I. zwischen 1100 und 1106/07 als Streit bezeichnen. Aber kann man die soeben zitierten Briefe als Streitschriften bezeichnen? Im Punkt der beabsichtigten Öffentlichkeit wäre dies ziemlich sicher möglich, denn Anselm ließ seine Briefe spätestens ab 1102 ganz bewusst sammeln49 und machte sie teilweise sogar höchstselbst dem literarisch gebildeten Publikum zugänglich – wohl zugleich ein Tribut an die dem großen Denker auch eignende Eitelkeit, die ja schon einmal angesprochen wurde. Obwohl sowohl Anselm als auch Heinrich I. in ihren Briefen mit Nachdruck ihre jeweiligen Standpunkte vertreten, somit also gewiss subjektiv und parteiisch sind, scheint mir eine Qualifikation als Streitschriften abwegig. Dem steht der nicht nur oberflächlich-formal höfliche Ton entgegen; vielmehr noch fehlt es an der Absicht zur Polemik, am Willen, den Gegner in der Konfrontation herabzusetzen, zu beleidigen oder in irgendeiner Form zu denunzieren. Auch wenn man der Kategorie der Streitschriften gegenüber zurecht kritisch sein kann und soll – weil sie natürlich auch ein Produkt des deutschen Geschichtsverständnisses zu Ende des 19. Jahrhunderts sind –, auch wenn ich hier bewusst keine eigene Definition der Kategorie versuchen möchte, so meine ich doch festhalten zu dürfen, dass Anselms Briefsammlung bzw. Briefsammlungen mit Sicherheit keine Streitschriften sind. Dies ersieht man auch an deren Gesamtcharakteristik, der man nicht so einfach auf die Spur kommt. Die relevante Edition von Franciscus Salesius Schmitt umfasst die schon erwähnten 475 Briefe. Dieses Corpus ist unvollständig in dem Sinne, dass es nicht Anselms gesamte Korrespondenz überliefert. Allein aus der Edition selbst 47 Vgl. Walter Fröhlich, Anselms von Canterbury imago regis dargestellt aus seinen Briefen, in Winfried Müller u. a. (Hg.), Universität und Bildung. Festschrift für Laetitia Boehm zum 60. Geburtstag, München 1991, S. 13–24, hier S. 16. 48 Vgl. hierzu Michael Staunton, Thomas Becket’s Conversion, in: Christopher HarperBill (Hg.), Anglo-Norman Studies 21. Proceedings of the Battle Conference, Woodbridge 1999, S. 208–211 sowie Hanna Vollrath, Thomas Becket. Höfling und Heiliger, Göttingen, Zürich 2004 (Persönlichkeit und Geschichte 164), S. 53. 49 Vgl. Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 19), S. 126.
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gehen Hinweise auf mindestens 150 weitere Briefe hervor, die geschrieben wurden, uns aber nicht erhalten sind50. Es geht hier nicht darum, sich an den Spekulationen zu beteiligen, wie groß der zu dieser Spitze gehörige Eisberg gewesen sein muss, sondern viel eher darum, auch an dieser Stelle einfach nochmal den zunächst so trivial scheinenden Befund in Erinnerung rufen, dass wir uns bei Briefen mehr noch als bei anderen Quellengattungen des bruchstückhaften Charakters der Überlieferung immer wieder gewahr werden müssen, um keine falschen Schlüsse zu ziehen. Weiter gilt es festzuhalten, dass die Schmitt’sche Ausgabe ein Kunstprodukt der Forschung darstellt, was ausdrücklich nicht negativ zu verstehen ist. Aber es ist eben ein Quellencorpus, das mittelalterliche Augen so nie gesehen haben51. Der mittelalterliche Leser hätte folglich, selbst wenn er sonst unseren geistig-kulturellen Hintergrund gehabt hätte, eine andere Lektüreerfahrung gemacht als wir Heutigen. Denn die Deutung des einzelnen Briefes innerhalb einer Sammlung variiert notwendigerweise erheblich mit der Deutung des Corpus als Ganzes. Bei Anselm sind wir diesbezüglich noch in einer eher glücklichen Lage: Nach übereinstimmender Forschungsmeinung ist er nicht nur der Amtsträger, welcher die in seinem Namen ergangenen Briefe zu verantworten hat, sondern in den meisten Fällen auch deren Autor – etwas, was keineswegs selbstverständlich ist und beispielsweise weder auf Theobald von Canterbury noch auf Thomas Becket vollumfänglich zutrifft52. Zudem hat Anselm seine Sammlungen zumindest teilweise selber zusammengestellt. Wir wissen beispielsweise, dass er kurz vor seinem Amtsantritt als Erzbischof zwei Briefsammlungen abschloss: In der einen veröffentlichte er Korrespondenz aus seiner Zeit als Prior in Le Bec, in der anderen solche aus seinem Wirken als Abt dieses Klosters53. Eine dritte Briefsammlung, nämlich diejenige seiner Korrespondenz als Erzbischof, veranlasste er wohl 1102 und führte diese Arbeit bis zu seinem Tode fort. Der Gesamtcharakter dieser unterschiedlichen Sammlungen zeigt zum Beispiel, dass er als Erzbischof einfach viel stärker von den Amtsgeschäften beansprucht wurde und er sich brieflich mit Fragen befassen musste, die für ihn als Prior keine Rolle spielten. Entsprechend treten Themen wie monastische Freundschaftsbezeugungen eher in den Hintergrund. Was sich aber über die ganzen Sammlungen hinzieht, ist der generelle Eindruck, dass sich Anselm vor allem als glänzender Stilist und guter Hirte darzustellen suchte54. Anders als Thomas Becket, dessen Unterstützern (oder auch dessen 50 Vgl. Fröhlich, The Letters of Saint Anselm (wie Anm. 27), S. 39. 51 Vgl. Krüger, Persönlichkeitsausdruck (wie Anm. 28), S. 71. 52 Becket ist hier nur ein Beispiel, das für viele steht. Vgl. Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 19), S. 55–57. 53 S. Anselmi opera omnia (wie Anm. 2), Prolegomena, S. 163*. 54 Vgl. Zingg, Briefsammlungen (wie Anm. 19), S. 127f.
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erbittertem Gegner Gilbert Foliot) lag ihm nichts an der Darstellung der Rechtmäßigkeit seiner Position. Deshalb sind allein schon aufgrund des Sammlungszwecks eigentliche Streitschriften nicht zu erwarten. Gab es im Rahmen des englischen Investiturstreits also gar keine Streitschriften? Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Eine anonym überlieferte Quelle, die auf ca. 1100 zu datieren ist, zeichnet hier das Gegenbild – ein Gegenbild, das uns zumindest zur Vorsicht mahnen sollte, wenn wir uns mit dem im Gegensatz zu Kontinentaleuropa so unaufgeregt verlaufenden englischen Investiturstreit befassen. Die sogenannten ‚Tractatus Eboracenses‘, eine Sammlung von 34 Traktaten, sind eine in Teilen scharfe antipäpstliche Propaganda. Allerdings ist die Quelle mit höchster Vorsicht zu behandeln, denn allein schon ihr Name ist problematisch. Überliefert als Codex unicus55, lag die Handschrift seit 1575 im Corpus Christi College in Cambridge, fiel dort jedoch bald dem Vergessen anheim56. Zu größerer Bekanntheit gelangten die Texte erst, nachdem der Codex 1896 Karl Hampe aufgefallen war. Er veröffentlichte im Jahr darauf eine Handschriftenbeschreibung und Heinrich Böhmer druckte gleichfalls 1897 eine Auswahl von sechs Traktaten57 ab, womit er zugleich den schon zuvor angesprochenen problematischen Namen in der Forschung etablierte58. Dies ging darauf zurück, dass Böhmer zwar bekannte, den Autor nicht sicher identifizieren zu können, ihn aber zumindest dem Umfeld Erzbischof Gerhards von York zuordnete59; folglich wurde der Autor in der Forschung jahrzehntelang als ‚Anonymus von York‘ angesprochen. Dies ist indes eine Zuschreibung, die heute als überholt gelten muss. Es gab andere Versuche, den Schleier bezüglich der Identität des Autors zu lüften. Schon Böhmer waren die Bezüge zum Erzbistum Rouen nicht entgangen, und so lag es nahe, aus dem Autor einen ‚Anonymus von Rouen‘ zu 55 Cambridge, Corpus Christi College, Hs. 415. Davon existiert neben der eigentlichen Edition (siehe unten Anm. 58) auch eine erst deutlich später erschienene Faksimilierung: Der Codex 415 des Corpus Christi College Cambridge. Facsimilie-Ausgabe der Textüberlieferung des Normannischen Anonymus, ed. Karl Pellens Wiesbaden 1977 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 82). Im Unterschied zur im 20. Jh. neu eingebundenen Hs. ist hier eine Lagenvertauschung korrigiert worden. 56 Vgl. Karl Pellens, Das Kirchendenken des normannischen Anonymus, Wiesbaden 1973 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 69), S. X. 57 Tractatus Eboracenses (I–VI), ed. Heinrich Böhmer, Hannover 1897 (MGH Ldl, 3), S. 642–687. 58 Vgl. Die Texte des normannischen Anonymus. Unter Konsultation der Teilausgaben von H. Böhmer, H. Scherrinsky und G. H. Williams neu aus der Handschrift 415 des Corpus Christi College Cambridge, ed. Karl Pellens, Wiesbaden 1966 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 42), S. XIIf. 59 Vgl. Tractatus Eboracenses (wie Anm. 57), S. 642–644.
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machen oder in ihm gleich den Erzbischof persönlich, Wilhelm Bona Anima, zu sehen. Wirklich schlüssige Argumente für eine solche These hat aber niemand vorbringen können und so dürfte es wohl am klügsten sein, sich des Notnamens ‚Normannischer Anonymus‘ zu bedienen.
Zurück zum Ende: Die pragmatische Lösung eines Problems Welche Beachtung der normannische Anonymus erfuhr, bleibt unklar. Ganz offensichtlich führte die Schärfe dieser Traktatsammlung aber nicht dazu, dass der Konflikt unlösbar geworden wäre, und das deutet doch auf eher geringen Anklang hin. Gerade die auffallende Sachlichkeit der Kontrahenten dürfte nämlich ein gewichtiger Beitrag zu einer Verständigung gewesen sein: Die Protagonisten enthielten sich persönlicher Angriffe. Die Schmähungen und Beleidigungen, wie sie zwischen Gregorianern und Heinricianern auf dem Kontinent schon fast üblich wurden, suchen wir hier vergebens. Der Konflikt wurde eben gerade nicht emotionalisiert. Es wäre nun reine Spekulation, zu behaupten, Anselm hätte aus seinem verunglückten Vorgehen Wilhelm II. gegenüber gelernt, aber vielleicht trug diese Erfahrung auch bei ihm zu einem vorsichtigen Konfliktverhalten bei. In der Sache war man hart, darüber darf man sich nicht täuschen lassen. Während Anselm die oben zitierten Briefe schrieb, betrieb er beim Papst die Exkommunikation Heinrichs I. Der König blieb so lange bei seiner Haltung, bis er merkte, dass er den Konflikt auf dieser Ebene verlieren würde – dann lenkte er dem Papst gegenüber ein und arrangierte sich mit Anselm. Dies war ohne größere Schwierigkeiten möglich, weil keine persönlichen Ressentiments vorhanden waren. Wohin man derart gelangen konnte, zeigt eindrücklich der Becket-Streit, wo mühsam erreichte Verhandlungsergebnisse, welche das sachliche Problem endlich aus der Welt geschafft hätten, an persönlichen Befindlichkeiten scheiterten und wo letztlich ein königlicher Tobsuchtsanfall, den man kaum als Mordauftrag wird deuten können, zum berühmt gewordenen „Mord im Dom“ führte. Anselm blieb es erspart, sein Leben mit zerschmettertem Schädel auf dem Boden seiner eigenen Kathedrale auszuhauchen, er starb als alter Mann im Bett, betrauert von seinen Mitbrüdern und seinem König. Allerdings musste er trotz untadeligen Lebenslaufes und sofort nach dem Tode einsetzender Wunder fast 400 Jahre auf die Kanonisation warten. Thomas Becket schaffte das in nur gut zwei Jahren – manchmal scheint Polemik zwar tödlich, aber zumindest der posthumen Karriere dann doch förderlich zu sein.
Sigebert von Gembloux – ein radikaler Antigregorianer? Wilfried Hartmann 1992 schrieb Jutta Krimm-Beumann in ihrem Artikel über Sigebert von Gembloux im Verfasserlexikon: „Im Investiturstreit hat S. als Hagiograph, Historiograph, Komputist und Publizist einen wesentlichen Teil seiner Schriften in den Dienst der Verständigung von Reich und Kirche gestellt.“ Sie fährt dann fort: „Dank S. spielte Gembloux eine führende Rolle in den kaisertreuen Kreisen der niederlothringischen Reichskirchen.“1 Was soll denn nun gelten: War Sigebert ein Mittler, gehörte er einer Partei des Ausgleichs an oder hat er eindeutig auf der Seite des Kaisers (oder der Kaiser, nämlich Heinrichs IV. und Heinrichs V.) gestanden? In seinem Schriftstellerkatalog Catalogus de viris illustribus nennt Sigebert im letzten Abschnitt auch seine eigenen Schriften2. Ungefähr in der Mitte dieses Abschnitts geht er auf seine publizistischen Werke ein und erwähnt dort drei Schriften zum Investiturstreit: 1. Eine Antwort auf den Brief Gregors VII. (hier Hildebrandus papa genannt) an Bischof Hermann von Metz, in der „starke Argumente der Väter“ aufgeboten worden seien. Diese Schrift reagierte vermutlich auf den zweiten Brief des Papstes an den Metzer Bischof3 und gehört wahrscheinlich ins Jahr 1082. Sie ist nicht erhalten. 2. Eine Apologia contra eos, qui calumniantur missas coniugatorum sacerdotum4, vermutlich aus dem Jahr 1075, und 1 Jutta Krimm-Beumann, Sigebert von Gembloux OSB, in: VL 8 (21992) Sp. 1214–1231, hier Sp. 1215. 2 Catalogus Sigeberti Gemblacensis monachi de viris illustribus. Kritische Ausgabe, ed. Robert Witte, Bern, Frankfurt a. M. 1974 (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters, 1) § 172, S. 103–106, mit Kommentar auf S. 147. 3 Gregor VII. schrieb am 15. März 1081 einen langen Brief an Bischof Hermann von Metz: Das Register Gregors VII., ed. Erich Caspar, Berlin 1923 (MGH Epp. sel. II, 2), VIII, 21, S. 544–563. 4 So Catalogus (wie Anm. 2), S. 104. Gedruckt in: Sigeberti monachi Gemblacensis apologia contra eos qui calumniantur missas coniugatorum sacerdotum, ed. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 436–448.
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3. eine Epistola Leodicensium als Antwort auf den Brief Papst Paschalis’ II., in dem dieser dem Grafen Robert von Flandern befohlen hatte, die Kirchen von Lüttich und von Cambrai zu zerstören5; sie wurde wahrscheinlich im Jahr 1103 geschrieben. Alle drei Traktate wurden nach der Aussage Sigeberts im Catalogus auf Bitten des Lütticher Archidiakons und Dekans der Kirche des heiligen Lambert Heinrich verfasst. Alfred Cauchie6 hielt den Traktat Dicta de discordia papae et regis7 für Sigeberts Schrift gegen Gregors VII. Brief an Hermann von Metz, unter anderem deshalb, weil er in einer Brüsseler Handschrift aus Gembloux überliefert ist (Brüssel 5576– 5604)8. Da Sigebert aber in seinem Schriftstellerkatalog selbst sagt, er habe Gregor VII. durch Väterzeugnisse widerlegt, können die Dicta nicht mit dieser Schrift identisch sein, denn hier wird allein mit historischen Beispielen argumentiert; Väterzitate kommen überhaupt nicht vor9. Ebenfalls mit den Ereignissen und Personen aus der Zeit des Kampfes um die Kirchenreform beschäftigt sich die Chronik Sigeberts, die in einer ersten Redaktion wahrscheinlich 1085 abgeschlossen war und die er später bis zum Jahr 1111 geführt hat. Jutta Beumann hat in ihrer 1976 erschienenen Dissertation nachzuweisen versucht, dass auch der Tractatus de investitura episcoporum10 ein polemisches Werk Sigeberts ist. Dieser Traktat enthält am Ende eine Datierung, wonach er im Jahr
5 Leodicensium epistola adversus Paschalem papam, ed. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 449–464. 6 Alfred Cauchie, La querelle des investitures dans les diocèses de Liège et de Cambrai, Bd. 1, Louvain 1890, S. 69–73. 7 Dicta cuiusdam de discordia papae et regis, ed. Kuno Francke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 454–460. 8 Vgl. zum Inhalt dieser Handschrift J. van den Gheyn, Catalogue des manuscrits de la Bibliothèque Royale de Belgique 1, Brüssel 1901, S. 194–199, hier S. 199. 9 So schon Paul Scheffer-Boichorst, Die Neuordnung der Papstwahl durch Nikolaus II. Texte und Forschungen zur Geschichte des Papstthums im 11. Jahrhundert, Straßburg 1879, S. 145 f. 10 Tractatus de investitura episcoporum, ed. Ernst Bernheim, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 495–504; dazu zuletzt: Jutta Krimm-Beumann, Der Traktat „De investitura episcoporum“ von 1109, in: DA 33 (1977), S. 37–83, die Edition auf S. 66–83.
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1109, und zwar nach dem Osterfest, entstanden ist11. Beumann führt für ihre Ansicht in der Hauptsache folgende Argumente an12: – Sigebert ist schon früher als Verfasser politischer Schriften zugunsten Heinrichs IV. und Heinrichs V. hervorgetreten. – Der Traktat bezieht sich auf Lütticher Vorgänge; Sigebert hatte eine enge Beziehung zur Lütticher Kirche. – Sigebert verfügte über Beziehungen zum Hof, wie die Verwertung amtlicher Dokumente in seiner Chronik zu 1111 zeigt. – Der Traktat verrät eine äußerst gute Kenntnis von Schriften Sigeberts, besonders seiner Chronik. – Der Stilvergleich zwischen Traktat und dem Brief von 1103 „führt zu einem positiven Ergebnis“. – Die Datierung am Schluss, die an dieser Stelle und in dieser Form ganz ungewöhnlich ist, passt gut zum Chronisten und Komputisten Sigebert. Gegen diese Ansicht haben sich u. a. Johannes Fried und Alain Stoclet gewandt13 und vor allem darauf hingewiesen, dass der Tractatus nicht in Sigeberts Schriftstellerkatalog erwähnt ist. Wenn zudem eine ganze Reihe von Fakten, die in der Chronik Sigeberts richtig zugeordnet waren, unzutreffend dargestellt werden, so dürfte das eher gegen eine Autorschaft Sigeberts am Tractatus sprechen. * Zur Überlieferung der polemischen Werke Sigeberts ist Folgendes zu sagen: 1. Die Apologia ist in zwei Handschriften überliefert, nämlich Brüssel, Bibliothèque Royale, 5576–5604 (noch am Ende des 11. Jh. geschrieben, aus Gembloux) und Wien, ÖNB lat. 2213 (12. Jh.), die einen sehr fehlerhaften Text bietet. 2. Die Epistola Leodicensium ist in sechs Handschriften enthalten, nämlich: Bamberg Can. 9 (P. I. 9) (12. Jh., Dombibl. Bamberg), London, British Library, Add. 16606 (12. Jh., aus Stablo) und Köln, Hist. Archiv, W* 130 (12. Jh.) – ob
11 Est autem annus presens millesimus centesimus nonus, quando ultimum pascha fuit, ab incar natione domini secundum cyclum Dionysii, ed. Krimm-Beumann, Traktat (wie Anm. 10), S. 83 Z. 254–256. 12 Vgl. Krimm-Beumann, Traktat (wie Anm. 10), S. 42–49, besonders S. 48 f. 13 Vgl. besonders Johannes Fried, Rezension zu Beumann, Sigebert von Gembloux und der Traktat de investitura episcoporum, in: ZRG Kan. 64 (1978), S. 369 und Alain Stoclet, Une nouvelle pièce au dossier du Tractatus de Inuestitura Episcoporum, in: Latomus 43 (1984), S. 454–459.
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diese Handschrift noch benutzt werden kann, dürfte nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs nicht sicher sein. Außerdem findet sich dieser Traktat in der Briefsammlung des sog. Codex Udal rici14, und zwar in folgenden Handschriften: Wien 398 (2. Hälfte 12. Jh., aus dem Stift Heiligenkreuz), Zwettl, 283 (2. Hälfte 12. Jh., aus dem Kloster Zwettl) und München, Clm 4594 (12. Jh., aus Benediktbeuern). 3. Vom Traktat De investitura episcoporum gibt es noch 8 Handschriften, von denen vier aus dem 12. Jahrhundert stammen, nämlich Bamberg, Can. 9 (wie oben bei 2.), Bamberg, Patr. 48; Clm 17736 (Ende 12. Jh., aus St. Mang in Stadtamhof/Regensburg) und Clm 28351 (Ende 12. Jh., Herkunft unbekannt, vielleicht Oberschwaben15). Weitere drei Codices wurden im 15. Jahrhundert geschrieben, und zwar London, British Library, Arundel 242, Wien, ÖNB lat. 532 (1. Hälfte 15. Jh.) und Clm 569 (1498, aus der Bibliothek des Hartmann Schedel). Dazu kommt noch eine Handschrift vom Anfang des 16. Jahrhunderts, Regensburg, Fürstliche Thurn und Taxis’sche Hofbibliothek 182. 4. Die Dicta sind in drei Handschriften überliefert: Brüssel 5576–5604; Paris, BnF lat. 10402 und Wien, ÖNB lat. 2213, die alle aus dem 12. Jahrhundert stammen. 5. Von der Chronik gibt es zahlreiche Codices; bereits Ludwig Bethmann hat für seine Monumenta-Ausgabe 33 der ihm bekannten 42 erhaltenen Handschriften benutzt; weitere 21 waren ihm aus früheren Editionen oder aus Bibliothekskatalogen bekannt16. Für unser Tagungsthema von Interesse sind vor allem solche Codices, die mehrere Traktate Sigeberts oder neben Sigebert andere Streitschriften aus der Zeit des Investiturstreits enthalten. Das trifft auf folgende vier Handschriften zu: 1. Der aus der Bamberger Dombibliothek stammende Codex Bamberg, Can. 9 enthält sowohl die Epistola als auch den Tractatus. 2. Bamberg, Patr. 48 aus dem Kloster Michelsberg enthält den Tractatus, eine Kölner Streitschrift sowie die falschen Investiturprivilegien17. 14 Codex Udalrici, ed. Philipp Jaffé, in: Bibliotheca rerum Germanicarum 5: Monumenta Bambergensia, Berlin 1869, S. 1–469, hier S. 201–225. 15 Vgl. Günter Glauche, Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, 4, Teil 8: Clm 28255–28460, Wiesbaden 1984, S. 142. 16 Vgl. Sigeberti Gemblacensis Chronographia, ed. Ludwig Conrad Bethmann, in: MGH SS, 6, Hannover 1844, S. 268–474, hier S. 284. 17 Vgl. die Ausführungen von Claudia Märtl in der Edition: Die falschen Investiturprivilegien, ed. Claudia Märtl, Hannover 1986 (MGH LL Fontes iuris, 13), S. 105–107. Mit
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3. Brüssel 5576–5604 aus Gembloux enthält die Apologia und die Dicta. 4. Wien 2213, die aus dem Augustinerchorherrenstift Frankenthal in der Pfalz stammt18, enthält ebenfalls die Apologia und die Dicta, darüber hinaus noch weitere kaiserfreundliche Texte, wie den Traktat des Wenrich von Trier, die falschen Investiturprivilegien, das Privileg von 1111 und die kaiserliche Fassung des Papstwahldekrets. Die Epistola ist auch im Codex Udalrici enthalten, einer Briefsammlung, die wahrscheinlich im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts in Bamberg zusammengestellt wurde. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass man in Bamberg an kaiserfreundlichen Texten sehr interessiert war. Dass der Codex Udalrici kaiserfreundlich ist, zeigt sich etwa in seiner Version des Wormser Konkordats19.
Zur antigregorianischen Tendenz von Sigeberts Streitschriften Sowohl in den beiden sicher von Sigebert stammenden Streitschriften als auch in seiner Chronik und im Tractatus gibt es Aussagen, die ihren Verfasser als radikalen Gegner Papst Gregors VII. erscheinen lassen. In der Apologia vom Jahr 1075 ist eine antigregorianische Haltung noch kaum erkennbar. Anders steht es dann mit der Epistola, die aus dem Jahr 1103 stammt. Hier greift Sigebert Papst Paschalis II. heftig an, etwa, wenn er schreibt: „Wir sehen den Bischof von Rom, der mit gezogenem Schwert vor der Kirche steht.“20 Oder: „Unser Engel [also Papst Paschalis II.] reicht Robert [von Flandern] das Schwert und betet darum, dass wir getötet werden.“21 Weiterhin: „Woher kommt dieser Handschrift hat sich auch befasst Matthias M. Tischler, Der Traktat De investitura episcoporum von 1109. Der Stand von 2006 findet sich online: http://www.sankt-georgen.de/hugo/forschung/Tractatus_de_investitura_episcoporum.php, zuletzt eingesehen am 18.03.2016. 18 Dazu Märtl, Investiturprivilegien (wie Anm. 17), S. 109 f. und Aliza Cohen-Mushlin, A Medieval Scriptorium. Sancta Maria Magdalena de Frankendal 1, Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 3), besonders S. 225–229. Cohen-Mushlin datiert die Handschrift Wien 2213 auf die Zeit zwischen 1190 und 1195. 19 Vgl. Karl Pivec, Studien und Forschungen zur Ausgabe des Codex Udalrici. II. Teil: Der Codex Udalrici und die Kanzlei Heinrichs V., in: MIÖG 46 (1932), S. 257–342, besonders S. 309–321. 20 Leodicensium epistola adversus Paschalem papae (wie Anm. 5), S.452 Z. 23f.: videmus Romanum praesulem […] stantem extento gladio super ecclesiam. 21 Ebd., S. 452 Z. 25: angelus noster [= Paschalis II.] porrigens Roberto gladium orat, ut occida mur.
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das neue Vorbild, dass der Prediger des Friedens mit seinem Mund und durch die Hand eines andern der Kirche den Krieg bringt?“22 Und wieder: „Meine Mutter, die heilige römische Kirche, zieht über uns das tödliche Schwert.“23 Paschalis II. wird in die seit Gregor VII. neu geschaffene Tradition gestellt, wenn es heißt: „Den Fluch der Exkommunikation, den aus einer neu geschaffenen Tradition Hildebrand, Odardus [= Odo, d.h. Urban II.] und dieser dritte [= Paschalis II.] ohne Unterschied anwenden, wollen wir ganz und gar abschaffen.“24 Und es gibt eine klare Absage gegen den päpstlichen Zentralismus: „Am Bischof, an unserem Erzbischof, an der Provinzialsynode und der Synode mehrerer Provinzen wollen wir der alten Tradition gemäß festhalten, und was immer dort über die heiligen Schriften beschlossen wurde, braucht nach Rom nicht berichtet zu werden mit Ausnahme der schwereren Vergehen, über die in den heiligen Schriften kein Urteil zu finden ist. […] Daher kommt von dort [= von Rom] nichts über die Berichtigung der Sitten, nichts über die Besserung der Lebensweise, sondern von dort kommt nur die Tötung von Menschen und der Raub der Kirchengüter […].“25 Besonders Gregor VII.-Hildebrand ist der Gegner, so heißt es etwa: „Papst Hildebrand, der der Urheber dieser neuen Spaltung ist und der als Erster die priesterliche Lanze gegen die Krone des Reiches erhob […]“26, und: „Hildebrand, der sich als Erster und nach seinem Vorbild andere Päpste gegen den Kaiser mit dem Schwert des Krieges umgürteten“27. Schließlich: „Wenn ich nämlich die gesamte Literatur beider Rechte, wenn ich alle alten Kommentatoren meiner ganzen Bibliothek durchsuche, dann finde ich kein Vorbild für dieses apostolische Gebot.
22 Ebd., S. 454 Z. 31–33: unde sit hoc novum exemplum, ut praedicator pacis suo ore et alterius manu inferat aecclesiae bellum? 23 Ebd., S. 456 Z. 11 f.: mater mea sancta Romana aecclesia […] erexit super eos gladium occisio nis. 24 Ebd., S. 458 Z. 34–36: Maledictum vero excommunicationis, quod ex novella tradicione Hil debrandus, Odardus et iste tercius indiscrete protulerunt, omnino abicimus. 25 Ebd., S. 459 Z. 21–29: Episcopum, archiepiscopum nostrum, provincialem et conprovincialem synodum ex antiqua traditione tenemus; et quicquid ibi de scripturis sanctis diffinitum fuerit, Romam non refertus usque ad graviora negocia, de quibus non invenitur in scripturis sanctis auctoritas […] Etenim […] non morum correctio, non vitae emendatio, sed inde hominum cedes et aecclesiarum Dei proveniunt depraedationes. 26 Ebd., S. 460 Z. 17 f.: Hildebrandus papa – qui auctor est huius novelli scismatis, et primus levavit sacerdotalem lanceam contra diadema regni […]. 27 Ebd., S. 462 Z. 5 f.: Hildebrandus, qui primus se et suo exemplo alios pontifices contra impera torem accinxit gladio belli.
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Allein der Papst Hildebrand […].“28 Unzweifelhaft sind das ganz schwere und auch ganz offen geäußerte Vorwürfe gegen das Reformpapsttum. Allerdings will Sigebert aber doch kein Heinrizianer sein, denn er sagt: „Ich spreche nicht für den König, sondern für die Mutter der Kirchen.“29
Tendenz in Sigeberts Chronik Jutta Beumann hat auch die Parteistellung Sigeberts in seiner Chronik untersucht und sie konnte dabei für seine Stellungnahme zur Königsabsetzung und zur Kaiser erhebung zeigen, dass Sigebert hier recht eindeutig Stellung bezieht: Vor allem in der Zeit vom 4. bis zum 10. Jahrhundert werden „einzelne, gegenwartspolitisch relevante historische Episoden“ von Sigebert „mit dem Ziel der Komposition eines antigregorianischen Geschichtsbildes“ bearbeitet30. Beumann konnte eine große Nähe bei der Behandlung historischer Präzedenzfälle mit dem Liber de unitate ecclesiae conservanda feststellen. Wörtliche Übereinstimmungen gäbe es allerdings kaum, nur die Auswahl der Beispiele sei vergleichbar31. Weiterhin konnte sie zeigen, dass Sigebert die gregorianische Streitschrift Liber canonum contra Heinricum IV. Bernhards von Hildesheim kannte32. Gegen ein Exempel Bernolds von Konstanz in dessen Schrift De damnatione scismaticorum habe sich Sigebert an einer Stelle ganz ausdrücklich gewandt: „Dies bleibt jedoch möglicherweise der einzige Fall, in dem sich nachweisen läßt, daß der Chronist einen Jahresbericht seines Geschichtswerkes dazu benutzte, um sich mit einer ihm inzwischen bekannt gewordenen Streitschrift auseinanderzusetzen.“33 Jutta Beumann hat zwar auch die zeitgenössischen Teile der Chronik, also vor allem die Jahresberichte seit 1046, untersucht34; sie unterschätzt jedoch m. E. ihren polemischen Charakter, wenn sie behauptet, dass die Chronik Sigeberts „in der Stellungnahme zurückhaltender [sei] als die zeitgenössischen Chroniken“ (damit 28 Ebd., S. 464 Z. 3–7: Si enim utriusque legis totam bibliothecam, si omnes totius bibliothecae veteres expositores revolvam, exemplum huius apostolici praecepti non inveniam. Solus Hildeb randus papa […]. 29 Ebd., S. 461, Z. 28 f.: Non ago pro rege, sed pro aecclesiarum matre. 30 Jutta Beumann, Sigebert von Gembloux und der Traktat de investitura episcoporum, Sigmaringen 1976 (Vorträge und Forschungen. Sonderband, 20), S. 82. 31 Vgl. Beumann, Siegebert (wie Anm. 30), S. 61 f. und S. 73–75. 32 Vgl. zur Verfasserschaft Beumann, Siegebert (wie Anm. 30), S. 67 Anm. 271. 33 Vgl. Beumann, Siegebert (wie Anm.30), S. 79–81, das Zitat auf S. 81. 34 Beumann, Siegebert (wie Anm.30), S. 50–57.
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meint sie vor allem Berthold und Bernold sowie Frutolf von Michelsberg)35. Noch deutlicher – und wie sich zeigen wird, noch falscher – äußert sich Thomas Bauer über Sigeberts Chronik: „Zu erwähnen ist die nüchterne, weitestgehend wertfreie Schilderung der Ereignisse […].“36 Dagegen hat bereits Johannes Fried in seiner Rezension der Dissertation von Beumann eine Reihe von Jahresberichten als sehr kritische Stellungnahmen zur römischen Reform und zum Papsttum Gregors VII. bezeichnet37. Ich möchte vor allem den Jahresbericht zu 1085, also zum Todesjahr Gregors VII., näher ansehen. Er fällt bereits wegen seiner außergewöhnlichen Länge ins Auge und er zitiert einen Text, der genau das Gegenteil von dem besagt, was Gregor VII. zu seinen Lebzeiten angestrebt hat. Auf die Nachricht: Hildebrandus papa apud Salernum exulans moritur, folgt nämlich in der Chronik eine längere Passage: „Wir wollen Euch wissen lassen, die ihr in der kirchlichen Seelsorge tätig seid, dass der Herr Apostelnachfolger Hildebrand in seiner letzten Stunde einen der 12 Kardinäle zu sich rief, den er mehr als alle andern liebte, und dass er bekannte vor Gott und dem heiligen Petrus und der gesamten Kirche, dass er in der Seelsorge, die ihm aufgetragen war, schwer gesündigt hat, und auf Anraten des Teufels gegen das Menschengeschlecht Hass und Zorn angestachelt hat […]. Dann hat er den erwähnten Beichtvater zum Kaiser gesandt und zur gesamten Kirche, damit er um Gnade bitten solle, weil er das Ende seines Lebens kommen sah. Und er kleidete sich in das Engelsgewand und löste die Banden aller seiner Bannsprüche gegen den Kaiser und das christliche Volk, gegen Lebende und Verstorbene, Kleriker und Laien und befahl seinen Anhängern, die Engelsburg zu verlassen und den Freunden des Kaisers, sie zu erklimmen.“38 35 Beumann, Siegebert (wie Anm.30), S. 51; bereits Fried, Rezension Beumann (wie Anm. 13), S. 369 hat dies kritisiert. 36 So Thomas Bauer, Sigebert von Gembloux, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 10 (1995), Sp. 241–252, hier Sp. 242. 37 Fried, Rezension Beumann (wie Anm. 13), S. 369. 38 Sigeberti Gemblacensis Chronographia (wie Anm. 16), S. 365 Z. 18–28: De hoc ita scriptum repperi: Volumus vos scire, qui aecclesiasticae curae solliciti estis, quod domnus apostolicus Hil dibrandus nunc in extremis suis ad se vocavit unum de 12 cardinalibus, quem multum dilige bat pre ceteris [vgl. Ioh. 21,7 und 20 u.ö.] et confessus est Deo et sancto Petro et toti aecclesiae, se valde peccasse in pastorali cura, quae ei ad regendum commissa erat, et suadente diabolo contra humanum genus odium et iram concitasse […] Tunc demum misit predictum confes sorem suum ad imperatorem, et ad totam aecclesiam, ut optaret illi indulgentiam, quia finem vitae suae aspiciebat. Et tam cito induebat se angelicam vestem, et dimisit ac dissolvit vincula omnium bannorum suorum imperatori et omni populo christiano, vivis et defunctis, clericis et laicis; et iussit suos abire de domo Deoderici [= Engelsburg], et amicos imperatoris ascendere.
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Wie der Anfang des Textes deutlich macht, soll es sich um einen Brief handeln, der wichtige Nachrichten über den Tod Gregors VII. enthält39. Bereits Ludwig Bethmann, der Editor der Chronik Sigeberts, hatte in einer Anmerkung darauf hingewiesen, dass Sigebert diesen Text nicht aus einem Buch, sondern aus einem Eintrag auf ein leeres Blatt in einem Codex bezogen habe: „Auf diese Weise ist in jener Zeit vieles verbreitet und bekannt gemacht worden.“40 Tatsächlich ist dieser Text auf dem ersten Blatt einer Handschrift der Chronik des Marianus Scotus, im Codex London, British Library, Cotton. Nero C. V., vom Ende des 11. Jahrhunderts, überliefert. Da Sigebert die Chronik des Marianus gekannt und eifrig benutzt hat, dürfte er den Text aus der von ihm auch sonst benutzten Handschrift dieser Chronik bezogen haben. Der heute in London liegende Codex stammt „vielleicht aus St. Alban in Mainz“41. Er bildete wahrscheinlich die Vorlage für den heute verlorenen Codex der Chronik des Marianus aus Gembloux42. Groß ist die Überlieferung von Marianus’ Chronik nicht: Neben der Londoner Handschrift gibt es aus dem ausgehenden 11. Jahrhundert nur noch das vermutliche Autograph, das heute im Vatikan liegt: Cod. Vat. Pal. lat. 830 aus St. Martin in Mainz, also jenem Kloster, in dem Marianus viele Jahre seines Lebens verbracht hat und wo er gestorben ist43. Der inkriminierte Text findet sich auch in der Chronik des Florentius von Worcester († 1118)44, in der Marianus benutzt ist, und bei Hugo von Flavigny († um 1114)45. Er steht weiterhin in zwei Handschriften des Traktats des heinri39 Herbert Edward John Cowdrey, Death-bed Testaments, in: Fälschungen im Mittelalter, Bd. 4: Diplomatische Fälschungen (II), Hannover 1988 (MGH Schriften 33,4), S. 703– 742, hier S. 712 hat diesen Text als „blatant forgery“ bezeichnet. Vgl. auch Oliver Münsch, Heuchlerischer Tyrann oder Opfer päpstlicher Willkür? Die Darstellung Heinrichs IV. in publizistischen Texten des Investiturstreits, in: Tilman Struve (Hg.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln u. a. 2008, S. 173–205, hier S. 203. 40 Sigeberti Gemblacensis Chronographia (wie Anm. 16), S. 365 Anm. 62, der sein Wissen aus Siegfried Hirsch, De vita et scriptis Sigeberti, monachi Gemblacensis. Commentatio historico-litteraria, Berlin 1841, S. 139–143, bezogen haben dürfte. 41 So Anna-Dorothee von den Brincken, Marianus Scottus. Unter besonderer Berücksichtigung der nicht veröffentlichten Teile seiner Chronik, in: DA 17 (1961) S. 191–238, hier S. 195. 42 Vgl. von den Brincken, Marianus Scottus (wie Anm. 41), S. 195. 43 Vgl. zu dieser Handschrift von den Brincken, Marianus Scottus (wie Anm. 41), S. 195. 44 So Ludwig Conrad Bethmann in seiner Edition Sigeberti Gemblacensis Chronographia (wie Anm. 16), S. 365, Anm. 62. 45 Chronicon Hugonis monachi Virdunensis et Divionensis, abbatis Flaviniacensis, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS, 8, Hannover 1848, S. 280-503, hier S. 470.
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zianischen Kardinals Beno: Brüssel 11196–97 (Anfang 12. Jh.) und Hannover 110 (16. Jh.)46. An dieser weiten Verbreitung eines gregorfeindlichen Textes können wir recht schön die geradezu europaweite Wanderung solcher Falsifikate beobachten. Auch noch aus vielen anderen Stellen von Sigeberts Chronik geht klar hervor, dass er ein vehementer Gegner Gregors VII. ist, der keinesfalls eine neutrale Position im Investiturstreit vertritt. Dabei ragt besonders die Nachricht zu 1074 heraus, wo Sigebert zur römischen Synode dieses Jahres schreibt: „Papst Gregor hat auf der von ihm abgehaltenen Synode die Simonisten exkommuniziert, die verheirateten Priester von ihrem göttlichen Amt verstoßen und den Laien verboten, bei ihnen die Messe zu hören. Dies war etwas ganz Neues und nach Meinung von vielen übereilt und ohne Vorbild sowie gegen die Aussage der heiligen Väter gerichtet.“47 Hier wird also deutlich ausgesprochen, dass das Dekret Gregors VII. eine gegen die Auffassung der Väter gerichtete Neuerung darstellt. Damit wird es mindestens indirekt als Häresie bezeichnet. Ähnliche Ansichten vertritt Sigebert in seiner Apo logia48. Zum Jahr 1080 wird von Gregors Prophezeiung berichtet, wonach der rex fal sus sterben werde. Sigebert kommentiert: Et verum quidem predixit, sed fefellit eum de falso rege coniectura secundum suum velle super Heinrici rege interpretata.49 Im Jahresbericht zu 1084 hat es tatsächlich den Anschein, als ob Sigebert die Argumente beider Seiten zur Geltung bringen möchte: zuerst die kaiserliche Seite (qui pro imperatore erant), die Gregor-Hildebrand als reus maiestatis bezeichnet, dann die gregorianische Seite (qui contra imperatorem alium regem ordinaverit), die sagt, dass der papa universalis nicht durch ein allgemeines Konzil, nicht durch das Urteil Weniger und die Macht des Kaisers von seinem Papsttum gestürzt werden könne50. 46 Vgl. die Ausgabe: Benonis aliorumque carinalium schismatiorum contra Gregorium VII. et Urbanum II. scripta, ed. Kuno Francke, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 366–422, hier S. 369–380. Der Traktat ist außerdem in einer Handschrift überliefert, die heute in Basel liegt; vgl. Martin Steinmann, Eine neue Handschrift der „Gesta Romanae ecclesiae contra Hildebrandum“, in: DA 27 (1971) S. 200–202. 47 Sigeberti Gemblacensis Chronographia (wie Anm. 16), S. 362 Z. 46–48: Gregorius papa cele brata synodo symoniacos anathematizavit, et uxoratos sacerdotes a divino officio removit, et laicis missam eorum audire interdixit, novo exemplo, et ut multis visum est inconsiderato pre iudicio, contra sanctorum patrum sententiam […]:, 362 Z. 46–48. 48 Vgl. ebd., S. 443 Z. 19–23 und S. 444 Z. 10–15. 49 Ebd., S. 364 Z. 21 f. 50 Ebd., S. 364 Z. 45 und S. 365 Z. 4.
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Auch nach dem Tod Gregors VII. finden sich reformfeindliche Äußerungen in Sigeberts Chronik, so schreibt er etwa im Jahresbericht zu 1088: „Die Autorität dessen, der die Macht zu binden und zu lösen verlieh, wird überhaupt verachtet.“51 „Und weiter, um durch den Frieden aller Guten zu sprechen: Diese ganze Neuheit, um nicht zu sagen: Ketzerei, war noch nicht in der Welt, dass nämlich die Priester dessen, der den König einen Abgefallenen nennt, und der einen Heuchler herrschen lässt wegen der Sünden des Volkes, (dass also diese Priester) das Volk lehren sollen, dass sie schlechten Königen keine Untertänigkeit schulden, und – obwohl sie ihnen einen Treueid geleistet haben – dennoch keine Treue schuldig sind und nicht Meineidige genannt werden. So dass also der, der dem König gehorcht, als Exkommunizierter zu gelten hat, und der, der gegen den König vorgeht, von der Schuld der Ungerechtigkeit und des Meineides befreit ist.“52 Und zu den Ereignissen des Jahres 1111 bemerkt der Chronist: „König Heinrich V. ging nach Rom, um die Zwietracht beizulegen, die zwischen regnum und sacerdotium bestand; diese (Zwietracht) hat begonnen mit dem Papst Gregor VII., der Hildebrand genannt wird, und ist vertieft worden von seinen Nachfolgern Viktor und Urban (II.) und vor allem von Paschalis II., und wurde für die ganze Welt ein Riesenskandal.“53 Wenn man die Stellungnahmen des Chronisten zu Heinrich IV. betrachtet, fällt auf, dass es eine gewisse Distanz gegenüber dem König und keine kritiklose Anhängerschaft gibt. Man darf also Sigebert nicht ohne weiteres als „Heinrizianer“ bezeichnen. Das geht etwa aus dem Jahresbericht zu 1075 hervor, in dem es über die Sachsen heißt: Heinricus imperator Saxones gravissimo prelio vincit, eosque iterata expe ditione perurgens, cunctos principes, episcopos, duces, comites ceterosque potentes, ad deditionem coegit54.
51 Ebd., S. 366 Z. 12: auctoritas illius (scil. Iesu Christi), qui dedit potestatem ligandi ac sol vendi, omnino despicitur. 52 Ebd., S. 366 Z. 13–19: Nimirum, ut pace omnium bonorum dixerim, haec sola novitas, ne dicam haeresis, necdum in mundo emerserat, ut sacerdotes illius, qui dicit regi apostata, et qui regnare facit ypocritam propter peccata populi, doceant populum, quod malis regibus nullam debeant subiectionem, et licet ei sacramentum fidelitatis fecerint, nullam tamen fidelitatem debeant, nec periuri dicantur, qui contra regem senserint; immo qui regi paruerit, pro excom municato habeatur, qui contra regem fecerit, a noxa iniustitiae et periurii absolvatur. 53 Ebd., S. 372 Z. 30–33: Heinricus quintus […] rex Romam vadit, propter sedandam discor diam, quae erat inter regnum et sacerdotium; quae cepta a Gregorio nono [!] huius nominis papa, qui Hildebrandus nominatus est, et exagitata a successoribus Gregorii, Victore et Urbano, et pre omnibus a Pascali, magno scandalo erat toti mundo. 54 Ebd., S. 363 Z. 22 f.
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Auch im Bericht zum Jahr 1085 kann man eine Distanz zum Vorgehen Heinrichs IV. beobachten, wenn Sigebert schreibt: „Kaiser Heinrich rief nach Mainz eine Reichs- und Kirchenversammlung zusammen und verlangte von allen [Anwesenden], dass sie die Absetzung Hildebrands und die Erhebung Wiberts durch ihre Unterschrift billigten. Mit ihrer Hand, mit ihrem Mund stimmten sie zu; in ihren Herzen aber hingen sie [weiter] Hildebrand an. Hermann von Metz, dem wegen seiner Abwesenheit das Bischofsamt abgesprochen wurde, wurde abermals aus seiner Bischofsstadt vertrieben. Der Kaiser setzte im Bistum Metz den einen und den andern Mietling ein, aber die Schäfchen Christi hörten nicht auf die Stimmen dieser Fremden.“55 Andererseits scheint Sigebert aber den Aufstand Heinrichs V. gegen seinen Vater zu verurteilen, wenn er zum Jahr 1106 schreibt: Heinricus filius imperatoris, contra ius naturae et fas legum in patrem insurgens.56
Der Tractatus de investitura episcoporum Diese so deutlich antigregorianische Tendenz der Chronik, die Sigebert in den allerletzten Jahren seines Lebens nochmals überarbeitet hat, passt durchaus zur Tendenz des Tractatus de investitura episcoporum, dem wir uns jetzt zuwenden wollen: Denn auch der Verfasser dieser Schrift argumentiert klar antigregorianisch, so etwa in dem Satz: „Jeder Papst aber muss sich aus dem innersten Verständnis der Schrift sorgfältig hüten, dass nicht das, was er auf Erden bindet, Gott im Himmel löst, oder wenn er etwas löst auf Erden, Gott es im Himmel bindet.“57 Diese Aus55 Ebd., S. 365 Z. 8–13: Heinricus imperator Mogunciae regali et synodali conventu coacto, exigit ab omnibus, ut Hildibrandi depositionem et Guicberti ordinationem subscripto appro bent. Cui aliqui manu et ore faventes, corde tamen Hildebrando adherebant. Herimannus Mettensis, sibi absenti abiudicato episcopatu, iterum urbe pellitur. Imperator in episcopatu Mettensi unum et alterum mercennarium supposuit, sed oves Christi non audierunt vocem alienorum. 56 Ebd., S. 369 Z. 31 f. 57 Tractatus (wie Anm. 10), S. 72 : Omni autem pontifici summopere cavendum est ex medulla scripturarum, ne quando ligat in terris, Deus solvat in caelis, vel quando solvit in terris, Deus liget in caelis. Die Übersetzung wurde übernommen aus De investitura episcoporum, in: Franz-Josef Schmale (Hg.), Quellen zum Investiturstreit, 2. Teil: Schriften über den Streit zwischen Regnum und Sacerdotium, übers. von Irene Schmale-Ott, Darmstadt 1984 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom SteinGedächtnisausgabe, 12 b), S. 585.
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sage stellt eine absichtsvolle Umkehr von Mt. 16,18 dar, wo Petrus verheißen wurde: „Ich werde Dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und was immer Du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was immer Du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel los sein.“ Damit stellt sich der Tractatus in den schärfsten Gegensatz zu dieser im 11. Jahrhundert häufig zum Beweis der höchsten Gerichtsbarkeit des Papstes über Geistliche und Laien zitierten Bibelstelle Mt. 16,18– 19 über die Schlüsselgewalt des Petrus und seines Nachfolgers58! Zum Beleg, dass der Tractatus von Sigebert stammt, hat Jutta Krimm-Beumann auf eine Stelle im Brief gegen Papst Paschalis hingewiesen59, wo es heißt: „Wer kann denn leugnen, dass Gott den lossprechen kann, den der Bischof von Rom ungerechterweise exkommuniziert hat?“60 Aber bis Sigebert in der Epistola zu diesem eindeutigen Schluss kommt, braucht er viele Zeilen. Daher erscheint Sigeberts Stellungnahme weit weniger prägnant als die radikale Aussage im Tractatus. An einer anderen Stelle im Tractatus heißt es: „Denn nicht alle sind Petrus, die den Stuhl Petri innehaben, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die auf Moses’ Stuhl saßen, nicht alle Moses waren.“61 Auch hier knüpft der Tractatus wieder an eine Stelle aus dem Matthäusevangelium an, nämlich an Mt. 23,2. Noch ein weiterer Grundsatz Gregors VII. und der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts wird im Tractatus angegriffen, wenn es heißt: „Wenn aber der römische Bischof bei der Erhebung und Weihe der Bischöfe vom rechten Weg abgewichen ist und mit Berufung auf sein höchstes Amt nach seinem Belieben gehandelt hat, dann möchte er nicht getadelt werden, während der Herr Jesus es zuließ, dass man ihn tadelte, wenn er sagt: Wenn ich ungehörig geredet habe, so beweise mir das Ungehörige. Diese da aber sagen: Der höchste Bischof darf von niemandem gerichtet werden.“62 Ein Zitat aus dem Johannesevangelium ( Joh. 18,23) wird also dem Satz 19 aus dem Dictatus papae Gregors VII. gegenübergestellt. 58 Vgl. Yves M.-J. Congar, Der Platz des Papsttums in der Kirchenfrömmigkeit der Reformer des 11. Jahrhunderts, in: Jean Daniélou, Herbert Vorgrimler (Hg.), Sentire Ecclesiam. Das Bewusstsein von der Kirche als gestaltende Kraft der Frömmigkeit, Freiburg u. a. 1961, S. 196–217, besonders S. 201 f. 59 Krimm-Beumann, Traktat (wie Anm. 10), S. 72, Anm. 132, zu Leodicensium epistola adversus Paschalem papae (wie Anm. 5), S. 462 Z. 32ff. 60 Leodicensium epistola adversus Paschalem papae (wie Anm. 5), S. 463 Z. 9: […] quis neget etiam Deus posse absolvere, si quem praesul Romanus iniuste excommunicaverit. 61 Tractatus (wie Anm. 10), S. 74 : […] quia non omnes sunt Petrus, qui tenent sedem Petri, sicut scribae et pharisaei non omnes fuerunt Moyses, qui sederunt super cathedram Moysi; Übersetzung nach Schmale-Ott (wie Anm. 57), S. 587. 62 Tractatus (wie Anm. 10), S. 80: […] si autem in promotione et consecratione episcoporum pon tifex Romanus exorbitaverit et sub verbo summae praelationis ad voluntatem suam egerit, non
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Nach dem Zitat von Mt. 5,9: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden das Gottesreich besitzen“, heißt es im Tractatus: „Diejenigen aber sind friedfertig, die nicht aus Streitsucht, Überheblichkeit und Begehrlichkeit und allzu starken Gemütsregungen Änderungen in Gang bringen und erfinden gegen althergebrachte Rechte, die um des Friedens willen erlassen wurden […].“63 Wir müssen fragen: Ist eine so radikale Ablehnung der Entscheidungen Hildebrand-Gregors VII. einem achtzigjährigen Verfasser zuzutrauen? Und weiter: Bestehen Übereinstimmungen zwischen den sicher von Sigebert stammenden Streitschriften und dem Tractatus? Die beiden Streitschriften von 1075 und 1103, die Apologie und die Epistola weisen untereinander durchaus Gemeinsamkeiten in der Argumentationsweise und bei den Zitaten auf: 1. Bibelzitate kommen in dichter Folge vor, 2. rhetorisch sind beide Traktate äußerst absichtsvoll konstruiert, 3. sie enthalten zahlreiche Zitate, besonders aus den Werken Augustins, und 4. vor allem die Epistola argumentiert mit historischen Präzedenzfällen. Von diesen Eigenheiten findet sich im Tractatus allein das Argumentieren mit Beispielen aus der Geschichte. Aber dies gibt es auch in zahlreichen anderen Traktaten der Zeit64. Die Autorschaft Sigeberts erscheint mir daher nicht erwiesen! Der Trac tatus ist aber auch überhaupt kein Werk, das als Grundlage für Verhandlungen hätte dienen können (wie die ältere Forschung behauptet)65, sondern es konnte höchstens zur Bestärkung der antigregorianischen Position der kaiserlichen Partei beitragen (im Sinne von Monika Suchan66).
vult, ut reprehendatur, cum dominus Iesus se reprehendi concesserit, dicens: Si male locutus sum, testimonium perhibe de malo! Isti autem: Summus, inquiunt, pontifex a nemine iudice tur! Übersetzung nach Schmale-Ott (wie Anm. 57), S. 593. 63 Schmale-Ott (wie Anm. 57), S. 593. 64 Vgl. Hans-Werner Goetz, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: HZ 245 (1987), S. 31–69 und Jürgen Ziese, Historische Beweisführung in den Streitschriften des Investiturstreites (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung, 8), München 1972. 65 So etwa Ernst Bernheim, Über den Traktat de investitura episcoporum, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 16 (1876), S. 281–295, besonders S. 290 und 292. 66 Vgl. Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV., Stuttgart 1997 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 42), S. 202–248, besonders S. 244 f.
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Darf man aber den Traktat – wie Irene Schmale-Ott – als „ein offiziöses Schriftstück des königlichen Hofes“ bezeichnen67? Matthias Tischler hat die Verfasserschaft Sigeberts vor allem aufgrund von „sprach-, überlieferungs- und rezeptionsgeschichtlichen Beobachtungen“ abgelehnt68. Für ihn steht die Entstehung in Bamberg außer Frage und er ist auch der Meinung, dass der „Autor aus dem unmittelbaren Umfeld des königlichen Hofes Heinrichs V.“ stammt69. Er ist sich sicher, dass „der Text während des Bamberger Hoftags Weihnachten 1109 niedergeschrieben“70 wurde. * Am Beginn dieses Beitrags habe ich noch eine andere Schrift Sigeberts aus seinen letzten Lebensjahren genannt, nämlich den Schriftstellerkatalog: Gibt es in diesem Werk Hinweise auf eine eindeutig antigregorianische Position? Jedenfalls enthält der Katalog eine ganze Reihe von gregorianischen Autoren, und zwar: Als Nr. 150 Papst Leo IX., bei dem vor allem die Briefe an Kaiser Konstantin IX. und den Patriarchen Michael Kerullarios behandelt werden. Außerdem wird sein Cantus in honore sanctorum erwähnt: Dieser mache ihn mit Papst Gregor I. vergleichbar71. Sigebert gibt jedoch keine Hinweise auf Leos Bedeutung für den Durchbruch der Kirchenreform in Rom und darüber hinaus. Im Abschnitt über Humbert von Silva Candida (Nr. 151) geht es allein um seine Aktivitäten in der Auseinandersetzung zwischen Rom und Byzanz72. Bei Anselm von Lucca (Nr. 162) nennt Sigebert vor allem die Bibelkommentare zum Propheten Jeremia und zu den Psalmen. Allerdings wird Anselm als indefessus coope rator Gregorii pape bezeichnet. Und Sigebert schreibt, dass Anselm die doctrina Gregorii VII. durch ein Buch testimoniis scripturarum deflorato bestätigt habe73. Damit könnte er auf die Kanonessammlung Anselms anspielen74. 67 68 69 70 71 72 73 74
Schmale-Ott (wie Anm. 57), S. 40. Tischler, Traktat (wie Anm. 17), besonders S. 4 und 5. Tischler, Traktat (wie Anm. 17), besonders S. 4 und 5. Tischler, Traktat (wie Anm. 17), besonders S. 4 und 5. Catalogus (wie Anm. 2), S. 93–95, besonders Z. 992 f. Catalogus (wie Anm. 2), S. 95. Catalogus (wie Anm. 2), S. 100. Anselmi episcopi Lucensis Collectio canonum una cum collectione minore, ed. Friedrich Thaner, 2 Bde., Innsbruck 1906 und 1915. Vgl. auch Kathleen Cushing, Papacy and Law in the Gregorian Revolution. The Canonistic Work of Anselm of Lucca, Oxford 1998 (Oxford Historical Monographs), die auf S. 179–200 eine “abridged edition” der Bücher XII und XIII von Anselms Collectio bietet, die in der Edition von Thaner fehlen.
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Nur sehr kurz wird Petrus Damiani (Nr. 163) behandelt; von seinen Werken wird nur die Vita Odilos von Cluny und einige Homilien erwähnt75. Als Nr. 166 ist Bernhard von Konstanz (Hildesheim), gestorben 1088, behandelt. Er wird als Gegner Heinrichs IV. bezeichnet. Aus seiner Schrift an Erzbischof Hartwig von Magdeburg werde deutlich, wie verhasst Heinrich IV. bei den Sachsen war76. Nr. 168: Von Ivo von Chartres nennt Sigebert vor allem den Brief an Erzbischof Hugo von Lyon, in dem Ivo die neuartigen Dekrete über die Kirche verteidigt habe (pro inusitatis Romane ecclesie decretis). Außerdem werden weitere Briefe und seine Kanonessammlung (insigne volumen canonum) erwähnt. Als Nr. 161 wird Wenrich von Trier, der antigregorianische Publizist, recht ausführlich behandelt, und zwar sein Brieftraktat, gegen den Manegold von Lautenbach seinen Liber ad Gebehardum verfasste77. Hier ist zu beachten, dass Wenrichs Brief in der Hs. Wien 2213 aus dem Augustinerchorherrenstift Frankenthal zusammen mit der Apologia Sigeberts und anderen antigregorianischen Schriften überliefert ist78. In dem langen Artikel, den Sigebert seinen eigenen Werken widmet (Nr. 172), spielen seine polemischen Schriften eine wichtige Rolle. Wie gesagt, ist hier aber vom Tractatus keine Rede; das ist ein wichtiges Argument gegen Sigeberts Verfasserschaft an dieser Schrift. Als einziger Geschichtsschreiber wird im Catalogus Marianus Scotus genannt. Weder Hermann der Lahme noch Bernold von Konstanz erscheinen hier. Diese beiden Autoren kannte und benutzte Sigebert auch nicht in seiner Chronik, sondern eben nur Marianus. Wenn man die Parallelen zwischen dem Katalog und der Chronik betrachtet, zeigt sich, dass Sigebert für viele Einträge „die literarhistorischen Notizen seiner Chronik später zu seinem Catalogus de viris illustribus weiter ausbaute“, wie schon Robert Witte beobachtete79. Für die letzten ca. 20 Einträge in den Catalogus gilt diese Feststellung allerdings nicht, denn hier gibt es nur bei den Nummern 150, 151, 155, 157, 160, 162 und 165 Parallelen zwischen dem Catalogus und der Chronik. 75 Catalogus (wie Anm. 2), S. 100. 76 Catalogus (wie Anm. 2), S. 101. 77 Catalogus (wie Anm. 2), S. 100. Der überzeugte Gregorianer Manegold ist aber bei Sigebert nicht behandelt. 78 Zu dieser Handschrift siehe oben bei Anm. 18. 79 Witte, Catalogus (wie Anm. 2), S. 14–16, das Zitat auf S. 17.
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Die übrigen fünfzehn Nummern (bis Nr. 172) haben keine Entsprechungen in der Chronik. Im Schriftstellerkatalog jedenfalls, in seinem wohl letzten Werk, hat Sigebert seine antigregorianische Haltung nicht besonders hervortreten lassen. Es ist möglich, dass Sigebert in diesem eher lexikographischen Werk seine kirchenpolitische Einstellung unterdrücken wollte; vielleicht hat er sich aber am Ende seines Lebens von einer radikal antigregorianischen Haltung abgekehrt: Dann hätten wir ein weiteres Argument gegen Sigeberts Verfasserschaft am Tractatus de investitura.
Res tam nodosas Die literarische Darstellung des Investiturstreits in die Vita metrica Anselmi des Bischofs Ranger von Lucca Eugenio Riversi
C’est en cela que la littérature peut être appelée miroir: en deplaçant les choses, elle garde leur reflet. Elle projette sa surface mince sur le monde et sur l’histoire. Elle les traverse, elle les fend. A sa suite, dans son sillage, se lèvent les images. (Pierre Macherey, Pour une théorie de la production littéraire, Paris 1966 (Théorie, 4), S. 157)
Res tam nodosas: mit diesem Ausdruck aus der Vita metrica Anselmi des Lucceser Bischofs Ranger wird metaphorisch und emblematisch die Komplexität des vorliegenden Forschungsobjekts und seiner Darstellung angedeutet. Aber eigentlich beschreibt dieser Ausdruck in seinem Kontext eine weitere Komplexität, die eine Voraussetzung der gerade genannten ist: die der verwickelten Tatsachen, in die die zwei Protagonisten der Erzählung Rangers – Anselm, der Bischof von Lucca, und Gregor VII. – involviert waren. Der Autor hatte diesem Ausdruck schon einen dichten Prolog und den ersten Teil des Gedichts – 700 Verse – vorangestellt, doch vor Beginn des Hauptteils der Erzählung fasste er die Inhalte nochmals zusammen. Es handelt sich um die Tugend und den Glauben zweier christlicher Gestalten: Die Schwierigkeit, ihr Handeln darzustellen, lag eben ‚in den verwickelten Tatsachen, in den verderblichen Listen, in der Wut des Königs und im schismatischen Frevel‘. Nach der Geschichtskonzeption Rangers wiederholte all dies den immer wiederkehrenden christlichen Kampf zwischen Gut und Böse auf eine besonders komplizierte Weise. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen bedarf es einer besonderen Mühe, die Heilsbotschaft des Evangeliums erneut zu propagieren, und es bedarf spezieller literarischer Kompetenzen, um diese Ereignisse darzustellen: Die Besten der alten lateinischen Autoren – Cicero und Vergil – wären dieser Aufgabe nicht gewachsen gewesen, behauptet Ranger nach einem locus der gewöhnlichen
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mittelalterlichen Topik. Man brauche die Hilfe der göttlichen Inspiration, um das Geschehen zu erzählen und zum Vorbild zu machen1. Diese topische Konstellation konkretisierte sich in seinem ambitionierten Plan, die prosaische und anonyme Vita Anselmi, die hagiographische Erzählung des Lebens des Bischofs von Lucca, metrisch und inhaltlich zu überarbeiten2. Für dieses Ziel schöpfte Ranger aus einem Reservoir literarischer und rhetorischer Ressourcen, deren Anwendung ungewöhnlich für die Textproduktion des Investiturstreits ist. Allerdings ist dieses Werk gleichzeitig besonders aussagekräftig, weil Ranger von seinem Beobachtungspunkt in den 90er Jahren des 11. Jahrhunderts aus versuchte, durch dieses sehr gelehrte und komplexe Gedicht eine literarische Darstellung des allgemeinen Streites zu realisieren. Die Analyse seines Werkes bietet dem Forscher daher die Möglichkeit, einen besonderen Blick auf die textuelle Vermittlung dieser komplexen politischen Krise zu werfen. Außerdem ermöglicht die Untersuchung dieses literarischen ‚Relikts‘ eine Annäherung an die Vielfältigkeit der sogenannten Streitschriften und gleichzeitig an das wechselseitige Verhältnis zwischen den rhetorischen Ausprägungen der ‚Publizistik‘ und den medialen Effekten der Entstehung, der Intensivierung und der Integration der damaligen Teilöffentlichkeiten3. 1 Rangerii Vita metrica S. Anselmi Lucensis episcopi, ed. Ernst Sackur, Gerhard Schwartz, Bernhard Schmeidler, in: MGH SS, 30/2, Leipzig 1934, S. 1152–1307 (ab jetzt in den Fußnoten: VAR). Diese programmatische Stelle des Gedichts findet sich am Ende des Abschnitts bzw. Buchs [1.]: De quorum gemina virtute fideque vicissim/ Dicere nunc opus est, et labor inmodicus./ Nam quae lingua potest, quae mens describere digne/ Expertos tociens tanta pericla viros?/ Si Cicero redeat, si reddant fata Maronem,/ Subcumbant operi nec satis expediant/ Res tam nodosas, artes tam perniciosas,/ Et furias regis, scimaticumque nefas (VAR 716–726, S. 1172). Der häufige Topos der Unzulänglichkeit des Autors gegenüber den Handlungen der zwei heiligen Protagonisten wird von Ranger weiter spezifiziert, weil die Schwierigkeit nicht nur in der ungreifbaren Außerordentlichkeit der zwei Figuren, sondern in der Komplexität der konfliktuellen Situation liegt. Über diese Topoi in der Hagiographie: Gerhard Strunk, Kunst und Glaube in der lateinischen Heiligenlegende. Zu ihrem Selbstverständnis in den Prologen, München 1970, S. 85–104. 2 Bardonis Vita Anselmi episcopi Lucensis, ed. Roger Wilmans, in: MGH SS, 12, Hannover 1856, S. 13–35. Über die dem Presbiter Bardo zugewiesene, aber in der Tat anonyme Vita Anselmi: Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. IV. Das hohe Mittelalter, 2, 1070–1220 n. Chr., Stuttgart 2001 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, 12/2), S. 445–449. 3 Der Hintergrund der vorliegenden Untersuchung über die Vita metrica Anselmi Rangers ist die Grundfrage nach der möglichen Beziehung zwischen öffentlicher Kommunikation und Rhetorik während des Investiturstreits. Der Verlust weiter Teile des damaligen kommunikativen Kontextes veranlasst dazu, die rhetorischen bzw. literarischen Kodierungen der überlieferten ‚Streitschriften‘ als Auswirkung des Konflikts auf die Texte zu analysie-
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Einleitung Die Vita metrica Anselmi Lucensis episcopi, die vom Bischof Ranger von Lucca höchstwahrscheinlich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre des 11. Jahrhunderts geschrieben wurde, umfasst 7364 Verse, die elegische Disticha sind4. Das Gedicht ist die Überarbeitung und Erweiterung der anonymen Vita Anselmi, die um 1086/1087 in Prosa verfasst wurde. Der rote Faden einer sehr komplexen inhaltlichen Entfaltung ist die Erzählung der außerordentlichen Taten des schon erwähnten Bischofs Anselm von Lucca († 1086) von dessen Kindheit bis zu den Wundern nach seinem Tod5. Darüber hinaus werden auch Episoden aus dem Leben Papst Gregors VII. († 1085) selektiv erzählt: Sein Handeln wird ab dem Cadalus-Schisma beschrieben, das bedeutenderweise als Voraussetzung der gesamten Erzählung gilt6. Es besteht kein Zweifel, dass der Autor ein Anhänger der beiden und daher Mitglied des Lagers war, das – auch im Namen dieser Vorgänger – Papst Urban II. unterstützte7. Ranger war einer der Bischöfe, die sich nach den diözesanen Schismen der 80er Jahre in den norditalienischen und toskanischen Städten dank der ren, um anhand dieser Spuren die Entstehung einer Öffentlichkeit aufzuzeigen, die mit der modernen vergleichbar ist. Diese Grundfrage zielt auf eine Weiterentwicklung der Untersuchungen von Leidulf Melve ab: Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030–1122), Leiden, Boston 2007 (Brill’s Studies in Intellectual History, 154/1–2). 4 Berschin, Biographie (wie Anm. 2), S. 450, der die Relevanz des Werkes von Ranger allerdings unterschätzt; grundlegend als Einführung zur Vita metrica Anselmi und für eine literarische Interpretation des Gedichts: Gabriella Severino, La Vita metrica di Anselmo da Lucca scritta da Rangerio. Ideologia e genere letterario, in: Cinzio Violante (Hg.), Sant’Anselmo vescovo di Lucca (1073–1086) nel quadro delle trasformazioni sociali e della riforma ecclesiastica, Rom 1992 (Istituto Storico Italiano per il Medio Evo – Nuovi Studi Storici, 13), S. 223–271. Allerdings folgt man hier nicht allen Deutungen und Einschätzun gen von Gabriella Severino. 5 Theo Kölzer, Anselm II. von Lucca, in: Lexikon des Mittelalters I. (1980), Sp. 679–680; Kathleen G. Cushing, Papacy and Law in the Gregorian Revolution. The canonistic work of Anselm of Lucca, Oxford 1998, S. 43–63; vgl. auch: Cinzio Violante, Anselmo da Baggio, in: Dizionario Biografico degli Italiani III. (1961), S. 399–407. 6 VAR 64–274, S. 1158–1162. Die letzte ausführliche Betrachtung über Cadalus und das Schisma: Mary Stroll, Popes and Antipopes. The Reform of Eleventh Century, Oxford 2012, S. 133–204; siehe in diesem Band den Beitrag von Anja-Lisa Schroll über die Rezeption des Schismas zwischen Cadalus und Alexander II. während des späteren wibertinischen Schismas. 7 Zehn Jahre später, um 1110, betonte Ranger die Kontinuität der Handlungen Gregors VII. und Urbans II. in seinem metrischen Traktat De anulo et baculo: Gregorium vas egregium, quicumque negavit/ Iam videat, si forte queat, quia falso putavit./ Quique duas fregit statuas
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Tätigkeit Urbans II. und Mathildes von Canossa allmählich durchsetzen konnten8. Auch sein Pontifikat, das von der zweiten Hälfte der 1090er Jahre bis 1112 dauerte, zeigt die spannungsvolle, aber auch kompromissbereite Zusammenarbeit mit den lokalen geistlichen Institutionen und den sozialen Gruppen Luccas9. Über seine Herkunft wurde viel spekuliert, aber letztendlich bleibt sie unentscheidbar10. Ohne Zweifel sind seine literarischen Kompetenzen und sein theologisches, ekklesiologisches und auch ‚soziales‘ Wissen ein Beweis für seine Zugehörigkeit zu den elitären Netzwerken der Gelehrten der lateinischen Christenheit11. Unklar bleibt jedoch, wie eng das Verhältnis mit der Entourage Urbans II. war, der während seines Pontifikats eine erhebliche Fähigkeit bewies, geeignete Mitarbeiter für sich zu gewinnen12. Die Vita metrica Anselmi und ein weiteres Werk, das gegen Ende 1110 verfasste Gedicht De anulo et baculo, sind auf jeden Fall aussagekräftige Zeugen dieser komplexen Übergangsphase des Streites zwischen Kaiser und Papst, in dem Ranger eine relativ strikte Position im Feld der Reformer innehatte: eine Position, die zu Recht
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Urbanus, ab illo/ Fonte fluit longeque cluit non segnius illo. Rangerii Liber de anulo et baculo, ed. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, 9–12, S. 508. Si veda in sintesi: Nicolangelo D’Acunto, I vescovi del Regno Italico, in: Renata Salvarani, Liana Castelfranchi (Hg.), Matilde di Canossa il papato l’impero: storia, arte, cultura alle origini del romanico, Milano 2008, S. 116–125. Raffaele Savigni, L’episcopato lucchese di Rangerio (1096 ca.–1112) tra riforma “gregoriana” e nuova coscienza cittadina, in: Ricerche Storiche XXVII/1 (1997), S. 5–37; vgl. auch: Raffaele Savigni, Episcopato e società cittadina a Lucca: da Anselmo II (†1086) a Roberto (†1255), Lucca 1996. Pietro Guidi, Della patria di Rangerio autore della «Vita metrica» di S. Anselmo vescovo di Lucca, in: Studi Gregoriani I, Rom 1947, S. 263–280; Savigni, L’episcopato lucchese (wie Anm. 9), S. 6. Als Indiz dieser Zugehörigkeit kann auch die Erwähnung Rangers in der Schriftrolle gesehen werden, durch die der Tod Brunos von Köln, des Begründers des Kartäuserordens, angezeigt wurde: Guidi, Della patria, S. 274–278 (wie Anm 11). Vgl: Graziano Concioni, Insediamenti monastici in diocesi di Lucca al tempo della morte di San Bruno (6 ottobre 1101), in: Rivista di archeologia, storia, costume 38 (2010), S. 45–98. Nur ein Fragment eines Briefes Urbans II. an Ranger ( JL 5769) ist in einer Epistel Paschalis II. an Gebhard von Konstanz aus dem Januar 1100 überliefert: Acta Pontificum Romano rum inedita, ed. Julius von Pflugk-Harttung, Bd. 2, Stuttgart 1884, Nr. 205, S. 169 ( JL 5817). In seiner Historia Novorum erzählt Eadmer von Canterbury, dass Ranger während der römischen Synode im April 1099 auf Befehl Urbans II. die Beschlüsse laut las, jedoch plötzlich abbrach, um die Teilnehmer sehr polemisch über ihre lässige Einstellung gegenüber dem tyrannischen Verhalten einiger Herrscher und insbesondere gegenüber dem Fall Anselms von Canterbury zu tadeln: Eadmeri Cantuariensis Historia novorum in Anglia et opuscula duo de vita sancti Anselmi et quibusdam miraculis eius, ed. Martin Rule, London 1884 (Rolls Series, 81), S. 112–113.
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als ‚gregorianisch‘ definiert werden kann. Der Autor konstruierte nämlich durch die Darstellungsabsicht und durch die Inhalte seines Werks eine Identität, die vom Gedächtnis an das Pontifikat Gregors VII. und von der Treue gegenüber dessen Ideen geprägt wurde13. Die Gruppe, an die sich Ranger wandte, war potentiell universell und offen: Sie bestände aus allen Christen, die Gott fürchteten, schreibt er am Anfang der Vita Anselmi14. Konkreter kann man das Gedicht aber auf drei Kommunikationskreise zurückführen. Der erste wird explizit von Donizo von Canossa, Autor der Vita Mathildis, erwähnt: Ranger habe die Überarbeitung der Vita Anselmi für Mathilde von Tuszien verfasst15. Seit den 1080er Jahren war die Gräfin Adressatin unterschiedlicher Texte, die die von ihr unterstützten Anhänger Gregors VII. für sie schrieben16. Das schlägt sich in den mehreren Mathilde betreffenden Teilen der Vita metrica Anselmi nieder, in denen ihre wichtige Rolle anerkannt wird. Der 13 Selbstverständlich gibt es auch andere Texte, deren Darstellungsabsicht zweifelsohne als ‚gregorianisch‘ bezeichnet werden kann: zum Beispiel den Liber ad amicum Bonizos von Sutri oder die anonyme Vita Anselmi selbst. Allerdings fokalisiert sich die Vita metrica Anselmi am deutlichsten auf das Gedächtnis an Gregors Handlungen bzw. Ideen. Siehe die aussagekräftige Präsentation von Hugo, dem Erzbischof von Lyon: Hunc Luddunien sis Hugo vir religiosus/ Et fidei purae fortis et egregius/ Assertor sacrae novitatis, Gregoriano/ Fonte satus (VAR 7109–7112, S. 1304). 14 Omnibus in toto Dominum metuentibus orbe/ Rangerius Christi servus et ecclesiae (VAR, Prologus, 1–2, S. 1155). Es bleibt sehr schwierig, anhand der in diesen Versen unterstellten christlichen Verantwortung des Autors zu bestimmen, ob Ranger schon Bischof von Lucca war. 15 Ut decuit digne sepelivit mesta benigne./ Artus Anselmi condivit Mantua terris./ De quo quod gliscit monstrasti Christe Mathildi:/ Nam virtute tua faecit miracula plura;/ Servulus iste tuus de sanctis extitit unus:/ Catholicae parti fuit indicium probitatis;/ Scismaticae parti signum quasi debilitatis./ Inde triumphando gaudet Comitissa precando:/ Huius enim patris precibus putat auxiliari./ Cumque daret tumba sancti miracula multa,/ Proderet et multis post nos per secla futuris,/ Iusticiae cultrix ea partim fingere iussit;/ Quae simul et vitam cappellani sibi dictant;/ Tercius existens ab eo Lucensis et ille/ Rangerius rector dictavit eam sibi metro (Doni zonis Vita Mathildis celeberrimae principis Italiae, ed. Luigi Simeoni, Bologna 1931–1940 (Rerum Italicarum Scriptores2, V/2), 376–390, S. 69. 16 Bernhard Bischoff, Der Cantikumkommentar des Johannes von Mantua für die Markgräfin Mathilde, in: Lebenskräfte in der abendländischen Geistesgeschichte. Dank- und Erinnerungsgabe an Walter Goetz zum 80. Geburtstag am 11. November 1947, Marburg/ Lahn 1948, S. 25–26; Elke Goez, Mathilde von Canossa – Herrschaft zwischen Tradition und Neubeginn, in: Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, München 2006, S. 335–337. Vgl. auch Eugenio Riversi, La memoria di Canossa. Saggi di contestualizzazione della Vita Mathildis di Donizone, Pisa 2013 (Studi Medioevali, nuova serie, 2), S. 469–499.
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zweite Kreis ist die Entourage des Papstes. Trotz der sehr schwachen Indizien, die diesen Rezipientenkreis vermuten lassen, waren Urban II. sowie seine Mitarbeiter und Unterstützer virtuelle Adressaten der Erzählung Rangers17. Der dritte mögliche Kommunikationskreis ist der städtische Kontext von Lucca18. Weite Teile des Gedichts – darunter Teil III im Text der Edition – werden dem Pontifikat Anselms und dem diözesanen Schisma gewidmet19. Es ist wahrscheinlich, dass die Vita metrica Anselmi auch für die oberen Schichten der Stadt und der Kirche von Lucca, vor allem für die möglicherweise sehr gut ausgebildeten Kanoniker des Domkapitels, gedacht war. Ranger zielte mit seiner Darstellung der Auseinandersetzung aber nicht nur darauf ab, die Gegner vom Irrtum der Parteinahme für den königlichen Bischof Petrus zu überzeugen, sondern er wollte auch seine Unterstützer bestätigen und den Konsens der Mitglieder der Elite gewinnen, die – wie die Figuren Tado oder Ughiccio – laut Ranger ihre Opposition gegenüber dem Bischof 17 Außer der schon oben erwähnten Verweise und Andeutungen auf die Beziehungen zwischen Urban II. und Ranger (siehe Anm. 11.) vermutet man, dass der Papst die Durchsetzung Rangers in Lucca, auf dem Rückweg von seiner Reise nach Frankreich im Jahr 1096 unterstützt habe. Das bleibt eine Hypothese, die durch die behauptete Anwesenheit Rangers in der Entourage des Papstes während seiner Reise nach Frankreich nicht bestätigt werden kann. Über die Papsturkunde Calixts II. für das Kloster von Marmoutier (1119 September 24.), in der Ranger als Bischof von Lucca erwähnt wird, Guidi, Della patria (wie Anm. 10), S. 278–280; die problematische Edition der Stelle in: Ulysses Robert: Bullaire du Pape Calixte II, 1119–1124: essai de restitution, Paris 1891, n. 64, S. 92 ( JL 6743). Nicht schlüssig ist die Identifikation Rangers mit einem Rangerius, der sich unter den sehr dicken und betrunkenen Kardinälen der Gefolgschaft Urbans II. in einem bekannten satirischen Werk findet: Garsiae Toletani canonici Tractatus de Albino et Rufino, ed. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 430, 433–434. 18 Am Anfang des Gedichts gibt es eine Identifikation Rangers mit der Stadt: Anselmus nostra presul in urbe fuit (VAR 2, S. 1157); aber auch mit dem Bischofsamt: VAR 4, S. 1157; mit der ecclesia in einem Selbstgespräch Alexanders II.: VAR 410, S. 1165; mit dem heiligen Martinus: VAR 4398, S. 1249. Mit den städtischen Konsuln identifiziert sich die positive Gestalt Tadus: VAR 5311, S. 1267. Allerdings identifizieren sich auch die Kanoniker, Gegner Anselms, mit der Kirche und der Heimat: VAR 1870–1871, S. 1196; aber auch mit dem König: VAR 1855, S. 1196. Mit der Parteinahme für Gregor entsteht auch eine Wir-Identität der Reformer: Symon noster, d. h. Simon Petrus im Gegensatz zu Simon magus: VAR 27–28, S. 1157; 975, S. 1177; dogma nostrum in einer Rede des römischen Adligen Cencius: VAR 5887, S. 1279; und vielleicht auch conversatio nostra in einer Rede Gregors VII.: VAR 5785, S. 1277. Es gibt auch eine conversio nostra Heinrichs IV., die in der militia liegt: VAR 2363, 2367, S. 1207). Von Laien sowie vom König grenzt sich die geistliche Gruppe ab: porcio nostra (VAR 1479, S. 1188) in einer Rede Anselms und munus nostrum (VAR 3373, S. 1228). 19 VAR 4245–5762, S. 1246–1276.
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Petrus nicht offen ausdrückten, sondern sein Pontifikat und die Hegemonie der kaiserlichen Anhänger, obwohl ungern, öffentlich akzeptiert hatten20. Leider gibt es fast keine Indizien, um die Produktion und die Rezeption des Textes genauer zu kontextualisieren. Auch die Überlieferung ist in diesem Fall nicht weiterführend. Die einzige aus dem 12. Jahrhundert stammende Handschrift, die das ganze Gedicht enthielt, ist verloren gegangen: Sie wurde im Kloster Ripoll in den spanischen Vorpyrenäen aufbewahrt und ist bei einem Brand im Jahr 1835 zerstört worden. In Ripoll gab es zweifelsohne eine wichtige monastische Bibliothek, aber der Ort an sich ist ohne weitere Informationen, die potentiell von einer Handschrift abgeleitet werden könnten, nicht sehr aussagekräftig für ein solches Werk21. Das weitere Fragment des Gedichts – zu finden in einem Pergamentblatt des 12. Jahrhunderts in der Freiburger Bibliothek – hilft nicht weiter. Es zeigt nur durch einige Varianten, dass der umfangreiche Text vielleicht unterschiedliche Verfassungsphasen kannte und vermutlich dementsprechend verschiedene Adressaten hatte22. Bischoffs Hypothese einer iberischen oder einer weniger wahrscheinlichen italienischen Herkunft des Fragments reicht leider – unabhängig vom Wert der Einschätzung – nicht aus, um weitere kontextuelle Überlegungen zu entwickeln. Die Überlieferung sagt letztendlich nichts über die Kommunikationskreise des Gedichts. Sie lässt jedoch vermuten, dass das Werk keinen großen Erfolg hatte. Die versifizierte Überarbeitung der Vita Anselmi war möglicherweise sehr schwierig und zu lang für die üblichen Ziele einer hagiographischen Erzählung sowie für eine wirksame publizistische Anwendung. Sie war eher ein sehr spezifisches Produkt für bestimmte enge Kreise von hochgebildeten Geistlichen, die in den fürstlichen, 20 Unter den maiores urbis, die den königlichen Bischof Petrus anerkennen sollten, gab es Leute, die insgeheim dagegen waren: eine Art von ‚Nikodemiten‘. Zur Position von Tadus: Adsunt, qui sapiunt, sed pia corda tegunt;/ De quorum numero subtilis ad omnia Tadus,/ Rem simulat Petri, sed comes est fidei (VAR 5254–5256, S. 1266). Unter den Grafen von Tuszien ist Hugicio gegen Petrus: Hugicio, vir magnanimus, se spondet in arma,/ Sed Petri fraudem non amat (VAR 4799–4798, S. 1257). Über Tadus: Episcopato e società (wie Anm. 9), S. 593. 21 Vgl. Sackurs Einleitung zum anderen Werk Rangers: Rangerii de anulo et baculo, S. 506– 507 (wie Anm. 7). 22 Für die Beschreibung des Fragments: Winfried Hagenmaier, Die lateinischen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau (ab Hs. 231), Wiesbaden 1980 (Kataloge der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau, Bd. 1/3), S. 198. Eigentlich lassen die Varianten ebenso potentielle Fehler in der mittelalterlichen Überlieferung sowie in der Transkription des 19. Jahrhunderts vermuten. Die „erheb lichen“ Varianten wurden von Walter Berschin kurz aufgelistet: Walter Berschin, Bonizo von Sutri. Leben und Werke, Berlin, New York 1972, S. 13–14, Anm. 45.
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päpstlichen oder bischöflichen Gefolgen tätig waren und vor allem die Fähigkeit besaßen, das gelehrte Gedicht zu verstehen bzw. weiter zu vermitteln23. Eine Folge dieser problematischen Überlieferung war, dass die Vita metrica Anselmi sowie der De anulo et baculo bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der Geschichtswissenschaft unbekannt blieben. Erst dann erschienen die ersten wichtigen Studien über Rangers Werke und wurden die Editionen in den MGH geplant und realisiert. Diesen ersten Arbeiten von Colucci, Overmann, Schmeidler und Schwarz folgten keine weiteren ausführlichen Untersuchungen, die die Komplexität dieser Texte hätten eingehender erklären können24. Außerdem konnte der Kommentarapparat aufgrund der problematischen Vorbereitung der Edition der Vita metrica Anselmi für die Scriptores-Reihe der MGH nicht ausreichend entwickelt werden, um die Quelle für die Forschung aufzubereiten. Auch die Arbeit von Guidi über Ranger hat die Texte nicht wirklich in den Vordergrund gestellt25. Die Nutzung dieser Quelle blieb deshalb im 20. Jahrhundert lange eingeschränkt und das informative Potential eines solchen literarischen Werks kaum erkannt. Erst mit der 1987 in Lucca durchgeführten Tagung und dem fünf Jahre später erschienenen Sammelband wurden zwei wichtige Beiträge über Rangers Werke veröffentlicht: der der Vita metrica Anselmi gewidmete Aufsatz von Gabriella Seve rino und die auf den De anulo et baculo und seinen Kontext konzentrierte Studie von Mario Nobili26. Aus unterschiedlichen Perspektiven – einer literarischeren und einer geschichtswissenschaftlicheren – haben beide Forscher die historische 23 Andererseits kann man vernünftigerweise vermuten, dass die anonyme Vita Anselmi innerhalb des hagiographischen Dossiers über Anselm von Lucca die Bedürfnisse eines breiteren Publikums besser als Rangers Überarbeitung befriedigen konnte. 24 Giuseppe Colucci, Un nuovo poema latino dello XI secolo. La vita di Anselmo da Baggio e il conflitto tra il sacerdozio e l’impero, Rom 1895; Alfred Overmann, Die Vita Anselmi Lucensis episcopi des Rangerius, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 21 (1896), S. 401–440; Bernhard Schmeidler, Gerhard Schwartz, Kleine Studien zu den Viten des Bischofs Anselm und zur Geschichte des Investiturstreits in Lucca, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 44 (1923), S. 513–550. 25 Guidi, Della patria (wie Anm. 10). 26 Severino, La Vita metrica (wie Anm. 4); Mario Nobili, Il «Liber de anulo et baculo» del vescovo di Lucca Rangerio, Matilde e la lotta per le investiture negli anni 1110–1111, in: Violante (Hg.), Sant’Anselmo vescovo di Lucca (wie Anm. 4), S. 157–206. Der der Streithagiographie gewidmete Aufsatz von Paolo Golinelli konzentriert sich vor allem auf die anonyme Vita Anselmi: Paolo Golinelli, Dall’agiografia alla storia: le «vitae» di Sant’Anselmo di Lucca, in: Paolo Golinelli (Hg.), Sant’Anselmo, Mantova e la lotta per le investiture, Atti del Convegno internazionale di Studi (Mantova, 23–25 maggio 1986), Bologna 1987, S. 27–60, insbes. 56–59.
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Bedeutung dieser Quellen aufgezeigt. Anschließend hat Raffaele Savigni in den 1990er Jahren im Rahmen seiner grundlegenden Forschungen über die Kirche und die Stadt Lucca im Hochmittelalter die Werke Rangers und vor allem die Vita metrica Anselmi untersucht und dabei erste überzeugende Analysen der thematischen Ketten und der Darstellung des Gedichts vorgelegt27. Diese Beiträge deuten an, dass das Potential der Werke Rangers und insbesondere der Vita sehr hoch ist, was jüngst auch die Untersuchungen von Georg Strack über die Oratorik Gregors VII. beispielhaft gezeigt haben28. Ranger hat durch die textuelle Konstruktion der Vita metrica Anselmi eine einzigartige ,Aufnahme‘ des allgemeinen Streits realisiert, so dass man sogar versuchen kann, sich durch diese literarische Vermittlung auch Aspekten der damaligen mündlichen und schriftlichen Kommunikation anzunähern. Damit berührt man ein Grundproblem und seine methodologischen Folgerungen, auf denen die Untersuchung des vorliegenden Fallbeispiels basiert. Es ist unumstritten, dass der sogenannte Investiturstreit von einer außerordentlichen Textproduktion charakterisiert war. Diese Produktion, die zu einem nicht geringen Teil überliefert ist, ist von besonderen intertextuellen Beziehungen geprägt, die grundsätzlich aus polemischen Argumentationen zu einem bestimmten Spektrum von Themen bestehen. Dieses textuelle Phänomen wurde als „Publizistik“ verstanden, in ihm sogar die politische Funktion der „Propaganda“ erkannt; ferner wurde es als Zeichen der Entstehung einer „Öffentlichkeit“ (Public Sphere) und einer Komplexifizierung bzw. Verdichtung einer ‚Streitkultur‘ gedeutet29. Leider lassen sich von dem erhal27 Savigni, L’episcopato lucchese (s. Anm. 9), S. 345–376; Raffaele Savigni, La diocesi lucchese e i Canossa tra XI e XII secolo, in: Paolo Golinelli (Hg.), I poteri dei Canossa. Da Reggio Emilia all’Europa, Atti del convegno internazionale di Studi (Reggio Emilia – Carpineti, 29–31 ottobre 1992), Bologna 1994, S. 163–187. 28 Georg Strack, Oratorik im Zeitalter der Kirchenreform. Reden und Predigten Papst Gregors VII., in: Georg Strack, Julia Knödler (Hg.), Rhetorik im Mittelalter und Renaissance, Konzepte – Praxis – Diversität, München 2011 (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 6), S. 121–144. Vgl. auch den weiteren Beitrag desselben Autors in diesem Band. 29 Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894; Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: Historische Zeitschrift 154 (1936), S. 491–512; Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit, Stuttgart 1997, S. 176–291; Monika Suchan, Publizistik im Zeitalter Heinrichs IV. – Anfänge päpstlicher und kaiserlicher Propaganda im ,Investiturstreit’, in: Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2002, S. 29–45; Oliver Münsch, Fortschritt durch Propaganda? Die Publizistik des Investitur-
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tenen und sehr vielfältigen Schriftkomplex nur bedingt Rückschlüsse auf die Masse der verlorenen Texte (zum Beispiel: Briefe, Flugblätter, aber auch Reden, Predigten und andere mündliche Mitteilungen), die während des Streits verfasst, vermittelt und gehalten wurden, sowie auf die damaligen öffentlichen Auseinandersetzungen ziehen. Fast genauso schwierig ist es auch, die unterschiedlichen Aspekte der ‚pragmatischen‘ Anwendung der überlieferten Texte zu erfassen30. Kurz gesagt werden die bewahrten Schriften informell gerne als die ‚Spitze eines Eisbergs‘ dargestellt, d. h. als der sichtbare Teil einer wegen einer politisch-institutionellen Krise deutlich intensivierten kommunikativen Praxis. Um sich den ganzen ‚Eisberg‘ – d. h. auch seinen ‚unter Wasser liegenden‘ bzw. verschwundenen Teil der Botschaften – und damit die Intensivierung der Kommunikation vorzustellen, kann man sich daher überwiegend nur auf die Informationen stützen, die diese nach Jahrhunderten noch ‚auftauchenden‘ Schriften den Forschern direkt oder indirekt zur Verfügung stellen. Auch diese überlieferten Texte sind aber keineswegs einfach zu deuten. Ihre traditionelle Einheitlichkeit ist fragwürdig oder mindestens alles andere als leicht zu bestimmen. Die Definition ‚Streitschriften‘ in Bezug auf die Auseinandersetzung zwischen Kaisern und Päpsten (Libelli de lite imperatorum et pontificum) gibt keine Hinweise auf eine spezifische Gattung – die Schriften sind sehr unterschiedlich und überschreiten nicht selten die Grenzen der Genres –, sondern auf die schon erwähnten intertextuellen thematischen Ketten. Die ‚Kettenringe‘ sind inhaltlich einander entsprechende textuelle Abschnitte. Die inhaltlichen und die kontextuellen und nicht die formalen Merkmale prägen daher die historische Identität dieses Schriftenkomplexes, den man sich als ein nebelfleckiges und ungleichartiges Netzwerk textueller Objekte vorstellen kann: ein Netzwerk, das durch Verdichtungen, Anhäufungen, Verdünnungen, Überschneidungen und Überlagerungen geschil-
streits zwischen Tradition und Innovation, in: Jarnut, Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? (wie Anm. 16), S. 151–167; Melve, Inventing (wie Anm. 3); Florian Hartmann, Zur Kunst des Schreibens im Investiturstreit, in: Gunther Gebhard u. a. (Hg.), Streitkulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 35–55. 30 Gerd Althoff, Stephanie Coué, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. I. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg. II. Der Mord an Karl dem Guten (1127) und die Werke Galberts von Brügge und Walters von Thérouanne, in: Hagen Keller u. a. (Hg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, Akten des Internationales Kolloquiums, (17.–19. Mai 1989), München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 65), S. 95–129, insbes. 96–107; Suchan, Königsherrschaft im Streit (wie Anm. 29).
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dert werden kann. Eine ausführliche Beschreibung dieser Textproduktion wurde noch nicht realisiert31. Auf der Basis dieses komplexen und offenen Modells wird deutlich, dass auch andere Werke, die nicht in den drei Bänden der Libelli de lite gesammelt wurden, eigentlich zu dieser Gruppe gehören können. Einige Forschungsbegriffe, die in den letzten Jahrzehnten eingeführt wurden, setzen bereits eine Erweiterung der Grenze der Textproduktion des Investiturstreits voraus: zum Beispiel die ‚publizistische Interpretation der Kanones‘, die ‚politische Allegorie‘, die ‚Streithagiographie‘32. In diese letzte Kategorie wurde die Vita metrica Anselmi und ihr anonymes Vorbild von Paolo Golinelli eingeordnet: Das Werk findet sich deshalb am Rand der traditionellen Gruppe der Streitschriften, aber thematisch und kontextuell ist es eher in der Mitte dieses textuellen Netzwerkes positioniert. Daher kann man von diesem besonderen Fallbeispiel profitieren, um die allgemeine Frage nach der gemeinsamen Identität der Streitschriften zu stellen. Außerdem ermöglicht die Analyse der komplexen Konstruktion der Vita metrica Anselmi einen Blick auf den Kontext des Streites, der in den textuellen Strukturen des Gedichtes verinnerlicht wurde. In diesem Sinne ist es eine Grundannahme des vorliegenden Aufsatzes, dass die Vita metrica Anselmi eine der besten Möglichkeiten bietet, um sich den unsichtbaren großen Teil des ‚Eisbergs‘ vorzustellen. In diesem Werk und in seiner social logic – d. h. in der textuellen Auswirkung der sozio-kommunikativen Stellungnahme, 31 Bisher bleibt das Werk von Carl Mirbt für diese Textproduktion noch grundlegend: Mirbt, Publizistik (wie Anm. 29). Siehe neben der schon mehrmals zitierten Untersuchung von Leidulf Melve auch: Alois Fauser, Die Publizisten des Investiturstreits. Persönlichkeit und Ideen, München 1935; Ian S. Robinson, Authority and Resistance in the Investiture Contest. The Polemical Literature of the Late Eleventh Century, New York 1978. 32 Ovidio Capitani, L’interpretazione “pubblicistica” dei canoni come momento della definizione di istituti ecclesiastici (secc. XI–XII), in: Fonti medioevali e problematica storiografica. Atti del Congresso internazionale tenuto in occasione del 90° Anniversario della fondazione dell’Istituto Storico Italiano 1883–1973, (Roma 22–27 ottobre 1973), 1, S. 253–282; Ian S. Robinson, ‘Political Allegory’ in Biblical Exegesis of Bruno of Segni, in: Revue de Théologie ancienne et médiévale 50 (1983), S. 69–98; vgl. auch: Ian S. Robinson, The Bible in the Investiture Contest: the South German Gregorian Circle, in: Katharine Walsh, Diana Wood (Hg.), The Bible in the Medieval World. Essays in Memory of Beryl Smalley, Oxford, New York 1985 (Studies in Church History – Subsidia, 4), S. 61–84. Paolo Golinelli, Une hagiographie de combat dans le contexte de la lutte pour les investitures, in: Edina Bozóky (Hg.), Hagiographie, idéologie et politique au Moyen Âge en Occident. Acte du colloque international du Centre d’Études supérieures de Civilisation médiévale de Poitiers (11–14 septembre 2008), Turnhout 2012, S. 243–254; vgl. auch: Golinelli, Dall’agiografia, (wie Anm. 26).
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die ein solches Gedicht durch seine literarischen Strukturen verwirklichte und zum Ausdruck brachte – zeigt sich die hohe Spannung der damaligen social energy der Debatten, der Auseinandersetzungen und der Konflikte, aus denen der sogenannte Investiturstreit besteht33.
Gattungsgrenzen Um anhand des Beispiels der Vita metrica Anselmi die Komplexität und Vielfältigkeit der Streitschriften aufzuzeigen, soll der Fokus der Betrachtung auf den grundlegenden Aspekt der Gattung gerichtet werden. Der Begriff ‚Gattung‘ bezieht sich auf die sozio-literarische Identität eines Werks: Die Gattung besteht aus formalen, inhaltlichen sowie kommunikativen Elementen, die vom Autor vor allem im Hinblick auf einen Erwartungshorizont des Publikums ausgewählt wurden34. Komplexität und historische Plastizität der Gattungen, die tendenziell in jeder Epoche in mehr oder weniger systematischen Konstellationen strukturiert sind, verhindern die Genrezuweisung eines Textes zwar meistens nicht, aber zuweilen stößt man bei der Konturierung des Gattungsprofils eines Werkes auf Schwierigkeiten. Bei einigen der sogenannten Streitschriften des Investiturstreits lassen sich solche Schwierigkeiten erkennen, so auch bei der Vita metrica Anselmi, in der die Grenzen des hagiographischen ‚Genres‘ in mehrfacher Hinsicht überschritten wurden35. Obwohl das Gedicht Rangers kein polemischer Traktat bzw. Libellus ist, erlaubt es, die Frage nach der Gattungsidentität in der Textproduktion des Investiturstreits auf eine besonders subtile sowie aussagekräftige Weise zu stellen.
33 Gabrielle M. Spiegel, The Past as Text. The Theory and Practice of Medieval Historio graphy, Baltimore 1997, S. XVIII; Stephen J. Greenblatt: Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkley, Los Angeles 1988, S. 1–20. 34 Dieter Lamping, Gattungstheorie, in: Georg Braungart u. a. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft I (32010), S. 658–661. Zu den verschiedenen Kriterien der Bestimmung siehe die Beiträge in: Rüdiger Zymner (Hg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar 2010, S. 29–46. Vgl. auch: Maria Corti, Principi della comunica zione letteraria, Mailand 1997, S. 151–181. 35 Zu den allgemeinen Prozessen der Gattungsmischung: Moritz Bassler: Gattungsmischung, Gattungsübergänge, Unbestimmbarkeit, in: Zymner (Hg.), Handbuch Gattungstheorie (wie Anm. 34), S. 52–54.
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Allerdings besteht zunächst kein Zweifel daran, dass die Vita metrica Anselmi ein hagiographisches Werk ist, auch wenn die Zugehörigkeit zu dieser ‚Galaxie‘ der mittelalterlichen Texte nur eine relative Eingrenzung darstellt36. Die Hagiographie kann nämlich als Gattung, aber auch als Modus, Diskurs, Sprache oder sogar als Literatur mit eigenen Genres aufgefasst werden37. Trotz dieser Komplexität kann man die Hagiographie hier als literarisch-erzählende Gattung definieren38, der im Allgemeinen die Texte zugeordnet werden können, die die christliche Vorstellungswelt durch die Erzählung der virtus heiliger Menschen – d. h. ihrer Tugend und Macht – zum Ausdruck bringt, indem die vor und nach ihrem Tod vollbrachten Taten geschildert werden. Das gilt insbesondere für den wichtigsten Gattungszweig, die Vita39. Diese Gattungszugehörigkeit bestätigen auch viele explizite Aussagen Rangers, die auf das Programm des Werkes hinweisen. Wie üblich geben der Prolog und andere einleitende Teile die ‚Leitlinien‘ der Verwendung der Gattung vor. Hier soll nicht im Detail auf die grundlegende Exordialtopik und ihre Besonderheiten geachtet werden40. Ihr Kern ist die Rechtfertigung der Erzählung der großmütigen Taten 36 Eine regionale Kartierung der ‚Galaxie‘ bieten die Bände der von Guy Philippart und dann von Monique Goullet geleiteten Initiative: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, Bde. 1–6, Turnhout 1994–2014 (CC, Text and Studies). 37 Als Beispiele einer umfangreichen Literatur: Marc Van Uytfanghe, La formation du langage hagiographique en Occident latin, in: Cassiodorus 5 (1994), S. 143–169; Guy Philippart, Hagiographes et hagiographie, hagiologes et hagiologie: des mots et des concepts, in: Hagiographica 1 (1994), S. 1–16; Guy Philippart, L’hagiographie comme littérature: concept récent et nouveaux programmes?, in: Revue des Sciences Humaines 251 (1998), S. 11–39; Sofia Boesch Gajano: L’agiografia, in: Morfologie sociali e culturali in Europa tra tarda antichità e alto Medioevo, Spoleto 1998 (Settimana di Studio del CISAM, 45), S. 797–843. 38 In dieser Definition werden die nicht erzählerischen Formen der hagiographischen Texte ausgeschlossen, wie zum Beispiel die Martyrologe. 39 Réginald Grégoire, Manuale di agiologia. Introduzione alla letteratura agiografica, Fabriano 1987; Guy Philippart, Pour une histoire générale, problématique et sérielle, de la littérature et de l’édition hagiographique latines de l’antiquité et du moyen âge, in: Cassiodorus 2 (1996), S. 197–213; Guy Philippart, Saints d’ici-bas, saints de l’au-delà. Pour une définition du champ hagiographique, in: La maison-Dieu 237 (2004), (=Saints, témoins, héros, modèles), S. 45–84. 40 Strunk, Kunst und Glaube (wie Anm. 1); vgl. auch Gertrud Simon, Untersuchungen zur Topik der Widmungsbriefe mittelalterlicher Geschichtsschreiber bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik 4 (1958), S. 52–119; und 5–6 (1959–1960), S. 73–153. Insbesondere über die Topik der Bischofsviten: Stephanie Haarländer, Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie,
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Anselms und Gregors als Heiligenpaar und der Schilderung der Glut ihres Glaubens zum Lob Gottes. Diese sacra gesta virum zu schreiben, ist das eindeutig hagiographische Ziel, auf das Ranger kurz hinweist41. Außerhalb dieser programmatischen Überlegungen über die Inhalte wird die Zugehörigkeit der Vita Anselmi Rangers zur hagiographischen Gattung durch die unterschiedlichen Verweise auf eine tausend Jahre alte Tradition gekennzeichnet, die aus konkreten transtextuellen Beziehungen besteht42. Es handelt sich um Vorbilder und Quellen, die sich auch im Fall der Vita metrica Anselmi erkennen lassen. Einerseits gibt es nämlich Anspielungen auf klassische und erfolgreiche hagiographische Texte43. Andererseits kommen weitere hagiographische Überlieferungen explizit vor: die des heiligen Martinus, die des heiligen Benediktus, die des heili-
untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier, Stuttgart 2000 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 47), S. 31–61. 41 In laudem Anselmo Gregorioque patri,/ Quos inter tenebras densae caliginis huius/ Accendit Christus et nova signa dedit;/ E quibus orta dies et semita visa salutis/ Compulit innumeros ad sua septa greges./ Quorum magnanimos actus fideique calorem/ Ad Domini laudem scri bere disposui;/ Non quia sufficiam tantis in carmine rebus,/ Sed, qui corda movet, sufficit ipse Deus./ Ac primum posco, ne quem stilus iste fatiget,/ Iam scaber et senio fessus et arte carens:/ Quem sua non movit praesumpcio laudis amore,/ Sed pietas et amor ad sacra gesta virum (VAR, Prologus, 50–62, S. 1156). Ferner: Da, pater, egregios scribere posse viros./ Ansel mus tuus est, tuus, inquam, Gregoriusque,/ Et de fonte tuo rivus uterque fluit./ Nos quoque te canimus, tua sunt certamina, tu nos/ Et potes et debes magnilocos facere (VAR 680–684, S. 1171). Die signa der zwei Protagonisten bilden den Schwerpunkt der hagiographischen Vorstellungswelt: Wie die Verse des Prologs andeuten, werden diese signa neu in der Heilsgeschichte aktualisiert (inter tenebras densae caliginis huius/ Accendit Christus et nova signa dedit). Vgl. die Hinweise auf die nova signa in Anselms Rede vor der Schlacht von Sorbara (VAR 6525–6526, S. 1292) und auf die signa des heiligen Ägidius, der als Vorbild für Anselm gilt: Respirare iubet patris gratissimam sedes/ Egidii, multis nota et amata domus,/ Et miranda satis virtutum nobilitate/ Atque novis rebus, quas facit Egidius/ Per Dominum, quin ymo Deus sua munera praebens/ Per famulum, quorum signa patere facit,/ Ut cum pendentes laquearibus hospes ab alti/ Cereas species viderit, ipse quoque/ Gaudeat et similem, si forte rogaverit et non/ Diffisus fuerit, promereatur opem (VAR 1003–1012, S. 1178). 42 Genau diese vielfältigen transtextuellen Beziehungen von der Spätantike bis in die Frühneuzeit bilden die textuelle Infrastruktur der hagiographischen Vorstellungswelt. 43 Ranger spielt auf die Vita Martini und die Dialogi von Sulpicius Severus sowie auf die Dia logi Gregors des Großen und seine Vita an. Zu diesen und weiteren Verweisen auf die Texte siehe die Einleitung zur Edition: Rangerii Vita metrica Anselmi (wie Anm. 1), S. 1154.
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gen Valerius und Vincentius und die des heiligen Ägidius44, dessen Vita sogar eine Rolle in der erzählerischen Entwicklung der Biographie Anselms spielt45. Es ist bekannt und offensichtlich, dass das Werk Rangers eine metrische Überarbeitung, eine réécriture, der prosaischen und anonymen Vita Anselmi ist46. Dieser ebenfalls sehr polemisch geprägte Text wurde ungefähr zehn Jahre früher im Auftrag Mathildes von Tuszien erstellt. Aus der vorliegenden Perspektive ist die Feststellung, dass es sich um eine überarbeitete metrische Fassung handelt, sehr wichtig, um die Gattungszugehörigkeit zu bestätigen. Dass diese so wichtige Quelle von Ranger nicht zitiert wird, ganz abgesehen von anderen möglichen Erläuterungen, ist für eine Neubearbeitung keinesfalls ungewöhnlich, wie Monique Goullet und andere Forscher gezeigt haben47. 44 Der heilige Martin als Vorbild Anselms: Praedicat instanter nec iam velut ipse, sed alter/ Martinus gemino fungitur officio;/ Et sic pontificis opus exibet, ut tamen esse/ Hoc magis inci piat monachus et studeat (VAR 1457–1460, S. 1187); vgl. die Anwendung eben gegen das Verhalten Anselms in einem Klage der Lucceser: Denique Martinus, Turonorum pastor et huius/ Custos aecclesiae, monachus ante fuit;/ Sed cum tederet et multis opprimeretur,/ Ad monasterium non retro terga dedit (VAR 1275–1278, S. 1183–1184). Zur Geschichte Benedikts und der heiligen Scholastica: Iam saltem, qui prisca petunt, miracula cernant/ Anselmumque Deum posse movere sciant./ Obtinuit pluviam, pluviae cum tempus abes set,/ Virgo de fratris asperitate dolens/ Et clausit reditum (VAR 4965–4969, S. 1260). Das Beispiel Fredianus’ neben Martin: VAR 4381–4384, S. 1248. Über das Paar Valerius und Vincentius: VAR 125–128, S. 1159; über Ägidius VAR 1003–1012, S. 1178 (siehe auch Anm. 41). In der Trauerklage Mathildes nach dem Tod Anselms gibt es einen Hinweis auf die hagiographische Tradition des heiligen Hilarius von Poitiers: VAR 6949–6950, S. 1300. 45 Über die Wirkung des Vorbilds von Ägidius: VAR 1013–1026, S. 1182; insbesondere im Selbstgespräch Anselms: Egidius satis est exemplo regia proles (VAR 1025, S. 1178). Auch das Beispiel Benedikts wirkt direkt auf die Taten Anselms: VAR 1045–1046, S. 1179. Der Abt von Saint-Gilles schlägt Anselm die Wüstenväter als exemplaria vor (VAR 1145–1148, S. 1181) sowie Ägidius und Benedikt (VAR 1181–1192, S. 1182). Es ist sehr interessant zu beobachten, dass auch die Kanoniker, die Anselms Gegner waren, die Beispiele des heiligen Martinus und des heiligen Benediktus anwenden, um sich vor der Synode zu verteidigen: VAR 1693–1702, S. 1192. Das entspricht der vielfältigen Darstellungsweise Rangers. 46 Bardonis Vita Anselmi (wie Anm. 2); Edith Pásztor, Una fonte per la storia dell’età gregoriana: la «Vita Anselmi episcopi Lucensis», in: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il Medio Evo 72 (1961), S. 1–33; Edith Pásztor, La «Vita» anonima di Anselmo di Lucca. Una rilettura, in: Violante (Hg.), Sant’Anselmo vescovo di Lucca (wie Anm. 4), S. 207–222; Golinelli: Dall’agiografia, (wie. Anm. 26), S. 42–54. 47 Monique Goullet, Martin Heinzelmann (Hg.), La réécriture hagiographique dans l’Occident médiéval. Transformations formelles et idéologiques, Ostfildern 2003 (Beihefte der Francia, 58).
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Gerade Monique Goullet hat eine grundlegende Arbeit zur Praxis der réécriture hagiographischer Texte verfasst, die Bestandteile mehr oder weniger umfangreicher Dossiers über heilige Menschen sind48. Im hagiographischen Dossier über Anselm von Lucca zeigt Rangers komplexe Überarbeitung (‚Hypertext‘) der anonymen Vita Anselmi (‚Hypotext‘) viele unterschiedliche Aspekte und Prozesse, die in der Typologie der französischen Forscherin beschrieben werden49. Es handelt sich dabei nicht nur um die wichtigen formalen Veränderungen, die die Versifikation mit sich bringt50, sondern es lassen sich vielfach Erweiterungen und Ausdehnungen der Inhalte beobachten, seltener aber auch Reduktionen, die vor allem im letzten Abschnitt vorkommen, in dem Ranger Anselms Eigenschaften und vor allem die Wunder nach dessen Tod schildert51. Doch alle diese quantitativen und formalen Veränderungen bringen auch deutliche semantische und begriffliche Wandlungen in der Erzählung und der Darstellung mit sich. Eigentlich erschafft Ranger einen tiefen Prozess der „Transmodalisation“ der anonymen Vita Anselmi, die sich auf einer diegetischen sowie extradiegetischen Ebene auswirkt52. Eine solche Transmodalisation wurde gleichzeitig durch die Versifikation und vor allem durch das 48 Monique Goullet, Écriture et réécriture hagiographiques. Essai sur les réécritures de Vies des saint dans l’Occident latin médiéval (VIIIe–XIIIe s.), Turnhout 2005; Monique Goullet, Vers une typologie des réécritures hagiographiques, à partir de quelques exemples du Nord-Est de la France, in: Goullet, Heinzelmann (Hg.), La réécriture hagiographique (wie Anm. 49), S. 109–144. Vgl.: Christiane Veyrard-Cosme, Problèmes de réécriture des textes hagiographiques latins. La Vita Richarii d’Alcuin et ses réécritures, in: Michael W. Herren u. a. (Hg.), Latin Culture in the Eleventh Century, Proceedings of the Third International Conference on Medieval Latin Studies (Cambridge, 9.–12. September 1998), Turnhout 2002 (Publications of the Journal of Medieval Latin, 5/2), S. 476–502. 49 Diese Typologie ist von den Theorien Gérard Genettes abhängig: Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982; Goullet, Écriture et réécriture (wie Anm. 48), S. 91–101. Goullets Ansatz weist also der Hagiographie eine literarische Dynamik zu. Auch in diesem Kontext ist es notwendig, die Frage nach der Historizität der angewendeten Begrifflichkeit zu stellen. Allerdings bestätigt auch dieser Fall, dass die Kategorien, durch die die Literaturwissenschaft die moderne literarische Welt deutet, einen erheblichen heuristischen Wert haben. Dieser Wert liegt letztendlich in der Relevanz der rhetorischen Mechanismen in der Konstruktion der literarischen Texte: Mechanismen, die schon in der Antike beschrieben wurden. 50 Über die sogenannte alteratio, mit der man die Versifikation sowie die Umformung in Prosa bezeichnet: Goullet, Écriture et réécriture (wie Anm. 48), S. 151–163. 51 Über die Formen der Amplifizierung: Goullet, Écriture et réécriture (wie Anm. 48), S. 107–118; über die Reduzierung: S. 118–133. 52 Es handelt sich nicht um eine intermodale Überarbeitung, sondern innerhalb einer Erzählstruktur um eine intramodale: Goullet, Écriture et réécriture (wie Anm. 48), S. 165– 166.
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Einfügen von direkter Rede sowie von Einlassungen des Erzählers realisiert. Dieser Prozess ist indes nicht gleichbedeutend mit einer Transmotivation oder eine Transvaluation an sich: Die der hagiographischen Erzählung des Vorbilds zugrunde liegenden Motivationen, Konzeptionen und Werte wurden also nicht wesentlich verändert, sondern in den extradiegetischen Kommentaren des Erzählers und in den Meinungs- bzw. Motivationsäußerungen der Gestalten durch direkte Rede ausführlicher und gelehrter betrachtet53. Die daraus scheinbar selbstverständlich resultierende Schlussfolgerung – das ist ein hagiographisches Werk! – ist jedoch nicht zur Genüge befriedigend, weil einige allgemeine und schon durchlässige Grenzen der Gattung in der Vita metrica Anselmi berührt, besetzt und sogar überschritten wurden. In diesem Sinn scheint die Wahl der Versifikation sehr bedeutend zu sein. Die von Ranger eigentlich nicht sonderlich hervorgehobene Entscheidung, in carmine, in Versen, zu schreiben – ebenfalls keine ungewöhnliche Praxis der hagiographischen réécriture54 –, ist sehr aussagekräftig, weil die Adressatenkreise des Werkes dadurch bestimmt wurden. Man brauchte nämlich sehr hohe Kompetenzen, um solch ein komplexes Gedicht zu verstehen55. Der Erwartungshorizont war also programmatisch bestimmt, was allerdings nicht bedeutete, dass das Publikum – als erweiterte textual community – sehr begrenzt gewesen wäre56. Ranger wollte nicht nur zu den 53 Im ersten Vergleich kann man einfach feststellen, dass die ‚gregorianische‘ Perspektive der anonymen Vita Anselmi von Ranger sozusagen amplifiziert, aber nicht verändert wurde. Die Erweiterungen und die Transmodalisation des Hypotextes bringen allerdings weitere Fokalisierungen mit sich, die in einer spezifischen Untersuchung über Rangers komplexe réécriture entwickelt werden sollten. 54 „Pour comprendre la fonction des textes poétiques, nous manquons considérablement de déclarations faites par les auteurs eux-mêmes.“: Goullet, Écriture et réécriture (wie Anm. 48), S. 159. 55 Jean-Yves Tilliette, Les modèles de sainteté du IXe au XIe siècle, d’après le témoignage des récits hagiographiques en vers métriques, in: Santi e demoni nell’alto medioevo occidentale (secoli V–XI), Spoleto 1988 (Settimana di Studio del CISAM, 36), S. 405–406. 56 Man kann vermuten, dass die textual community nicht auf die hochgebildeten Geistlichen beschränkt war, weil letztere nicht isoliert waren und die Botschaft bzw. den Sinn eines solchen Gedichts den Verwandten, den Verbündeten oder den Herrschern mitteilen konnten: vgl. einen polemischen Hinweis Rangers auf diese Praxis in Agnes’ Rede an Heinrich IV. (VAR 2071–2072, S. 1201). Im Allgemeinen ist es wahrscheinlich, dass Adlige – wie Mathilde und ihre wichtigsten Vasallen – oder Mitglieder der städtischen Oberschichten den Wert eines solchen literarischen Produkts mehr oder weniger indirekt einschätzen konnten. Eine episch-historische Produktion war im Kontext der italienischen Städte vor allem des 12. Jahrhunderts eine der beliebten Optionen der Geschichtsschreiber: Jörg W. Busch, Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Umfeld einer oberitalienischen Kommune
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Geistlichen aus Mathildes Entourage und möglicherweise zum Papst sowie zu seinen Mitarbeitern sprechen, sondern auch zu den oberen Schichten der Stadt, vor allem zu den Mitgliedern der Kirche von Lucca, die – wie einige Anspielungen in dem Gedicht selbst vermuten lassen – hohe rhetorische Fähigkeiten besaßen. Explizit der Fall ist das bei der Figur des königlichen Bischofs Petrus57. Diese formale Entscheidung sollte vielleicht dem ‚feinen Unterschied‘ eines Geschmacks entgegenkommen, den die anonyme Vita Anselmi nicht befriedigen konnte. Es war vielleicht ein ‚französischer‘ Geschmack, der wahrscheinlich dem kulturellen Standard der entwickelteren und erfolgreicheren Schulen entsprach58. Laut Francesco Stella spiegeln sich diese neuen Tendenzen auch im allgemeinen Aufschwung der biblischen und lehrhaften Dichtung und der christlichen ‚Epik‘ im 11. und 12. Jahrhundert wider, in die die Vita Anselmi Rangers auch eingeordnet werden kann59. Diese so relevante formale Veränderung näherte die hagiovom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, München 1997 (Münstersche Mittelater-Schriften, 72), S. 46–49; Severino, La Vita metrica (wie Anm. 4), insbes. S. 246–247: Severino betont allerdings zu stark diese episch-historische Komponente des Gedichtes gegenüber der hagiographischen; vgl. auch für eine obwohl veraltete Übersicht: G. Chiri, La poesia epico-storica latina dell’Italia medioevale, Modena 1939. 57 In Bezug auf den königlichen Bischof Petrus, der von den gefangengenommen Anhängern Anselms angeklagt wird: Non sumus armati verborum calliditate,/ Quam male te docuit Francia docta diu;/ Sed sunt doctores nobis et praemonitores,/ A quibus haec poteris discere, quando voles (VAR 5293–5296, S. 1267). In der Tat hatte auch Anselm in der Schule sehr hohe rhetorische und dialektische Kompetenzen erworben: Et quae grammaticae ratio complectitur artis,/ Omnia colligere sollicitudo fuit./ Inde per anfractus atque argumenta loquendi/ Equatur summis ocius ingenii (VAR 303–306, S. 1163). Die Entscheidung für die metrische Form war eng mit dem Bereich der Schule verbunden: Goullet, Écriture et réécriture (wie Anm. 48), S. 159. 58 Über Petrus als gelehrtes Mitglied der Kanoniker: Hos inter doctus et ab his mala semina Petrus/ Alcius ingenio proficit et studio./ Addidit ad morem patriae geniique calorem/ Francia miscendi nomina mille mali (VAR 4613–4616, S. 1253). Über den Prozess der sozialen Ausdifferenzierung in Lucca und den Einfluss der ‚französischen‘ Mode: Ut vero luxus et libertatis amore/ Induxit varios barbara lingua sonos,/ Tanta suos mores sequiturdiscordia vitae,/ Ut vix tot facies Protheus ille ferat./ At primo cultus imitari Francigenarum/ Gloria, et ignorae quaerens vellus ovis/ Tonderi non arte sua, non denique gentis/ Unius aut ritus aut prohibenda sequi (VAR 4537–4540, S. 1252). 59 Francesco Stella, Nuovi testi di poesia biblica fra XI e XII secolo. Un secondo «Liber Regum» dello pseudo-Ildeberto. Testo del prologo e dei vv. 1–214, in: Herren (Hg.), Latin Culture (wie Anm 48), S. 412–414. Ein Verweis auf die Technik der Paraphrasierung und der oft folgenden abbreviatio der biblischen Stellen findet man im De anulo et baculo in Bezug auf die Worte von Christus über die Eucharistie, die von Ranger versifiziert wurden: In paucis verbis haec arbitror accipienda/ Quae dixit Dominus, cum daret illa sacra (Rangerii De anulo et baculo (wie Anm. 7), 465–466, S. 518).
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graphische Erzählung der Taten Anselms den epischeren Ausdrucksformen an. Die elegischen Distichen waren das Kennzeichen einer besonderen Tradition der christlichen Literatur und insbesondere auch der metrischen réécriture der Bibel60. Rangers Anspruch auf die höchsten Ressourcen des literarischen Gedächtnisses der Antike ist schon im Prolog deutlich erkennbar61. Die Kreuzung der Vita metrica Anselmi mit einem epischen ‚Modus‘ war zwar eine Folge der alten Hybridisierung zwischen Epik und Hagiographie, denn die Christen vollbrachten neue heldenhafte Taten im Kampf gegen das Böse bzw. den Teufel und dessen Vertreter62. Aber offensichtlich traf Ranger darüber hinaus die eigene Entscheidung, dieses epische Potential der Hagiographie intensiver anzuwenden, um einen schismatischen Kampf
60 Laut Edoardo D’Angelo ist einer der größten Unterschiede zwischen der antiken und der mittelalterlichen Epik die Möglichkeit, ein episches Gedicht auch mit elegischen Distichen zu schreiben, wie die Fallbeispiele von Ermoldus Nigellus, Nivardus von Gent und Petrus von Eboli zeigen: Edoardo D’Angelo, La letteratura latina medievale. Una storia per generi, Roma 2009, S. 317–336. Über die christliche Dichtung in elegischen Distischen: Giuseppe Catanzaro, Francesco Santucci, La poesia cristiana latina in distici elegiaci. Atti del convegno internazionale (Assisi, 20–22 marzo 1992), Assisi 1993. Über die Versifikation und Überarbeitung der Bibel: Francesco Stella, Riletture e riscritture bibliche latine: funzione della poesia esegetica e tipologie di trasmissione dei testi, in: Scrivere e leggere nell’alto medioevo, (Settimane di studio del CISAM, 59), S. 993–1042. 61 Der Vergleich mit der römischen Kultur bzw. Literatur: VAR, Prologus, 7–16; für den Verweis auf Cicero und Vergil siehe oben Anm. 1. Diesem Anspruch könnte man auch die hypothetische, die Aeneis imitierende Einteilung des Werkes in zwölf Bücher zuordnen. Eine solche Gliederung wird leider in der verfügbaren Edition des Gedichtes nicht sehr deutlich, aber man kann sie vermuten, wenn man die explizite Trennung zwischen dem 7. und dem 8. Buch im erhaltenen Pergamentfragment analog auf die Untergliederung des editierten Textes ausdehnt. Eigentlich ist auch die vorgeschlagene Untergliederung in zwölf Teile problematisch, weil die Trennung zwischen dem 7. und dem 8. Buch im Verso des Pergamentblattes der Freiburger Handschrift (Explicit liber VII. Incipit VIII.) der Trennung zwischen dem [8.] und [9.] Abschnitt in der Edition entspricht. Man setzt hier als Hypothese 12 Bücher voraus, wie die Abschnitte in der Edition, aber es wäre auch möglich, mindestens von einem Teil weniger auszugehen. Die Annahme liegt noch nahe, dass ein solch umfangreiches Gedicht mehrmals überarbeitet wurde und vielleicht ein echtes work in progress war. 62 Das Wort carmen kommt bemerkenswerterweise noch einmal in der Vita metrica Anselmi vor (VAR 6289, S. 1287), um den Fürsten Robert Guiskard und seine militärischen Erfolge zu loben. Dem Autor schwebt ein potentielles Lobgedicht über diesen siegreichen christlichen Heerführer vor, der Gregor VII. von der dramatischen Belagerung des Turms von Crescentius befreit hat: VAR 6285–6314, S. 1287–1288.
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spezifisch darzustellen63. Die alte Überschneidung der Gattungen half Ranger dabei, die Möglichkeiten der hagiographischen Vita zu erweitern, damit weitere literarische und inhaltliche Elemente aufgenommen werden konnten. Dank der Akzentuierung des epischen Modus im hagiographischen Programm konnte die Vita metrica Anselmi in ihre Erzählung auch weitere Episoden des Investiturstreits aufnehmen und ausführlich schildern (Konzil von Worms, die Fastensynode des Jahres 1076, die Belagerung Roms in den 1080er Jahren) – Episoden, in denen Anselm überhaupt nicht anwesend ist. Außerdem gibt es lange Einlassungen des Autors, die jeweils die gelehrte Form einer Apostrophe, einer Invektive oder einer Klage haben64. Die Überarbeitung Rangers wird allerdings durch eine erhebliche Vielfältigkeit charakterisiert, die sogar über den epischen Modus hinausweist: Es geht nicht nur um häufige Reden, Lobpreisungen, Beschreibungen und Kommentare des Autors – die alle zum epischen Modus gehören –, sondern um mehr oder weniger umfangreiche Abschnitte, die jeweils als Untergattungen gelten: biblische Paraphrase bzw. Auslegung65,
63 Das scismaticum nefas und die errores gelten neben den Handlungen Anselms und Gregors explizit als Hauptthema des Gedichts: VAR, Prologus, 17–54, S. 1156. Vgl. die Stelle über die res tam nodosas (VAR 716–726, S. 1172), die sich am Ende des ersten Buches über Alexander II. und seine pia bella (VAR 82, S. 1158) findet. 64 Pierluigi Licciardello, Agiografia latina dell’Italia centrale, 950–1130, in: Hagiographies (wie Anm. 38), Tl. 5, Turnhout 2010, S. 531, spricht von einer „contaminazione di generi assai originale“. Der Autor stellt auch für den Hypotext, die anonyme Vita Anselmi, einen Einfluss anderer Gattungen fest: „L’opera dello Ps.-Bardone è senz’altro agiografica, ma di una agiografia fortemente compromessa con la biografia, la storiografia, la polemi stica, la cronaca“ (S. 528). 65 Es handelt sich um die Anklage Isaias’ gegen Jerusalem (Is. 3, 11–26), die gegen Lucca angewendet wird (VAR 4669–4760, S. 1254–1256, in Form einer direkten Rede): Sic per Ysaiam Dominus, sic intonat, inquam,/ Quem timet omnino spiritus atque caro (VAR 4761– 4762, S. 1256); vgl. auch eine andere Paraphrase des ersten Kapitels des Buches von Isaias in VAR 4308–4340, S. 1247: quid nunc, o Ysaia pater? (VAR 4306, S. 1247). Die wichtigste Stelle, an der Ranger die Bibel überarbeitet, ist ohne Zweifel die relativ umfangreiche Auslegung der Figur der mulier fortis in Salomos Sprüchen (Prv. 31, 10–31), die von Ranger dem Lob Mathildes gewidmet wurde (VAR 3699–3954, S. 1235–1239): Haec plane non sunt hominis, sed suggerit ille,/ Cui fortis mulier haec facit et patitur,/ Quam satis expresse sapientia pingit et aptat,/ Et Salomon propriis exprimit iudiciis,/ Cum forti sponso mulierem iungere quaerit (VAR 3699–3703, S. 1235).
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speculum regis66, Streitgespräch67, polemischer libellus68, Predigt69, Gebet70, (päpstlicher) Brief71 und öffentliche, oft vor einer Versammlung gehaltene Rede72. Hier kommt 66 Siehe die Rede der Kaiserin Agnes an ihren Sohn: VAR 2049–2186, S. 1200–1203. Hac igitur forma multo magis imperialem/ Personam sese convenit inspicere/ Et velut in speculo mores actusque notare,/ Ne quid se lateat, quod male conveniat./ Quo speculo? Quaeris. Gestis et fine malorum/ Et regum forma, qui timuere Deum (VAR 2055–2060, S. 1200). Heinrich IV. spiegelt sich in den negativen Vorbildern wider: VAR 2129–2130, S. 1202. 67 Das Streitgespräch zwischen dem königlichen Bischof Petrus und Anselms Anhänger Bardo findet in zwei Sitzungen statt: VAR 5363–5548, S. 1268–1272; VAR 5571–5622, S. 1272–1273. 68 Ranger fasst kurz die Argumentationen einer Schrift zusammen, die Anselm Heinrich IV. geschickt hat (VAR 4027–4076, S. 1241–1242): Ipsum postremo temptat revocare tiran num,/Atque locum veniae sic quoque spondet ei,/ Si redeat, si poeniteat, si confiteatur,/ Et se Gregorio conferat atque Deo (VAR 4023–4026, S. 1241). Diese Schrift ist möglicherweise das commonitorium, das in der anonymen Vita Anselmi zitiert wird: Bardonis Vita Anselmi (wie Anm. 2), 21, S. 20. Anselm schrieb auch an Wibert monitoria (VAR 4079, S. 1242) – dazu zählt höchstwahrscheinlich auch der sogenannte Liber ad Wibertum (Anselmi Lucen sis episcopi Liber ad Wibertum, ed. Ernst Bernheim, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 517–528) –, die anschließend noch einmal in Form einer Rede dargestellt werden (VAR 4081–4190, S. 1242–1244). 69 Zum Beispiel: Gregorius, Christi servus doctorque fidelis,/ Non cessat vitae verba docere suos (VAR 5783–5784, S. 1277) und anschließend folgt die Rede des Papstes an die Verteidiger Roms (VAR 5785–5848, S. 1277–1278). Eine Predigt bzw. Rede an die Krieger hält auch Anselm vor der Schlacht von Sorbara (VAR 6511–6550, S. 1292); vgl. auch dessen Rede an die Anhänger Gregors VII. (VAR 3995–4016, S. 1240–1241). Es gibt natürlich viele andere Reden, die keine Predigten sind, aber eine pastorale Funktion bzw. ‚Konnotation‘ haben. Siehe auch zum Beispiel: VAR 731–790, S. 1172–1173; VAR 1471–1510, S. 1188; VAR 2693–2792, S. 1214–1216; VAR 6319–6336, S. 1288. 70 Es gibt ein gemeinsames Gebet (bzw. eine Klage an Gott) Anselms und Mathildes: VAR 4205–4242, S. 1245. 71 Viele sind mehr oder weniger explizit die Briefe, die von Ranger in Form einer direkten Rede hinzugefügt wurden. Die Briefe Gregors VII.: an das Volk Luccas (VAR 1309–1316, S. 1184); an den Abt von Saint-Gilles (VAR 1379–1424, S. 1186–1187); an die Fürsten und Völker des ‚Rheins‘ (VAR 2957–3094, S. 1219–1222). Andere Briefe: das Volk Luccas an den Papst (VAR 1285–1300, S. 1184); Anselm an die Verteidiger der Burg Morianos (VAR 4927–4932, S. 1260). 72 Die Reden vor den Versammlungen oder bei öffentlichen Gelegenheiten: Hildebrand an den Gesandten Heinrichs IV. (VAR 139–266, S. 1160–1162); Anno von Köln an Alexander II. (VAR 281–292, S. 1163); Gregor VII. an Anselm von Lucca (VAR 731–790, S. 1172–1173); Anselm vor den Mönchen von Saint–Gilles (VAR 1429–1442, S. 1187); Anselm vor der Synode in Lucca (VAR 1547–1594, S. 1189–1190); ein Vertreter der Gegner Anselms vor der Synode (VAR 1595–1704, S. 1190–1192); Mathilde vor der Synode (VAR 1709–1734, S. 1193); Gregor VII. vor der Synode (VAR 1739–1752); die Teilnehmer an der Synode (VAR 1755–1760, S. 1194); der Kanoniker Petrus vor den anderen,
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möglicherweise bei der Generierung des Werkes durch die Überarbeitung des Hypotextes eine weitere, untergründigere Gattungstradition hinzu, die die Aufnahme dieser Vielfältigkeit von Untergattungen ermöglicht: der historische Komplex von Texten, zu dem unter anderem auch die Evangelien gehören, die man als satirisch, dialogisch oder sogar ‚romanartig‘ bezeichnen kann73. die in der Synode verurteilt wurden (VAR 1833–1876, S. 1195–1196); der Kanoniker Petrus an die Bürger Luccas (VAR 1879–1910, S. 1196–1197); Agnes an Heinrich IV. (VAR 2049–2186, S. 1200–1203); ein von Gregor VII. gesandter Kardinal an Heinrich IV. (VAR 2189–2216, S. 1203); Heinrich vor der Synode in Worms (VAR 2277–2374, S. 1205–1207); die Bischöfe auf der Synode in Worms (VAR 2379–2496, S. 1207–1209); Gregor VII. auf der Fastensynode in Rom (VAR 2693–2815, S. 1214–1216); der Gesandte Heinrichs IV. an Gregor VII. (VAR 2796–2802, S. 1216); Gregor VII. vor der Synode (VAR 2809–2816); Hugo von Cluny an Gregor VII. (VAR 3151–3156, S. 1223); Anselm an die Anhänger Gregors VII. (VAR 3995–4016, S. 1240–1241); ein miles an den Bischof Petrus (VAR 5057–5070, S. 1262); ein Vallombrosaner Mönch an das Volk Luccas (VAR 5157–5170, S. 1264); der Bischof Petrus an die Anhänger Anselms (VAR 5231–5238, S. 1266); der Priester Paganus an den Bischof Petrus (VAR 5239–5242, S. 1266); Petrus vor einer Synode (VAR 5261–5282, S. 1266–1267); die Anhänger Anselms an den Bischof Petrus (VAR 5288–5300, S. 1267); der Bürger Tado an den Bischof Petrus (VAR 5303– 5316, S. 1267); Bardo, Anhänger Anselms, an den Bischof Petrus (VAR 5363–5386, S. 1268–1269); Tado an den Bischof Petrus und vor der Versammlung (VAR 5549–5556, S. 1272); Cencius an die Anhänger Gregors VII. und Verteidiger Roms (VAR 5851–5898, S. 1278–1279); die Römer, die mit dem König verhandeln wollen, an Gregor VII. (VAR 6037–6042, S. 1282); Gregor VII. an die Römer (VAR 6045–6068, S. 1282); der römische Adlige Maximus an Gregor VII. vor einer städtischen Versammlung (VAR 6081–6156, S. 1283–1284); Gregor VII. an den adligen Maximus vor der städtischen Versammlung (VAR 6161–6188, S. 1284–1285); Anselm an die Anhänger Gregors VII. (VAR 6511– 6550); Bonizo von Sutri bei der Begrabung Anselms (VAR 6891–6898, S. 1299). Es gibt andere Reden die als ‚offizielle‘ Mitteilungen gelten, die einem entfernten Adressaten gerichtet werden sollten: Hildebrand an Heinrich IV (VAR 221–262, S. 1162–1163); vielleicht auch Gregor VII. an Anselm (VAR 1319–1376, S. 1184–1186); Heinrich IV. an Gregor VII. (VAR 2225–2244, S. 1204). Diese letzte Funktion der offiziellen Mitteilungen ist manchmal explizit gemacht: zum Beispiel fordert Hildebrand den Gesandten Heinrichs IV. auf, einen Teil seiner Rede mitzuteilen: Ilicet et domino, quae loquor, ipse refer (VAR 220, S. 1161; vgl. auch VAR 263, S. 1162); vgl. auch den Ausdruck formare voces (VAR 1317, S. 1184); pontificesque rogat pro se sua verba referre (VAR 2223, S. 1204). Andere ‚private‘ Reden: Mathilde von Tuszien an Anselm (VAR 961–996, S. 1177–1178); der Abt von Saint–Gilles an Anselm (VAR 1159–1242, S. 1181–1183); Anselm an den Abt von Saint–Gilles (VAR 1245–1258, S. 1183); Anselm an Mathilde von Tuszien (VAR 6409–6428, S. 1289–1290). 73 Teile der christlichen Literatur wurden schon seit der Antike von dieser komplexen Gattungskonstellation beeinflusst. Die Vielfältigkeit der Stimmen und die Darstellung der kritischen Momente der Protagonisten bzw. anderer Gestalten gehörten zum Beispiel zur
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Das Gedicht Rangers als Überarbeitung der anonymen Vita Anselmi schafft daher eine komplexe Transmodalisation auch durch eine Art Gattungshybridisierung mit der Epik und mit dem dialogischen Modus, deren Voraussetzungen in der hagiographischen Tradition begründet sind. Diese vielschichtige Gattungskon struktion diente höchstwahrscheinlich, die Komplexität des Streits – die res tam nodosas – ‚publizistisch‘ darzustellen. Der Effekt dieser Konstruktion ist eine bemerkenswerte Vielfältigkeit der Vita metrica Anselmi, die diejenige der Textproduktion des Investiturstreits aufnimmt74.
Die Erzählung Rangers Konstruktion der Erzählung bestätigt diesen vielfältigen Charakter der Vita metrica Anselmi. Hier kann ein so komplexes Gedicht nicht im Detail analysiert werden, aber es können zumindest einige Aspekte seiner Struktur hervorgehoben werden, die zur erwähnten Vervielfältigung beitragen. Dieser Prozess ist selbstverständlich eng mit der Überarbeitung der anonymen Vita Anselmi verbunden: Infolge der amplificatio rückt der rote Faden der Lebensgeschichte Anselms nicht selten in den Hintergrund, manchmal verschwindet er sogar75. Wie schon erwähnt, sind die wichtigsten strukturellen Veränderungen neben der Versifikation das Einfügen von Reden in die Erzählung sowie von extradiegetischen Abschnitten – Kommentaren des Erzählers in Form von Apostrophen, Klagen oder gelehrten Betrachtungen – am Rand der Erzählung. Die häufigen Redestrukturen, die traditionell in der Geschichtswissenschaft als fiktiv und daher aretologischen und philosophischen Tradition der Antike. Die Dialogi von Gregor dem Großen, die Dialogi von Sulpicius Severus und die Collationes von Johannes Cassianus, die Ranger kannte und auf die er anspielte, können in diese Gattungskonstellation eingeordnet werden. 74 Mit Hilfe der ‚Texttypologie‘, einem bislang noch experimentelles Feld der Linguistik, könnte die Untersuchung auf sprachwissenschaftlicher Ebene weitergeführt werden. Die Texttypologie ermittelt die Merkmale von transphrastischen Textabschnitten, die – zum Beispiel – jeweils als Erzählungen, Beschreibungen, Dialoge, Argumentationen oder Erläuterungen geschildert werden können. Selbstverständlich ist das Werk Rangers von erzählerischen Abschnitten geprägt, durch die sich die verschiedenen miteinander verbundenen thematischen Ketten entfalten. Aber die Erzählung lässt intradiegetisch und extradiegetisch auch Raum für dialogische Abschnitte, argumentative Sequenzen und erläuternde Passagen, die die Erzählung in sich aufnimmt und umrahmt. Auch auf dieser Ebene der Analyse lässt sich schnell die Vielfältigkeit der Vita metrica Anselmi erfassen. 75 Das ist der Fall in den langen Abschnitten, in denen Ranger die Eskalation der Krise zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. erzählt: VAR 2027–3544, S. 1200–1231.
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unglaubwürdig bewertet wurden76, hatten im Gegensatz dazu für Ranger einen verstärkten Wahrheitseffekt: Sie waren sermocinationes, die in der klassischen Theorie der Rhetorik mit der Figur der evidentia verwandt waren77. Ranger wollte so die ‚wahre‘ Bedeutung der geschilderten guten sowie bösen Taten noch offensichtlicher machen. Er stellte nicht nur verschiedene Absichten und Stellungnahmen in Wort und Denken der Figuren vor, sondern auch verschiedene Wert- und Wissenskonstellationen, darunter auch seine eigenen in den extradiegetischen Einlassungen. Ranger stützte so seine Erzählung durch ein beeindruckendes Arsenal von biblischen und historischen Argumenten sowie durch einen Apparat von theologischen und exegetischen Kenntnissen. Infolge der Überarbeitung der prosaischen Vita Anselmi wurde das Gedicht deshalb zu einem echten Repertoire der ‚gregorianischen‘ Ekklesiologie: Die Rede Gregors VII. auf der Fastensynode des Jahres 1076 ist in diesem Sinn beispielhaft78. Ein weiteres Beispiel dieser gelehrten Betrachtungen ist die Vorstellung der Lehre der militia caelestis, ein Thema, das das gesamte Gedicht durchzieht. Durch eine christliche agonale Geschichtskonzeption erklärte Ranger den aktuellen politischen Streit und rechtfertigte das Verhalten der Hauptfiguren, insbesondere der Unterstützer Gregors79. Die zahlreichen Einlassungen des Erzählers sowie die Reden und diegetischen Abschnitte sind komplex miteinander verwoben und ihre Untersuchung erfordert zumindest eine grobe Kartierung der Inhalte. Anschließend soll eine kurze Übersicht 76 „Maiorem carminis partem allocutiones, orationes, epistolae, commentationes insertae implent, quas ficticias nullaque fide dignas esse lectori primo aspectu apparet“: Ernst Sackur, Einleitung, in: Rangerii Vita Anselmi (wie Anm. 1), S. 1155. 77 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 21973, S. 407–411. Um die Reihe der sermocinationes zu ergänzen, muss man auch einige Stellen zitieren, in denen Ranger durch direkte Rede eine kollektive Stellungnahme oder gedankliche Reflexionen einer Figur darstellt, die keiner bestimmten kommunikativen Situation entsprechen. Kollektivierungen der redenden Personen: die Lucceser über den Klostereintritt Anselms (VAR 1265–1282); die Sachsen gegen Heinrich IV. (VAR 3103–3128, S. 1222–1223); die Gegner Mathildes in Reichsitalien (VAR 6477– 6498, S. 1291). Selbstgespräche: Alexander II. (VAR 389–430, S. 1165–1166); Anselm (VAR 1017–1036, S. 1178–1179); Gregor VII. (VAR 6319–6336, S. 1288); Mathilde (VAR 6923–6954, S. 1300–1301). 78 VAR, 2693–2792, S. 1214–1216. 79 Nur beispielhaft über die milicia caelestis: VAR 309–356, S. 1163–1164 (racio miliciae cae lestis); 3655–3677, S. 1234; 6161–6188, S. 1284–1285; 6417–6426, S. 1290. Aber auch in diesem Fall zeigt Ranger die Komplexität seiner Darstellungsweise, weil man unter dem Begriff militia nach den verschiedenen Situationen und Perspektiven der Gestalten und des Erzählers unterschiedliche Aspekte bzw. Bedeutungen feststellen kann. Zum Beispiel in der Stellungnahme der Gegner Mathildes in Reichsitalien: VAR 6485–6486, S. 1291.
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der erzählerischen Inhalte erfolgen, für die hier eine Einteilung des Gedichts in zwölf anstatt in fünf Abschnitte bzw. Bücher bevorzugt wird80. Prolog (1–64). Der [1.] Abschnitt enthält die Voraussetzungen der Taten Anselms (1–726): Schisma des Cadalus und Kampf Alexanders II. und Hildebrands gegen den königlichen Papst; Anselms geistliche Ausbildung; Kampf der Auserwählten gegen das Böse und ihre Erprobung; Beherrschung der Leidenschaften als Voraussetzung, um rector zu werden; Anselms Ernennung in Lucca und Streit um die von Heinrich IV zu vergebende Investitur; Nachfolge Anselms und Gregors VII. auf Papst Alexander II.; Wiederaufnahme der Motive des Prologs. Der [2.] Abschnitt erzählt die religiöse Krise Anselms (727–1442): Handlungen Gregors VII. und seine Zusammenarbeit mit Anselm, dem er den Gang zum König vergeben hatte; Flucht des von tiefer Sünde ergriffenen Anselm von seinem Bischofssitz während einer Pilgerreise nach Saint-Gilles; Eintritt ins Kloster und Freude über das kontemplative und asketische Leben der Mönche, das der Abt von Saint-Gilles betont; Reaktionen des Lucceser Volks und Gregors VII., der Anselm und dem Abt von Saint-Gilles befiehlt, dass Ersterer zu seinem Bischofssitz zurückkehren solle; Anselms Abschied von der Klostergemeinschaft. Der [3.] Abschnitt stellt die Mühen und die Spannungen dar, um die Reform der Kirche von Lucca durchzusetzen (1443–2026): Vergebung der Flucht Anselms in Rom; Rückkehr nach Lucca und Förderung des gemeinsamen und keuschen Lebens des Klerus; negative Reaktionen der Kanoniker; Berufung einer Synode, während derer Anselm mit der Unterstützung Gregors und Mathildes die rebellischen Kleriker verurteilt; Revolte der vom Kanoniker Petrus geführten Kleriker; Anselms Entscheidung für das Exil. Der [4.] Abschnitt erzählt die Spannungen zwischen König und Papst, die zur Delegitimierung des Letzteren führten (2027–2684): Gesandtschaft der Kaiserin Agnes bei ihrem Sohn: Ihre Rede ist gleichzeitig ein speculum regis; Reue Heinrichs IV. und Anerkennung seiner Sünden; Angriff Heinrichs IV. gegen Gregor VII. im Wormser Konzil und Delegitimierung des Papstes mit Unterstützung des Adels und der Bischöfe, die die königliche Intervention rechtfertigen; Rangers Widerlegung der Argumente des Königs und der Bischöfe; Überbringung der Nachricht nach Italien und Rom. Der [5.] Abschnitt stellt die Reaktion Gregors VII. und die Entwicklung der Auseinandersetzung bis zum neuen Schisma dar (2685–3544): Auslegung der Prinzipien der Reform während der Synode; Mitteilung der Delegitimierung des Papstes; Verurteilung Heinrichs IV.: Exkommunikation und Eidlösung; schwerwiegende Anklagen gegen Heinrich IV. bezüglich der Kontrolle der kirchlichen Ämter; Sieg des Königs gegen die Sachsen; die Situation vor Canossa; das Treffen in Canossa; Eskalation des Konflikts nach der Wahl 80 Eine ausführliche, kommentierte Paraphrase der Vita metrica Anselmi bildet das Buch von Colucci: Colucci, Un nuovo poema (wie Anm. 24).
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eines Gegenkönigs und Ernennung Wiberts zum Papst. Der [6.] Abschnitt beschreibt den Krieg (3545–4244): Feldzug Heinrichs IV. gegen Mathilde und Gregor VII.; Lobpreisung Mathildes; Verantwortung für die Anwendung von Gewalt; neue militia von Anselm und Mathilde, die von der Liebe geführt werden; biblische Auslegung des Lobes der starken Frau (Mathildes) in Salomos Sprüchen; Erprobung der Auserwählten; Mühen Anselms, um Heinrich IV. und Wibert von ihren Sünden zu bekehren. Der [7.] Abschnitt erzählt die Durchsetzung des königlichen Bischofs Petrus in Lucca (4245–4788): Petrus’ Bischofsernennung durch simonistische Verfahren; Untergang Luccas von der goldenen Zeit des Bischofs Fredianus über die silberne Zeit bis zur aktuellen Korruption; Voraussetzungen für Petrus’ Durchsetzung; Klage über das Schicksal der Stadt. Der [8.] Abschnitt stellt die neue Hegemonie Petrus’ und den gegen sie gerichteten Widerstand auf dem Land dar (4789–5040): Präsenz des Königs in Lucca und Verurteilung Mathildes; Petrus’ Verfolgung seiner Gegner; Widerstand der Burg Moriano, die von Anselm auf wundersame Weise geschützt wird; die heilige Macht Anselms als Zeichen der richtigen Parteinahme. Der [9.] Abschnitt erzählt den Widerstand in der Stadt (5041–5763): Spannungen in der Stadt; Gefangennahme einiger Anhänger Anselms: Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Bischof Petrus; organisiertes, öffentliches Streitgespräch zwischen dem Bischof Petrus und Bardo, dem Vertreter der Unterstützer Anselms; Petrus’ schwierige Situation nach dem Streitgespräch; Apostrophe gegen Petrus. Der [10.] Abschnitt schildert den Kampf zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. um Rom (5763–5848): Belagerung Roms; Predigt Gregors VII., die als Ansporn für die Verteidiger gilt. Der [11.] Abschnitt (5849–6614) erzählt von der Besetzung Roms und dem Tod Gregors VII.: Fall von Rom; Ausfallen von einigen Unterstützern Gregors VII., der zur Verteidigung ruft; Intervention von Robert Guiskard in Rom und Exil Gregors VII.; Tod Gregors VII.; Krieg in Norditalien: Schlacht von Sorbara; Wunsch Anselms, Gregor VII. zu erreichen. Der [12.] Abschnitt beschreibt die heiligen Verhaltensweisen und Lehren Anselms (6615–7300): Anselms religiöses Leben; seine Handlungen in der Entourage Mathildes und sein Wissen; Wunder während seines Lebens; Tod und Begräbnis Anselms; seine Wunder nach dem Tod.
Diese Übersicht zeigt nur eine tendenzielle Gleichmäßigkeit der Bücher, die meistens 600–700 Verse umfassen; zwei von diesen Abschnitten, der [8.] und der [10.], sind deutlich kürzer: 262 und 86 Verse; einer, der [5.], zählt dagegen 860 Verse. Die Verteilung der Inhalte auf die Abschnitte ist überwiegend von der Diegesis geprägt, die sich auf mehreren Ebenen entfaltet. Nur das letzte Buch, das eine Überarbeitung der letzten Kapitel der anonymen Vita Anselmi enthält, ist systematischer, stärker beschreibend und weniger von der Erzählung der Taten Anselms charakte-
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risiert: Neben der Schilderung der Eigenschaften, Tugenden und Wunder des Heiligen wird nur sein Tod in der Mitte des Abschnittes beschrieben81. Nur die Hälfte der Abschnitte ([1.], [2.], [3.], [6.], [8.], [12.]) stellt überwiegend die Handlungen und Vorstellungen Anselms in den Vordergrund, während es in den anderen sechs vor allem andere Figuren sind, die die Geschichte entwickeln: Gregor VII. und Heinrich IV. im Konflikt ([4.], [5.], [10.], [11.]); Petrus, der königliche Bischof von Lucca, und die Anhänger Anselms, die ebenfalls im Konflikt stehen ([7.], [9.]). Natürlich schließen diese thematischen Schwerpunkte die Figur Anselms nicht aus, der in fast jedem Buch erwähnt wird. Allerdings entspricht dies verschiedenen Fokalisierungen, die letztendlich drei Ebenen der Erzählung bilden: die Handlungen des Papstes in Rom (und die seiner Gegner, die vor allem im Konzil von Worms eine Rolle spielen), die Ereignisse in Lucca und in seiner Diözese und ein dritter Raum, der mit der fürstlichen Herrschaftsspitze Mathildes und ihrer Position in Reichsitalien übereinstimmt. Die Intersektion dieser drei Ebenen und die daraus resultierende Perspektive des Erzählers bietet schon an sich eine aussagekräftige, wenngleich noch vereinfachte, literarische Darstellung der komplexen Struktur der Krise des Investiturstreits: Sie zeigt deutlich das Geflecht von lokalen und allgemeinen Kontexten, das den Konflikt charakterisierte. Selbstverständlich ist das keine absolute Darstellung, sondern eine, die von einem italienischen, bischöflichen, mit der römischen Kurie und Mathilde von Tuszien verbundenen Beobachtungspunkt geprägt war. Diese Struktur entspricht den drei vermutlichen Kommunikationskreisen des Gedichts82. Rangers Überarbeitung der anonymen Vita Anselmi ist deutlich komplexer als sein Hypotext, auch dank der Amplifizierung der Rolle der anderen Figuren. Man kann hier insbesondere einen zweiten allgemeinen Aspekt der Erzählstruktur hervorheben, der eine deutliche Verschiebung in der réécriture Rangers ist. Sein Gedicht hat nämlich zwei Hauptfiguren: nicht nur Anselm, sondern auch Gregor VII., der in vielen Abschnitten aufgrund seiner Handlungen und Reden als Protagonist gilt. Der doppelte Protagonist war keine Ausnahme, sondern eine mögliche Spielart der 81 Über den Tod und das Begräbnis Anselms: VAR 6853–6920, S. 1299–1300; eine aussagekräftige Klage Mathildes (VAR 6921–6956, S. 1300–1301) geht dem Bericht über die Teilnehmer des Begräbnisses voraus: VAR 6957–6984, S. 1301. 82 Die Begriffe ‚Perspektive‘ und ‚Fokalisierung‘ sind hier frei von der Erzählanalyse inspiriert, insbesondere von der Theorie Gérard Genettes: Gérard Genette, Figures III, Paris 1972, S. 67–82. Über die Bedeutungsschwankungen dieser Begriffe und ihre Kritik vgl. Wolf Schmid, Perspektive, in: Matías Martinez (Hg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, S. 141–143.
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Hagiographie, die auch Geschichten von Heiligenpaaren erzählt. In seinen Anspielungen auf andere hagiographische Texte erwähnt Ranger auch ein solches Paar, das der Heiligen Vincentius und Valerius, die mit Hildebrand und Alexander II. verglichen werden83. Die ausführlichen und von Reden geprägten Geschichten über die Auseinandersetzung mit Cadalus, die Durchsetzung der Reform, den Konflikt mit Heinrich IV., die dramatische Belagerung Roms, das Exil und den Tod Gregors VII. gleichen quantitativ in etwa die Teile aus, die Anselms Taten gewidmet werden. Außerdem wird die Klage über den Tod Gregors vom Bewusstsein seiner Rolle als himmlischer Vermittler begleitet. Die erzählerische Strukturierung der Vita Anselmi Rangers wird daher auch zum Plädoyer für die Heiligsprechung Gregors VII. Anselms Heiligkeit ist letztendlich eine Folge der Religiosität Gregors: Im Gedicht Rangers wird der Bischof von Lucca noch stärker als im Hypotext als ein Nachahmer des Papstes dargestellt84. Der doppelte Protagonist ist noch auf einer weiteren Ebene eine bedeutende erzählerische Ressource des Gedichts, das durch eine allgemeinere Tendenz zur gegensätzlichen Verdoppelung geprägt zu sein scheint85. Die Konzentration auf 83 VAR 125–128, S. 1159. Über die Paare der Heiligen in der grundlegenden Hagiographie des 6. Jahrhunderts: Edoardo Ferrarini, «Gemelli cultores»: coppie agiografiche nella letteratura latina del VI secolo, in: Reti Medievali XI/1 (2010), S. 1–17 (URL: http://www. rmojs.unina.it/index.php/rm/article/view/34/318, zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 84 Zur Fürbitte Gregors im Himmel zugunsten seiner Anhänger: VAR 6409–6428, S. 1289– 1290 (in der Rede Anselms an Mathilde); VAR 6511–6514, S. 1292. Vgl. auch: Sic agit Anselmus, sic pugnat, dumque precatur,/ Prosternit, superat, impedit atque ligat/ Quin et Gregorius caelum movet et sociatis/ Agminibus caro consulit et famulae./ Ex hoc ergo patet tam virtus Gregoriana/ Quam patris Anselmi; iamque timent miseri,/ Qui modo turbabant et flammas ore vomebant;/ Iamque incandescit fumus et ira Dei/ In gentem saevam Christum que fidemque perosam,/ Et servit fidei gloria Gregorii/ Iamque patet, quantus celi clarescant in arce,/ Qui sic militiam protegit inde suam. (VAR 6565–6576, S. 1293). Zur Abhängigkeit der religiösen Erfahrung Anselms von jener Gregors: Ad summam sic Gregorium fuit usque secutus,/ Ut sese simile prorsus haberet ei./ Illius meritis, doctrina, religioni/ Attribuit, quic quid fecit et docuit./ Id quoque, quod flebat claustralem deseruisse/ Miliciam, laetus propter eum doluit./ Et tantum dampni tanto pensabat amore,/ Ex tam magnifici consilio medici./ Si placet, addamus et adhuc maiora notemus/ Inter sublimes egregios viros,/ Gregorius, fons iusticiae de fonte salutis,/ Doctrinae species de bonitate ducis,/ In tenebris lumen, in lumine solis acumen,/ Ecclesiae virtus omnibus esse decus;/ Anselmus de fonte sacro quasi rivus habun dans,/ Quod facit, aut etiam quod docet, inde bibit (VAR 6673–6678, S. 1297). 85 Der Kampf zwischen Simon Petrus und Simon Magus wird am Anfang des Gedichtes dargestellt: Symon in astra tuus cum moliretur habire/ Corruit in preceps, Symone dante praeces./ Symon humi stratus iam cor super hastra levarat:/ Quem gravat impietas, non valet alta sequi/ Ecce iacet, sed pestifero de sanguine proles/ Impia non cessat surgere, non furere./ Que venale
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zwei Hauptfiguren ermöglicht Ranger, auch die Spannungen innerhalb der Reformgruppe darzustellen86. Die wichtigste ist zweifelsohne die Spannung zwischen kontemplativem und aktivem Leben, die Ranger in der langen Episode der Flucht Anselms nach Saint-Gilles im Abschnitt [2.] des Gedichts inszeniert. Hier werden Anselms Wunsch nach einem klösterlichen Leben und die gegensätzliche Position Gregors, der Anselm zu seiner bischöflichen Verantwortung ruft, durch Reden und offizielle Mitteilungen bzw. Briefe ausführlich beschrieben87. Aber auch eine kolputans Christy cum numine nomen/ Pontificale decus vertit in opprobrium./ Hoc vicium tam turpe volens extinguere Symon/ Noster virtutis format et ipse viros,/ Et fidei quorum paciencia fortiter instat/ Gratis accipiens, vendicione carens./ Sic a principio Symon cum Symone pug nat/ Et sibi tyrones Simon uterque facit/ Et faciet, dum tempus erit, quia pestis avara/ Prima quidem cecidit, sed nova semper erit/ Et velut idra capud geminum de vulnere tollens/ Crescit in augmentum vulneris et capitis. (VAR 19–36, S. 1157); siehe auch VAR 619–620, S. 1170 (Apostrophe des Erzählers gegen Alexander II.); VAR 970–976, S. 1177 (Rede Mathildes an Anselm); VAR 5723–5732, S. 1275–1276; VAR 5799–5800, S. 1277. Vgl. auch die Nebeneinanderstellung des Kardinals Petrus Igneus und des Kanonikers Petrus von Lucca, der die Rebellen unter dem Klerus von Lucca anführt; sie ist mit der gerade erwähnten Opposition verwoben (VAR 1805–1820, S. 1195). Ein weiterer Mönch aus Vallombrosa, der den königlichen Bischof Petrus durch eine Feuerprobe herausfordern will, weist auf die Opposition zwischen Simon Petrus und Simon Magus hin: VAR 5163–5170, S. 1264. 86 Ranger stellt auch die innere Spaltung des Menschen dar, die in der christlichen Tradition häufig auftaucht: Et sic comota civili sedicione/ In binos homines scinditur unus homo:/ Alter amat pace, litem desiderat alter,/ Alter amat superos, alter ad yma ruit./ Iste voluptatem mavult, hic sobrietatem,/ Hic sua largitur, ille aliena rapit./ In tam diverso sub eodem pec tore motu/ Felix, qui gladio non cadit ipse suo (VAR 534–540, S. 1168). Für die Opposition zwischen Geist und Fleisch, zwischen homo spiritualis und homo animalis siehe: VAR 1095–1106, S. 1180. 87 Die ganze Episode umfasst ungefähr 450 Verse: VAR 997–1442, S. 1178–1187; vgl. Savigni, Episcopato e società (wie Anm. 9), S. 355–356. Ihre Struktur ist komplex: Pilgerfahrt Anselms nach Saint-Gilles und Einschätzung der virtus und des Leben des heiligen Ägidius (997–1016); Selbstgespräch Anselms, der die Entscheidung trifft, ins Kloster einzutreten (1017–1036); Verlassung der Gefahrten (1037–1048); Rangers Darstellung der neuen inneren Ruhe Anselms (1049–1124); Anerkennung seiner Tugend in der Klostergemeinschaft (1125–1158); Ermahnungsrede des Abtes von Saint-Gilles an Anselm (1159– 1242); Antwort Anselms (1243–1260); Reaktion bzw. Klage der Lucceser auf die Nachricht (1261–1282); Brief der Lucceser an Gregor VII. (1283–1300); Antwort Gregors zu den Lucceser (1301–1316); offizielle Mitteilung Gregors VII. an Anselm (1317–1376); Brief Gregors an den Abt von Saint-Gilles (1377–1424); Rede bzw. Klage Anselms, der gezwungen ist, nach Lucca zurückzugehen (1425–1442). Das Thema war eine der Leit ideen Gregors VII., das mit seiner Konzeption der caritas verbunden war. Im Gedicht ist der Verweis auf die von Gregor wiederholte paulinische Idee explizit (Ph. 2, 21): Et non ipse tibi quaerere, quae tua non sunt (VAR 1370, S. 1185). Vgl. Herbert E. J. Cowdrey, Pope Gregor VII. 1073–1085, Oxford 1998, S. 494–583, insbes. 554–555; zur Entwick-
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lektive Figur wie das Volk Luccas, das gegen Anselms Amtsaufgabe war, kommt zu Wort. Die Wertkonstellation des kontemplativen Lebens wird dagegen durch das Selbstgespräch Anselms, durch eine rhetorisch ausgeschmückte Erläuterung des Erzählers und durch die Rede des zum cluniazensischen Orden gehörenden Abtes von Saint-Gilles vertreten. Letzterem muss Gregor VII. schreiben, damit dieser Anselm gehen lässt. Gleichzeitig ist sein Brief an den Abt aber auch eine bedeutende Stellungnahme zum Wert des klösterlichen Lebens, das im Vergleich mit den anderen Wegen zu Gott relativiert wird88. Diese erzählerische Konstruktion, die im Hypotext nicht vorkommt, musste zweifelsohne die ungewöhnliche Laufbahn Anselms als Bischof rechtfertigen. Allerdings stellte Ranger damit auch einen Schwerpunkt der Wertvorstellungen Gregors dar, der bestimmt während des Pontifikats Urbans II., ehemaliger Prior der Cluniazenser, noch eine aktuelle politische Relevanz hatte89. Diese Spannung zwischen den Hauptfiguren ist erzählerisch mit einer zweiten verbunden, die noch einmal Anselm betrifft. Er entschließt sich für den Rückzug aus der Welt, weil er sich wegen seiner Entscheidung, für seine Investitur zum König lung des Themas bei den Autoren, die für Mathilde oder in ihrer Gefolgschaft geschrieben haben: Giampaolo Ropa, Intorno ad un tema apologetico della letteratura «matildica»: Matilde di Canossa Dei Sponsa, in: Reggiolo medievale. Atti e memorie del convegno di Studi Matildici (Reggiolo, 9 aprile 1978), Reggio Emilia 1979, S. 42–44. 88 Interessant ist, dass der Erzähler expliziter und ausführlicher den Wert von Anselms neuem Leben darlegt: Cum videt e summo quasi culmine religionis,/ Et quod formidat et quod habere cupit./ Aspicit hinc vallem piceo fetore calentem,/ Hinc colles plenos floribus atque rosis (VAR 1075–1078, S. 1179). Siehe dagegen die aussagekräftige Stellungnahme Gregors im Brief an den Abt von Saint-Gilles: Tu quoque sic optas; sed non est, optime fili,/ Una salutiferae secta putanda viae./ Conveniunt Christo virgo, thorus et viduata,/ Conveniunt fortes, conve niunt fragiles./ Convenit armorum racio pro pace tenenda,/ Convenit et domitor ruris in arte sua/ Convenit orator supremus et ultimus ordo,/ Per quem subsistunt atque valent alii./Nec minus apta Deo concedimus ocia vestra/ Et Rachel lumen novimus et speciem./Set neque tu lippam debes contemnere Lyam,/ Quam patriarcha sibi pro grege consociat; […]/ Sic legimus, sed vester amor, nisi decipiatur,/ Semper in amplexu Rachel habere cupit./ Inde adeo quasi preter eam via nulla salutis/ Iam plus, quam satis est, dicitis et facitis (VAR 1383–1394 und 1399–1402, S. 1186). 89 Zu den komplexen Beziehungen des Papstes Urban II. mit den mönchischen und religiösen Bewegungen: Alfons Becker, Papst Urban II. (1088–1099). Teil 3: Ideen, Institutionen und Praxis eines päpstlichen regimen universale. Hannover 2012 (MGH Schriften, 19, 3), S. 395–525, insbes. zu Cluny 414–463. Zu seinen anfänglichen Beziehungen mit Cluny siehe insbesondere: Alfons Becker, Papst Urban II. (1088–1099). Teil 1: Herkunft und kirchliche Laufbahn. Der Papst und die lateinische Christenheit, Stuttgart 1964 (MGH Schriften, 19, 1), S. 41–51.
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zu gehen, schuldig fühlt, obwohl er sie – laut Ranger – letztendlich abgelehnt hat90. In diesem Fall positioniert er Anselm noch in einem breiteren Spannungsfeld der Erzählung, dessen wichtige Pole die Verhaltensweisen und Stellungnahmen Alexanders II. und Gregors VII. gegenüber der Investitur sind91. Der Letztere, wie auch ein bedeutendes Selbstgespräch im Buch [1] zeigt, ist wegen des Notstands noch zu kompromissbereit, vor allem in der Regierung der Diözese92. Deshalb hatte er den Neffen veranlasst, vom König die Investitur zu erbitten. Der in den pastoralen Ermahnungen an Anselm ausgedrückte religiöse Vorschlag Gregors kann im Gegensatz dazu die Kompromissbereitschaft vermeiden und die komplexe Spannung zwischen aktivem und kontemplativem Leben aufheben, ohne sich komplett aus der Welt zurückzuziehen93. Um die zwei Protagonisten bewegen sich die weiteren Figuren: Alexander II., Heinrich IV., Kaiserin Agnes, Petrus, der königliche Bischof von Lucca, und so weiter. Unter anderen spielt Mathilde von Tuszien ohne Zweifel eine besonders 90 Nec dubitat regem contempnere; sed quia mittis (sic)/ Et mansuetus erat, sic pacienter agit:/ Rex, inquit, baculum non tollo pontificalem/ Nec modo sub tanto pondere pono caput […]. Ille ita contemptus gemitu tabescit et ira/ Iamque timet vacuam ferre aliquando manum,/ Cum videat, qui non timeat contempnere munus,/ Quod soleat multa vendicione dari (VAR 625– 628 und 641–644, S. 1170). Vgl. auch den Hypotext: Bardonis Vita Anselmi (wie Anm. 2), 2, S. 14. 91 Das allgemein beschriebene Verhalten Alexanders II.: Sed pietatis opus non tractat cum pie tate,/ Qui petat a mundi principe dona Dei (VAR 601–602, S. 1169). Die Stellungnahme Gregors VII. findet sich in seiner späteren Ermahnung an Anselm: Denique, qui iurat, iam non est liber, et illi/ Debet in obsequium, quas dedit ante manus (VAR 767–768, S. 1173). Die Stellungnahme des Erzählers gegen Alexander II. ist sehr deutlich und polemisch. Siehe den Anfang seiner Apostrophe gegen den Papst: O quod agis, Petri successor, tune cruentas/ Arbitrare manus haec sacra posse dare?/ Quis te ponteficem Romana sede locavit?/ Numquit non clerus, qui solet, et populus?/ Si licuit, proprium noli dampnare nepotem/ Et si non licuit, quid Cadulo nocuit (VAR 603–608, S. 1169). Man kann beobachten, dass aus den drei Paaren ein Dreieck von Spannungen resultiert: Alexander II./Hildebrand, Alexander II./ Anselm und Gregor VII./Anselm. Diese Figuration ändert sich nach dem [1.] Abschnitt durch das Einfügen der Figur Mathildes, aber nicht ohne neue Spannungen. Siehe zum Beispiel die Rede Mathildes an Anselm: VAR 961–996, S. 1176–1177. 92 Das Selbstgespräch Alexanders II.: Non hunc (d. h. Anselm) sub specie cuiuslibet utilita tis/ Inficies maculis, Symon avare, tuis,/ Quae me, cum fureres Cadulumque in bella vocares,/ Aspersere notis turpibus et variis,/ Cum miser et captus Romanae sedis amore/ Distraxi deci mas militibusque dedi,/ Distraxi praetio curtes fecique libellos,/ Prebendas praetii sub datione dedi,/ Et quae multa mihi longo plangenda dolore (VAR 397–406, S. 1165). 93 Die Lösung ist die Aufnahme eines doppelten officium, wie im Fall des heiligen Martinus, der Mönch und Bischof war: Praedicat instanter nec iam velut ipse, sed alter/ Marti nus gemino fungitur officio;/ Et sic pontificis opus exibet, ut tamen esse/ Hoc magis incipat monachus et studeat (VAR 1457–1460, S. 1187).
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relevante Rolle. Quantitativ betrifft ungefähr ein Zehntel des Gedichts die Gräfin: Außer der Erzählung ihrer Taten sowie ihren eingefügten Reden und ihrer Lobpreisungen ist der wichtigste Teil die ihr gewidmete Auslegung der biblischen Stelle der mulier fortis94. Durch ihre Unterstützung Gregors und Anselms beteiligt sie sich an der militia und implizit auch an deren Heiligkeit95. Umgekehrt wird die Figur des königlichen Papstes Clemens III., der von den ersten Versen des Gedichts an als Erzfeind beschrieben wird, von Ranger nicht nur dämonisiert, wie Heinrich IV., sondern er lässt ihn emblematisch nicht zu Wort kommen. Bedeutenderweise ist sein Auftritt in der Erzählung mit einer Schifffahrt und einem Sturm verbunden. Diese Episode, die gleichzeitig auch als Apostrophe gegen Wibert gilt, suggeriert eine metaphorische Assimilierung Clemens’ III. mit den entfesselten Naturkräften, die keine Stimme haben. Wibert ist ein sybilus, ein Zischen, das die Zeder schüttelt96. 94 Auflistung der Teile des Gedichts, die der Figur Mathildes gewidmet sind (abgesehen von den vielen Erwähnungen, die eng mit der Diegesis verbunden sind): einleitende Lobpreisung Mathildes und deren Rede an Anselm (VAR 953–996, S. 1177–1178); Rede vor der Diözesansynode in Lucca (VAR 1705–1736, S. 1192–1193); Anklage des Kanonikers Petrus gegen sie (VAR 1891–1908, S. 1197); Lobpreisung (VAR 2017–2026, S. 1199); Lobpreisung (VAR 2933–2946, S. 1219); Lobpreisung (VAR 3549–3612, S. 1232– 1233); Lobpreisung (VAR 3677–3698, S. 1234); Lobpreisung als Auslegung der Stelle über die mulier fortis (VAR 3699–3954, S. 1236–1239); Gebet Anselms und Mathildes (VAR 4201–4242, S. 1245); Beschuldigung ihrer Gegner gegen sie (VAR 6481–6498, S. 1291); Lobpreisung ihrer domus (VAR 6615–6620, S. 1294); Klage über den Tod Anselms (VAR 6921–6956, S. 1300–1301). 95 Zum Beispiel deutet Anselm in den Trostworten an Mathilde nach dem Tod Gregors VII. dessen Hilfe im Kampf gegen die Schismatiker voraus und sagt am Ende eine himmlische Gemeinschaft der drei voraus: Haec tibi Gregorius dabit et mihi celitus arma/ Et tradet miseros ocius in laqueos./ Nos post errores, post taedia postque labores/ Evehet ad caeli gaudia cum superis (VAR 6425–6428, S. 1290). 96 O quantum paleae trahit haec quassatio secum!/ Et quantas cedros sybilus iste quatit! (VAR 3541–3542, S. 1231). Ranger widmet Wibert einen langen Abschnitt, der überwiegend die rhetorische Form der Apostrophe und insbesondere der Invektive hat: VAR 3295– 3544, S. 1226–1231. Zur Beschreibung des Sturmes, der die Missgunst Gottes zeigt und gleichzeitig der frevelhaften Wut Wiberts (und auch des Antichristen) entspricht: VAR 3463–3526, S. 1230–1231. Auch auf den ersten Blick scheint das semantische Feld der Laute Rangers Darstellung des Streits stark zu charakterisieren: Siehe zum Beispiel die Belege des Wortes murmur. Auch Cadalus kommt im Gedicht nicht zu Wort; nur der königliche Bischof Petrus hält als Schismatiker verschiedene Reden: an die Rebellen im Klerus Luccas (VAR 1833–1876, S. 1195–1196); an das Volk Luccas (VAR 1879–1910, S. 1196–1197); gegen Anselms Anhänger (VAR 5231–5238, S. 1266); vor der städtischen Versammlung (VAR 5261–5282, S. 1266–1267); Streitgespräch gegen Bardo (VAR 5387–5548, S. 1269–1272; 5587–5622, S. 1272–1273). Allerdings ist sein Auftritt als
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Bei Heinrich IV., dessen Stellungnahmen von Ranger zwei Mal durch sermoci nationes dargestellt werden, ist das dagegen nicht der Fall. Trotz seiner Bosheit, Hinterlistigkeit und seiner Angleichung an Lucifer kommt er in einigen entscheidenden Szenen des Konflikts in den Jahren 1075–1077 zu Wort97. Diese Inszenierung, die von der Gesandtschaft Agnes’ – Anfang des [4.] Buchs – bis zur Wahl Wiberts – Ende des [5.] – mehr als 1500 Verse umfasst, ist zweifelsohne ein Unikum in der Textproduktion des Investiturstreits: Sie stellt eine Art Episierung der Eskalation der Auseinandersetzung dar, die gleichzeitig die wichtigsten Inhalte zusammenfasst und die gegensätzlichen Positionen stilisiert und dramatisiert.
Die verschiedenen Gesichtspunkte In dieser Galerie von Szenen und Reden – insbesondere derjenigen des Königs und der Bischöfe in Worms sowie der Rede Gregors VII. in Rom – und in den Einlassungen des Erzählers – insbesondere einer Apostrophe, durch die die Thesen der deutschen Bischöfe widerlegt werden – liegt der Kern der komplexen thematischen Entfaltung der Vita metrica Anselmi. Doch vom Beginn des Gedichts an gibt es viele andere relevante Stellen und Abschnitte, in denen die wichtigsten Themen des Streits von Ranger entwickelt werden. Eine ausführliche Analyse kann hier aber nicht durchgeführt werden. Das Ziel ist es stattdessen, beispielhaft zu zeigen, wie die Überarbeitung Rangers durch die schon erwähnten Mechanismen der Amplifizierung, insbesondere der sermocinationes, eine literarische Aufnahme der Vielfältigkeit und Gespaltenheit der Positionen verwirklicht hat. Man bezieht sich hier auf die Themen des Königtums und der libertas.
Das Königtum Die Rede Heinrichs IV. in Worms wird vor den Bischöfen, den Fürsten (duces) und dem Volk gehalten98. Nach einer Auflistung der Vorwürfe gegen Gregor VII. schismatischer Bischof für den Erzähler mit Worten nicht definierbar: At Petrus accepta contra ius fasque catedra,/ Qualem se exibuit, littera nulla capit (VAR 4823–4824, S. 1257). 97 Heinrichs IV. Mitteilung an Gregor VII.: VAR 2225–2244, S. 1204; die Rede Heinrichs auf der Wormser Synode: VAR 2277–2374, S. 1205–1207. Eine Zusammenfassung seines Diskurses in Lucca ohne direkte Rede: VAR 4805–4822, S. 1257. Die Parallelen zwischen Heinrich IV. und dem Teufel: VAR 2825–2858, S. 1216–1217. 98 Infelix operum sociosque ducesque suorum/ Convocat et papae deteriora parat./ Conveniunt pontifices, non conciliari,/ Sed qui pontificum non bene nomen habent,/ Et turbare fidem,
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betrachtet Heinrich IV. die Position des Königs spezifischer. Der Papst habe einen machtsüchtigen Anspruch auf die Krone und überschreite so die Grenzen seines Amtes: Er wolle alles, wie ein neuer Cäsar. Der Gegenvorwurf zur Investitur der Bischöfe sei dagegen unbegründet, weil Heinrich nicht segne und nicht weihe: Er dränge sich nicht in die sakrale Sphäre hinein99. Die Praxis Gregors sei dagegen widersprüchlich: Die vom Papst geförderte libertas werde von den ihm geschickten Geschenken und geleisteten Eiden widerlegt; sein Verhalten folge nicht Petrus’ und Paulus’ Vorbild100. Wenn das Geflecht geklärt werden müsse, sei Heinrich für eine Trennung der Bereiche: Er führe die militia; der Papst solle sich um die Witwen und die Armen kümmern und auf die Regalien und auf die militia verzichten101. Außerdem habe Gregor das Recht Heinrichs III., den Papst zu ernennen, dem Sohn nicht zuerkannt, weil er ein Kind war. Nach der Auflistung anderer Anschuldigungen gegen den Papst, darunter auch die Instrumentalisierung der Mutter Agnes, fordert Heinrich IV. zunächst die Bischöfe, die das notwendige kanonische Wissen haben, und dann die Gesellen in der militia auf, Gregor VII. zu verurteilen. Die milites müssen gegen ein schwach gewordenes Rom intervenieren102. Die ganze Rede Heinrichs würde sich für einen langen Kommentar anbieten. Hier wird das Thema ‚Königtum‘ jedoch nur kurz angesprochen. Laut Heinrich IV. wird der König von drei Merkmalen gekennzeichnet: von der militia, den Reichsinsignien und den Rechten, den Regalien. Ohne diese Kennzeichen falle der König fast auf ein bäuerliches Niveau (ad aratra). Das Verhalten Gregors VII. entziehe dem König diese Befugnisse und Rechte: Wie Nero oder Cäsar – d. h. wie ein Tyrann – wolle er die ganze Macht für sich haben und daher die Reichsinsignien tragen, die militia führen und über die Regalien verfügen. Außerdem habe Hein-
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non edificare volentes,/ Quae solet esse pii gracia concilii./ Hoc in murmurio velut exundante procella,/ Dum Christus dormit, pene carina perit./ Rex indignatur, quia papae non domi natur,/ Et tolli solium plorat et imperium./ Has illi voces quasi comiserando secuti,/ Contra pontificem perfida bella movent (VAR 2253–2258, S. 1204). Quid sibi vult auro radians gemmisque corona/ Et superexaltans regia palma capud?/ Quem lateat, quod fulmen agat presumpcio talis/ Et pudor in veri vertice pontificis?/ At nos argui mur, quia virgas pontificales/ Tangimus et clero signa ferenda damus?/ Sed neque signamus nec quemquam sanctificamus/ Nec nobis ipsis talia suscipimus./ Hildebrandus, homo quasi Ianus fronte biformis,/ Sicut Cesar erat, omnia vult fieri (VAR 2307–2316, S. 1205–1206). VAR 2317–2324, S. 1206 (siehe unten den der Anmerkung 137 entsprechenden Text). Nobis miliciam, nobis diadema relinquat,/ Pauperibus, viduis, auxilium tribuat./ Quod si miliciae vel regni captat honorem,/ Et nobis liceat ponere pontificem./ Si non vult nobis, quae sunt sua, participare,/ Senciat illicitum tollere nostra sibi./ Ad ligni calices redeat, regalia nobis/ Restituat, primi quae tribuere patres./ Sed pugnat, sed miliciam conducit et Urbem/ Dissipat et nobis iura paterna negat (VAR 2325–2334, S. 1206). VAR 2335–2374, S. 1206–1207.
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rich IV. einen dynastischen Anspruch auf die Ernennung des Papstes, aber das Recht des Vaters, Heinrichs III., werde ihm vom Papst verweigert103. Die Vorstellung Heinrichs IV. ist deshalb eine sehr konkrete: Herrschaftszeichen, Heerführung und Vorrechte, die den König an die Spitze der Hierarchie stellen. Es gibt in den Worten Heinrichs keinen expliziten Verweis auf die sogenannte Ideologie, die die königliche Macht definiert und mit diesem Amt eine besondere Verantwortung verbindet. Dieser Aspekt wird der Kaiserin Agnes von Ranger in einer der längeren Reden des Gedichts zugewiesen: Die betrübte Mutter Heinrichs IV. erhebt nicht nur Vorwürfe gegen den seit der Kindheit sündigen Sohn, sondern ihre Rede wird gleichzeitig zu einem kurzen, aber gelehrten Abschnitt, der als spe culum regis gelten kann104. Nachdem Gregor VII. Heinrich IV. mehrmals väterlich ermahnt hat, veranlasst ihn die schwierige Situation des Reichs, dessen Mutter mit zwei Kardinalbischöfen zum König zu senden. Aufgrund ihrer Traurigkeit über die Situation wird die Rede für Agnes beinahe zu einer Klage vor dem toten Sohn. Es sei einem Herrscher nicht möglich, sich nach Belieben zu verhalten. Der Kaiser müsse sich stattdessen immer spiegeln, den Vorbildern folgen und vor allem Gott fürchten, weil er sonst die Macht auf der Erde sowie das ewige Leben verliere. Heinrich, dem auch die probitas der bisherigen Könige dieses Landes fehle, solle aus den Beispielen der bösen sowie der guten Herrscher lernen105. Vor allem solle er auf die negativen sowie auf die positi103 Et mihi regis opus mox ad aratra redit (VAR 2352, S. 1206). Vgl. Tilman Struve, Die Stellung des Königtums in der politischen Theorie der Salier, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich,III: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 217–244: über das Königtum in der Vita metrica Anselmi: Savigni, Episcopato e società (wie Anm. 9), S. 350–354. 104 Ex hoc murmurio surgit tam saeva procella,/ Ut nec papa queat pacificare satis./ Mittit in hanc iterum causam cum matre fideles/ Pontificesque duos, qui sua iussa ferant./ Arguit Hen ricum materne flebilis Agnes/ Et quasi defunctum sedula plangit eum (VAR 2043–2048, S. 1200). Agnes’ Rede: VAR 2049–2244, S. 1200–1203. 105 Filii, regnantem non convenit aut dominantem/ Quodlibet ad placitum dicere vel facere./ Ipse Deus, regum pater et dominator eorum,/ Non temerat legem, quam tamen ipse facit./ Iusticiam dictat, intercipit impietatem,/ Et quis tam iustus vel pius esse studet?/ Hac igitur forma multo magis imperialem/ Personam sese convenit inspicere/ Et velut in speculo mores actusque notare,/ Ne quid se lateat, quod male conveniat./ Quo speculo? quaeris. Gestis et fine malorum/ Et regum forma, qui timuere Deum./ Felix, qui metuit, felix, qui se moriturum/ Cogitat et sumum credit adesse diem./ Durus et inpavide mentis, quem cura gehennae/ Nulla movet, durum senciet interitum./ Ergo time regemque tuum, qui regnat ubique/ Et semper vivit, sicut oportet, ama./ Sin alias, perdes vitae miserabilis usum/ Et perdes animam, quam dedit ille tibi./ Et, quod iam metuis, regni privabit honore/ Et sceptrum tollet et diadema simul./ Vel lege, si nosti, regum monimenta priorum,/ Vel sapiens aliquis haec tibi sepe legat
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ven Beispiele achten: Während die negativen alle aus dem Alten Testament stammen, sind die positiven jünger: Konstantin, Theodosius, Karl der Große106. Abgesehen vom zweideutigen Fall Heinrichs III., der trotz seiner guten Taten in den Fängen der Simonie gewesen sei, seien die guten Herrscher dadurch charakterisiert, dass sie die Überlegenheit Gottes und konsequenterweise des Papstes anerkennen107. Diese und andere Beispiele von Königen kommen auch in den Reden Gregors VII. und in den extradiegetischen Teilen des Erzählers vor. Als Hildebrand das Wort für Alexander II. und gegen den Gesandten des Königs ergreift, eröffnet er seine Rede mit klaren Worten: Rex nobis non est108. Die Argumentation Hildebrands führt zu einem Einschub über Kaiser Konstantin, in dem er auch dessen Worte wiederholt. Konstantin habe die Überlegenheit des Papstes und der Bischöfe anerkannt109. Der König sei von der sakralen Sphäre ausgeschlossen und ohne Priester
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(VAR 2049–2072, S. 1200–1201). Terra valens regesque solens probitatis habere/ Fastidit mores improperatque tuos (VAR 2109–2110, S. 1201). Die negativen Vorbilder: VAR 2073–2090, S. 1201 (Saul, David, Roboam, Zedekia); 2119–2128, S. 1202 (Nebukadnezar, Sennacherib, Herodes). Diese Vorbilder seien für Heinrich IV. geeigneter: Haec tibi sint operum certa argumenta tuorum,/ Cum sis deterior et magis indocilis (VAR 2129–2130, S. 1202). Die positiven Vorbilder: VAR 2145–2166, S. 1202. Aber auch Konstantin, Theodosius und Karl der Große gelten als Beispiele für Heinrich IV.: Ecce vides veterum velut exemplaria regum/ Atque triumphales aspicis hos apices (VAR 2167–2168, S. 1203). Sic alii reges, sic Teodosius ipse/ Summo pontifici subposuere capud./ Sic Carolus, sic post Carolum generacio longa/ Omnia Romanae contulit ecclesiae (VAR 2157–2160, S. 1202). Zur Darstellung Heinrichs III. in Agnes’ Rede: Ipse tuus genitor, quamvis diversus ab illis,/ Multis et multum profuit aecclesiis./ Profuit et sedi Romanae, pontificique/ Romano studuit cedere, qua licuit./ Et qua non licuit, quia sol in nube latebat,/ Et magus ille dolis omnia polluerat,/ Et quid si fecit venaliter atque superbe:/ Numquit in inmunda sponte lavamur aqua?/ Sed nec ego patrem suscepi iustificare (VAR 2169–2177, S. 1203). Die ganze Äußerung Hildebrands ist komplexer als dieser kraftvolle Beginn und lautet: Rex, inquit, nobis non est, homo fallitur ille,/ Qui putat hanc urbem subdere servicio./ Roma per antiquum non servit, sed dominatur:/ Roma sibi famulos novit habere duces./ Hystoriae narrant et regum gesta locuntur,/ Quae sibi Romanus subdiderit populus./ Sed iam preteream reges populosque subactos/ Et Gallos etiam complicuisse manus./ Ad Chris tum veniam, regem super omnia regna/ Et dominatorem tocius imperii. (VAR 139–148, S. 1160). In diesem Sinne schließt Ranger – hier und in weiteren Stellen mehr oder wenig explizt – die Könige und angeblichen Kaiser aus Rom aus. Vgl. auch die spätere Rede Gregors VII.: Ergo dampnamus reges? Non, sed stabilimus,/ Nam Christo regnum servit et imperium (VAR 3033–3034, S. 1221). Zu Konstantin in Hildebrands Rede: VAR 159–172, S. 1160. Zu den guten Nachfolgern Konstantins: Sic Constantinus et eum per longa tempora secuti/ Tempora senserunt et tenu ere patres./ Et Christum in Petro venerantes eius honorem/ Tanquam divinum tangere sunt veriti (VAR 173–176, S. 1160).
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gäbe es auch keine Weihe des Königs: Der Letztere sei den Priestern offensichtlich untergeordnet110. Außerdem habe es eine Zeit ohne Könige gegeben: die Zeit der Richter sei glücklich gewesen und das Königtum sei eine göttliche Strafe, wie das Beispiel Sauls zeige111. Aber statt mit der Auflistung der schlechten Könige fortzufahren, schickt Hildebrand durch dessen Gesandten eine Botschaft an Heinrich IV.: Er habe nicht verstanden, dass die sakrale Sphäre anders als die laikale bzw. irdische sei und der König davon ausgeschlossen sei: Er dürfe nicht die Bischöfe ernennen, sonst sei er wie Roboam112. Der Bereich des Kaisers werde durch konkrete Aufgaben und durch die einschlägige Verantwortung definiert: Er müsse die Heimat verteidigen, die Verbrecher verurteilen, für die friedlichen Untertanen Gesetze, Gerech-
110 Non est humanum, sed nec magis imperiale/ Divinum munus vendere sive dare./ Quando sacerdotem rex ordinat aut sacrat aram?/ Quando crisma facit? Quando reformat Adam?/ Tolle sacerdotem, iam non erit unctio vestra;/ Quae si non fuerit, rex quoque nullus erit./ Iamne vides regem de munere pontificali,/ Et non de regis munere pontificem?/ Sic a prin cipio Saul a Samuhele creatur,/ Et regni leges ipse propheta dedit (VAR 191–200, S. 1161). Das Thema kommt noch vor; zum Beispiel in Gregors Rede an die Verteidiger Roms: Nec sinimus solvi doctrinam pontificalem,/ Ut rex pontificem se putet atque Deum,/ Sufficiat regi regalia iura tenere,/ Et de milicia vivat agatque sua./ Pontifices illi non debent esse subacti,/ Plus est imperio pontificalis honor./ Quid pastoralis baculus, quid et anulus illi?/ Non sunt officii signa verenda sacri?/ Denique quid restat? Cur non et cetera tollit?/ Cur non et tondet et signa sacra facit?/ Nunc indignatur et non facienda minatur,/ Quod sacrum limen tangere non sinimus (VAR 5823–5834, S. 1278). Hier muss zumindest beispielhaft diese im De anulo et baculo wiederholte These erwähnt werden: Quod si rex aliquis credit sibi tanta licere,/ Et cum pane putat lumina posse dare,/ Non miretur opes, non regia tecta decusve,/ Nec de militia, quam regit, intumeat./ Respiciat regem, qui solus regnat ubique/ Et rex est regum, qui prohibet facere,/ Inque domo magna, quae nos sumus, ordinat esse,/ Quos vult, inque quibus iudicat ordinibus./ Atque sciat laicis, hoc est popularibus atque/ Amotis sacro prorsus ab officio,/ Se prodesse datum vel, non contendo, praesse/ Non tamen, ut quemquam debeat oprimere./ Ergo foris signet, foris ordinet, imperiumque/ In laicos habeat, sed tamen, ut timeat./ Intus in ecclesia minor est, quam clericus omnis/ Nec maior minimo quolibet a laico (Rangerii de anulo et baculo (wie Anm. 7), 213–228, S. 513–514). 111 Denique non recolis huius primordia fastus,/ Cum sub iudicibus rexerat ipse Deus?/ Omnia florebant. Quid narrem clara virorum/ Praelia? Debboream respice miliciam./ Ut vero regem populus quaesivit habere,/ In Samuhele suo spernitur ipse Deus:/ Spernitur, et regem primum non gratia fecit,/ Set Deus ad penam plebe merente dedit/ Unde vides quae corrup tela sequatur regnum: VAR 201–209, S. 1161. Vgl. noch den De anulo et baculo: Ecce vetus ratio: iam saltem confiteantur,/ Reges iam doleant, iam melius videant./ Cum Domini popu lus ex libertate vigeret,/ Cum sub iudicibus degeret et ducibus,/ Quando sacerdotem iudex ad bella coegit,/ Aut in levitas iussa minasve dedit? (Rangerii de anulo et baculo (wie Anm. 7), 925–930, S. 528). 112 Hildebrands Mitteilung an Heinrich IV.: VAR 221–262, S. 1161–1162.
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tigkeit und Bildung schaffen, gerechte Steuern erheben und Münzen prägen113. Der Anspruch Heinrichs IV. auf eine römische Würde wie das Patriziat sei dagegen unbegründet114. Hier wird die Rede Hildebrands zu einer Apostrophe an Hadrian I., in der Hildebrand bedeutenderweise eine andere Einschätzung Karls des Großen und seiner Intervention gegen die Langobarden als Agnes abgibt. Diese Intervention habe die Voraussetzungen für einen Anspruch auf die sacra geschaffen und sich noch schlechter ausgewirkt als der militärische Druck der Langobarden. Die Kriege (bella) der fränkischen Könige seien also hinterlistig (subdola) gewesen. Laut Agnes war der Sieg Karls des Großen gegen die Langobarden sogar ein Zeichen der göttlichen Gunst115. Eine weitere Meinung über Karl den Großen vertritt der Erzähler, der in seiner sofortigen und ausführlichen Antwort auf die Rede der Bischöfe in Worms eine Minderung der Bedeutung der militärischen Intervention Karls des Großen und vor allem eine Verweigerung der kaiserlichen Würde des fränkischen Königs ausdrückt116. Abermals kann man hier weder diese Stelle noch den ganzen dichten Abschnitt ausführlich analysieren, sondern lediglich feststellen, dass das Spektrum 113 Quae sunt cesarei iuris, habere licet./ Cesaris est armis patriam deffendere, fures/ Et saevos homines perdere; pacificis/ Leges, iudicium, mores formare, tributa/ Et reditus equos per loca suscipere./ Caesaris est, qua vult specie formare monetam,/ Quam formam Christus noluit esse suam (VAR 236–242, S. 1162). 114 Tu tamen, unde tibi Romani iuris honorem,/ Unde tibi sceptrum nominis huius habes?/ An quia patricium pro munere Roma vocavit,/ Et diadema simul obtinuisse putas? (VAR 243–246, S. 1162). 115 O male consultum Romanis! O Adriane,/ Eripior canibus, mittor in ora lupis!/ Si Longobar dum metuis, ne dissipet Urbem/ Et libertatem civibus eripiat,/ Intolerabilius et multo sevius illut/ Arbitror, ut veniat, qui sacra diripiat./ Ne Longobardi nostra dominentur in urbe,/ Invitas Karolum; Gallica frena time!/ Iam luimus nimium graviter suffragia tanta,/ Qui tulit auxilium, subdola bella facit (VAR 247–256, S. 1162). Die Einschätzung der Intervention Karls des Großen in Agnes’ Rede: Cum Desiderius fureret, cum perfida castra/ Per totam ferme spargeret Ytaliam,/ Cum raperet, cum non senio, non religioni/ Parceret, opposuit Gallica signa Deus,/ Non Alpes nivibus et iniquo frigore regum/ Audaces cuneos impediere satis (VAR 2161–2166, S. 1202). 116 Ut Carolus quondam, Graecis trepidantibus, Urbi/ In Longobardos robur opemque dare/ Venit et adiuvit et barbara castra removit,/ Verum non ideo sedit in imperio./ Si tamen indultam gestavit in urbe coronam/ Hoc decus illius, non fuit imperii./ Francorum rex ille potens et clarus in orbe/ Ornatu proprio claruit et solio,/ Quod solet interdum fieri, cum tem pore festo/ Reges conveniunt et sua serta ferunt./ Non tamen idcirco vel regnum consociatur,/ Vel perdit solium, qui recipit socium: VAR 2625–2636, S. 1212. Über die Figur Karls des Großen während des Investiturstreits: Oliver Münsch, Das Bild Karls des Großen in der Publizistik des Investiturstreits, in: Oliver Münsch (Hg.), Scientia veritatis: Festschrift für Hubert Mordek zum 65. Geburtstag, Ostfildern 2004, S. 311–326.
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der Einschätzungen Karls des Großen und des Königtums im Allgemeinen in den unterschiedlichen Reden sehr aussagekräftig präsentiert wird. Die Amplifizierung durch die Reden der Figuren und durch die Apostrophen ermöglicht, verschiedene Gesichtspunkte des Königtums darzustellen: Eben dieses dargestellte Spektrum von Meinungen, die manchmal übereinstimmen, sich teilweise aber auch deutlich voneinander unterscheiden oder sogar widersprüchlich sind, ist der Kern der literarischen Aufnahme der damaligen öffentlichen Debatten. Höchstwahrscheinlich nimmt diese rhetorische Lösung literarisch die Debatten auf, die damals stattgefunden haben, wie zum Beispiel das Streitgespräch zwischen Petrus, dem königlichen Bischof von Lucca, und Bardo, dem Vertreter der lokalen Anhänger Anselms von Lucca. Ranger stellt eine geregelte Auseinandersetzung dar, die ein beeindruckendes Beispiel des Funktionierens einer städtischen Teilöffentlichkeit ist: Bardo verlangt in seiner Exordialrede, dass er frei sprechen könne, ohne dass Hass oder Gewalt ihn daran hindern117. Nachdem Bardo die Vorwürfe gegen Petrus formuliert hat, beginnt ein langer Wortwechsel, dessen geregelte Form dadurch charakterisiert wird, dass Ranger den Gegnern abwechselnd jeweils sechs Verse zugesteht118. 117 Die geregelte und friedliche Form der Auseinandersetzung wird von Tadus vorgeschlagen, der vor der städtischen Versammlung spricht, die vom königlichen Bischof Petrus einberufen wurde. Das Ende der Rede Tadus’: dum popularis/ Aura tonet causam, non movet iste sonus./ Quare consulibus placet haec sententia nostris,/ Quorum consilio stamus et auxilio,/ Ut veniant et conveniant cum pace vocati,/ De quibus haec hominum tanta pro cella fremit./ Et vel confirment, quod dicitur ex ratione,/ Aut hii peniteant et male facta luant (VAR 5309–5316, S. 1267). Der Bischof Petrus gibt seinen Bruder als Geisel: VAR 5317–5318, S. 1267. 118 Der Anfang von Bardos Rede: Quoniam convenimus, inquit,/ Respondere Petro de pietate sacra,/ Obsecro, sopitis odiis et sedicione,/ Dicere, quae volumus, pleniter ut liceat (VAR 5363–5366, S. 1268). Zur Glaubwürdigkeit Bardos und seines Gefahrten Paulus (und auch des Bischofs Petrus): Non sumus ygnoti: bona vel mala nostra per urbem/ Clares cunt vobis optime, quos video./ De Petri vita, de moribus et levitate/ Quem lateat, nullum prorsus in urbe puto./ Sic vixit, sic a puero pueriliter egit/ Et mala, quae potuit, addere non puduit (VAR 5367–5370, S. 1268). Petrus fürchtet den Streit (litis, litigium) wegen der Veränderlichkeit der Meinung des Volkes. Die übrige Rede von Bardo mit den Anschuldigungen an Petrus: VAR 5373–5386, S. 1269. Es gibt siebenundzwanzig gleichmäßige Redewechsel und sechs in der Wiederaufnahme des Gesprächs. In der Darstellung des Streits gibt es Hinweise auf unterschiedliche Quellen der Autorität (traditio canonum, traditio veterum, scriptum, racio legis, praecepta usw.). Auch gewöhnliche Ausdrücke eines Streits kommen vor; zum Beispiel: habes contra, habes scriptum, leccio, invenire. Beispielhaft ist es auch die bedeutende Kritik Petrus’ an der Anwendung des alttestamentarischen Wissens: Quid legem veterem, quid sacra vetusta/ Conaris tociens in medium trahere?/ Non sumus in veteri, nec iam licet esse sub umbra,/ Ut Deus advenit factus et ipse via./ Si tamen
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In diesem langen Abschnitt wird auch die Position des Königs in Frage gestellt. Erstens diskutieren Petrus und Bardo über die Gültigkeit der Ernennung des Bischofs gratia regis. Laut Bardo ist der König – wenn Heinrich IV. überhaupt als König gelten könne – von der Wahl ausgeschlossen; laut Petrus ist die Macht des Königs auch auf der apostolischen Ebene begründet. Für Bardo gibt es keine potestas über das apostolische Recht: Die Dimension der Sakramente sei ganz anders als die Sphäre des Königs, der sich nur mit menschlichen, irdischen und vergänglichen Dingen beschäftige. Laut Petrus ist dagegen die königliche Investitur der Bischöfe ein alter Brauch (vetus usum), der nicht gegen die Vernunft (racio) ist: Das sei nur eines der Rechte des Königs, der damit aber kein bischöfliches Amt ausübe. Die novitas der Lehre der Reformer sei dagegen subversiv. Der König habe das Recht, die kirchlichen Güter zu verleihen, ohne dass dies eine Spaltung des Bischofsamtes mit sich bringe, wie Bardo behaupte119. Der Streit um heilige Güter und Regalien setzt sich noch auf angespannte Weise über viele Wortwechsel fort. Von den zahlreichen Argumenten der Streitenden sei hier noch ein bedeutender Leitsatz Petrus’ über das Königtum zitiert: sacer est rex ipse sacrisque rebus habet licitum ponere prapositum. Petrus erkennt also explizit die Sakralität des Königs an, die der Lehre Gottes nicht entgegenstehe und auch historisch begründet sei. Daraus leiten sich Frieden und Ruhe für alle ab, weil der König und der Priester übereinkommen und zusammen einen festen Körper bil-
hos licuit ritus mutare, quid obstat,/ Ut veteres usus solvere non liceat? (VAR 5471–5476, S. 1270–1271). Das ganze Streitgespräch als Inszenierung der Auseinandersetzung wartet noch auf eine ausführliche Analyse, die hier nicht durchgeführt werden kann. 119 Petrus: Pontificem me fecit gratia regis,/ Imposuitque manus ad sacra papa novus,/ Quem rex more patrum sublimem fecit, ut ille/ Monachus in turbam seque suosque dedit,/ Turpis homo, turpi nimis oblectatus amore/ Et de faemineo Marte trophea putans./ Bardus: Per regem, si rex tamen esset habendus,/ Non potes esse sacris signifer ordinibus./ Guibertum taceo, qui sacra pulsus ab aede/ Papa nec est nec erit, testificante fide./ Ergo duo, quae summa putas, patet esse nefandi/ Criminis, ut nequeas esse, quod esse cupis./ Petrus: Habes scriptum, quia regia sollicitudo,/ Invigilat cunctis rebus apostolicis,/ Et praecepta vides totum diffusa per orbem,/ Quae sapiens nemo dissimulare potest,/ Omnem animam subdi fastigia quaeque tenenti,/ Quod qui non faciunt, pessime desipiunt./ Bardus: Habes contra, quia non est ulla potestas/ Supra divinum ius et apostolicum;/ Quod fidei lumen, qui sacramenta ministrat,/ Alcior est cunctis regibus et dominis./ Rex curat, quae sunt hominum, divina sacerdos;/ Hic pascit mentes, ille caduca facit./ Petrus: Sed veterem racio non impedit usum,/ Reges hanc curam tradere per baculum./ Non quia rex actum dispenset pontificalem,/ Sed quod caesaris est, et dare caesar habet./ Haec novitas populos conturbat, sediciones/ Excitat et leges solvit et officia (VAR 5399–5428, S. 1269–1270).
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den120. Diese Position stellt deshalb eine klare Konzeption dar, die genau das Gegenteil der gregorianischen ist: keine Exklusion und keine Trennung, sondern Teilnahme an der sakralen Sphäre und sogar Einigung des Königs mit dem Priester121. Auch wenn Ranger selbst eine gegensätzliche Idee vertritt, lässt er hier also die Meinung zu, die explizit die Sakralität des Königs betont. Er beschreibt in seiner Erzählung sogar den Aberglauben der Bauern der Diözese Luccas, deren amor regis die Liebe zu Christus überschatte. Sie versuchten sogar, die Kleidung des Königs zu berühren, um eine glücklichere Hand und dann eine bessere Ernte zu haben122. Durch diese kurz beschriebene bäuerliche Vorstellung, die eine Folge des auf dem Land verbreiteten Widerstands gegen die Wahrheit (adversio veri) sei, fügt Ranger den verschiedenen Sichtweisen auf das Königtum noch einen weiteren Aspekt hinzu. Die Inszenierung unterschiedlicher Gesichtspunkte wird dank der vielfältigen Erzählstruktur und insbesondere durch den von den sermocinationes produzierten Effekt der Vielstimmigkeit möglich123: Trotz der deutlich einseitigen und starken Position Rangers, der selbstverständlich kein ‚Pluralist‘ ist, werden viele nur teilweise übereinstimmende Definitionen bzw. Beschreibungen des Königtums vorgestellt, das sogar bis zum ‚Nullpunkt‘ gebracht wird. Dank der Wiederaufnahme der verbreiteten augustinischen Kritik an dieser Institution kann Ranger sich auch vorstellen, ganz auf Könige zu verzichten – sie könnten von den Richtern ersetzt werden, wie Deborah-Mathilde – oder ihren symbolischen Wert zu vernichten,
120 Petrus: Iam dixi, sacer est rex ipse sacrisque/ Rebus habet licitum ponere praepositum;/ Quod neque divinis unquam racionibus obstat,/ Temporibus vero consonat atque facit./ Hinc pax et requies, quoniam cum rege sacerdos/ Convenit et solidum corpus uterque facit (VAR 5507– 5512, S. 1271). 121 Zum Thema des sakralen Königtums im Mittelalter: Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006. Insbesondere zu seiner Krise während des Investiturstreits: Bernhard Töpfer, Tendenzen zur Entsakralisierung der Herrscherwürde in der Zeit des Investiturstreites, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 6 (1986), S. 163–171; Franz-Reiner Erkens, Der pia dei ordinatione rex und die Krise der sakral legitimierten Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit, in: Jarnut, Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? (wie Anm. 16), S. 71–101; Ludger Körntgen, »Sakrales Königtum« und »Entsakralisierung« in der Polemik um Heinrich IV., in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen, 69), S. 127–160. 122 Ex agris etiam tanta est adversio veri,/ Ut regem videant, ruricolae properant./ Hi longo visu pascuntur et imperiali/ Auditu faustos seque suosque putant./ Hi vestes tangunt, quo fortunatior illis/ Sit manus et surgat laetior inde seges (VAR 4777–4782, S. 1256). 123 Selbstverständlich kommen die Bauern nicht selbst zu Wort, aber Rangers selektiver Blick auf die Lucceser Gesellschaft stellt dennoch auch ihre Position dar.
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sodass der König – sogar in Worten, die Heinrich zugewiesen werden – ad aratra, d. h. auf ein bäuerliches Niveau, reduziert würde124. Die außerordentliche literarische Aufnahme der Debatten in der Vita metrica Anselmi zeigt mit einem Mal, was viele Traktate, Briefe und andere Texte zusammen nicht darstellen können: das breite Spektrum der Akteure, ihre differenzierten Gesichtspunkte, ihre Konkurrenz in verschiedenen öffentlichen Räumen bzw. in unterschiedlichen Kommunikationsformen und die gleichwohl literarisch vermittelte Atmosphäre eines lauten Konflikts.
Libertas Wie bereits im Überblick über das Königtum deutlich geworden ist, sind die wichtigsten Themen der Debatten – die Laienbeteiligung, die Simonie und die Investitur – miteinander verbunden. Als zweites Fallbeispiel geht es im Folgenden um den grundlegenden Begriff der libertas, der in den Reden der Figuren und des Erzählers mehrmals erwähnt wird125. Nachdem Papst Gregor VII. in der Rede, die er vor der Fastensynode des Jahres 1076 hält, die wichtigsten Dogmen vorgestellt hat, gibt er eine kurze und wesentliche Definition der libertas der Kirche: Er weist auf deren Status hin, nach dem Laien keinen Anspruch auf den Besitz von kirchlichen Institutionen haben oder Könige, Fürsten oder Machthaber kein Amt in ihnen vergeben oder verweigern dürfen. Es ist kein Zufall, dass Gregor VII. genau während dieser Definition vom 124 Diese symbolische Erniedrigung bzw. Vernichtung, die eine Art reductio Rangers mit sich bringt, schließt den König aus der sakralen Sphäre aus. Ranger stellt diese Idee im Rahmen der klassischen frühmittelalterlichen Modelle der ‚Gesellschaft‘ dar: dem Modell der Trennung zwischen Laien und Geistlichen, dem der Reinheit des sexuellen Status (VAR 1385, S. 1186; 2779–2786, S. 1215), dem der sozialen Ressourcen (fortes/fragiles: VAR 1386, S. 1186) und dem der drei funktionellen Orden (VAR 1387–1390, S. 1186). In diesem letzten Fall ist die Überlegenheit der oratores deutlich: Convenit armorum racio pro pace tenenda,/ Convenit et domitor ruris in arte sua/ Convenit orator supremus et ulti mus ordo,/ Per quem subsistunt atque valent alii. 125 Zum Thema: Gerd Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, Stuttgart 1936; Brigit Szabó-Bechstein, Libertas Ecclesiae. Ein Schlüsselbegriff des Investiturstreits und seine Vorgeschichte, 4.–11. Jahrhundert, Roma 1985 (Studi Gregoriani, 12); Rudolf Schieffer, Freiheit der Kirche: Vom 9. zum 11. Jahrhundert, in: Johannes Fried (Hg.), Die Abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1991 (Vorträge und Forschungen, 39), S. 49–66; vgl. auch die Konzeption der libertas Romana in den Privilegien und Briefen Urbans II.: Becker, Papst Urban II. (wie Anm. 89), S. 19–31.
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Gesandten Heinrichs IV. unterbrochen wird, der die Mitteilung bringt, durch die der König den Rücktritt des Papstes fordert. Eben diese erzählerische Inszenierung zeigt die Relevanz, die Ranger dem Begriff zuweist126. Im folgenden Abschnitt, der noch ein extradiegetischer Kommentar des Erzählers ist, weist Ranger auf eine ganze andere Idee von libertas hin, die mit einer verwerflichen historischen Entwicklung des Königtums verbunden ist. Die deutschen Herrscher, die das kaiserliche Amt usurpiert hätten, verursachten dessen Untergang: Dieses grausame Volk ( fera gens) kenne keine Grenze, sondern handele nur nach seinem eigenen Willen. Zu dieser mala libertas der deutschen Könige seien außerdem die negativen Verhaltensweisen Heinrichs IV. hinzugekommen127. Es handelt sich hier nicht um den spezifischeren Begriff der libertas ecclesiae. Trotzdem zeigt Rangers Erzählung ein Spannungsfeld der unterschiedlichen Begriffe von libertas auf. Zum Beispiel findet man zwei weitere Bedeutungen in einer der bemerkenswerten Strukturen der Vita metrica Anselmi, d. h. der doppelten Rede des Kanonikers Petrus vor dem Aufstand gegen Anselm: Die erste wurde nicht öffentlich (in latebris, in privatis conventis) vor den anderen gegen die Reform der vita communis rebellierenden Klerikern Luccas, die zweite vor den Bürgern der Stadt gehalten. In beiden Reden spielt ein jeweils unterschiedlicher Begriff von libertas die Rolle des zum Handeln motivierenden Faktors. In der ersten Rede versucht Petrus, die Kanoniker zur Revolte zu bewegen: Durch die Verurteilung Mathildes hätten sie ihren freien Status verloren und das sei besonders unerträglich, weil alle aus adligen Familien stammten. Um diese libertas wiederzuerhalten, sollten die Kanoniker kämpfen128. Vor der Öffentlichkeit von Lucca bezieht sich Petrus auf eine weitere Bedeutungsebene der Freiheit, die libertas des Volkes, um deren Konsens zu erhalten und die Hörerschaft zum Handeln aufzufordern. Mit dem Verlust der Freiheit sei auch alles andere verloren. Aber vom allgemeinen Prinzip kommt 126 Libertas vero aecclesiae, quam dicimus, haec est,/ Ut iam nullus eam possideat laicus,/ Nul lus rex, nullus princeps nullusque potentum/ Edibus in sacris detve negetve locum/ Necdum finierat, cum suspirantibus illis/ Et tacitis penitus ad sacra verba patris/ Ingreditur vocem que levans temerarius ille:/ Ildebrande, tonat, monache, siste parum./ Rex iubet a cathedra descendere protinus ista,/ Quod si persisteris, hostis apertus eris (VAR 2789–2798, S. 1216). 127 Hunc ubi Theutonicus tumor usurpavit honorem,/ Ius et fas proprium non tenuere decus./ Gens fera non novit certo se fine tenere,/ Omnia pro placito vultque facitque suo;/ Rex ad comunem superaddidit improbitatem./ Quo sub lege minus atque timore fuit./ Haec mala libertas puerili cum levitate/ Hunc hominem prorsus eripuere sibi./ Et sicut Salomon puero de rege profatur,/ Rex puer in vicium seque suosque dedit (VAR 2875–2282, S. 1217). 128 Ergo sati lucente loco claroque parente/ Iam sub servili conditione sumus/ […]/ Ecce duo quae dampna queunt his aequiparari,/ Quando libertas et Deus eripitur? (VAR 1837–1838, S. 1195; 1849–1850, S. 1196).
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der Redner zur spezifischen Situation Luccas und zur Herrschaft Mathildes und ihres Vaters über die Stadt: Petrus weist auf die Ahnen der Bürger hin, die es auch ohne Unterstützung des Königs geschafft hätten, die Fürsten zu unterdrücken, um ihre Freiheit zu verteidigen (pro libertate tuenda)129. Später diskutiert Petrus den Begriff der libertas noch einmal mit den Anhängern Anselms. In Bezug auf das Problem der Rechte des Königs auf die kirchlichen Güter verteidigt Bardo die libertas ecclesiarum, infolge derer auch alle Güter der Kirchen frei seien: Der Herrscher müsse daher davon ausgeschlossen sein, wie das Beispiel Valentinianus’ II. zeige130. Die anschließende Antwort Petrus’ entspricht der verbreiteten Konzeption der libertas in der sogenannten Reichskirche: Bardo erfasse den Begriff der libertas nicht auf angemessene Weise, weil sie den Kirchen auch vom König verliehen werden könne. Die libertas sei nicht als absoluter Status zu erfassen, der im Brief an die Galater von Paulus als Jerusalem bezeichnet wird (Gal. 21–31), sondern – auch wenn das implizit bleibt – als Rechtsstatus, der von den irdischen Herrschern zum Frieden der Heiligen selbst, d. h. ihrer Kirchen, verliehen werde. In anderen Worten scheint die libertas laut Petrus nicht eine Manifestation des himmlischen Jerusalem auf Erden, sondern eine konkretere Versicherung des Status und vielleicht Vermögens der Heiligen und ihrer Kirche zu sein. Laut Bardo ist aber die königliche Verleihung des bischöflichen Stabs ein Missbrauch der pastoralen Aufgaben des Bischofs: Die dem König untergeordnete libertas sei eine Gefahr für das Seelenheil der Gläubigen131. Gefährlich ist auch die libertas, die im Sinne einer moralischen Freiheit gemeint ist, d. h. die Freiheit, zu tun, was man will: Für den Erzähler hat diese libertas zur 129 Iustior illa tamen causa est et honestior omni,/ Quando libertas eripitur populis./ Denique quando potest libertas sola perire?/ Numquid non pereunt omnia, quando perit?/ […]/ Maiores nostri pro libertate tuenda/ Oppressere duces et sine rege suos (VAR 1887–1890 und 1905–1906, S. 1197). 130 Bardus: Si constat libertas aecclesiarum,/ Et quae sunt illis libera cuncta, patet./ Nescis Ambrosium regem sprevisse superbum/ Et matrem sacris abstinuisse locis,/ Cum fureret, cum sacra sibi loca subdere vellet,/ Moenia sacra sibi subdita iure putans? (VAR 5513–5518, S. 1271). 131 Petrus: Non sentis de libertate decenter,/ Sed tamen aecclesiis hanc quoque rex tribuit./ Libertas vero non est hic accipienda,/ Quam sub Iherusalem nomine Paulus ait./ Sed tamen, ut sancti possint retinere quietem,/ Pro summis hominum Paulus et ipse rogat./ Bardus: Sed baculum, qui curam signat ovilem,/ Tollis et in laqueum teque gregemque trahis./ Haec est libertas, ut, qui sub rege ministrant,/ Qualiter introeunt, taliter exiliant,/ Cum velut Herodes annales pontificatus./ Ex praecio faciunt et data subripiunt (VAR 5519–5530, S. 1271–1272). Zum Begriffspaar quies und libertas: Schieffer, Freiheit der Kirche (wie Anm. 125), S. 57 (für Gregor VII.); Becker, Papst Urban II. (wie Anm. 89), S. 23–25.
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Korruption der Bürger und des Klerus Luccas geführt132. In diesem semantischen Spannungsfeld ist die erwähnte politische Freiheit der cives zwar positiv, aber sie sei zweifelsohne weniger wichtig als die Verteidigung der sakralen Sphäre gegen Missbräuche, wie Hildebrand in seiner Rede behauptet133. Die Freiheit der Kirche sei der unverzichtbare Wert134: Der Erzähler betont das in seinem polemischen Kommentar über das Verhalten Alexanders II., der den Neffen veranlasste, dem König den Eid zu leisten und die Investitur zu erbitten135. Laut Gregor VII. ist der Eid mit der unteilbaren Freiheit der Kirche inkompatibel: Denique, qui iurat, iam non est liber, et illi/ Debet in obsequium quas dedit ante manus136. Aber aufgrund der literarischen Konstruktion Rangers kann die Figur Heinrichs IV. bedeutenderweise in ihren eigenen – für Ranger selbstverständlich unglaubwürdigen – Worten die Frage nach der Kohärenz der Politik Gregors VII. mit dessen Prinzipien stellen: At libertatem defendit et aecclesiarum/ Rectores tutos et sine labe facit./ Cur ergo iuratur ei? Cur munera captat,/ Quae sicut dicit, non licet accipere?/ Set non esse sibi licitum Petrus ipse probavit,/ Cur ergo proibet, quod tamen ipse facit137? 132 Vgl. im Bezug auf Lucca: VAR 4429–4432, S. 1249. Die Entwicklung dieser Freiheit führt zu einem vielfältigen Leben, in dem nach ‚Distinktion‘ gesucht wird: Ut vero luxus et libertatis amore/ Induxit varios barbara,/ Infra suos mores sequitur discordia vitae,/ Ut vix tot facies Protheus ille ferat/ At primo cultus imitari Francigenarum/ Gloria, et ignotae quae rens vellus ovis/ Tonderi non arte sua, non denique gentis/ Unius aut ritus aut prohibenda sequi (VAR 4537–4544, S. 1252). 133 In der Apostophe an Papst Hadrian I.: Si Longobardorum metuis, ne dissipet Urbem/ Et libertatem civibus eripiat,/ Intolerabilius et multo sevius illut/ Arbitror, ut veniat qui sacra diripiat (VAR 249–252, S. 1162). 134 In Anselms Rede an die Krieger und Anhänger vor der Schlacht von Sorbara: Sic et qui credit Christum, nisi credit et illam/ Quam sibi coniuncxit, fallitur aecclesiam./ Et sicut Deitas non gaudet credulitate,/ Quae Christum solvit, sic quoque Christus eam/ Non amat aut curat, immo fugit atque refutat/ Condempnatque fidem, quae negat aecclesiam./ An vero credunt, qui regi subdere quaerunt/ Et libertatem tollere non metuunt? (VAR 6537–6544, S. 1292). 135 Si vero regi Christy partiris honorem/ Ut res terrenas ille, det iste sacras,/ Dampnantur canones, veterem pervertimus usum/ Et libertatem perdimus ecclesiae/ De vestitura legistis pristina iura:/ Usum si quaeris, haec tua sella docet./ Si sumus ancillae, vendat vel prebeat ille,/ Si libertatis, hactenus esto satis (VAR 611–618, S. 1170). 136 VAR 767–768, S. 1173. Vgl. die Nebeneinanderstellung mit dem Schisma bzw. mit der Häresie in Gregors Rede während der Fastensynode: Sed, si dividitur, Christus quoque non erit unus,/ Et si servierit non bene liber erit (VAR 2767–2768, S. 1215). 137 VAR 2317–2322, S. 1206. Für die Inkohärenz Gregors VII. vgl. auch die Rede der Bischöfe während der Sinode des Jahres 1076: Nordmanni tamen exoptat suffragia regis/ Nec vetat Hispanas tangere sacra manus (VAR 2473–2474, S. 1209).
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Schlussbetrachtungen Unabhängig von der Wahrhaftigkeit der Anklagen des Königs auf dem Konzil von Worms darf die Figur Heinrichs Gregors ‚Politik‘ für die Freiheit der Kirche in Frage stellen, und zwar auf der Basis von dessen Konzeption der libertas selbst. Eben in dieser Inszenierung der Rede Heinrichs beobachtet man die außergewöhnliche literarische Aufnahme des Konflikts zwischen Papst und König in das Gedicht Rangers. Dies gilt auch für die Darstellung anderer Gesichtspunkte, d. h. für die Positionen weiterer Figuren, die durch fiktive Reden ausgedrückt werden. Hier konnte die Vita metrica Anselmi nur selektiv und überblicksartig vorgestellt werden. Dieses Werk bleibt wegen seiner komplizierten Sprache und seines dichten und gelehrten Wissens insgesamt noch in vielerlei Hinsicht unerschlossen138. Rangers De anulo et baculo – auch ein alles andere als einfaches, obwohl deutlich kürzeres Gedicht – wird in der Forschung über den Investiturstreit dagegen öfter erwähnt und untersucht. Dieser Unterschied hängt unter anderem von der traditionellen Gattungszuordnung des metrischen Traktats De anulo et baculo zu den Streitschriften ab. Das metrische Leben Anselms als hagiographischer Text ist dagegen oft am Rand der Forschung über die Textproduktion des Investiturstreits geblieben. Doch gerade die Vita metrica Anselmi ist ein aussagekräftiges Zeugnis dieser Textproduktion und beweist zugleich, dass eine einheitliche Beschreibung der ‚Streitschriften‘ sehr schwierig ist. Natürlich sind verschiedene, sich manchmal überschneidende Gattungsgruppierungen der sogenannten libelli möglich. Allerdings stellt man oft fest, dass diese Texte von einer Mischung heterogener Gattungsmerkmale geprägt sind. Für die Bestimmung der komplexen Identität der Streitschriften sind eher pragmatische bzw. kommunikative sowie thematische Kriterien entscheidend. Es gibt also keine formalen Merkmale, die es erlauben würden, Grenzen zu der übrigen damaligen Produktion von gelehrten bzw. erzählerischen Werken zu ziehen. In diesem Sinne kann man also das längere Gedicht Rangers nicht von dieser Gruppe ausschließen: Seine erzählerische bzw. hagiographische Struktur ist nämlich kein Hindernis für die Zuordnung zu der Textproduktion des Investiturstreits. Im Gegenteil, der komplexe erzählerische Bilderrahmen erlaubt eben eine literarische Aufnahme der ersten Phase des Konflikts zwischen Papst und König. Bei der Über138 Es ist offensichtlich, dass dieses Gedicht noch auf eine Übersetzung in eine moderne Sprache, auf systematische Untersuchungen, die die von Severino und Savigni weiterentwickeln könnten, und auf einen ausführlichen Kommentar wartet, wodurch ein breiterer Zugang zum Text ermöglicht werden könnte.
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arbeitung seines Hypotextes, der anonymen Vita Anselmi, benutzt Ranger das epische und romanartige Potential der hagiographischen Gattung, um die Vielfältigkeit und Komplexität des Kontextes wirksamer darzustellen. Insbesondere konnte Ranger den intensivierten kommunikativen – mündlichen und schriftlichen – Austausch des Investiturstreits dank der Amplifizierung seiner Quelle in fiktive Redestrukturen überführen. Solche Strukturen – darunter auch ein langes Streitgespräch in Lucca und ein bedeutendes Selbstgespräch Alexanders II. – sind manchmal offizielle Mitteilungen für Gesandtschaften, Briefe und sogar libelli. Die Redestrukturen sowie die extradiegetischen Teile, in denen der Erzähler vor allem in Form von Apostrophen und Klagen spricht, dienen dem besseren Verständnis der Handlungen der Hauptfiguren. Einige dieser Erweiterungen des Hypotextes gelten als Untergattungen des Gedichts und, trotz der metrischen Homogenität, als andere Texttypen. Man findet in einem langen extradiegetischen Abschnitt, der von Ranger der Exegese der biblischen Figur der starken Frau gewidmet wird, ein klares Beispiel der sogenannten political allegory, in der Rede von Agnes ein speculum regis, ferner ein geregeltes Streitgespräch. Die Amplifizierung bringt also einen Effekt der Vielfältigkeit mit sich, die jene der Streitschriften reproduziert. Aber diese Vielfalt kann man auch in weiteren Aspekten des Werkes feststellen. Seiner vielschichtigen Gattungsidentität entspricht auch seine komplexe erzählerische Struktur. Hier wurden nur zwei Punkte kurz betrachtet. Erstens hat Ranger durch die réécriture der anonymen Vita Anselmi mehrere Ebenen der Erzählung weiterentwickelt: Rom–Worms, Lucca und der ‚Raum‘ um Mathilde werden zu breiten Szenarien, in denen sich die Geschichte auch ohne die direkte Teilnahme Anselms entfaltet. Teilweise ist das – zweitens – die Folge einer bedeutenden Entscheidung der réécriture Rangers, nämlich Gregor VII. neben Anselm zum Protagonisten zu erheben. Diese Veränderung findet sich schon im Programm des Werkes, d. h. im Prolog, und weist höchstwahrscheinlich absichtlich auch auf den spezifischen Zweig der hagiographischen Tradition der heiligen Paare hin. Zunächst kann man feststellen, dass Ranger durch diese Fokalisierung der Vita metrica Anselmi nicht nur eine Apologie, sondern ein implizites Plädoyer für die Heiligsprechung Gregors VII. verfasst hat. Das war möglicherweise einer der Hauptzwecke seines Werkes, das das heilige Gedächtnis Gregors zu einer Quelle der Legitimation für Urban II. machen sollte139. 139 Man fragt sich oft bei der Lektüre des Gedichts, insbesondere einiger argumentativer Schwerpunkte des dargestellten Konflikts, ob dieses ‚gregorianische‘ Gedächtnis im
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Aus der vorliegenden Perspektive ist es jedoch relevanter, dass die zwei Protagonisten auch die Pole eines Spannungsfeldes sind. Die erzählerische Konstruktion der Flucht Anselms nach Saint-Gilles – eine aus Reden, offiziellen Mitteilungen bzw. Briefen und Klagen bestehende und sich über 400 Verse erstreckende Erweiterung des Hypotextes – ist nicht nur ein vorweggenommenes erzählerisches Argument gegen die Vorwürfe des königlichen Bischofs Petrus und der Gegner Rangers in Lucca. Sie stellt auch eine grundlegende Spannung im Feld der Reformer zwischen zwei unterschiedlichen Einstellungen gegenüber der damaligen politischen und institutionellen Krise dar: eine ‚aktive‘ und ‚kämpferische‘ Haltung und eine ‚kontemplative‘ und ‚vermittlungsbereite‘ Position. Das ist allerdings nur der Kern des Spannungsfelds, das auch viele andere Figuren einschließt. Wichtige Rollen im Feld der Reformer kommen noch Alexander II. und Mathilde von Tuszien zu, die auch als weitere Pole gelten können. Aber es ist vor allem die Anwendung der fiktiven Reden für Stellungnahmen dieser sowie anderer Figuren – zum Beispiel der Kaiserin Agnes –, die einen weiteren Effekt der Vielfältigkeit auslöst, die sich letztendlich als Vielstimmigkeit manifestiert. Die vielen Stimmen entsprechen oft auch verschiedenen Gesichtspunkten, die in der Entwicklung der Geschichte in einem mehr oder weniger direkten Dialog stehen. Mit einer Übersicht der thematischen Entfaltung kann man die unterschiedlichen Stellungnahmen und sogar Konzeptionen ermitteln. Ranger stellt so die Vielfältigkeit der Ideen zu einigen Grundfragen der politischen und institutionellen Krise dar. Hier wurden kurz die Positionen zum Königtum und zur libertas präsentiert. Die verschiedenen Bedeutungsfacetten von ‚Freiheit‘, durch die die Figuren ihre Zuhörerschaft zum Handeln bewegen wollen, sind bemerkenswert. Aber es wäre möglich, auch andere Themen zu untersuchen, wie zum Beispiel Simonie oder militia, Bischofsamt oder res ecclesiae140. Ausgehend von Michail Bachtins Romantheorie kann die Konstruktion Rangers im übertragenen Sinne als polyphonisch definiert werden141. Die beschriebene neuen Kontext des Investiturstreits – d. h. während der Auseinandersetzung zwischen Paschalis II. und Heinrich V. – nicht mehr so wirksam und vermittelbar sein könnte. Die tendenziell kompromisslosen Leitideen der Figuren Gregors VII. und Anselms, sowie diejenigen des Erzählers passten sicherlich nicht besonders gut zu den damaligen Verhandlungen zwischen Papst und König. 140 Vgl. Savigni, Episcopato e società (wie Anm. 9), S. 371: „lungi dal costituire un polo totalmente positivo o negativo, i vari concetti assumono di volta in volta specifiche valenze, in rapporto ai diversi contesti”. 141 Zur Theorie der Polyphonie und der Dialogizität: Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971. Vgl. auch: Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M. 1979.
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Vielstimmigkeit, die natürlich auch die Stimme des Autors als Erzähler und extradiegetischer Kommentator einschließt, ist eine literarische Darstellung der lauten und pulsierenden ‚Öffentlichkeit‘ des Investiturstreits. Aber diese Öffentlichkeit, die überhaupt erst die Folge der hegemonischen Expansion der päpstlichen Teilöffentlichkeit war142, scheint anders als die moderne zu sein, weil sie eine spezifische Normativität hatte143. Rangers Vielstimmigkeit entspricht nicht einer Anerkennung von gerechtfertigten Meinungsverschiedenheiten, d. h. einem Pluralismus, sondern entwickelt sich babylonisch als Effekt der Auseinandersetzung, die nach der hagiographischen Logik den Kampf zwischen Gut und Böse wiederholt. Allerdings war die als Teil der Heilsgeschichte erfasste Auseinandersetzung so kompliziert (res tam nodosas), dass Ranger besondere rhetorische und literarische Ressourcen benötigte. Die sermocinatio oder die Apostrophe konnten der Funktion einer Überzeugungsstrategie dienen144. Die unterschiedlichen Reden in der diege142 Unter den verschiedenen Prozessen, die durch den Forschungsbegriff ‚papstgeschichtlichen Wende‘ bezeichnet werden, sollte man noch stärker die Relevanz der Expansion der päpstlichen Teilöffentlichkeit hervorheben. Zur ‚papstgeschichtlichen Wende‘: Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über di papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 27–41; Johannes Laudage, Die papstgeschichtliche Wende, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen – Strategien – Darstellungsformen, Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen, 38), S. 51–68. 143 Zum aktuellen Begriff der Öffentlichkeit: Kurt Imhof, Die Krise der Öffentlichkeit. Kommunikation und Medien als Faktoren des sozialen Wandels, Frankfurt/M. 2011; Manuel Wendelin, Medialisierung der Öffentlichkeit. Kontinuität und Wandel einer normativen Kategorie der Moderne, Köln 2011; Volker Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. Zum Begriff der Öffentlichkeit im Mittelalter: Patrick Boucheron, Nicolas Offenstadt (Hg.), L’espace public au Moyen Âge, Paris 2011 (insbes. die Beiträge von Patrick Boucheron, Nicolas Offenstadt, Stéphane Haber und Stéphane Van Damme); Martin Kintzinger, Bernd Schneidmüller (Hg.), Politische Öffentlickheit im Spätmittelalter, Ostfildern 2011 (Vorträge und Forschungen, 75). Zum Begriff während des Investiturstreits: Melve, Inventing (wie Anm. 3), S. 6–22. 144 Man kann hier die vielstimmige Konstruktion Rangers und eine Deutungstheorie der Dialogi Gregors des Großen, eines der Vorbilder der Vita metrica Anselmi, nebeneinanderstellen: Gregorius. Salomonis liber, in quo haec scripta sunt, Ecclesiastes appellatus est, Ecclesiastes autem proprie concionator dicitur. In concione vero sententia promitur per quam tumultuosa turbae seditio comprimatur, et cum multi diversa sentiunt, per concionantis rationem ad unam sententiam perducuntur. Hic igitur liber idcirco concionator dicitur, quia Salomon in eo quasi tumultuantis turbae suscepit sensum, ut ea per inquisitionem dicat quae fortasse per temptationem inperita mens sentiat. Nam quot sententias quasi per inquisitio nem movit, quasi tot in se personas diversorum suscepit (Gregorio Magno, Storie di santi e di diavoli (Dialoghi), 2, Milano 2006 (Fondazione Lorenzo Valla – Scrittori greci e latini,
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tischen Entwicklung und die Stellungnahmen des Erzählers in den extradiegetischen Abschnitten sind wie Teile eines Dialogs. Nach der Niederlage Heinrichs IV. Mitte der 1090er Jahre war das Ziel dieser hagiographischen Konstruktion nicht nur die Unterstützung Urbans II. und seiner Anhänger, sondern sie sollte möglicherweise durch die ‚dialogische‘ Durchsetzung der gregorianischen Prinzipien die ‚Grauzone‘ der Oberschichten überzeugen, die sich in Lucca sowie in Rom ‚opportunistisch‘ auf die Seite des Königs gestellt hatten. Auch diese Beschreibungen der Vita metrica Anselmi durch die Begriffe der Polyphonie und der Dialogizität weisen darauf hin, dass das Werk Rangers ein außerordentliches literarisches Relikt des sogenannten Investiturstreits ist. Dank ihrer mehrschichtigen Gattungsidentität, ihrer vielschichtigen Erzählstruktur und ihrer breiten thematischen Entfaltung erlaubt sie besser als andere Streitschriften oder damalige Zeugnisse, den komplexen Kontext dieser Textproduktion zu erfassen und, spezifisch durch seine Inszenierung der unterschiedlichen Stimmen bzw. Positionen, das Phänomen der damals entstandenen public sphere nach der Meistererzählung Capitanis als eine erste europäische „crisi di coscienza“ auf dem Weg zur modernen Öffentlichkeit darzustellen145.
4), S. 180. Es handelt sich um die Gegenüberstellung widersprüchlicher Ideen im biblischen Buch Kohelet, die als Form der inquisitio präsentiert wird. Rangers ‚Polyphonie‘ wäre also nicht hauptsächlich ästhetisch, sondern würde ermöglichen, durch die ‚wahre‘ Auslegung anderer und gegensätzlicher Vorstellungen die kontroversen dogmatischen Fragen zu erklären. 145 „Una crisi di coscienza quale raramente è dato di conoscere nella storia d’Europa. […] quando si vorrà porre mente che tanti problemi, specifici e generali, irrisolti […] – che la società europea si sarebbe portata fino alla guerre di religione – hanno avuto la loro prima manifestazione […] dialettica […] nel sec. XI, si capirà perché l’Europa, quella occidentale almeno, sia arrivata dove è arrivata oggi: quando ancora si agitano problemi di coscienza individuale e collettiva, quando ancora si assiste ad una dialettica tra affermazione dell’istituzione in quanto tale e rivendicazione della libera interpretazione della stessa tradizione cui quell’istituzione vorrebbe richiamarsi. E si va anche al di là del fatidico sec. XVIII“. Ovidio Capitani, Tradizione e interpretazione. Dialettiche ecclesiologiche del sec. XI, Roma 1990, S. 7.
Antagonistische Positionen zur politischen Redekultur im 11. Jahrhundert Benzo von Alba und Rangerius von Lucca Georg Strack Über die politische Redekultur im Zeitalter des Investiturstreits ist in der Forschung vergleichsweise wenig bekannt, was vor allem auf die ungünstige Quellenlage zurückzuführen ist1. Predigtsammlungen sind nur in sehr geringem Umfang erhalten und oratorische Lehrwerke der artes praedicandi und arengandi finden erst im späteren Verlauf des 12. Jahrhunderts weitere Verbreitung2. Allerdings enthalten einige „Streitschriften“ Hinweise darauf, dass rhetorisch gestaltete Oralität in den Debatten über die Stellung von regnum und sacerdotium durchaus eine Rolle spielte3. Diese Quellen erlauben primär Einblicke in das „imaginaire“, also in Idealvorstellungen und Deutungen, politischer Oratorik4. Im Folgenden solle dieses Thema anhand der Texte des Benzo von Alba und des Rangerius von Lucca analysiert 1 Dazu erste Überlegungen bei Georg Strack, Oratorik im Zeitalter der Kirchenreform. Reden und Predigten Papst Gregors VII., in: Georg Strack, Julia Knödler (Hg.), Rhetorik in Mittelalter und Renaissance, München 2011 (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 6), S. 121–144; Georg Strack, The Sermon of Urban II in Clermont and the Tradition of Papal Oratory, in: Medieval Sermon Studies 56 (2012), S. 30–45, die im Folgenden unter Einbeziehung neuen Materials weitergeführt werden. 2 Siehe dazu den Überblick bei Thomas N. Hall, The Early Medieval Sermon, in: Beverly Mayne Kienzle (Hg.), The Sermon, Turnhout 2000 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, 81–83), S. 203–269, hier S. 237–245. Hier nicht aufgeführt ist die wohl größte Sammlung des 11. Jahrhunderts: Petrus Damiani, Sermones, ed. Ioannis Lucchesi, Turnhout 1983 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, 57). Zu den Lehrwerken siehe Phyllis B. Roberts, Ars praedicandi, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), Sp. 1064–1071; Peter Koch, Ars arengandi, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), Sp. 1033–1040. 3 Dazu einige Überlegungen bei Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030 – 1122), Leiden 2007 (Brill’s Studies in Intellectual History, 154), S. 93, 95, 97, 102f. und passim. Zu den Problemen der Studie siehe meine Rezension in: Sehepunkte 9 (2009), Nr. 12, http://www.sehepunkte. de/2009/12/17232.html (zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 4 Zu den Begriffen siehe Frank Rexroth, Wissen, Wahrnehmung, Mentalität. Ältere und jüngere Ansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Ludger Grenzmann (Hg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Teil I,
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werden, die für die Fragestellung besonders aufschlussreich sind, schon weil sie im Konflikt zwischen König und Papst gegensätzliche Standpunkte vertreten. Zudem formulieren sie antagonistische Positionen im Hinblick auf die politische Redekultur ihrer Zeit, die im Sinne der „Oratorikforschung“ analysiert werden können. Das heißt, die fingierten Reden und Predigten bei den genannten Verfassern werden im Spannungsfeld von „symbolischer Repräsentation“, „ritueller Persuasion“ und mehr oder weniger impliziter „Deliberation“ zu verorten sein5. Denn erstens zeigte der ungestörte Vortrag ein grundsätzliches Einvernehmen aller Beteiligten über die zur Debatte stehenden Fragen. Er konnte Akte der Zustimmung evozieren und so zur „symbolischen Repräsentation“ von Konsens beitragen. Da auf politischen Versammlungen des Mittelalters meist dieser allgemeine Konsens betont wurde, ist – zweitens – die persuasive Ausrichtung der Vorträge „rituell“ zu deuten. Die bisweilen sehr anspruchsvolle rhetorische Gestaltung zielte ja nicht primär auf die Überzeugung Andersdenkender in einer offenen Diskussion, sondern auf die Bekräftigung von allgemein akzeptierten Positionen im Rahmen gewisser (Versammlungs-)Rituale6. Drittens war es natürlich möglich, in Ansprachen auch eigenständige oder umstrittene Ansichten zu thematisieren und Ratschläge zu äußßern, also deliberativ oder persuasiv aufzutreten. Nachdem damit die methodischen Prämissen erläutert wurden, sollen nun die relevanten Quellen kurz vorgestellt werden. Der ältere Text stammt von Benzo von Alba und ist unter dem (nachträglichen) Titel „Sieben Bücher an Kaiser Heinrich IV.“ bekannt7. Es handelt sich um das einzige erhaltene Werk dieses Verfassers und Berlin 2009 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, 4), S. 1–22, hier S. 3f. 5 Diese Terminologie nach Jörg Feuchter, Deliberation, rituelle Persuasion und symbolische Repräsentation. Zugänge zur Redekultur auf vormodernen französischen Generalständen, in: Jörg Peltzer u. a. (Hg.), Politische Versammlungen und ihre Rituale. Repräsentationsformen und Entscheidungsprozesse des Reichs und der Kirche im späten Mittelalter, Ostfildern 2009 (Mittelalter-Forschungen, 27), S. 207–217; vgl. Johannes Helmrath, Jörg Feuchter, Einleitung – Vormoderne Parlamentsoratorik, in: Johannes Helmrath, Jörg Feuchter (Hg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Eigene und fremde Welten, Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich, 9), Berlin 2008, S. 9–22. 6 Siehe dazu auch Florian Hartmann, Ars dictaminis. Briefsteller und verbale Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Ostfildern 2013 (Mittelalter-Forschungen, 44), S. 168. 7 Über Werk und Verfasser informiert die Einleitung in der Edition Benzo von Alba, Ad Heinricum IV. imperatorem libri VII. Sieben Bücher an Kaiser Heinrich IV., ed. Hans Seyffert, Hannover 1996 (MGH. SS rer. Germ., 65). Zu neueren Forschungsarbeiten siehe den Artikel Benzo episcopus Albensis, in: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen
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entstand in den Jahren zwischen 1074 und 1085. Benzo gehörte zu den entschiedenen Gegnern der Reformpartei innerhalb des norditalienischen Episkopats und verdankte seinen Aufstieg zum Bischof von Alba der Nähe zum Hof der Salier. Mit dem polemischen Werk wollte er dort noch einmal seine Verdienste in Erinnerung rufen, die seiner Meinung nach nicht angemessen gewürdigt wurden. Vor allem hoffte er wohl auf Unterstützung bei der Wiedererlangung seines Bistums, aus dem er 1076/77 von Anhängern der Pataria vertrieben worden war8. Etwas später, in den Jahren zwischen 1096 und 1099, verfasste Rangerius die Vita metrica Anselmi, die seinem 1081 verstorbenen Vorgänger auf dem Bischofsstuhl von Lucca gewidmet und formal als Heiligenleben angelegt ist9. Zum Vergleich mit der Polemik Benzos bietet sich dieser Text dennoch an, da er passagenweise eher einer Streitschrift als einer typischen Heiligenvita ähnelt10. Beide Verfasser verfügten zudem über eine herausragend hohe Bildung und äußerten sich in grundsätzlicher Weise zu Fragen der politischen Redekultur, worauf zunächst einzugehen ist. Danach sollen Imaginarien politischer Redekultur im Vordergrund stehen, wie sie auf Synoden und städtischen Versammlungen beschrieben werden. Anhand der Schilderung einer Gesandtschaftstrede vor Papst Alexander II. kann abschließend nachgewiesen werden, dass Rangerius sogar auf Benzos „Sieben Bücher“ zurückgriff, was einige Gemeinsamkeiten der Texte in neuem Licht erscheinen lässt. Benzo zielte, wie erwähnt, in seinen „Sieben Büchern“ darauf, am deutschen Königshof seine Verdienste in Erinnerung zu rufen, vor allem bei dem Versuch, in den Jahren 1061–1064 Cadalus, den Bischof von Parma, als Papst Honorius II. zu etablieren. Im zweiten Buch berichtete er auch von seinem Engagement als Redner und reflektierte in diesem Zusammenhang in grundsätzlicher Weise über die FunkMittelalters“, http://www.geschichtsquellen.de/repPers_119433559.html (zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 8 Siehe dazu Olaf Zumhagen, Religiöse Konflikte und kommunale Entwicklung. Mailand, Cremona, Piacenza und Florenz zur Zeit der Pataria, Köln 2002 (Städteforschung, Reihe A, Darstellungen, 58), S. 130–135. 9 Zu Werk und Verfasser siehe die Einführung zur Edition von Rangerius, Vita metrica Anselmi Lucensis episcopi, ed. Ernst Sackur u. a., in: MGH. SS 30/2, ed. Adolf Hofmeister, Leipzig 1934, S. 1152–1307, sowie den Artikel Rangerius episcopus Lucensis, in: Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“, http://www.geschichtsquellen.de/repPers_100959008.html (zuletzt eingesehen am 18.03.2016), und den Beitrag von Eugenio Riversi in diesem Band. 10 Diese Beobachtung bei Gabriella Severino, La ‚Vita metrica‘ di Anselmo da Lucca scritta da Rangerio. Ideologia e genere letterario, in: Cinzio Violante (Hg.), Sant‘Anselmo Vescovo di Lucca 1073–1086. Nel quadro delle trasformazioni sociali e della riforma ecclesiastica, Rom 1992 (Nuovi studi storici, 13), S. 223–271, hier S. 248f.
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tion von „Oratorik“. Seinen Zuhörern soll er damals bald „goldene Berge, bald die honigfließenden Quellen des Paradieses“ versprochen haben, um sie für die Sache der königlichen Partei zu gewinnen11. Er sei gefragt gewesen bei den Beratungen des Senats (consultans de re publica cum maioribus), was als Versiertheit im genus deliberativum, der Beratungsrede, gedeutet werden kann. Zudem verstand er es, das Volk mithilfe rhetorischer Mittel zu bestärken (confortans populum utebatur rethoricis coloribus). Die Wendung verweist wohl auf Praktiken „ritueller Persuasion“, durch die ohnehin akzeptierten Positionen erneut Nachdruck verliehen wurde, etwa durch gezielte Emotionalisierung. Grundsätzlich geht Benzo davon aus, dass der Versammlungsredner (concionator) stets die Worte wählen müsse, die den Wünschen der Zuhörer entsprechen. Nur dann werden sie „gelehrig und hörbegierig“. Seinem Bericht nach war Benzo mit dieser Strategie erfolgreich, wurde häufig als Redner eingeladen, was er immer wahrnahm, „selbst wenn er gerne geruht hätte“. Die Rede vor einer politischen Versammlung diente bei Benzo also der Werbung für die eigenen Ziele, was je nach Publikum (Senat, Volk) mit anderen Redestrategien (Beratungsrede, rituelle Persuasion) und Versprechungen erreicht wurde. Übergeordnete Wahrheiten spielten dabei keine Rolle, also könnte man – etwas anachronistisch – von einem sophistischen Redekonzept sprechen, das in den „Sieben Büchern“ vertreten wird12. Rangerius äußert sich nicht so explizit zu Fragen politischer Redekultur wie Benzo. Allerdings gibt es bei ihm einige Aussagen, die eine grundsätzlich andere Einstellung zu rhetorisch gestalteter Mündlichkeit erkennen lassen. Sie finden sich vor allem in dem Abschnitt der Vita, in dem von dem Wunsch des Heiligen Anselm berichtet wird, sein Bistum zu verlassen und sich ganz der vita contemplativa zu widmen13. Anlass dafür ist ein lapsus linguae (v. 930), womit Versprechungen gemeint sind, die Anselm dem König bei seiner Einsetzung als Bischof von Lucca leistete14. Die Gewissensbisse wegen der Königsinvestitur brachten ihn dazu, sein Amt niederzulegen und sich in ein Reformkloster in Südfrankreich zurückzuziehen. Dort ermahnte ihn der Abt, alles hinter sich zu lassen und sich ganz auf die Gotteser11 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 210–212; siehe dazu auch unten Abschnitt IV. 12 Die Deutung des sophista ist im 11. Jahrhundert umstritten, neben der Gleichsetzung mit dem wahrheitsfernen Wortverdreher findet sich auch die positive Erklärung als homo doc tus. Siehe dazu Hartmann, Ars dictaminis (wie Anm. 6), S. 328f.; in etwas ambivalenter Weise billigt auch Paolo Brezzi, Storia di Roma, Bd. 10: Roma e l’impero medioevale (774–1252), Bologna 1947, S. 242, Benzo „l’abilità sofistica nelle discussioni“ zu. 13 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1176–1187. 14 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1176.
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kenntnis zu konzentrieren15. Auch die oratorische Bildung wird in diesem Zusammenhang kritisiert, heißt es doch, dass Grammatiker, Rhetoren und Dialektiker durch ihre Aufgeblasenheit die kirchlichen Institutionen verderben (Grammaticus, rethor, dialecticus omnia turbant / et loca corrumpunt sacra tumore suo, vv. 1174 f.). Explizit wird erklärt, dass wahre Erkenntnis gerade nicht der sokratischen Eloquenz bedarf ([…] qui se scire laborat / non eget eloquio socratis et studio, vv. 1193 f.). Die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis werde nicht durch den Rhetoriker Cicero vermittelt (Ars est una tamen, qua discitur atque videtur / Sed non hanc docuit Tullius aut didicit, vv. 1201 f.). Sie könne nur dem zuteilwerden, der seine Sinne diszipliniert und die Zunge in Zaum halte, denn alles Gerede störe letztlich die Einfalt des Geistes (vv. 1227–1230). Diesen Mahnungen des französischen Abts stimmte Anselm sofort zu und bekräftigte seinen Entschluss zum Rückzug in das Kloster. Volk und Klerus von Lucca akzeptierten den Weggang ihres Bischofs allerdings nicht und erreichten mit Hilfe Papst Gregors VII. bald dessen Rückkehr16. Danach zeigte sich Anselm wie verwandelt, nicht nur was sein Handeln, sondern auch was seine Rede betraf. Rangerius scheibt, er habe gepredigt wie der Heilige Martin, dem es ebenfalls gelang, gleichzeitig Bischof und Mönch zu sein17: Tum vero tanquam caeli de flumine potus Omnia longe aliter et facit et loquitur Praedicat instanter nec iam velut ipse, sed alter Martinus gemino fungitur officio; Et sic pontificis opus exibet, ut tamen esse Hoc magis incipiat monachus et studeat (vv. 1456–1460). Als erstes Beispiel seiner neu erwachten Beredsamkeit wird gleich darauf eine Ansprache an den Klerus der Diözese Lucca wiedergegeben (vv. 1471–1510)18. Die gegen Rhetorik, Eloquenz und sprachliche Äußerungen aller Art gerichteten Ausführungen des Abts bleiben in der Vita metrica Anselmi also nicht unwidersprochen. In der Figur Anselms wird gezeigt, dass vita activa und vita contemplativa nicht als Gegensatz, sondern als Einheit aufzufassen sind. Reden und Predigten gehören zum aktiven Leben eines Bischofs, doch darf dieses nicht von der Wahrheitssuche des Mönchs in der Kontemplation getrennt werden. 15 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1181–1183. 16 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1183–1187. 17 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1187. 18 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1188.
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Für Benzos Verständnis der gelungenen Rede spielte „Wahrheit“ hingegen keine Rolle und er erwähnt wohl nicht ganz zufällig, wegen der vielen Ansprachen, zu denen er eingeladen wurde, gar nicht mehr zur Ruhe gekommen zu sein. In diesen Punkten unterscheiden sich die beiden Texte ganz wesentlich, was ein Stück weit ihrer jeweiligen Intention und Form geschuldet ist: Die Erzählung von einem Akteur, der sich auch in seiner Rede- und Predigttätigkeit religiösen Wahrheiten verpflichtet fühlt, fügt sich in das hagiographische Konzept einer Heiligenvita. Benzo ergreift nicht ganz einfach Partei für die sophistische Rede und die vita activa, sondern will primär sein besonderes Engagement für den königstreuen Papst betonen, wofür er den Wunsch nach Kontemplation hintanstellte. Doch auch jenseits der gattungsbedingten Vorgaben vertreten Rangerius und Benzo divergierende Auffassungen von politischer Redekultur, wie im Folgenden anhand der Imaginarien kirchlicher und weltlicher Versammlungsoratorik gezeigt werden kann. Die erste Kirchenversammlung, die bei Benzo von Alba ausführlicher beschrieben wird, ist die Synode, die Cadalus-Honorius 1062/63 in Parma abhielt, wohin er sich mit seinen Anhängern zurückgezogen hatte19. Der Synodalbericht gibt nichts von den eigentlichen Verhandlungen wieder, sondern besteht fast nur aus der Eröffnungsrede des Papstes, was allerdings nicht ganz so „ungewöhnlich“ ist, wie der Kommentar der Edition suggeriert20. Synoden waren – idealiter – Versammlungen, auf denen der vom Hl. Geist erwirkte Konsens von Kirchenoberhaupt und Hierarchie repräsentativ dargestellt wurde21. Ansprachen erfüllten dabei eine wichtige Funktion, wie auch aus Benzos Bericht deutlich wird. Er zeigte Cadalus-Honorius als Redner, der im Gestus des demütigen Bittstellers vor die Versammlung trat. Eingangs ersuchte er die Synodalen um Gebetshilfe und erklärte, das Papsttum, ganz im Sinne der kanonischen Vorschriften, nie erstrebt zu haben. Vielmehr habe er sich nach langem Zureden bereit erklärt, die Last zu tragen, die Gott ihm auferlegt habe. Dem wolle er sich nicht entziehen, doch bedürfe er, wie er abschließend nochmals betont, der Unterstützung der Konzilsväter. Sie sollen ihm durch Gebete, Fasten und Nachtwachen beistehen. Der Vortrag ist als rituell-persuasive Rede angelegt, da Cadalus-Honorius zwar seine Position noch einmal argumentativ begründete, aber im rituell festgelegten 19 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 232–234 mit den einschlägigen Literaturhinweisen in Anm. 171. 20 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 234f. Anm. 182. Konzilsberichte des Mittelalters fokussieren häufig (Eröffnungs-)Ansprachen von Päpsten, dazu weitere Beispiele unten und bei Strack, The Sermon (wie Anm. 1). 21 Johannes Laudage, Ritual und Recht auf päpstlichen Reformkonzilien. 1049–1123, in: Annuarium Historiae Conciliorum 29 (1997), S. 287–334, hier S. 314f., 332–334.
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Kontext einer Eröffnungsrede und vor einer Versammlung, die ohnehin seine Position teilte. Seine demütig vorgetragenen Bitten erreichten nach Benzos Bericht tatsächlich eine gewisse Emotionalisierung seiner Anhängerschaft, die bei der anschließenden Litanei viele Tränen vergoss. Tränen waren schon im Verständnis des Kirchenvaters Augustinus ein sicheres Zeichen dafür, dass die Zuhörerschaft bereit war, den Anliegen des Predigers zu folgen22. Benzo zeigte Cadalus-Honorius damit als erfolgreichen, kirchenrechtlich versierten und emotional bewegenden Redner, dessen Eröffnungsvortrag den Konsens von Papst und Konzil für alle sichtund hörbar machte. Im scharfen Kontrast dazu ließ er den Papst der Reformpartei, Alexander II., auf der Synode von Mantua 1064 als Redner in geradezu komischer Weise scheitern. Über diese Kirchenversammlung sind wir, vor allem durch den Bericht der Annales Altahenses maiores, vergleichsweise gut informiert23. Hier sollte das Schisma beigelegt, aber auch über die gegen Alexander II. erhobenen Vorwürfe verhandelt werden. Benzo berichtet davon, dass bereits im Vorfeld Absprachen zwischen den Vertretern der Reformpartei und dem königlichen Gesandten getroffen worden waren. Alexander II. konnte also mit der öffentlichen Anerkennung auf der Synode rechnen24. Die „Sieben Bücher“ sind in diesem Punkt wohl nicht ganz so unglaubwürdig, wie vielfach angenommen25. Auch die Behauptung, der Papst habe die Synode mit einer Mahnrede de servitio Dei eröffnet, erscheint plausibel, immerhin schrieben Konzilsordnungen derartiges vor26. Erst die folgende Charakterisierung Alexanders als Redner ist ganz der polemischen Intention Benzos verpflichtet. Denn obwohl die entscheidenden Fragen bereits im Vorfeld geklärt waren, soll der Papst nicht in der Lage gewesen sein, den Konsens mit der Synode im Wechselspiel von Eröffnungsrede und Gesten der Zustimmung performativ 22 Augustinus, De doctrina christiana libri, Bd. IV., ed. Joseph Martin, in: Aurelii Augustini Opera. Pars IV/1 Turnhout 1962 (Corpus Christianorum, Series Latina, 32), S. 1–167, hier S. 159. 23 Annales Altahenses maiores, ed. Edmund von Oefele, Hannover 1891 (MGH. SS rer. Germ., 4), S. 64f. Zu dieser Synode ausführliche Angaben bei RI III,2,3 n. 335, in: Regesta Imperii Online, http://www.regesta-imperii.de/id/1064–05–31_1_0_3_2_3_335_335 (zuletzt eingesehen am 18.03.2016). 24 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 342. 25 So ganz zu Recht Seyffert in der Einleitung von Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 8.; vgl. dagegen Franz-Josef Schmale, Synoden Papst Alexanders II. (1061– 1073). Anzahl, Termine, Entscheidungen, in: Annuarium Historiae Conciliorum 11 (1979), S. 307–338, hier S. 319–321. 26 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 344; siehe zu den Angaben im Kommentar noch: Die Konzilsordines des Früh- und Hochmittelalters, ed. Herbert Schneider, Hannover 1996 (MGH. LL Ordines de celebrando concilii, 1), S. 251f. Ordo 5, Nr. 8.
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umzusetzen: „Lange und viel mit den Zähnen knirschend und stammelnd“ soll der „Dummkopf Alexander“ nur „Unsinn […] dahergeredet“ haben und keiner habe „sein Gestammel“ verstanden. Das übliche Konsensritual am Beginn der Synode scheiterte, der königliche Gesandte unterbrach den unwürdigen Vortrag und vertagte die Versammlung27. Der sachlichere Konzilsbericht der Annales Altahenses erwähnte keinen solchen Vorfall, von dem Benzo auch nur erzählte, um Alexander II. als negative Figur zu charakterisieren. Er sollte als unfähiger Prediger und damit als denkbar ungeeignet für das Amt des Papstes erscheinen. Rangerius schließt sich der kritischen Sicht auf Alexander II. an, worauf unten noch einzugehen sein wird, lässt aber Gregor VII. auf der Fastensynode des Jahres 1076 als exemplarischen Konzilsprediger auftreten28. Der Vortrag entspricht dabei dem oben skizzierten Oratorikkonzept des Rangerius, ist also sehr viel stärker als bei Benzo auf „Wahrheit“ bezogen. Der Papst erörterte auf der Kirchenversammlung, wie Rangerius schreibt, grundlegende Fragen der Dogmen und Glaubensgeheimnisse (tractabat sacra dogmata misterii, v. 2690) und trat belehrend (docens, v. 2692) auf. Der erste, sehr ausführliche Teil der Rede behandelte das Glaubensbekenntnis. Aus dem Bekenntnis zu den Lehren der Kirche wurde ein Eheverbot für Kleriker deduziert. Von diesem typischen Thema der Reformsynoden leitete der Papst gerade über zu grundlegenden Reflexionen über die libertas ecclesiae, als er von dem Boten König Heinrichs unterbrochen wurde. In einer kurzen Rede forderte dieser den Papst auf, sein Amt niederzulegen, da der König sonst gegen ihn mit Gewalt vorgehen werde29. Daraufhin brach ein Tumult aus, den der Bote, wie Rangerius betont, nur dank des Eingreifens des Papstes überlebte, der ihn vor Übergriffen in Schutz nahm. Kurz ergriff Gregor daraufhin noch einmal das Wort, wandte sich aber nicht etwa an den Boten, sondern an die Synode. Er erinnerte die Versammlung in knappen Worten an seine vorherigen Ausführungen und erklärte, der König habe sich durch diese Forderung selbst diskreditiert. Für alle sei deutlich geworden, dass er die Freiheit der Kirche nicht achte, wofür ihn Gott strafen möge. Die Konzilsväter wandten sich daraufhin an Christus mit
27 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 345. 28 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1214–1216; detaillierte Angaben dazu bei Strack, Oratorik (wie Anm. 1), S. 135f.; zu dem Konzil zuletzt Georg Gresser, Die Synoden und Konzilien der Zeit des Reformpapsttums in Deutschland und Italien von Leo IX. bis Calixt II. 1049–1123, Paderborn u. a. 2006 (Konziliengeschichte, Reihe A), S. 149–156. 29 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1216.
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der Bitte, den König zu verurteilen, der exkommuniziert wurde und seine königliche Würde verlor30. Papst und Konzil handelten also im Bericht des Rangerius von der Fastensynode 1076 im Konsens, nicht anders als es Benzo von der Synode von Parma 1062/63 berichtete. Der Auftritt des königlichen Boten löste einen Tumult aus, doch Gregor VII. kommunizierte niemals direkt mit dessen Verursacher. Die Ansprache des Papstes war stets nur an seine Anhänger gerichtet, die er durch die Erinnerung an seine Eröffnungspredigt zur Verurteilung des Königs bewegte. Die rituelle Zustimmung seiner Anhänger erreicht das Kirchenoberhaupt durch gelehrte Erörterungen über das Credo, den Zölibat und die Freiheit der Kirche, nicht durch eine emotionalisierende, kirchenrechtlich fundierte Ansprache, wie sie Benzo Cadalus-Honorius in den Mund legte. Ein weiteres Forum, auf dem beide Verfasser öffentliche Reden stattfinden lassen, sind römische Stadtversammlungen, über deren tatsächliche Zusammensetzung, Kompetenz und Kommunikationsformen im späteren 11. Jahrhundert kaum etwas bekannt ist31. Benzo rückte wieder seine eigenen Leistungen ins rechte Licht, zeigte sich in diesem Rahmen selbst als großen Redner. Nach der Rückkehr von einer Gesandtschaft an den Königshof in den 1060er Jahren wandte er sich mit einer kunstvollen Ansprache an eine Versammlung in St. Peter.32 Er redete seine Zuhörer zunächst in einer für klassische Reden vor der Volksversammlung typischen Weise als quirites an33. Als er anschließend den Gruß des Königs übermittelte, wechselte er unvermittelt zur Sprache des mittelalterlichen Briefeingangs: Dominus noster rex Heinricus, sanctae Romanę aecclesię protector et amicus, fidelibus suis Roma nis, plenis fidei et veritatis, munus gracie et bonę voluntatis. Damit liefert er einen
30 Hier weicht Rangerius von anderen Quellen ab, die von der Exkommunikation durch ein Gebet des Papstes an den Heiligen Petrus berichten; dazu: Herbert E. J. Cowdrey, Pope Gregory VII 1073 – 1085, Oxford 1998, S. 140f. 31 Benzos Schilderungen werden von Brezzi, Storia (wie Anm. 12), S. 242–245 recht unkritisch nacherzählt; weitere Hinweise bei Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 810 s.v. „senatus“; siehe grundsätzlich zur Bedeutung von Oratorik in (ober-)italienischen Stadtversammlungen Hartmann, Ars dictaminis (wie Anm. 6), S. 163–167, S. 264f. 32 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 330–334 mit ausführlicher Diskussion dieser umstrittenen Gesandtschaft auf S. 306f. Anm. 210; zuletzt dazu noch eine kurze Notiz bei Ian S. Robinson, Henry IV of Germany, 1056–1106, Cambridge 1999, S. 54 Anm. 131. 33 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 330.
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weiteren Beleg für die „Untrennbarkeit von Rede und Brief “ in der mündlichen Kommunikation des Hochmittelalters34. In rhetorisch aufwändiger Form berichtete der Bischof von Alba vom Erfolg seiner Gesandtschaft, die (angeblich) am Königshof die Unterstützung Papst Honorius’ II. und dessen römischer Anhänger erreicht hatte. Sein Anliegen sei hier auf offene Ohren gestoßen. Gleich nach Benzos Vortrag hätten die am Hof versam�melten Fürsten die Treue der Römer gepriesen und die rhetorische Frage gestellt, wie man diesen Bündnispartnern irgendetwas verweigern könne35. Darauf folgte als Steigerung noch der Bericht von den Aussagen des Königs selbst, der das Bibelwort vom guten Baum, der keine schlechten Früchte trägt (Matth. 7,18), anhand zahlreicher Beispiele aus der römischen Geschichte exemplifizierte36. Er habe auf die Taten bedeutender römischer Heerführer und Staatsmänner, darunter auch Cicero, verwiesen. Die Römer habe er als seine besten Kämpfer und Ratgeber bezeichnet und versprochen, sie „zu den ersten über ganz Italien“ zu machen37. Sehr genau entspricht dieser Vortrag Benzos Verständnis einer gelungenen Rede vor einer politischen Versammlung, wie er es eingangs skizzierte. Er lobte nicht nur, wie es auch (spätere) rhetorische Lehrwerke empfahlen38, in einer ausführlichen Captatio benevolentiae die Größe und Bedeutung der Stadt Rom. Vielmehr erzählte er den Zuhörern überhaupt nur das, was sie gerne hören wollten, versprach Förderung und Rangerhöhung durch den König. Es überrascht kaum, dass die Versammlung am Ende des Vortrags in Jubelrufe auf Heinrich IV. ausbrach. Als ähnlich überzeugenden Redner zeigt Benzo Cadalus-Honorius, der sich im Frühjahr/Sommer 1063 von der Engelsburg aus an Adel und Volk von Rom wandte39. Er sprach sie als „geliebteste Brüder“ an und erinnerte zunächst daran, dass keiner um die Dauer seines Lebens wisse. Ohnehin komme es vor allem darauf an, im Leben stets dem Willen Gottes zu folgen, der ihm die Rückkehr nach Rom befohlen habe. Nun gelte es, innerhalb der Stadtmauern gemeinsam gegen die Feinde zu kämpfen, die von den Normannen unterstützt werden. Dabei können er und seine Anhänger auf die Hilfe der Apostel rechnen, die sich, wie andere Exempel zeigen, schon oft „als Fürsten und Helfer der Römer“ erwiesen haben. Wie aus
34 Hartmann, Ars dictaminis (wie Anm. 6), S. 168 das Zitat, auf S. 169–171 und passim zur Thematik. 35 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 330–332. 36 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 332–334. 37 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 335. 38 Vgl. dazu Hartmann, Ars dictaminis (wie Anm. 6), S. 251f. 39 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 246–248.
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einem Mund, so Benzo von Alba, schworen alle, Cadalus-Honorius zu gehorchen und „den Kampf mit […] dem Feinde des Petrus und Paulus“ aufzunehmen40. Bevor die militärischen Auseinandersetzungen ausbrachen, wandte sich auch Hildebrand mit einer Ansprache an seine Anhänger, die Benzo allerdings als Satire auf die Gattung der Feldherrnrede konzipierte41. Der Archidiakon bemüht sich im Exordium der Rede nämlich nicht – wie Benzo in St. Peter – mit einer Captatio benevolentiae um das Wohlwollen der Römer. Vielmehr schmähte er sie als desinteressierte Gesellen, womit die tatsächlichen Verhältnisse bereits satirisch umgedeutet werden42. Er wandte sich stattdessen an die Normannen in seinem Gefolge, die er, wie in derartigen Ansprachen üblich, zunächst an die militärischen Taten der Vorfahren erinnert43. Als Exemplum wählte er Brennus, den Anführer der gallischen Senonen, der die Römer um 390 v. Chr. in der Schlacht an der Allia besiegte, Rom einnahm und plünderte. Hildebrand ging allerdings nicht auf diesen entscheidenden Sieg ein. Stattdessen erklärte er umständlich Brennus’ Leistungen als Stadtgründer von Mailand und Senogallia, was wohl rein etymologisch von der Funktion des Gallus als Anführer der SENOnen aus der GALLIA hergeleitet wurde. Da diese Gründungsmythen ansonsten nirgends belegt sind, dürften sie kaum besonders glaubwürdig gewesen sein. Das Ende der Beispielerzählung verrät deren satirische Anlage, denn Benzo lässt Hildebrand nicht mit dem Sieg, sondern mit der Niederlage des Brennus enden. Die Eroberung des Kapitols sei durch „eine laut schreiende Gans“ verhindert und die Gallier wären „wie ein Blatt im Winde vertrieben“ worden, erklärt er44. Was Brennus nicht vergönnt war, will Hildebrand nun einem aus den Reihen der Normannen gewähren, und zwar die Erlangung der Königswürde mit Zustimmung der Römer. Das verunglückte Exemplum vom (vereitelten) Sieg der Vorfah40 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 249. 41 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 248–252; zur Gattung der literarischen Feldherrnrede zuletzt Julia Knödler, Rhetorik mit Todesfolge. Diversitätskonstruktionen in mittelalterlichen Feldherrnreden am Beispiel der Rede Wilhelms des Eroberers vor der Schlacht bei Hastings, in: Strack, Knödler (Hg.), Rhetorik (wie Anm. 1), S. 167– 190; zu Hildebrands tatsächlicher Bedeutung für die militärischen Operationen zu Beginn der 1060er Jahre Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 132f. 42 Nach Blumenthal, Gregor VII. (wie Anm. 41), S. 5–8 verdankte Hildebrand seinen Aufstieg vor allem dem guten Verhältnis zur römischen Bevölkerung, die hoffte, durch ihn „den Glanz des antiken Rom […] im christlichen Gewand wieder erstehen zu lassen.“ 43 Ein Überblick über die einschlägigen Topoi findet sich bei Knödler, Rhetorik (wie Anm. 41), S. 171–173. 44 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 251.
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ren scheint nun als Ausgangspunkt einer Aemulatio, in der die Gegenwart die Vergangenheit überbieten soll. Allerdings wird auch diese Argumentationsfigur ironisch gebrochen, wenn Hildebrand erklärt, die Römer durch Bestechungszahlungen für diese Rangerhöhungen gewinnen zu wollen, die damit zweifellos an Strahlkraft verliert. Der Archidiakon wird zwar nicht als sprachbehindert dargestellt, wie Papst Alexander II., aber doch als reichlich ungeschickter Kriegsredner: Er beschimpft seine römischen Anhänger, verwendet ein unglaubwürdiges und demotivierendes Exempel und entwertet den Lohn für den Sieg durch den Hinweis auf krumme Geschäfte. In etwas anderem Licht erscheinen erwartungsgemäß die Reden Hildebrands/ Gregors VII. vor einer stadtrömischen Öffentlichkeit in der Vita metrica Anselmi. Erstmals trat der Papst hier vor die Römer, als König Heinrich IV. 1081/82 die Stadt belagerte45. Die Art des Vortrags war eher pastoral gehalten, ähnlich wie die Ansprache des Cadalus-Honorius von der Engelsburg bei Benzo von Alba. Gregor forderte die Bewohner Roms auf, den Tod nicht zu fürchten und alles Vergängliche gering zu schätzen. Er erinnert sie an die frühere Bedeutung der Stadt, die sich in schweren Zeiten zu historischer Größe emporgearbeitet habe, dann aber durch Reichtum und Überfluss zugrunde gegangen sei. Nun seien die einstigen Tugenden und Fähigkeiten vergessen, keiner entsinne sich mehr der früheren Stärke. Der Papst wolle, wie er erklärt, darauf nicht weiter eingehen, sondern erläutert der Versammlung die Kompetenzen von weltlicher und geistlicher Sphäre. Den Apostel Petrus erklärt er zum Rettungsanker in diesen schweren Zeiten und fordert alle zu höchster Wachsamkeit auf. Rangerius stellte Gregor VII. – wie schon auf der Synode 1076 – als gebildeten Redner dar, der auch in bedrängter Lage vor allem auf Belehrungen setzt (Gregorius, Christi servus doctorque fidelis / Non cessat vitae verba docere suos, v. 5783 f.). Wenn der Papst auf die historische Bedeutung Roms eingeht, erin�nert das zunächst an Benzos Vortrag vor der Stadtversammlung in St. Peter. Nun steht allerdings die Kritik am Sittenverfall im Vordergrund, der bald einsetzte und auch die Gegenwart prägte. Diese Redestrategie verfehlte in der Erzählung des Rangerius zunächst nicht ihre Wirkung. Konsul und Stadtversammlung sagten dem Papst ihre Unterstützung zu und kämpften entschlossen gegen die Truppen des deutschen Königs46. Noch einmal wandte sich Gregor VII. zu Beginn des Jahres 1084, als sich die Römer bereits zu großen Teilen Heinrich IV. zugewandt hatten, an eine städtische 45 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1277f.; siehe dazu Strack, Oratorik (wie Anm. 1), S. 136f. und zum historischen Kontext zuletzt Gerd Althoff, Heinrich IV., Darmstadt 22008 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 182–185. 46 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1278–1280.
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Versammlung47. Ein vornehmer Römer namens Maximus hatte Vertreter des Volkes auf dem Kapitol zusammengerufen, wo tatsächlich wohl derartige Zusammenkünfte stattfanden48. Maximus versuchte, den Papst in einer Ansprache von der Notwendigkeit des Einlenkens gegenüber dem König zu überzeugen49. Der zeigte sich aber, trotz der vielen Verluste, unbeugsam. Da sein Vorredner kurz auf die historische Größe Roms eingegangen war, lobte auch Gregor VII. eingangs die Vorväter, die mit Waffengewalt dem ganzen Erdkreis ihr Gesetz aufzwangen und die Heimat durch ihre Tugend schmückten50. Doch sei dieser Ruhm nur irdisch und vergänglich gewesen, wichtiger sei die vita perhennis (v. 6169), die man für das Bekenntnis und den Dienst am Glauben erlange. Die Römer forderte er zum Kampf für Christus auf, welcher der Stadt wieder das diadema (v. 6174), also den früheren Herr�schaftsrang verleihen werde. Ein Friedensschluss mit dem König sei nicht möglich, da er nicht im Sinne Gottes und der Kirche sei. Abschließend betonte der Papst noch seine eigene Bereitschaft zum Martyrium, ehe er sich vor den deutschen Truppen in die Engelsburg zurückzog. Rangerius zeigt hier eine in den Quellen eher selten belegte Kommunikationssituation, in welcher der Redner den offenen Dissens mit seinem Publikum thematisiert und begründet. Dies entspricht allerdings dem spezifischen Oratorikkonzept in der Vita metrica Anselmi, wonach die öffentliche Rede der Verkündung ewiger Wahrheiten dient, unabhängig davon, ob diese auf Zustimmung stoßen oder nicht. Die Charakterisierung Gregors VII. als Redner erinnert in gewisser Weise an die satirische Kriegsrede, die Benzo dem Archidiakon Hildebrand in den Mund legte. Dieser bemühte sich in den „Sieben Büchern“ nämlich ebenfalls nicht um den Konsens mit den Römern, sondern stieß diese mit Beleidigungen vor den Kopf. Damit positionierte sich Rangerius gegen Benzos Verständnis der Versammlungsrede, die dazu dienen soll, möglichst viele Zuhörer für die eigene Sache zu gewinnen. In der Ansprache, die der Bischof von Alba sich selbst in St. Peter in den Mund legte, wurde diese Strategie hingegen ganz konsequent verfolgt. Der gesamte Vortrag war eine auf dem Lob der Größe Roms basierende Captatio benevolentiae.
47 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1283–1285; siehe zum historischen Kontext zuletzt Althoff, Heinrich IV. (wie Anm. 45), S. 187–190. 48 Jürgen Petersohn, Kaisertum und Rom in spätsalischer und staufischer Zeit. Romidee und Rompolitik von Heinrich V. bis Friedrich II., Hannover 2010 (MGH. Schriften, 62), S. 28. 49 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1283. 50 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1284f. Siehe dazu Strack, Oratorik (wie Anm. 1), S. 137.
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Rangerius ließ Papst Gregor VII. in den fingierten Reden vor römischen Stadt�versammlungen ebenfalls auf den Rom-Topos rekurrieren, doch wird er hier zum Ausgangspunkt für Reflexionen über den Verfall alles Irdischen. Die oratorischen Imaginarien der beiden Verfasser weisen bei aller Verschiedenheit der Perspektive dennoch gewisse Übereinstimmungen auf, die großteils damit erklärt werden können, dass sie mit ähnlichen Erzähltechniken und verbreiteten literarischen Motiven arbeiten. An zwei Stellen zeigt sich aber, dass Rangerius die „Sieben Bücher“ oder Teile davon gekannt haben muss, einzelne Szenen aufgriff und umdeutete. Anders als die ältere Forschung annahm, war dies auch keinesfalls ein Ding der Unmöglichkeit, denn es existierte im Hochmittelalter wenigstens eine Abschrift von Benzos Schrift in Norditalien51. Den wichtigsten Beleg dafür, dass Rangerius mit den „Sieben Büchern“ vertraut war, stellt der Bericht vom Empfang Benzos als königlicher Gesandter bei Papst Alexander II. dar. Der Bischof von Alba berichtet davon, wie er sich um die Jahres� wende 1061/62 darum bemühte, Cadalus-Honorius allgemeine Anerkennung in Rom zu verschaffen52. Sehr ehrenvoll sei er damals in der Stadt empfangen worden, Vertreter von Adel und Volk begleiteten ihn zu einer öffentlichen Versammlung, die in einem hypodromium, wohl dem Circus maximus, stattfand53. Dort erschien auch Papst Alexander II., was einen „lauten Tumult“ (perstrepens tumultus) auslöste. Benzo gelang es aber, für Ruhe zu sorgen und den Papst der Reformpartei mit seinem Anliegen zu konfrontieren54. Die Gesandtschaftsrede war weit weniger rhetorisch ausgestaltet als andere fingierte Ansprachen55. In relativ nüchternen Worten wandte sich der Bischof von Alba an Alexander, den er zunächst an die Einsetzung als Bischof durch Heinrich III. erinnerte. Ihm und auch seinem Sohn 51 Siehe dazu Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 56–58. 52 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 190–232; siehe neben den Angaben im Kommentar auch Cowdrey, Pope Gregory VII (wie Anm. 30), S. 50f. 53 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 195 Anm. 24. 54 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 196–201; zuletzt dazu Giancarlo Andenna, Autobiografia e storiografia nelle fonti lombardi tra XI e XIV secolo, in: L’Autobiografia nel Medioevo, hg. v. Centro Italiano di studi sul Basso Medioevo – Accademia Tudertina, Spoleto 1998 (Atti dei Convegni del Centro Italiano di tudi sul Basso Medioevo – Accademia Tudertina e del Centro di studi sulla spiritualità medievale, Nuova serie, 11), S. 237–273, hier S. 245f. 55 Neben den für Benzo typischen Prosareimen und Schmähungen finden sich u. a. eine rhetorische Frage (Cur transgressor factus […]? S. 196 Z. 15–18), eine Exclamatio (O qualis ascensio […], S. 198 Z. 10), Wortspiel ([…] non est ascendere, sed descendere S. 198 Z. 12), Polyptoton und Figura etymologica ([…] ex contradictione iuris iurandi, quod iurasti […] contradico S. 200 Z. 1).
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Heinrich IV. habe er den Treueeid geleistet, den er durch seine Erhebung zum Papst gebrochen habe. Die Wahl sei nicht kanonisch gewesen, denn weder Klerus noch Volk von Rom seien daran beteiligt worden. Zudem haben Geldzahlungen und die Truppen der Normannen den Ausschlag gegeben. Folglich solle Alexander Rom sofort verlassen und innerhalb eines Monats abdanken – als Papst und als Bischof von Lucca, schließlich habe er sein Bistum unerlaubt verlassen. Nach Benzos Vortrag brach erneut „ein allgemeines Geschrei“ aus, Alexander II. wurde von den Teilen der Versammlung, die dem Gegenpapst zuneigten, als Verbrecher beschimpft. Doch anders als auf der Synode von Mantua war der Papst der Reformpartei durchaus in der Lage, sich Gehör zu verschaffen56. Er wandte sich direkt an den königlichen Gesandten und erklärte, über die Forderungen nachdenken zu wollen. Die Treuepflicht gegenüber dem König erkannte er prinzipiell an und wollte sich nach Beratungen mit seinen Anhängern demnächst erklären. Bislang wurde kaum beachtet, dass Rangerius genau dieselbe Versammlung und den Empfang des königlichen Gesandten schildert, wenn auch aus einer anderen Perspektive57. Auch er berichtete davon, wie der König eine bedeutende Persönlichkeit schickte, die in Rom die Ansprüche des Cadalus durchsetzen sollte58. Dabei nannte er Benzo von Alba aber nicht beim Namen und geht auch auf dessen Ansprache höchstens insofern ein, als er Einschüchterungsversuche des Königs erwähnt (Temptat Alexandrum terrificare minis / Emittit procerem de stipatoribus unum / Qui perterret atque fugaret eum, v. 108–110). Rangerius berichtete, wie Benzo in den „Sieben Büchern“, dass es beim Zusammentreffen des Gesandten mit Alexander II. zu einiger Unruhe kam, die sich zunächst legen musste, ehe Reden gehalten wurden (Ac primum populi paccata sedicione / Contra legatum talia verba facit, vv. 137 f.). Doch ergriff nicht der Papst selbst das Wort, um auf die Vorwürfe des Gesandten einzugehen. Rangerius erklärte vielmehr, Alexander II. habe wegen seiner großen Einfalt gut daran getan, einen Sprecher zu wählen59. Zu ungeschickt sei er selbst mit den Worten gewesen und in seiner Rede immer unsicher hin- und hergesprungen. Offensichtlich griff Rangerius hier den Topos von der Redeunfähigkeit Alexanders II. auf, da ihm die entgegenkommenden Worte, mit denen sich der Papst nach Benzos Bericht erklärt haben soll, wenig passend erschienen. 56 Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 200. 57 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1159–1163; nachgewiesen sind die Bezüge zu den „Sieben Büchern“ zwar im Kommentar S. 1159 Anm. 2, nicht aber bei Benzo von Alba, Ad Heinricum (wie Anm. 7), S. 194–200. 58 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1159. 59 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1159f.
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An seiner Stelle antwortete der Archidiakon Hildebrand dem Gesandten60. Wieder begann dessen Rede mit Ausführungen über die Bedeutung Roms in der heidnischen Antike. In einer Praeteritio erklärte er, dass er gar nicht auf die vielen Siege Roms über die Deutschen eingehen wolle. Ohnehin habe die Stadt erst mit der Christianisierung ihre wahre Größe erlangt. Danach begründete Hildebrand die Unterordnung der weltlichen unter die kirchliche Sphäre mit dem Beispiel Kaiser Konstantins und mit dem schuldhaften Ursprung weltlicher Herrschaft. Durch Petrus und seine Nachfolger werde hingegen die göttliche Gnade weitergegeben. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen wandte sich Hildebrand in einer Apostrophe direkt an den deutschen König. Er mahnte ihn, nicht eigenmächtig Bischöfe einzusetzen, sondern lieber seine Pflichten als Herrscher zu erfüllen (Verteidigung der Heimat, Gerichts- und Gesetzgebertätigkeit, Erheben von Abgaben, Münzprägung). Cadalus forderte er zum Verzicht auf. Der König möge von der weiteren Unterstützung absehen und Alexander II. anerkennen. Die gelehrten Aus�führungen des Archidiakons entfalteten eine für die rituelle Situation eines Gesandtenempfangs ganz ungewöhnliche persuasive Wirkung. Rangerius berichtete davon, dass der legatus (v. 267) des Königs, der ja kein anderer als Benzo von Alba gewesen sein kann, ins Zweifeln kam und schließlich auf die Seite der Reformpartei wechselte. Auch wenn in der Vita metrica Anselmi die vorausgehende Rede Benzos nicht wiedergegeben wird: inhaltlich bezieht sich die fingierte Ansprache Hildebrand darauf. In beiden Fällen wird von einem Tumult berichtet, der beim Zusammentreffen des Gesandten mit Alexander II. ausbricht. Benzo erinnert in den „Sieben Büchern“ Papst Alexander II. an die Investitur durch den König – und genau dage�gen wendet sich Hildebrand bei Rangerius mit grundsätzlichen Überlegungen zum Verbot der Königsinvestitur. Am einfachsten ließen sich diese Bezüge damit erklären, dass Rangerius den Bericht Benzos kannte und die Verhandlungen so beschrieb, wie sie idealerweise hätten ablaufen müssen: Nicht Alexander II. machte gewisse Zugeständnisse an die Gegenpartei, sondern Hildebrand widerlegte die (nicht explizit zitierten) Argumente Benzos von Alba und überzeugte ihn, auf die Seite der Reformer zu wechseln. In den Schriften Benzos von Alba und Rangerius’ von Lucca wird der Konflikt zwischen Papst und König auch im Medium der (fingierten) Rede in verschiedenen, mehr oder weniger imaginären Kommunikationssituationen verhandelt. Dabei vertreten diese Verfasser nicht nur antagonistische kirchenpolitische Standpunkte, sondern auch divergierende Auffassungen von politischer Oratorik, schon auf the60 Rangerius, Vita metrica Anselmi (wie Anm. 9), S. 1160–1162; siehe dazu ausführlich Strack, Oratorik (wie Anm. 1), S. 134f.
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oretischer Ebene. Bei Rangerius wird bei den Erörterungen über die Verbindung von vita activa und vita contemplativa deutlich, dass die öffentliche Rede an die Erkenntnis überzeitlicher Wahrheit gebunden ist. Die fingierten Ansprachen in der Erzählung sind dementsprechend vor allem ein Medium der religiösen Belehrung. Immer wieder wird dabei auf die Bedeutung Roms rekurriert, die allerdings erst in der Zeit nach der Christianisierung ihren Gipfelpunkt erreicht haben soll. Häufiger noch wird der Rom-Topos zum Ausgangspunkt für Reflexionen über den Verfall irdischer Macht und Größe. Rangerius berichtet von verschiedenen Effekten derartiger gelehrter Vorträge in politischen Kontexten, die nicht nur der rituellen Persuasion oder Deliberation dienen. Vielmehr hält er echte Überzeugungsarbeit durch Argumente im Idealfall für möglich, wie es der Seitenwechsel des königlichen Boten nach der Ansprache Hildebrands belegt. Papst Gregor VII. zeigt er als Prediger, der den Dissens mit der römischen Versammlung auf dem Kapitol offen thematisiert. Etwas anders sind die inserierten Reden in den „Sieben Büchern“ Benzos von Alba angelegt. Er skizziert eingangs ein Verständnis von Oratorik, das mit der vita activa assoziiert ist. Reden und Predigten sind vor allem Bestandteil ritualisierter Kommunikation auf Versammlungen, deren Teilnehmer ohnehin mehr oder weniger die Position der Reformgegner teilen. Ziel der Ansprachen ist es, Zweifel bei den eigenen Anhängern zu zerstreuen und sie noch einmal emotional auf die gemeinsame Sache einzuschwören. Cadalus-Honorius wird dementsprechend als ein Konzilsprediger gezeigt, der seine Anhänger zu Tränen rührt und auch bei einer städtischen Versammlung nur Zustimmung evoziert. Sich selbst stellt Benzo von Alba als gewinnenden Redner in St. Peter dar, der den Römern durch ausführliche Rekurse auf die historische Größe Roms in der Antike und die Aussicht auf Wiedererlangung ihrer früheren Bedeutung so lange schmeichelt, bis sie in begeisterte Jubelrufe ausbrechen. Die Anhänger der Kirchenreform zeigt der Bischof von Alba als Zerrbilder des geschulten Redners. Hildebrand lässt er als reichlich konfusen Kriegsredner auftreten, der erst Teile seiner Zuhörer beschimpft, dann an eine Niederlage der Vorfahren im Kampf erinnert und schließlich Bestechung über militärische Ehre stellt. Noch übertriebener wird Alexander II. als redebehindert hingestellt – sofern er nicht gerade Zugeständnisse an die Partei Benzos vorträgt. Rangerius von Lucca kannte ziemlich sicher die „Sieben Bücher“ oder Teile davon, griff jedenfalls deren Beschreibung des Gesandtenempfangs vor Alexander II. auf und deutete sie um. Ob er sich auch an anderer Stelle, etwa wenn es um die Bedeutung des antiken Rom oder die Funktionen politischer Rede im Allgemeinen ging, ebenfalls auf dieses Werk bezog und gezielt antagonistische Positionen formulierte, bleibt Spekulation. Mit einiger Wahrscheinlichkeit übernahm Rangerius
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aber die Charakterisierung Alexanders II. als redeunfähig, was nichts mit einer tatsächlichen Sprachbehinderung zu tun haben dürfte61. Vielmehr machten radikale Anhänger wie Gegner der Kirchenreform mit diesem Schmähmotiv ihre Ablehnung des auf Ausgleich bedachten Papstes deutlich.
61 Dahingehend ist auch Strack, Oratorik (wie Anm. 1), S. 134 nach Alfred Overmann, Die ‚Vita Anselmi Lucensis episcopi‘ des Rangerius, in: Neues Archiv 21 (1896), S. 403– 440, hier S. 424 zu korrigieren.
Brieftradition und Argumentationsformen in den Briefen Petrus Damianis1 Nicolangelo D’Acunto Im 11. Jahrhundert sah sich die Geistlichkeit mit verschiedenen Entwicklungen wie der Kirchenreform und zahlreichen theologischen, kanonistischen, juristischen und politischen Auseinandersetzungen konfrontiert. Diese machten es erforderlich, eine Streitmethode zu entwickeln, die nicht nur auf einer spezifischen Rhetorik basierte, sondern auch auf neuartigen Formen der Rationalität. Aus theologischer Perspektive bestand dieser Wandel darin, dass die vormalige Dominanz der aucto ritas durch eine neue Dominanz der ratio abgelöst wurde2. Auch wenn Petrus Damiani und Anselm von Aosta (dessen Monologion 1079 verfasst wurde) diesen Wandel vorangetrieben haben, so wurde er dennoch schon mindestens 30 Jahre zuvor vorbereitet. Dabei nahm die gesamte Christenheit Anteil an öffentlichen und polemischen Auseinandersetzungen unterschiedlichen Niveaus. Zurecht hat Giuseppe Fornasari auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, den Blick nicht auf die Texte Petrus Damianis oder auf andere philosophische Traktate zu beschränken. Vielmehr solle man auch andere Texte wie zum Beispiel päpstliche oder bischöfliche Briefe dieser Zeit in den Fokus nehmen3. So könne man die kollektiven Bedürfnisse besser erfassen, die auf diesem „tournant décisif dans l’histoire de l’étude sacrée“ beruhten4. Diese kollektiven Bedürfnisse verdeutlichten die mentale Unfähigkeit, mit der die Kleriker und Mönche den theoretischen und praktischen Problemen des schriftlich geführten Konflikts im hohen Mittelalter begegnet waren, und forderten nun neue und raffiniertere Techniken der Konfliktlösung. Die überholten Kommuni1 Der auf der Tagung vorgetragene Text wurde für den Druck nicht verändert, jedoch um grundlegende bibliographische Angaben ergänzt. Für die Übersetzung danke ich Florian Hartmann (Bonn). Weiterer Dank geht an Marie Ulrike Schmidt (Leipzig). 2 Vgl. André Cantin, «Ratio» e «auctoritas» de Pierre Damien à Anselme, in: Revue des études augustiniennes 18 (1972), S. 152–179. 3 Giuseppe Fornasari, Medioevo riformato del secolo XI, Napoli 1996 (Nuovo Medioevo, 42), S. 121. 4 André Cantin, Pierre Damien et la culture de son temps, in: Studi Gregoriani 10 (1975), S. 245–285, hier S. 281.
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kationsmittel wie die Predigt, die Epistolographie und sogar die Kanzleischriftlichkeit wurden herausgefordert durch die neuen Bedürfnisse öffentlicher Auseinandersetzungen. Die Schärfe selbiger beschleunigte deren Transformation erheblich, auch auf rein formaler Ebene. Sehr treffend hat Ian Stuart Robinson den Investiturstreit definiert als „war of words“5. In diesem Krieg zeichnen die Libelli de lite imperatorum et pontificum das Bild eines in schriftlicher Kommunikation geführten Krieges, dessen Ziel es war, Ideen bekannt zu machen, die dann in verbalen Konflikten verbreitet werden sollten. Wie erbittert diese Auseinandersetzungen geführt wurden, bezeugt der teilweise scharfe Ton der Briefe6. In manchen Fällen bedienten sich die Autoren der Briefe, um bereits vorhandene Texte in ein anderes Genre zu übertragen. Das verdeutlicht etwa Petrus Damianis Brief Nummer 65, der die Actus Mediolani enthält. Darin findet sich eine Rede, die Damiani im Laufe seiner Mailänder Legation im Jahr 1059 hielt7. Damiani überträgt hier eine mündlich gehaltene Rede in die Schriftlichkeit eines Briefes, womit sie gleichzeitig fixiert wird. Dagegen illustriert die Disceptatio sinodalis, ein fiktiver Dialog, den genau entgegengesetzten Prozess. Hier wird eine schriftliche Form genutzt, um einen eigentlich „mündlichen“ Text entstehen zu lassen8. Zwangsläufig wurde die epistolographische Tradition (derer sich Petrus Damiani bewusst war, wie unter anderem seine Bezugnahme auf die brevitas bezeugt9) fortgerissen von 5 Ian Stuart Robinson, Authority and Resistance in the Investiture Contest: The Polemical Literature of the Late Eleventh Century, Manchester 1978. 6 Vgl. Nicolangelo D’Acunto, Argomenti di natura giuridica e strumenti della comunicazione pubblica durante la lotta per le investiture, in: Verbum et Ius. Preaching and Legal Frameworks. Verbum et Ius. Prédication et encadrements juridiques. Verbum et Ius. Predicazione e sistemi giuridici. Brescia International Medieval Sermon Studies Society XVIII. Symposium. Brescia, 20–24 Iuglio 2012, hg. v. International Medieval Sermon Studies Society, im Druck. 7 Die Briefe des Petrus Damiani, ed. Kurt Reindel, München 1983–1993 (MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit, 4), Nr. 65 S. 228–247. Für die Bibliographie zu Pier Damiani vgl. Ugo Facchini, Pier Damiani, un Padre del secondo millennio. Bibliografia 1007–2007, Roma 2007. Für die folgenden Untersuchungen vgl. Nicolangelo D’Acunto, Prospettive sulla figura e sull’opera di Pier Damiani nelle pubblicazioni per il millenario della sua nascita, in: Rivista di storia della Chiesa in Italia 64 (2010), S. 538–549. 8 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 89, S. 531–572. 9 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 105, S. 167: Ecce, dilectissime pater, amoris tui dulcedine provocatus , dum plura tibi scribere studui , epistolaris modum brevitatis excessi. Sed rogo omni potentem Dominum, ut et haec tibi rustica et imperita verba proficiant; vgl. Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 44, S. 33: Verum nos dum aedificationis fraternae studio ardenter insistimus, modum epistolae supergressi sumus, ideoque etiam titu
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den Bedürfnissen dieses Krieges der Worte. Der Ton, in welchem dieser Krieg geführt wurde, gewann seit dem Cadalo-Schisma an Schärfe10. Doch bereits seit den 1040er-Jahren hatte er die Form einer verdichteten Auseinandersetzung angenommen, ohne damit neue Bezüge zu unterschiedlichen Themen auszuschließen. Der Brief als colloquium absentium war dabei das Mittel, das am einfachsten den Ideen- und Formentransfer von der schriftlichen zur mündlichen Dimension und zurück garantierte11. Besonders diese Hybridität des Briefes bot einem Eremiten wie Petrus Damiani die Möglichkeit, seine vielfältigen Kommunikationsbedürfnisse zu befriedigen. Vor allem Briefe gaben ihm die Möglichkeit, Freundschaften mit den berühmtesten Persönlichkeiten seiner Zeit zu pflegen. Denn mit Hilfe von Briefen konnte er über große Distanzen Diskussionen weiterverfolgen oder vertiefen, die schon begonnen wurden, als der Empfänger noch anwesend gewesen war. Der Brief eröffnete also die Möglichkeit, Ideen zu fixieren und zu verbreiten, die in oraler Kommunikation entstanden und vertreten worden waren. Gleichzeitig verhinderte er durch seine Schriftlichkeit bewusste Verfälschungen ihrer Inhalte und die daraus möglicherweise folgenden Konflikte12. In manchen Fällen wird gegen Ende eines Briefes die Mündlichkeit aufgegriffen: In Brief Nummer 12 erklärt Petrus Damiani beispielsweise, dem Boten eine zusätzliche mündliche Nachricht für den Empfänger anvertraut zu haben13. In diesem Fall diente der Brief nur der Authentifizierung und der Beglaubigung des Boten. Diese war nicht selten wichtiger als die schriftliche und mit einem solchen Vorgehen konnte eine größtmögliche Geheimhaltung gewährleistet werden. Petrus Damianis Briefsammlung zeigt, dass der Brief eine essenzielle Rolle in Aufbau und Erhalt intellektueller Zirkel spielte. So half ihm schon seine Briefproduktion zu Jugendzeiten, sich im Kreis der politischen und kirchlichen Elite zu etablieren. Die rhetorischen Fähigkeiten, die er in seinen Briefen an Päpste oder los contra morem epistolae singulis quibusque periodis congruenter affiximus, ne laciniosi stili satietatem lectoris animo gignere videremur. 10 Vgl. Glauco Maria Cantarella, Pier Damiani e lo scisma di Cadalo, in: Maurizio Tagliaferri (Hg.), Pier Damiani: l’eremita, il teologo, il riformatore (1007–2007). Atti del 29. Convegno del Centro studi e ricerche per l’Antica provincia ecclesiastica ravennate. Faenza-Ravenna, 20–23 settembre 2007, Bologna 2009, S. 233–257. 11 Giles Constable, Letters and letter-collections, Turnhout 1976 (Typologie des sources du Moyen Age Occidental, 17), S. 11; Peter Koch, Wulf Oesterreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld zwischen Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 5–43. 12 Vgl. Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 119, S. 343; Nr. 17, S. 156. 13 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 12, S. 142.
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Markgrafen unter Beweis stellte, wiesen ihn als einen Kommunikationspartner aus, der mit den sprachlichen Konventionen der Elite bestens vertraut war14. Die uns überlieferten Briefe sind nicht selten relativ kurz, aber technisch sehr raffiniert; Bravourstücke, verschickt um die geistlichen und laikalen Empfänger zu beeindrucken. Schließlich wurde auch die Kommunikation dieser Laien von Geistlichen getragen. Damit zeigt Petrus Damiani ostentativ das, was Giovanni Tabacco als „edonismo letterario“ definiert hat, der bestanden habe aus einem „compiacimento di forme elitarie in conflitto con la violenza di certe tensioni spirituali“15. Diese elitären Verhaltensmuster bildeten das gemeinsame Terrain einer tiefgreifenden Übereinstimmung von Absichten und Zielen. In erster Linie wurden diese durch einen gemeinsamen sprachlichen Codex ausgedrückt. Im Verlauf der Zeit diente Petrus Damiani das Kommunikationsmittel des Briefs zur Konsolidierung seines Netzwerkes von Eremiten und Abteien mit ihren vielfältigen Verbindungen zur politischen, kirchlichen und monastischen Sphäre. Sie alle waren in die Reichskirche integriert. Dass die antike und mittelalterliche Epistolographie bekanntlich den engen Rahmen rein privater Kommunikation überschritt, hat Jean Leclercq anschaulich formuliert: „Es gibt keine privaten Schreiben in einer Epoche, in der man den Text einem Schreiber diktiert, in der die Beförderungen allen möglichen Indiskretionen ausgesetzt ist und in der die Briefe bei Zustellung laut und in Anwesenheit von Zeugen verlesen wurden.“16 Dieser semiöffentliche Charakter der Briefe ist auch in den Briefen Petrus Damianis nachweisbar. Dabei können wir die Empfänger unterscheiden zwischen einem „destinatario formale“, dessen Name im Protokoll erwähnt wird, und einem „destinatario materiale“ oder „effettivo“, also all jenen, die den Brief lesen können oder treffender: die ihn sich vorlesen lassen. Letztere Kategorie formiert sich nicht zufällig, sondern wird gewissermaßen vom Autor selbst umschrieben. Denn wenn er den formalen Empfänger nennt, impliziert er automatisch auch dessen Entourage. Darüber hinaus sorgte der Autor dafür, den Text neben dem formalen Empfänger auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. So etwa im Fall von Johannes, dem Bischof von Cesena, der von Petrus Damiani eine Anthologie eini14 Vgl. Nicolangelo D’Acunto, Introduzione. Parte I, in: Pier Damiani, Lettere, vol. I, ed. Guido Innocenzo Gargano, Nicolangelo D’Acunto, Roma 2000, S. 43–171. 15 Giovanni Tabacco, Spiritualità e cultura nel medioevo. Dodici percorsi nei territori del potere e della fede, Napoli 1993 (Nuovo Medioevo, 44), S. 267–285, hier S. 269. 16 Jean Leclercq, San Pier Damiano. Eremita e uomo di Chiesa, Brescia 1972, S. 163: “Non si danno scritti privati in un’epoca in cui si compone dettando a un segretario, in cui l’inoltro della corrispondenza è esposto a tutte le indiscrezioni, in cui la lettura stessa d’una lettera viene fatta ad alta voce per lo più in presenza di testimoni”.
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ger seiner Texte übereignet bekam17. Damit erweiterte er die Kette seiner Textdiffusion um ein weiteres Glied. Der Unterschied zwischen „destinatario formale“ und „destinatario materiale“ der Briefe ist Petrus Damiani selbst durchaus bewusst. Bisweilen rechtfertigt er sich bei seinem Briefpartner für einen Exkurs, der diesen gar nicht betrifft, sondern nur andere potenzielle Leser des Briefes. So inserierte Damiani etwa in einen Brief an Tegrimo III. aus dem Haus der Conti Guidi eine komplexe Abhandlung über die Bedeutung der kanonischen Stunden. Dabei zeigt er sich der Tatsache bewusst, die Geduld des Empfängers zu strapazieren, sodass er mit der legitimen Frage schließt: „Was also will ich mit der Mönchsregel? Was soll ich an ihr lernen, da es ja nichts nützt, sie zu kennen?“18 Offensichtlich gab es also zwei Arten von Empfängern, in diesem wie in allen anderen Briefen. „Wer es unternimmt, ein Thema zu behandeln, der soll nicht nur denjenigen persönlich bedienen, dem er es schickt, sondern das Thema von allen Seiten erklären, damit jeder die Nahrung findet, die er möchte, und nicht frustriert mit leerem Magen davonzieht.“19 Jener Abschnitt des Briefes Nummer 17, in dem der Autor die Aufteilung des liturgischen Gebets über den Tag und seine Bedeutung beschreibt, richtet sich also direkt an Tegrimo. Aber das Thema wird so umfassend behandelt, dass auch ein weiter gefasstes Publikum alle grundlegenden Inhalte vermittelt bekam. Dies zeigt, dass auch ein eigentlich privater Brief einen öffentlichen Charakter entwickeln konnte. In Brief Nummer 104 beispielsweise weist Petrus Damiani die Empfänge�rin, Kaiserin Agnes, darauf hin, dass es sich um einen offenen Brief handelt: „Ehrwürdige Kaiserin, das erkläre ich nicht für Dich, die ich nach meiner Befürchtung mit solchen Worten wohl beleidige, sondern eher, um den Lesern eine nicht geringe Erbauung zu bieten, wenn irgendwie ein Beispiel deiner Tugend offenbart wird.“20 Ähnliches wiederholt sich in Brief Nummer 74 an einen nicht benannten Bischof V., in dem Petrus Damiani erklärt, sich nicht länger über ein bestimmtes Thema auslassen zu wollen, ne fastidium legentibus ingeramus. Dabei bezieht er sich mit dem 17 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 12, S. 140–142. 18 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 17, S. 164: Quid mihi quaeso cum regula monachorum? Quid ad me et illa condiscere, quae non expedit nosse? 19 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 17, S. 164: qui quamlibet suscipit tractare materiam, non illi dumtaxat, cui mittit, debet personaliter satisfacere, sed rem ipsam ventilatis undique partibus explicare, ut sic unus edulium, quod concupiscit inveniat, ne frustratus alter stomacho vacante discedat. 20 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7) Nr. 104, S. 149: Haec autem non propter te, venerabilis imperatrix, edissero, quam et his verbis pocius offendere pertimesco, sed ob id pocius, ut dum tuae virtutis insigne utcunque depromitur, non parva legentibus aedificacio procuretur.
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Plural offensichtlich auf ein breiteres Publikum als nur auf den in der Inscriptio genannten Bischof21. Die Entscheidung, die Briefgattung zu bevorzugen, war nicht nur ihrer Fähigkeit geschuldet, Zirkel von Gelehrten zu gewinnen und die Verbreitung von Ideen zu stimulieren, sondern auch der Wandlungsfähigkeit ihrer Form. Petrus Damiani wählte den Brief, um Themen zu behandeln, die zuvor nur in diversen literarischen Gattungen vorlagen. So erwähnt er etwa die Viten der Heiligen Rodolfe di Gubbio und Domenico Loricato in Brief 109 an Papst Alexander II. mit der erkennbaren Absicht, die Heiligkeit dieser beiden Eremiten vom apostolischen Stuhl anerkennen zu lassen22. Die Consuetudines, die das Leben der monastischen Gemeinschaft von Fonte Avellana beschreiben und regulieren, wurden ebenfalls in Form eines Briefes beschrieben23. Ebenso wie die schon genannte Disceptatio sinodalis und schließlich zahlreiche Traktate zu Themen unterschiedlicher Art, die auch in anderer Form hätten publik gemacht werden können. Die formale Struktur der Briefe von Petrus Damiani orientiert sich am Aufbau dokumentarischer Texte. Diese sehen eine kanonisierte Form der Salutatio vor, gefolgt vom Exordium, von der Narratio und der Petitio, die der Dispositio in Urkunden entspricht. Diese ergibt sich argumentativ aus den beiden vorangehenden Abschnitten. Am Ende steht die Schlussformel24. Die Briefe Petrus Damianis entsprechen dieser Einteilung. Das Protokoll besteht aus drei Teilen: Inscriptio, Inti tulatio und Salutatio (= Empfänger, Absender und Grußformel). Eigentlich galt die Regel, dass sich die Reihenfolge von Absender und Empfänger in der Salutatio nach der hierarchischen Beziehung beider richtet25. Nicht so bei Petrus Damiani. Denn er stellt als Zeichen der Demut immer die Intitulatio, also seinen eigenen Namen, hinter die Inscriptio, also den Namen des Empfängers samt seinen Attributen. So praktizierten es dann im 13. Jahrhundert aus gleichem Grund auch die Mitglieder der Bettelorden26. Die einzige Ausnahme bei dieser 21 22 23 24
Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 74, S. 372. Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 109, S. 200–223. Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 18, S. 168–179; Nr. 50, S. 77–131. Vgl. Charles Homer Haskins, Studies in Mediaeval Culture, Oxford 1929, S. 2–3. Sehr nützlich sind die Ausführungen von Peter Koch, Urkunde, Brief und öffentliche Rede. Eine diskurstraditionelle Filiation im ,Medienwechsel’, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 3 (1998), S. 13–44. 25 Cesare Paoli, Diplomatica, Firenze 1942, S. 134. 26 Attilio Bartoli Langeli, Nicolangelo D’Acunto, I documenti degli ordini Mendicanti, in: Giuseppe Avarucci u. a. (Hg.), Libro, scrittura, documento della civiltà monas tica e conventuale nel basso medioevo (secoli XIII–XV). Atti del Convegno di studio. Fermo,
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Vorgehensweise bildet ein Brief an den Gegenpapst Cadalo, den Gegner Damianis und der gesamten Gruppe der römischen Reformer: Petrus peccator monachus, Kadalo pseudoepiscopo quod meretur27. Hier zeigt sich der bewusste Gebrauch dieser typischen Form, absichtlich angepasst an die propagandistische Zielsetzung der Anhänger Alexanders II. Damiani drückt so seine Ansicht aus, dass Cadalo als falscher und exkommunizierter Bischof jedes Recht und jede Würde innerhalb der Kirche verloren hatte. Deswegen war es selbstverständlich, ihm mit einem entsprechenden Mangel an Respekt zu begegnen. Ich habe bereits an anderer Stelle die Titel der laikalen Empfänger mit besonderem Augenmerk auf den Gebrauch der Amtsbezeichnungen (comes, marchio, dux) in ihren unterschiedlichen Bedeutungen und in der Unterscheidung zwischen einem dynastischen und einem funktionalen Gebrauch analysiert28. Für die Salutatio habe ich 55 unterschiedliche Formeln zu insgesamt nur wenigen Themen gezählt: Gehorsam, Demut, Anbetung, Gebet, Liebe und Knechtschaft. Wenige Elemente werden mit großer Kunst immer wieder neu arrangiert, sodass 35 Grußformeln jeweils nur ein einziges Mal vorkommen, zehn erscheinen zwei, höchstens drei Mal. Die häufigsten Grußformeln sind salutem (20-mal), salutem in Domino (21–mal) und servitutem (31–mal). Ab den 60er-Jahren benutzt Petrus Damiani dann in etwa 50 von 100 Briefen nur noch drei verschiedene Grußformeln. Er reduziert also die frühere stilistische Varianz auf merklich einfachere Formeln als in den ersten 40 Jahren seiner Produktion29. Der Übergang vom Protokoll zum eigentlichen Text ist oft markiert durch den Vokativ dilectissime oder frater karissime (für einen Mönch) oder venerande pater (für einen Abt). Die Variationen hängen dabei auch von der Würde des Empfängers ab, von dem Amt, das er bekleidet, und von der Intensität des Verhältnisses, das die Briefpartner verbindet. Während Petrus Damiani in seinen kurzen Briefen die Brieftradition mit Exordium, Narratio und Petitio beachtet, weicht er in den besonders langen Briefen (die bei Migne als Opuscoli bezeichnet werden30) von dieser Gliederung ab, ohne sie ganz außer Acht zu lassen. Er konstruiert dort komplexe textuelle Architekturen, indem er einfache Strukturen aufgreift und neu arrangiert. 17–19 settembre 1997, Spoleto 1999 (Studi e Ricerche. Collana dell’Associazione Italiana dei Paleografi e Diplomatisti, 1), S. 390–415, hier S. 410. 27 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 89, S. 532. 28 Nicolangelo D’Acunto, L’età dell’obbedienza. Papato, Impero e poteri locali nel secolo XI, Napoli 2007 (Nuovo Medioevo, 75), S. 413–421. 29 Nicolangelo D’Acunto, Introduzione. Parte I (wie Anm. 14), S. 43–171. 30 Vgl. Migne PL, 145, Sp. 19–858.
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Diese Vorgehensweise zeigt sich beispielsweise darin, dass er am Anfang des Briefes Exordium, Narratio und Petitio abhandelt. Daran schließt sich das Hauptthema mit Beweisen oder Belegen an. Diese werden unterbrochen von mehr oder weniger häufigen Einwürfen in Form von Ermahnungen an den Empfänger, sodass der Text sich letztlich als eine Art überlange Petitio darstellt. Brief 11031 zum Beispiel, ein Text mittlerer Länge, folgt diesem Schema (nach der Paginierung Reindels): Exordium – von Qui sub estivo meridiatur umbraculo (Seite 224) bis participatione tenemus (Seite 225). Narratio – von Quam itaque virtutem (Seite 225) bis dabit pro anima sua (Seite 226). Petitio – von Tu quoque temetipsum (Seite 226) bis delictis tuis (Seite 226). Von Qui ergo divites (Seite 227) bis zum Ende des Textes (Seite 246) erstreckt sich die Reihe der Argumente, die bisweilen das Schema Exordium – Narratio – Petitio aufgreifen. Dabei benennt das Exordium eine Maxime, die Narratio enthält Bibelzitate und entsprechende Kommentare, die die im Exordium genannte Maxime untermauern. Und die Petitio ermahnt den Empfänger, sich der Maxime entsprechend zu verhalten. Greifen wir ein Segment heraus, um das Schema nachzuvollziehen: Exordium – Porro autem dum indigentibus in necessitate succurrimus, veritatem simul et misericordiam adimplemus (Seite 228): Man soll die Bedürftigen und die Armen unterstützen. Narratio – von Hinc est quod in Proverbiorum (Seite 228) bis copiis videatur affluere (Seite 229): Bibelzitate, die diese Maxime belegen. Petitio – Tu autem, dilectissime, noli fratrem tuum in praesenti necessitate despicere (Seite 229): Ermahnung.
Kurz: Petrus Damiani passt den Briefstil an das konkrete Anliegen an. Er bringt die traditionellen Regeln der Epistolographie in eine Form, die er für angebracht hält, um die persuasive Effizienz des Briefgenres auszunutzen. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass die Rhetorik vor allem praktische Ziele verfolgt. Wenn sie nicht die Eleganz der Sprache um ihrer selbst willen anstrebt, geht es ihr darum, die Fähigkeit zu vermitteln, den Gesprächspartner, ob real oder imaginär, zu überzeugen. Das erwies sich besonders im Investiturstreit als nützlich und veränderte die Formen der Epistolographie. Die komplexen Gefüge, die aus dem neuen Arrangement einfacherer Strukturen entstanden, prägten auch die Argumentationsform Petrus Damianis. Er entfaltete seine Gedanken nicht linear, sondern kam immer 31 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 110, S. 223–246.
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wieder auf dasselbe Argument zurück, wiederholte das Hauptthema in immer neuen Varianten. Keiner seiner Briefe ist im Original erhalten, einige brechen vor dem Schluss ab32. Beim Übergang vom einen zum anderen Medium, das heißt vom einzelnen Schreiben zur Handschrift, zum Codex, wurden die Datierungen systematisch getilgt, die am Ende des Textes gestanden haben müssen. Sehr oft hat man den Eindruck, dass die Briefe am Ende gekürzt wurden. Tatsächlich bewahren nur wenige von ihnen den Schlussgruß, wenn überhaupt meist die kürzeren Briefe, vielleicht weil man bei ihnen die Physiognomie des Briefes klar erhalten wollte. Diese Schlussgrüße unterscheiden sich voneinander, auch wenn man sie alle auf die genannte Typologie zurückführen kann. Dies ist ein weiterer Beleg für die große Varianz der Formulare und für seine besondere stilistische Kunstfertigkeit, welche die Briefsammlung Petrus Damianis charakterisiert. Es ist nicht auszuschließen, dass Petrus Damiani, der seine Briefe diktierte und nicht mit eigener Hand schrieb, im Eschatokoll mit eigener Unterschrift rekognoszierte. Seine Unterschriften zeigen in einigen Dokumenten eine recht einfache, aber elegante und lesbare Schrift33. Er war sicher in der Lage, komplexe Texte zu schreiben, wie es seine Ausbildung als Rhetor und Jurist erforderte. Die Siegelpraxis wird uns, auch wenn es aus Mangel an Originalen nicht verifizierbar ist, von Petrus Damiani selbst angedeutet: „Da ich mein Siegel momentan nicht zur Hand habe, befehle ich Damiano, meinem Neffen, dass der Brief mit der Beglaubigung eines Siegels versehen werde.“34 Bedenkt man die „paradokumentarische“ Form von Brief 122 (es handelt sich um eine Reihe von Bitten an Papst Alexander II.), gehe ich davon aus, dass angesichts dieser Quellenlage nicht alle Briefe besiegelt wurden. Mit Sicherheit besiegelt waren die Briefe, die in dringenden offiziellen Angelegenheiten verfasst wurden und in besonderer Weise der dokumentarischen Epistolographie im engeren Sinn glichen35. 32 Vgl. Kurt Reindel, Einleitung, in: Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 6), S. 13–32. 33 Die Unterfertigungen sind abgedruckt bei Giovanni Lucchesi, Per una vita di San Pier Damiani. Componenti cronologiche e topografiche, in: S. Pier Damiano. Nel IX centenario della morte (1072–1972), vol. 2, Faenza 1972, S. 13–160, hier S. 64–65 und 81–82. 34 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 122, S. 399: Quia sigillum nostrum ad presens non habeo, nepoti meo Damiano ut sigilli certitudine potiatur, iniungo. Vgl. Kurt Reindel, Studien zur Überlieferung der Werke des Petrus Damiani, in: DA 15 (1959), S. 23–103, hier S. 59. 35 Zur Beglaubigung der Briefe vgl. Giles Constable, Letters and letter-collections (wie Anm. 11), S. 46–48.
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In Brief 109 wendet sich Petrus Damiani an Papst Alexander II. und erklärt, einen Text verfassen zu wollen, der nicht nur erbaulich sein solle, sondern es auch verdiene, „unter den authentischen Texten verwahrt zu werden“ (et inter scripturas mereretur autenticas reservari)36. Diese Parallele zwischen Briefen und „authentischen Texten“, das heißt Dokumenten juristischer Form und juristischen Inhalts, zeigt, dass er sich der potenziellen Austauschbarkeit von bestimmten Briefen und Urkunden bewusst war. Er war sich im Klaren, dass Briefe das entstehen lassen können, was Pierre Bourdieu definierte als „une parole créatrice, […] qui fait surgir à l’existence ce qu’elle énonce.“37 In den Briefen wurden Worte zu Dingen.
36 Die Briefe des Petrus Damiani (wie Anm. 7), Nr. 109, S. 201. 37 Pierre Bourdieu, Langage et pouvoir symbolique, Paris 2001, S. 66.
Gregor VII. und Heinrich IV. vor dem Streit Missglückte Kommunikation oder Provokation? Matthias Becher Am 24. Januar des Jahres 1076 versammelte König Heinrich IV. in Worms seine Bischöfe um sich. Nachdem sein Streit mit Papst Gregor VII. in den letzten Monaten eskaliert war, suchte er nun die Entscheidung. Provozierend schrieb er an den Papst: „H., König von Gottes Gnaden, an Hildebrand (…). Aufgrund des Patriziats über die Stadt, der mir durch Gottes Hilfe und die beschworene Zustimmung der Römer rechtlich zusteht, gebiete ich Dir, von ihrem Thron herabzusteigen.“1 Der Papst reagierte auf dieses Schreiben im Februar 1076 äußerst effektvoll. Er belegte Heinrich mit dem Kirchenbann; außerdem untersagte er ihm die Ausübung des Königsamtes und löste alle Untertanen von ihrem Treueid. Er kleidete diese Sentenz in ein öffentlichkeitswirksam vorgetragenes Gebet an den Hl. Petrus2. Damit hatte der Streit zwischen regnum und sacerdotium begonnen. Der sogenannte Investiturstreit zieht seit jeher die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich. Zuletzt wurde sie vom 900. Todesjahr Heinrichs IV. 2006 beflügelt, das den Anlass für eine vielschichtige Beschäftigung mit diesem Thema bot. Zu nennen sind die Paderborner Canossa-Ausstellung, eine Reihe von Sammelbänden3, 1 Heinrici IV. Constitutiones, in: MGH Const., 1, ed. Ludwig Weiland, Hannover 1893, Nr. 60, S. 109: Heinricus Dei gratia rex Hildebrando. […] a sede Urbis, cuius michi patriciatus Deo tribuente et iurato Romanorum assensu debetur, ut descendas edico. 2 Das Register Gregors VII., ed. Erich Caspar, Berlin 1920, 1923 (MGH Epp. sel., 2, 1–2), III, 10a, S. 270: Hac itaque fiducia fretus pro ecclesię tuę honore et defensione ex parte omni potentis Dei Patris et Filii et Spiritus sancti per tuam potestatem et auctoritatem Heinrico regi, filio Heinrici imperatoris, qui contra tuam ecclesiam inaudita superbia insurrexit, totius regni Teutonicorum et Italię gubernacula contradico et omnes christianos a vinculo iuramenti, quod sibi fecerunt vel facient, absolvo et, ut nullus ei sicut regi serviat, interdico. 3 Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hg.), Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Katalog der Ausstellung Paderborn 2006, 2 Bde., München 2006; Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Hg.), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung, München 2006 (Mittelalter-Studien, 13); Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007; Tilman Struve (Hg.), Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Wien 2008; Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (VuF, 69);
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wichtige Einzelforschungen und souveräne Überblickswerke, vor allem aus der Feder von Rudolf Schieffer und Stefan Weinfurter4. Daneben wurde das Jubiläum aber auch für pointierte Thesenbildungen genutzt. Gerd Althoff vertritt in seiner Biographie Heinrichs IV. die Position, der Salier habe mit seiner unklugen Politik und seinem herausfordernden Auftreten nicht nur den Aufstand der Sachsen provoziert, sondern auch die Gegnerschaft Gregors VII. heraufbeschworen5. Johannes Fried erblickte dagegen in Heinrich keineswegs einen konfrontationsbereiten Hasardeur, sondern einen Herrscher, der mit dem Papst in Canossa einen regelrechten Friedensvertrag geschlossen habe – einen Frieden, der am Widerstand der Fürsten gescheitert sei6. Diese zugespitzte Thesenbildung hat den eigentlichen Gegenstand des Investiturstreits etwas aus dem Blickfeld geraten lassen. Die Fokussierung auf den angeblich schlechten Charakter Heinrichs IV. und auf den postulierten Friedenspakt von Canossa verdeckt die möglicherweise wichtigere Frage, warum Papst und König im Verlauf des Jahres 1075 sich überhaupt derart entzweit hatten, dass Heinrich Wolfgang Hasberg, Hermann-Josef Scheidgen (Hg.), Canossa: Aspekte einer Wende, Regensburg 2012; gegen eine zu einseitige Bewertung des Geschehens als „Wende“ Hartmut Hoffmann, Canossa – eine Wende?, in: DA 66 (2010), S. 535–568. 4 Stefan Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006; Rudolf Schieffer, Papst Gregor VII. Kirchenreform und Investiturstreit, München 2010 (Beck’sche Reihe, 2492). 5 Gerd Althoff, Heinrich IV., Darmstadt 2006 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 126–132; allerdings konstatiert Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Stuttgart 2013, S. 39–53, dass auch Gregor VII., der sich im Besitz der „Wahrheit“ glaubte, ausgesprochen offensiv vorgegangen sei; vgl. auch Gerd Althoff, Das Amtsverständnis Gregors VII. und die neue These vom Friedenspakt in Canossa, in: FmSt 48 (2014), S. 261–276. 6 Johannes Fried, Der Pakt von Canossa. Schritte zur Wirklichkeit durch Erinnerungsanalyse, in: Wilfried Hartmann, Klaus Herbers (Hg.), Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter, Köln, Weimar u. a. 2008, S. 133–197; Johannes Fried, Canossa – Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin 2012; kritisch dazu etwa Steffen Patzold, Gregors Hirn. Zu neueren Perspektiven der Forschung zur Salierzeit, in: Geschichte für heute 4 (2011), S. 5–19; Steffen Patzold, Frieds Canossa. Anmerkungen zu einem Experiment, in: Geschichte für heute 6 (2013), S. 5–39; Stefan Weinfurter, Canossa als Chiffre. Von den Möglichkeiten historischen Deutens, in: Hasberg, Scheidgen (Hg.), Canossa (wie Anm. 3), S. 124–140; Althoff, Amtsverständnis (wie Anm. 5), passim; sowie die Mehrfachbesprechung von Claudia Zey, Matthias Becher, Jürgen Dendorfer, Hans-Werner Goetz, Ludger Körntgen, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [22.10.2015], http://www.sehepunkte.de/2013/01/forum/ canossa-keine-wende-brmehrfachbesprechung-von-johannes-fried-canossa-entlarvung-einer-legende-eine-streitschrift-berlin-2012–163/ (zuletzt eingesehen am 18.03.2016).
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schließlich Gregor den Gehorsam aufkündigte, ja sogar die Anerkennung verweigerte, und dieser daraufhin Heinrich auf der Fastensynode des Jahres 1076 mit dem Kirchenbann belegte und ihm darüber hinaus die Ausübung des Herrscheramtes zumindest auf Zeit untersagte7. Als die Forschung noch davon ausging, dass Gregor VII. auf der Fastensynode des Jahres 1075 Heinrich IV. das Investiturrecht entzogen habe, lag hier die Antwort. Seit aber Schieffer mit gewichtigen Argumenten ein solches Investiturverbot in Abrede gestellt hat8, kann man von einer allmählichen Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Papst und König ausgehen. Daher verspricht eine genauere Betrachtung der Kommunikation zwischen Papst und König weitere Einblicke in ihre damaligen Beziehungen. Diese Kommunikation vollzog sich zum einen hauptsächlich in Form von Briefen9, von denen die meisten im Briefregister Gregors VII. enthalten sind10. Freilich haben sich auch etliche Schreiben der Gegenseite erhalten11. Dennoch wird die Quellenlage von vornherein recht einseitig durch die päpstliche Seite geprägt. Zum anderen fand die Kommunikation auch in demonstrativen Handlungen ihren Niederschlag, insbesondere
7 Vgl. Tilman Struve, Gregor VII. und Heinrich IV. Stationen einer Auseinandersetzung, in: Studi Greg. 14,2 (1991), S. 29–60; vgl. auch Heinz Thomas, Gregors VII. imperiale Politik und der Ausbruch seines Streites mit Heinrich IV., in: Karl Rudolf Schnith, Roland Pauler (Hg.), Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, Kallmünz 1993 (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte, 5), S. 251–265. 8 Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König, Stuttgart 1981 (MGH Schriften, 28); anders: Johannes Laudage, Wann erging das erste päpstliche Investiturverbot? Studien zur Fastensynode von 1075, in: AHC 38 (2006), S. 73–94; Johannes Laudage, Nochmals: Wie kam es zum Investiturstreit?, in: Jarnut, Wemhoff (Hg.), Umbruch (wie Anm. 1), S. 133–150; an ein vorübergehendes Investiturverbot denkt Uta-Renate Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 177f.; vgl. auch Herbert Edward John Cowdrey, Pope Gregory VII, 1073–1085, Oxford 1998, S. 107f. 9 Grundlegend dazu Carl Erdmann, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elften Jahrhundert, Leipzig 1936 (MGH Schriften, 1). 10 Vgl. etwa Rudolf Schieffer, Die päpstlichen Register vor 1198, in: Klaus Herbers, Jochen Johrendt (Hg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia, Berlin, New York 2009 (Abh. Göttingen, NF, 5), S. 261–273. 11 Vgl. Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: HZ 154 (1936), S. 491–512.; Carl Erdmann, Untersuchungen zu den Briefen Heinrichs IV., in: AUF 16 (1939), S. 184–253; Franz-Josef Schmale, Fiktionen im Codex Udalrici, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 20 (1957), S. 437–474; Peter Classen, Heinrichs IV. Briefe im Codex Udalrici, in: DA 20 (1964), S. 115–129.
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in Bischofsinvestituren12, mit deren Hilfe zumindest Heinrich IV. seinen Standpunkt zu verdeutlichen suchte. Im Folgenden geht es zunächst um die erste Konfrontation nach Gregors Amtsantritt im April 1073, die vor allem von einer mittelbaren Kommunikation geprägt war. Seit August 1073 verkehrten Gregor und Heinrich dann brieflich miteinander, wobei der Papst gegenüber dem König mal fordernd, mal lobend auftrat und damit den Ton ihrer Kommunikation bestimmte, soweit wir diese nachvollziehen können. Die dritte Phase beginnt mit der Fastensynode des Jahres 1075; sie ist gekennzeichnet von einer scheinbaren Verbesserung der Beziehungen, führte dann aber recht schnell zu dem eingangs geschilderten Konflikt, dessen inhaltliche und kommunikative Gründe im letzten Abschnitt zur Sprache kommen sollen.
Die mittelbare Kommunikation während der ersten Konfrontation Bereits mit Papst Alexander II. war Heinrich IV. in einen tiefgreifenden Gegensatz geraten, insbesondere wegen der Besetzung des Erzbistums Mailand13. Dort standen sich ein königlicher und ein päpstlicher Bischofskandidat gegenüber. Der Streit eskalierte derart, dass der Papst auf der Fastensynode des Jahres 1073 fünf königliche Räte bannte14. Der König riskierte, außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zu stehen, sofern er weiterhin mit diesen Räten Umgang pflegte – und das tat er. Alexander starb bald darauf am 21. April 1073. Zu seinem Nachfolger wurde tags 12 Vgl. etwa Philippe Depreux, Investitures et rapports de pouvoirs: Réflexions sur les symboles de la Querelle en Empire, in: Revue d’Histoire de l’Église de France 96 (2010), S. 43–69. 13 Vgl. etwa Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert, Göttingen 1988 (Die Kirche in ihrer Geschichte, 2, Lfg. F1), S. 149; Althoff, Heinrich IV. (wie Anm. 5), S. 83. 14 Regesta Imperii III: Salisches Haus 1024–1125. 3. Abt.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich IV. 1056 (1050)–1106, 2. Lfg.: 1065–1075, neubearbeitet von Tilman Struve, Köln u. a. 2010, Nr. 625; glaubt man dem propäpstlichen Autor Bonizo von Sutri, so sei dies auf Ermahnung (hortatu) der Kaiserin Agnes erfolgt (Bonizo von Sutri Liber ad amicum, ed. Ernst Dümmler, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 571–620, hier VI, S. 600); unabhängig von Bonizos bekannter Parteilichkeit findet diese Nachricht meist Glauben; vgl. etwa Mechthild Black-Veldtrup, Kaiserin Agnes (1043–1077). Quellenkritische Studien, Köln u. a. 1995 (Münstersche historische Forschungen, 7), S. 50, 379f.; Althoff, Heinrich IV. (wie Anm. 5), S. 117; indem aber Bonizo die Mutter des Königs zur Urheberin dieser Maßnahme macht, unterstreicht er zum einen, wie berechtigt sie erfolgt sei, und entlastet zum anderen die päpstliche Seite von der Verantwortung für die Folgen dieser Maßnahme.
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darauf in einer tumultartigen Wahl der Archidiakon Hildebrand gewählt, der den Papstnamen Gregor VII. annahm. Später behauptete er, er habe sich nicht gegen den Willen Gottes stellen können, der sich in den Begleitumständen seiner Wahl gezeigt habe. Ob dies aber bereits 1073 als Entschuldigung dafür diente, dass er entgegen einem früheren Versprechen nicht die Einwilligung des Königs eingeholt hatte, lässt sich wohl nicht mehr feststellen15. Angesichts dieser schweren Belastung ihrer Beziehungen folgte eine mittelbare Kommunikation. Der Papst und wohl auch der König äußerten sich übereinander nur gegenüber Dritten. So richtete Gregor kurz nach seiner Erhebung (6. Mai) einen Brief an den in Italien weilenden Herzog Gottfried von Niederlothringen, den Gemahl Mathildes von Tuszien. Dieser hatte ihm anscheinend zur Wahl gratuliert, und Gregor nahm in seiner Antwort die Gelegenheit wahr, auf sein Verhältnis zum König zu sprechen zu kommen: Er sei durchaus zu einer Zusammenarbeit mit diesem bereit, würde aber auch einer Konfrontation nicht aus dem Wege gehen16. Abt Walo von St. Arnulf bei Metz hatte ihm von Plänen der lombardischen Bischöfe berichtet, einen dem deutschen Hof genehmen Gegenpapst zu erheben. An der Spitze dieser Bestrebungen stand demnach Bischof Gregor von Vercelli17. Diese Pläne, sollten sie tatsächlich bestanden haben, waren jedoch bald vom Tisch. Ende Juni bekundete der Papst gegenüber den Markgräfinnen Beatrix und Mathilde von Tuszien seine Absicht, religiosi viri zum König zu senden, die ihn zur Liebe gegenüber der römischen Kirche als Voraussetzung für die Kaiserkrönung ermahnen sollten18. Aber auch dazu kam es nicht, denn der König befand sich kurz darauf in einer äußerst prekären Lage. Die Sachsen erhoben sich gegen Heinrich IV., der Mitte August fluchtartig diese Provinz seines Reiches verlassen musste. In dieser Situation sandte er einen Brief an Gregor VII., den dieser wegen des unterwür15 Gregor zeigte dem König seine Wahl auch nicht offiziell an oder wartete gar auf dessen Einverständniserklärung, auch wenn Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 14), hier VII, S. 601, diesen Eindruck erwecken will: Gregors Bischofsweihe am 30. Juni 1073 habe nicht nur im Beisein der Kaiserin Agnes und der Markgräfin Beatrix stattgefunden, sondern auch des Bischofs Gregor von Vercelli, königlicher Kanzler für Italien und Beauftragter des Königs; diese Nachricht wird von der Forschung abgelehnt, vgl. Giovan Battista Borino, Perché Gregorio VII non annunciò la sua elezione ad Enrico IV e non ne richiese il consenso (Relazioni tra Gregorio VII ed Enrico IV dall’aprile 1073 all’aprile 1074), in: Studi Greg. 5 (1956), S. 313–343, besonders S. 324; Cowdrey, Pope Gregory VII (wie Anm. 8), S. 92. 16 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 9, S. 14f. 17 Johann Matthias Watterich, Pontificum romanorum vitae, Bd. I, Leipzig 1862 (ND Aalen 1966), S. 740–742. 18 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 11, S. 19.
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figen Tenors als supplex epistola bezeichnete19. Heinrich räumte ein, Kirchenbesitz entfremdet und auf simonistische Weise Kirchen an Unwürdige vergeben zu haben. Dies bereue er und erbitte die Hilfe des Papstes zur Besserung der kirchlichen Verhältnisse in seinem Reich und vor allem in Mailand: „Und nun bitten wir in erster Linie für die Mailänder Kirche, die durch unsere Schuld im Irrtum befangen ist; eure apostolische Gewalt möge sie nach kanonischem Recht auf den richtigen Weg bringen; und danach möge euer päpstlicher Urteilsspruch fortfahren, auch die übrigen zu bessern.“20 Die Forschung ist sich darin einig, dass Heinrich IV. mit seinen Selbstanklagen und seinem Entgegenkommen nicht nur in der Mailänder Frage, sondern auch im Hinblick auf eine Reform der Reichskirche ein Zusammengehen des Papstes mit der sächsischen Opposition und auch den übrigen Fürsten verhindern wollte. Seit längerem stand Gregor mit Rudolf von Schwaben in Verbindung, mit dem sich Heinrich IV. damals überworfen hatte21. In einem Brief an den Herzog vom 1. September hielt Gregor fest, er hasse den König nicht, weil dessen Vater Heinrich III. ihn einst besonders ehrenvoll behandelt habe und weil dieser seinen kleinen Sohn auf dem Sterbebett Papst Viktor II. und damit der römischen Kirche anvertraut habe; und außerdem können er gar keinen Christenmenschen hassen22. Obwohl diese Rhetorik zunächst freundlich klingt, besagt sie doch, dass Heinrich 19 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 29a, S. 49; zur Charakterisierung des Briefes siehe The Epistolae Vagantes of Pope Gregory VII, ed. Herbert Edward John Cowdrey, Oxford 1972, Nr. 14 S. 36; vgl. auch Hugo von Flavigny, Chronicon, in: MGH SS, 8, ed. Georg Pertz, Hannover 1848, S. 288–502, hier II, S. 425. 20 Gregor VII., Register. (wie Anm. 2), I, 29a, S. 49: Et nunc in primis pro ecclesia Mediola nensi, quę nostra culpa est in errore, rogamus, ut vestra apostolica districtione canonice corriga tur et exinde ad cęteras corrigendas auctoritatis vestrę sententia progrediatur; vgl. etwa Christian Schneider, Prophetisches Sacerdotium und heilsgeschichtliches Regnum im Dialog 1073–1077. Zur Geschichte Gregors VII. und Heinrichs IV., München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 9), S. 78f. 21 Zur Haltung Rudolfs vgl. Hermann Jakobs, Der Adel in der Klosterreform von St. Blasien, Köln, Graz 1968 (Kölner Historische Abhandlungen, 16), S. 266–271; Hermann Jakobs, Rudolf von Rheinfelden und die Kirchenreform, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, Sigmaringen 1973 (VuF, 17), S. 87–115; Schneider, Prophetisches Sacerdotium (wie Anm. 20), S. 58–61. 22 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 19, S. 31f.: Unde nobilitatem tuam scire volumus, quia non solum circa regem Heinricum, cui debitores existimus ex eo, quod ipsum in regem elegimus, et pater eius laudandę memorię Heinricus imperator inter omnes Italicos in curia sua speciali honore me tractavit, quodque etiam ipse moriens Romanę ecclesię, per venerande memorię papam Victorem predictum filium suum commendavit, aliquam malivolentiam non observamus, sed neque aliquem christianum hominem Deo auxiliante hodio habere volumus.
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diesen Hass eigentlich verdient habe. Dem entsprach der Inhalt des Schreibens: Mit Hilfe einer Konferenz, an der neben Rudolf von Schwaben auch Kaiserin Agnes, Bischof Rainald von Como sowie die Markgräfin Beatrix von Tuszien und wohl auch deren Tochter Mathilde teilnehmen sollten23, strebte Gregor eine Situation an, in der der König den dort erarbeiteten Vorschlägen nur noch würde zustimmen können – ohne selbst dabei repräsentiert gewesen zu sein. Gregor hatte den König durch einen geschickten taktischen Schachzug in eine Lage gebracht, in der er auf seine Gegner zugehen musste. Heinrich blieb nichts anderes übrig, als sich in der supplex epistola entgegenkommend, ja sogar unterwürfig zu zeigen. Wenigstens hatte er konkrete Zusagen vermeiden können und sogar erreicht, nun mit dem Papst direkt kommunizieren zu können. Dies eröffnete aber nicht nur ihm, sondern auch Gregor neue Möglichkeiten, Wünsche und Forderungen an den Partner heranzutragen. Jedenfalls wertete der Papst die supplex epistola als großen Erfolg und ließ diese daher auch in sein Register eintragen. Eine Antwort an den Salier sucht man dort allerdings vergebens.
Der Papst in der Offensive Dank seiner geschickten Bündnispolitik war Gregor guter Dinge, dem König die Anerkennung seines Mailänder Bischofskandidaten abringen zu können. Am 27. September unterrichtete er Erlembald, den Anführer der Mailänder Pataria, vom Entgegenkommen des Königs24. Wenig später forderte Gregor diesen auf, die Anhänger des königlichen Bischofskandidaten Gottfried besser zu behandeln und sich mit Bischof Gregor von Vercelli auszusöhnen; vor allem aber äußerte er die Erwartung, der König werde sich in der Mailänder Angelegenheit fügen. Nach wie vor stand Heinrich IV. auf Grund seines Umganges mit seinen gebannten Räten außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft und konnte nach Auffassung des Papstes
23 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 19, S. 32: Sed quia concordiam istam, scilicet sacerdotii et imperii, nihil fictum nihil nisi purum decet habere, videtur nobis omnino utile, ut prius tecum atque Agnete imperatrice et cum comitissa Beatrice et Rainaldo episcopo Cumano et cum aliis Deum timentibus de his diligentius tractemus, quatenus voluntate nostra bene a vobis cognita, si rationes nostras iustas esse probaveritis, nobiscum consentiatis; si vero rationi nostrę aliquid addendum vel subtrahendum esse vobis visum fuerit, consiliis vestris Deo consentiente parati erimus assensum prebere. 24 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 25, S. 42.
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keine Investituren vornehmen. Dies teilte Gregor jedenfalls Anselm von Lucca mit, der damals anscheinend darauf drängte, vom König investiert zu werden25. Insgesamt blieb der Papst nach Ausweis seiner Briefe die dominante Seite in der Kommunikation mit dem König, der im November 1073 sogar eine zweite supplex epistola an Gregor richtete26. Kurz vor Weihnachten 1073 schrieb er an diverse sächsische Fürsten, er habe den König gedrängt, auf Kampfhandlungen zu verzichten, bis päpstliche Legaten die Ursachen dieses Streits untersucht und einen Ausgleich vermittelt hätten. Dementsprechend sollten auch die Sachsen die Waffen ruhen lassen und den König als ihren dominus akzeptieren27. Diese Parteinahme für den König wurde als „entscheidende Wende in den Beziehungen des Papstes zum deutschen Hof “ gedeutet28. Dies wird der Situation aber nicht gerecht, denn der Papst trat nun als Schiedsrichter zwischen dem König und seinen Feinden auf, was dem Selbstverständnis Heinrichs IV. als König völlig zuwiderlaufen musste. Tatsächlich kann von einer guten Zusammenarbeit auch nicht die Rede sein, denn aus dieser Zeit ist kein einziger Brief Gregors an den König selbst überliefert – weder die gerade erwähnte Aufforderung zu einer Waffenruhe in Sachsen noch ein anderes Schreiben. Wurden sie für derart unwichtig gehalten, dass sie erst gar nicht in das Briefregister Gregors aufgenommen wurden? Möglicherweise glaubte man in Rom, Heinrichs politischer Stellenwert sei auf Grund seiner vielfältigen Probleme und seines bis dahin doch recht ungeschickten Taktierens gegenüber den Fürsten auf den Nullpunkt gesunken. Nicht von ungefähr rief der Papst daher nach der Fastensynode des Jahres 1074 Erzbischof Siegfried von Mainz und andere deutsche Erzbischöfe dazu auf, als Helfer des Papstes für eine Reform der Kirche zu wirken29. Anscheinend trieb Gregor VII. sein großes Ziel voran an dem politisch angeschlagenen Salier vorbei. Heinrich IV. musste in dieser Situation seine Rechte als König wahren, auch gegenüber dem Papst. Im Frühjahr 1074 „bat“ er, so Hugo von Flavigny, der Papst möge gegen die Sitte seiner Vorgänger weder Anselm von Lucca noch Hugo von Die zu Bischöfen weihen, bevor er ihnen die Investitur erteilt habe. Gregor legte das Problem den Kardinälen vor, die zu dem Schluss kamen, die Investitur durch den König entspreche dem Herkommen der Kirche und könne als rechtmäßig angesehen werden, auch wenn keine auctoritas dies stütze. Daraufhin hielt der Papst 25 26 27 28 29
Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 21, S. 34f. Vgl. Reg. Imp. III/3, Nr. 669. Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 39, S. 61f. Schneider, Prophetisches Sacerdotium (wie Anm. 20), S. 71. Gregor VII., Epp. vagantes (wie Anm. 19), Nr. 6, S. 14 u. 16; textgleich Nr. 7, S. 16, an Erzbischof Werner von Magdeburg.
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zwar im Falle Anselms still, Hugo von Die aber weihte er am 16. März zum Bischof, was als Hinweis auf Gregors wachsendes Unbehagen an der Laieninvestitur als solcher gewertet wurde30. Seine Entscheidung mag aber auch mit seiner Absicht zusammengehangen haben, Hugo bald darauf zur Bekämpfung der Simonie nach Burgund zu entsenden. Auf jeden Fall kam der Papst dem König also nur teilweise entgegen, denn nach wie vor wollte dieser wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen werden. Dieses Problem hatte Gregor VII. mit einer Reform der Reichskirche verknüpft und entsprechend wollte er beides in Angriff nehmen. Ins Visier des Papstes war vor allem Bischof Hermann von Bamberg geraten, dem aus Kreisen seiner eigenen Kirche Simonie vorgeworfen wurde31. Als er sich am 1. März 1074 in Goslar beim König aufhielt, erreichte ihn die schriftliche Aufforderung des Papstes, sich vor einer Synode zu rechtfertigen, die am Weißen Sonntag, dem 27. April, unter der Leitung päpstlicher Legaten in Deutschland stattfinden solle32. Zwar entschuldigte 30 Hugo, Chronicon (wie Anm. 19), hier II, S. 411f.: Cum ergo Romae positi praestolarentur diem consecrationis suae, venerunt nuncii regis Heinrici Romam, rogantes ne contra morem praedecessorum suorum domnus papa eos consecrare vellet, qui episcopatus ęlectionem solam, non autem donum per regiam acceperant investituram. At ipse convocatis cardinalibus legatio nem regis aperuit, et quid sibi ad hoc respondendum, quid esset faciendum, ammonuit. Quibus respondentibus usum aecclesiae hunc esse, hunc haberi pro lege, cum auctoritas eis nulla ad hoc suffragaretur, in Lucensi tamen electo eis adquievit, ut consecrationem eius differret, donec investituram episcopatus ex regio dono accepisset hunc esse, hunc haberi pro lege, cum auctoritas eis nulla ad hoc suffragaretur, in Lucensi tamen electo eis adquievit, ut consecrationem eius differret, donec investituram episcopatus ex regio dono accepisset. In Diensi vero adquiescere noluit, sed eum prima quadragesimae ebdomada, sabbato in presbiterum, et dominica conse cravit in episcopum. Et quia vidit hoc sanctorum patrum adversari decretis, ut in canonica elec tione episcopi praevaleret donum regis, immo multoties ipsam ęlectionem inmutaret vel potius irritam faceret; es folgt die Abhaltung einer Synode im gleichen Jahr (1074), vom Editor jedoch fälschlich mit der Fastensynode von 1075 identifiziert; zur Eindordnung vgl. Reg. Imp. III/3, Nr. 693; zu Autor und Werk vgl. Mathias Lawo, Studien zu Hugo von Flavigny, Hannover 2010 (MGH Schriften, 61); zur Entscheidung der Kardinäle Patrick Healy, The chronicle of Hugh of Flavigny: reform and the investiture contest in the late eleventh century, Aldershot 2006 (Church, faith, and culture in the medieval West), S. 127, 175f.; Cowdrey, Pope Gregory VII (wie Anm. 8), S. 356, zu Gregors Einstellung zur Investitur. 31 Zum ihm vgl. Rudolf Schieffer, Hermann I. Bischof von Bamberg, in: Gerhard Pfeiffer, Alfred Wendehorst (Hg.), Fränkische Lebensbilder. Neue Folge der Lebensbilder aus Franken, Bd. 6, Würzburg 1975 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe VII, A, 6), S. 55–76. 32 Vgl. Hermanns Antwortschreiben, in: MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit, 5, ed. Carl Erdmann, Norbert Fickermann, Weimar 1950, Nr. 40, S. 240–242; vgl. Erdmann, Briefliteratur (wie Anm. 9), S. 234f.
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sich Hermann brieflich beim Papst mit einer Auslandsreise im Auftrag des Königs, aber dieser entschloss sich, Ostern in Bamberg zu feiern33, was eine Anwesenheit Hermanns unabdingbar machte. Möglicherweise war Heinrich IV. vorab von Gregor VII. über diese Legation unterrichtet worden34. Der König zog den Legaten nach der Quadragesima entgegen und bereitete ihnen in Pforzen bei Kaufbeuren einen ehrenvollen Empfang35. Auch Kaiserin Agnes war mit der päpstlichen Gesandtschaft über die Alpen gezogen, um im Sinne des Papstes zu vermitteln. Da die Legaten sich weigerten, das Osterfest zusammen mit dem Simonisten Hermann in Bamberg zu feiern36, geriet der König in eine schwierige Lage: Er hielt an dem geplanten Osterhoftag in Bamberg fest, der also ohne die hochrangigen Gäste aus Rom stattfand, während die Synode am angesetzten Termin in Nürnberg stattfand, auf der nach zähen Verhandlungen die Aussöhnung mit Heinrich am 26. April feierlich vollzogen wurde37. Laut Bonizo habe der König alle Forderungen der Legaten erfüllt, diese mit reichen Geschenken und einem Brief an den Papst nach Rom zurückgesandt, in dem er diesem den schuldigen Gehorsam versprochen habe38. Mit diesem Akt schienen die Beziehungen zwischen Papst und König auf eine gute Basis gestellt, was Gregor auch gegenüber der Kaiserin Agnes lobend hervorhob39. Allerdings blieb Hermann von Bamberg vorerst im Amt, und die vom Papst gewünschte reichsweite Reformsynode war vor allem am Widerstand der deutschen Bischöfe mit Liemar von Bremen, einem engen Vertrauten Heinrichs, an der Spitze gescheitert40, was der Papst dem König allerdings nie zum Vorwurf gemacht hat. Es ist aber kaum vorstellbar, dass Liemar gänzlich ohne Abstimmung mit dem König gehandelt hat, den er in seinem brieflichen Bericht über die Nürnberger Ereignisse
33 Vgl. Schneider, Prophetisches Sacerdotium (wie Anm. 20), S. 74f. 34 Vgl. Schneider, Prophetisches Sacerdotium (wie Anm. 20), S. 73, Anm. 232. 35 Reg. Imp. III/3, Nr. 700. 36 Marianus Scotus, Chronicon, ed. Georg Waitz, in: MGH SS, 5, Hannover 1844, S. 495– 562, hier ad 1096 [1074], S. 561; vgl. Erdmann, Studien (wie Anm. 32), S. 236f. 37 Reg. Imp. III/3, Nr. 702. 38 Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 14), hier VII, S. 602, über das Treffen der Legaten mit dem König in Nürnberg: Dehinc […] cum rex omnia, que Romani legati postularunt, se libenter facere promisisset, magnis muneribus donati Romam cum honore remearunt, portan tes secum prefati regis literas, quibus venerabili papę Gregorio omnibus modis debitam subiec tionem spondebat. 39 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 85, S. 121–123. 40 Vgl. etwa Erdmann, Briefliteratur (wie Anm. 32), S. 238–240; Schneider, Prophetisches Sacerdotium (wie Anm. 20), S. 78–85.
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ausdrücklich als domnus meus rex bezeichnete41. Vielmehr trat der Erzbischof von Bremen anscheinend in den Vordergrund, weil dessen Aussöhnung mit dem Papst nicht gefährdet werden sollte. Heinrich stand damals gewaltig unter Druck, was an seinem Verhalten abzulesen ist. Er reiste den päpstlichen Legaten außerordentlich weit entgegen, bereitete ihnen einen feierlichen Empfang und akzeptierte auch ihr Fernbleiben vom Osterfest in Bamberg. Daher stellt Althoff mit Recht fest, dass Heinrich sich letztlich verstellt habe, um die Rekonziliation zu erreichen42. Aber auch danach brach er nicht mit Gregor, der ihm die Macht seiner Waffen vorgeführt hatte. Solange er die Sachsen nicht besiegt hatte, musste der König Wohlverhalten an den Tag legen. Allerdings wird man Heinrich dieses Taktieren nicht zum Vorwurf machen können, denn Gregor hatte zuvor seine Notlage konsequent ausgenutzt. Nach einer längeren Pause traten Papst und König erst Anfang Dezember 1074 wieder in brieflichen Kontakt miteinander43. Die Initiative lag anscheinend bei Gregor, der Heinrich zunächst dafür tadelte, dass dieser die Angelegenheiten der Mailänder Kirche nicht wie brieflich versprochen beigelegt habe. Der Papst verwies hier nach einhelliger Auffassung der Forschung auf die supplex epistola von Ende August oder deren Wiederholung von November 1073. Aber auch auf die Nürnberger Ereignisse nahm Gregor Bezug: Heinrich habe die päpstlichen Legaten freundlich aufgenommen, auf ihre Ermahnung hin einige kirchliche Angelegenheiten in Ordnung gebracht und ihm durch die Legaten seine devotę servitutis exhi bitio, „seine ehrerbietige Dienstbereitschaft“ mitgeteilt. Vor allem aber freue es ihn, dass Heinrich zur vollständigen Ausrottung der simonistischen Irrlehre bereit sei. Dies hätten sowohl die Kaiserin Agnes als auch die Markgräfinnen Beatrix und Mathilde bezeugt, und so habe er sich auf Rat der Agnes hin entschlossen, diesen Brief zu schreiben. Trotz des Versuchs, eine positive Stimmung zu erzeugen, lässt Gregor damit doch seine Vorbehalte gegenüber Heinrich erkennen. Anscheinend erwartete er persönlich nicht allzu viel von dem Salier. Dieser solle Ratgeber hinzuziehen, die nicht ihren Vorteil suchten, sondern des Königs Wohlergehen. Dann wird der Papst konkreter: Heinrich solle sapientes viri zu ihm senden, um zu zeigen, dass ein Dekret der heiligen römischen Kirche noch verändert werden könne, obwohl es zweimal durch ein Synodalurteil bestätigt worden sei. Falls sie ihn überzeugen könnten, würde er, Gregor, seine Meinung ändern und seinen Geist „auf das Richtige“ lenken. Andernfalls erbitte er das Gleiche vom König und dass dieser seine Macht in den Dienst der Kirche stelle. Gemeint war die Exkommuni41 Schreiben an Hezilo von Hildesheim, in: (wie Anm. 32), Nr. 15, S. 33–35, hier S. 34. 42 Vgl. Althoff, Heinrich IV. (wie Anm. 5), S. 122f. 43 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), II, 30, S. 163–165.
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kation des vom König zum Erzbischof von Mailand bestimmten Gottfried wegen Simonie, deren Rücknahme natürlich undenkbar war. Immerhin bot er dem König Verhandlungen an, so dass dieser sein Gesicht wahren konnte, ließ aber keinen Zweifel am Ausgang dieser Verhandlungen und beharrte damit auf seiner Position44. In die gleiche Richtung weist die Mitteilung, er, Gregor, habe Erzbischof Siegfried von Mainz und die Bischöfe von Bamberg, Straßburg und Speyer vor die nächste Fastensynode zitiert, um Rechenschaft über ihren Amtsantritt und ihren Lebenswandel abzulegen. Während der Erzbischof sich auch vertreten lassen könne, solle der König dafür sorgen, dass die Bischöfe der päpstlichen Einladung Folge leisteten. Außerdem solle der König auch selbst Boten entsenden, um über die genannten Bischöfe zu berichten. Einmal mehr reklamierte der Papst die Entscheidung über Reichsbischöfe für sich und gestand Heinrich allenfalls die Rolle eines Adjutanten zu. Kurz gesagt war der Papst weit weniger entgegenkommend, als die Forschung mehrheitlich annimmt. Dies gilt allerdings auch für Heinrich, denn er ließ zu, dass keiner der deutschen Bischöfe Gregors Vorladung folgte. Der zweite Brief Gregors VII. an den König vom selben Tag gilt ebenfalls als Beleg für das gute Einvernehmen der beiden45. Gregor teilte dem König darin seine Pläne für einen Zug in den Osten mit. Angesichts der Bedrohung der Christen jenseits des Meeres durch die Heiden, gemeint waren die Seldschuken, wolle er, Gregor, an der Spitze eines aus der gesamten abendländischen Ritterschaft gebildeten Heeres den von Tod und Verderben bedrohten Glaubensbrüdern zu Hilfe kommen, bis zum Heiligen Grab ziehen und ganz nebenbei auch noch die Einheit mit den orientalischen Kirchen wiederherstellen. Dem König aber wolle er während seiner Abwesenheit den Schutz der römischen Kirche anvertrauen. Damit verkehrte Gregor nicht nur das bisherige Verhältnis von Kaiser und Papst ins Gegenteil, sondern er bestritt Heinrich als dem künftigen Kaiser auch seine ureigenste Aufgabe, Krieg gegen Ungläubige und Heiden zu führen. Der Inhalt dieses Anschreibens war völlig unrealistisch, nachdem der Papst gerade erst gegen die Normannen militärisch gescheitert war. So wird dieses Schreiben meist als Phantasterei abgetan. 44 Vgl. Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 2, Leipzig 1894 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte), S. 436f. 45 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), II, 31, S. 165–168; der Brief ist nur einer in dieser Angelegenheit; bereits Anfang Februar 1074 hatte der Papst mit dem Grafen Wilhelm von Burgund darüber korrespondiert, Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 79, S. 70f., und im März einen Aufruf erlassen, zur Verteidigung des christlichen Glaubens nach Osten zu ziehen, um Konstantinopel gegen die „Heiden“ zu verteidigen; vgl. Carl Erdmann, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 6), S. 149–153; Cowdrey, Pope Gregory VII (wie Anm. 8), S. 484f.
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Aber es charakterisiert Gregor auch sehr treffend: Er war durchdrungen von seiner Mission, dem Glauben, so wie er ihn verstand, zum Sieg zu verhelfen – sowohl gegen Heiden als auch gegen Simonisten und Häretiker. Und nebenbei teilte er dem König ein neues Rollenverständnis mit: Der Papst ist der eigentliche Verteidiger der Christenheit, der König und künftige Kaiser nur sein Gehilfe. Die Frage nach dem Verhältnis von Papst und König war für Gregor also beantwortet – und für Heinrich? Wie reagierte er auf das Selbstbewusstsein, das der Papst in seinen Briefen an den Tag legte?
Vom scheinbaren Einvernehmen zum offenen Konflikt Auf der Fastensynode des Jahres 1075 demonstrierte der Papst seine Macht ganz offen: Am 24. Februar suspendierte er Liemar von Bremen sowie drei weitere Bischöfe wegen Simonie. Mehr noch: Erneut wurden fünf königliche Räte gebannt46. Damit hatte Gregor die gleiche Situation geschaffen wie zwei Jahre zuvor Alexander II.: Wiederum stand Heinrich IV. außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft, weil er weiterhin Umgang mit seinen gebannten Ratgebern hatte. Außerdem suspendierte Gregor auch vier Reichsbischöfe, unter ihnen Erzbischof Liemar von Bremen. Damit wurde der König außerordentlich hart getroffen. Zwar wurde ihm persönlich keine Simonie vorgeworfen, aber es war doch absehbar, dass der Papst diese Strategie ungehindert fortsetzen konnte, wie er selbst im Jahr zuvor in dem schon erwähnten Schreiben an Erzbischof Siegfried von Mainz und andere deutsche Erzbischöfe angedeutet hatte: Wer ein kirchliches Amt durch Simonie erworben habe, solle es verlieren47. Dieser Vorwurf ließ sich sicherlich gegen viele Reichsbischöfe und alle Ratgeber des Königs erheben. Damals, so glaubt ein Teil der Forschung, sei auch ein allgemeines Investiturverbot ergangen48. Doch ist davon in den Synodalbeschlüssen keine Rede, und auch Heinrich IV. hat auf diesen angeblichen massiven Eingriff in seine Herrschaftsführung nicht reagiert. Mit Schieffer wird man daher daran festhalten können, dass auf der Fastensynode 1075 keine Rede von einem Investiturverbot war, sondern der Kampf gegen die Simonie nach wie vor das wichtigste Anliegen Gregors gewesen ist. Immerhin hat der Papst sich später zu den Auswirkungen dieser Beschlüsse auf den König geäußert. In seinem letzten Brief vor dem Wormser Absageschreiben 46 Reg. Imp. III/3, Nr. 728. 47 Gregor VII., Epp. vagantes (wie Anm. 19), Nr. 6, S. 14 u. 16; Nr. 7, S. 16. 48 Zu dieser Debatte vgl. die oben, Anm. 8, genannte Literatur.
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geht Gregor am 8. Dezember 1075 auch auf die Beschlüsse der Fastensynode ein. Man habe sich an alte kirchliche Grundsätze erinnert, deren Inhalt er in dem Bibelwort „Ich bin der Eingang; wer durch mich eintritt, wird gerettet werden und Weide finden“ zusammenfasst49. Dann fährt der Papst fort: Die unerträgliche Last und das ungeheure Gewicht dieses Dekrets – wie einige sagen, die die Ehre des Menschen derjenigen Gottes vorziehen –, während wir lieber mit dem zutreffenden Wort sagen möchten, seine – des Dekrets – heilsnotwendige Wahrheit und Licht, müssen nach unserem Urteil nicht nur von Dir und den Angehörigen Deines Reiches, sondern von allen Fürsten der Erde und allen Völkern, die Christus bekennen und verehren, ergeben aufgenommen und beachtet werden, obwohl wir uns sehr wünschten (…), daß Du, der Du an Ruhm, Ehre und Tüchtigkeit größer als die übrigen bist, auch in der Ergebenheit gegen Christus erhabener wärest. Aber dennoch haben wir Dir, damit Dir dies nicht übermäßig schwer oder unverhältnismäßig erscheine, gleichwohl (…) ausrichten lassen, Du mögest, damit Dich die Änderung Deiner schlechten Gewohnheit – prava consuetudo – nicht verwirre, weise und religiöse Männer (…) zu uns schicken. Falls sie durch einen vernünftigen Grund beweisen und darlegen könnten, inwiefern wir unbeschadet der Ehre des ewigen Königs und ohne Gefahr für unsere Seelen den von den heiligen Vätern verkündeten Urteilsspruch mäßigen könnten, würden wir ihre Ratschläge berücksichtigen.50
49 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 10, S. 266; die Literatur zu diesem Brief ist schier unübersehbar; stellvertretend für viele sei daher nur verwiesen auf: Schieffer, Investiturverbot (wie Anm. 8), S. 134–141; Johann Englberger, Gregor VII. und die Investiturfrage. Quellenkritische Studien zum angeblichen Investiturverbot von 1075, Köln, Weimar u. a. 1996 (Passauer Historische Forschungen, 9), S. 22–38; Cowdrey, Pope Gregory VII (wie Anm. 8), S. 107f.; Blumenthal, Gregor VII. (wie Anm. 8), 177f.; Laudage, Investiturverbot (wie Anm. 8), S. 90–92; Laudage, Investiturstreit (wie Anm. 8), S. 147–149. 50 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 10, S. 266: Huius autem decreti, quod quidam dicunt humanos divinis honoribus preponentes importabile pondus et inmensam gravitudi nem, nos autem magis proprio vocabulo recuperandę salutis necessariam veritatem vocamus et lucem, non solum a te vel ab his, qui in regno tuo sunt, sed ab omnibus terrarum principibus et populis, qui Christum confitentur et colunt, devote suscipiendam et observandam adiudicavi mus, quamquam hoc multum desideremus […] ut, sicut cęteris gloria honore virtuteque poten tior, ita esses et in Christi de votione sublimior. Attamen, ne hęc supra modum tibi gravia aut iniqua viderentur, […] mandavimus, ne pravę consuetudinis mutatio te commoveret, mitteres ad nos, quos sapientes et religiosos […] invenire posses, qui si aliqua ratione demonstrare vel astruere possent, in quo salvo ęterni regis honore et sine periculo animarum nostrarum promul gatam sanctorum patrum possemus temperare sententiam, eorum consiliis condescenderemus; die Übersetzung von Franz Josef Schmale, Quellen zum Investiturstreit, Bd. 1, Darmstadt 1978 (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 12a), S. 203, wurde leicht verändert, vor allem heißt prava consuetudo nicht „feste Gewohnheit“, sondern „schlechte Gewohnheit“.
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Auffällig ist die parallele Argumentation zum Schreiben vom November 1073. Damals sollten die Gelehrten des Königs die Maßnahmen gegen einen einzelnen simonistischen Bischof – Gottfried von Mailand – widerlegen, nun aber zu einer grundsätzlichen Frage Stellung nehmen, die man dank des Bibelzitats doch wohl mit der Simonie gleichsetzen darf. Unsicher ist dennoch, was genau mit der consu etudo gemeint war51, auf die Heinrich verzichten sollte, denn ausdrücklich als Simonist wurde der König gerade nicht gebrandmarkt, ganz im Gegensatz zu König Philipp von Frankreich, dem Gregor Ende 1073 diesen Vorwurf aus Anlass der Besetzung des Bistums von Mâcon machte52. Die Frage dürfte also gewesen sein, wie Simonie künftig ausgeschlossen werden könne und was der König dazu beitragen könne. Wäre es ausdrücklich um die Investitur gegangen, so hätte Heinrich sogleich ein klares Zeichen gesetzt, denn er setzte auch weiterhin Bischöfe ein, als ersten Huzmann von Speyer im April oder Mai 107553. Erst am 19. März des folgenden Jahres zog der Papst die Rechtmäßigkeit dieser Erhebung in Zweifel: Er fürchte, Huzmann habe gegen ein decretum des apostolischen Stuhls verstoßen und wissentlich die virga aus der Hand des Königs empfangen54. Darüber hatte ihn der Bischof durch einen Abgesandten informiert, der zudem versicherte, der Bischof habe bei seiner Erhebung diese Bestimmung nicht gekannt. Treffe dies zu, dürfe, so der Papst weiter, Huzmann gegen eine angemessene Bußleistung im Amt bleiben. Letztlich hielt der Papst die Entschuldigung des Bischofs also für glaubwürdig, obwohl er selbst auf der Fastensynode davon ausgegangen war, dass ihre Beschlüsse bis Anfang April im Reich bekannt würden55. Weitere ähnlich gelagerte Fälle sind bekannt. Bischof Gerhard von Cambrai empfing zu einem nicht sicher bestimmbaren Zeitpunkt nach dem 23. Juni 1076 die königliche Investitur, also Monate nach der Bannung des Königs. Gerhard entschuldigte sich gegenüber dem Papst, er habe weder davon noch von einem Dekret gewusst, das die Entgegennahme des donum episcopatus durch den König verbiete. Der Papst akzeptierte diese Entschuldigung, wie wir aus seinem Brief vom Mai 1077 an den Legaten Hugo von Die wissen56. Ähnlich gelagert ist der Fall Heinrichs 51 Zur Verwendung dieses Wortes in den Briefen Gregors VII. vgl. Blumenthal, Gregor VII. (wie Anm. 8), S. 175f. 52 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), I, 35, S. 56; zum Verhältnis Gregors zu Philipp I. von Frankreich vgl. Rudolf Schieffer, Gregor VII. und die Könige Europas, in: Studi Greg. 13 (1989), S. 189–211; Rudolf Schieffer, Gregor VII. (wie Anm. 4), S. 43. 53 Reg. Imp. III/3, Nr. 736. 54 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), V, 18, S. 381f. 55 Reg. Imp. III/3, Nr. 728. 56 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), IV, 22, S. 330f.
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von Aquileja, den Heinrich IV. im September 1076 erhoben hatte. Auch er entschuldigte sich später mit Unwissenheit57. Erst später bezeichnete Gregor also diese Investituren als dem Dekret der Fastensynode zuwiderlaufend und forderte daher Rechenschaft von diesen Bischöfen, akzeptierte jedoch recht schnell die Entschuldigung, der betroffene Prälat habe keine Kenntnis von dem Dekret gehabt. Tatsächlich ist in Gregors Schreiben von Dezember auch nur von Verhandlungen mit dem König die Rede, weshalb unsicher bleiben muss, ob und wie dieses Dekret publiziert wurde. Daher gehen Teile der Forschung davon aus, es sei unveröffentlicht geblieben, wobei sie seinen Inhalt mit einem Investiturverbot gleichsetzten58. Darum aber kann es sich nicht gehandelt haben, denn die Verhandlungen wären ja bereits nach der Investitur Huzmanns von Speyer obsolet gewesen. Auch wäre es aus Sicht des Königs überaus unklug gewesen, den Papst mit einer solchen Handlung direkt zu provozieren. Man kann also vorerst nur den Schluss ziehen, dass der Dezemberbrief das Richtige trifft: Ein allgemein gehaltenes Dekret, dessen konkreter Inhalt zwar noch nicht festgelegt worden war, es aber zuließ, dass der Papst ihn später als ein Verbot der Laieninvestitur interpretieren konnte. Heinrich scheint zunächst einmal sehr zurückhaltend auf diese päpstlichen Vorschläge reagiert zu haben, denn er hat wohl nicht unmittelbar auf das Verhandlungsangebot des Papstes geantwortet. Immerhin kam er damals dem großen Ziel seiner Politik seit der Niederlage gegen die Sachsen, einem Rachefeldzug, immer näher. Es gelang ihm, die Sachsen zu spalten und die Fürsten auf seine Seite zu ziehen59. Bei Homburg an der Unstrut errang der König am 9. Juni 1075 den entscheidenden Sieg. Es dauerte allerdings noch bis Oktober 1075, bis die Sachsen endgültig kapitulierten. Das Hochgefühl dieses Sieges habe Heinrich dazu verleitet – so die Forschung –, die Konfrontation mit dem Papst zu suchen. Vielleicht sollte man dieses Diktum etwas abwandeln: Dieser Sieg schuf die Voraussetzung dafür, dass der König glaubte, dem Papst offensiver entgegentreten zu können, statt einfach nur passiv dessen Vorgaben entgegenzunehmen und sie bestenfalls zu ignorieren.
57 Vgl. Schieffer, Investiturverbot (wie Anm. 8), S. 145. 58 Zur Auseinandersetzung mit dieser Position der älteren Forschung vgl. Schieffer, Investiturverbot (wie Anm. 8), S. 129–132. 59 Hierzu zum Folgenden vgl. etwa Althoff, Heinrich IV. (wie Anm. 5), S. 106–115.
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Der Streit und seine Gründe in Kommunikation und Inhalt Es war allerdings nicht allein der angeblich siegesbedingte Übermut des Königs, der zur Konfrontation mit dem Papst führte. Noch in einem Schreiben vom 20. Juli 1075 lobte dieser den Salier für dessen Einschreiten gegen Simonie und Priesterehe; außerdem forderte er eine Neubesetzung des Bamberger Bistums, nachdem er Bischof Hermann seines Amtes enthoben hatte: „Nun also, vortrefflichster Sohn, ermahnen wir Deine Erhabenheit und raten entsprechend der Verpflichtung unserer Obliegenheit, daß diese Kirche nach dem Rat kirchlich gesonnener Männer in Ordnung gebracht werde, damit Du auf die Fürbitte des heiligen Petrus, dessen Namen und Schutz sie geweiht ist, die Hilfe göttlichen Schutzes zu erhalten verdienst.“60 Üblicherweise gilt diese Passage der Forschung als Beleg dafür, der Papst habe das königliche Investiturrecht damals noch akzeptiert. Vergleicht man sie jedoch mit den Sätzen, die Gregor am gleichen Tag an Erzbischof Siegfried von Mainz richtete, so wird deutlich, wie klein die Rolle des Königs im Vergleich zu der des zuständigen Metropoliten sein sollte. Er befahl Erzbischof Siegfried von Mainz „seitens des heiligen Petrus, dass Du entsprechend den Satzungen der heiligen Väter nachdrücklichst für die Bestellung eines Hirten in der Bamberger Kirche sorgst, damit Du nachweislich in Ordnung bringst, was Du im Fall des genannten Simonisten [also Hermanns von Bamberg] vernachlässigt hast.“61 Zwar stellte Gregor also nicht in Abrede, dass der König etwas mit der Bischofsbesetzung zu tun hatte, wobei der Begriff „Investitur“ oder Vergleichbares sorgsam vermieden wurde, aber nach Auffassung des Papstes war eigentlich der Leiter der betreffenden Kirchenprovinz zuständig. Auch die Verhandlungen über das ominöse Dekret der Fastensynode kamen nun in Gang: Wohl im Juli 1075 reisten die vom Papst angeforderten sapientes et religiosi nach Rom und begleiteten Liemar von Bremen, der auf der Fastensynode suspendiert worden war und nun um Absolution bat62. Weitere königliche Gesandte 60 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 3, S. 247: Nunc ergo, excellentissime fili; sublimit atem tuam hortamur et pro nostrę sollicitudinis debito suademus, ut religiosorum consilio virorum eadem ecclesia ita secundum Deum ordinetur, quatinus beati Petri, cuius et nomini et defensioni attitulata est, intercessione divinę merearis obtinere suffragia protectionis. 61 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 2, S. 245: […] ex parte beati Petri precipimus, ut secundum sanctorum instituta patrum summopere procures in predicta Babenbergense ecclesia pastorem ordinare […]. 62 Vgl. Erdmann, Studien (wie Anm. 32), S. 266–269; die königlichen Abgesandten waren laut Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 14), hier VI, S. 616, Meinhard von Bamberg, Wezilo von Halberstadt, später Erzbischof von Mainz und Widukind von Köln.
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folgten. Auf diese Verhandlungen nahm Gregor Anfang September 1075 Bezug. Bei diesem Brief handelte es sich um die Antwort auf ein Schreiben, in dem Heinrich ihn unter anderem über seinen Sieg gegen die Sachsen unterrichtet hatte63. Vor allem aber zeigte sich der Papst erfreut darüber, dass der König religiosi homines mit den kirchlichen Angelegenheiten betraut habe, und signalisierte Heinrich seine Bereitschaft, ihn in Rom als Herrn, Bruder und Sohn zu empfangen, sofern er sich seinen Ermahnungen nicht verschließe. Vermutlich drehten sich die Gespräche des Papstes mit Heinrichs Abgesandten also auch um dessen Krönung zum Kaiser. Eng verquickt damit war die auf der Fastensynode angemahnte Änderung der königlichen consuetudo – so könnte man jedenfalls den Wink Gregors verstehen. Die Gespräche verliefen anscheinend derart positiv, dass Gregor den König ausdrücklich für seine christliche Einstellung lobte. Allerdings war die von Papst und König bevorzugte Kommunikationsform entscheidend für den Ausgang der Gespräche. Vor dem Sachsenfeldzug hatte Heinrich den Papst um Vertraulichkeit gebeten. Seine Begründung lautete, dass fast alle seine Fürsten seinen Gegensatz zum Papst lieber sähen als eine Einigung. Nur der Papst selbst, die Kaiserin Agnes sowie Beatrix und Mathilde sollten davon erfahren64. Anscheinend war aber auch dem Papst an dieser Vertraulichkeit gelegen, denn er war äußerst aufgebracht, als Beatrix und Mathilde ihm Anfang September mitteilten, der König wolle die Fürsten nun doch über ihre Verhandlungen informieren. Gregor äußerte in seiner Antwort den Verdacht, Heinrich sei gar nicht an einem Friedensschluss gelegen65. Warum war der Papst derart über die Möglichkeit erbost, weitere Kreise könnten von den Inhalten dieser Verhandlungen erfahren? Nach Lage der Dinge wollte ihn Heinrich mit dieser Drohung unter Druck setzen. Denn eine Veränderung der königlichen consuetudo gegenüber Simonisten tangierte nicht nur die Stellung des Herrschers, sondern auch die Ehre des Reiches und damit alle Fürsten, die sich daher vermutlich mit Heinrich solidarisiert und gegen Gregor gestellt hätten. Damit sind wir wieder bei der Frage nach dem Gegenstand dieser Verhandlungen, der geeignet war, die königliche Gewohnheit und möglicherweise auch die Ehre des Reiches nachhaltig zu beschädigen. Erinnert sei hier an die vorsichtigen Wendungen der Briefe in der Bamberger Angelegenheit, mit denen der Papst die Rolle des Königs bei der Bischofserhebung charakterisierte. Man könnte sie wohl folgendermaßen zusammenfassen: Selbstverständlich hatte der König mit der Bestel63 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 7, S. 256–259. 64 Inseriert in den Brief an Beatrix und Mathilde, Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 5, S. 251f. 65 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 5, S. 251f.
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lung eines neuen Bischofs etwas zu tun, aber die Hauptverantwortung sollte doch der zuständige Erzbischof tragen. Gerade die Metropoliten galten den Reformern als Hauptverantwortliche für die Erhebung simonistischer Kandidaten, weil sie bereits auf Grund ihrer Weihekompetenz eine Art Vetorecht besaßen. Entsprechend suchte insbesondere Gregor VII. gerade sie zu disziplinieren und in seinem Sinne zu instrumentalisieren66. Auch an einer anderen Stelle des Briefes vom Dezember 1075 erwähnte der Papst mittelbar die Rechte des zuständigen Metropoliten bei der Bischofserhebung: im Zusammenhang mit den Bistümern Fermo und Spoleto, in denen der König Bischöfe eingesetzt hatte, die ihm, Gregor, nicht bekannt seien. Hier berief der Papst sich auf die statuta apostolicę sedis, was sich laut Schieffer nur auf die Rechte des Papstes in seiner Eigenschaft als Metropolit Mittelitaliens beziehen könne, zumal bereits das Konzil von Nicäa im Jahr 325 die Bischofseinsetzung an die Zustimmung des Metropoliten geknüpft hatte67. Unmissverständlich heißt es dort: Illud generaliter est clarum, quod, si quis praeter sententiam metropo litani fuerit factus episcopus, hunc magna synodus definivit episcopum esse non debere68. Die Vermutung liegt nahe, dass der Papst dieses Recht 1075 für alle Erzbischöfe reklamierte, was ein Herrscher, der bis dahin wie seine Vorfahren frei über Bischofssitze verfügt hatte, kaum akzeptieren konnte, unabhängig von seinen persönlichen Beziehungen zum jeweils zuständigen Erzbischof69. Mit der angestrebten Stärkung der Rolle der Metropoliten bei der Bischofsbestellung sollte diese zu einem rein geistlichen Akt gemacht und die Mitwirkung des Königs vermutlich auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Über eine solche einschneidende Änderung der bisherigen Gewohnheiten musste Gregor ein Einvernehmen mit Heinrich herstellen, falls er dessen offenen Widerstand vermeiden wollte. Da er aber vermutlich auf das Konzil von Nicäa verweisen konnte – Gregor sprach in diesem Zusammenhang von der sanctorum patrum sententia –, war er sich vermutlich sicher, dass die Abgesandten des Königs kein Argument gegen die Ände66 Vgl. insgesamt Matthias Schrör, Metropolitangewalt und papstgeschichtliche Wende, Husum 2009 (Historische Studien, 494). 67 Schieffer, Investiturverbot (wie Anm. 8), S. 136f., mit den notwendigen Belegen. 68 Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta. Editio critica, Bd. 1: The Oecumenical Councils. From Nicaea I to Nicaea II (325–787), ed. Giuseppe Alberigo u. a. (CC), Turnhout 2006, c. 6, S. 23; am bekanntesten dürfte die Fassung Pseudoisidors gewesen sein, vgl. Schieffer, Investiturverbot (wie Anm. 8), S. 17. 69 Zum Umgang der Päpste mit dem deutschen Episkopat vgl. Rudolf Schieffer, Die Romreise deutscher Bischöfe im Frühjahr 1070. Anno von Köln, Siegfried von Mainz und Hermann von Bamberg bei Alexander II., in: Rheinische Vierteljahrsblätter 35 (1971), S. 152– 174; Rudolf Schieffer, Spirituales latrones. Zu den Hintergründen der Simonieprozesse in Deutschland zwischen 1069 und 1075, in: HJb 92 (1972), S. 19–60.
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rung von dessen prava consuetudo würden vorbringen können70. Um Heinrich IV. aber auf einer anderen Ebene entgegenzukommen, brachte Gregor VII. dessen Kaiserkrönung ins Spiel. Diese aber war wiederum für die deutschen Fürsten wenig attraktiv, an deren mangelndem Engagement schon mehrmals ein Romzug gescheitert war71. Für Heinrich selbst dürfte seine prava consuetudo wichtiger gewesen sein als ein Zug über die Alpen, zumal dieser so kurz nach dem Sieg über die Sachsen auch Risiken in sich barg. Auf dieser Basis war jedenfalls eine Einigung nicht zu erreichen. Heinrich hielt an seiner prava consuetudo fest. So war der Weg in den Konflikt vorgezeichnet. Ungefähr zu dieser Zeit erschien einer der gebannten königlichen Räte, Graf Eberhard, in Italien und hielt in Roncaglia eine Versammlung ab, auf der die Anhänger der Pataria zu Feinden des Königs erklärt wurden. Den Mailändern wurde zugesagt, der König werde ihren Vorschlag zur Besetzung ihres Bischofsstuhles annehmen72. Tatsächlich erschien Ende September eine Mailänder Abordnung bei Heinrich, welcher auf deren Bitten hin den Mailänder Subdiakon Tedald zum Erzbischof erhob73. Zudem setzte der König in diesem Zeitraum auch in Fermo und Spoleto neue Bischöfe ein, also in der mittelitalienischen Kirchenprovinz, in der der Papst sogar selbst als zuständiger Metropolit für die Weihe der Erhobenen zuständig war. Während der Papst also nach wie vor auf die briefliche Kommunikation setzte, handelte der König deutlich offensiver und setzte so unmissverständliche Zeichen. Auf diese Handlungen des Königs, die Gregor offenbar als Provokation empfand, reagierte der Papst mit seinem Schreiben vom 8. Dezember 107574, dessen Anrede bereits alles Weitere erahnen lässt: Gregorius episcopus servus servorum Dei Henrico 70 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 10, S. 266, zitiert oben, Anm. 50. 71 Reg. Imp. III/3, Nr. 408, 463. 72 Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 14), hier VII, S. 605; Reg. Imp. III/3, Nr. 760. 73 Arnulf von Mailand Liber gestorum recentium, ed. Claudia Zey, Hannover 1994 (MGH SS rer. Germ., 67), hier V, S. 222–224; Reg. Imp. III/3, Nr. 761; zu Tedald vgl. Olaf Zumhagen, Tedald von Mailand (1075–1085). Erzbischof ohne civitas, in: Thomas Scharff, Thomas Behrmann (Hg.), Bene vivere in communitate. Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Hagen Keller zum 60. Geburtstag überreicht von seinen Schülerinnen und Schülern, Münster, New York u. a. 1997, S. 3–23. 74 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 10, S. 263–267; da die Datierung eigentlich auf den 10. Januar 1076 lautet, was in Anbetracht der späteren Entwicklung unmöglich ist, geht Meyer von Knonau, Jahrbücher (wie Anm. 44), S. 579, Anm. 167, von einem Versehen bei der Monatsangabe aus und hat die Angabe auf Dezember 1075 korrigiert; ihm ist die Forschung einhellig gefolgt, Reg. Imp. III/3, Nr. 778; dagegen datiert Fried, Pakt (wie Anm. 6), S. 167f., Anm. 63, das Schreiben nun in den Oktober oder November 1075.
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regi salutem et apostolicam benedictionem, si tamen apostolicę sedi, ut christianum decet regem, oboedierit75. Gleich zu Beginn weist Gregor den König darauf hin, dass er wissentlich Gemeinschaft mit Exkommunizierten halte. Er solle sich daher an einen kirchlich gesonnenen Bischof wenden, der ihm mit päpstlicher Erlaubnis eine angemessene Buße auferlegen und dann lossprechen, aber auch Gregor über das Maß dieser Buße brieflich informieren solle. Vor allem aber verlieh der Papst seiner Irritation über die vielen unterwürfigen Briefe des Königs Ausdruck, weil dieser sich „in der Sache selbst aber und im Tun“, re tamen et factis, unnachgiebig zeige. Dann habe der König in der Mailänder Angelegenheit alle Versprechungen gebrochen, die er ihm, seiner Mutter Agnes und allen Bischöfen gegeben habe. Und „um Wunde auf Wunde zu fügen“, ut vulnus vulneri infligeres, habe er auch noch die Kirchen von Fermo und Spoleto ihm völlig unbekannten Personen übertragen, „wenn überhaupt von einem Menschen eine Kirche übertragen oder geschenkt“ werden könne, si tamen ab homine tradi ecclesia aut donari potest76. Deutlicher als je zuvor lässt der Papst hier also anklingen, dass dem König keine Sonderstellung bei der Vergabe von Kirchen zukomme. Dieser verbale Angriff auf die Rolle des Königs bei der Bischofserhebung ist vermutlich als Reaktion auf die jüngsten Provokationen Heinrichs IV. zu verstehen.
Noch grundsätzlicher war der Hinweis Gregors, der König habe sich durch seine Missachtung des heiligen Apostelfürsten Petrus aus der christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, da dieser doch die Schlüssel des Himmelreiches sowie die Binde- und Lösegewalt innehabe. Dann folgen die schon behandelten Ausführungen über die vorausgegangene Fastensynode. Weitere Ermahnungen schließen sich an: Der König solle die eigene Ehre nicht über die Ehre Christi stellen und die Freiheit der Kirche nicht durch eigene Ansprüche behindern, da doch Gott ihm den Sieg über seine Feinde geschenkt habe. Aber schon der einst siegreiche König Saul sei wegen seines Ungehorsams gegenüber dem Propheten von Gott verworfen worden. Am Ende steht ein knapper Verweis auf die mündliche Botschaft, welche die noch in Rom weilenden königlichen Gesandten überbringen würden. Nur aus erzählenden Quellen erfahren wir mehr. Laut Berthold von Konstanz hatte der 75 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 10, S. 263; zu diesem Gruß vgl. Achim Thomas Hack, Gruß, eingeschränkter Gruß und Grußverweigerung. Untersuchungen zur Salutatio in den Briefen Gregors VII. und Kaiser Heinrichs IV., in: AfD 47/48 (2001/02), S. 47–84, S. 48f., 52–56, 77. 76 Gregor VII., Register (wie Anm. 2), III, 10, S. 264: Et nunc quidem, ut vulnus vulneri infli geres contra statuta apostolicę sedis tradidisti Firmanam et Spoletanam ecclesiam, si tamen ab homine [trad]i ecclesia aut donari potest, quibusdam personis nobis etiam ignotis, quibus non licet nisi probatis et ante bene cognitis regulariter manum imponere.
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Papst den Gesandten aufgetragen, mit dem König vertraulich zu sprechen, ihm seine Vergehen vorzuhalten und ihn nötigenfalls darauf hinzuweisen, dass der Papst ihn exkommunizieren würde77. Der König reagierte maßlos entrüstet und ließ den Inhalt der Botschaft seinen Räten mitteilen; mit diesen, die ja bereits gebannt waren, habe er nachher noch intensiver Umgang gepflegt als zuvor78. Bemerkenswert schnell brach dann der offene Streit aus: An Weihnachten erhielt der König die Botschaft des Papstes. Bereits am 24. Januar versammelte Heinrich alle greifbaren Bischöfe um sich und brachte die Absageschreiben an den Papst auf den Weg. Sie erreichten den Papst während der Fastensynode, und dieser verhängte am 22. Februar den Kirchenbann über den König. Diese für die damaligen Kommunikationsverhältnisse ausgesprochen rasche Folge von Aktion und Reaktion lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass beide Seiten jeweils schon vorher den nächsten Schritt dieser Eskalation antizipiert hatten. Spätestens seit den Bischofsinvestituren für Mailand, Fermo und Spoleto konnte Gregor ahnen, dass Heinrich nicht länger zurückweichen würde. Und auch der König dürfte gewusst haben, aus welchem Holz der Papst geschnitzt war. Blickt man zurück auf diese knapp zweijährige Phase der Beziehungen Gregors VII. und Heinrichs IV., so ist zunächst bemerkenswert, wie langsam der Takt dieser Kommunikation lange Zeit gewesen ist. Erst als es um den „Streit“ ging, folgte Schlag auf Schlag. Innerhalb von rund zwei Monaten eskalierte die Auseinandersetzung bis hin zum offenen Bruch – ein Hinweis, wie sehr sich die Kommunikationsbedingungen im 11. Jahrhundert verbessert hatten, worauf Thomas Wetzstein hingewiesen hat79. Zuvor kommunizierten Papst und König bemerkenswert selten direkt miteinander. Dies lag – und das ist unsere zweite Feststellung – an der Grundkonstellation ihrer Beziehungen: Gregor war der Fordernde, während Heinrich an dem Althergebrachten festhalten wollte. Solange er nicht offen „nein“ sagen konnte, verhielt sich Heinrich tatsächlich opportunistisch. Als er nach seiner Niederlage gegen die Sachsen geschwächt war, kam er dem Papst soweit wie möglich entgegen, 77 Berthold, Chronicon, ed. Ian Stuart Robinson, in: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von Konstanz 1054–1100, Hannover 2003 (MGH SS rer. Germ. N. S., 14), ad 1075, S. 231f. 78 Laut Althoff, Heinrich IV. (wie Anm. 5), S. 129, habe der König habe die Botschaft des Papstes öffentlich machen lassen, wobei Berthold lediglich von den Ratgebern und nicht etwa den Fürsten oder gar sämtliche Anwesenden spricht. 79 Thomas Wetzstein, „Seine Schriften streute er über den Erdkreis“. Canossa – ein Wendepunkt in der Kommunikationsgeschichte?, in: Hasberg, Scheidgen (Hg.), Canossa (wie Anm. 3), S. 112–123.
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zumindest verbal, hielt aber an seiner Grundposition fest. Gregor trat hingegen immer fordernder auf, musste aber feststellen, dass Heinrich darauf hinhaltend reagierte. Viel länger hätte der König dies aber wohl nicht durchhalten können, und erst der an sich nicht vorherzusehende Sieg gegen die Sachsen brachte ihn in die Position, seine Vorstellungen nun auch offensiv zu äußern. Ob dies klug war, über diese Frage lässt sich trefflich streiten, zumal sie außerhalb von Heinrichs Horizont lag. Als Zeitgenosse konnte er nicht erkennen, dass vielerlei Entwicklungen zu einer Zeitenwende führen mussten. Weder Missverständnisse noch Provokationen waren letztlich dafür verantwortlich.
Von blutigen Schwertern und heiligen Canones Das Cadalus-Schisma aus wibertinischer und gregorianischer Sicht Anja-Lisa Schroll „Er zog es vor, durch Blutvergießen zu siegen, statt im rühmlichen Wettstreit heiliger Canones“1, so Benzo von Alba über Gregor VII. in seinen sieben Büchern an Kaiser Heinrich IV. Auch wenn Benzo hier dem gelehrten Wettstreit den Vorzug vor aggressiveren Maßnahmen gibt und so indirekt für eine friedliche Lösung des sogenannten Investiturstreits eintritt, scheint in seiner Wortwahl durch, wie sehr man sich in den 1080er Jahren von einer rein theologischen Auseinandersetzung entfernt hatte. Insbesondere auf gregorianischer Seite wurde sogar offen für den Einsatz militärischer Mittel zur Beilegung des Konfliktes plädiert2. Wie Gerd Althoff jüngst zeigen konnte, wurde unter Heranziehung des Alten Testaments ein Konzept für päpstliche Rechte und Aufgaben entwickelt, das eine aktive Rolle der Priester bei der Ausübung gottgewollter Gewalt gegen Frevler vorsah3. Die Reformpäpste, allen voran Gregor VII., leiteten aus ihrer Funktion als Nachfolger Petri die Verfügungsgewalt über Instrumente weltlicher Herrschaftsausübung ab, sie sammelten ihre Gefolgschaft und führten einen ‚Religionskrieg‘, zunächst gegen innerkirchliche Widersacher, bevor dann die Kreuzzugsbewegung die Argumentation
1 Benzo von Alba Ad Heinricum IV. imperatorem libri VII, ed. Hans Seyffert, Hannover 1996 (MGH SS rer. Germ., 65), II, 8, S. 216: […] magis volens vincere effuso mortalium sanguine, quam sanctorum canonum gloriosissimo certamine […]. 2 So etwa Bonizo von Sutri Liber ad amicum, ed. Ernst Dümmler, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 571–620, hier VI, S. 597f.; Anselm von Lucca Liber contra Wibertum, ed. Ernst Bernheim, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 517–528, hier S. 524f., oder auch Manegold von Lautenbach Ad Gebehardum liber, ed. Kuno Francke, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 300–430, hier c. 39, S. 378f. Dazu Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben.“ Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013. Teilweise umstritten war die Finanzierung der militärischen Opposition gegen Heinrich IV., etwa durch die Veräußerung von Kirchengut. Dazu Jürgen Ziese, Wibert von Ravenna. Der Gegenpapst Clemens III. (1084–1100), Stuttgart 1982 (Päpste und Papsttum, 20), S. 82. 3 Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“ (wie Anm. 2), S. 221f.
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übernahm, wie bereits Carl Erdmann herausgearbeitet hat4. Für den Erfolg der eigenen Position musste Überzeugungsarbeit geleistet werden, und so ging die skizzierte Entwicklung mit großen Veränderungen im Bereich der öffentlichen Kommunikation einher5. In zunehmendem Maße wurden polemische Schriften verfasst, um einerseits der eigenen Überzeugung zum Durchbruch zu verhelfen und andererseits die Position des Gegners anzugreifen6. In dieser verbalen Auseinandersetzung zwischen Gregorianern und Heinrizianern wurden neue Arsenale kommunikativer Waffen erschlossen. Vor allem wurden historische Beispiele angeführt, um die Richtigkeit der eigenen Ansichten zu unterstreichen und die des Gegners zu schwächen7. In diesem Vorgehen offenbart sich 4 In diesem Sinn Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 6), S. 161 (ND Darmstadt 1980). Dazu auch Monika Suchan, Macht verschafft sich Moral? Gewalt in der Politik der Reformpäpste, Stuttgart 2002 (Beiträge zur Friedensethik, 34), S. 6. 5 Karl Leyser, On the Eve of the First European Revolution, in: Karl Leyser, Timothy Reuter (Hg.), Communications and Power in the Middle Ages. The Gregorian Revolution and Beyond, London 1994, S. 1–19, hier S. 15; Florian Hartmann, Die Kunst des Schreibens im Investiturstreit, in: Gunther Gebhard, Oliver Geisler u. a. (Hg.), StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 35–55, hier S. 35; Thomas Wetzstein, „Seine Schriften streute er über den Erdkreis.“ Canossa – ein Wendepunkt in der Kommunikationsgeschichte?, in: Wolfgang Hasberg, Hermann-Josef Scheidgen (Hg.), Canossa. Aspekte einer Wende, Regensburg 2012, S. 112–123; Georg Strack, Oratorik im Zeitalter der Kirchenreform. Reden und Predigten Papst Gregors VII., in: Georg Strack, Julia Knödler (Hg.), Rhetorik in Mittelalter und Renaissance. Konzepte – Praxis – Diversität, München 2011 (Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 6), S. 121–144, hier S. 121. 6 Ian Stuart Robinson, Authority and Resistance in the Investiture Contest. The Polemical Literature of the Late 11th Century, Manchester 1978, S. 75–83; Monika Suchan, Publizistik im Zeitalter Heinrichs IV. Anfänge päpstlicher und kaiserlicher Propaganda im Investiturstreit, in: Karel Hruza (Hg.), Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit (11.–16. Jahrhundert), Wien 2001 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 6), S. 29–46. Die Ausführungen zielten weniger auf die Überzeugung der Gegner als auf die Stärkung der eigenen Gruppenidentität, meinte Carl Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894, S. 629. Anders Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV., Stuttgart 1997 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 42), S. 253–260. Kritisch dazu die Rezensionen von Wolfgang Eggert, in: MIÖG 107 (1999), S. 425–427 und Rudolf Schieffer, in: RhVjbll 63 (1999), S. 358f. Zur Verbreitung der Polemiken siehe Leidulf Melve, Inventing the Public Sphere. The Public Debate during the Investiture Contest (c. 1030–1122), 2 Bde., Leiden, Boston 2007 (Brill’s Studies in Intellectual History, 154), S. 93. 7 Jürgen Ziese, Historische Beweisführung in Streitschriften des Investiturstreites, München 1972 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung, 8); Hans-Werner
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das Geschichtsbewusstsein der Verfasser, die „Gegenwart als Geschichte“ begriffen, wie Hans-Werner Goetz herausgestellt hat: „Die Geschichte selbst war formbar, das historische Bewußtsein aber, von dem die Streitschriften zeugen und zu dem sie ihrerseits beitrugen, war dabei so fest verwurzelt, daß man sie intensiv zur Klärung der Gegenwartsprobleme heranzog.“8 Mit diesen Argumenten versuchte man auch, die dringende Frage nach dem rechtmäßigen Papst zu beantworten. Denn: Ein Schisma konnte es im kirchenrechtlichen Sinne nicht geben. Das römische Bischofsamt galt als prinzipiell unteilbar, das Auftreten zweier konkurrierender Päpste wurde daher als zutiefst irritierende, ja eigentlich unmögliche Störung verstanden, wie jüngst Harald Müller betonte9. Und doch war das Unerhörte 1084 mit der Erhebung Wiberts von Ravenna als Clemens III. gegen Gregor VII. Realität geworden10. Allerdings gab es historische Beispiele für diesen unerhörten Zustand. Insbesondere das erst knapp 20 Jahre zurückliegende Cadalus-Schisma dürfte bekannt gewesen sein. Damals (Anfang Oktober 1061) war zunächst Anselm von Lucca als Alexander II. und Kandidat der Reformer inthronisiert, wenig später aber durch die Wahl seines Konkurrenten Cadalus von Parma auch vom deutschen Kaiserhof in Frage gestellt worden11. Insofern kann die schismatische Erhebung von 1061 aus der Retrospektive wie eine Vorahnung der späteren Auseinandersetzungen gewirkt haben12. Tatsächlich fällt auf, dass das Cadalus-Schisma in den 1080er Jahren vergleichsweise breit rezipiert wurde, was in der Forschung bislang allerdings wenig Aufmerksamkeit gefunden hat13. Anders als im Falle Wibert-Clemens’, desGoetz, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewusstsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: HZ 245 (1987), S. 31–69, hier S. 58. 8 Goetz, Geschichte als Argument (wie Anm. 7), S. 69. 9 Harald Müller, Gegenpäpste – Prüfsteine universaler Autorität im Mittelalter, in: Harald Müller, Brigitte Hotz (Hg.), Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien, Köln u. a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 1), S. 13–53, hier S. 15f. 10 Ziese, Wibert (wie Anm. 2), S. 81–107. Die historisch besonders einschneidende Wirkung des wibertinischen Schismas fasste zuletzt zusammen Nicolangelo D’Acunto, Das wibertinische Schisma in den Quellen des Regnum Italiae, in: Harald Müller, Brigitte Hotz (Hg.), Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien, Köln u. a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 1), S. 83–96, hier S. 85. 11 Regesta Imperii III/2. Salisches Haus: 1024–1125. Zweiter Teil: 1056–1125, 3. Abteilung: Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich IV. 1056 (1050)–1106, 1. Lieferung: 1056 (1050)–1065, neubearb. v. Tilman Struve, Köln, Wien 1984, Nr. 227, S. 92f. 12 Tatsächlich sieht Robinson, Authority and Resistance (wie Anm. 6), S. 121 das Cadalus-Schisma als „accurate presage of the Investiture Contest“. 13 Robinson, Authority and Resistance (wie Anm. 6), S. 121.
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sen damnatio memoriae jüngst Nicolangelo D’Acunto überzeugend nachzeichnen konnte14, scheint die Erinnerung des erfolglosen Cadalus aus dem kollektiven Gedächtnis nicht getilgt worden zu sein. Dies mag in Anbetracht der von Gerald Schwedler aufgezeigten Mechanismen der Erinnerungsvernichtung als Teil der postmortalen Rufschädigung und Deklarierung des unterlegenen Opponenten zum Gegenpapst überraschen15. Dabei musste die Streichung des Konkurrenten aus der Papstliste Ziel jedes schismatischen Papstes sein, war doch im Mittelalter weder das Wahlverfahren noch die Umstände der Erhebung zum römischen Bischof so eindeutig festgelegt, dass stets zwischen zweifelsfrei rechtmäßigen und illegitimen Päpsten unterschieden werden konnte16. Dennoch ist das Cadalus-Schisma nicht in Vergessenheit geraten, sondern insbesondere während des wibertinischen Schismas vielfach thematisiert worden. Leider hat sich die Forschung zu Cadalus von Parma und seinem Papsttum bislang auf die Untersuchung seiner Wahl und Erhebung konzentriert und dabei vor allem die Unterstützung durch den Kaiserhof in den Blick genommen17. Vor diesem Hintergrund scheint es lohnenswert, die Rezeption des Cadalus-Schismas während des wibertinischen Schismas zu untersuchen. Inwieweit kam bei wibertinischen und gregorianischen Autoren das in der Forschung entwickelte 14 D’Acunto, Das wibertinische Schisma (wie Anm. 10), S. 83–96. Dazu auch Ziese, Wibert von Ravenna (wie Anm. 2), S. 271–273; Margherita Giuliana Bertolini, Istituzioni, miracoli, promozione del culto dei santi: il caso di Clemente III antipapa (1080– 1100), in: Sofia Boesch Gajano, Lucia Sebastiani (Hg.), Culto dei santi, istituzioni e classi sociali in età preindustriale, Rom 1984, S. 71–104 sowie Kai-Michael Sprenger, The Tiara in the Tiber. An Essay on the damnatio in memoria, in: Reti medievali Rivista 13/1 (2012), S. 153–174. 15 Gerald Schwedler, Zur damnatio memoriae bei Gegenpäpsten. Chancen und Grenzen eines diachronen Vergleichs von Hippolyt (217–235) bis Felix V. (1439–1449), in: Harald Müller, Brigitte Hotz (Hg.), Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien, Köln u. a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 1), S. 205–229, hier S. 205. 16 Olivier Guyotjeannin, Antipape, in: Dictionaire historique de la Papauté (1994), Sp. 598–617, hier Sp. 118f. Zum Begriff des Gegenpapstes zuletzt sehr umsichtig differenzierend Müller, Gegenpäpste (wie Anm. 9), S. 14f. 17 Franz Herberhold, Die Beziehungen des Cadalus von Parma (Gegenpapst Honorius II.) zu Deutschland, in: HJb 54 (1934), S. 84–104; Franz Herberhold, Die Angriffe des Cadalus von Parma (Gegenpapst Honorius II.) auf Rom in den Jahren 1062 und 1063, in: Studi gregoriani per la storia di Gregorio VII e della riforma gregoriana 2 (1947), S. 477–503; zuletzt Martin Anton Schmidt, Der 1061 zu Basel gewählte Gegenpapst Honorius II., in: Simona Slanicka (Hg.), Begegnungen mit dem Mittelalter. Eine Vortragsreihe zur mediävistischen Forschung, Basel 2000 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 171), S. 11–20.
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Konzept von „Geschichte als Argument“18 zum Tragen? Inwieweit traten sie mittels ihrer Texte in einen kontroversen Dialog ein? Und in welchem Maß leiteten sie aus der Beschäftigung mit einem spezifischen Problem, hier dem wibertinischen Schisma, bereits allgemeinere Überlegungen ab? Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in drei Schritten: Zunächst werden sowohl anti-gregorianische als auch gregorianische Texte analysiert, bevor diese miteinander verglichen werden. Bei der Auswahl der Quellen bietet es sich an, auf Texte zurückzugreifen, die während des wibertinischen Schismas entstanden sind und die eine persönliche Sichtweise des Autors erkennen lassen. Von besonderem Interesse sind daher Polemiken19, die sich nicht schwerpunktmäßig unter juristischen Vorzeichen mit der Situation auseinandersetzen, sondern ihren Fokus auf eine moralische, politische oder auch theologische Auseinandersetzung legen. Dabei ist anzunehmen, dass die subjektive Vorstellung des Verfassers besonders in Quellen hervortritt, die in geographischer Nähe zu den Ereignissen, also im italienischen oder römischen Umfeld, entstanden sind, da sie unmittelbar betroffen waren. Die Zuspitzung der Beweisführung in den polemischen Texten lässt die angewandten Argumentationstechniken besonders deutlich werden. Zeitnah zum Ausbruch des wibertinischen Schismas schrieben hier Benzo von Alba20, Beno von San Silvestro21, Anselm II. von Lucca22 und Bonizo von Sutri23. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand griffen zudem Ranger von Lucca24 und Deusdedit25 das Cadalus-Schisma auf. *
18 Goetz, Geschichte als Argument (wie Anm. 7), S. 31–69. 19 Zum aktuell problematisierten Begriff „Streitschrift“ siehe Christian Heinrichs Beitrag im vorliegenden Band. Auf die Auseinandersetzung mit der Klassifizierung der Quellen soll an dieser Stelle aber verzichtet werden, da im Rahmen dieser Untersuchung die grundsätzliche Entwicklung von Denk- und Argumentationsmustern im Fokus der Betrachtung steht. 20 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1). 21 Beno, Gesta Romanae ecclesiae contra Hildebrandum, in: Benonis aliorumque cardinalium schismaticorum contra Gregorium VII. et Urbanum II., ed. Kuno Francke, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 366–422, S. 373–380. 22 Anselm, Liber contra Wibertum (wie Anm. 2). 23 Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2). 24 Ranger von Lucca Vita metrica sancti Anselmi Lucensis episcopi, ed. Ernst Sackur, Gerhard Schwartz u. a., in: MGH SS, 30/2, Leipzig 1934, S. 1152–1307. 25 Deusdedit Libellus contra invasores et symoniacos et reliquos scismaticos, ed. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 2, Hannover 1892, S. 300–365.
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Den Anfang macht mit Benzo von Alba ein Vertreter der anti-gregorianischen Partei. Der italienische Bischof stammte vermutlich nicht aus einer adeligen Familie, wie die Forschung aus seiner hohen Wertschätzung des Bischofsamtes und seiner Dankbarkeit dem König gegenüber schließt26. Möglicherweise war er ein Mitglied der Hofkapelle Heinrichs III.27 gewesen, bevor er 1059 als Bischof von Alba eingesetzt wurde. Benzo berichtet ausführlich über die Ereignisse der Auseinandersetzung zwischen Cadalus von Parma und Anselm von Lucca um die Nachfolge Nikolaus’ II., wenngleich er nicht zu den glaubwürdigsten Informanten gehört28. Die sieben Bücher an Kaiser Heinrich IV. sind nach der Erhebung Gre�gors VII. entstanden, um an die Taten des Herrschers zu erinnern und um eben diesem Herrscher die von Benzo geleisteten Dienste ins Gedächtnis zu rufen – vermutlich nicht ohne Hoffnung auf eine Belohnung29. Dabei kam vor allem dem Kampf des Cadalus eine große Bedeutung zu, schließlich hatte sich Benzo nach eigener Darstellung besonders in diesem Zusammenhang um die kaiserliche Sache verdient gemacht30. Entsprechend ausführlich schildert Benzo den Verlauf der Auseinandersetzungen um die Nachfolge Petri von 1061–1064 vor allem in seinem zweiten Buch, das wohl zwischen 1074 und 1080 entstanden ist31. Interessanterweise greift Benzo dieses Schisma abermals in seinem letzten Buch – wohl im Frühjahr 108432 ver26 Walter Berschin, Bonizo von Sutri. Leben und Werk, Berlin 1972 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 2), S. 4 Anm. 7. Dazu zuletzt Hans Seyffert, Einleitung, in: Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), S. 1–72, hier S. 4 mit Anm. 17. 27 Seyffert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 5; Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige, Bd. 2: Die Hofkapelle im Rahmen der ottonisch-salischen Reichskirche, Stuttgart 1966 (MGH Schriften, 16/2), S. 258; Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, Leipzig 1929 (Studien der Bibliothek Warburg, 17), S. 258 (ND Darmstadt 1992); Wilhelm Wattenbach, Robert Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, Bd. 3: Italien (1050–1125). England (900–1135). Nachträge zum ersten und zweiten Teil, Darmstadt 1971, S. 883. 28 Neben Übertreibungen und anderen Eigenheiten ergeben sich chronologische Unstimmigkeiten. Dazu Hugo Lehmgrübner, Benzo von Alba. Ein Verfechter der kaiserlichen Staatsidee unter Heinrich IV. Sein Leben und der sogenannte „Panegyrikus“, Berlin 1887 (Historische Untersuchungen, 6), S. 91–93. 29 Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 883. Zum Themenkomplex „Verdienst und Lohn“ im Werk Benzos von Alba auch Seyffert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 17. 30 Hierzu zusammenfassend Seyffert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 7. 31 Seyffert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 17f. 32 Seyffert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 18.
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fasst – auf, in dem er der Frage nachgeht, ob Gregor VII. rechtmäßiger Papst sei. Vergegenwärtigt man sich die politische Lage zur Abfassungszeit und die pro-kaiserlich gesinnte Einstellung Benzos, kommt dieser nur wenig überraschend zu dem Schluss, dass Gregor ein illegitimer Papst sei. Die Beweisführung soll an dieser Stelle eingehender nachvollzogen werden, denn sie verdeutlicht das Legitimationsdefizit, das Heinrich IV. auch nach seinem militärischen Sieg nicht vollständig beheben konnte. Darüber hinaus illustriert Benzos Argumentation, wie auf kaisertreuer Seite mit diesem Problem umgegangen wurde. So empfiehlt Benzo zu Beginn des siebenten Buches Heinrich IV., dem sicher die Zeit fehle, selbst Geschichtswerke zu lesen und zu nutzen, seine Aufbereitung des Liber Pontificalis33. Denn Gregor VII. habe zwar gesagt, dass es in seiner Macht stünde, zum Kaisertum zu erheben, wen er wolle, und den abzusetzen, den er nicht wolle34. Aber durch das Zeugnis des Papstbuches werde er des Irrtums überführt: Ibi quippe legitur, quod ordinatio papę atque episcoporum fit et esse debet per manus regum et imperatorum35. Schließlich habe einst Konstantin der Große, so erklärt Benzo, das Patriziat36 zum Schutz der Kirche begründet, das seitdem Bestand habe. Es folgen historische Beispiele für Papstwahlen, an denen der Herrscher als Patricius der Römer beteiligt wurde, darunter die des Cadalus37. Hier berichtet Benzo zunächst, wie die Römer dem kleinen Heinrich IV. Mantel, Mitra, Ring und Pat�33 Zur Verwendung des Liber Pontificalis bei Benzo siehe Ernst Steindorff, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich III., Bd. 1, Leipzig 1874 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte), S. 473. 34 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), VII, 1 S. 582: Dixerat enim ille sarabaita, quod in sua esset potestate, quem vellet, ad imperium promovere et, quem nollet, removere. Vgl. den zwölften Leitsatz des Dictatus Papae Gregors VII., Register II, 55a, ed. Erich Caspar, in: MGH Epp. Sel., 2, Berlin 1920–1923, S. 204: quod illi liceat imperatores deponere; ähnlich auch das Bannungsgebot Gregors VII., Register VII, 14a S. 487. Ob Benzo indes den Dictatus Papae kannte, bleibt zweifelhaft. Dazu Rudolf Schieffer, Rechtstexte des Reformpapsttums und ihre zeitgenössische Resonanz, in: Hubert Mordek (Hg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters. Vier Vorträge, gehalten auf dem 35. Deutschen Historikertag 1984 in Berlin, Sigmaringen 1986 (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, 4), S. 51–69, hier S. 62. 35 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), VII, 1, S. 582. 36 Zum Patricius als Statthalter des Kaisers Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio (wie Anm. 27), S. 62 und S. 231–237, zu Benzo im Besonderen S. 234. Zum Patriziat auch Hannah Vollrath, Kaisertum und Patriziat in den Anfängen des Investiturstreits, in: ZKG 85 (1974), S. 11–44; Guido Martin, Der salische Herrscher als Patricius Romanorum. Zur Einflussnahme Heinrichs III. und Heinrichs IV. auf die Besetzung der Cathedra Petri, in: FMASt 28 (1994), S. 257–295. 37 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), VII, 2, S. 583–589.
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riciusreif durch Bischöfe, Kardinäle und Senatoren und durch die, die im Volke die Bedeutenderen schienen, geschickt hätten38. Während man am Kaiserhof noch abgewartet hätte, habe Hildebrand unterdessen mit Hilfe der Normannen, List und Simonie „seinen“ Kandidaten gegen den rechtmäßigen Cadalus durchgesetzt: Ecce pugna inter angelos et diabolos: dum rex cum episcopis ordinat suum papam iuste et legaliter, Prandellus cum Normannis e contrario suum symonialiter39. Auch in seiner früheren Darstellung der Wahl des Cadalus hat Benzo stets betont, dass dieser durch die Hand König Heinrichs eingesetzt worden sei40, so wie es der Liber Pontificalis über eine rechtmäßige Papstwahl lehre41. 1084 geht Benzo aber noch weiter: Die Verantwortung und Würde des Königs als Patricius wird historisch begründet und legitimiert. Heinrich IV. und „sein“ Papst Clemens III. stehen in der direkten Tradition Konstantins des Großen und Papst Silvesters42. Gleichzeitig wird die Patriciuswürde durch die Vergabe der Insignien gleichsam bildlich sichtbar gemacht und so besonders betont. Die Patriciuswürde wird in dieser Darstellung zum wesentlichen Argument für die Rechtmäßigkeit des Vorgehens Heinrichs IV. im Jahr 1084. Im Grunde argumentiert Benzo zugunsten einer auf Kon�stantin zurückgeführten Tradition, die dem Kaiser oder Patricius die entscheidende Rolle bei der Wahl des Papstes zuweist. Das Cadalus-Schisma wird nicht mehr um seiner selbst willen aufgegriffen, wie noch in Buch II, sondern eingegliedert in eine historische Argumentationskette, mit deren Hilfe ein bestimmter Sachverhalt belegt werden soll, in dem Fall sowohl die Begründetheit der kaiserlichen Sache wie auch die Unrechtmäßigkeit Gregors VII. Dabei wird die Wahl des Cadalus’ als EIN historisches Beispiel unter vielen angeführt, um die lange Traditionskette von Konstantin dem Großen zu Heinrich IV. zu illustrieren, die Wahl seines Kontrahenten 38 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), VII, 2, S. 598. Zur Übergabe der Patricius-Zeichen an Heinrich IV. siehe Herberhold, Beziehungen (wie Anm. 17), S. 89 Anm. 54; Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz, Wien u. a. 1968, S. 148 Anm. 18; Michael E. Stoller, Eight Antigregorian Councils, in: AHC 17 (1985), S. 252–321, hier S. 261 Anm. 56. 39 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), VII, 2, S. 598. 40 So etwa Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), II, 1, S. 190: […] ordinatus est Kadalus, Par mensis episcopus, per manum regis HEINRICI […]. 41 Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), II, 4, S. 204: Nam satis et supra docet nos liber pontifi calis, quomodo fieri debeat ordinatio talis. Ideoque ex clero et senatu ac populo legatos misimus ad eum, ut cum his eligeret, quem vellet papam secundum deum. Die Übergabe der PatriciusZeichen lässt Benzo an dieser Stelle jedoch unerwähnt. 42 Schon an früherer Stelle weist Benzo, Ad Heinricum (wie Anm. 1), VI, 6, S. 566 auf diese Parallele hin. Zum Kaiser als novus Constantinus Tilman Struve, Kaisertum und Romgedanke in salischer Zeit, in: DA 44 (1988), S. 424–475, hier S. 435.
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als negatives Gegenbeispiel hierzu. Folglich ist in den Augen Benzos nicht das Schisma der 1060er Jahre richtungsweisend für die Streitigkeiten von 1084, sondern die Politik Konstantins des Großen, in dessen Nachfolge man sich auf kaiserlicher Seite sieht. * Neben Benzo greift mit Kardinal Beno von San Silvestro43 ein weiterer Anti-Gregorianer das Cadalus-Schisma auf, allerdings nicht in einem historiographischen Werk, sondern in Briefform. Die genaue Entstehungszeit des an Kardinäle gerichteten Briefes ist unklar: Tradiert worden ist der Brief zusammen mit anderen Schriften als Teil der sogenannten Gesta Romana ecclesia contra Hildebrandum, die in dieser Form wohl im Vorfeld der wibertinischen Synode von 1098 zusammengetragen wurden44. Es spricht jedoch einiges dafür, dass der hier behandelte Brief Benos schon einige Zeit vorher, vielleicht sogar kurz nach der Wahl Urbans II. angefertigt wurde45. Es darf vermutet werden, dass ähnliche Argumente bzw. Argumentationsstrategien in den 1080er Jahren im Kreise der wibertinischen Kardinäle kursierten, denn dieser Brief Benos ist vor allem eine Schmähschrift gegen Gregor VII., mit dem Ziel, dessen Unrechtmäßigkeit darzulegen – und so im Gegensatz dazu die Rechtmäßigkeit Clemens’ III. zu betonen. Diese Argumente mussten vor allem für die 1084 von Gregor VII. abgefallenen Kardinäle bedeutsam sein, um ihr Verhalten zu rechtfertigen46. Auch die Tatsache, dass Gregor VII. und nicht Urban II. 43 Zusammenfassend zu Kardinal Beno von San Silvestero Zelina Zafarana, Benone, in: Dizionario Biografico degli Italiani 8 (1966), S. 564–569. 44 Carl Erdmann, Gesta Romanae ecclesiae contra Hildebrandum, in: ZRG Kan. Abt. 26 (1937), S. 433–436, hier S. 435. Zur Synode von 1098 Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 5, Leipzig 1904 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte), S. 44–46. 45 Von einer früheren Entstehungszeit kurz nach 1088 gehen aus Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 887, sowie Mirbt, Publizistik (wie Anm. 6), S. 62. Für eine Entstehung erst im Vorfeld der Synode von 1098 plädieren Erdmann, Gesta Romanae ecclesiae (wie Anm 44), S. 435 und sich daran anschließend Detlev Jasper, Das Papstwahldekret von 1059. Überlieferung und Textgestalt, Sigmaringen 1986 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 12), S. 78. Joseph Schnitzer, Die Gesta romanae ecclesiae des Kardinals Beno und andere Streitschriften der schismatischen Kardinäle wider Gregor VII., Bamberg 1892 (Historische Abhandlungen aus dem Münchener Seminar, 2), S. 90 geht von einer Entstehung um 1091 aus. 46 Schnitzer, Gesta romanae ecclesiae (wie Anm. 45), S. 28. Zur Kardinalsopposition gegen Gregor VII. siehe Hans-Walter Klewitz, Die Entstehung des Kardinalskollegiums, in: ZRG Kan. Abt. 25 (1936), S. 115–221, hier S. 68f.; Zelina Zafarana, Sul „conventus“
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das Ziel der Angriffe ist, spricht dafür, dass der Brief ursprünglich doch in relativer zeitlicher Nähe zum Pontifikat Gregors VII. entstanden sein dürfte. Einleitend schildert Beno detailliert den Werdegang des Mönches Hildebrand, wobei dieser an Verdorbenheit kaum zu übertreffen gewesen sein soll. So wurde er etwa von einem Magier unterrichtet, vergiftete mindestens sechs Päpste und schreckte auch sonst vor keiner Gräueltat zurück47. So skrupellos wie Hildebrand seine Ambitionen verfolgt habe, so habe er dann auch seine eigene Papsterhebung forciert. Von seinen Soldaten, nicht von Klerus und Volk und ohne die Zustimmung der Kardinäle sei Hildebrand, noch bevor Alexander II. unter der Erde gelegen habe, zu dessen Nachfolger erhoben worden48, schreibt Beno. Wie unerhört dieses Vorgehen war, wird durch die Kontrastierung der Erhebung Gregors VII. mit vorherge�gangenen Papstwahlen verdeutlicht. In diesem Zusammenhang greift Beno auch auf das Cadalus-Schisma zurück. Hier steht Cadalus, als Vertreter der gewohnheitsmäßigen und somit rechtmäßigen Ordnung, Anselm, der Marionette des ruchlosen Hildebrand, gegenüber49. Während Bischof Cadalus von Parma von den Kardi��nälen gewählt worden sei, habe sich Hildebrand mit den Normannen und den Feinden des Kaisers verschworen und Anselm von gewissen Römern zum Papst erheben lassen. Nachdem er als Alexander II. inthronisiert wurde, habe dieser sodann in seiner ersten Predigt erklärt, er wolle nicht ohne die Gunst und Erlaubnis des Kaisers Papst sein. Daraufhin habe Hildebrand ihn von seinen Soldaten abführen lassen, wenig später habe er ihn gar noch seiner päpstlichen Würden entkleidet und sich selbst bereichert50. In der Schilderung der Vorgänge von 1061 klingt also der Vorwurf, den Beno später im Zusammenhang mit der Einsetzung Gregors VII. erhebt, bereits an: Die Wahl durch die Kardinäle steht der durch Soldaten gegenüber. Beno betont vor allem die Bedeutung der Kardinäle bei der Papstwahl und argumentiert hier mit Hilfe der Vergangenheit. Dabei wird das Cadalus-Schisma als historischer Beleg im Sinne eines Beispiels für die Unrechtmäßigkeit des Pontifikats Gregors VII. (und seiner Nachfolger) angeführt.
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del clero romano nel maggio 1082, in: Studi Medievali, ser. Terza 7 (1966), S. 399–403, hier S. 401f.; Ziese, Wibert von Ravenna (wie Anm. 2), S. 82–87; Karl Jordan, Die Stellung Wiberts von Ravenna in der Publizistik des Investiturstreits, in: MIÖG 62 (1954), S. 155– 164, hier S. 158, Wiederabdruck in: Karl Jordan, Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1980 (Kieler Historische Studien, 29), S. 75–84, hier S. 78. Beno, Gesta Romanae ecclesiae (wie Anm. 21), II, 8–10, S. 378–380. Beno, Gesta Romanae ecclesiae (wie Anm. 21), II, 12, S. 380. Beno, Gesta Romanae ecclesiae (wie Anm. 21), II, 11, S. 380. Beno, Gesta Romanae ecclesiae (wie Anm. 21), II, 11, S. 380.
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Sowohl Beno als auch Benzo von Alba greifen in gleicher Weise auf das CadalusSchisma zurück, wenngleich sich ihre daraus abgeleiteten Argumentationen gegen die Rechtmäßigkeit Gregors VII. voneinander unterscheiden. Während Benzo das Wahlrecht des Königs betont, richtet Beno den Fokus auf das Wahlrecht der Kardinäle. Gemeinsam ist beiden, dass sie das Cadalus-Schisma nicht als richtungsweisend für die aktuelle Auseinandersetzung verstehen – im Hinblick auf den Ausgang des Streits war dies auch kaum möglich. Folglich spielt die Auflösung des Schismas in der Argumentation der Anti-Gregorianer auch keine Rolle. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die Beteiligung Hildebrands an den Vorgängen der 1060er Jahre, um hier sein frevelhaftes Verhalten hervorzuheben. Ihrem Verständnis nach ist es Hildebrand, der bereits in den 1060er Jahren Zwist und Uneinigkeit säte. Das Cadalus-Schisma wird so in eine Traditionskette der Verbrechen Hildebrand-Gregors eingegliedert, mit der letztlich die Unrechtmäßigkeit seines Pontifikates belegt wird. Hauptangriffspunkt der Anti-Gregorianer bleibt stets Gregor VII. selbst, dessen Ambition und Intrigen im Vorfeld seiner eigenen Papsterhebung seine moralische Verwerflichkeit verdeutlichen – und ihn als Papst unmöglich machen. * Indes griffen die Gregorianer vielfach dieselben historischen Beispiele auf51, betrachteten sie aber naturgemäß aus einem anderen Blickwinkel: Zwischen dem Tod Gregors VII. am 25. Mai 1085 und seinem eigenen Tod am 18. März 1086 schrieb der gregorianische Bischof Anselm II. von Lucca52 einen Brief an Clemens III. Hierbei handelt es sich um den dritten Brief eines Briefwech�sels zwischen Anselm II. und Wibert-Clemens, die sich wohl recht gut kannten, da beide zumindest zwischen 1073 und 1075 mit Gregor VII. gearbeitet hatten53. Die beiden ersten Briefe sind nicht erhalten, ihr Inhalt ist aber teilweise rekonstru-
51 Goetz, Geschichte als Argument (wie Anm. 7), S. 49. 52 Anselm II. von Lucca gehörte dem engeren Umfeld Gregors VII. an. Hierzu Erdmann, Entstehung (wie Anm. 4), S. 223–229; Monika Gude, Die fideles sancti Petri im Streit um die Nachfolge Papst Gregors VII., in: FMASt 27 (1993), S. 290–316, hier S. 306–311; Kathleen Cushing, Papacy and Law in the Gregorian Revolution. The Canonistic Work of Anselm of Lucca, Oxford 1998 (Oxford Historical Monographs), hier S. 43–63. 53 Ziese, Wibert von Ravenna (wie Anm. 2), S. 36–39.
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iert worden54. Zunächst hatte Anselm Clemens III. aufgefordert, zurückzutreten55. Daraufhin hatte Clemens III. eine wohl recht ausführliche Erörterung darüber verfasst, wer den Anspruch erheben dürfe, rechtmäßiger Papst zu sein. Natürlich kam er zu dem Schluss, dass sein eigenes Pontifikat legitim sei. Dies wiederum konnte der Lucceser Bischof nicht akzeptieren und sah sich zu einer weiteren Antwort veranlasst – eben jenen überlieferten dritten Brief56. Um die Unrechtmäßigkeit Clemens’ III. zu belegen, greift auch Anselm II. auf das Cadalus-Schisma zurück: Cadalus und Wibert werden in einem Atemzug als 54 Den Versuch der Rekonstruktion des Schreibens Clemens‘ III. aufgrund der Antwort Anselms, aber vor allem mit Hilfe der Schrift Widos von Ferrara De scismate Hildebrandi, ed. Roger Wilmans, in: MGH Ldl, 1, Hannover 1891, S. 529–567 unternahm Konrad Panzer, Wido von Ferrara De Scismate Hildebrandi. Ein Beitrag zur Geschichte des Investiturstreits, Leipzig 1880 (Historische Studien, 2), S. 10–17 und 57–63. Diesem schloss sich in seiner Besprechung an Ernst Bernheim, Konrad Panzer, Wido v. Ferrara, in: Göttingische Gelehrten Anzeigen 48 (1881), S. 1520–1528; ebenso Mirbt, Publizistik (wie Anm. 6), S. 39 und Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 4, Leipzig 1903 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte), S. 75–79; Jordan, Stellung (wie Anm. 46), S. 155–164; sowie Ziese, Historische Beweisführung (wie Anm. 7), S. 42f. Etwas kritischer dagegen Augustin Fliche, La réforme grégorienne, Bd. 3: L’opposition antigrégorienne, Paris 1937 (Spicilegium sacrum Lovaniense, 16), S. 275f. und Hans-Georg Krause, Das Papstwahldekret von 1059 und seine Rolle im Investiturstreit, Rom 1960 (Studi gregoriani per la storia di Gregorio VII e della riforma gregoriana, 7), S. 200–207. Bedenken äußert auch Robinson, Authority and Resistance (wie Anm. 6), S. 96f., wenngleich er davon ausgeht, dass die Argumente Widos zumindest teilweise denen Clemens‘ III. stark geähnelt haben dürften. So auch Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben.“ (wie Anm. 2), S. 86. Einigermaßen plausibel machen lassen sich also bestimmte Inhalte des Briefwechsels, allen voran die Diskussion des legitimen Pontifex. Das Nachzeichnen des jeweiligen Argumentationsstranges, insbesondere im Hinblick auf die Antwort Clemens‘ III., bleibt jedoch problematisch. 55 Robert Somerville, Anselm of Lucca and Wibert of Ravenna, in: Bulletin of Medieval Canon Law N.S. 10 (1980), S. 1–14, Wiederabdruck in: Robert Somerville, Papacy, Councils and Canon Law in the 11th–12th Centuries, Aldershot u. a. 1990 (Variorum Collected Studies Series, 312), mit Originalpaginierung meint, auf das erste Schreiben Anselms gestoßen zu sein. 56 Walter Berschin, Die publizistische Reaktion auf den Tod Gregors VII. (1085). Nach fünf oberitalienischen Streitschriften, in: La riforma Gregoriana e l’Europa, Bd. 2: Communicazioni, Rom 1991 (Studi gregoriani per la storia della Libertas Ecclesiae, 14), S. 121– 136, hier S. 124, Wiederabdruck in: Walter Berschin, Mittellateinische Studien, Heidelberg 2005, S. 293–304, hier S. 295 geht davon aus, dass sich der Brief nur formell an Wibert-Clemens gerichtet habe, tatsächlich aber vielmehr ein Brief gegen diesen gewesen sei. Adressat sei somit die gregorianische Partei gewesen. Zum Liber contra Wibertum auch Claudia Märtl, Zur Überlieferung des Liber contra Wibertum Anselms von Lucca, in: DA 41/1 (1985), S. 192–202.
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Ehebrecher genannt, die Heinrich IV. seiner Mutter Kirche aufgezwungen habe57. Auf weitere Ausführungen zu den Schismen verzichtet er an dieser Stelle. Und das scheint umso bemerkenswerter, wenn wir die kurze Passage mit den Rückgriffen der zuvor besprochenen Anti-Gregorianer kontrastieren: En passant werden Cadalus und Wibert-Clemens miteinander gleichgesetzt. Dies verdeutlicht die Selbstverständlichkeit einer Parallelisierung im Bewusstsein der Zeitgenossen, oder zumindest der Gregorianer, für die sie wegen des Ausgangs des Cadalus-Schismas auch auf der Hand lag. * Ungefähr zeitgleich zu Anselm II. von Lucca schrieb auch Bonizo von Sutri, einer der kompromisslosesten Anhänger Gregors VII.58. Sein Liber ad amicum ist unmittelbar nach der Niederlage, mit der Gregors Pontifikat 1085 endete, entstanden59 und verfolgte vor allem das Ziel, zweifelnde Gregorianer zur Fortsetzung der Auseinandersetzung zu ermutigen60. Dabei reagierte Bonizo auf konkrete Vorwürfe 57 Anselm, Liber contra Wibertum (wie Anm. 2), S. 527: […] Dic regi tuo, ut cognoscat aliis omnibus generationibus inauditum facinus suum, qui duos iam adulteros [Cadaloum et Wibertum antipapas, Anm. d. Editors] matri suae ingessit, et calamitates totius orbis, illam praecipue, de qua superius diximus, tecum defleat; quae novo sceleri nova iusto Dei iudicio successit. […] Zur Präsenz des Bildes vom Bischof als Bräutigam der Kirche im Zeitalter der Reformpäpste Werner Goez, Papa qui et episcopus, in: AHP 8 (1970), S. 27–59. Indes würde der Vorwurf auch auf die Reformpäpste zurückfallen, worin der Grund liegen mag, dass Anselm II. von Lucca die Argumentation an dieser Stelle nicht ausweitet. 58 Zur Polemik Bonizos in seinem Liber ad amicum v.a. die ältere Forschung, so etwa Mirbt, Publizistik (wie Anm. 6), S. 43 und Fliche, La Réforme grégorienne, Bd. 1: La formation des idées grégoriennes, Paris 1924 (Spicilegium sacrum Lovaniense, 6), S. 370 mit Anm. 2. 59 Robinson, Authority and Resistance (wie Anm. 6), S. 44; Walter Berschin, Bonizone di Sutri. La vita e le opere, Spoleto 1992, S. 23f. [teilweise erweiterte Fassung der deutschen Ausgabe Berschin, Bonizo von Sutri (wie Anm. 26)]. 60 Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 878; Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin 22008 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, 1), S. 321. Philipp Jaffé, Vorwort, in: Bonithonis episcopi Sutrini liber ad amicum, ed. Philipp Jaffé, Hannover 1865 (Monumenta Gregoriana, 2), S. 577–689, S. 577–602, hier S. 584 vermutete, die Schrift sei an Mathilde von Tuszien gerichtet, was Hugo Saur, Studien über Bonizo, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 8 (1868), S. 397–464, hier S. 426 mit Anm. 5 und 8 ablehnte; ebenso Ernst Perels, Einleitung, in: Ernst Perels (Hg.), Bonizo. Liber de vita christiana, Berlin 1930 (Texte zur Geschichte des römischen und kanonischen Rechts im Mittelalter, 1), S. IX–LXXIX, hier S. XVII; zuletzt äußerte auch Bedenken Thomas Förster, Bonizo von Sutri als gregorianischer Geschichtsschreiber, Hannover
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seiner Gegner. So sind Bezüge zu der Spolienrede von Gerstungen-Berka, dem ersten Brief Benos und der Schrift Dicta cuiusdam greifbar61. In Anbetracht der prekären Lage der Gregorianer62 wurde es umso wichtiger, überzeugend die Rechtmäßigkeit Gregors VII. und damit die Unrechtmäßigkeit des seinerzeit erfolgreichen Clemens III. zu belegen. Hans-Werner Goetz konnte zeigen, dass Bonizo nun mit�tels historischer Beweisführung unter Aufbereitung historischer Beispielfälle die Berechtigung der gregorianisch-reformerischen Position zu beweisen suchte63. Entstanden sei so eine „historiographische ‚Streitschrift‘ im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich als ein durch die Geschichte gerechtfertigter Aufruf zum Kampf und zum Widerstand gegen die Häresie der Heinrizianer und Wibertisten und für die Sache der bedrohten Gregorianer“64. Auf dieser Linie liegt auch das diesbezüglich bisher nicht beachtete Cadalus-Schisma, doch spielt es für Bonizo eine entscheidende Rolle: In langen Ausführungen schildert er nach alter Gewohnheit rechtmäßig durchgeführte Papstwahlen65. Diesen stellt er anschließend die Wahlen von Cadalus und Clemens III., „nullo ibi Romano astante clerico vel laico“66, gegen2011 (MGH Studien und Texte, 53), S. 236f. Hingegen nahm Berschin, Bonizone di Sutri (wie Anm. 59), S. 11 mit Anm. 34f. an, der Liber ad amicum sei an einen Soldaten aus Cremona gerichtet. 61 Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 189. 62 Zur bedrängten Lage Gregors VII., insbesondere seit 1084, Jürgen Vogel, Gregors VII. Abzug aus Rom und sein letztes Pontifikatsjahr in Salerno, in: Norbert Kamp, Joachim Wollasch (Hg.), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, Berlin, New York 1982, S. 341–349; Horst Fuhrmann, Gregor VII., „Gregorianische Reform“ und Investiturstreit, in: Martin Greschat (Hg.), Das Papsttum, Bd. 1: Von den Anfängen bis zu den Päpsten von Avignon, Stuttgart 1984 (Gestalten der Kirchengeschichte, 11), S. 155–175, hier S. 172f.; Tilman Struve, Gregor VII. und Heinrich IV. Stationen einer Auseinandersetzung, in: La riforma Gregoriana e l’Europa, Bd. 2: Communicazioni, Rom 1991 (Studi gregoriani per la storia della Libertas Ecclesiae, 14), S. 29–60, hier S. 56f. 63 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 60), S. 335. 64 Goetz, Geschichtschreibung (wie Anm. 60), S. 336; dazu auch Thomas Förster, Bonizo von Sutri (wie Anm. 59), S. 19f. 65 Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2), VI, S. 594f. 66 Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2), IX, S. 612 zur Papstwahl Wiberts von Ravenna am 25. Juni 1080. Dazu Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V, Bd. 3: 1077 (Schluß) bis 1084, Leipzig 1900 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte), S. 284–296; Ziese, Wibert von Ravenna (wie Anm. 2), S. 55–64; Jürgen Vogel, Gregor VII. und Heinrich IV. nach Canossa. Zeugnisse ihres Selbstverständnisses, Berlin 1983 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, 9), S. 209–219; Herbert Edward John Cowdrey, Gregory VII (1073–1085), London 1998, S. 201–203. Denselben Vorwurf erhebt Bonizo zuvor auch gegen Cadalus, vgl. Bonizo, Liber ad ami
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über. Deutlich wird die Vergleichbarkeit der beiden Schismen durch denselben Vorwurf, der ihnen gegenüber erhoben wird: die Wahl ohne Klerus und Volk von Rom. Das frühere Schisma wird dann in der Argumentation Bonizos genutzt, um auch den Ausgang des gegenwärtigen Schismas zu beeinflussen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Nachdem Alexander II. gemäß alter Gewohnheit gewählt worden sei, so erklärt Bonizo, habe Wibert von Ravenna eine Verschwörung gegen diesen angezettelt. Die Konspirateure hätten dann eine betrügerische Gesandtschaft zu Kaiserin Agnes geschickt und sie mit Lügen über eine angebliche Patriciuswürde Heinrichs IV. und ein erfundenes Papstwahldekret Nikolaus’ II. getäuscht, sodass die Regentin schließlich einer neuerlichen Papstwahl zugestimmt habe. Außerhalb Roms (nämlich in Basel), ohne Anwesenheit des römischen Klerus und Volkes sei daraufhin Cadalus gewählt worden67. Gegen Clemens III. wird an dieser Stelle also ein Vorwurf erho�ben, den die Anti-Gregorianer ihrerseits gegen Gregor VII. richteten. Die Beschul�digung, durch konspiratives Verhalten die Einigkeit der Kirche zerstört zu haben, greift Bonizo hier auf und reagiert, indem er seinerseits dem Widersacher die Schuld zuweist. Bonizos Liber ad amicum kann demnach regelrecht als Antwort auf heinrizianische Anklagen verstanden werden. Für diese Annahme spricht auch die Tatsache, dass Bonizo in der Schilderung der Vorgänge am Kaiserhof 1061 auf weitere, wesentliche Argumente der anti-gregorianischen Argumentation Bezug nimmt. So thematisiert Bonizo bereits im Zusammenhang mit den schismatischen Papstwahlen das Vorrecht des römischen Patricius und das Papstwahldekret von 105968. Beides behandelt Bonizo wenig später erneut bei der Beschreibung des Ausgangs des Schismas69: Bonizo zufolge sei nämlich Erzbischof Anno von Köln nach dem Staatsstreich von Kaiserswerth70 nach Rom gereist, um dort von Alexander II. Rechenschaft darüber zu erhalten, warum dieser ohne königlichen Befehl gewählt worden sei.
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cum (wie Anm. 2), VI, S. 595: […] imperatrix feminea licentia assensum dedit operi nefario, quale non fuit a die, qua gentes esse ceperunt, ut, ubi nullus clericorum Romanorum vel lai corum interfuit papę electioni, ibi pontifex eligeretur a consimilibus fornicatoribus et symonia cis quive accipiens per manus regis et reginę crucem et papalia insignia, ab aquilone veniret Romam […]. Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2), VI, S. 595. Beides hätten die wibertinischen Verschwörer angeführt, um die Kaiserin Agnes zu überzeugen, so Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2), VI, S. 595: Nam dicebant eorum domi num ut heredem regni ita heredem fore patriciatus et beatum Nicolaum decreto firmasse, ut nullus in pontificum numero deinceps haberetur, qui non ex consensu regis eligeretur. Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2), VI, S. 596f. RI III, 2, 3 (wie Anm. 11), Nr. 252, S. 103f.
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Die Verteidigung Alexanders habe Hildebrand übernommen, der sich auf die alten Dekrete der Väter berufen habe, nach denen dem König das Recht der Papstwahl nicht zustehe (passenderweise hatte Bonizo eben diese Bestimmungen zuvor aufgeführt, sodass sie dem Leser noch präsent sein mussten). Anno wiederum habe daraufhin die Patriciuswürde Heinrichs IV. angeführt. Die damit verbundenen Privilegien habe Gregor jedoch grundsätzlich mit dem Verweis auf die Beschlüsse der Synode des Symmachus von 502 entkräftet. Danach komme keinem Laien irgendein Einfluss in kirchlichen Angelegenheiten zu71. Anno habe sich indes noch uneinsichtig gezeigt und weiter eingewandt, das Dekret Nikolaus’ II. hielte doch ein Königswahlrecht fest. Nach Bonizo habe sich Anno hier jedoch auf ein falsches Dekret bezogen, weshalb Hildebrand ihm nun das „echte“ Dekret Nikolaus’ II. habe entgegenhalten können – das freilich von einem Königswahlrecht nichts wisse72. Anno habe daraufhin Papst Alexander II. gebeten, eine Synode zur Lösung des Schismas einzuberufen, was dieser 1064 in Mantua getan habe. Dort wurde schließlich Alexander II. zum rechtmäßigen Papst erklärt73. Mit diesem imaginierten Streitgespräch präsentiert uns Bonizo eine weitere Möglichkeit, Geschichte als Argument (in einem aktuellen Diskurs) zu verwenden: Alle hier behandelten Polemiken setzen sich mit den Faktoren einer legitimen Papstwahl auseinander, da diese Grundvoraussetzung für ein rechtmäßiges Pontifikat war. So haben sowohl Benzo als auch Beno stets das Eingreifen des deutschen Herrschers als Bestandteil einer legitimen Papstwahl dargestellt. Bonizo nun greift die hierfür angeführten Argumente auf und projiziert sie zurück auf das vergangene Schisma74. Das Cadalus-Schisma wird als Beweis für die Bedeutungslosigkeit der königlichen Approbation angeführt. Gleichzeitig ist die fiktive Disputation im Vorfeld der Synode von Mantua jedoch mehr als ein „Spiegelbild der Auseinandersetzung zwischen Gregorianern und Anti-Gregorianern in der Mitte der achtziger Jahre über die Rechtmäßigkeit des Pontifikats Gregors VII.“75, wie Krause meinte. Denn Bonizo erschafft hier gleichsam einen Präzedenzfall. Die Argumente, die 71 Acta synhodorum habitum Romae, Nr. 3, a. a. 502, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. Ant., 12, Berlin 1894, S. 446–449, hier S. 447f. 72 Wie Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S.194 betonte, konnte sich Bonizo von Sutri nicht vorstellen, dass die Anti-Gregorianer, wenn sie auf dem 1059 von Nikolaus II. anerkannten Kaiserrecht beharrten, letztlich auf dasselbe Dekret anspielten wie Bonizo. Offenbar war ihm nicht bewusst, dass der umstrittene Paragraph echter Bestandteil des Dekrets von 1059 war. 73 RI III, 2, 3 (wie Anm. 11), Nr. 335, S. 148f. 74 Hierzu sowie zu weiteren Rückprojektionen Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 195f. mit Anm. 132. 75 Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 195.
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Bonizo gegen Cadalus anführt, wie etwa der Synodalbeschluss von 502, haben allgemeine Gültigkeit. Sie dienen nicht nur der nachträglichen Bewertung des vergangenen Schismas, sondern können von den streitenden Gregorianern auch noch in der Auseinandersetzung mit den Wibertinern genutzt werden. Durch die Rückprojektion wird zudem der Anspruch Heinrichs IV. und seiner Anhänger noch unglaubwürdiger in einer Zeit, in der Gewohnheit und altes Recht entscheidend waren76. Insofern finden nicht nur die Bonizo bewegenden Fragen der Zeit ihren Niederschlag in der Darstellung der Vergangenheit77, sondern Geschichte wird als Argument erkannt, entsprechend gedeutet und instrumentalisiert78. Der Rückgriff auf das Cadalus-Schisma ist ein Beispiel für die Arbeitsweise Bonizos, der anders als Benzo von Alba und Beno das vergangene Schisma nicht nur als ein historisches Beispiel unter vielen anführt, sondern es gleichsam zum Musterbeispiel für die Gegenwart macht. Das vergangene Schisma wird als Präzedenzfall verwendet, um zu beweisen, dass nicht die Beteiligung von König oder Kardinälen entscheidend ist für eine rechtmäßige Papsterhebung, sondern allein die Wahl durch Klerus und Volk. Bonizo stellt den anti-gregorianischen Vorstellungen das gregorianische Wahlideal entgegen, er reagiert insofern auf konkrete wibertinische Argumente. Der Liber ad amicum kann folglich als gregorianische Antwort auf die Argumentation der Gegenseite verstanden werden. * Während Bonizo und die übrigen hier vorgestellten Quellen im direkten Umfeld der hitzig geführten Debatte um die Rechtmäßigkeit der Pontifikate Wibert-Clemens’ und Gregors entstanden sind, liegt für den nächsten zu behandelnden Autor der Beginn des Konflikts bereits einige Jahre zurück. Zwischen 1096 und 1099 schrieb Bischof Ranger von Lucca die Vita seines Vorgängers, des hier schon besprochenen Anselm II. von Lucca79. Dabei bereitete er eine bereits zehn Jahre zuvor entstandene Lebensbeschreibung80 dichterisch auf, die er dabei auch unter Rück76 Zur Methode Bonizos, die Einsetzung Wiberts als klaren Verstoß gegen alte Gewohnheiten zu kennzeichnen Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 60), S. 325. Zum mittelalterlichen Verständnis von „Gewohnheiten“ Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normsystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien 2009. 77 Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 196–198. 78 So auch Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 60), S. 335. 79 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24). 80 Bardone Vita Anselmi, ed. Roger Wilmans, in: MGH SS, 12, Hannover 1856, S. 13–35.
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griff auf Bonizos Liber ad amicum81 um einige Informationen anreicherte82. Gleichzeitig verschob Ranger den Fokus der Biographie, indem er nicht nur Leben und Wirken seines Vorgängers rühmte83, sondern dies in einen Lobgesang der Gregorianer und ihres Sieges über Heinrich IV. einbettete84. Und so ist die Vita Anselmi auch eine Schilderung des gesamten Investiturstreits aus gregorianischer Sicht, geschrieben zu einem Zeitpunkt, als ein Ende absehbar schien85. Aus diesem Grund beginnt das erste Buch der Vita auch mit dem vermeintlichen Beginn der Auseinandersetzung, dem Cadalus-Schisma. Ranger schildert zunächst, wie Cadalus von Parma mit seinen Anhängern Rom belagert habe, wo es in Folge dessen zu großen Unruhen gekommen sei, die Hildebrand beendet habe. An dieser Stelle lässt Ranger Hildebrand eine Rede darüber halten, warum die Reformer den von Heinrich eingesetzten Cadalus nicht anzuerkennen bereit seien86. Moniert wird vor allem die Einmischung des Königs bei der Besetzung der Cathedra Petri, die als römische Angelegenheit verstanden wird. Denn das Reich Christi, das zurückgehe auf die Apostel Petrus und Paulus, sei dem weltlichen Reich übergeordnet87. Entsprechend habe bereits Konstantin der Große Rom aufgegeben und Papst Silvester I. übertragen. Darüber hinaus habe er auch verfügt, dass es unmöglich sei, sich in die Angelegenheiten der Bischöfe einzumischen, nam non est hominis ponere iura diis88. Insbesondere der König habe kein Recht, auf die Bischöfe und ihre Wahlen einzuwirken, da er über keinerlei sakra-
81 Alfred Overmann, Die Vita Anselmi episcopi des Rangerius, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 21 (1896), S. 401–440, hier S. 419 mit Anm. 1. 82 Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 933. 83 Overmann, Vita (wie Anm. 81), S. 407 hat herausgearbeitet, dass sich Ranger bei der Darstellung Anselms nahezu ausschließlich an der bisher bestehenden Vita orientierte. 84 Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 933; Overmann, Vita (wie Anm. 81), S. 406f. 85 Für Ranger ist die Auseinandersetzung an Gregor VII. geknüpft, wie Overmann, Vita (wie Anm. 81), S. 407 zeigen konnte. 86 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 137–266, S. 1160–1162. 87 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 147–158, S. 1160. Zum Vorrang der geistlichen Macht in der Anschauung der Reformer Johannes Laudage, Priesterbild und Reformpapsttum im 11. Jahrhundert, Köln, Wien u. a. 1984 (Archiv für Kulturgeschichte. Beiheft, 22), S. 136–138; Wolfgang Stürner, Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 11), S. 137f. 88 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 168, S. 1160. Ähnlich auch Bonizo, Liber ad amicum (wie Anm. 2), II, S. 574.
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mentale Würde verfüge89. Aus diesen Gründen kritisierte Hildebrand im Folgenden die simonistische Einsetzung des Cadalus scharf und betonte kontrastierend dazu die Rechtmäßigkeit des von Gott gegebenen Alexanders II.90, der sich schließlich in der Darstellung Rangers auch zügig durchzusetzen vermag91. Die hier besprochene Passage zeigt, dass auch nach Auffassung Rangers die rechtmäßige Einsetzung unerlässliche Voraussetzung eines legitimen Pontifikats war. Dabei lässt er Hildebrand nicht nur Alexander II. verteidigen, sondern indirekt und späteren Vorwürfen vorgreifend92 auch sich selbst93. Das spricht dafür, dass auch Ranger die Argumente der Gegner Gregors kannte und in seiner Schrift auf diese reagierte. Dabei lassen sich im Vergleich zu den bisher untersuchten Schriften einige Unterschiede in der Vorgehensweise feststellen. Im Gegensatz zu Bonizo etwa greift Ranger die Argumente für die Mitwirkung des Königs bei Papstwahlen nicht explizit auf, sondern schmettert derlei Ansprüche ganz prinzipiell mit dem Hinweis auf die historische Überlegenheit Roms ab94. Insgesamt fällt seine Schilderung der Vorgänge im Vergleich so allgemein und wenig detailliert aus, dass Alfred Overmann annahm, Ranger sei nicht sonderlich gut über das Cadalus-Schisma informiert gewesen95. Dass man aber ausgerechnet in Lucca nicht im Bilde war, erscheint nur wenig überzeugend, immerhin war Alexander II. hier zuvor Bischof gewesen. Doch anders als Bonizo schrieb Ranger in einer Situation, in der die gregorianischen Polemiker sich nicht mehr vornehmlich darauf konzentrieren mussten, ihre Position argumentativ zu stärken, sondern bereits die vergangenen Ereignisse in ein gregorianisches Deutungsmuster einzubinden versuchten. 89 Vielmehr habe der Priester, der salbe, die Möglichkeit, über das Königtum zu verfügen, so Hildebrand bei Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 197f., S. 1161: Iamne vides regem de munere pontificali, / Et non de regis munere pontificem? 90 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 263–266, S. 1162: Dic ita; nos vero non formidamus habere / Pontificem, nobis quem dedit ipse Deus; / Quem nisi maluerit patrem sibi rex tuus esse, / Deserat officium, quod sibi Roma dedit. 91 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 267–274, S. 1162f. 92 Zu Vorwürfen der Anti-Gregorianer etwa Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 2540, S. 1210 und auch V. 2293, S. 1205. 93 Strack, Oratorik (wie Anm. 5), S. 138 sieht insbesondere die inserierten Reden in Nähe der Streitschriften; hierzu auch Gabriella Severino, La Vita metrica di Anselmo da Lucca scritta da Rangerio. Ideologia e genere letterario, in: Cinzio Violante (Hg.), Sant’Anselmo Vescovio di Lucca (1073–1086) nel quadro delle trasformazioni sociali e della riforma ecclesiastica. Atti del convegno internazionale di studio, Lucca 25–28 settembre 1986, Rom 1992 (Nuovi studi storici, 13), S. 223–271, hier S. 248f. 94 Zu Ähnlichkeiten und Unterschieden in der Darstellung des Cadalus-Schismas bei Bonizo und Ranger Overmann, Vita (wie Anm. 81), S. 423. 95 Overmann, Vita (wie Anm. 81), S. 423.
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Das Cadalus-Schisma wird dabei analog zu den Auseinandersetzungen der 1080er Jahre gesehen, Wibert-Clemens erscheint gewissermaßen als Wiederauferstehung des Cadalus: Tu [Deus] Romae Cadulum superasti, sed redivio / Succrescente malo rursus ad arma vocas96. In Anbetracht des lang andauernden Kampfes bestärkt Ranger nun Gleichgesinnte, nicht aufzugeben, wobei er das Ende des Konflikts vor Augen hat97. Schließlich stelle Gott die Rechtgläubigen fortwährend auf die Probe, so Ranger98. Dennoch sei jeder einzelne Kampf gegen das Böse sinnvoll, auch wenn er immer wieder aufs Neue geführt werden müsse: Non quia non valeas semel extirpare malignum Et fraudes eius evacuare semel, Set, quia sic opus est nobis certamine longo, Quod non suffugiat tempore quisque suo, Ut per sudorem caeli rapiamus honorem Et pro milicia sit decus in patria.99 Entsprechend sind die Gegner nach Rangers Verständnis als Diener der Rechtgläubigen zu sehen, denn ohne deren Herausforderungen könnten sich diese Gott gegenüber nicht beweisen100. Die ausführliche Thematisierung von Mühen und Lohn im Kampf für die rechte Sache ist hier nicht als allgemeine Abhandlung zu verstehen, sondern als Stellungnahme zu den Konflikten der 1080er Jahre, die für die Gregorianer nicht immer aussichtsreich schienen. Dennoch behandelt Ranger das wibertinische Schisma nicht als Einzelfall der Geschichte, sondern ordnet es ebenso wie das vorhergegangene Cadalus-Schisma in eine Ereigniskette ein. Beide Episoden werden so als Kontinuität im göttlichen Gefüge gedeutet und veranschaulichen die vermeintlich strukturelle Beschaffenheit der Geschichte. Die Dichotomie von Gut und Böse wird in diesem Weltbild als Grundkonstante begriffen. Dies könnte auch die unversöhnliche Position Rangers erklären, der bis zuletzt eine Aussöhnung von Grego-
96 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 311f., S. 1163. 97 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 315f., S. 1163: Sed labor ad modicum, laus et retribucio longa / Non claudenda die, non habitura modum. 98 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 317f., S. 1164: At vero meritis tandem mercede solute / Precipis, ut veniat, qui nova bella great. 99 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 325–330, S. 1164. 100 Ranger, Vita metrica S. Anselmi (wie Anm. 24), V. 331f., S. 1164: Ergo nec ipsa mihi sine fructu praelia surgunt / Et mihi servus homo, non sibi bella facit.
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rianern und Wibertinern ausschloss101. Im Vergleich zu den bereits besprochenen und früher entstandenen Polemiken wird deutlich, dass in Rangers Vita Anselmi nicht die Argumentation mit historischen Beispielen im Vordergrund steht, sondern ein historischer Deutungsrahmen des sogenannten Investiturstreits bemüht wird. Dies war jedoch offenbar erst möglich, nachdem die hitzigste Phase der Auseinandersetzungen überwunden und ein Ende absehbar schien. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Ranger mit seiner eher auf den grundsätzlichen Disput konzentrierten Argumentation allein stand oder sein Umgang mit historischen Argumenten Ausdruck einer allgemeineren Entwicklung der 1090er Jahre ist, die auch andere Autoren erfasste. Daher ist es naheliegend, die Rezeption und Instrumentalisierung des Cadalus-Schismas in einer weiteren, erst relativ spät entstandenen Quelle zu untersuchen. * Vermutlich noch etwas später als Ranger verfasste der gregorianische Kardinal Deusdedit sein Libellus contra invasores et symoniacos et reliquos scismaticos102. Hierbei handelt es sich um eine polemische Aufbereitung seiner bereits 1086/87 entstandenen Kanonessammlung gegen weltliche Einflussnahme bei der Besetzung kirchlicher Ämter und gegen die Gültigkeit der von Simonisten und Schismatikern gespendeten Sakramente103. Da Clemens III. die Erhebung Gregors VII. gestützt auf das Papstwahldekret angegriffen und so seine eigene verteidigt hatte104, setzte sich Deusdedit unter anderem intensiv mit der kanonischen Papstwahl und dem Papstwahldekret auseinander105. Sein Ziel ist es dabei, die Verbindlichkeit des Dekre101 Ranger von Lucca Liber de anulo et baculo, ed. Ernst Sackur, in: MHG Ldl, 2, Hannover 1892, S. 505–533. 102 Zumindest wurde die Schrift 1097 abschließend überarbeitet, so Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 874. 103 Wattenbach, Holtzmann u. a., Deutschlands Geschichtsquellen 3 (wie Anm. 27), S. 874f. Weiterführend hierzu Emanuel Hirsch, Kardinal Deusdedit zur Laieninvestitur, in: Archiv für katholisches Recht 88 (1908), S. 34–49; Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 207–217 und S. 238–240; Jasper, Papstwahldekret von 1059 (wie Anm. 45), S. 54–57. 104 So Deusdedit, Libellus contra invasores (wie Anm. 25), I, 13, S. 313: Haec tantum contra decretum, cuius se Guibertus auctoritate defendit, ut doceat se esse quod non est nec unquam esse poterit. 105 Deusdedit, Libellus contra invasores (wie Anm. 25), I, 11–13, S. 309–313. Zu diesen Kapiteln Georg Waitz, Weitere Bemerkungen zu dem Decrete des Jahres 1059 über die Papstwahl, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 7 (1867), S. 401–409, hier S. 407; Paul Scheffer-Boichorst, Die Neuordnung der Papstwahl durch Nikolaus II. Texte
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tes zu widerlegen106, wobei auch die Wahl des Cadalus eine wichtige Rolle spielt. So argumentiert Deusdedit folgendermaßen: König und Fürsten hätten nicht länger Anspruch auf besagtes Königswahlrecht, da sie eigenmächtig Cadalus von Parma und später Wibert von Ravenna zum Papst erhoben hätten. Durch diese Akte hätten sie aber selbst das ihnen durch das Papstwahldekret zugesprochene Mitwirkungsrecht eingebüßt, da dort im Übrigen die Wahl durch Klerus und Volk vorgeschrieben werde107. Anders als Ranger erörtert Deusdedit konkrete Argumente der Gegenseite, ähnlich wie es Bonizo getan hatte. Im Gegensatz zu Bonizo aber leugnet Deusdedit ein traditionell bestehendes Königswahlrecht nicht, argumentiert jedoch, Herrscher und Fürsten hätten dieses durch eigenes Fehlverhalten verwirkt. Deusdedit bestreitet weder die Existenz des Papstwahldekrets wie Bonizo es noch tat, noch kritisiert er dessen vermeintlich falsche Interpretation. Seine Ausführungen richten sich viel grundsätzlicher gegen die generelle Gültigkeit des Erlasses von 1059, zumindest insoweit daraus ein Mitspracherecht des Herrschers abgeleitet werden kann108. Im Gegensatz zu den Streitschriften der 1080er Jahre geht es ihm weniger um die individuelle Rechtsposition der konkurrierenden Päpste als vielmehr um eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses von weltlicher und geistlicher Gewalt109. Die Argumentation Deusdedits erfolgt im Vergleich zu seinen Vorgängern auf einer deutlich abstrakteren Ebene. und Forschungen zur Geschichte des Papstthums im 11. Jahrhundert, Straßburg 1879, S. 93 und 102f.; Eugen Fischer, Das Patriziat Heinrichs II. und Heinrichs IV., Berlin 1908 (Diss. Berlin), S. 47–49; Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 207–213; Jasper, Papstwahldekret von 1059 (wie Anm. 45), S. 54–57. 106 Hierzu Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 209f. 107 Deusdedit, Libellus contra invasores (wie Anm. 25), I, 11, S. 310: Deinde quia, cum in eodem decreto cautum esset , ut Romani pontificis electio a Romano clero et populo agere tur et postea regi notificaretur, ipsi prefatura violantes decretum elegerunt, quod eis non lice bat, prius Cadalaum Parmensem, postea Guibertum Ravenatem, induentes eos apostolicis insignibus; vocantes apostolicos apostatas Antichristi precursores. 108 Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 211. Krause sieht in dieser grundsätzlichen Behauptung auch das Hauptargument Deusdedits‘. Dagegen wandte Friedrich Kempf, Pier Damiani und das Papstwahldekret von 1059, in: AHP 2 (1964), S. 73–89, hier S. 86 ein, dass Deusdedit in den vorhergehenden Kapiteln 1–9 dennoch sehr ausführlich die Berechtigung der weltlichen Herrscher, in die Papstwahl einzugreifen, bestreite. Die ersten drei Argumentationsstränge der Diskussion des Papstwahldekrets seien folglich keine bloße Spielerei. Ebenso Jasper, Papstwahldekret von 1059 (wie Anm. 45), S. 55 mit Anm. 218. 109 Krause, Papstwahldekret (wie Anm. 54), S. 208. Hierzu auch Alfons Becker, Papst Urban II. (1088–1099), Bd. 2: Der Papst, die griechische Christenheit und der Kreuzzug, Stuttgart 1988 (MGH Schriften, 19/2), S. 321 und zuletzt Leidulf Melve, Public Sphere (wie Anm. 6), S. 610.
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Zwar argumentierte Ranger in seiner Vita Anselmi auch vergleichsweise grundsätzlich mit der Freiheit der Kirche, wandte dieses Prinzip aber noch deutlich individueller und situationsbezogener an als Deusdedit. Hier zeichnet sich in der Rückschau eine Entwicklung ab, die sich nach dem Ende des wibertinischen Schismas noch verstärken sollte110. Nach dem Tod Clemens’ III. ging es in den Polemiken fortan nicht mehr um den Beweis der Rechtmäßigkeit EINES Papstes, vielmehr wurden zunehmend grundsätzliche Überlegungen zur Legitimität einer beliebigen Papstwahl angestellt. * Insgesamt fällt im Hinblick auf die gregorianischen Schriften die Bandbreite und hohe Flexibilität auf, mit der Geschichte als Argument eingesetzt wird, wobei sich hierin zum Teil sicher auch die unterschiedlichen Schreibsituationen der Autoren widerspiegeln. Während Bonizo in einer für die Gregorianer katastrophalen Situation tätig wird, in der es ihm darum ging, den Kampf für die gregorianische Sache aufrecht zu erhalten, können Ranger und Deusdedit bereits mit größerem Abstand und einiger Zuversicht schreiben. Immerhin hatte sich Urban II. seit 1094 in Rom behaupten können. Bemerkenswert ist weiter, dass die beiden anti-gregorianischen Schriften das Cadalus-Schisma als historisches Beispiel in der eigenen Argumentation anführen, ohne die vergangene Auseinandersetzung zum Präzedenzfall zu machen – das wäre, vergegenwärtigt man sich den Ausgang des Schismas, auch nicht besonders ratsam. Die Frage ist aber, warum die anti-gregorianischen Polemiker das unrühmliche Cadalus-Schisma nicht einfach übergingen. Denkbar wäre, dass sie immer noch von der Rechtmäßigkeit Cadalus’ überzeugt waren. Insbesondere in Bezug auf den persönlich stark involvierten Benzo von Alba scheint dies plausibel. Denkbar wäre aber auch, dass die anti-gregorianischen Polemiker das Cadalus-Schisma schlichtweg nicht einfach übergehen konnten, weil für die Zeitgenossen ein Analogieschluss zum aktuellen Schisma zu naheliegend war. Hierfür würde etwa die Selbstverständlichkeit sprechen, mit welcher Anselm von Lucca die beiden gegnerischen Päpste gleichsetzt. Dann aber konnten die Anti-Gregorianer das Cadalus-Schisma nicht außer Acht lassen, sondern mussten versuchen, es möglichst geschickt in die eigene Argumentation einzubinden. 110 Melve, Public Sphere (wie Anm. 6), S. 88. Ein schematischer Überblick der von Melve postulierten Phasen der Polemik des Investiturstreits findet sich bei Melve, Public Sphere (wie Anm. 6), S. 641.
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Aber auch die Gregorianer konnten nicht die aus dem Cadalus-Schisma erwachsenden Angriffe auf ihre Position unberücksichtigt lassen. In seinem Liber ad amicum kontert Bonizo wibertinische Argumentationslinien, indem er diese aufgreift und geschickt spiegelt. Wibert-Clemens erscheint als Verschwörer, der selbst nach anti-gregorianischer Logik des Petrusamtes unwürdig sein musste. Darüber hinaus werden alle heinrizianischen Argumente für eine königliche Approbation der Papstwahl durch historische Beispiele und Präzedenzfälle entkräftet. Ähnliches gilt auch für den erst 1097 schreibenden Kardinal Deusdedit, wenngleich sich seine Argumentation grundlegend von der Bonizos unterscheidet. Deusdedit konstruiert das Cadalus-Schisma in seinem Libellus nicht als Präzedenzfall und nutzt es auch nicht als historisches Beispiel für eine alte Gewohnheit. Vielmehr unternimmt es Deusdedit, daraus grundsätzliche Rechtsauffassungen zu gewinnen, die allgemeine Maßßstäbe für die Rechtmäßigkeit einer Papstwahl bilden. Passenderweise in diesem Fall zugunsten Urbans II. Wie bei Bonizo richtet sich die Argumentation gegen ein von der Gegenseite postuliertes Wahlideal. Sie kann daher als Beitrag in einem konfliktgeladenen Diskurs verstanden werden, als Reaktion auf Argumente, die auf der Gegenseite ausgetauscht und verbreitet wurden. Vergleichbar hatte wenige Jahre zuvor auch bereits Ranger von Lucca argumentiert, der sich so einerseits in die Argumentationslinie der anderen gregorianischen Autoren einordnet, andererseits aber mit seiner Ausrichtung auf einen umfassenden Deutungsrahmen für die große Auseinandersetzung seiner Zeit dem Historischen als Argument eine weitere Facette hinzufügen konnte. Auch wenn wir nur selten Belege für einen unmittelbaren Dialog der auf uns gekommenen Schriften finden, sprechen sie doch für einen intensiv und ideenreich geführten Kampf der Worte um die rechte Ordnung der Welt. Interessant ist hierbei, wie öffentlichkeitsrelevante Themen in einer auf allgemeine Anerkennung ausgerichteten Art und Weise behandelt werden. Angesichts der Vielschichtigkeit, mit der das Cadalus-Schisma in dieser Auseinandersetzung gleichsam als rhetorische Waffe eingesetzt und geformt wurde, dürfte es sich lohnen, auch unsere Vorstellungen vom Schisma des Cadalus selbst neu zu bewerten.
Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts Überlieferung und Gebrauch zur Zeit der papstgeschichtlichen Wende Klaus Herbers
I. Einführung War Papst Nikolaus I. (858–867) in der Mitte des 9. Jahrhunderts ein großer Papst, weil Autoren zur Zeit der Kirchenreform aus seinen Briefen zitierten? Solche oder ähnliche Bemerkungen kann man immer wieder lesen1, denn die Nutzung von Briefen und Schriften bleibt ein wichtiger Indikator, um der Bedeutung historischer Personen näherzukommen, auch wenn es weitere Kriterien für historische Größe gibt2. Dazu müssten aber im Rahmen dieses Bandes auf jeden Fall zusätzliche Aspekte treten: Wie änderten sich die Schrift- und Kommunikationsformen? Auf mein Thema bezogen könnte das heißen: Was änderte sich bei der Rezeption von Papstbriefen, und auf welchen Wegen kamen Passagen, Zitate, Anklänge in die Werke der Reformer des 11. Jahrhunderts? Alte und große Fragen, für die ich allenfalls Teilantworten bereitstellen kann. Zu berücksichtigen ist dabei: Briefe in Originalüberlieferung aus dem frühen Mittelalter gibt es praktisch nicht. Ihre Überlieferungschancen liegen in der Regel darin3, in eine Brief- oder Kanonessammlung bzw. in ein historiographisches oder anderes Werk integriert worden zu sein4. Das
1 Klassisch zum Beispiel Ernst Perels, Papst Nikolaus I. und Anastasius Bibliothecarius. Ein Beitrag zur Geschichte des Papsttums im 9. Jahrhundert, Berlin 1920, S. IVf. und 170f. Für Hilfe und Diskussionen danke ich Frau Dr. Carola Föller (Erlangen). 2 Vgl. zum Beispiel Rudolf Schieffer, Gregor VII. Ein Versuch über die historische Größe, in: HJb 97/98 (1978), S. 87–107, bes. S. 87f. 3 Arnold Esch, Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240 (1985), S. 529–570; sowie Neudruck in: Arnold Esch, Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, S. 39–69. 4 Giles Constable, Letters and letter-collections, Turnhout 1976 (Typologie des sources du moyen âge occidental, 17).
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gilt für das Briefcorpus des Bonifatius5, des Codex Carolinus6 oder der Papstbriefe des 9. Jahrhunderts, mit denen ich mich hier beschäftigen möchte. Dabei ist die Grenze zwischen Brief- und Kanonessammlungen7 vielfach fließend. Reformer des 11. und 12. Jahrhunderts zitierten häufig aus Briefen einiger weniger Päpste des 9. Jahrhunderts. Besonders wichtig ist Nikolaus I., den der bekannte Gratian 116-mal ausschreibt. Damit steht dieser Papst in der Rezeption quantitativ direkt nach Gregor dem Großen (590–604)8. Aber die Zitate verteilen sich keineswegs gleichmäßig auf die überlieferten Briefe. Wie also nutzten die Reformer im 11./12. Jahrhundert dieses Material? Wie wurden zum Beispiel die neuen Themen der Stellung Roms als prima sedes aufgegriffen? Welche Formen der Schriftlichkeit eigneten sich für die neue Kommunikation, die auf Altes zurückgriff ? Da die Briefe – anders als Urkunden – fast nie in Einzelüberlieferung vorliegen, schließt sich die einleuchtende, aber nicht einfach zu beantwortende Frage an, welche Briefsammlungen Reformer des 11. Jahrhunderts genutzt haben könnten. Der Beitrag nutzt neben den eigenen Studien und Regesten zu den Päpsten der späten Karolingerzeit
5 Bonifatius Briefe. Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Michael Tangl, Berlin 1916 (MGH Epp. sel. 1); Deutsche Übersetzung: Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten, bearb. von Reinhold Rau (mit einer Auswahlbibliographie von Lutz E. von Padberg), Darmstadt ³2011 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 4b). Vgl. hierzu Klaus Herbers, Die Päpste und die Missionierung. Strukturen und Dokumentationsformen, in: Chiese locali e chiese regionali nell’alto medioevo. Spoleto 4–9 Aprile 2013, hg. v. Fondazione Centro italiano di studi sull’alto Medioevo, Spoleto 2014 (Settimane di studio della fondazione centro italiano di studi sull’alto medioevo, 61), S. 163–188. 6 Vgl. hierzu Achim Thomas Hack, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert, 2 Bde., Stuttgart 2006 (Päpste und Papsttum, 35, 1–2); Tina Orth-Müller, Philologische Studien zu den Papstbriefen des Codex epistolaris Karolinus, Bern 2013, sowie Florian Hartmann, Hadrian I. (772–795). Frühmittelalterliches Adelspapsttum und die Lösung Roms vom byzantinischen Kaiser, Stuttgart 2006 (Päpste und Papsttum, 34). 7 Vgl. hierzu den Beitrag von Lotte Kéry in diesem Band. 8 Vgl. Detlev Jasper, The Beginning of the Decretal Tradition. Papal Letters from the Origin of the Genre through the Pontificate of Stephen V, in: Detlev Jasper, Horst Fuhrmann, Papal Letters in the Early Middle Ages, Washington, D. C. 2001 (Hist. of Medieval Canon Law, 2), S. 3–133, hier S. 111; Wilfried Hartmann, Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht, Hannover 2008 (MGH Schriften, 58), S. 34.
Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts
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außerdem die Ergebnisse der jüngsten Editionen zu den Konzilien dieser Epoche und den damit zusammenhängenden Schriften9. Zunächst sei nach den Überlieferungsmöglichkeiten von Papstbriefen des 9. Jahrhunderts generell gefragt (II), dann werden die wichtigsten Sammlungen mit Nikolausbriefen kurz skizziert (III). Anschließend folgt ein Dreischritt zur Beantwortung meiner Fragen: am Beispiel der nur fragmentarisch überlieferten Briefe bei Reformern (IV), an den Texten zum Streit mit Byzanz und der prima sedes (V) sowie an besonders rezeptionsgeeigneten Briefformen (VI). Abschließend ergeben sich einige Schlussfolgerungen, aber vor allem auch offene Fragen (VII).
II. Überlieferungschancen und Überlieferungsträger von Papstbriefen des 9. Jahrhunderts Drei Überlieferungsträger scheinen mir für die Chancen zur Weitergabe von Papstbriefen des 9. Jahrhunderts außer den noch genauer vorzustellenden Briefsammlungen besonders wichtig: Historiographie, Register, Kanonessammlungen. Historiographie und Traktate spielen eine wichtige Rolle10: Zentrale Papstbriefe des 9. Jahrhunderts, die vor allem, aber nicht nur mit Auseinandersetzungen im Mittel- und Westfrankenreich zusammenhingen, sind beispielsweise in den Annales Bertiniani, in der Chronik Reginos von Prüm oder in den Annales Fuldenses als Inserte überliefert. Manche dieser Historiographen, wie Regino oder Hinkmar, verfassten weiterhin Traktate oder Rechtssammlungen, in denen ebenfalls Papstbriefe in Vollfassung oder als Inserte oder Zitate erscheinen11. Das Verhältnis oder die Abhängigkeit dieser 9 Vgl. Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751–918 (926/962), Bd. 4: Papstregesten 800–911, Teil 2: 844–872, Lieferung 1: 844–858, bearb. von Johann Friedrich Böhmer und Klaus Herbers, Köln u. a. (Reg. Imp., 1); Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751–918 (926/962), Bd. 4: Papstregesten 800–911, Teil 2: 844–872, Lieferung 2: 858–867, bearb. von Johann Friedrich Böhmer und Klaus Herbers, Köln u. a. 2012 (Reg. Imp., 1); Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843– 859, ed. Wilfried Hartmann, Hannover 1984 (MGH Conc., 3); Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860–874, , ed. Wilfried Hartmann, Hannover 1998 (MGH Conc., 4); Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 875–909, , ed. Wilfried Hartmann u. a., Hannover 2012 (MGH Conc., 5). 10 Vgl. zum Beispiel die Untersuchungen von Bruno Dumézil zu den Briefen im Werk Gregors von Tours, in: Thomas Deswarte, Klaus Herbers u. a. (Hg.), La lettre dans son environnement (Publications de la Casa de Velazquez). Erscheint voraussichtlich 2016. 11 Vgl. die einzelnen Belege in Reg. Imp. I/4/2. Auf die Formen der Historiographie, die weitgehend Urkunden oder Briefe integriert, wie zum Beispiel im 12. Jahrhundert die Historia Compostellana, gehe ich hier nicht ein.
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Klaus Herbers
Überlieferungen zu anderen Sammlungen ist allerdings nicht immer ganz einfach zu bestimmen. Zuweilen verfügen wir über Parallelüberlieferungen in Briefsammlungen, die in den meisten Fällen kaum Abweichungen erkennen lassen. Neben diesen Briefspuren in den Werken nördlich der Alpen tritt als römischer Überlieferungsträger der Liber pontificalis12. Bei manchen der hier interessierenden Papstbriefe sind durchaus Auszüge in die Viten integriert, so das Dekret für die Ansiedlung der Korsen in der Vita Leos IV. (847–855), um nur ein Beispiel zu nennen13. Auf diese Verflechtungen hat unter anderem schon Detlev Jasper mit seiner Untersuchung der Papstgeschichte des Pseudo-Liutprand verwiesen, die Historiographie und Decreta gleichermaßen berücksichtige14. Die Möglichkeiten zur Einfügung dürften auch damit zusammenhängen, dass die Schreiber der Viten wohl Zugang zum Vestiarium ebenso wie zu den päpstlichen Registern gehabt haben dürften15. Zuweilen ist der Verweis auf das Register sogar explizit, wie eine Passage in der Nikolausvita zur Entsendung von zwei Legaten erkennen lässt. Die Stelle erläutert, dass die von Legaten transportierten Briefe in ein (römisches) Register eingetragen wurden: sicut in epistolis quas idem legati Sardiniam deportaverunt, regesto ipsius praesulis continetur insertis16, heißt der entscheidende Passus. 12 Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, 2 Bde., ed. Louis Duchesne, Paris 1886–1892, Bd. 3 ed. Cyrille Vogel, Paris 1957. 13 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 263 und die dort zitierte Literatur. 14 Detlev Jasper, Die Papstgeschichte des Pseudo-Liudprand, in: DA 31 (1975), S. 17–107. 15 Vgl. Klaus Herbers, Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit, Stuttgart 1996 (Päpste und Papsttum, 27), S. 41–48; Klaus Herbers, Agir et écrire. Les actes des papes du IXe siècle et le Liber pontificalis, in: François Bougard, Michel Sot (Hg.), Liber, gesta, histoire. Écrire l’histoire des évêques et des papes, de l’Antiquité au XXIe siècle. Actes du colloque international organisé au Centre d’Études Médiévales d’Auxerre les 25, 26 et 27 juin 2007, Turnhout 2009, S. 109–126, hier S. 113f. und die weiteren Studien in diesem Band. Vgl. jüngst auch, besonders zum 8. Jahrhundert, Clemens Gantner, Freunde Roms und Völker der Finsternis. Die päpstliche Konstruktion von Anderen im 8. und 9. Jahrhundert, Köln u. a. 2014, S. 24f. 16 Liber pontificalis, ed. Duchesne (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 162: Tunc mellifluos et prevari cantibus, a sancto Spiritu doctus, terribiles suae praedicationis quae in universo orbe micabat componens apices, missos etiam strenuos, Paulum Populoniensem episcopum et Saxu, venerabilis monasterii sanctorum Iohannis et Pauli abbatem, accersiens, misit eos illuc, ut eandem gentem Sardorum a tanto revocarent errore. Quibus euntibus, valde quosdam ex eis invenerunt adver sos disciplinae, monita recipere contempnentes. Verumtamen secundum preceptionis summi presulis auctoritatem, surdos excommunicaverunt ac anathematizaverunt auditores, quousque malum incestarum effugerent copularum penitentiae medicamina requirentes, sicut in epistolis quas idem legati Sardiniam deportaverunt, regesto ipsius praesulis continetur insertis. Et sic Romam post affluentes praedicationes datas reversi sunt […]; vgl. Reg. Imp. I/4/2, Nr. 716.
Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts
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Das führt zu der sicher grundsätzlich wichtigsten Form päpstlicher Briefüberlieferung, den Registern der Päpste dieser Zeit, von denen wir wissen, aber nur indirekte Spuren besitzen. Am eindeutigsten ist die Teilabschrift des Registers Johannes’ VIII. (872–882), bei der man vielleicht sogar von einer Briefsammlung sprechen kann, obwohl die Briefe ganz offensichtlich hier nicht immer in voller Länge aufbewahrt wurden. Häufiger sind Indizien in späteren Zeugnissen oder in Kanonessammlungen zu finden. Und auch die sogenannten intermediären Sammlungen wie die Collectio Britannica gelten in der Forschung teilweise als Überlieferungen, die ohne eine systematische Anordnung ihres Materials unter anderem auf die päpstlichen Register zurückgehen könnten17, während die Kanonessammlungen in der Regel verschiedenen Interessen, u. a. denjenigen der Sammler, geschuldet sind.
III. Briefsammlungen Die Aufzeichnung und die Aufbewahrung in größeren Briefsammlungen zeigen, dass in diesen Handschriften die Briefe auch häufig mit Materialien zu Konzilien oder Rechtssammlungen zusammen überliefert wurden. Für die Anlage von Briefsammlungen mit Material des 9. Jahrhunderts waren vor allem die Interessen und Bedürfnisse einiger mittelbar oder unmittelbar betroffener Zeitgenossen ausschlaggebend18: Die Rezeption der Nikolausbriefe begann nicht erst im 11. Jahrhundert, sondern sie war fast zeitgenössisch. Für den Überblick bietet sich eine Tabelle mit einigen wichtigen solcher Sammlungen mit Nikolausbriefen an. 17 Vgl. hierzu Herbers, Leo (wie Anm. 15), S. 51–58, zur Abfassungszeit und Entste hungsort vgl. Christof Rolker, Canon Law and the Letters of Ivo of Chartres, Cambridge 2010 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought), S. 92–100 und Rolker, History and Canon Law in the Collectio Britannica. A new date for London, BL Add. 8873, in: Bruce Clark Brasington (Hg.), Bishops, Texts and the Use of Canon Law around 1100. Essays in honour of Martin Brett, Aldershot 2008 (Church, Faith, and Culture in the Medieval West), S. 141–152, hier S. 141–148. 18 Zu den folgenden Überlegungen vgl. Ernst Perels, Die Briefe Papst Nikolaus’ I. Teil 1, in: NA 37 (1912), S. 535–586; Perels, Die Briefe Papst Nikolaus’ I. Teil 2, in: NA 39 (1914), S. 43–153, Briefe I und II; Jasper, Beginning (wie Anm. 8), S. 3–133, zu Nikolaus S. 110–125; fortlaufend sind auch die Verzeichnisse zur handschriftlichen und kanonistischen Überlieferung bei Reg. Imp. I/4/2, S. 367–380 zu vergleichen. Zu Ados Sammlungen vgl. auch Gallia pontificia III: Province écclésiastique de Vienne, Bd. 1, Diocèse de Vienne, Appendix: Regnum Burgundiae, bearb. von Beate Schilling, Göttingen 2006, S. 353 und 361; sowie jüngst Nathanael Nimmegeers, Évêques entre Bourgogne et Provence. La province ecclésiastique de Vienne au Haut Moyen Âge (Ve–XIe siècle), Rennes 2014.
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Klaus Herbers
Signatur
Entstehungs zeit
Bibl.-Heimat
Thema
Zahl der Briefe, Bemerkungen
Briefbuch Ados von Vienne
10
Vat. Reg. lat. 566
10. Jh.
Laon, Bibliothèque Municipale 407
9. Jh.
Reims
Zu dem von Ebo von Reims abgesetzten Kleriker
11 Auftraggeber Hinkmar von Reims
Rom, Bibl. Vallicell. D 38
9. Jh.
Reims
Auseinandersetzung um Bischof Rothad von Soissons
12 Papstschreiben zu Rothad, pseudoisidorische Texte
Paris, Ms. lat. 3854
12. Jh.
Auseinandersetzung um Bischof Rothad von Soissons
16 Pseudoisidorische Texte, Nikolausbriefe
Paris, Ms. lat. 1557
Zwischen 872 und 882
Laon
Westfränkisches Reich
43 Nikolausbriefe
Paris, Ms. lat. 1458
9. Jh.
Beauvais?
Westfränkisches Reich
15
Rom, Vat. lat. 3827
9. Jh.
Beauvais
3 Nikolausbriefe (und 2 Briefe Leos IV.)
Von diesen Überlieferungen, deren Ursprung fast vollständig im westlichen Frankenreich, aber auch im burgundischen Raum liegt (kleinere Sammlungen fehlen hier), möchte ich unten (Kap. V und VI) die Handschrift Cod. Vat. 3827 exemp� larisch in den Blick nehmen, die im 9. Jahrhundert in Beauvais angelegt wurde, zuvor aber noch Rezeptionsformen und -wege aufzeigen.
IV. Rezeptionsformen und -wege, von Regino zu den Reformern des 11. Jahrhunderts Inwiefern wurden die weitgehend im Westfranken- und Mittelreich angelegten Sammlungen zu Ausgangspunkten späterer Nutzung? Die Frage ist generell nur schwer zu beantworten19. Gab es einen Weg von den Brief- in die kanonistischen 19 Von einigen Papstbriefen des 9. Jahrhunderts gibt es fast ausschließlich kanonistische Überlieferungsspuren, von Hadrian II. (867–872) fast nur kopiale, für die Briefe von Papst Nikolaus I. haben wir beides. Allerdings kennen wir bei ihm gleichwohl eine Vielzahl von Brieffragmenten nur aus kanonistischen Sammlungen.
Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts
325
Sammlungen? Viele Zusammenstellungen von Briefen waren offensichtlich zunächst dazu gedacht, Material für die verschiedenen, auf mehreren Konzilien immer wieder behandelten Streitfragen vorzuhalten. Dass Papstbriefe hier eine Rolle spielten, zeigen nicht nur die verschiedenen Konzilsakten selbst, sondern auch die zahlreichen Traktate und Schriften Hinkmars von Laon, Hinkmars von Reims, aber auch die Hinweise auf die heute nicht mehr existierenden Libelli wie zum Streit in Le Mans20. Die Verlautbarungen Nikolaus’ I. gingen anfangs nur zögerlich in die kanonis� tischen Sammlungen ein21. Erwiesen ist inzwischen, dass neben der Rezeption in den Sammlungen des Westfrankenreichs sich in den Konzilsakten von Worms, also im östlichen Frankenreich, schon 868, ein Jahr nach dem Tod Nikolaus’ I., frühe Rezeptionsspuren von Nikolausbriefen finden22. Es folgen wenig später weitere im Werk Hinkmars von Laon, dem Pittaciolus, im Westfrankenreich23. Bei Regino von Prüm stehen in seinem Sendhandbuch De synodalibus causis am Ende des 9. Jahrhunderts Zitate aus Nikolausbriefen24, die wohl aus einem heute verlorenen Trierer Codex stammen (vgl. die Hs. Vallicelliana J. 76)25. Später lassen sich weitere Etappen der Rezeption über Burchard von Worms und die Collectio duodecim partium nachweisen26. Interessanterweise scheinen zunächst diejenigen Passagen die Kanonisten beschäftigt zu haben, die Ehebestimmungen und ggf. in diesem Zusammenhang anfallende Bußen betrafen. Erst im 10./11. Jahrhundert traten verstärkt Zitate hinzu, die den päpstlichen Vorrang und Primat unterstrichen. Wie ist das Verhältnis von Briefsammlungen und kanonistischer Rezeption für die Nikolausbriefe? Will man zunächst methodisch negativ vorgehen, so könnte man schauen, welche Reformer für die knapp zwanzig Brieffragmente Nikolaus’ I., die nur durch eine Kanonessammlung überliefert sind, verantwortlich zeichnen. Vor allem sind dies immer wieder die Collectio Tripartita und das Decretum, die 20 Vgl. vor allem Hinkmar von Reims, De divortio Lotharii Regis et Theutbergae Reginae, ed. Letha Böhringer, Hannover 1992 (MGH Conc. 4, 1); Hinkmar von Laon, Pittaciolus, ed. Rudolf Schieffer, Hannover 2003 (MGH Conc. 4, 2), S. 57–97; Hinkmar von Laon, Rotula prolixa, ed. Rudolf Schiefer, Hannover 2008 (MGH Conc. 4, 2), S. 363–419; zu Le Mans vgl. Reg. Imp. I/4/2, Nr. †681. 21 Jasper, Beginning (wie Anm. 8 ), S. 116–125. Zu diesem Abschnitt vgl. die Zusammenstellung der kanonistischen Überlieferung bei Reg. Imp. I/4/2, S. 377–380. 22 Vgl. MGH Conc. 4 (wie Anm. 9), S. 291–307. 23 MGH Conc. 4, 2 (wie Anm. 20), S. 91 und öfter. 24 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 843. 25 Vgl. Nikolaus Staubach, Das Herrscherbild Karls des Kahlen. Formen und Funktionen monarchischer Repräsentation im früheren Mittelalter, Teil 1, Diss. masch. Münster 1981, S. 154–167. 26 Vgl. Jasper , Beginning (wie Anm. 8), S. 117–120.
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man beide lange Zeit Ivo von Chartres zugewiesen hat27. Von den römischen Sammlungen ragt diejenige des Deusdedit zumindest mit vier Fragmenten heraus28. Hier nutzt Deusdedit Nikolaus als Gewährsmann für die Charakterisierung päpstlicher Aufgaben mit dem Verweis auf die Tat des Petrus gegenüber Malchus oder zitiert die Frage Nikolaus’ I. an die Kirche von Nona, ob diese ohne Rat des apostolischen Stuhles geführt werden könne. Deusdedit kennt auch ein Schreiben an Erzbischof Johannes VII. von Ravenna, in dem es darum geht, dass ein Bischof seine Kirche an Festtagen – zumal an Ostern – nicht verlassen dürfe29. Die Texte selbst, die sich auf kurze Zitate beschränken, also gleichsam das rechtliche Substrat formulieren, lassen zu den Anlässen und Formen der Rezeption kaum weitere Schlüsse zu. Ähnlich erfolglos blieb bisher der Versuch, die weiteren von diesen Sammlungen verwendeten Nikolauszitate in einen zwingenden Zusammenhang zu den genannten westfränkischen Sammlungen zu stellen30. Es fällt aber bei der Sichtung der nur kanonistisch überlieferten Stücke auf, dass die lokalen Schwerpunkte nördlich und südlich der Alpen durchaus deutlich werden und dies bei der Rezeption eine Rolle gespielt zu haben scheint.
V. Der Streit mit Byzanz und die Konturierung Roms als prima sedes Geht man in einem zweiten Schritt von den Sammlungen aus, so ist zunächst zu unterstreichen, dass in der Reformzeit des 11. Jahrhunderts aus den Schreiben Nikolaus’ I. in Auseinandersetzung mit Byzanz in größerem Maße zitiert wurde. Der Briefwechsel im sogenannten photianischen Schisma, auf das hier in sachlicher Hinsicht nicht näher eingegangen werden soll31, schloss auch den Streit um die Missionierung und kirchliche Zugehörigkeit Bulgariens ein32. Die entsprechenden 27 Vgl. hierzu Rolker, Canon Law (wie Anm. 17), S. 100–126. 28 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 428, 461, 480, 482. 29 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 428, 461, 480. 30 Dafür wäre eine umfangreiche Quellenanalyse nötig, die für diesen Beitrag leider noch nicht unternommen werden konnte. 31 Klassisch: František Dvornik, The Photian Schism. History and Legend, Cambridge 1948. Neudruck 1970; Daniel Stiernon, Konstantinopel IV, Mainz 1975 (Geschichte der ökumenischen Konzilien, 5) = dt. Fassung von Constantinople IV, Paris 1967. 32 Klaus Herbers, 866. Bulgarien zwischen Ost- und Westkirche, in: Matthias Stadelmann, Lilia Antipow (Hg.), Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 77), S. 15–25; sowie Herbers, Päpste und die Missionierung (wie Anm. 5), bes. S. 173–176.
Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts
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Schreiben kennen wir heute in ihrem Volltext aus einer im Westfrankenreich angelegten Briefsammlung. Aus Beauvais stammt der älteste Teil der Sammlung mit sechzehn Briefen zu diesem Themenkomplex im Cod. Vat. lat. 3827, der im 9. Jahr�hundert zusammengestellt wurde. Er enthält bis zum folio 125 Material zu gallischen Konzilien in der Form der Collectio Sancti Amandi; dann von folio 126 bis 208 die Briefe Nikolaus’ I. in der Auseinandersetzung mit Byzanz33. Die umfangreichen Responsa ad consulta Bulgarorum, 106 Kapitel, die Nikolaus dem Bulgarenfürsten Boris als Instruktion sandte, stehen am Ende dieser Reihe34. Neben diesen Responsa ist vor allem ein 865 entsandtes Schreiben mit dem Incipit Proposueramus in diesem Streit besonders wichtig. Der Brief konturiert Roms Position als prima sedes35, er ist in der Handschrift sogar ein zweites Mal als Insert enthalten. Der aktuelle Anlass zur Sammlung der Briefe war vielleicht der Aufruf des Papstes am 23. Oktober 867, kurz vor seinem Tod, an Hinkmar von Reims und den Episkopat in Westfranken zu einer Synode, welche die Irrtümer der Griechen zurückweisen solle36. Die päpstlichen Responsa an die Bulgaren sind ein Lehrschreiben, das keinesfalls völlig neu entworfen wurde. Die Zitate aus früheren Papstbriefen, besonders von Gregor I. sowie aus dessen weiteren Werken, und die Kenntnis und Verwendung römisch-rechtlicher bzw. langobardischer Rechtstraditionen fällt auf. Vielleicht wurde nach den Anfragen in diesem Fall in der Tat in den römischen Unterlagen gesucht und es wurden passende und weniger passende Zitate gefunden. Trotzdem gab es neue Formulierungen, die dem päpstlichen Bibliothekar Anastasius Biblio-
33 Zum Codex Vaticanus latinus 3827, der inzwischen dem 9. Jahrhundert zugewiesen ist, vgl. allgemein Hartmann, in: MGH Conc. 3 (wie Anm. 9), S. 349; Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse, München 1995 (MGH Hilfsmittel, 15), S. 858–863. Von der Handschrift hängen zahlreiche weitere weitgehend neuzeitliche Handschriften ab, vgl. Mordek, Überlieferung (wie Anm. 33), S. 858f. 34 Die Briefe Papst Nikolaus I., ed. Ernst Perels, Berlin 1925 (MGH Epp. 6), S. 568–600, Nr. 99; Regesta pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum post Christum natum MCXCVIII, Bd. 1, A S. Petro ad a. MCXLIII, bearb. von Philipp Jaffé, Paul Ewald, 2Berlin 1885, Nr. 2812; neuster Stand Reg. Imp. I/4/2, Nr. 822. 35 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 777. 36 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 857.
328
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thecarius zuzuschreiben sein mögen37. Die Rezeption im Decretum Gratiani während der Reformzeit ergibt folgendes Bild38: Responsa Nicolai (MGH Epp., 6, S. 568–600; Reg. Imp. I/4/2, Nr. 822) Kapitel
Gratian, Decretum
Kap II
c. 1 C. 30 q. 3.
Kap II
c. 1 C. 30 q. 3.
Kap II
c. 1 C. 30 q. 3.
Kap III
c. 3 C. 30 q. 5.
Kap III
c. 3 C. 30 q. 5.
Kap III
c. 2 C. 27 q. 2. und c. 1 C. 30 q. 2
Kap XLVI
c. 15 C. 23 q. 8.
Kap XLVIII
c. 11 C. 33 q. 4.
Kap LXX
c. 17 D. 28.
Kap LXXI
c. 5 C. 15 q. 8.
Kap XCVII
c. 22 C. 32 q. 5.
Kap CIIII
c. 24 D. 4.
Die Quantität der Übernahmen zeigt das Interesse der Kanonisten und deren Schwerpunkte. Betroffen sind vor allem Fragen der Taufe, der Ehe und des Priesteramtes. Der Überlieferungsweg zum „Endpunkt Gratian“ ist aber wiederum schwer zu bestimmen, auch weil gerade in diesem Fall Zwischenschritte der Überlieferung kaum erforscht sind. Deshalb lenke ich noch das Interesse auf die anderen Schreiben zum photianischen Schisma in der Handschrift aus Beauvais. Von den knapp zwanzig Schreiben weisen nur fünf eine kanonistische Rezeption auf. Der lange Brief Proposueramus, den Nikolaus an Kaiser Michael schrieb, enthält viel Material auch zu früheren päpstlichen Entscheidungen, zu Rom als Appellationsinstanz, 37 Zu der Beteiligung des Anastasius an der Abfassung päpstlicher Schreiben vgl. seit Perels, Nikolaus (wie Anm. 1) vor allem Nelly Ertl, Diktatoren frühmittelalterlicher Papstbriefe, in: AUF 15 (1938), S. 56–132; Girolamo Arnaldi, Anastasio Bibliotecario, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 3, Rom 1961, S. 25–37; Dietrich Lohrmann, Eine Arbeitshandschrift des Anastasius Bibliothecarius und die Überlieferung der Akten des 8. Ökumenischen Konzils, in: QuF 50 (1970), S. 420–431; am Rande: François Bougard, Anastase le Bibliothécaire ou Jean Diacre? Qui a récrit la Vie de Nicolas Ier et pourquoi, in: Jean-Marie Martin u. a. (Hg.), Vaticana et medievalia. Études en l’honeur de Louis Duval-Arnould, Florenz 2008 (Millennio medievale. Strumenti e studi n.s., 16), S. 27–40. 38 Vgl. die Anmerkungen dazu in der Edition Die Briefe Papst Nikolaus I., ed. Perels (MGH Epp., 6) (wie Anm. 18), S. 568–600.
Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts
329
zum Verhältnis von Kaiser und Papst und so weiter39. In diesem Fall sind 24 bzw. 25 Zitate im Dekret Gratians ausgewiesen. Hilft die frühe Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte, um die späteren Nutzungen weiter zu erläutern? Die erste bedeutende Rezeptionsspur bietet das genannte Werk Pittaciolus des Hinkmar von Laon. Hier finden sich neben Zitaten aus anderen Schreiben des Papstes zum Photianischen Schisma vergleichsweise längere Passagen des Briefes Proposueramus40. Allerdings bleibt mehr als offen, ob einige wenige der späteren Gratianzitate über diesen Weg in die Rechtssammlung des 12. Jahrhunderts gefunden haben41, denn es sind in den Kanonessammlungen mehr und andere Zitate als die im Pittaciolus aufgenommenen. Außerdem weist aber das Schreiben mit weiteren frühen Überlieferungen in Valenciennes und Montecassino42 andere Möglichkeiten der Rezeption außerhalb der Briefsammlung aus Beauvais auf. Drei der 18 „Byzanz-Schreiben“ sind im Übrigen in den Pittaciolus des Hinkmar von Laon teilweise eingegangen, neben dem Brief Proposueramus auch die beiden Briefe vom 18. März 867 und wohl vom 13. November 86643. Beim Schreiben vom 18. März 86244 an den Patriarchen Photios sind aber folgende Beobachtungen interessant: Rezipiert hat diesen Text nach Hinkmar von Laon und vor oder gleichzeitig mit den zahlreichen Ivo zugeschriebenen Sammlungen die Collectio Sinemuriensis aus dem ausgehenden 11. Jahrhundert. Zweitens wurde dieser Brief ebenso wie ein weiterer aus dem Jahr 86545 in zwei Handschriften des 9. Jahrhunderts überliefert, die den Brief innerhalb der von Anastasius Bibliothecarius übersetzten Akten des Konzils von Konstantinopel 869/70 einfügen46. In eine ähnliche Richtung deutet die Benutzung des Briefes Proposueramus im Zusammenhang mit der Synode von Ingelheim 993. Hier hatte Abt Leo an König Hugo Capet geschrieben und auf das Beispiel Nikolaus’ I. zur Verteidigung des 39 Vgl. Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 8), S. 35. 40 Hinkmar, Pittaciolus (wie Anm. 20), S. 91–93. 41 Vgl. die handschriftliche Überlieferung, die Salzburger Handschrift könnte eine Rolle gespielt haben, aber insgesamt bietet der Auszug nur einen kleinen Teil der Gratian Zitate. 42 Hier geht die Überlieferung zusammen mit Reg. Imp. I/4/2, Nr. 779 und 832. 43 Vgl. hierzu Reg. Imp. I/4/2, Nr. 570 und Nr. 824. 44 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 570. 45 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 824. 46 Ende 9. Jh., BAV, Vat. lat. 4965 fol. 51r–54v; Ende 9. Jh., BAV, Vat. lat. 5749 fol. 43r–45v, vgl. neben Reg. Imp. I/4/2, Nr. 570 und Nr. 824; hierzu Lohrmann, Arbeitshandschrift (wie Anm. 37), S. 420–431; sowie allgemein Perels, Briefe I (wie Anm. 18), S. 542–545; Jasper, Beginning (wie Anm. 8), S. 115; und Stephan Kuttner: A Catalogue of Canon and Roman Law Manuscripts in the Vatican Library, Vatikan 1986 (Studi e Testi, 322), S. 63–65.
330
Klaus Herbers
Patriarchen Ignatios gegen Photios gegenüber Kaiser Michael III. mit ausführlichen Zitaten aus diesem Nikolausbrief verwiesen. Nach Hinweisen und Studien von Ernst Perels und Harald Zimmermann hat inzwischen Ernst-Dieter Hehl die dortige Benutzung ausgesprochen detailliert ausgewiesen und die Ansicht vertreten, dass die Briefe Nikolaus’ I. in Rom bekannt geblieben seien47, wie auch die Nutzung anderen Schriftgutes Nikolaus’ I. bei der römischen Synode 964 beweise48. Standen sie den frühen römischen Reformern deshalb noch zur Verfügung, wo immer sie bis in die Zeit des 11. Jahrhunderts in Rom aufbewahrt wurden?
VI. Rezeptionsfreundliche Briefformen – Responsa Mit dem Antwortschreiben an die Bulgaren ist jedoch eine Briefform genannt, die in besonderer Weise kanonistische Rezeption förderte, weil hier Rechtsauskünfte gegeben wurden. Für das Dekret Gratians hat Wilfried Hartmann von den 116 Nennungen 33 Exzerpte auf Schreiben des Papstes Nikolaus zurückgeführt, die als Antwortschreiben mit Rechtsauskünften bezeichnet werden können49. Dieser Befund ist offensichtlich und dürfte auch die besonders beliebte Nutzung dieser Briefform durch die Reformer andeuten, unabhängig vom jeweiligen Überlieferungsweg. Die Responsa für Bulgarien lenken aber nochmals auf die Handschrift aus Beauvais. Wie lange Zeit unbemerkt blieb, enthält sie ein weiteres Responsum Leos IV. für die bretonischen Bischöfe50. Ich will an dieser Stelle nicht frühere Überlegungen wiederholen, aber zumindest auf einen Befund aufmerksam machen. In diesem Schreiben ging es um die Frage der Absetzung bretonischer Bischöfe, die unter anderem in Konflikt mit dem Metropoliten von Tours standen. Die 14 Kapitel des Schreibens Leos IV. waren lange Zeit nur aus diverser kano�nistischer Überlieferung bekannt. Das auf folio 111recto bis 111verso in der Hand�schrift von Beauvais stehende Schreiben bietet demgegenüber die ersten acht von diesen 14 Kapiteln in fortlaufender Form, danach gibt es einen Blattverlust. In 47 Die Konzilien Deutschlands und Reichsitaliens 916–1001, Bd. 2, 962–1001, ed. ErnstDieter Hehl, Carlo Servatius, Hannover 1987–2007 (MGH Conc., 6), S. 487–494, zu Vorarbeiten und zur These der Bekanntheit päpstlichen Briefmaterials in Rom. 48 Ernst-Dieter Hehl, Der wohlberatene Papst. Die römische Synode Johannes’ XII. vom Februar 964, in: Klaus Herbers, Hans-Henning Kortüm (Hg.), Ex ipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik. FS Harald Zimmermann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1991, S. 257–276, hier S. 263; Hehl in MGH Conc. 6 (wie Anm. 47), S. 241. 49 Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 8), S. 42–44. 50 Herbers, Leo (wie Anm. 15), S. 67–78 und 459f. (Edition) sowie 495 (kanonistische Rezeption); und Reg. Imp. I/4/2, Nr. 203.
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Kapitel 2 und 3 des Schreibens finden sich aber interessante Abweichungen zwischen beiden Überlieferungsformen. Die Kanonessammlungen (in diesem Fall Collectio Britannica, Tripartita, Ivos [?] Decretum und Gratians Decretum) lassen im 2. Kapi�tel zur Simonie den Halbsatz ita tamen, ut omnia in conciliis sint episcoporum weg, fügen aber im 3. Kapitel zur Bischofsabsetzung durch zwölf Bischöfe oder 72 Zeu�gen hinzu: sicut nobis beatus Silvester tradidit et Romana sancta tenere videtur eccle sia. War dies ein Hinweis, der Reformern gelegen kam? Zur Klärung dieser Abweichungen hilft ein Blick in das Responsum Nikolaus’ I. an Salomo (III.) von der Bretagne zum bretonischen Schisma51. Nikolaus bietet hier die letzte Passage von Kapitel 2 und weite Teile von Kapitel 3, und zwar mit allen Zusätzen in der längstmöglichen Form. Wenn die Überlieferung des Briefes in der Handschrift Paris lat. 1458 verlässlich ist, dann scheinen die Abweichungen des Bretonenresponsums Leos IV. zwischen der Langform und den Kanonessamm�lungen kaum erklärbar, schon gar nicht eröffnet sich ein möglicher Weg von der Handschrift in Beauvais in die Kanonessammlungen des 11. Jahrhunderts. Jedoch müsste die Handschrift Paris lat. 1458, deren Zusammensetzung sehr kompliziert ist, nochmals untersucht werden, denn nur dieses Stück ist dort wohl erst im 11. Jahrhundert aufgeschrieben worden52.
VII. Schlussfolgerungen und offene Fragen Was bleibt nach einigen exemplarischen Blicken in Überlieferungswege? Um es mit Bert Brecht zu sagen: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen (Der gute Mensch von Sezuan). Die Wege zur Nutzung der Papstbriefe im 11. Jahrhundert bleiben mehr als einmal unsicher, können aber noch weiter erforscht werden53. Dabei bin ich lange bei den Wegen verweilt und habe die Formen der Nutzung durch die Reformer nur indirekt angesprochen. Immerhin sind folgende Zwischenergebnisse und Fragen festzuhalten: Papstbriefe in Form eines Responsums waren offensichtlich für die spätere Rezeption besonders günstig. Dies gilt über die beiden vorgestellten Beispiele hinaus. 51 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 566. 52 Perels, Briefe I (wie Anm. 18), S. 570. 53 Das Schreiben Nikolaus’ I. für den Episkopat der Gallia ist offensichtlich über Hinkmars Rotula prolixa und die Handschrift der Vallicelliana D 38, die auch Material zu Pseudo-Isidor enthält, in das römische Milieu gekommen, aber die Details sind auch hier nicht immer eindeutig. Reg. Imp. I/4/2, Nr. 755.
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Schon das Register Gregors I. lässt dies gut erkennen54; sein Antwortbuch an Augustinus von Canterbury spricht eine deutliche Sprache55. Teilweise hingen die Anfragen, die zu Responsa führten, auch zu Zeiten Nikolaus’ I. noch mit Missionierungsfragen zusammen. Zur Nordmission und zu einem Erzbistum Hamburg-Bremen erreichten den Papst beispielsweise 864 Anfragen, die er zusammen mit anderen strittigen Punkten nicht nur urkundlich klärte, sondern auch mit einem Brief beantwortete56. Solche Auskünfte betrafen aber nicht nur Missionsfragen. Beispielsweise erhielten Erzbischof Ado von Vienne57 oder die Bretonen58 sowie weitere Personen vergleichbare Antworten. Die häufigen Anfragen an den Papst haben nicht nur die Bühne für die Darstellung päpstlicher Autorität im 9. Jahrhundert geboten, sondern den Typus des schon aus der Antike bekannten Responsums offensichtlich noch weiter verbreitet. Wie sehr man anscheinend in Rom auf solche allgemeinen Antwortschreiben eingestellt war, belegen die hier kurz herangezogenen Responsa ad consulta Bulgarorum, die das kirchenrechtliche Wissen früherer Zeiten in großem Maße auf die aktuellen Bedürfnisse hin zugeschnitten haben. Hier musste auch in rechtlicher Hinsicht vieles entschieden bzw. aus der Tradition zusammengestellt werden; Anastasius Bibliothecarius war wohl wie kein anderer des frühen Mittelalters dazu fähig59. Mit der Briefform des Responsums wurde aber den Reformern des 11. Jahrhunderts die Rezeption vorbereitet; sie griffen damit auch den schon im 9. Jahrhundert formulierten Zwischenstand auf. Responsa waren – 54 Gregorii I papae Registrum epistolarum Libri I–VII, ed. Paul Ewald, Ludo Moritz Hartmann, Berlin 1887–1891 (MGH Epp., 1) (ND 1992); Libri VIII–XIV, ed. Paul Ewald, Ludo Moritz Hartmann Berlin 1892–1899 (MGH Epp., 2) (ND 1992); S. Gregorii magni Registrum epistolarum, 2 vols., ed. Dag Norberg, Turnhout 1982 (CCSL, 140– 140A). 55 Vgl. Paul Meyvaert, Le Libellus responsionum à Augustin de Contorbéry, une œuvre authenthique de Saint Grégoire le Grand, in: Jacques Fontaine u. a. (Hg.), Grégoire le Grand, Paris 1986, S. 543–550; vgl. auch Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100), Berlin, New York 2008 (Millennium Studien, 20), S. 228. 56 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 705 und 706 mit der einschlägigen Literatur. 57 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 675, 696 und 726 mit der einschlägigen Literatur. 58 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 203 mit der einschlägigen Literatur. 59 Zum Verfassen der einzelnen Schreiben vgl. die oben in Anm. 37 angegebene Literatur; vgl. außerdem synthetisierend: François Bougard, Anastase, in: Philippe Levillain (Hg.), Dictionnaire historique de la Papauté, Paris 1994, S. 86–87; zu seiner Rolle als „Gegenpapst“ 855 vgl. Klaus Herbers, Konkurrenz und Gegnerschaft. „Gegenpäpste“ im 8. und 9. Jahrhundert, in: Harald Müller, Brigitte Hotz (Hg.): Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, Wien u. a. 2012 (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 1), S. 55–70, hier 58–61.
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so könnte man formulieren – rezeptionsfördernde Briefe, die ihrerseits die Form des systematischen Zitierens erleichterten. Auch deshalb sind von ca. 150 echten Briefen Nikolaus’ vor allem die Responsa und Briefe mit Rechtsauskünften besonders stark weiterverwendet worden60. Die Wege zur Rezeption sind aber häufig nur unzureichend nachzuzeichnen, wenn dies auch zuweilen für einzelne Bereiche gelingen mag. Zu beachten scheinen mir jedoch die Kombinationsformen der Schriftlichkeit, womit ich auf die verschiedenen Überlieferungsspeicher zurücklenke, die ich anfangs evoziert habe. Von einem entscheidenden Brief Nikolaus’ I. vom 25. Januar 867 zur Ehe Lothars61 inserierte Regino von Prüm nicht nur Ausschnitte in seine Chronik, sondern auch in sein kanonistisches Werk De synodalibus causis. Von dort gelangten die Auszüge über Burchard von Worms und zahlreiche andere Sammlungen in die hochmittelalterlichen Rechtskompendien. Nimmt man aber die Stücke hinzu, die bei Reformern wie Anselm von Lucca oder Deusdedit auf keine der uns heute bekannten frühen Briefsammlungen verweisen, dann ergeben sich weitere Fragen. Woher hatte Deusdedit dieses Material? Ist es ein Hinweis62, wenn bei Deusdedit die Exkommunikation des Kaisers Archadius durch Papst Innozenz I. erwähnt wird mit den Worten sicut ait primus Nicholaus papa in suo registro I in epistola ad imperatorem Hludoichum63? Waren also die römischen Überlieferungswege doch stärker gegeben als die obige Tabelle der westfränkischen Briefsammlungen suggeriert? Für die Quellen der Kanonisten – Deusdedit eingeschlossen – ist dies immer wieder behauptet worden. Auch das bisher nicht verwendete Zitat verdeutlicht diesen Zugriff recht eindrücklich. Offensichtlich erreichen wir nur sporadisch einzelne Glieder dieser Kette, wie weiterhin die Zitate, die Ernst-Dieter Hehl im Zusammenhang mit den römischen Konzilien des 10. Jahrhunderts vermerkt hat, nahelegen. Dass dann im 11. Jahrhundert nach Anlage einiger Sammlungen die „produktive Zerstörung“ griff64, ist durchaus möglich. Deutlich wird aber auch, dass diese römischen Traditionslinien den Liber pontificalis einschlossen. Damit ist drittens – mit Blick auf das Gesamtthema – noch zu unterstreichen: Reformer des 11. Jahrhunderts nutzten Briefe Nikolaus’ I. meist als Reservoir für Rechtssätze, dies bestimmte offensichtlich Aufnahme- und Kommunikationsformen. Die heute von uns meist genutzten Briefsammlungen mit den Volltexten, die vor 60 Vgl. auch Hartmann, Kirche und Kirchenrecht (wie Anm. 8), S. 44. 61 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 843. 62 Vielen Dank für diese Stellenangabe durch Veronika Unger (Erlangen), die eine Dissertation zu den päpstlichen Registern im 9. Jahrhundert verfasst. 63 Reg. Imp. I/4/2, Nr. 482. 64 Vgl. den Beitrag von Jochen Johrendt in diesem Band.
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allem im Westfrankenreich und Mittelreich zusammengestellt wurden, spielten eher in den konziliaren und aktuellen Debatten im Frankenreich eine Rolle. Es wäre reizvoll, das Bild Papst Nikolaus’ I., wie es sich aus diesen Briefsammlungen bietet, einem solchen gegenüberzustellen, das nur die Zitate der Reformer und Kanonisten berücksichtigt. Eine Charakterisierung des Papstes nur aus Quellen des 11. Jahrhunderts würde aber auch einiges über die Kommunikationsformen und deren Wandel sagen. Daneben ließen sich weitere Bilder aus der Historiographie konstruieren. Zu Brief und Kommunikation im Wandel habe ich mit diesen Bemerkungen nur indirekt beigetragen, denn ob Modelle der Papstbriefe, Formen des Responsums, das Verhältnis von Brief und Recht sich im 11./12. Jahrhundert grundlegend änderten, können Einzelüberlegungen kaum belegen. Aber sicher wurden die Briefe der Päpste fast ausschließlich in kurzen, meist rechtlich relevanten Zitaten, nicht in längeren Auszügen evoziert. So ließe sich abschließend zugespitzt formulieren: Die Arbeitsteilung zwischen dem Verzeichnen rechtlicher Normen und der Notwendigkeit, diese wiederum durch Briefe oder andere Formen im Orbis christianus zu kommunizieren, hat im 11. Jahrhundert vielleicht zugenommen.
Recht im Dienst der Reform Kanonistische Sammlungen der Reformzeit und ihre „Adressaten“ Lotte Kéry
Theo Kölzer zum 17. November 2014
Einführung Die Gregorianische Reform hat auf dem Gebiet der Kanonistik nicht nur zu einem deutlichen Aufschwung, sondern auch zu erkennbaren Veränderungen geführt. Es entstand eine Vielzahl neuer Sammlungen, mit denen man auch zu den Fragen der Kirchenreform Stellung bezog. Ihre Klassifizierung im Standardwerk von Paul Fournier und Gabriel Le Bras aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts ergibt eine große Zahl von „gregorianischen“ oder doch zumindest von der Reform beeinflussten Sammlungen und eine kleine Zahl von Sammlungen, die sich dem Einfluss der Reform entzogen habe1. Speziell die „gregorianischen“ Sammlungen sollten durch eine Rückkehr zum alten Recht die im Sinne der Reformziele als völlig unzureichend kritisierten bisherigen Sammlungen ersetzen2. Besonderen Wert legte 1 Paul Fournier, Gabriel Le Bras, Histoire des collections canoniques en Occident depuis les Fausses Décrétales jusqu’au Décret de Gratien 1–2 (Bibliothèque de l’histoire du Droit 4–5; Paris 1931–32, repr. Aalen 1972), hier 2, S. 1. Fournier und Le Bras teilen die Samm lungen der Reformzeit von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zum Decretum Gratiani (ca. 1140) ein in „zeitgenössische italienische Sammlungen“, die als gregorianisch zu bezeichnen seien, „parce que, contemporaines de Grégoire VII, elles sont inspirées par le plus pur esprit de la Réforme“. Hinzu kommen die Sammlungen, die mit Bischof Ivo von Chartres in Verbindung stehen, die zwar auch der gregorianischen Reform verpflichtet seien, sich aber von den „rein gregorianischen“ Sammlungen in einigen Nuancen unterschieden. Als dritte Gruppe gelten ihnen italienische und nicht-italienische Sammlungen von lokaler Bedeutung aus diesem Zeitraum, wobei sie erstere nach dem Grad ihrer Beeinflussung durch die gregorianische Reform unterscheiden und für die „cisalpinen“ Sammlungen den Einfluss Ivos von Chartres auf diese Sammlungen zum Maßstab nehmen. 2 Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 4–6.
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Lotte Kéry
man auf die Authentizität der Texte: Als kirchenrechtliche Vorschriften sollten nur Texte gelten dürfen, die ausdrücklich oder stillschweigend vom apostolischen Stuhl anerkannt worden waren, eine Regel, die man jedoch im Zweifelsfall recht großzügig auslegte3. Auch suchte man offenkundig in Bibliotheken und Archiven ganz gezielt nach Texten, die nicht nur den päpstlichen Primat oder die Rechte der römischen Kirche, sondern auch die übrigen Reformziele unterstützen konnten4 – eine Suche, die unter anderem auch eine umfassende Zusammenstellung der Besitztitel der römischen Kirche erbrachte, die der Kardinal Deusdedit in seine Sammlung einfügte und die man als „Embryo eines päpstlichen Finanzregisters“ und Vorläufer des Liber Censuum bezeichnet hat5, der wohl nicht zufällig in einer ganzen Reihe vor allem späterer Handschriften zusammen mit der Kanonessammlung des Deusdedit überliefert ist6. Die Frage, in welchem Maße und mit welcher Zielsetzung sich die Kompilatoren mehr oder weniger umfangreicher, auf „private“ Initiative hin7 entstandener 3 Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 6f. Vgl. auch Prefaces to Canon Law Books in Latin Christianity. Selected Translations, 500–1245, commentary and translations by Robert Somerville and Bruce C. Brasington, New Haven and London 1998, S. 106–108. 4 Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 7–14. Als Beispiel dafür kann etwa die Sammlung des Kardinals Deusdedit gelten (Die Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit, ed. Victor Wolf von Glanvell, Paderborn 1905; ND Aalen 1967). Vgl. dort S. 353, (III, 191): Hęc itaque, quę secuntur, sumpta sunt ex tomis Lateranensis bybliothecę; vgl. auch Hubert Mordek, Kanonistik und gregorianische Reform. Marginalien zu einem nichtmarginalen Thema, in: Karl Schmid (Hg.), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach, Sigmaringen 1985, S. 65–82, hier S. 73 mit Anm. 38; Lotte Kéry, Kanonessammlungen als Fundorte für päpstliche Schreiben, in: Klaus Herbers, Jochen Johrendt (Hg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia, Berlin, New York 2009 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF, Band 5: Studien zu Papstgeschichte und Papsturkunden) S. 275–297. 5 Theo Kölzer, Codex libertatis. Überlegungen zur Funktion des Regestum Farfense und anderer Klosterchartulare, in: Il Ducato di Spoleto. Atti del 9° Congresso internazionale di studi sull’Alto Medioevo, Spoleto, 27 settembre – 2 ottobre 1982, Spoleto 1983 (Centro italiano di studi sull’alto medioevo), 2, S. 609–653, hier S. 646 mit dem Hinweis auf Deusdedit, Collectio canonum III, 185–289, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 350–396. 6 Vgl. die Zusammenstellung bei Lotte Kéry, Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400–1140). A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature (History of Medieval Canon Law, ed. by Wilfried Hartmann and Kenneth Pennington), Washington D. C. 1999, S. 229f. 7 In der vorgratianischen Zeit sind nur „private“ Sammlungen entstanden, wobei die Unterscheidung zwischen Privatsammlung und „offizieller“ Sammlung weder für die Benutzung
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Konvolute von kirchlichen Rechtstexten mit ihrer Sammlung an den Auseinandersetzungen der Reformzeit beteiligt haben, ist wohl wesentlich schwerer zu beantworten als für andere Werke, die in diesem Zusammenhang entstanden sind, wie etwa die Streitschriften8. Die Einzeltexte für diese Sammlungen wurden zum weit überwiegenden Teil aus anderen Sammlungen übernommen und der Eigenanteil der Autoren bestand im Wesentlichen aus der Auswahl und thematischen Neugruppierung dieser Konzilsbeschlüsse, Dekretalen, Bußbuchkapitel und Auszüge aus Kirchenväterschriften und bestenfalls aus der Erschließung weiterer, bisher nicht in kanonistischen Sammlungen auftauchender Texte. Eine gewisse Verbindung zwischen den Gattungen ergibt sich durch Autoren, die sowohl Sammlungen angelegt als auch Streitschriften verfasst haben, wie etwa der Kardinalpriester Deusdedit von San Pietro in Vincoli9, sowie Werken, die eine gewisse Zwitterstellung zwischen ihnen einnehmen und sowohl der einen als auch der anderen Kategorie zugerechnet werden können, wie etwa der Liber de vita christiana Bonizos von Sutri10 oder der Liber de iustitia et misericordia des Alger von Lüttich11. Auch war „der Übergang zwischen Streitschrift, libellus, und Kanonessammlung“, wie Uta-Renate Blumenthal es treffend formuliert hat, „manchmal fließend“ in einer Zeit, in der „das Recht, in dem wir gewohnt sind, objektive Normen zu sehen, im Dienst entscheidend war noch von den Zeitgenossen als Kategorie zur Kenntnis genommen wurde. Vgl. dazu Stephan Kuttner, Quelques observations sur l’autorité des collections canoniques dans le droit classique de l’Église, in: Actes du Congrès de droit canonique Paris 1947, Paris 1950, S. 305–312 (ND in ders., Medieval councils, decretals, and collections of Canon Law, London 1980, 1). 8 Vgl. Mordek, Gregorianische Reform (wie Anm. 4), S. 69: „Kämpferische Elemente, wie sie sich in der überreichen Streitschriftenliteratur der Zeit austobten, sucht man auf dem Felde der Rechtssammlungen überhaupt vergebens.“ 9 Vgl. dazu auch Uta-Renate Blumenthal, Fälschungen bei Kanonisten der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16–19. September 1986, Teil II: Gefälschte Rechtstexte, der bestrafte Fälscher, Hannover 1988 (Schriften der MGH 33,2) S. 241–262. Zu Deusdedit vgl. auch unten S. 360–370. 10 Edition: Ernst Perels, Bonizonis Liber de vita christiana, Berlin 1930 (Texte zur Geschichte des römischen und kanonischen Rechts im Mittelalter 1); vgl. auch Walter Berschin, Bonizo von Sutri. Leben und Werke, Berlin 1972 (Beiträge zu Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 2); weitere Literatur bei Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 234– 237. Vgl. auch die Kennzeichnung bei Linda Fowler-Magerl, Clavis Canonum. Selected Canon Law Collections Before 1140. Access with data processing, Hannover 2005 (MGH Hilfsmittel 21), S. 174–176, hier S. 174 („part canon law collection and part treatise“). 11 Vgl. dazu demnächst Lotte Kéry, Kanonessammlungen aus dem lotharingischen Raum, in: Lotharingien und das Papsttum im Früh- und Hochmittelalter, hg. von Klaus Herbers/ Harald Müller (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen), Berlin.
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der Reform stand und sich mit ihr zusammen entwickelte“12. Hubert Mordek meinte sogar, dass gerade das Fehlen eines von der römischen Zentrale veranlassten oder approbierten Codex canonum es verhindert habe, dass sich die „Kernvorstellungen der ‚reinen‘ Gregorianer auf dem Gebiet der Kanonistik auf breiter Front im Abendland“ durchsetzen konnten13. Die Frage nach der Öffentlichkeit, die von den jeweiligen Sammlern angesprochen und beeinflusst werden sollte, und den „Adressaten“ solcher kanonistischen Sammlungen ist nicht nur für die vielen anonymen Sammlungen, deren Entstehungsort und -zeit bisher nicht genau geklärt werden konnten, schwer zu beantworten. Trotzdem lohnt es sich, die Frage nach den Adressaten zu stellen und so den Blick dafür zu schärfen, mit welcher Intention solche Sammlungen jeweils angelegt wurden, wenn man sich nicht mit dem allgemeinen Hinweis zufrieden geben möchte, dass sie den Zielen der Reform dienen sollten oder möglicherweise auch gerade nicht. Im Folgenden sollen einige Beispiele behandelt werden, die zeigen können, auf welche Fragen und Probleme man trifft, wenn man sich mit den möglichen Adressaten kanonistischer Sammlungen der Reformzeit beschäftigt, und welche Aspekte zumindest Anhaltspunkte dafür bieten, an wen sich diese Sammlungen mit ihren immer wieder neu zusammengestellten kirchenrechtlichen Texten und der gerade in der Zeit der gregorianischen Reform deutlich verstärkten Suche nach weiteren, möglichst authentischen Texten zur Dokumentation der kirchenrechtlichen Leitlinien der Reform richten14.
Die Collectio Farfensis – eine „antipäpstliche“ Sammlung? Unter solchen Vorzeichen musste eine Sammlung, wie die um 1100 im Reichskloster Farfa entstandene Collectio Farfensis, die keine Spur der Reformgesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte aufwies, als purer Anachronismus gelten, den man sich nur mit der antipäpstlichen Einstellung erklären konnte, die angeblich im Reichskloster Farfa generell anzutreffen war. Aus der Existenz dieser Sammlung, die in einem „milieu rebelle à l’Église romaine et à son chef “ entstanden sei, nachdem sich die Mönche von Farfa seit 1080 auf die Seite der Reformgegner gestellt hätten15, 12 13 14 15
Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 242. Mordek, Gregorianische Reform (wie Anm. 4), S. 69. Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 7–14. Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 121. Vgl. Collectio canonum Regesto Farfensi inserta, ed. Theo Kölzer, Città del Vaticano 1982 (Monumenta Iuris Canonici Series B: Corpus Collectionum 5) S. 96f.
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wurde abgeleitet, dass die Gegner des Reformpapsttums auch mit kirchenrechtlichen Waffen Widerstand geleistet hätten16, indem ihr Verfasser die Reformgesetzgebung, die sich in Rom in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entwickelte, systematisch mit Schweigen überging. Noch jüngst wurde als Tendenz der Farfenser Sammlung eine „posizione ideologica […] tenacemente filoimperiale“ genannt, was allein schon daran abzulesen sei, dass keine Texte aus der Zeit der Kirchenreform seit Leo IX. berücksichtigt worden seien17. In einem übergeordneten Zusammenhang war sogar in Betracht gezogen worden, dass bereits der Dictatus papae Gregors VII. (1075) mit seinen dezidierten Ansprüchen als Reaktion auf eine solche antipäpstliche Sammlung zu verstehen sei18. Dagegen wurde jedoch zu Recht eingewandt, dass eine Kategorisierung der Collectio Farfensis als „antipäpstliche“ (und damit kaiserfreundliche) Sammlung doch zumindest die Frage aufwerfe, warum hier nicht die Rechte des Kaisers bezüglich der Investitur besonders herausgestellt würden, „die ein Farfenser Anonymus rund zehn Jahre später so vehement verteidigte, oder wen denn die Sammlung noch hätte ‚bekehren‘ sollen, wenn das Kloster ohnehin antipäpstlich eingestellt war“19. 16 Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1). 2, S. 120f. schildern das Kloster Farfa, das Heinrich IV. 1082 einen großartigen Empfang bereitet habe, das Clemens III. als einziges Haupt der Kirche anerkannt habe und in dem während des Pontifikats Paschalis‘ II. mit der Orthodoxa defensio imperialis (1111) ein Plädoyer für die kaiserliche Sache verfasst worden sei (vgl. unten Anm. 19), als Hort des Widerstands gegen das Reformpapsttum und ordnen hier auch die Collectio Farfensis ein. Vgl. dagegen Mordek, Gregorianische Reform (wie Anm. 4), S. 65 mit Anm. 3: „…deren antigregorianische Tendenz sich bei näherem Zusehen in Nichts auflöste“. 17 Umberto Lungo, Gregorio da Catino, in: DBI 59 (2002) S. 254–259, hier S. 255f: „La Collectio canonum inserita da G. nel Regestum mostra le sue competenze giuridiche e canonistiche e l’uso che egli ne fece e sostegno dei diritti di Farfa sia nel Regestum, sia, successivamente, nel Chronicon. La raccolta presenta un notevole interesse anche per il suo contenuto e il suo orientamento. Essa, infatti, riflette la posizione ideologica di G. e, quindi, di Farfa, schierata su una linea tenacemente filoimperiale al punto che non tiene conto dei testi canonici elaborati dai pontefici riformatori a partire da Leone IX. “ 18 So etwa Wilhelm Peitz, Das Originalregister Gregors VII. im Vatikanischen Archiv (Reg. Vat. 2) nebst Beiträgen zur Kenntnis der Originalregister Innozenz‘ III. und Honorius‘ II. (Reg. Vat. 4–11), Sitzungsberichte Wien 165/5; Wien 1911, S. 280–281. Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 5f. 19 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15) S. 97. Gemeint ist die Orthodoxa defensio imperialis von 1111. Vgl. Oliver Münsch, Die Orthodoxa defensio imperialis. Ein Beitrag zur Publizistik des Investiturstreits, in: Thomas Martin Buck (Hg.), Quellen, Kritik, Interpretation. Festgabe zum 60. Geburtstag von Hubert Mordek, Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 135–154, der die Verfasserschaft Gregors von Catino für diese Farfenser Streitschrift zurückweist, jedoch die „kanonistischen“ Argumente Kölzers nur am Rande erwähnt (S. 147 Anm. 75 und 77).
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Wie sehr man mit einer Einordnung dieser Sammlung entlang den Frontlinien des sogenannten Investiturstreits in die Irre gehen kann, hat ihre „differenzierende Gesamtuntersuchung“ gezeigt, die das Resultat erbrachte, dass sie keinesfalls auf Breitenwirkung abzielte und deshalb auch nicht allein nach ihrem „ekklesiologischen und kirchlich-disziplinären Gehalt im Vergleich zu den Bestrebungen der Reform“ bewertet werden darf20. Als eine Sammlung, deren Kompilator und genauere Entstehungsumstände bekannt sind und die in einem ganz bestimmten Überlieferungszusammenhang steht21, bietet die Collectio Farfensis sogar vergleichsweise deutliche Anhaltspunkte zur Bestimmung ihrer Adressaten und der von ihr angesprochenen Öffentlichkeit. Die nur in einer einzigen Handschrift (Vat. lat. 8487) vorliegende Sammlung wurde zwischen dem 23. Mai 1099 und Mitte September 1100 von dem Farfenser Mönch Gregor von Catino als integraler Bestandteil des umfangreichen Chartulars seines Klosters, des Regestum Farfense, angelegt, und zwar in einer für das Kloster und seine materielle Grundlage existenzbedrohenden Situation22. Die Sammlung sollte offenbar seinen Mitbrüdern eine kirchenrechtliche Waffe, einen gladius spiritualis, an die Hand geben, um die im Chartular gesammelten Rechtstitel zu verteidigen23. Einem ähnlichen Zweck diente offenbar die Zusammenstellung von 23 kanonistischen Exzerpten, die Gregor seinem um 1130 entstandenen Liber floriger beifügte, um die dauernde Gültigkeit einmal verliehener Privilegien nachzuweisen24. Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 108 mit Anm. 1; Mary Stroll, The Medieval Abbey of Farfa. Target of Papal and Imperial Ambitions, Leiden 1997 (Brill’s Studies in Intellectual History 74), hier S. 13, Anm. 33; vgl. dort auch S. 209–223 zum Inhalt. 20 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 96–99 (Zitat S. 99). 21 Hier ist wohl eher von einem Werkzusammenhang als von einem Überlieferungszusammenhang zu sprechen. 22 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 93, § 81. Zu den Entstehungsumständen der Sammlung dort auch S. 86–95. Zu Gregor von Catino vgl. auch Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5) S. 611–618. Zur besonderen Situation der Abtei Farfa zwischen Kaisertum und Papsttum vgl. Stroll, Farfa (wie Anm. 19), S. 9. 23 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 93, § 80 und S. 101, § 87. Kölzer hält es nicht für ausgeschlossen, dass der Anstoß zur Anlage der Kanonessammlung von Abt Berald ausging, „dessen Amtszeit ganz entschieden unter dem Zeichen der Revindikation der entäußerten Klostergüter stand“. Vgl. dazu auch Theo Kölzer, Mönchtum und Kirchenrecht. Bemerkungen zu monastischen Kanonessammlungen der vorgratianischen Zeit, in: ZRG Kan. Abt. 69 (1983), S. 121–142, hier S. 134. 24 Vgl. dazu Kölzer, Mönchtum (wie Anm. 23), S. 135 mit dem Hinweis auf eine ähnliche Zielsetzung der mit dem Chronicon S. Sofiae von 1119 verbundenen kurzen Exzerptsammlung. Erste Informationen zu dieser Sammlung bei Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 288f.; Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 227f.
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Die Collectio Farfensis entstand also in Reaktion auf eine akute Bedrängnis der Reichsabtei Farfa und ihrem Kompilator ging es in erster Linie um den Schutz der materiellen Grundlage und rechtlichen Stellung des Klosters25. Dazu mussten den Mönchen jedoch auch die Grenzen ihrer Freiheit aufgezeigt und die Einhaltung der Disziplin im klösterlichen Zusammenleben gefordert werden. Die Behandlung einer Vielzahl von Sachthemen, in deren Rahmen eine strengere Disziplinierung des klösterlichen und auch allgemeiner des kirchlichen Zusammenlebens gefordert wird, kann wohl mit Kölzer auf Gregors Erfahrung zurückgeführt werden, dass eine „Sicherung des Besitzstandes“ nur dann möglich sei, „wenn auch klosterintern Ordnung herrschte und den überkommenen Regeln des Konventslebens wieder mehr Beachtung geschenkt würde“26. Zudem wird die Durchsetzung der Klosterrechte nach außen in der Collectio Farfensis nicht einseitig verfochten, sondern es werden auch die Rechte des Bischofs gegenüber seinen Untergebenen angesprochen und die Mönche sogar ausdrücklich vor Verschwörungen gegen den Bischof gewarnt27. Gregor von Catino hatte jedoch offenbar nicht nur die Interessen seiner eigenen Gemeinschaft im Auge und wollte mit seiner mit großem Aufwand zusammengestellten Sammlung nicht nur dazu beitragen, Mönche gegen Angriffe von außen zu verteidigen, sondern er strebte auch in einem umfassenden Sinne eine magna liber tas ecclesiae an, das heißt die bestmögliche Freiheit und Sicherheit sowohl für Mönche als auch für Kleriker, wie es die programmatische Überschrift zur capitulatio des dritten Buches verkündet28. Mit dieser Zielsetzung nähert er sich der seit der Mitte des 11. Jahrhunderts verstärkt festzustellenden Tendenz der Kirchenreformer 25 Schon früher wurde allgemein auf die defensive Grundintention solcher aus dem monastischen Umfeld stammenden Kanonessammlungen hingewiesen, deren vorrangiges Ziel darin bestanden habe, sowohl auf spirituellem als auch auf temporellem Gebiet die Interessen des Mönchtums zu verteidigen. Jean Leclercq, Y-a-t-il une culture monastique? in: Il monachesimo nell’alto medioevo e la formazione della civiltà occidentale (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo, 4), Spoleto 1957, S. 339–356 und 510–521 (Diskussion), hier S. 520: „Leur but était moins de préparer une intervention directe dans les affaires et les structures d’Église, que de defendre les intérêts de la vie monastique elle-même, dans le domaine spirituel comme dans celui du temporel.“ Zur Gattung der monastischen Kanonessammlungen vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15) S. 99f. und v.a. Kölzer, Mönchtum (wie Anm. 23). 26 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 78f. 27 Vgl. etwa Coll. Farf. I, 42, ed. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 152. 28 Ed. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 211: In nomine domini incipiunt capitula decreto rum pontificum sive auctoritatum sanctorum patrum de magna ęcclesiae libertate vel monacho rum seu clericorum optima honestaque securitate, inprimis decreta beati Gregorii papae.
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mit ihrer Forderung nach der libertas ecclesiae an29, ohne jedoch die Hauptthemen der Reform – den päpstlichen Primat, Simonie und Nikolaitismus – in seinem Rechtsbuch anzusprechen30. Trotzdem ist, wie Kölzer gezeigt hat, die Haltung Farfas gegen Simonie und für den Zölibat nicht in Zweifel zu ziehen, auch wenn man in der Frage der Wiederaufnahme von Simonisten nicht die rigorose Haltung Gregors VII. einnahm, sondern – wohl vor allem aus pragmatischen Gründen – die konziliantere Haltung Ivos von Chartres vorzog31. Ähnliches gilt für das Verbot der Anklage Niederer gegen Höhere. Hier vertrat Gregor von Catino – gleichsam noch „in pseudo-isidorischen Bahnen“ (Landau) – die gleiche Haltung wie die 74–Titel-Sammlung, die sich in diesem Punkt deutlich von Reformern wie Petrus Damiani und Gregor VII. unterscheidet, „der sogar“, wie Horst Fuhrmann es aus� 32 drückte, „die Herde zum Widerstand gegen den ungehorsamen Hirten aufrief “ . Auch die Grundsätze, die Gregor von Catino mit seinen zahlreichen, noch sehr unsystematisch angeführten Texten in Bezug auf das Kirchengut vertritt, unter29 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 101, dort auch S. 97–99 der Hinweis, dass auch für Farfa eine scharfe Trennung zwischen Reichskloster und Reform nicht unbedingt gerechtfertigt sei. Vgl. auch Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5) S. 642f., wo er jedoch auch betont, dass die Urkunden des Klosters das „Unterpfand seiner ‚Freiheit‘ [waren], die sich nach der Summe der ihm verliehenen Sonderrechte bemaß“. Dementsprechend werde libertas hier „nicht im Sinne der Parteien des Investiturstreites als die ‚Königsfreiheit‘ eines Reichsklosters oder die damit konkurrierende ‚Romfreiheit‘“ definiert. 30 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 81. Nur die Simonie im engeren Sinne als Verbot des Ämterkaufs wird in der Collectio Farfensis angesprochen, etwa in den ersten drei Kapiteln des IV. Buches, jedoch eher im „negativen“ Sinne, was nicht Simonie sei. Vgl. dazu auch Coll. Farf. IV, 1–3, ed. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 245f. Vgl. dort auch S. 98. 31 Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15) S. 98 mit Anm. 16. 32 Horst Fuhrmann, Über den Reformgeist der 74-Titel-Sammlung (Diversorum patrum sententiae), in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, 2, Göttingen 1972, S. 1101–1120, S. 1115f. u. 1120 (Zitat). Vgl. Coll. Farf. I,1, 5, 33, ed. Kölzer (wie Anm. 15) S. 132, 133f. u. 149; Diuersorum patrum sententie, Tit. 7 (Qvod ordine inferiores non pos sint accvsare svperiores) und 9 (Qvod non possvnt oves accvsare pastores), ed. Gilchrist (wie Anm. 63), S. 54 und 58; vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 98f.; Horst Fuhrmann, Papst Gregor VII. und das Kirchenrecht. Zum Problem des Dictatus Papae, in: Alfons M. Stickler u. a. (Hg.), La Riforma Gregoriana e l’Europa 1, Congresso Internazionale, Salerno, 20–25 maggio 1985 (=Studi Gregoriani per la storia della „Libertas Ecclesiae“ 13), Rom 1989, S. 123–149, hier S. 145 und grundsätzlich Peter Landau, Die Anklagemöglichkeit Untergeordneter vom Dictatus Papae zum Dekret Gratians. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte gregorianischen Rechtsdenkens, in: A. Gabriels, H. J. F. Reinhardt (Hg.), Ministerium Iustitiae. Festschrift für Heribert Heinemann, Essen 1986) S. 373–383; hier zit. nach dem ND in: Peter Landau, Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1967–2006 mit Addenda des Autors und Register versehen, Badenweiler 2013, S. 577–592, hier S. 581.
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scheiden sich weder inhaltlich noch methodisch von der Behandlung dieser Frage durch die Reformkanonisten33. Vor allem aus den Praefationes, die er dem Chroni con Farfense und dem Liber floriger vorausschickte34, geht hervor, dass das Kloster Farfa trotz der Krise, in der es sich befand, das Ziel verfolgte, den Laieneinfluss ebenso wie Simonie und Nikolaitismus zurückzudrängen. Ein wichtiger Unterschied bestand jedoch, wie bereits angedeutet, darin, dass man die Ekklesiologie der Kirchenreformer und die antikaiserlichen Bestrebungen der Kurie außer Acht ließ35. Wie Kölzer gezeigt hat, war eine solch umfassende Formulierung der kirchlichen Freiheit in der Collectio Farfensis indirekt auch das Resultat eines methodischen Problems. Da das Klosterwesen in seinen Vorlagen nur selten angesprochen wurde, musste Gregor von Catino allgemein formulierte Rechtssätze für klosterspezifische Sachverhalte nutzbar machen.36 Auch der Rückgriff auf das ältere Kirchenrecht und die mangelnde Berücksichtigung jüngerer Rechtssätze in der Collectio Farfen sis ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass dem Sammler nur bestimmte Quellen zugänglich waren, und nicht etwa die Folge einer restaurativen oder gar reaktionären Einstellung, die das Ideal der Alten Kirche der aktuellen Kirche der Reformzeit vorgezogen habe37, wobei hinzuzufügen wäre, dass die Reformer ihrerseits ja auch in erheblichem Maße auf älteres Recht und nicht zuletzt auf Pseudo isidor zurückgriffen38. Kölzer erläutert Gregors Vorgehensweise am Beispiel der Darstellung bischöflicher Rechte gegenüber Klöstern, die mit dem Rechtsstatus von Farfa als (exemtes?) Reichskloster eigentlich nicht in Übereinstimmung zu bringen waren: „Hätte Gregor mit Absicht nur das ‚gute, alte Recht‘ wiedergeben 33 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 75–77, zum Inhalt vgl. v.a. § 62. 34 Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 101 Anm. 31; Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5), S. 643 mit Anm. 138 mit Zitaten aus den Praefationes zum Chronicon Farfense und dem Liber floriger. 35 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 101; vgl. Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5), S. 647. 36 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 80 mit Hinweis auf die Pseudo-Isidor-Handschrift Vat. [Reg. sic] lat. 1054 (11. Jh.), der u. a. ein Auszug aus Titel IV der 74–Titel-Sammlung (De monachorum monasteriorumque libertate) (c. 39 =JE †1366, ein apokryphes Dekret Gregors I.) beigefügt wurde. Zu dieser Hs. vgl. Schafer Williams, Codices Pseudo-Isido riani: A Paleographico-Historical Study, New York 1971 (Monumenta iuris canonici, C: Subsidia 3), S. 61f., Nr. 65 und Gilchrist Diuersorum patrum sententie (wie Anm. 63), S. lxii. 37 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 84. 38 Zur Pseudoisidor-Benutzung in den Sammlungen der Reformzeit vor Gratian vgl. generell Horst Fuhrmann, Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, 2, Stuttgart 1973 (Schriften der MGH 24, II), S. 486–562.
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wollen, gleichsam als Reaktion auf und als Protest gegen das gewachsene Recht, so hätte er in letzter Konsequenz auch auf die Sonderstellung Farfas als Reichskloster verzichten müssen zugunsten einer Unterwerfung unter die Obrigkeit des Diöze sanbischofs, wie sie etwa das Konzil von Chalkedon (451) gefordert hatte.“ 39 Umso aufschlussreicher ist eine Interpolation, die Gregor an einem Kapitel des Decretum Burchardi vornahm, in dem er abweichend von seiner Vorlage die päpstlichen oder königlichen Klöster von der Unterstellung unter die bischöfliche Gewalt ausnahm und so diese neue Rechtswirklichkeit zum Ausdruck brachte40. Dass es Gregor von Catino grundsätzlich darum ging, dass Auseinandersetzungen nicht gewaltsam, sondern mit rechtlichen und prozessualen Mitteln ausgetragen wurden, zeigt sich auch daran, dass Bestimmungen zur kirchlichen Gerichtsbarkeit und zum Prozesswesen mit 27 Kapiteln die größte Gruppe im ersten Buch seiner Sammlung darstellen41. Hier wird auch das privilegium fori angesprochen, das vor Übergriffen der laikalen Gerichtsbarkeit schützen soll42. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist jedoch vor allem, dass Gregor sich offenbar mit weiteren Werken, dem Liber Beraldi (wohl 1105)43, dem Chronicon Farfense (1107– 1119)44 und seinem Spätwerk, dem Liber Floriger aus den 30er Jahren des 12. Jahrhunderts45, selbst Möglichkeiten schuf, die Anwendbarkeit seiner Rechtssätze in 39 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 85. Vgl. dort auch die S. 84 Anm. 68 genannte Lit. zur Rechtsstellung Farfas. 40 Coll. Farf. 3.74, ed. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 243f: Abbates pro humilitate reli gionis, his exceptis quos aut apostolica auctoritas uel regia siue imperatoria iura ad suam con seruauerunt audientiam, reliqui in episcoporum potestate consistant, et si quid extra regulam fecerint, ab episcopis corrigantur. Vgl. Gérard Fransen, Theo Kölzer (Hg.), Burchard von Worms, Decretorum libri viginti, Köln 1548 (ND Aalen 1992) 8, 67, fol. 121: Abbates pro humilitate religionis, in episcoporum potestate consistant, et si quid extra regulam fecerint, ab episcopis corrigantur. Aus den Äußerungen Kölzers erschließt sich jedoch nicht eindeutig, ob dieser Zusatz erst von Gregor selbst seiner Vorlage hinzugefügt wurde oder schon in einer von Gregor benutzten Burchard-Hs. enthalten war. Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 60: „In bislang keiner Hs. nachzuweisen ist der relativ umfangreiche Zusatz in Coll. Farf. 3.74 (Burch. Decr. 8.67)“, dagegen Kölzer, Mönchtum (wie Anm. 23), S. 139: „In dem Dekretexemplar, das Gregor von Catino benutzte, war dieser Passus mittels einer sonst nicht belegten Interpolation bereits aktualisiert: […]“. 41 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 79. 42 Coll. Farf. I, 83, ed. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 170. 43 Vgl. dazu Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 108–111, § 95 und 96 mit dem zustimmenden Hinweis auf K. Heinzelmann, Die Farfenser Streitschriften: Ein Beitrag zur Geschichte des Investiturstreites, Diss. Straßburg 1904, S. 10–25. 44 Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 111–114, § 97–99. 45 Vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 114f., § 100 (Rom, Bibl. Nazionale, ms. Farf. 3, fol. 26r–31v). Vgl. auch oben S. 340.
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der Darstellung konkreter Prozesszusammenhänge einem weiteren Adressatenkreis nahe zu bringen. Im Rahmen solcher Werke konnte er anwendungsbezogen ihren Nutzen für die Praxis illustrieren46. Offenbar setzte er darauf, dass seine Sammlung in Zukunft auch in anderen Rechtsfällen gute Dienste bei der Prozessführung und in einem weiteren Sinne bei der Verteidigung und Wiederherstellung der Libertas ecclesiae leisten könnte, auch wenn sich dann in der Praxis zeigen sollte, dass „die Collectio Farfensis als kirchenrechtlicher Fundus den Anforderungen etwa eines Privatprozesses nicht gewachsen war“47. Dass Gregor die passenden Instrumente für eine praktische Durchsetzung der von ihm zusammengestellten Rechtssätze liefern wollte, zeigt vor allem eine Zusammenstellung von sieben Kapiteln im zweiten Buch, die aus päpstlichen Dekretalen und Konzilsdekreten sowie einem aus der Iuliani Epitome übernommenen längeren Text unbekannter Herkunft besteht. Hier wird all jenen (!) Strafe angedroht, die gegen die päpstlichen Gebote, Konzilsbeschlüsse und auch die königlichen Gebote (hier ist wohl konkret an die Immunität gedacht) verstoßen, sofern diese mit der göttlichen und kirchlichen Autorität übereinstimmen48. Nur im ersten dieser Kapitel ist von den Qualen des ewigen Feuers die Rede, anschließend werden nacheinander ganz konkrete Kirchenstrafen wie Infamie, Exkommunikation, Absetzung von kirchlichen Ämtern und Anathem angedroht. Gregor von Catino versieht also offenkundig seine kanonistische Sammlung mit einer „überdimensionierten Poenformel, die ihm in seinen Urkundenkopien häufig begegneten und dort die Strafen für jene bargen, die dem Text der Urkunde zuwiderhandelten“49. Dem entsprechen auch seine Äußerungen in einem Epilog, mit dem er das zweite Buch abschließt:50 Bei der Zusammenstellung all dieser Rechtssätze der 46 Ausführlicher dazu Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 108–113. 47 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15) S. 75 mit Verweis auf § 96 (S. 110f.); Kölzer, Mönchtum (wie Anm. 23), S. 135. Kölzer verweist auch auf die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts zu beobachtende Tendenz zur Rechtsfixierung, die „aus der konsequenten Durchsetzung der Reformideen, der Forderung nach der libertas ecclesiae, resultierte“. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 101. 48 Coll. Farf. II, 83–90, ed. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 207–209. Vgl. dort auch S. 22, S. 77 und S. 103. 49 So treffend auf die Intention der gesamten Kanonessammlung bezogen Kölzer, Mönchtum (wie Anm. 23), S. 134. 50 Fol. 69rb-va. Zum Aufbau der Hs. Vat. lat. 8487 vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 13f., hier S. 14 mit Anm. 27. Das zweite Buch stellt nach den Erkenntnissen von Kölzer den ursprünglich ersten Teil der Collectio Farfensis dar und weist den engsten inhaltlichen Zusammenhang mit dem Regestum Farfense auf. Vgl. dazu auch Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5), S. 647.
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heiligen Väter, der orthodoxen Konzilien sowie der gesetzmäßigen und gültigen Vorschriften und Privilegien (wörtlich: gerechten Zugeständnisse) der Könige und Kaiser in dem vorliegenden Codex libertatis gehe es ihm, Gregor, darum, mit gleicher Berechtigung (equa ratione) für Chartular und kirchenrechtliche Sammlung51 durch Beweise (indiciis) die Grundlage der wahren Beständigkeit ( fundamentum uęrę firmitatis) und die kraftvolle Gültigkeit (robur) eines Höchstmaßes an Freiheit (robur optimę libertatis), Sicherheit und Ruhe in kirchlichen und vor allem in monastischen Angelegenheiten aufzuzeigen (demonstremus), damit alle kirchlichen Rechte, so wie es würdig sei, ruhig und unerschütterlich sowie ohne irgendeine Störung weiterhin im Dienst der Verehrung Gottes stehen (diuino cultui mancipata perma neant) und die Diener und Vorsteher der heiligen Kirche sie ohne Übergriffe seitens weltlicher Amtsträger und ohne Verletzung der Immunität (absque rei publicę siue rerum mundialium lesione exactorum) innehaben könnten52. Zuvor jedoch werde er darlegen (preponimus), so beschließt Gregor seinen Epilog, wie die Diener der Kirche den geweihten Gefäßen und kirchlichen Schmuckgegenständen Schutz bieten könnten und auf welche Weise die Laien (a uiris sęcularibus) den Priestern und Klerikern Ehrerbietung erweisen sollten. Sowohl für diejenigen, die ihnen nicht mit dem gebührenden Respekt entgegentreten (qui eos dehonestaverunt), als auch im Hinblick auf die Oblationen der Gläubigen und das Geld und Vermögen der Kirchen will er nicht nur die Vorschriften der heiligen Väter kundtun, sondern auch die Strafen, zu denen Zuwiderhandelnde verurteilt werden sollen (quomodo condemnentur censura canonica)53. Gregor von Catino wendet sich demnach mit seiner Sammlung in erster Linie an alle und vor allem auch gegen alle, die sich in irgendeiner Weise an kirchlichen Rechten und Besitztümern vergreifen. Dabei sollte sie, wie Kölzer herausstellte, in zweifacher Hinsicht „dem Ziel der Rechtssicherung“ dienen: Sie sollte „innerhalb des Konvents eine größere Sensibilisierung in betreff der einschlägigen kirchen51 Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 74. 52 Coll. Farf. Appendix II, ed. Kölzer (wie Anm. 15), S. 254f., hier S. 255, Z. 9–15: ut his fundamentum uęrę firmitatis et robur optimę libertatis ac securitatis et quietudinis in rebus ęcclesiasticis et maxime monasticis indiciis demonstremus, quatinus sicut dignum est omnia iura ęcclesiastica quieta et inconcussa ac sine aliqua perturbatione diuino cultui mancipata permaneant, et absque rei publicę siue rerum mundialium lesione exactorum ea possidere pre ualeant ministri atque prelati sanctarum ecclesiarum. 53 Coll. Farf. Appendix II, ed. Kölzer (wie Anm. 15), S. 255, Z. 15–20: Preponimus uęro qualiter erga uasa sacrata et ornamenta ęcclesiastica habeatur a ministris custodia et quemad modum Dei sacerdotibus atque clęricis a uiris sęcularibus exhibeatur reuerentia et qui eos dehonestauerint quomodo condemnentur censura canonica. De oblationibus etiam fidelium et pecuniis ęcclesiarum atque rebus earum censuras et instituta sanctorum inseruimus patrum.
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rechtlichen Vorschriften erreichen, vor allem hinsichtlich des Veräußerungsverbots; sie sollte zum anderen aber auch laikale Übeltäter abschrecken und auf diese Weise die Funktion der Poenformeln der kopierten Urkunden für das ganze Chartular übernehmen […]“54. Die sehr allgemeine und grundsätzliche Formulierung des Epilogs deutet auch darauf hin, dass Gregor mit seiner Sammlung nicht nur seiner eigenen Klostergemeinschaft, sondern auch anderen kirchlichen Institutionen ein Rechtsbuch an die Hand geben wollte, mit dessen Hilfe sie sich gegen Übergriffe auf ihre durch Privilegien garantierte und daher individuell unterschiedlich definierte libertas mit rechtlichen Mitteln zur Wehr setzen konnten55, und zwar nicht nur gegen Übergriffe auf den materiellen Kloster- oder Kirchenbesitz, sondern auch auf die vom Herrscher garantierte Immunität und andere Privilegien. Dabei ging es ihm auch darum, die dauerhafte Rechtsgültigkeit dieser Privilegien zu unterstreichen, die auch von den Kanonisten der Reformzeit gerade im Zusammenhang mit der Frage der päpstlichen Gesetzgebungsgewalt diskutiert wurde, wie etwa aus dem dazu einschlägigen Titel De priuilegiorum auctoritate in der 74–Titel-Sammlung hervorgeht56. Die Überlieferung der Collectio Farfensis in nur einer einzigen Handschrift deutet jedoch darauf hin, dass diese Sammlung – wie oben bereits angesprochen – für die Praxis vor Gericht kaum geeignet war.
„Gregorianische“ Sammlungen Für Sammlungen, die in grundsätzlicher Weise für die Ziele der gregorianischen Reform eintreten und nicht einem speziellen Entstehungskontext in einer bestimmten kirchlichen Institution zuzuweisen sind, der auch Rückschlüsse auf ihre Adressaten zulässt, wie dies für die Collectio Farfensis zutrifft, sind entsprechende Aussagen wohl am ehesten von eventuell vorhandenen Prologen oder Epilogen zu erwarten, die als individuelle Absichtserklärungen der Kompilatoren den Sammlungen beigegeben wurden. Aber auch thesenartige Indices, wie etwa Deusdedit sie an den Anfang jedes der vier Bücher seiner Collectio canonum gestellt hat, und schließlich auch alle Arten von „Umformungen“, d.h. signifikante inhaltliche Veränderungen gegenüber den jeweiligen Vorlagen57, sind als Stellungnahmen des Autors mit Blick 54 Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5), S. 647. 55 Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5), S. 648. 56 Vgl. Diuersorum patrum sententie, ed. Gilchrist (wie Anm. 63), tit. III (De privilegiorum auctoritate) c. 24–38, S. 33–38 und Kölzer, Codex libertatis (wie Anm. 5), S. 648f. 57 Vgl. etwa für Deusdedit, Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), und unten S. 362.
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auf eine bestimmte Öffentlichkeit zu verstehen, und schließlich kann auch hier der Überlieferungszusammenhang Hinweise auf mögliche Adressaten geben. Grundsätzlich ist zur genaueren Bestimmung der „Öffentlichkeit“, die der Kompilator im Blick hatte, auch die Frage zu stellen, ob die ausgesprochen „gregorianischen“ Sammlungen überhaupt für die Praxis bestimmt waren oder ob sie eher als eine Sonderform von Traktaten zu verstehen sind, die in erster Linie den römischen Primat und seine Prärogativen in einer Art Selbstvergewisserung durch die Zusammenstellung entsprechender Rechtsquellen dokumentieren und rechtfertigen sollten. Die häufig singuläre Überlieferung solcher Sammlungen deutet eher auf die zweite Möglichkeit hin58. Hubert Mordek verwies in diesem Zusammenhang auf die Parallele zur Streitschriftenliteratur dieser Zeit, die ebenfalls eine unterschiedliche, oft nur regionale Wirkung gehabt habe. Es wäre seiner Ansicht nach „verfehlt, sich den Kampf der Geister stets vor breitem Publikum vorzustellen“59. Zweifel an der Praxisbezogenheit der gregorianischen Sammlungen weckt zudem die Beobachtung, dass die große Sammlung der vorgregorianischen Zeit, das vor 1023 entstandene Decretum Burchardi, nicht nur bis in die Zeit der Reform hinein, sondern auch darüber hinaus, gerade in Italien weiterhin als Referenzwerk für die Praxis benutzt wurde, obwohl diese Sammlung im Hinblick auf das zentrale Anliegen der Reformpartei, die Dokumentation des privilegium Romanae ecclesiae, d.h. des römischen Primats als Quelle des Rechts, als besonders defizitär betrachtet wurde60. Auch Hildebrand, dem späteren Gregor VII., ging es wohl vor allem darum, als er, wie wir indirekt aus dem nicht näher datierbaren Antwortschreiben Petrus Damianis erfahren61, noch als Archidiakon der römischen Kirche Damiani wiederholt 58 So bestreitet Hubert Mordek wohl zu Recht die Behauptung von Fournier und LeBras, „mit der 74–Titel-Sammlung seien die Prinzipien der Reform im ganzen Westen durchgedrungen“ und verweist auf Attos Breviar (vgl. unten bei Anm. 109) und die 2-Bücher-Sammlung „mit ihrer heute singulären, damals sicher schwachen Überlieferung“, denen man noch die Sammlung des Kardinals Deusdedit hinzufügen kann (vgl. ebd. S. 69 und unten bei Anm. 145). Für die Sammlung Anselms von Lucca sei zu differenzieren: „Schwerpunkt ihrer Rezeption ist eindeutig Italien, also ihr Heimatland. Ihre außeritalienische Wirkung scheint auf bestimmte Regionen konzentriert, in denen auch der Investiturstreit hohe Wellen schlug“. (Mordek, Gregorianische Reform, wie Anm. 4, S. 69f.) 59 Mordek, Gregorianische Reform (wie Anm. 4), S. 70. 60 Detlev Jasper, Burchards Dekret in der Sicht der Gregorianer, in: Wilfried Hartmann (Hg.), Bischof Burchard von Worms 1000–1025, Mainz 2000 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 100) S. 167–198, hier S. 174. 61 Petrus Damiani, ep. 65, ed. Kurt Reindel, MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit, 4,2, München 1988, S. 229, Z. 10–15; vgl. Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 175 mit weiterer Literatur in Anm. 16; zu Petrus Damiani in der Kanonistik vgl. auch Stefan Freund,
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bat, die Dekrete und Geschichte der römischen Bischöfe durchzugehen und sorgfältig herauszuschreiben, was speziell der Autorität der römischen Kirche entspreche, um dies dann in einem kleinen Band in neuer Anordnung zusammenzustellen. Damiani kam jedoch dieser Aufforderung, wie er später selbst mit Bedauern feststellte, nie nach62.
Die 74-Titel-Sammlung Häufig hat man die im Rahmen der Gregorianischen Reform eher früh zu datierende und weit verbreitete 74–Titel-Sammlung, von der heute noch fast 30 Überlieferungen in verschiedenen Versionen vorliegen, mit dieser von Hildebrand/Gregor geforderten Sammlung in Verbindung gebracht63. Paul Fournier sah in ihr überhaupt „le premier manuel de la réforme“64 und Johannes Haller behauptete in einer längst widerlegten These, dass Gregor VII. dieses Handbuch seinen Legaten zur Synode von Tribur 1076 mitgegeben habe. Es habe die Bischöfe dort so nachhaltig vom römischen Primat überzeugen können, dass sie von Heinrich IV. abfielen65. Dass sich der „Reformgeist“ der 74–Titel-Sammlung jedoch deutlich von den Vorstellungen Gregors VII. unterschied, hat bereits Horst Fuhrmann durch seine Analyse der zahlreichen auf Pseudoisidor zurückgehenden Texte in dieser Sammlung zeigen können, deren großer Anteil schon allein als Indiz für die Reformgesinnung des
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Studien zur literarischen Wirksamkeit des Petrus Damiani, Hannover 1995 (MGH Studien und Texte 13), S. 87–125, hier S. 88 u. S. 94. Vgl. dazu demnächst auch Kéry, Kanonessammlungen (wie Anm. 11) Petrus Damiani, ep. 65, ed. Reindel (wie Anm. 61), S. 236, Z. 7–10. Vgl. Horst Fuhrmann, Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanae ecclesiae. Randnotizen zum Dictatus Papae, in: Kurt-Ulrich Jäschke, Reinhard Wenskus (Hg.), Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 263–287, hier S. 270f. Die Sammlung wurde ediert von John T. Gilchrist, Diuersorum patrum sententie siue Collectio in LXXIV titulos digesta, Città del Vaticano 1973 (Monumenta Iuris Canonici, Series B: Corpus Collectionum 1); engl. Übers.: The Collection in Seventy-Four Titles: A Canon Law Manual of the Gregorian Reform, translated and annotated by John T. Gilchrist (Medieval Sources in Translation 22; Toronto 1980). Vgl. auch Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 204–210; Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 110–119. Paul Fournier, Le premier manuel canonique de la réforme du XIe siècle, Mélanges d’archéologie et d’histoire de l’École française de Rome 14 (1894), S. 147–223, 285–290 (ND in: ders., Mélanges de droit canonique, éd. par Theo Kölzer avec avant-propos par Jean Gaudemet, 1–2, Aalen 1983, 2, S. 551–633). Vgl. dazu die Angaben bei Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1102 mit Anm. 4.
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Sammlers angesehen wurde66. Wie Fuhrmann zeigen konnte, hat der Autor der 74–Titel-Sammlung die von ihm herangezogenen Texte jedoch nicht nur „reihenweise exzerpiert und systematisch geordnet“, sondern an nicht wenigen Stellen sei „eine überaus selbstbewußte Redaktion bemerkbar“67, die dazu führte, dass der apostolische Stuhl in der 74–Titel-Sammlung vor allem als oberste Rechts- und Appellationsinstanz angesprochen wird, der nicht nur Könige und andere Machthaber, sondern auch die Bischöfe zu folgen haben – wie der Verfasser durch eine Ergänzung gegenüber seiner pseudoisidorischen Vorlage betont68. Rom erscheint in dieser Sammlung zwar als cardo et caput aller Kirchen, jedoch in erster Linie auf den Jurisdiktionsprimat bezogen: „Die römische Kirche ist eine Herrenstiftung, daher (Ergo) Haupt aller Kirchen, daher (Igitur) oberste Gerichtsinstanz.“69 Auch die Autorität der päpstlichen Privilegien wird hervorgehoben und durch „energische sachliche Eingriffe“, die manchen sogar an Fälschungen denken ließ (Anton Michel)70, in erster Linie auf die auf diesen Privilegien basierende Freiheit der Mönche und Klöster bezogen, die zudem noch durch einen eigenen Titel („De libertate monachorum et monasteriorum“) dokumentiert wird71. Auf Grund dieser inhaltlichen Schwerpunkte, zu denen auch ein größerer Block von Kapiteln über Verfahrensrecht gehört, mit dessen Hilfe solche Freiheiten erstritten oder verteidigt werden konnten, drängt sich der Eindruck auf, dass diese Sammlung von Mönchen und für Mönche zusammengestellt wurde72, und zwar mit dem 66 Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1106. Fuhrmann bezeichnet die 74– Titel-Sammlung auch als „interessantesten Rezipienten pseudoisidorischen Rechts unter den Autoren vorgratianischer Sammlungen“, nirgendwo würden die pseudoisidorischen Dekretalen so stark berücksichtigt, wie in der 74–Titel-Sammlung (ebd. S. 1118). Vgl. auch Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 486–509. 67 Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1114. 68 Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1117, 1119–1120. 69 Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1109: „Diese Deduktion hat der Verfasser der Sentenzen zusammengestellt, wie auch die Konklusionswörter Ergo und Igitur seine Zutat sind.“ 70 Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1115. 71 Vgl. Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1119: „Und wie auf der einen Seite die episkopale Immunität aufgeweicht und auf die gesamte Geistlichkeit übertragen worden ist, so ist auf der andern Seite Pseudoisidors Unterlassung, das Mönchtum nicht zu berücksichtigen, teilweise aufgehoben.“ Vgl. dort auch S. 1115. 72 Diese Einschätzung wurde jetzt auch in einem Beitrag zur Festschrift für Linda Fowler-Magerl noch einmal ausführlich erläutert und unterstrichen. Vgl. Christof Rolker, The Collection in Seventy-four-Titles: A Monastic Canon Law Collection from Eleventh-century France, in: Martin Brett and Kathleen G. Cushing (Hg.), Readers, Texts and Compilers in the Earlier Middle Ages. Studies in Medieval Canon Law in Honour of Linda
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Ziel, die Freiheit ihrer Klöster auf der Grundlage päpstlicher Privilegien und in Anlehnung an den römischen Jurisdiktionsprimat mit prozessualen Mitteln gegen bischöfliche Eingriffe zu sichern. Dem entspricht auch die Überlieferung einer leicht umgruppierten Version der 74–Titel-Sammlung zusammen mit dem ältesten Chartular der Abtei Saint-Denis (Paris BN nouv. acq. lat. 326)73, auch wenn die 1926 von Léon Levillain aufgestellte These, dass diese von ihm so genannte „Collection de Saint-Denis“ vor dem Hintergrund des Exemtionsprozesses, den die Abtei gegen den Bischof von Paris führte, 1065 entstanden sei74, sich – was den zeitlichen Ansatz angeht – nicht eindeutig beweisen lässt. Schließlich dauerte der Konflikt des Klosters mit dem Bischof von Paris auch nach 1068 noch an. Die Überlieferung aus Saint-Denis kann demnach zwar nicht als Beleg für eine Frühdatierung der 74–Titel-Sammlung dienen, aber ihre Existenz im Kloster zeigt, dass „die Mönche an der Entwicklung der Kanonistik regen Anteil nahmen“ und erkannt hatten, dass sie ihnen auch in zukünftigen Auseinandersetzungen von Nutzen sein konnte75. Ohne hier näher auf die sehr komplexe und immer noch nicht abschließend geklärte Entstehungsgeschichte der 74–Titel-Sammlung einzugehen76, ist in Bezug auf mögliche Adressaten jedoch darauf hinzuweisen, dass die Sammlung, wie Detlev Jasper nachgewiesen hat, bereits 1073/74 von Bernold von Konstanz erstmals
Fowler-Magerl, Aldershot 2008, S. 59–72, hier S. 72 mit dem Fazit: „The structure, textual manipulations, manuscript tradition and reception oft 74T all suggest a monastic origin for the famous collection. […] The monks of the the eleventh and twelfth centuries who copied and used 74T were convinced that the collection was particularly favourable to the interests of their communities, and I see no reason to contradict them.“ Vgl. dazu Kéry, Kanonessammlungen (wie Anm. 11). 73 Vgl. Fuhrmann, Reformgeist (wie Anm. 32), S. 1119, auch mit Hinweis auf die Collectio Beneventana (von 1119/20) und die Collectio Farfensis in Anm. 59. Zum Chartular von St-Denis und der mit ihr verbundenen Überlieferung der 74–Titel-Sammlung, vgl. ebd. S. 1114f, Anm. 10. 74 Léon Levillain, Études sur l’abbaye de Saint-Denis à l’époque mérovingienne, Bibliothèque de l’École des Chartes 87 (1926) S. 299–324, der die Sammlung als „Collection de Saint-Denis“ bezeichnet (S. 301); Rolf Grosse, Saint-Denis zwischen Adel und König. Die Zeit vor Suger (1053–1122), Stuttgart 2002, mit dem Verzeichnis zum Aufbau der Sammlung (Rubrik, Quellenangabe, Aussteller, Incipit, Explicit) und zum Fundort in der 74–Titel-Samlung bzw. einer anderen Vorlage (S. 71–77). 75 Grosse, Saint-Denis (wie Anm. 74), S. 78: „Aber der Anfang der Sammlung legt die Vermutung nahe, dass sie als Waffe gegen den Bischof von Paris dienen sollte.“ 76 Dazu auch Kéry, Kanonessammlungen (wie Anm. 11).
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benutzt worden sein muss77, der ihr dann um 1075/76 ( Jasper) oder nach 1077 (Fowler-Magerl) noch einen Appendix hinzufügte, dessen Einzeltexte sich alle auf die Exkommunikation beziehen78. In Anlehnung an das Incipit in den Handschriften dieser Schwäbischen Rezension, wo es heißt, dass kirchliche Regeln aus dieser Sammlung (ex sententiis sanctorum patrum deflorate) von Legaten des apostolischen Stuhls zur Regelung kirchlicher Rechtsfälle nach Gallien gebracht worden seien (a legatis ipsius sedis apostolice in Gallias pro ecclesiasticarum dispositione causarum deportate)79, hat Linda Fowler-Magerl unter anderem die Ansicht vertreten, Gregor VII. habe die ihm ursprünglich von Mönchen vorgelegte 74–Titel-Sammlung seinen Legaten nach Frankreich zu den dort stattfindenden Konzilien mitgegeben, weil ihm in den 70er Jahren noch keine bessere Sammlung zur Verfügung gestanden habe, mit der man Simonie und andere Vergehen hätte bekämpfen können80. Offenbar („with certainty“) habe, so Fowler-Magerl, Hugo von Die eine (in Montecassino auf Geheiß Gregors VII. angefertigte) Abschrift dieser Sammlung nach Poitiers gebracht. Dort habe man zudem schon vor dem Konzil von 1078 über eine frühe Version der Sammlung verfügt81, wie die Benutzung dieser Version nicht nur für 77 So Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 110; vgl. auch Bernold von Konstanz, De excommunicatis vitandis, de reconciliatione lapsorum et de fontibus iuris ecclesiastici (Libellus X), ed. Doris Stöckly, Detlev Jasper, in: MGH Fontes iuris 15, Hannover 2000, S. 171, Anm. 396. 78 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 110. Vgl. Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 178. Zum sogenannten Schwäbischen Appendix vgl. Johanne Autenrieth, Bernold von Konstanz und die erweiterte 74–Titel-Sammlung, DA 14 (1958) S. 375–394; vgl. dort auch S. 377 u. S. 394, wo sie darauf hinweist, dass Fragen der Exkommunikation Bernold von Konstanz insgesamt sehr wichtig waren (vgl. auch oben Anm. 63). Vgl. jetzt auch die Edition der Schrift De vitanda excommunicatorum communione durch Oliver Münsch, Neues zu Bernold von Konstanz, in: ZRG, Kan. Abt. 92 (2006), S. 207–223, hier S. 218– 223. 79 Diuersorum patrum sententie, ed. Gilchrist (wie Anm. 63), S. 19, Anm. zum Titel. Vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 110. 80 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 116–117. 81 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 117. Vgl. dazu auch Linda Fowler-Magerl, Fine Distinctions and the Transmissions of Texts, ZRG Kan. Abt. 83 (1997), S. 146–186, hier S. 156–166 und 177–179; Zeuge dieser frühen Version der 74–Titel-Sammlung ist u. a. die Collectio Burdegalensis, die in den späten 70er oder frühen 80er Jahren des 11. Jahrhunderts in Poitiers oder Bordeaux einen umfassenden Auszug aus dem Decretum Burchardi mit Exzerpten aus dieser Version der 74–Titel-Sammlung verband. Vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 129 („The Collectio Burdegalensis is an abbreviated form of the Liber decretorum of Burchard“) und Kriston R. Rennie, The Collectio Burdegalensis and the Transmission of Canonical Texts to Bordeaux c. 1079, in: Peter Erdö, Anzelm Szabolcs Szuromi (Hg.), Proceedings of the Thirteenth International Congress
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die oben genannte „Sammlung von Saint-Denis“ (Paris, BnF nouv. acq. lat. 326), sondern ebenso für die Collectio Burdegalenis sowie für das dritte Buch der Collec tio Farfensis82 nahelegt, um nur die Sammlungen zu nennen, deren Ursprung einem klösterlichen Umfeld zugeschrieben werden. Nicht nur inhaltliche Schwerpunkte, sondern auch bestimmte Aspekte der Rezeptionsgeschichte der 74–Titel-Sammlung deuten also darauf hin, dass monastische Kreise als „Adressaten“ dieser Sammlung gelten dürfen. Vor allem nach grö ßerer Unabhängigkeit vom Bischof strebende und sich dabei an den römischen Primat anlehnende Abteien oder Mönche konnten hier die entsprechenden Rechtssätze zur Unterstützung ihrer Bemühungen finden. Das schließt natürlich nicht aus, dass päpstliche Legaten, die für die Verbreitung der Reformvorstellungen und die entsprechende Klärung von Rechtsfällen sorgen sollten, mangels Alternative zunächst ebenfalls mit dieser Sammlung ausgestattet wurden.
Prologe Auf den ersten Blick einfacher zu beantworten ist die Frage nach der jeweils angesprochenen Öffentlichkeit für jene Werke, die über einen Prolog verfügen, in dem sich ihr namentlich hervortretender Autor über seine Beweggründe und eventuellen Auftraggeber sowie die genaueren Umstände, Ziele und die Adressaten seiner Bemühungen äußert83. Aber auch in diesen Fällen bedarf es einer genaueren Analyse, um vorschnelle Schlussfolgerungen zu vermeiden. Vor allem drei Sammlungen, die von ausgewiesenen Anhängern der gregorianischen Reform angelegt wurden, weisen ein Vorwort auf, das hier als Anhaltspunkt für mögliche Adressaten der jeweiligen Sammlung ausgewertet werden soll: das Breviarium des Kardinalpriesters Atto von San Marco, die Collectio canonum des Kardinalpriesters Deusdedit von San Pietro in Vincoli und der Polycarpus des Kardinalpriesters Gregor von San Grisogono. of Medieval Canon Law, Esztergom, 3–8 August, Città del Vaticano 2010, S. 179–186, der für eine Kompilation dieser Sammlung in der Abtei La Sauve Majeure bei Bordeaux plädiert. Vgl. jetzt auch Kriston R. Rennie, The Collectio Burdegalensis. A Study and Register of an Eleventh-Century Canon Law Collection, Toronto 2013. 82 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 114; für die Collectio Farfensis vgl. Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 99f. 83 Vgl. dazu insgesamt Somerville, Brasington, Prefaces (wie Anm. 3), S. 105–169 (The Era of Reform 1050–1140), die auch auf die fortschreitende Entwicklung des kanonischen Rechts innerhalb dieses Zeitraums zur „dialectical jurisprudence“ hinweisen, die sich in den Prologen widerspiegele (S. 105).
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a) Atto von San Marco Das wohl schon bald nach 1073 entstandene Breviarium canonum des Kardinalpriesters Atto von San Marco kann als Beleg dafür gelten, dass man in Rom bereits in der Frühzeit Gregors VII. (1073–85) dem kanonischen Recht große Bedeutung beimaß84. Im Prolog seines Werkes wendet sich Atto, der als gewählter Erzbischof aus Mailand fliehen musste85, an seine Mitbrüder (confratres), die Kleriker von San Marco, deren Unwissenheit er mit einer neuen kirchenrechtlichen Sammlung beheben wolle, denn diese Unwissenheit resultiere auch daraus, dass sie sich mangels besserer Quellen notgedrungen auf ein paenitentiale Romanum stützten, dessen Name eigentlich nur auf betrügerische Absichten zurückgehen könne ( fingeretur), da es sich in Wahrheit um eine apokryphe Schrift rusticano stilo handele86. Gefährlich sei dieses paenitentiale vor allem für diejenigen, welche die authentischen Kano84 Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 233f. (Lit.), bei der Angabe zur Edition bei Migne liegt eine Verwechslung mit Atto von Vercelli vor; ebenso bei Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 138f. Die Edition des Prologs: Attonis cardinalis presbyteri Capitulare seu Breviarium canonum, ex Codice Vaticano ed. Angelo Mai, Scriptorum veterum nova collectio e Vaticanis codicibus edita 6.2 (Rom 1832) S. 60–102, hier S. 60f.; Franz Pelster, Das Dekret Burkhards von Worms in einer Redaktion aus dem Beginn der gregorianischen Reform (Cod. Vat. lat. 3809 und Clm 4570), Studi Gregoriani 1 (1947) S. 321–351, hier S. 323, fand heraus, dass Angelo Mai für seinen Druck die Hs. Vat. lat. 586 (saec. XI) aus San Marco benutzte (Anm. 4) und druckte einen Teil des Prologs (Anm. 5) nach dieser Handschrift. Vgl. auch J. Joseph Ryan, Observations on the Pre-Gratian Canonical collections: Some Recent Work and Present Problems, Congrès de Droit Canonique Médiéval, Louvain et Bruxelles 22–26 juillet 1958 (Bibliothèque de la RHE 33) Louvain 1959, S. 88–103, hier S. 98–99. Somerville, Brasington, Prefaces (wie Anm. 3), S. 108f. und S. 118–121; Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 179–184; zur Rezeption des Breviars in späteren Sammlungen vgl. Fournier-Le Bras, Histoire (wie Anm. 1) 2, S. 20–25; Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 138. 85 Atto war 1072 von der Pataria zum Erzbischof gewählt worden, konnte sich jedoch in Mailand nicht halten und war von Alexander II. oder Gregor VII. nach Rom geholt und zum Kardinalpriester von San Marco ernannt worden. Zu Atto vgl. zunächst Paul Fournier, Les collections canoniques romaines de l’époque de Grégoire VII, Mémoires de l’Institut national de France, Académie des inscriptions et belles-lettres 41 (1917) S. 271–397, S. 288–294; ND in: Theo Kölzer (Hg.), Mélanges de droit canonique, 2 Aalen 1983, S. 425–550, hier S. 442–448. Vgl. auch Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 21–23; R. Abbondanza, Attone, DBI 4 (1962) S. 564f.; Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 179f. mit Lit. in Anm. 27. 86 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 60: Scio, dilectissimi fratres, quod duae causae sunt ignorantiae vestrae: una quod aegritudo loci extraneos qui vos doceant hic habitare non sinit, alia quod paupertas vos ad extranea loca [ad] discendum non permittit abire: quibus compel lentibus causis factum est ut paenitentiale romanum apocryphum fingeretur, et rusticano stilo;
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nes nicht kennen87. „Wir haben jedoch Glück“, meint Atto, denn ganz in unserer Nähe befindet sich der Ort, „wo die Münze geprägt wird.“ Damit meint er den apostolischen Stuhl, auf den letztlich alle kirchliche Rechtsetzung zurückzuführen sei, denn authentisch sei ein Schriftstück nur, wenn es vom römischen Bischof bestätigt worden sei88. Selbst die bloße Übersetzung eines theologischen Textes aus dem Griechischen ins Lateinische müsse dem Papst zur Approbation vorgelegt werden, wie es Papst Nikolaus I. (858–867) ausdrücklich verlangt habe89. Vor allem das genannte paenitentiale Romanum wird von Atto als Quelle des Kirchenrechts in Bausch und Bogen zurückgewiesen (non est ratum)90, gleichgültig, ob derjenige, der es diktierte, tatsächlich ein Römer war oder ein anderer dieses
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(vgl. Pelster, Dekret, wie Anm. 84, S. 323, Anm. 5 mit leicht abweichender Schreibweise). Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 60: ut illi qui authenticos canones nesciunt, et lit teras non intelligunt, in his fabulis confidant; (vgl. Pelster, Dekret, wie Anm. 84, S. 323, Anm. 5). Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 60: Sicut enim, secundum Iob, est locus, ubi confla tur aurum, ita apud nos locus est ad faciendam hanc monetam, ut non sit scriptum authenti cum, quod a romano Pontifice non fuerit confirmatum. Vgl. Pelster, Dekret, wie Anm. 84, S. 323, Anm. 5); Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38) S. 530. Atto beruft sich hier (wie Anm. 84) S. 60f. auf Papst Nikolaus, der zur Zeit Kaiser Ludwigs dieses Amt innegehabt und sich folgendermaßen zu einer neueren Übersetzung der Schrift des Pseudo-Dionysius Areopagita geäußert habe: Relatum est apostolatui nostro, quod opus beati Dionysii ariopagitae, quod de divinis nominibus vel caelestibus ordinibus graeco descripsit eloquio, quidam Ioannes genere scotus nuper in latinum sermonem transtulerit, quod iuxta morem nobis mitti, et nostro debuit iudicio approbari vel reprobari. Zur Verwendung dieses Briefes Nikolaus‘ I. durch Atto siehe Robert Somerville, Pope Nicholas I. and John Scottus Eriugena: JE 2833, ZRG Kan. Abt. 83 (1997) S. 73–76; v.a. S. 76: „All that can be said at this point regarding Atto’s access to JE 2833 is that he knew the text, or at least the first part of it, seems to be the first writer who did, and that he used it in his preface but not, as far as can be seen from the known copy, in the Breviarium proper.“ Die Identität dieses Römischen Bußbuchs ist bisher nicht geklärt. Man hat vermutet, dass es sich um das sechste Buch des Paenitentiale Halitgars von Cambrai handeln könnte, das unter diesem Namen firmierte. So Raymund Kottje, Die Bussbücher Halitgars von Cambrai und des Hrabanus Maurus. Ihre Überlieferung und ihre Quellen, Berlin, New York 1980 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 8) S. 159, Anm. 32. Vgl. auch Somerville, Brasington, Prefaces (wie Anm. 3), S. 108f. Anm. 7. Offenbar bezieht Atto sich mit seiner Kritik auf das Paenitentiale Romanum als eine der wichtigsten Quellen des 19. Buches von Burchards Dekret (des sog. Liber Corrector), das dort für 26 von 55 Kapiteln als Quelle inskribiert wird, „unter dessen Dach“ jedoch „Texte ganz verschiedener, bis heute teilweise nicht geklärter Provenienz Platz“ finden. Vgl. Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 182 mit Anm. 34 und die Inskriptionen im 19. Buch des Decretum Burchardi, ed. Fransen, Kölzer (wie Anm. 40), fol. 187v–218v.
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„rusticanum scriptum“ in betrügerischer Absicht mit diesem Titel versehen habe91. Etwas differenzierter fällt seine Kritik an der Sammlung des Bischofs Burchard von Worms (1000–1025) aus, die, wie Jasper aus der „teilweise verblüffenden Parallelität zwischen den Vorworten Burchards und Attos“ ableitet, „der eigentliche Gegenstand der Kritik“ war92. Anscheinend wollte Atto jedoch Burchards Liber decretorum nicht generell zurückweisen, da er vorläufig noch nicht durch eine neue Sammlung adäquat ersetzt werden konnte, warnte jedoch vor den zahlreichen Fehlzuschreibungen, die das Decretum Burchardi tatsächlich enthält, und auch vor den sinnentstellenden Lese- und Schreibfehlern, die es aufweise und die den heiligen Männern die Schamesröte ins Gesicht treibe93. Er bezeichnet Burchards Dekret auch deshalb als wenig tauglich für die Praxis, weil man jeweils überprüfen müsse, ob die einzelnen Bestimmungen – gerade auch der transalpinen Konzilien – nicht gegen die Vernunft oder unmittelbar gegen die Vorschriften der römischen Kirche verstießen. Wenn dies jedoch nicht der Fall sei, könnten sie zumindest in den Gegenden, wo sie erlassen wurden, durchaus Geltung beanspruchen94. Um der aus solchen Unzulänglichkeiten resultierenden Verwirrung seiner Mitkleriker an der römischen Titelkirche von San Marco Abhilfe zu verschaffen, hat Atto nun auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin aus den „heiligen Kanones“ ein Breviarium zusammengestellt, das die Verhängung von Bußen und die Regelung von Rechtssachen betreffe95. Die von Atto skizzierte Aufgabenstellung entspricht also genau dem, was der Begriff paenitentiale bereits suggerierte – es ging ihm um ein neues, das alte ersetzende Handbuch für die Praxis, das den Beichtpriestern (ad dandas penitentias) und kirchlichen Richtern (ad diffinitonem causarum) als Anleitung dienen soll96. Offenbar ist mit dem von Atto als apokryph kritisierten paenitentiale Romanum 91 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: Unde patet quod paenitentiale romanum non est ratum, sive fuerit ille romanus qui dictavit, sive alius fallaciter romanae sedis autoritate rusticanum scriptum titulavit. 92 Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 183. 93 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: Multa tamen ibi, licet vera, falso nomine auc toris titulantur; alia re ipsa falsa leguntur; alia vero turpissima scribuntur, quae sanctis viris solet esse pudor dicere, et pudor audire […]. 94 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: Transalpina vero concilia, quae in Burcardo leguntur, si non sunt contra rationem aut contra instituta romanae ecclesiae, in locis suis ubi facta sunt obtinent firmitatem. […] Proinde quadam orta confusione, cum nesciatis inter haec quid spernere, quid tenere, […]. (Vgl. Pelster, Dekret, wie Anm. 84, S. 323, Anm. 5). 95 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: …hortatus a vobis ut excipiam aliquod ex sacris canonibus breviarium, quod pertineat ad dandas paenitentias et ad definitionem causarum, oboedio caritati vestrae. (Vgl. Pelster, Dekret, wie Anm. 84, S. 323, Anm. 5). 96 Zur Funktion der Bußbücher vgl. Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts,
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gar keine weitere Sammlung, etwa das unter diesem Namen firmierende sechste Buch des Bußbuches Halitgars von Cambrai, gemeint, wie vermutet wurde, sondern das in Burchards 19. Buch, dem Liber Corrector, häufig zitierte paenitentiale Roma num, unter dessen Flagge zahlreiche Texte segeln, deren Herkunft zum Teil bis heute nicht geklärt ist, ein Werk, das Atto wohl vor allem deshalb angreift, weil es mit seinem Titel eine Authentizität vorspiegelt, die es nicht besitzt97. Dass die von Atto exzerpierten Texte, wie bereits angesprochen, sowohl für die Praxis der Beichtpriester als auch des kirchlichen Gerichts bestimmt waren, darauf deutet auch die Kürze der meisten Auszüge im Breviarium hin, von denen sich viele auf ihre Kernaussage beschränken und den Textzusammenhang nicht mitüberliefern. Wohl auch deshalb fühlt Atto sich veranlasst zu betonen, dass seine Kleriker sich – was die von ihm selbst beschworene Authentizität der Texte angehe – ganz auf ihn verlassen könnten: „Zu den Worten, die ich dort fand, habe ich in diesem kleinen Werk nichts hinzugefügt und nichts geändert.“98 Nur an einigen Stellen habe er wegen einer Abkürzung in dem entsprechenden Satz durch die Einfügung von Worten einen Übergang geschaffen99. Trotz dieser Zielsetzung, ein kurzes, knappes, auf das Wesentliche konzentrierte Nachschlagewerk für seine Mitbrüder an San Marco zu schaffen, war Attos Brevia rium aber andererseits wenig geeignet für die Praxis. Es weist keine systematische Ordnung auf und enthält im Wesentlichen eine chronologisch nach Päpsten geordnete Aneinanderreihung von Exzerptgruppen, die lediglich durch eine recht allgemein gehaltene Inskription, wie etwa „Ex decretis Damasi“, angekündigt werden100. Vielleicht sollte sein Breviarium auch lediglich als eine Art Zugabe zu bereits in Gebrauch befindlichen kirchenrechtlichen Sammlungen, speziell zum Decretum Burchardi, dienen, mit deren Hilfe man vorerst – gleichsam in Erwartung neuer Sammlungen, die den Ansprüchen an die von den Päpsten verbürgte Authentizität mehr entsprechen würden – als kirchenrechtlicher Laie durch einen entsprechenden Vergleich überprüfen konnte, wie es im Einzelfall um die Authentizität der dort gefundenen Texte bestellt war. Dazu passt auch, dass Atto sich ausdrücklich an seine Mitbrüder wendet, denen es in ihrer Einfachheit nicht möglich sei, jenes
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Köln, Weimar, Wien 2006 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 10), S. 119–133. Vgl. oben Anm. 77 u. Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 182. Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: In quo hoc opusculo verbis quae ibi inveni nihil addidi, nihil mutavi. Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: In quibusdam vero locis propter adbreviationem in eadem sententia verbis quibusdam interpositis transitum feci. Vgl. etwa Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 71f.
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corpus decretorum (Burchards?) zu durchschauen (intelligere) und zu unterscheiden, ob es sich um authentische oder apokryphe Texte handelt, die dort zur Verfügung gestellt werden. Um Abhilfe zu schaffen, stellt er ihnen als zusätzliches Hilfsmittel eine Art defloratio, eine Blütenlese, aus den Dekreten der römischen Bischöfe und „überseeischen“ Konzilien zur Verfügung, worunter die griechischen und afrikanischen Konzilien der Dionysio-Hadriana zu verstehen sind101, die ja schon durch das Widmungsschreiben Hadrians I. für Karl den Großen über eine besondere päpstliche Legitimation verfügten102. Bei dem hier absolut im Mittelpunkt stehenden Bemühen Attos um die Authentizität der Rechtstexte ist es besonders delikat, dass der Kardinal neben den Briefen der Päpste Gelasius I. und Gregor I. vor allem die pseudoisidorischen Dekretalen als Quellen für sein Breviarium heranzog103, die zu seiner Zeit ja noch uneingeschränkt als authentisch galten104. Dass er selbst die Adressaten der von ihm zitierten Brieftexte nicht nennt, was ihre Identifizierung und so auch die Überprüfung ihrer Authentizität fraglos erleichtert hätte, rechtfertigt der Kardinal mit dem Hinweis darauf, dass auch manche Gelehrte aus den Apostelbriefen Exempla anführten, ohne die Adressaten dieser Schreiben zu nennen105. Vielleicht ist diese nicht wirklich überzeugende Erklärung jedoch auch ein Hinweis darauf, dass Atto bereits eine der vielberufenen „Gregorianischen Zwischensammlungen“ benutzte, die schon Horst Fuhrmann mit seinem Breviarium in Verbindung brachte106. Auch Somerville vermutet, dass Atto die Vorlage für den Auszug aus dem Brief Nikolaus I., den er in seinem Vorwort zitiert, 101 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: […] sic quandam deflorationem simplicitati vestrae tribuo ex decretis romanorum Pontificum, et conciliis transmarinis, qui corpus illud decretorum intelligere non valetis; et etiamsi intelligeretis, propter fastidium legere non pos setis. Vgl. Fournier, Collections romaines (wie Anm. 85), S. 293 (447); Fournier, Le Bras, Histoire (wie Anm. 1), S. 23; Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 181; Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 138. 102 Vgl. dazu Kéry, Kanonessammlungen (wie Anm. 11). 103 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 138; vgl. auch Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 531f, der „zumindest in manchen Teilen“ von einer gemeinsamen Vorlage mit Deusdedit ausgeht: einer Exzerptsammlung mit stark nach einer pseudoisidorischen A2–Version tendierendem Wortlaut. 104 Fournier, LeBras, Histoire (wie Anm. 1) S. 6. 105 Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61: Si autem doctores, ex apostolo sumentes exemplum, mentionem eorum, quibus scripsit, non faciunt; non miremini, si eorum quibus scriptum est, non facio mentionem. 106 Vgl. Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 521, Anm. 256 und S. 531f. mit Anm. 290. Bei einem inhaltlichen Vergleich mit Pseudoisidor zeigt Atto sich nach Ansicht von Fuhrmann als „ein auf die Kirche eingeschworener Rigorist“ (S. 530). Zu den Zwischensammlungen vgl. auch Uwe Horst, Die Kanonessammlung Polycarpus des Gregor von
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möglicherweise einer solchen Zwischensammlung entnommen habe, ohne dies jedoch sicher belegen zu können107. Am Ende vergleicht Atto sich mit einem Gastwirt, der die Reisenden einlädt, den Wein vorher zu kosten, und sie zugleich bittet, drinnen zu verweilen und mehr zu verlangen. Schon durch eine solche „Kostprobe“ könnten sie verhindern, dass sie wegen ihrer Unwissenheit verurteilt würden, die schon bei Laien kaum erträglich, aber bei „denjenigen, die führen“, unverzeihlich sei108. Damit deutet Atto offenbar an, dass sein Breviarium nur einen ersten Entwurf darstellt, der jedoch allem Anschein nach als unzureichend betrachtet wurde, denn er ist nur noch in einer einzigen Handschrift (Vat. lat. 586, saec. XI) überliefert109. Sowohl Fournier als auch Fuhrmann haben Übereinstimmungen mit einigen Kanonesreihen bei Deusdedit festgestellt110. Fuhrmann schließt daraus, dass Attos Pseudoisidorvorlage „zumindest in manchen Teilen mit einer Quelle Deusdedits identisch gewesen sein“ dürfte111, und damit auf eine von beiden benutzte Zwischensammlung. Zudem wurden einige bei Atto zu findende Kanonesreihen von Anselm von Lucca und Deusdedit offenbar auch für deren Streitschriften aufgegriffen112 sowie angeblich
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S. Grisogono. Quellen und Tendenzen, München 1980 (MGH Hilfsmittel 5), S. 46–51; Kéry, Fundorte (wie Anm. 4), S. 292. Somerville, Nicholas I (wie Anm. 89), S. 76. Breviarium, ed. Mai (wie Anm. 84), S. 61f.: Licet ergo vos tamquam viatores caupo ad praelibandum vinum invitem, rogo tamen vos, ut intus hospitati amplius requiratis, ne de ignorantia iudicemini, quemadmodum scriptum est: qui ignorat, ignorabitur. Unde Cae lestinus papa ait: nulli sacerdotum suos liceat canones ignorare. Item Leo: si vix in laicis tolerabilis videtur inscitia, quanto magis in his qui praesunt nec excusatione est digna nec venia! Item Dominus per prophetam: quia tu scientiam reppulisti, et ego repellam te, ne sacerdotio fungaris mihi. Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 233, dort auch verzeichnet die von Lucas Holste (†1661) angefertigte Abschrift, die Suzanne Wemple in Toledo (Archivo y Biblioteca Capitular, 8–19, saec. XVII) entdeckte. Fournier, LeBras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 24; vgl. auch Fournier, Collections romaines (wie Anm. 85), S. 293 (447) Anm. 2. Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 531. Vgl. dort Anm. 290 die Ergebnisse des Textvergleichs. Vgl. auch Abbondanza, DBI 4 (1962), S. 564, der wie Fournier von einer anderen (ausführlicheren) Version von Attos Breviarium als Vorlage für Deusdedit ausgeht. Fournier, LeBras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 24 mit Anm. 2 verweisen auf Fragmente, die denjenigen des Breviarium sehr ähnlich sind, und zwar in Deusdedits Libellus contra invasores et symoniacos (MGH Ldl 2, S. 335) und in dem von Anselm von Lucca redigierten Schreiben Contra Wibertum (MGH Ldl 1, S. 526 und 527).
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auch von Placidus von Nonantola für seinen um 1111 entstandenen Liber de honore ecclesie113. Es handelt sich bei dem Kardinalpriester Atto von San Marco also um einen überzeugten Gregorianer, der es unerträglich fand, dass in der Praxis der Beichtpriester und vor dem kirchlichen Gericht auf zweifelhafte Rechtstexte ohne römische Autorität zurückgegriffen wurde, die sich zu allem Überfluss auch noch teilweise mit dem unzutreffenden Epitheton „römisch“ schmückten. Er versuchte deshalb offenbar möglichst schnell, zunächst nur für seine Mitbrüder114, mit einem ersten Entwurf Abhilfe oder doch zumindest mit seinen Exzerptreihen die oben angesprochenen Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen, um so die Benutzer der bisherigen Sammlungen und wohl vor allem von Burchards Dekret in die Lage zu versetzen, selbst festzustellen, ob die von ihnen vorgefundenen Texte als authentische Vorschriften der römischen Kirche gelten konnten. Vielleicht wollte er aber zugleich auch generell das Bewusstsein für die Bedeutung authentischer Texte schärfen, auch wenn er selbst mit seinem Breviarium diesem Anspruch (noch) nicht hinreichend entsprechen konnte.
b) Deusdedit Deusdedit, der sich als Kardinalpriester der Titelkirche von SS. Apostoli in Eudoxia vorstellt, widmet seine wohl um 1087 abgeschlossene Sammlung Papst Viktor III. (1086–1087) und dem Klerus der „heiligen römischen Kirche“115, wobei zunächst nicht ganz klar ist, ob er sich damit speziell an den stadtrömischen Klerus wandte, 113 Fournier, LeBras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 24; vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 138, bei Jörg W. Busch, Der Liber de Honore Ecclesiae des Placidus von Nonantola. Eine kanonistische Problemerörterung aus dem Jahre 1111. Die Arbeitsweise ihres Autors und seine Vorlagen, Sigmaringen 1990 (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 5) ist jedoch von Attos Breviarium keine Rede. 114 Dies betont vor allem Mordek, Gregorianische Reform (wie Anm. 4), S. 68: „[…] wohlgemerkt für seine engeren Mitbrüder, für einen ganz konkreten lokalen Zweck und nicht mit der Absicht ein allgemein zu verbreitendes Handbuch der Reform zu kreieren: Die singuläre Überlieferung beweist, daß es seinem ursprünglichen Zweck stets treu geblieben ist.“ 115 Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 1: Beatissimo atque apostolico viro pontifici domno papae Uictori tertio et omni clero sanctę Romanę ecclesię Deusdedit exiguus presbiter tituli apostolorum in Eudoxia. Zu Deusdedit vgl. Fournier, LeBras, Histoire (wie Anm. 1), 2, S. 37–54, Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38) S. 523–533; Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10) S. 160–163. Zum Prolog vgl. auch Somerville, Brasington, Prefaces (wie Anm. 3), S. 109f. und 122–129. Zur Widmung an Viktor III. und Deusdedits Verhältnis zu Viktor III. vgl. auch Herbert Edward John Cowdrey,
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wie man aus dem wiederholten Bezug auf Petrus und Paulus abgeleitet hat, oder eher an den Klerus der universalen römischen Kirche dachte, wie möglicherweise durch ein über der Zeile nachgetragenes omni verdeutlicht werden sollte116. Dem würde auch die am Anfang des Vorworts skizzierte Ekklesiologie entsprechen, welche die römische Kirche als Mutter aller Kirchen anspricht und Petrus als denjenigen, der zunächst den Patriarchaten im Osten und später auch „a latere suo“ allen Städten im Westen ihre ersten Hirten (primos pastores) gegeben habe117. Wie Uta-Renate Blumenthal gezeigt hat118, weist die Sammlung des Deusdedit Textmodifikationen auf, die man nicht einfach damit erklären kann, dass sie die gregorianische Position stärken sollten, sondern sie belegen eine bestimmte Tendenz, für die sich Anhaltspunkte auch schon im Prolog feststellen lassen. Schon Fournier war aufgefallen, dass Deusdedit zweimal den Namen seiner Titelkirche als „Sanctorum Apostolorum in Eudoxia“ eingefügt hatte, obwohl diese Kirche bereits zu seinen Lebzeiten als „S. Pietro a vinculis“ firmierte119. Zudem unterstreicht der Prolog im Präsens, dass beide Apostelfürsten – Petrus und Paulus – in der römischen Kirche lebendig seien und ihr vorstehen, und dass diese Kirche auf Grund ihrer beider Verdienste trotz aller Widrigkeiten der Welt nicht überwunden werde120. Die gemeinsame Verehrung von Petrus und Paulus entspricht zwar grundsätzlich seit den frühesten Zeiten der Tradition der römischen Kirche, gerade die Primatsidee der gregorianischen Kirchenreform zeichnete sich jedoch durch eine
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The Age of Abbot Desiderius. Montecassino, the Papacy and the Normans in the Eleventh and Twelfth Centuries, Oxford 1983, S. 99–102. Vgl. Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 1. Nouit beatitudo uestra, quod sancta Romana ecclesia iccirco omnium ecclesiarum mater scribitur et creditur, quoniam beatus Petrus ipsius institutor prius patriachalibus sedibus in Oriente et postea e laterę suo primos dedit pastores omnibus urbibus, quę sunt in Ocidente. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 1, Z. 1–4). Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 245–256. Vgl. auch Uta-Renate Blumenthal, History and Tradition in Eleventh-Century Rome, Catholic Historical Review 79 (1993), S. 185–196; ND in: Papal Reform and Canon Law in the 11th and 12th Centuries, Aldershot 1998 (Variorum Collected Studies Series, CS 618), Nr. VI. Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 245 und S. 250: „Der zu seiner Zeit bereits ausschließlich übliche Name für seine Kirche war S. Pietro a vinculis, …“. Arbitrati quippe sunt patres spiritu dei pleni, beatos apostolos Petrum et Paulum in ea mag nificis meritis uiuere et preesse fidemque, quam ab eisdem suscepit, quę in toto mundo eodem beato Paulo attestante annuntiata est et laudata, in eadem usque in secula non deficere, set, ut eidem beato Petro imperatum fuerat, usquequaque positos fratres in eadem fide confirmare. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 2, Z. 15–21).
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„exklusive Betonung der Rolle des Petrus“ als princeps apostolorum aus121. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Deusdedit mehrfach den Namen des coapostolus hinzufügte, wenn seine Vorlage nur von Petrus sprach. Nach Ansicht von Blumen thal ist diese Betonung der Rolle des Paulus neben der des Petrus ebenso wie die Benennung seiner Titelkirche mit dem damals bereits veralteten Namen Sancti Apostoli in Eudoxia auf den Wunsch des Kardinals zurückzuführen, „die Heiligen seiner Titelkirche zu verherrlichen“122. Nach einer singulär durch Deusdedit bezeugten Tradition waren es nicht nur die Ketten des hl. Petrus, sondern auch diejenigen des hl. Paulus, die in seiner Titelkirche verehrt wurden. Dies erwähnt Deusdedit nicht nur in seinen Versen, sondern auch in der Capitulatio seiner Kanonessammlung, wo am Ende der Indexthesen zu Buch II ohne Verweis auf ein bestimmtes Kapitel als These behauptet wird: Quod uincula beati Petri tituli Eudoxię, sint etiam beati Pauli123. Jedoch auch in seine Vorstellung von der universalen Kirche, die er im Prolog entwickelt, schließt Deusdedit Paulus ein, indem er beiden Aposteln unterschiedliche Funktionen in Bezug auf diese zuteilt: Durch das Zeugnis des Paulus ist der Glaube in der ganzen Welt verkündet und gelobt worden, während Petrus befohlen worden war, die Brüder, die überallhin gestellt wurden, in diesem Glauben zu bestärken (confirmare)124. In dem Wunsch, den Unwissenden das Privileg der römischen Autorität zu erschließen (patefacere), auf dessen Grundlage die Apostel Petrus und Paulus dem gesamten Erdkreis voranstehen, habe er, Deusdedit, nun die autoritativen Äußerungen der heiligen Väter und der christlichen Fürsten gesammelt, die ihre besondere Überzeugungskraft gerade daraus bezögen, dass sie hier zu einem Werk zusammengefügt würden125. Eine weitere sehr aufschlussreiche Passage in der Vorrede vervollständigt das Bild und zeigt noch deutlicher, worum es Deusdedit mit seiner Adresse an den 121 Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 246f. mit Anm. 26 mit Hinweisen auf die 74–Titel-Sammlung, wo der Primat nicht mehr auf die römische Kirche, sondern auf Petrus bezogen wurde, und auf Anselm von Lucca. 122 Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 250. 123 Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 24. Vgl. Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 250. 124 Vgl. das Zitat in Anm. 120 sowie Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 248 mit Anm. 32. 125 Itaque ego auctoritatis ipsius priuilegium, quo omni Christano orbi preminent, ignoranti bus patefacere cupiens, domino mihi opem ferente ex uariis sanctorum patrum et Christia norum principum auctoritatibus potioribus quibusque in unum congestis, presens defloraui opusculum quadrifaria dispertitum partione. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 2).
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römischen Klerus ging: Der Kardinal zitiert das Konzil von Serdica (343), das in einem Schreiben der dort versammelten 300 Bischöfe Papst Julius mitgeteilt habe, „dass es das Beste zu sein scheine, wenn die sacerdotes des Herrn aus den einzelnen Provinzen dem Haupt, das heißt (idest) dem Stuhl des hl. Petrus, Bericht erstatte�ten“126. Diesem (dem apostolischen Stuhl), so fährt Deusdedit fort, sei jedoch auch schon vor jener Synode eine solche Ehrerbietung erwiesen worden, als der bedeutende Märtyrer Cyprian, wie man in dessen Briefen lesen könne, als Primas der afrikanischen Provinz den Statuten der Priester und Diakone, die die römische Kirche nach dem Martyrium des Fabian leiteten, demütig gehorchte und zudem in Briefen, die er an diese richtete, über Geschehnisse in seiner Provinz Rechenschaft ablegte127. Ja, man könne sogar den an Cyprian adressierten Briefen entnehmen, dass der (römische) Klerus Briefe nach Sizilien und in verschiedene andere Regionen geschickt habe, und noch bevor Cornelius an der Spitze stand (presidente) selbst Bischöfe wegen dringender Angelegenheiten zu einer Synode nach Rom geladen (convocasse) habe128. Während der römischen Vakanz vom Märtyrertod des Fabian am 20. Januar 250 bis zur Erhebung des Cornelius im März 251 haben also Priester und Diakone die römische Kirche geleitet und in dieser Funktion selbst beim Primas Africae Cyprian von Karthago (200–258) und auch in anderen Regionen Anerkennung gefunden! Deusdedit zieht daraus den Schluss, dass ein Christ als pflichtvergessen (impius) zu gelten habe, wenn er in christlichen Zeiten den Ermahnungen der römischen Kirche nicht folge, wo doch zur Zeit der grausamen Verfolgung Bischöfe (deo digni 126 Sed et Sardicense concilium, quod CCC episcopos habuit, teste universali sinodo, quę a suis conditoribus VIIIa dicitur, cap. III° et IIII° et VI° et VIIII° eadem statuit et ita inter cętera beato papę Iulio scripsit: ‘Optimum et ualde congruentissimum esse uidebitur, si ad caput, idest ad beati Petri apostoli sedem, de singulis quibusque prouinciis domini referant sacer dotes’. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 1f.). Zum Konzil von Serdica vgl. Hamilton Hess, The Early Development of Canon Law and the Council of Serdica, Oxford 2002 (Oxford Early Christian Studies). Vgl. dort auch S. 211–255 den Text der verschiedenen Versionen der Kanones mit Übersetzung. 127 Huic etiam ante illam synodum tantum reuerentię ab antiquis patribus legitur impensum fuisse, ut ille insignis martyr Ciprianus Africane prouincię primas legatur in suis epistolis presbiterorum et diaconorum Romanam ecclesiam post martyrium Fauiani gubernantium statutis humiliter paruisse et eorum, que apud suam prouinciam gerebantur, directis ad eos epistolis rationem reddisse. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 2, Z. 3–8). 128 Quin etiam idem clerus legitur in epistolis ad eundem Cyprianum missis et ad Siciliam et diuversas partes epistolas direxisse, et nondum presidente Cornelio pro imminentibus tunc negociis etiam ad celebrandam Romę sinodum episcopos conuocasse. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 2, Z. 8–12).
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pontifices) sogar dann Rom gehorchten, als der römische Bischofssitz vakant war (etiam dum careret pontifice)129. In dieser Passage des Prologs hat man wohl nicht ganz zu Unrecht auch eine Bewältigung der desaströsen Lage am Ende des Pontifikats Gregors VII. vermutet: Deusdedit habe auch an die einzigartige Autorität der römischen Kirche geglaubt, „even while it lacked a bishop“130. Deusdedit verweist somit darauf, dass der Vorrang der römischen Kirche nicht allein durch den römischen Bischof, sondern durch die stadtrömische Kirche insgesamt und damit auch durch ihre (Kardinal-)Priester und Diakone verkörpert wird. In eine ähnliche Richtung geht auch die „beißende Kritik“, der Deusdedit in seinem an Viktor III. gewandten Widmungsbrief das Papstwahldekret von 1059 unterzog131, dessen Bestimmungen er später im Libellus contra invasores et symoni acos (1097) widerlegte und in dem er speziell die Zurücksetzung der Kardinalpriester und diakone kritisierte132. Nach Ansicht von Blumenthal ist das abschließende qui legit intelligat unmittelbar auf Viktor III. als Adressaten des Prologs gemünzt, da er als Kardinalpriester von S. Cecilia als einer der wenigen nicht-bischöflichen Kardinäle das Papstwahldekret unterschrieben hatte133. Somit ist über die üblichen Deutungen einer solchen Widmung hinaus – dass man Viktor III. als erstem Papst überhaupt, dem ein kanonistisches Werk gewidmet wurde, für würdig hielt, ihm ein solches Werk zuzueignen und er die Sammlung auch dadurch approbierte, dass
129 Quę cum ita sint, satis impium uidetur, quemlibet, qui cum Christiano nomine glorietur, Christianis temporibus Romanę ecclesię monitis non acquiescere, cui sub persecutionis crude litate deo digni pontifices tam deuote paruerunt, etiam dum careret pontifice. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 2, Z. 12–15). 130 Somerville, Brasington, Prefaces (wie Anm. 3), S. 109f. Vgl. dazu auch Blumen thal, Fälschungen (wie Anm. 9) S. 251f. 131 Preterea antiquum ordinem electionis seu consecrationis Romani pontificis et cleri eius huic operi inserere libuit. Nam quidam olim in dei et sanctorum patrum sanctionibus contemp tum ad sui scilicet ostentationem et adscribendam sibi uentosam auctoritatem, quę nullis canonicis legibus stare potest, scripserunt sibi nouam ordinationem eiusdem Romani ponti ficis, in qua quam nefanda quam deo inimica statuerunt, horreo scribere; qui legit intelligat. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 4, Z. 30 – S. 5, Z. 4). 132 Vgl. dazu Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 257f.; vgl. auch Uta-Renate Blumenthal, Rom in der Kanonistik, in: Bernhard Schimmelpfennig, Ludwig Schmugge (Hg.), Rom im hohen Mittelalter. Studien zu den Romvorstellungen und der Rompolitik vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. Reinhard Elze gewidmet zur Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres am 28.6.1992, Sigmaringen 1992, S. 29–39 (ND in Uta-Renate Blumenthal, Papal Reform and Canon Law, wie Anm. 118, Nr. V). 133 Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 258; vgl. Blumenthal, Rom (wie Anm. 132), S. 32.
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er die Zueignung durch den Autor gnädig annahm134 – auch der Aspekt in Betracht zu ziehen, dass Deusdedit den Papst mit seinem Werk unter anderem über die Stellung der römischen Kirche, die Bedeutung der Kardinäle und die Einordnung des päpstlichen Primats belehren wollte. Durch den Hinweis auf die universale Bedeutung der Apostelfürsten und auf die Korrespondenz, die die römische Kirche selbst in Zeiten der Vakanz mit den verschiedenen Regionen führte, lässt er zudem erkennen, dass es sich bei der „römischen Kirche“, an die er sich mit seiner Sammlung wendet, um die universale, durch die enge Verbindung zwischen Stadt und Erdkreis geprägte Kirche handelt. Dies bestätigt Deusdedit noch einmal mit einer eindrucksvollen Formulierung am Ende seines Prologs, indem er betont, dass er dem hl. Vater sein Werk widme, das seiner Ansicht nach nicht nur dem heiligen apostolischen Stuhl, sondern auch der gesamten Kirche und dem gesamten Klerus von Nutzen sein werde: Hoc itaque opus uestrę paternitati dedicaui, quod non solum sanctę apostolicę sedi sed omni ecclesie et omni clerico profuturum putaui135. Adressat der Sammlung ist somit der gesamte Klerus der universalen römischen Kirche und nicht nur seine stadtrömischen Repräsentanten, auch wenn diese gleichsam voranschreiten. Adressat ist aber auch der Papst, der auf keinen Fall über den heiligen canones steht136. Als höchste irdische Autorität in der Kirche betrachtet Deusdedit die ökumenischen Konzilien, die von den fünf Patriarchen oder ihren Vikaren abgehalten werden und deren Beschlüsse lediglich von gleichermaßen allgemeinen Konzilien wieder aufgehoben werden können. Sie „binden selbst die Päpste“137. Dass es Deusdedit nicht um ein leicht benutzbares Handbuch für die Praxis ging, sondern um eine Zusammenstellung möglichst autoritativer Texte zu den von ihm aufgestellten Indexthesen, darauf weist auch die ungewöhnliche Ordnung seines Werkes hin, die er im Prolog erläutert. Dort nennt er auch die Titel, die er 134 Cowdrey, Montecassino (wie Anm. 115), S. 99f. 135 Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 5, Z. 12–14. Vgl. dazu auch Cowdrey, Montecassino (wie Anm. 115), S. 100. 136 Vgl. Blumenthal, Rom (wie Anm. 132), S. 33. 137 So Blumenthal, Rom (wie Anm. 132). S. 32; vgl. Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 3, Z. 16–24: Itaque primum defloraui neque optima de quibusdam uniuersalibus sinodis, idest Nicena, Ephesyna prima, (Calcedonensi et VI et VII et VIII, que partim a IIII) siue a V patriarchis, ab eorum partim uicariis sub diuersis temporibus uni uersaliter celebratę fuisse noscuntur. De quarum auctoritate, nisi qui insaniat, nemo [est] qui dubitet. Set et de reliquis conciliis Orientalibus non abreputaui, quę congrua mihi uisa sunt, mutuare, a quibus uidebam Romanos pontifices in suis constitutionibus, quod et curiosus lec tor deprehendere poterit, auctoritatem accepisse.
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den vier Büchern seiner Sammlung gegeben hat: priuilegium auctoritatis eiusdem Romanę ęcclesię, De Romano clero, De rebus ęcclesię und De libertate ęcclesię et rerum eivs et cleri138. Da die dort aufgeführten Texte fast alle zwei oder mehrere Themen enthielten, so erklärt Deusdedit in seinem Vorwort, habe er darauf verzichtet, seine Blütenlesen (deflorationes) nach der Ordnung des thematischen Index anzulegen, den er den vier Büchern seiner Sammlung vorausschickt139. Die Texte jeweils nach der Zahl der Betreffe (secundum numerum negotiorum) aufzuteilen, hätte, so verkündet er ganz offen, „mir selbst zu viel Arbeit verursacht und zugleich ihrer Autorität Abbruch getan“140. Entsprechend verweist er in seinen Indices jeweils auf die entsprechenden Kapitel seiner Sammlung141. Deusdedit hatte sich das wohl so gedacht, dass der Benutzer seiner Sammlung unter der jeweiligen Rubrik in der Capitulatio jeweils die Hinweise auf die dort aufgeführten Texte fand. Sein System ist demnach ebenso durch den Wunsch nach einer möglichst textgetreuen und den Textzusammenhang wahrenden Wiedergabe seiner Vorlagen in den einzelnen Kapiteln gekennzeichnet wie durch eine sehr zugespitzte und thesenartige Formulierung 138 Nam primus liber continet priuilegium auctoritatis eiusdem Romanę ęcclesię. Et quoniam ecclesia sine clero suo esse non potest nec clerus absque rebus, quibus temporaliter subsistat: huic subiunxi secundum et tertium de clero et rebus eiusdem ecclesię. Quia uero seculi potestas dei ecclesiam sibi subiugare nititur, libertas ipsius et cleri et rerum eius tertio et maxime IIII° libro euidenter ostenditur. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 2f, Z. 30 – Z. 2). Fowler-Magerl, Clavis, wie Anm. 10, S. 161, weist darauf hin, dass diese Einteilung merkwürdigerweise an diejenige der Collectio Farfensis erinnere. 139 Wie Fowler-Magerl Clavis (wie Anm. 10), S. 161, feststellte, übernahm Deusdedit vor allem für sein viertes Buch ganze Textblöcke aus anderen Sammlungen und beließ sie in ihrem ursprünglichen Zustand: „Deusdedit apparently copied texts wherever and whenever he found them and never reorganized the material.“ Vgl. auch Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 524f. zur wenig strukturierten Ordnung in Deusdedits Kanonessammlung. 140 Singulas autem deflorationes huic operi insertas iuxta ordinem capitulorum minime locaui, quia pene omnes alię bina, alię plura in se negotia continent. Et si secundum numerum nego tiorum, de quibus agunt, acciperent sectionem, mihi laborem plurimum et auctoritati affer rent derogationem. (Deusdedit, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 3, Z. 3–6). 141 Vgl. die capitulatio, ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. 6–28. Vgl. z. B. S. 6, Z. 21: Quod Alexandrina sedes subdita sit Romanę. Cap. VI et XVIIII et XXV et CC. Zur Edition vgl. Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 524, Anm. 263. Zur Kapiteleinteilung vgl. auch ed. Wolf von Glanvell (wie Anm. 4), S. LIII. Die Entscheidung des Herausgebers, die ursprüngliche Nummerierung der Kapitel nicht beizubehalten, wurde zu Recht als unglücklich bezeichnet, auch wenn Wolf von Glanvell die authentische Nummerierung, die für das Verständnis der Verweise in den Rubriken der Capitulatio entscheidend ist, jeweils in Klammern hinzufügte. Vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 160.
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der Rechtssätze in den Rubriken, die möglicherweise dem Einfluss des Dictatus papae zu verdanken ist142. Seine eher an eine Materialsammlung gemahnende Vorgehensweise fand zwar keine Nachahmer143, wurde jedoch später gerne für die Zusammenstellung neuer Sammlungen genutzt. So kann die Sammlung des Kardinals Deusdedit auch als ein Beispiel dafür gelten, dass die geringe Zahl der vollständig überlieferten Handschriften einer Sammlung nicht unbedingt als Beweis für die geringe Rezeption oder Breitenwirkung des Werkes gelten muss144. Obwohl nur noch eine vollständige Abschrift der von Deusdedit selbst in San Pietro in Vincoli hinterlassenen Version seiner Sammlung existiert, der Vaticanus lat. 3833, der erst während des Pontifikats Paschalis’ II. (1099–1118) und nicht vom Sammler selbst geschrieben wurde, liegen Fragmente weiterer vollständiger Abschriften und Exzerpte dieser Sammlung in einer Reihe von Handschriften vor145. Von diesen Überlieferungen kann jedoch nur eine dem Ende des 11. Jahrhunderts zugewiesen werden, alle 142 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 159. Die früher vertretene These, Deusdedit habe den Dictatus papae verfasst (vgl. Ernst Sackur, Der Dictatus papae und die Canon sammlung des Deusdedit, NA 18 [1893] S. 137–153, v.a. S. 148), wird heute nicht mehr in Betracht gezogen. Vgl. dazu auch Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 524 mit Anm. 262; Blumenthal, Fälschungen (wie Anm. 9), S. 253 mit Anm. 45. 143 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 161. Vgl. dazu auch Uta-Renate Blumenthal, Reflections on the influence of the Collectio canonum of Cardinal Deusdedit, in: Mélanges en l’honneur d’Anne Lefebvre-Teillard. Textes réunis par Bernard d’Alte roche, Florence Demoulin-Auzary, Olivier Descamps, Franck Roumy, Paris 2009, S. 135–147. 144 Vgl. etwa Mordek, Gregorianische Reform (wie Anm. 4), S. 69, der die mangelnde Systematik der Sammlung dafür verantwortlich macht, dass sie ihr Ziel, „nicht nur dem Heiligen Apostolischen Stuhl, sondern der ganzen Kirche und dem gesamten Klerus zu nützen“, wie es im vorletzten Satz des Prologs heißt (vgl. hier bei Anm. 122 – profutu rum), nicht erreicht habe: „Eben jener vielleicht reinste Ausdruck extremen kanonistischen Reformwollens, das etwas plumpe Werk des eifrigen Deusdedit, erlebte eine enttäuschend, ja geradezu niederschmetternd geringe Resonanz.“ 145 Vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 160 (Vat. Archivio di San Pietro C.118 und Paris, BnF lat. 1458). Beide Handschriften weisen die gleiche Nummerierung auf wie der Vat. lat. 3933. Zur Umstellung durch Wolf von Glanvell für die Edition, vgl. Fowler-Magerl, S. 160. Bei Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 229 nicht genannt: Dresden, Sächsische Landesbibliothek F 168, saec. XIII (Deusdedit I,1 und IV, 1 [= Donatio Constantini], ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 30 und S. 395); vgl. Die Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin, ed. Reinhard Elze, MGH Fontes iuris Germanici Antiqui 9, Hannover 1960, S. 29; Claudia Märtl, Die falschen Investiturprivilegien, MGH Fontes iuris Germanici Antiqui 13, Hannover 1986, S. 103f. mit weiterer Lit. und dem Hinweis S. 104 mit Anm. 335 und S. 118 auf die enge Verwandtschaft zu den Exzerpten in der Handschrift Vat. lat. 1984.
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anderen sind deutlich jünger. Linda Fowler-Magerl hat zudem betont, dass einige Sammlungen, für die Deusdedits Collectio canonum ohne jeden Zweifel als Vorlage diente, über längere Exzerpte aus den materiellen Quellen verfügten als Deusdedit selbst146. Dies könnte bedeuten, dass man sich von seiner besonderen Ordnung inspirieren ließ, die Originalvorlagen noch einmal zu konsultieren und mehr daraus zu übernehmen, als Deusdedit selbst dies tat. Möglicherweise stellt die einzige vollständig überlieferte Handschrift, der Vaticanus lat. 3833, aber auch schon eine gegenüber der von Deusdedit selbst herausgegebenen Sammlung gekürzte Fassung dar147. Robert Somerville entdeckte zudem eine Reihe von Exzerpten aus Deusdedits Kanonessammlung in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts (Vat. Reg. lat. 399, fol. 71v–71r), die bald nach 1374 von einem Kleriker der Diözese Benevent geschrieben wurde. Vor allem die Inskriptionen und die Abfolge der Texte zeigen nach Ansicht von Somerville, dass derjenige, der die Texte zusammenstellte, Zugang zur Sammlung des Deusdedit hatte oder ein Werk benutzte, das seinerseits von ihr abhing. Die Bemerkung haec dicta sufficiant am Ende der Exzerptreihe deutet jedoch, wie Somerville wohl zu Recht vermutet, eher darauf hin, dass sie von einem Zeitgenossen im 14. Jahrhundert neu zusammengestellt wurde, als dass es sich um die bloße Transkription eines bereits früher fertiggestellten Werkes handelt148. Einen wichtigen Beleg dafür, dass hier Deusdedits Sammlung benutzt wurde, liefert auch das lange Fragment „Ex gestis Sancti Bonatii martiris et archiepiscopi R. ecclesie“, das sonst offenbar nur in der Sammlung des Deusdedit überliefert ist149. Aber auch schon während der Zeit der Gregorianischen Reform wurde das Werk Deusdedits für die Herstellung einer ganzen Reihe neuer Sammlungen benutzt, und zwar zu teilweise ganz unterschiedlichen Zwecken. Der Collectio Britannica etwa lieferte sie die Vorlage für die meisten ihrer vierzig Exzerpte aus 146 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 162. 147 So Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 162: „Only one complete copy has survived and there is no reason to believe that that copy represents perfectly the copy that left Deusdedit’s hands.“ 148 Robert Somerville, Cardinal Deusdedit’s Collectio canonum at Benevento, in: Kathleen G. Cushing, Richard F. Gyug (Hg.), Ritual, Text and Law, Studies in Medieval Canon Law and Liturgy Presented to Roger E. Reynolds, Aldershot 2004, S. 281–292, hier S. 289. Nach Ansicht von Somerville kommt die einzige vollständige DeusdeditHandschrift Vat. lat. 3833 als Vorlage schon allein deshalb nicht in Frage, weil es keinen Anhaltspunkt dafür gebe, dass sie jemals in Süditalien gewesen sei. 149 Somerville, Benevento (wie Anm. 148), S. 289f.
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13 Briefen Nikolaus’ I.150. Sie wurde für die Zusammenstellung der Collectio Cae saraugustana151, der 7–Bücher-Sammlung der Hs. Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, D. IV.33152, der Kanonessammlung in der Hs. Turin, BNU 903 (E.V.44), fol. 71v–86v153 sowie des Liber de honore Ecclesiae des Placidus von Nonantola herangezogen154, und die Sammlung III in der Hs. Rom, Biblioteca Vallicel� liana F. 54, ein „Episcopal Handbook“, benutzte Deusdedits Sammlung als Quelle für Canones über Zehnte und Kirchenbesitz155. Während der Kompilator einer weiteren Sammlung, der Collectio Ambrosiana I156, die Kanonessammlung des Kardinals für die Anlage eines Dossiers über die römischen Primatsrechte auswertete, das in den Auseinandersetzungen des Anakletianischen Schismas Verwendung finden sollte, fehlt in der von Uta-Renate Blumenthal analysierten Sammlung III der Vallicelliana-Handschrift jeder Bezug auf das Patrimonium Petri oder auf die Prärogativen der römischen Kirche und des römischen Klerus, wie sie ja bei Deus150 Vgl. Kéry, Fundorte (wie Anm. 106), S. 287. 151 Vgl. Linda Fowler-Magerl, The Version of the Collectio Caesaraugustana in Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, MS San Cugat 63, in: Cushing, Gyug (Hg.), Ritual, Text and Law (wie Anm. 148), S. 269–280, hier S. 271 u. 274 (Hinweis auf die Entstehung zahlreicher „fragmentary copies“ in Frankreich). 152 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 163–166. 153 Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 172f. Bei der Angabe von Somerville, Benevento (wie Anm. 148), S. 281 („Collection in Seven Books of Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, MS E.V.44“) handelt es sich wohl um eine versehentliche „Kombination“ der beiden Sammlungen. 154 Vgl. die Kanoneskonkordanz bei Busch, Placidus von Nonantola (wie Anm. 113), S. 224–229 u. 233f., die jedoch eher eine indirekte Benutzung dokumentiert, da Busch eine direkte Verwendung der Reformsammlungen durch Placidus generell ausschließt. Vgl. dazu Blumenthal, Influence (wie Anm. 143), S. 138 mit Anm. 23. 155 Vgl. Uta-Renate Blumenthal, An Episcopal Handbook from Twelfth-Century Southern Italy: Codex Rome, Biblioteca Vallicalliana F.54/III, in: Rosalio Iosepho Card. Castillo Lara (Hg.), Studia in honorem eminentissimi cardinalis Alphonsi M. Stickler, Rom 1992 (Studia et textus historiae iuris canonici 7), S. 13–24, hier S. 20f. Zu weiteren Sammlungen und Zusätzen zu Sammlungen, die eine Benutzung Deusdedits erkennen lassen vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 162f; vgl. auch Somerville, Benevento (wie Anm. 148), S. 282 mit Anm. 6, der die Hinweise in der Literatur zur Benutzung Deusdedits in weiteren Sammlungen der Reformzeit bis hin zum Liber Censuum zusammenstellte. 156 Blumenthal, Handbook (wie Anm. 155), S. 24. Vgl. Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 162 (mit dem Hinweis, dass der Kompilator eine Abschrift der Kanonessammlung Deusdedits benutzte, die nicht von dem Vat. lat. 3833 abhängig war); vgl. dazu auch Horst Fuhrmann (DA 27, 1971, S. 581–583) in seiner Rezension zu Giorgio Picasso, Collezioni canoniche Milanesi del secolo XII, Mailand 1969.
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dedit ebenfalls zu finden waren. Hier ging es allein darum, praktische Anweisungen für die Verwaltung einer Diözese zusammenzustellen157. Aufgrund dieses Befundes kann man wohl die Schlussfolgerung ziehen, dass Deusdedit offenkundig „seine Adressaten“ erreicht hat – Kleriker nicht nur im Rom des 11. und 12. Jahrhunderts, sondern auch in weiter entfernten Gebieten und zu späteren Zeiten, denen es vor allem darum ging, von Rom autorisierte kirchenrechtliche Texte zu finden, um die kirchlichen Rechte und Freiheiten zu welchem Zweck auch immer zu betonen und nachzuweisen. Wie schon Horst Fuhrmann im Zusammenhang mit seiner Untersuchung der Pseudoisidorrezeption mit einem Zitat von Wolf von Glanvell festhielt, ist die Kanonessammlung des Deusdedit „keineswegs als rein systematische Sammlung aufzufassen“. Jedoch sei die gerade auch bei den pseudoisidorischen Exzerpten besonders schlichte Verfahrensweise nicht auf die Unkenntnis Deusdedits und seiner Helfer zurückzuführen, sondern letztlich darauf, dass Deusdedit verfahre wie ein „Buchhalter romgünstiger Pseudoisidorsätze, der verschiedene Rechtssammlungen und das [römische] Archiv auf Privilegien zugunsten Roms durchgesehen hat: Sein Werk ist mehr eine Ansammlung von Vorrechten der römischen Kirche als eine Sammlung von Rechten“158. Sie ist also mehr eine durch ihre Indices für kirchenrechtliche Zwecke erschlossene Materialsammlung oder „Blütenlese“, wie Deusdedit sie ja selbst bezeichnete, als ein Handbuch für die Praxis. Seine Quellenbehandlung hat jedoch dazu geführt, dass seine Sammlung vergleichsweise häufig als wohlautorisiertes Materiallager für andere Sammlungen benutzt wurde, auch wenn sie – wie auch andere kanonistische Sammlungen der Reformzeit – zunächst eine gewisse „Inkubationszeit“ (Kölzer) zu überstehen hatte159.
157 Blumenthal, Handbook (wie Anm. 155), S. 24. 158 Fuhrmann, Einfluss (wie Anm. 38), S. 533. Vgl. auch Blumenthal, Influence (wie Anm. 143), S. 147: „A better appreciation and understanding of Deusdedit’s terminology makes it very likely indeed that Deusdedit himself was the patient collector who saved numerous ancient documents illustrating papal claims to prerogatives and census payments from oblivion. Not only the Roman Church but also historians owe the cardinal a greater debt than is usually known.“ 159 So Kölzer, Collectio (wie Anm. 15), S. 83f.
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c) Polycarpus Der Prolog in der Kanonessammlung Polycarpus des Kardinalpriesters Gregor von San Grisogono160 verrät im Vergleich zu den anderen, bereits besprochenen Vorworten nur wenig über die Intentionen ihres Verfassers. Nicht einmal die genauere Abfassungszeit der Sammlung lässt sich aus den dort genannten Einzelheiten mit Sicherheit erschließen. Gewidmet ist sie dem Bischof Diego II. Gelmírez von Santiago de Compostela (1101–1139/40)161, der im Prolog als dilecto domino D. sancti Iacobi ecclesie pontificali infula digne decorato angesprochen wird. Dies veranlasste Fournier dazu, die Romreise des Spaniers im Jahre 1104, die diesem zwar nicht die ersehnte Metropolitenwürde einbrachte (Diego Gelmírez wurde erst 1120 Erzbischof )162, wohl aber eine Auszeichnung mit dem Pallium, als terminus post quem anzunehmen, indem er das Wort infula als Anspielung auf die Palliumverleihung verstand163. Dem wurde jedoch widersprochen, weil infula im kirchlichen Bereich vor allem für die Kasel, das liturgische Obergewand des Priesters und Bischofs, und vom 12. Jahrhundert an noch für die Mitra verwandt wird. Gerade weil es sich bei der Verleihung des Palliums an einen Bischof um 160 Kéry, Collections (wie Anm. 6), S. 266–269, Fowler-Magerl, Clavis (wie Anm. 10), S. 229–232. Abdrucke des Prologs nach verschiedenen Handschriften finden sich bei Migne PL 56, Sp. 347f. (Ms. Vat. lat. 1354) und bei Hermann Joseph Hüffer, Beiträge zur Geschichte der Quellen des Kirchenrechts und des römischen Rechts, Münster 1862, S. 75f. (Paris, BnF lat. 3881). Für die vorliegende Untersuchung wurde die Internet-Ausgabe auf der Website der MGH benutzt, ein Typoskript von Uwe Horst nach Vorarbeiten von Carl Erdmann: (http://www.mgh.de/datenbanken/kanonessammlung-polycarp, zuletzt eingesehen am 18.03.2016) (hier zit. als Polycarp.pdf, Prolog, S. 1). Vgl. grundsätzlich auch Uwe Horst, Die Kanonessammlung Polycarpus des Gregor von S. Grisogono. Quellen und Tendenzen, München 1980 (MGH Hilfsmittel 5). 161 Zum Prolog vgl. auch Somerville/Brasington, Prefaces (wie Anm. 3), S. 110f. Zu Diego Gelmírez und den Hintergründen der nordwestspanischen Kirchenpolitik vgl. Ludwig Vones, Die ‚Historia Compostellana‘ und die Kirchenpolitik des nordwestspanischen Raumes 1070–1130. Ein Beitrag zur Geschichte der Beziehungen zwischen Spanien und dem Papsttum zu Beginn des 12. Jahrhunderts, Köln, Wien 1980 (Kölner Historische Abhandlungen 29); Klaus Herbers, Santiago de Compostela zur Zeit von Bischof und Erzbischof Diego Gelmírez (1098/99–1140), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 98 (1987), S. 89–102, v.a. S. 97–99. 162 Servatius, Paschalis II. (wie Anm. 168), S. 133f. 163 Paul Fournier, Les deux recensions de la collection canonique romaine dite le Polycarpus, in: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire 37 (1918/19), S. 55–101, hier S. 61f. (Paul Fournier, Mélanges de droit canonique, ed. Theo Kölzer (avec avant-propos par Jean Gaudemet), 1–2, Aalen 1983, 2, S. 703–749, hier S. 709f.); vgl. auch Fournier, LeBras, Collections (wie Anm. 1), 2, S. 170.
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eine außergewöhnliche Ehrung handelte, sei es umso unverständlicher, wenn Gregor dafür in seiner Anrede nicht die präzise Bezeichnung pallium gewählt hätte. Vielleicht hat er mit der Umschreibung pontificali infula decorato lediglich versucht, die Bezeichnung „Bischof “ zu vermeiden, um hier nicht einen wunden Punkt seines Gönners zu berühren, von dem die Anregung zu dieser Kanonessammlung, wie Gregor mehrfach betont, ausging und der sich auch nach 1104 weiterhin, unter anderem mit großzügigen Geschenken an die Kurie, um die Metropolitenwürde bemühte164. Bereits in der offenbar ältesten, in Rom entstandenen heutigen Madrider Handschrift BN 7127 findet sich das Incipit des Prologs mit dem Hinweis auf den Verfasser, der in seiner Eigenschaft als Kardinalpriester von San Grisogono zum ersten Mal am 4. April 1111 genannt wird, als der Vertrag von Ponte Mammolo beschwo�ren wurde, und dieses Amt bis zu seinem Todestag am 30. November 1113, der im Nekrolog der Domkirche von Lucca verzeichnet ist, innehatte165. Obwohl Gregor vielleicht schon als Archidiakon in Lucca, wo er bis September 1109 nachweisbar ist, mit der Materialsammlung und Konzeption für sein umfangreiches Werk („Polycarpus“) begonnen hatte, deutet einiges darauf hin, dass die Sammlung erst in den letzten Lebensjahren des Kardinals entstand bzw. fertiggestellt wurde, der sich selbst im Prolog als presbiterorum humillimus vorstellt. Als ein wichtiges Indiz dafür wurde angeführt, dass sein Polycarpus ein Textcorpus mit Bezug auf die Papstwahl enthält, das die Kardinalspresbyter und Kardinaldiakone nicht nur als Wähler, sondern auch als Kandidaten noch deutlicher heraushebt als dies bei Deusdedit schon der Fall war: „Als Kandidaten bei der Papstwahl kommen – wegen des Translationsverbots für Bischöfe – nur Kardinalpresbyter und -diakone in Frage.“166 164 So schon Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 3–4. Zu den Berichten über Geschenke Diegos an die Kurie und speziell an Kardinäle vgl. Ingo Fleisch, Rom und die Iberische Halbinsel: das Personal der päpstlichen Legationen und Gesandtschaften im 12. Jahrhundert, in: Jochen Johrendt, Harald Müller (Hg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innocenz III., Berlin, New York 2008 (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse Neue Folge, Band 2, Studien zu Papstgeschichte und Papsturkunden), S. 135–189, hier S. 144 Anm. 26. 165 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 1. 166 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 5. Vgl. auch S. 58f. (Zitat S. 59). Polycarpus I.4: De electione et ordinatione Romani pontificis, v.a. c. 6: Oportebat ut hęc sacrosancta domina nostra Romana ęcclesia, iuxta quod a beato Petro et eius successoribus institutum est, rite ordinaretur, ut in apostolatus culmen unus de cardinalibus presbiteris aut diaconibus conse craretur. (polycarp.pdf, wie Anm. 160, S. 17). Der Text geht auf ein Kapitel der römischen Synode Stephans III. von 769 zurück (MGH Conc. 2,1, rec. Albert Werminghoff,
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Noch aufschlussreicher für unsere Fragestellung sind die Kapitel, die offenkundig mit den Ereignissen von 1111 in Zusammenhang stehen und die sich alle darauf beziehen, dass selbst eine Verfehlung des Papstes seine Stellung nicht beeinträchtigen könne, und zwar mit einer Argumentation, die sich auch bei den reformfreundlichen Publizisten nach der Unterzeichnung des Vertrages von Ponte Mammolo wiederfindet: Paschalis II. habe zwar eine schwere Verfehlung begangen, aber auch ihm müsse, wie Petrus, die Möglichkeit zur correctio eingeräumt werden167. Dazu formulierte Gregor von San Grisogono sogar eine entsprechende Titelrubrik (I, 22) Quod nemo papam audeat iudicare, et si reprehensibilis est und fügt zur Dokumentation dieser „päpstlichen Unverantwortlichkeit“ (Horst) einen Auszug aus einem Brief Nikolaus’ I. (Nikolaus I., JE 2796, November 865) ein, der die Nicht�judizierbarkeit des Papstes gegenüber dem byzantinischen Kaiser Michael III. ver�tritt – ein Auszug aus diesem für die Konzeption des römischen Primats fundamentalen Schreiben, der nach Darstellung von Uwe Horst aus einer gemeinsamen Vorlage mit anderen Reformsammlungen stammt und hier (zur Zeit der Reform) „erstmals in der Kanonistik auftaucht“168. Somit enthält die Sammlung Polycarpus eine Art kanonistischer Stellungnahme zu den Vorwürfen gegen Paschalis II., die dem Kardinalpriester von San Grisogono auch deshalb nicht gleichgültig sein konn-
Hannover, Leipzig 1906, S. 86, Z. 21–23). Vgl. auch Polycarpus 1,4,7 (polycarp.pdf, wie Anm. 160, S. 17). 167 Vgl. Abt Gottfried von Vendômes Brief an Paschalis II. (MGH Ldl 2, ed. Ernst Sackur, Hannover 1892, S. 676–700, hier S. 681; und vor allem die Disputatio vel defensio Pascha lis papae, MGH Ldl 2, ed. Sackur, S. 664, Z. 9–11. Vgl. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 57f. mit Anm. 196, dort auch Lit. 168 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 5f. und S. 61. Vgl. Polycarpus 1.22.1 (Nunc ante divinam inspiratione […] domno archiepiscopo Leoni), polycarp.pdf, wie Anm. 160, S. 62), Anselm von Lucca II, 67, ed. Friedrich Thaner, Anselmi episcopi Lucensis collectio canonum, una cum collectione minore, Innsbruck 1906–1915, ND Aalen 1965, S. 106– 108 (unter der Rubrik Quod nemo potest ab his qui inferioris sunt dignitatis vel ordinis iudicari) und Deusdedit I, 156, 157 und 159, ed. Wolf von Glanvell, wie Anm. 4, S. 101f. Ivo Decretum V, 8, Panormia IV, 6.7 (vgl. Horst, S. 113). Vgl. auch Nicolai papae epistolae, ed. Ernst Perels, MGH Epp. VI (Karolini aevi IV), Berlin 1925, S. 454–487, Nr. 88 (865 Sept. 28), hier S. 466, Z. 12–23 u. S. 467, Z. 28 – S. 468, Z. 2. Vgl. Detlev Jasper, The Beginning of the Decretal Tradition. Papal Letters from the Origin of the Genre through the Pontificate of Stephen V, in: Detlev Jasper, Horst Fuhrmann, Papal Letters in the Early Middle Ages, Washington, D. C. 2001 (History of Medieval Canon Law, ed. by Wilfried Hartmann and Kenneth Pennington), S. 121–122 mit Anm. 152. Zu Paschalis II. vgl. Carlo Servatius, Paschalis II. (1099–1118). Studien zu seiner Person und seiner Politik, Stuttgart 1979 (Päpste und Papsttum 14).
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ten, weil er den Vertrag von Ponte Mammolo mit unterzeichnet und beschworen hatte169. In den gleichen Zusammenhang einzuordnen ist der in der Sammlung vertretene Grundsatz, dass ein Vertrag, der unter Zwang beschworen wurde, ungültig sei. Er liefert die rechtliche Begründung für die generell von den Anhängern des Papstes vertretene Ansicht, dass der von Paschalis II. und den Kardinälen beschworene Vertrag von Ponte Mammolo, schon deshalb ungültig sei, weil er unter Zwang zustande gekommen sei170. Auch zu dieser Frage bietet der Polycarp unter dem Titel VI.10 De iuramento et periurio mit einem Auszug aus einem Brief Nikolaus’ II. einen „neuen Text“, der unter Zwang geleistete Eide und Verpflichtungen für unwirksam erklärt171. Durch eine eigene Kapitelrubrik (De iuramento iniuste extorto) für dieses Einzelkapitel wird zudem noch einmal besonders auf diese Kernaussage hingewiesen172. Als eine „Reformsammlung der Spätphase“ stimmt der Polycarpus inhaltlich sonst im Wesentlichen mit den Vorstellungen überein, wie sie auch von den beiden Hauptwerken dieser Zeit, der 74–Titel-Sammlung und der Sammlung Anselms von Lucca, vertreten wurden, die zusammen mit Burchards Dekret zu seinen wichtigsten Quellen gehören173. Dem Papst werden zwar weitgehende Kompetenzen zugeordnet und die Kanones für ein Eingreifen in alle kirchlichen Bereiche bereit169 Vgl. Nomina cardinalium iurantium, MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 1, ed. Ludwig Weiland, Hannover 1893, S. 143, Nr. 93, Z. 14: Gregorius cardina lis Sancti Grisogoni. Vgl. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 2. 170 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 6. Vgl. dort auch S. 75f. 171 JL 4447 (1059–1061), Nikolaus II. (vgl. Migne PL 119, col. 782); Polycarpus VI.10.31 (polycarp.pdf, wie Anm. 160, S. 425). Nicholaus papa episcopis Gallie. De iuramento iniuste extorto. Auctoritatem venerabilium predecessorum nostrorum secuti et nominatim beatissimi pape et martiris Alexandri a beato Petro quinti, ab omnibus iuramentis illis et cuiuscumque modi obligationibus, quibus se coacti violentia impiorum obligaverant, absol vimus, et ne illa servarent, vetuimus tam prefatum archiepiscopum Treverensem quam eius prepositum et omnes qui tunc temporis capti se illis quoquomodo obligaverunt. Vgl. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 76. 172 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 6 mit dem Hinweis, dass diese Vorgehensweise, einzelne Kapitel durch eine eigene Rubrik hervorzuheben, im Polycarp nur noch ein weiteres Mal vorkommt (II 1,13, polycarp.pdf, wie Anm. 160, S. 76f.). 173 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 92; vgl. dort auch S. 17–37 zu Polycarp und Burchard bzw. S. 38–80 zum Verhältnis Polycarps zu den Reformsammlungen (v.a. 74–Titel-Sammlung und die Kanonessammlung Anselms von Lucca). Horst stellte eine „gegenläufige Übernahmetechnik“ fest: „in solchen Büchern, in denen das Werk des Wormser Bischofs besonders stark herangezogen worden ist (VIII, VI, III), fällt der Anteil der Reformsammlungen niedrig aus, und umgekehrt, wo diese hohe Entnahmequoten aufweisen, ist Burchard kaum oder gar nicht verwandt. Diese Tendenz finden wir
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gestellt, zugleich sollten jedoch auch die aus ihrer eigenen hierarchischen Stellung resultierenden Rechte der Bischöfe, Kirchen und Klöster soweit wie möglich bewahrt werden174. Die Bischöfe sollten zwar im Rahmen ihrer Diözese über die volle Gewalt verfügen, von einer Gleichrangigkeit mit dem römischen Bischof – als dessen Diözese auch hier die gesamte Kirche betrachtet wird – kann jedoch im kirchlichen Bereich keine Rede sein. Sie beschränkt sich auf den gemeinsamen Vorrang gegenüber den Herrschern175. Als wichtigste innerkirchliche Instrumente zur Durchsetzung der Reformpolitik in einem möglichst weiten Rahmen treten im Polycarp die Legaten und Synoden in den Vordergrund. Besonders auffällig ist, dass Gregor über seine Vorlage hinaus die Ausstattung der Legaten mit der päpstlichen Vollgewalt hervorhebt176. Die Rubrik, die er zusammen mit den beiden Kapiteln des entsprechenden Titels aus verschiedenen Büchern der Kanonessammlung Anselms von Lucca direkt übernimmt177, erweitert er dazu in signifikanter Weise. Den Satz Quod papa non per se, sed per legatos provincialibus conciliis soleat interesse, den er bei Anselm als Rubrik vorfindet178, erweitert er durch den Zusatz et auctoritas eius est in illo, cui vices suas committit – und versucht so die Autorität und Befugnisse der Legaten entscheidend zu stärken179. Möglicherweise ergibt sich aus diesem Detail auch ein Anhaltspunkt für ein besseres Verständnis des Prologs, der zu Recht als eine im Wesentlichen auf die üblichen Topoi in Widmungsschreiben beschränkte Vorrede charakterisiert wurde180. Von einer Verteidigung Paschalis’ II. (und damit auch Gregors selbst), wie sie im Werk selbst an einigen Stellen aufscheint, ist im Prolog keine Rede. Es stellt sich aber doch die Frage, wieso dieses ganz offenkundig in Rom entstandene sehr umfangreiche und doch benutzerfreundliche Werk181, dessen Überlieferung mit heute noch 11 Handschriften des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts die
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auch bei der Analyse einzelner Bücher und Themen wieder.“ (S. 80). Vgl. auch Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 196f. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 93. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 94. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 93 und v.a. S. 60. Vgl. Anselm von Lucca, Collectio canonum, ed. Thaner (wie Anm. 168), II, 55 (= Polycarp I, 15, 1) und I, 25 (= Polycarp I, 15.2), S. 55 u. S. 17. Anselm von Lucca, Collectio canonum II, 55, ed. Thaner (wie Anm. 168), S. 101. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 60. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 7. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 7 weist vor allem auf die „benutzerfreundliche Gliederung“ hin, die sich von den anderen Kanonessammlungen der Reformzeit deutlich unterscheidet.
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Sammlungen der Reformkardinäle Atto von San Marco und Deusdedit weit hinter sich lässt und dessen Verbreitung in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland ebenso wie sein Einfluss auf andere kanonistische Werke bis hin zur Verwendung durch Gratian ebenfalls erkennen lässt, dass es erhebliche Beachtung fand182, ausgerechnet dem Bischof von Santiago gewidmet wurde. Nach Aussage des Prologs sollte ein möglichst alle Fragen behandelndes Handbuch für die Praxis vorgelegt werden, und damit eine Antwort auf die schon in der Vergangenheit, aber auch heute immer noch täglich in der Kirche auf verschiedene Weise anfallenden Probleme (negotia) und Rechtsfälle, deren Zahl im Laufe der Zeit sogar zunehme183. Wegen dieses großen praktischen Bedarfs habe er nun, so Gregor, der wiederholten Bitte des Adressaten entsprochen, den päpstlichen Dekretalen, Schriften der Kirchenväter und verschiedenen authentischen Konzilien das Nützlichere zu entnehmen und daraus Punkt für Punkt (seriatim) einen Liber Canonum zusammenzustellen184. Mit einem Bescheidenheitstopos weist Gregor darauf hin, dass der spanische Bischof dieses Werk selbst weit besser hätte ausführen können und dazu wohl auch über eine ausreichende Zahl gut ausgebildeter Helfer in seiner Umgebung verfüge185. Bemerkenswert ist jedoch vor allem die Begründung, die Gregor von San Grisogono anführt, um zu erklären, warum Gelmírez sich trotzdem ausgerechnet für ihn entschieden habe: Er habe dem Kardinalpriester die Gelegenheit bieten wollen, durch die lange Übung bei der Ausführung eines solchen Werkes seine Ausbildung zu verbessern und sich für höhere Aufgaben zu empfehlen – ut in hoc magno diu exercitatus ad alia maiora iniuncta instructior et paratior efficerer, zumal Gregor nicht nur die Anweisung und Hilfe des Adressa182 Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 2f. 183 Sicut enim olim in ęcclesia et quotidie negotiis negotia varie succedunt atque multarum cau sarum pro temporis eventu actiones succrescunt, sic sub titulis unicuique congruentia capitula auctorum tempore perspecto plurima connexui et octo librorum distinctionibus volumini compendiose finem imposui. Polycarp.pdf (wie Anm. 160), S. 1. 184 Petistis iamdudum et hoc sepe, ut opus arduum et supra vires meas agrederer, librum cano num scilicet ex Romanorum pontificum decretis aliorumque sanctorum patrum auctorita tibus atque diversis autenticis conciliis utiliora sumens seriatim componerem. Polycarp.pdf (wie Anm. 160), S. 1. Diese für einen Gregorianer wenig überraschende Rangfolge wurde als wichtiger Hinweis auf seine Vorstellung vom Wert der Rechtsquellen verstanden. Vgl. Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 7, 89f. u. 99f. 185 Id vero non iccirco a me inscio placuit requirere, ut aut vestra excellens sapientia huic labori vel quam multo graviori non sufficeret aut plures ad id magis idoneos ac prudentiores volun tarię obsecundari preceptioni suę non haberet, sed ut in hoc magno diu exercitatus ad alia maiora iniuncta instructior et paratior efficerer, seu etiam si in aliquo parvitas ingenii mei deficeret, prudentia vestra mihi magistra et auxiliatrix manus exteret [extenderet?]. Polycarp.pdf (wie Anm. 160), S. 1.
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ten in Anspruch nehmen könne, sondern dieser ihm darüber hinaus auch Schutz vor möglichen Kritikern biete186. Um einen so hochgestellten Mann nicht durch seine Weigerung zu beleidigen, habe Gregor schließlich die ihm angetragene Aufgabe übernommen. Bedeutet dies, dass der Kardinalpresbyter Gregor von San Grisogono sich mit seiner sehr umfassenden, detaillierten und ausgewogenen Sammlung, die unverkennbar als Handbuch für die Praxis gedacht ist und die Vollgewalt der päpstlichen Legaten auffällig betont, vielleicht für eine Tätigkeit als päpstlicher Legat in Spanien empfehlen wollte, um dort die Inhalte und Ziele der Reform auf der Basis seines Handbuches und mit Unterstützung des Diego Gelmírez zu verbreiten und sie im kirchlichen Alltag durchzusetzen? Möchte Gregor sich durch eine erfolgreiche Tätigkeit als Legat in Spanien vielleicht sogar für noch höhere Aufgaben empfehlen? Hatte nicht auch der aktuelle Papst Paschalis II. (Kardinal Rainer von San Clemente), dem sich Gregor von San Grisogono eng verbunden fühlte, sich durch seine Legatentätigkeit in Spanien 1090 als Nachfolger Urbans II. qualifiziert187? Auch wenn dies letztlich Spekulation bleiben muss, so kann doch der Hinweis auf den Kardinalpriester Deusdedit von San Lorenzo in Damaso, der ebenfalls über enge Kontakte zu Bischof Diego von Santiago verfügte und 1118/19 und 1123/24 das iberische Legatenamt bekleidete188, zeigen, dass zumindest die Möglichkeit nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass Gregor vielleicht mit dem Gedanken spielte und möglicherweise auch dazu ermuntert wurde, sich als Legat für Spanien ins Gespräch zu bringen. Vielleicht wollte Gregor mit der so devot formulierten Widmung dem über gute Kontakte nach Rom verfügenden spanischen Bischof jedoch auch nur eine solche an römischen Leitlinien orientierte Sammlung mit Blick auf die Neuordnung der spanischen Kirche andienen, die in ihrer Umbruch-
186 Cui inquisitioni, etsi altius ingenium expeteret et meis viribus minime conveniret et, ne teme rarium a quibusdam iudicaretur, timerem, tamen ne tantum ac talem virum recusatione offenderem, acquievi atque tandem hac maxime fiducia, ut vestra auctoritate interposita a detrahentium morsibus defenderer. Polycarp.pdf (wie Anm. 160), S. 1. 187 Vgl. Fleisch, Rom und die Iberische Halbinsel (wie Anm. 164), S. 143f. Vgl. dazu auch Claudia Zey, Zum päpstlichen Legatenwesen im 12. Jahrhundert. Der Einfluß von eigener Legationspraxis auf die Legatenpolitik der Päpste am Beispiel Paschalis‘ II., Lucius‘ II. und Hadrians IV., in: Ernst-Dieter Hehl, Ingrid Heike Ringel, Hubertus Seibert (Hg.), Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts, Stuttgart 2002 (Mittelalter-Forschungen 6), S. 243–262, hier S. 246f. Vgl. auch Servatius, Paschalis II. (wie Anm. 168), S. 18–32. 188 Vgl. dazu Fleisch, Rom und die Iberische Halbinsel (wie Anm. 164), S. 143 u. v.a. S. 144, Anm. 26.
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phase um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert durchaus noch „Nachhilfe“ in rechtlichen Dingen benötigte189.
Fazit Trotz aller Schwierigkeiten, die Adressaten kanonistischer Sammlungen genauer festzustellen, können doch aufgrund der hier vorgestellten Beispiele einige Tendenzen beschrieben werden, die zeigen, dass man sich zwar mit kirchenrechtlichen Sammlungen in der Auseinandersetzung positionierte, jedoch eine schlichte Einteilung in gregorianisch und antigregorianisch definitiv zu kurz greift. Dezidiert antigregorianische Sammlungen, die die Rechte des Kaisers in der Kirche unterstrichen und die Primatsrechte der römischen sedes ausdrücklich bestritten hätten, hat es wohl kaum gegeben. Die einzige Sammlung, der eine solche Tendenz nachgesagt wurde, die Collectio Farfensis, kann jedenfalls in dieses Schema nicht eingeordnet werden. Ihrem Autor ging es aufgrund eigener Erfahrungen vor allem darum, die klösterlichen Freiheitsrechte nachzuweisen und kirchliche Rechtsvorschriften zur Verfügung zu stellen, die seiner Ansicht nach dabei helfen konnten, Schutz und materielle Sicherheit für Klöster und Kirchen einzufordern. Deshalb sammelte und ordnete er die ihm zugänglichen rechtlichen Bestimmungen und wandte sich mit seinem Werk an alle und gegen alle innerhalb und außerhalb seines Klosters, welche die klösterlichen und kirchlichen Rechte nicht respektierten, um ihnen nachzuweisen, dass sie sich schwerer Rechtsverletzungen schuldig machten, und ihnen dafür die kirchenrechtlich vorgesehenen Strafen anzudrohen. Wie schwierig es ist, die Adressaten einer anonymen Sammlung genauer zu bestimmen, zeigt das Beispiel der 74-Titel-Sammlung, die lange Zeit als das kanonistische Handbuch der Reform galt, das möglicherweise sogar auf Initiative Gregors VII. selbst entstanden sei, inzwischen jedoch eher mit monastischen Exemti�onsbestrebungen in Verbindung gebracht wird. Adressat einer solchen Sammlung wäre demnach das Papsttum selbst, das aufgrund seines Primats und der Autorität seiner Privilegien (Tit. III) für solche Ziele eingespannt werden sollte, aber natür� lich auch freiheitsbewusste Klöster, die sich bei der Vorbereitung entsprechender Prozesse ihrer kirchenrechtlich durchsetzbaren Position vergewissern wollten. Attos wohl schon in den 70er Jahren entstandenes Breviarium wendet sich im Prolog an seine Mitbrüder an der Titelkirche San Marco, aber darüber hinaus wohl auch an alle anderen Kleriker, denen aufgrund der Betonung der römischen Auto189 Vgl. dazu Servatius, Paschalis II. (wie Anm. 168), S. 125 und 132–134.
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rität und der Forderung der Kirchenreformer nach authentischen Rechtstexten offenbar Zweifel an der Verwendbarkeit des in der Praxis immer noch unersetzlichen Dekrets des Bischofs Burchard von Worms gekommen sind. Schon Petrus Damiani hatte diese Zweifel 1049 in seinem berühmten Brief an Leo IX., dem sogenannten Liber Gomorrhianus, mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht190. Attos Breviarium ist offenbar als ein vorläufiges „Nachschlagewerk“ konzipiert, mit dem man die Authentizität zweifelhafter Texte überprüfen konnte, hat jedoch offenkundig keine größere Verbreitung gefunden, da es trotz seiner Orientierung an den Zielen der Reform den Bedürfnissen der römischen und italienischen Kleriker nicht umfassend genug entsprach191. Der Kardinal Deusdedit, ursprünglich wohl Südfranzose aus Tulle in der Nähe von Limoges, hat sich mit seiner Kanonessammlung ganz in den Dienst der römischen Kirche gestellt und ihren universalen Primat sogar für Situationen reklamiert, in denen die prima sedes vakant war, wie er selbst es nach der Flucht und dem Tod Gregors VII. und vor der Erhebung Viktors III., seines unmittelbaren Adressaten, erlebt hatte. Seine Sammlung, die auch eine Reihe von Belegen für die materiellen Rechte der römischen Kirche enthält, ist nicht für die Praxis der Buße oder des kirchlichen Gerichts gedacht, sondern eher als Selbstvergewisserung und als Angebot für diejenigen einzuordnen, die mit Nachdruck für den Primat der römischen Kirche eintraten, unterstreicht aber auch, dass das Papsttum keinesfalls über den Kanones steht, deren Bestimmungen es nur im Zusammenwirken mit ökumenischen Konzilien verändern könne. Deusdedits Sammlung war nicht das autorisierte Handbuch, auf das alle gewartet hatten, um auch in der kirchenrechtlichen Praxis die gregorianischen Prinzipien anzuwenden, sondern fand offenbar erst nach einer gewissen Zeit Beachtung und dann noch bis ins 14. Jahrhundert und auch in romferneren Gegenden in erster Linie Verwendung als Materiallager für authentisches gregorianisches Kirchenrecht. Als ein „kirchenrechtliches Handbuch der Reform“ zu bezeichnen ist der wohl erst im zweiten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts fertiggestellte Polycarpus des Kardinalpriesters Gregor von San Crisogono, der sich mit seinen acht Büchern bemühte, 190 Petrus Damiani, ep. 31, ed. Kurt Reindel, MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit, 4,1, München 1983, S. 304, Z. 3–8: Verumtamen quis istos canones fabricavit? Quis in purpureo ecclesiae nemore tam spinosos tam aculeatos paliuri tribulos seminare praesumpsit? Constat nimirum, quod omnes autentici canones aut in venerandis synodalibus conciliis sunt inventi aut a sanctis patribus sedis apostolicae pontificibus promulgati, nec cuiquam soli homini licet canones edere, sed illi tantummodo hoc competit privilegium, qui in beati Petri cathedra cer nitur praesidere. Vgl. Jasper, Gregorianer (wie Anm. 60), S. 173f. 191 Fournier, Collections romaines (wie Anm. 85), S. 293 (447).
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ein umfassendes, aber gleichzeitig auch benutzerfreundliches Werk vorzulegen, das auch in romfernen Gebieten wie der galizischen oder spanischen Kirche die rechtlichen Prinzipien und Grundlagen der Reform verbreiten sollte. Ob das Werk, wie Gregor in seinem Prolog anzudeuten scheint, ihn selbst für höhere Aufgaben qualifizieren sollte oder möglicherweise nur grundsätzlich den Legaten, deren Teilhabe am päpstlichen Primat er besonders hervorhebt, in Spanien und anderswo als ein kanonistisches Nachschlagewerk dienen sollte, lässt sich wohl nicht mehr genau nachvollziehen. Festzuhalten ist jedoch, dass auch die Überlieferung dieser „Reform sammlung der Spätphase“ darauf hindeutet, dass die Sammlung tatsächlich nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, (Süd-)Frankreich und Spanien benutzt und weiterverarbeitet wurde192. Gerade auch in der gemeinsamen Betrachtung mit dem Werk Deusdedits wird zudem noch einmal deutlich, dass das „Kirchenrecht im Dienst der Reform“ keinesfalls ohne Weiteres gleichzusetzen ist mit einem „Kirchenrecht im Dienst des Papsttums“.
192 Vgl. dazu Horst, Polycarpus (wie Anm. 160), S. 11–13.
Kommunikation im Wandel Ergebnisse, Ausblick und Desiderate Florian Hartmann Mit den Wandlungen von Kommunikationsformen und -medien ist in diesem Band eine Facette der Auseinandersetzungen des 11. und 12. Jahrhunderts angesprochen, die stets im Schatten der politischen Dimensionen stand. Dabei zeugen allein die drei voluminösen MGH-Bände zu den Libelli de lite von einer neuen Quantität an Schriftlichkeit, wenn nicht gar von einer neuen Gattung „Streitschrift“. Die Komplexität dieses Streits, dessen Etikettierung als „Investiturstreit“ längst als defizitär erkannt worden ist, spiegelt sich auch in der Komplexität und Heterogenität ihrer literarischen Bewältigung wider. Gattungshybridisierungen sind die Folge, die sich den herkömmlichen Kategorisierungen entziehen. Denn im kommunikativ aufgeladenen Kontext des Investiturstreits orientierte sich in besonderem Maß jede literarische Ausgestaltung der Texte im Einzelnen an dem je intendierten Adressatenkreis. Damit rückt zwangsläufig die Öffentlichkeit der Texte ins Zentrum der Betrachtung und mit der Öffentlichkeit die kommunikative Situation, d.h. der u. a. durch Gerüchte geprägte Kenntnisstand der Adressaten und deren bewusste Beeinflussung durch Propaganda, Polemik oder mehr oder weniger ausgereifte Argumentationsformen. Der Investiturstreit gewinnt neue Deutungen, begreift man ihn als Kommunikationsereignis. Denn dass die kommunikative Situation im Europa des 11. Jahrhunderts eine neue war, haben die hier versammelten Beiträge deutlich illustriert. Das zwang zu Innovation und Wandel. Doch zugleich richtete sich die Reform an dem Vergangenen aus, an Idealen der alten Kirche. Das erklärt die Autorität der Tradition. In diesem Spannungsfeld war Kreativität gefragt, die eine Vielzahl der Streitschriften auszeichnet. Ihnen und ihrer kommunikativen Funktion sind die versammelten Beiträge gewidmet Mit dieser neuen Perspektivierung auf die Kommunikationsprozesse verbunden sind neue Fragen und überraschende Antworten. In Bezug auf drei wiederholt diskutierte Themenkomplexe (Kommunikation und Dialog; Tradition und Innovation; Argument, Autorität und Adressaten) sollen mit diesen zusammenfassenden Überlegungen die Resultate der Konferenz und der hier abgedruckten Beiträge verdichtet und einige sich daraus ergebende Forschungsdesiderate benannt werden.
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Kommunikation und Dialog Europa, so heißt es, rückte im 11. Jahrhundert enger zusammen; die Kommunikation wurde durch den erheblichen quantitativen Aufschwung verdichtet1. Doch im Einzelnen ist die Zirkulation von Ideen, Argumenten und Gerüchten kaum mehr zu rekonstruieren. Immer wieder lassen sich allerdings kleine Überlieferungswege eher aus Zufall nachzeichnen, die auf eine insgesamt große Verbreitung und vor allem auf ein großes Bedürfnis nach Information schließen lassen. So verweist Wilfried Hartmann auf einen unter anderem bei Sigebert von Gembloux erwähnten fiktiven Bericht darüber, was Gregor VII. auf seinem Sterbebett veranlasst haben soll: Gregors angebliche Aussagen gleichen einem bedingungslosen Schuldeingeständnis, das auch die neuerliche Bannlösung Heinrichs IV. und die Aufforderung an die verbliebenen Getreuen enthalten habe, sich dem Kaiser anzuschließen. Dieser Bericht ist nach unserem Wissen geradezu absurd, unsinnig und sofort als erfunden erkennbar. Für die Zeitgenossen war das möglicherweise nicht so eindeutig. Jedenfalls wurde dieses fiktive Schuldeingeständnis nicht nur erfunden, sondern auch kopiert und weiterverbreitet. Der Editor von Sigeberts Chronik, Ludwig Bethmann, verweist auf den Codex London, British Library, Cotton. Nero C. V., ursprünglich aus St. Alban in Mainz, der auf einem freien Blatt vor der Chronik des Marianus Scottus diesen Bericht bietet. Vor dort fand diese Anekdote Aufnahme in die Chronik des Johannes von Worcester2. Auch die Überlieferung dieses Schuldeingeständnisses auf einem freien Blatt der Chronik des Marianus Scottus ist wohl am leichtesten damit zu erklären, dass dieser an sich absurde Bericht allgemein für interessant und überlieferungswürdig gehalten und deshalb immer wieder kopiert wurde. So erklärt sich auch die Überlieferung dieser Anekdote in einer weiteren Chronik und auch in polemischen Traktaten der Zeit3. Nicht weniger als vier Chroniken, ein Traktat und eine Notiz auf leerem Blatt überliefern demnach einen nach unserer Wahrnehmung erkennbar gefälschten, erfundenen Bericht. Dessen Inhalt untermauerte die Aussagen und Bewertungen der Chroniken. Die antigregorianische Tendenz in Sigeberts Chronik wurde auf diese Weise vermeintlich durch Gregor VII. selbst legitimiert. Der erfundene Bericht 1 Vgl. Thomas Wetzstein, Europäische Vernetzungen. Straßen, Logistik und Mobilität in der späten Salierzeit, in: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, S. 341–370. 2 The chronicle of John of Worcester, Bd. 3, ed. P. McGurk, Oxford 1998, ad annum 1084, S. 40. 3 Vgl. den Beitrag von Wilfried Hartmann.
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bestätigte bestehende Bilder, fiel in bestimmten Kreisen auf fruchtbaren Boden. Nicht in Sigeberts Fassung, aber auf dem Blatt vor der Chronik des Marianus wurde ein weiterer Zeuge für die letzten Worte Gregors VII. genannt: Der Mainzer Erz�bischof selbst4. Gerade solch kurze Anekdoten waren damals im Umlauf, wie wir durch Mehrfachüberlieferungen nachweisen können. Das deutet unmittelbar auf bewusste Verbreitung solcher Pamphlete oder auf eine erhöhte Nachfrage nach Texten hin, denen man im Streit einen gewissen Nutzen unterstellte. Aber auch unikale Überlieferung oder insgesamt geringer handschriftlicher Bestand erlauben keine Rückschlüsse auf die damalige tatsächliche Verbreitung. So weist die Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit trotz unikaler Überlieferung in vollständiger Version wegen einer Reihe von Exzerpten und Fragmenten auf ein großes Interesse hin, das weit über regionale Horizonte hinausging und eine rege Rezeption auch fern der römischen Zentrale erahnen lässt. Nicht nur die vollständig überlieferten Texte, sondern die in ihnen vorgebrachten Argumente oder Autoritäten belegen die Verbreitung von Texten und ihren Ideen. Das über einzelne Aspekte der Auseinandersetzung kursierende Wissen wurde nicht selten durch Gerüchte verbreitet, erweitert oder erst erzeugt. Darauf deuten mit Blick auf den Lebenswandel Heinrichs IV. sowohl die zahlreichen Details hin, die antikönigliche Traktate genüsslich ausbreiten, als auch die Versuche der Anhänger des Königs, dessen Lebenswandel als tadellos darzustellen. Auch die intensive Beschäftigung mit dem bereits über 20 Jahre zurückliegenden CadalusSchisma lässt erahnen, in welcher Breite der Ausgang dieses Schismas den Gregorianern als Argument in die Hände spielte. Nur vor dem Hintergrund einer so zu erschließenden Instrumentalisierung des Schismas in einem weiteren Diskurs lässt sich erklären, dass sich auch die Anhänger Heinrichs IV. noch auf dieses Schisma beziehen, obwohl es für sich gesehen der Sache des Saliers nur schaden konnte. Gute Argumente der Gegenseite mussten, sobald die im öffentlichen Diskurs an Relevanz gewonnen hatten, gekontert werden. Wie weit dieser Diskurs verbreitet sein konnte, lässt sich anhand immer wieder erwähnter Gerüchte erahnen. So dürften oft die Gerüchte Anlass gewesen sein, dass Chronisten bestimmte Informationen überhaupt erst schriftlich verbreiteten 5. 4 Sigeberti Gemblacensis Chronographia, ed. Ludwig Conrad Bethmann, in: MGH SS 6, Hannover 1844, S. 268–474, hier S. 365, Anm. 62. 5 Steffen Patzold, Die Lust des Herrschers. Zur Bedeutung und Verbreitung eines politischen Vorwurfs zur Zeit Heinrichs IV., in: Gerd Althoff (Hg.), Heinrich IV., Ostfildern 2009 (Vorträge und Forschungen, 69), S. 219–253; Münsch in diesem Band; allgemein zum Aufkommen und zur Verbreitung von Gerüchten in der Zeit Heinrichs IV.: Hannah
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Gerüchte reagieren ihrerseits auf Ereignisse und wirken dann in die Chronistik. Sie sind damit ein wichtiger Faktor der Kommunikation, zumal in vornehmlich oral geprägten Gesellschaften. Steffen Patzold hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass die in vielen Quellen erwähnten, insgesamt aber ähnlich lautenden Vorwürfe gegen Heinrich IV. ihre Ursprünge in kursierenden Gerüchten hatten. Aber worauf basieren die Gerüchte? In der soziologischen Forschung gilt inzwischen als ausgemacht, dass Gerüchte in der Regel dazu dienen, unerklärten oder unerklärbaren Fakten einen Sinn zu geben6. „Die Entwicklung eines Gerüchts und seines Inhalts beruhen also in der Regel nicht auf einer gezielten Strategie, sondern auf der Weiterentwicklung und Kommentierung von Nachrichten, auf Sinnstiftungen und auf dem Versuch, die Gegenwart zu erklären, kurz auf Kontingenzbewältigung.“7 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist es durchaus bezeichnend, dass ausgerechnet 1076 erste Spuren von den Gerüchten über das moralische Fehlverhalten Heinrichs IV. greifbar sind. Der unerhörte Fall der Exkommunikation eines Herrschers in jenem Jahr verwirrte, gab Anlass zur Unruhe und zu der Frage nach Ursache und Legitimation des Unerhörten. Die Legitimation der Exkommunikation suchten die Gelehrten durch Studien in Geschichte und kanonistischer Überlieferung zu erweisen. Eine Ursache für die Exkommunikation mussten sich die Akteure mangels eindeutiger Verlautbarungen selbst konstruieren. Vages Wissen über Heinrichs IV. Trennungsbegehren von 1069 mag der Ansatzpunkt gewesen sein. Der Rest wurde hinzugedichtet. Und dabei musste man schon absurde und unerhörte Vergehen des Saliers erfinden, um eine Erklärung für die bis dahin undenkbare Exkommunikation eines gesalbten Königs zu erhalten. Waren solche Gerüchte erst einmal im Umlauf, dann ergab sich die weitere Verbreitung auch in schriftlicher Form aufgrund der kommunikativen Verdichtung fast von selbst. Vor dem Hintergrund dieser immer wieder belegten Gerüchte bestand die Aufgabe der Gelehrten nur noch darin, die Kakophonie oder Vielstimmigkeit dieses Vollrath, Lauter Gerüchte? Canossa aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweise – Strategien – Darstellungsformen, Ostfildern 2012 (Mittelalter-Forschungen, 38), 159–198. 6 Jean-Noël Kapferer, Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, Berlin 1996; vgl. auch Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin/London 1914/1918, München 2008 (Veröffentlichung des DHI London, 62), S. 11: Demnach seine Gerüchte der Versuch, „der Welt eine akut vermisste und fehlende Ordnung zurückzugeben“; ähnlich schon Gordon W. Alport / Leo Postman, Psychology of Rumor, New York 1947; Tamotus Shibutani, Improvised News: A Sociological Study of Rumor, Indianapolis 1966. 7 Florian Hartmann, Das Gerücht vom Tod des Herrschers im frühen und hohen Mittelalter, in: HZ 302 (2016), S. 340–362.
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kommunikativen Grundrauschens zu ordnen und durch argumentativ geschickte Anordnung und kreatives Emplotment nutzbar zu machen. Das dafür erforderliche rhetorische Wissen stellten im 11. Jahrhundert die rhetorischen und briefrhetorischen Lehrbücher zur Verfügung. Auch ihre Zunahme belegt die kommunikative Verdichtung im 11. Jahrhundert.
Tradition und Innovation Wichtigster Motor dieser kommunikativen Verdichtung war offenkundig die römische Kurie. Zugleich war man dort an der Quelle authentischer Überlieferung. Der Bestand frühmittelalterlicher Papstbriefe war dort offenbar auch im 11. Jahrhundert noch beträchtlich: Wiederholt beziehen sich die Gelehrten auf – heute verlorene – römische Registerüberlieferung, aus der sie die älteren Papstbriefe zu entnehmen behaupteten8. Die Autorität dieser älteren Quellen, der bevorzugt rezipierten päpstlichen responsa, war zumal in den Jahren der Reform erheblich. Und dennoch schuf man im 11. Jahrhundert Neues, neue Sammlungen mit neuen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, formal vornehmlich an den päpstlichen responsa orientiert, aber nicht ohne bewusste Selektionsmechanismen neu zusammengestellt. Mit der größeren Systematik und der bisweilen höheren Benutzerfreundlichkeit dieser neuen Zusammenstellungen verloren die älteren Sammlungen offenbar an Wert. Vielleicht hat diese neue Produktivität auch zum Untergang der frühmittelalterlichen Bestände beigetragen9. Kanonistische Sammlungen zeigen ganz ähnliche Praxen der Anverwandlung. So stand eine je im Einzelfall individuell zu erschließende „causa colligendi“ am Anfang. Ursprünglicher Zweck und später mit der Sammlung verfolgter Zweck können allerdings leicht auseinanderfallen. Das gilt für Streitschriften nicht weniger als für kanonistische Sammlungen. So hat die Betonung des römischen Primats, die viele monastische Sammlungen erkennen lassen, grundsätzlich nicht unbedingt die Stärkung des Papstes als übergreifendes Ziel, sondern der Primat ist eher ein Mittel zu Sicherung der Klöster gegen die Übergriffe der Ortsbischöfe. Damit zeigten einige Sammlungen eine ähnliche Strategie, wie sie die ältere Forschung Pseudoisidor zugewiesen hat, wonach das Papsttum oder vielmehr dessen Stärkung 8 Die Konzilien Deutschlands und Reichsitaliens 916–1001, Bd. 2, 962–1001, bearb. v. Ernst-Dieter Hehl, Carlo Servatius, Hannover 1987–2007 (MGH Conc. VI), S. 487– 494. 9 S. o. Herbers.
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eher Mittel zum Zweck gewesen sei10. Andere dagegen, insbesondere die Sammlung des Kardinals Deusdedit, sind wohl mit einer bewussten, auf Rom bezogenen Intention zusammengestellt worden. Solche Sammlungen entsprechen zwar durchaus der Tradition, indem sie ältere Rechtssätze aufgreifen. Aber ihre Auswahl ist doch deutlich interessengesteuert. Wenn in diesem Kontext die Sammlung des Deusdedit trotz geringer handschriftlicher Überlieferung breite Rezeption erfuhr, zeigt sich daran sehr deutlich, wie mit diesen Sammlungen auf der Grundlage einer – wenn auch einseitigen – Tradition Ambitionen der Reformer unterstützt wurden11. Der Nutzen und die Benutzung solcher Sammlungen auf dem Fundament älterer Überlieferungen belegen eindrücklich, in welchem Maß die gesamte Kirche auf der Tradition fußte. Dennoch spürten die Akteure in der zunehmend grundsätzlich geführten Debatte die Notwendigkeit, sich von Fehlern und Vergehen der jüngeren Vergangenheit zu distanzieren und Neues zu schaffen auf der Grundlage des Alten. Dieser Zwang zur Innovation ist nicht zuletzt in der päpstlichen Formsprache zu erkennen. Abgrenzung von Vorangehendem und zugleich Betonung der Tradition bilden ein eigentümliches Spannungsfeld, das sich in diesen Jahren in vielen Bereichen bemerken lässt, besonders aber in den Schriftstücken der päpstlichen Kurie. Zwar sind in den Papsturkunden die Empfängereinflüsse bekanntlich groß12. Bei den Briefen verhält sich das freilich etwas anders. So mag es vielleicht nicht überraschen, dass mit der rapiden Zunahme päpstlicher Einflussnahme Motu pro
10 Vgl. zu dieser Deutung Pseudoisidors aber die jüngsten Einwände von Clara Harder, Pseudoisidor und das Papsttum. Funktion und Bedeutung des apostolischen Stuhls in den pseudoisidorischen Fälschungen, Köln/Weimar/Wien 2014 (Papsttum im mittelalterlichen Europa Bd. 2); pointiert: Dies., Der Papst als Mittel zum Zweck? Zur Bedeutung des römischen Bischofs bei Pseudoisidor, in: Karl Ubl, Daniel Ziemann (Hg.), Fälschung als Mittel der Politik? Pseudoisidor im Licht der neuen Forschung. Gedenkschrift für Klaus Zechiel-Eckes, Wiesbaden 2015 (MGH Studien und Texte 57), S. 187–206. 11 Vgl. Horst Fuhrmann, Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, 2, Stuttgart 1973 (Schriften der MGH 24,II), S. 486–562., bes., S. 533; Uta-Renate Blumenthal, Reflections on the influence of the Collectio canonum of Cardinal Deusdedit, in: Mélanges en l’honneur d’Anne Lefebvre-Teillard. Textes réunis par Bernard d’Alteroche, Florence Demoulin-Auzary, Olivier Descamps, Franck Roumy, Paris 2009, S. 135–147, bes. S. 147; s.o. Kéry. 12 Hans-Henning Kortüm, Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896–1046, Sigmaringen 1995 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 17); Jochen Johrendt, Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896–1046), Hannover 2004 (MGH Studien und Texte, 33).
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prio, auf eigene Veranlassung ohne vorangehende Anfrage ex partibus13, erstmals mit Alberich von Montecassino ein Gelehrter Stilist beauftragt wird, das freihändige Verfassen päpstlicher Dokumente zu lehren14. Mit dieser Lehre verbunden ist zwangsläufig eine gewisse Vereinheitlichung, wie wir es für die ars dictaminis insgesamt im frühen 13. Jahrhundert besonders markant nachvollziehen können15. Diese Vereinheitlichung zielt auch auf eine semantische „Vereindeutigung“ der Sprache, die Jochen Johrendt als ein Resultat der Ambitionen der päpstlichen Kanzlei nach Leo IX. nachgewiesen hat. Während die römische Kurie seit Leo IX. quantitativ und qualitativ vieles erneu� erte und mit Neuerungen experimentierte, während sie vor allem weit über den römischen Horizont hinaus Schreiben in die lateinische Welt verschickte, verblüfft Gerhard Lubich mit dem Befund, dass die beiden letzten salischen Könige Heinrich IV. und Heinrich V. quantitativ in der Produktion ihrer Kanzleien, jedenfalls der erhaltenen Überlieferung nach, eher hinter ihren Vorgängern zurückstanden. Während wir sonst auf allen Feldern von einer erheblichen Zunahme schriftlicher Produktion ausgehen, lässt sich dieser Befund für die Urkunden und Briefe der beiden letzten Salier nicht bestätigen. Dieser Befund bedarf noch einer Erklärung, legt aber die Vermutung nahe, dass die Könige ihrem Selbstverständnis nach keine Notwendigkeit gesehen haben, sich zur Legitimation oder Erläuterung ihres Handelns an weite Kreise der Reichselite zu wenden. Die „Propaganda“ um die Wormser Absetzungsschreiben Heinrichs IV. aus dem Jahr 1076, deren Erforschung wir Carl Erdmann verdanken, bleibt vor diesem Hintergrund wohl eine Ausnahme. Nur hier lässt sich in den Schreiben der Kanzlei eine bewusste Anpassung von Stil und Argumentation an einen besonderen Adressatenkreis nachvollziehen16.
13 Rudolf Schieffer, Motu proprio. Über die papstgeschichtliche Wende im 11. Jahrhundert, in: HJb 122 (2002), S. 27–41. 14 Vgl. Florian HArtmann, Das Enchiridion de prosis et rithmis Alberichs von Montecassino und die Flores rhetorici, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 89 (2009), S. 1–30. 15 Florian Hartmann, Ars dictaminis. Briefsteller und verbale Kommunikation in den italienischen Stadtkommunen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Ostfildern 2013 (Mittelalter-Forschungen 44). 16 Carl Erdmann, Die Anfänge der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: HZ 154 (1936), S. 491–512,
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Argument, Autorität und Adressaten Mit dem erwähnten Wormser Absetzungsschreiben lässt sich exemplifizieren, in welcher Weise die Argumentationsformen damals zunehmend und bewusst an die intendierten Empfänger angepasst wurden. Das betrifft nicht nur die Wahl des Genres, sondern auch die Auswahl der zitierten Autoritäten. Wollte man möglichst viele Akteure überzeugen, auf seine Seite ziehen oder in ihrer schon bestehenden Parteizugehörigkeit bestärken, so mussten je nach Klientel unterschiedliche Register bespielt werden. Sigebert von Gembloux ist bei weitem nicht der einzige, der seine Tätigkeit auf mehr als nur eine Textgattung ausdehnte, gleich ob man ihm den Tractatus de investitura episcoporum zuschreiben will oder nicht. Das Gleiche gilt auch für Alberich von Montecassino, der neben seiner – heute verlorenen – Streitschrift gegen Heinrich IV. noch eine Stellungnahme gegen Berengar von Tours, hagiographische Werke und eine Reihe rhetorisch-didaktischer Schriften verfasst hat, die aber ebenfalls ihre Feindschaft zu Heinrich IV. nicht verhehlen können. Die Autoren im Streit wussten nach Adressatenkreis präzise zu differenzieren und ihren Stil anzupassen: Gelehrte, weitschweifige Traktate für ein kleines gebildetes Publikum und verständliche, kurze Briefe oder Berichte, wie jener bei Sigebert von Gembloux überlieferte, deren Überzeugungskraft sich auch den ungebildeten Massen insbesondere in den Städten erschloss. Nicht ohne Grund schlägt Christian Heinrich hier eine Differenzierung vor, indem er nur noch den für ein breiteres Publikum vorgesehenen und angemessenen Texten von geringer Länge das Etikett „Streitschrift“ zuweist, während die gelehrten Traktate der Kontroversliteratur zuzuordnen seien. Mit dieser Definition verlören zwar Texte den Status „Streitschrift“, die man traditionell auch wegen ihrer Edition in den Libelli de lite dieses Epitheton zuweist. Doch dürfte im Rahmen jüngerer kommunikationstheoretischer Ansätze, die in der Mediävistik zunehmend rezipiert werden, eine rezeptionskritische Unterscheidung der Texte durchaus legitim sein. Mit der Unterscheidung zwischen Streitschrift (im engeren Sinn) und Kontroversliteratur (im weiteren Sinn) zeigt sich auch, wie sehr die Heterogenität der in den Libelli de lite edierten Texten einer einheitlichen Bewertung bislang im Wege stand und grundsätzlich auch im Wege stehen muss. Gerade im Kontext der jüngeren Bemühungen um die Öffentlichkeit im Investiturstreit erscheint eine stärkere Berücksichtigung der intendierten Öffentlichkeit eines Textes plausibel. Welche Auswirkungen müsste es auf die Argumentation haben, wenn die Texte wirklich publizistisch, also in eine breite Öffentlichkeit hätten wirken sollen? Man müsste wohl ein intellektuell geringeres Argumentationsniveau erwarten. Es ist daher vielleicht auch kein Zufall, wenn in den – vermeintlich propagandistischen –
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Briefen Gregors VII. das häufigste Bibelzitat lautet: Maledictus homo, qui prohibit gladium suum a sanguine („Verflucht sei, der sein Schwert aufhält, daß es nicht Blut vergieße!“, Jeremiah 48:10). Dieses Gewalt legitimierende Zitat hat Autorität, war unbestreitbar und verständlich auch für eine breitere Öffentlichkeit. Eine Öffentlichkeit, die Gregor vor seinem Pontifikat in der Pataria selbst kennen gelernt hatte. Deutet darauf auch der gebürtige Mailänder Bonizo von Sutri hin, wenn er fordert: Quid nobis cum allegoria? Veniamus ad veritatem evangelicam! – „Wozu Allegorien? Kommen wir zur Wahrheit der Evangelien!“17 Gregor VII. zitiert das Gewalt legi�timierende Jeremiahzitat erstmals in einem Brief an Herzog Gottfried von Lothringen und danach in einem Schreiben an alle Christen des Reiches, also vornehmlich an Laien. Vielleicht waren solche Zitate und Autoritäten, die ihrer Klarheit wegen keiner Interpretation bedurften, bewusst gewählt für ein Laienpublikum. Das ist nur Spekulation, deutet aber an, dass es der je spezifische Kontext ist, der Stil und Struktur der Briefe prägte18. Roland Zingg hat schon früher und in anderer Form auch an dieser Stelle plausibel gemacht, dass Anselm von Canterbury seine Briefe ganz bewusst einem literarisch gebildeten Publikum zugänglich gemacht hat, also eine Öffentlichkeit erreichen wollte19. Allerdings steht nicht die polemische Parteinahme hinter dieser Einbindung der Öffentlichkeit, sondern eher persönliche Eitelkeit und der Versuch eines gezielten Self-Fashioning. Dies war um so mehr möglich, als Briefe ganz offensichtlich weiter zirkulierten als die Adresse in der Intitulatio allein erwarten lässt. Nicolangelo d’Acunto verweist darauf, dass Petrus Damiani selbst in seinen Briefen bewusst die Bedürfnisse von Lesern berücksichtigt, die als direkte Empfänger des Briefes gar nicht genannt sind. Doch so sehr in der jüngeren Forschung über die neue Form und Einbettung Öffentlichkeit im 11. Jahrhundert geschrieben wurde, darf doch nicht übersehen werden, dass längst nicht alles öffentlich war, dass Briefe auch zur internen Kommunikation genutzt wurden und dass solche Briefe auch bewusst codiert waren. Die von Matthias Schroer untersuchten Briefe bezeugen diesen Geheimcharakter brieflicher Kommunikation in Zeiten zunehmender Einbindung von Öffentlichkeiten. 17 Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, ed. Ernst Dümmler, in: MGH Ldl 1, Hannover 1891, S. 571–620, hier S. 572, Z. 16. 18 Vgl. Florian Hartmann, “Quid nobis cum allegoria?” – The Literal Reading of the Bible in the Investiture Contest, in: Damien Kempf, Janet Nelson (Hg.), Reading the Bible in the Middle Ages, London u. a. 2015, S. 101–118. 19 Roland Zingg, Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070–1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte, Köln 2012, (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 1).
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Florian Hartmann
Was bleibt: Desiderate Die Diskussionen haben eine Reihe von Fragen aufgeworfen, zu deren Beantwortung allerdings noch einige Grundlagenarbeit zu erledigen ist. So gilt längst als erwiesen, wie groß der Empfängereinfluss auf Papsturkunden vor 1046 gewesen ist. Mit Blick auf die Neuerungen im Gefolge der papstgeschichtlichen Wende unterstellt die Forschung der römischen Zentrale einen großen Gestaltungsanspruch. Zahlreiche Neuerungen in der päpstlichen Schriftlichkeit und Kommunikation sind damit verbunden. Völlig offen scheint aber die Frage, ob mit diesen Entwicklungen der Einfluss der Empfänger tatsächlich so stark zurückging. Wie wirkte sich die unter Umständen ungewollte Innovation der Urkunden auf die Empfänger und ihr Umfeld aus, wo die Urkunden ja schließlich ihre Wirkung und Anerkennung finden mussten? Worauf zielten die Innovationen intentional und inwieweit konnten die Empfänger darauf überhaupt noch Einfluss nehmen. Mit der Frage nach dem Einfluss der Empfänger berühren wir das weite Feld der Adressaten oder der Öffentlichkeit jener Schriftlichkeit, die im 11. Jahrhundert so rapide zunahm. In Detailstudien konnte in diesem Band den intendierten Empfängern nachgespürt werden. Diese Arbeit wäre auf das gesamte Korpus der so genannten Libelli de lite auszudehnen. Ziel müsste dann auch sein, Themen, Argumentationsformen und die zitierten Autoritäten mit diesen Empfängern oder Öffentlichkeiten in Beziehung zu setzen. Was hat es beispielsweise zu bedeuten, dass das Cadalus-Schisma ausschließlich in italienischen Texten so ausführlich thematisiert wird, obwohl dessen Relevanz im 20 Jahre späteren Schisma zwischen Wibert/Clemens und Hildebrand/Gregor auch nördlich der Alpen bestand?20 Nördlich der Alpen nutzte man ebenfalls die Geschichte als Argument. Doch während man dort wesentlich weiter zurückgriff, machten sechs italienische Autoren die jüngste Vergangenheit für ihre Argumentation fruchtbar. Wenn man berücksichtigt, dass in Italien, insbesondere in den Städten, die Laien viel stärker in die Debatte einbezogen wurden,21 dann ist man versucht, zwischen dem laikalen Adressatenkreis und dem Verweis auf die jüngste Vergangenheit einen Zusammenhang zu sehen. Wollte man die Laien überzeugen, dann half die ferne Vergangenheit nicht weiter, denn die war nur den Gelehrten bekannt. Die jüngsten Ereignisse kannten in einer Gesellschaft vornehmlich oraler Kommunikation sogar die Ungebildeten noch aus eigener Erinnerung und mündlicher Überlieferung. Dürften diese 20 Vgl. den Beitrag von Schroll. 21 Vgl. dazu zuletzt ausführlich Ronald Witt, The two Latin cultures and the foundation of Renaissance humanism in medieval Italy, Cambridge 2012.
Kommunikation im Wandel
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Überlegungen zutreffen, dann bestünde ein verdienstvolles und lohnendes Forschungsfeld darin, das Verhältnis zwischen Text und Kontext, zwischen Intention und Argument, zwischen Aufbau und Empfänger in den Einzelfällen zu studieren. Erst wenn diese Arbeit für einen Teil der Streitschriften nach fundiertem Quellenstudium getan ist, ließe sich die Frage nach der Öffentlichkeit und ihrer Funktion im Investiturstreit erheblich verlässlicher beantworten, als es bislang geschehen ist. Die Intention der Verfasser ist freilich nicht auf die Streitschriften zu reduzieren. Auch die Urheber diverser Sammlungen von Briefen und Kanones suchten sich ihre Stücke nicht wahllos zusammen. Die Rechtssätze wurden vielmehr gezielt selegiert oder ausgesondert. Die Kriterien dieser Selektion und die Folgen, welche diese für das so erst konstruierte Bild der Vergangenheit hatten, sind bisher kaum erforscht. Auch hier wäre Grundlagenarbeit am handschriftlichen Bestand zu leisten. Wie unterscheiden sich die Sammlungen der Reformer im 11. Jahrhundert von denen im 9. Jahrhundert? Worauf gehen diese Unterschiede zurück und welche Intentionen lassen sich daraus unter Umständen erschließen? Blickt man auf die Themen und Fragen der hier versammelten Beiträge im Überblick, dann ergibt sich ein Befund: Die spannenden Fragen ergeben sich immer dann, wenn die unterschiedlichen Texte auf ihre kommunikative Funktion befragt werden. Wer wurde mit dem Text erreicht, wer sollte erreicht werden und wie wirkte sich diese Intention jeweils auf die Gestaltung, Argumentation und Rezeption der Texte aus? Die vorliegenden Einzelstudien können Beispiel und Muster, insgesamt allerdings nur ein Anfang sein. Der riesige, nicht immer leicht zu erschließende Bestand an Texten, an Briefen, Streitschriften und kanonistischen Sammlungen dieser Epoche ist noch kaum erschöpfend behandelt worden. Mögen die Ergebnisse und Überlegungen der Beiträge dieses Bandes Anreiz und Motivation zu weiteren Arbeiten sein.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Matthias Becher, Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Forschungsschwerpunkte: Königtum im frühen und hohen Mittelalter; Geschichtsschreibung. Prof. Dr. Nicolangelo D’Acunto, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Università Catolica del Sacro Cuore (Mailand-Brescia); Forschungsschwerpunkte: Regnum Italiae in ottonischer und salischer Zeit, Kirchenreform des 11. Jahrhunderts (unter besonderer Berücksichtigung des Petrus Damiani), Institutionengeschichte Assisis (10.–13. Jahrhundert). PD Dr. Florian Hartmann, Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Forschungsschwerpunkte: Papst- und Kirchengeschichte, Geschichte Roms und Italiens; Geschichte der Rhetorik und der Epistolographie. Wilfried Hartmann, lehrte bis zu seiner Pensionierung 2007 an der Universität Tübingen Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften; Forschungsschwerpunkte: Edition von kirchlichen Rechtsquellen, Geschichte der Karolingerzeit, Bildungsgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts, Geschichte des kirchlichen und weltlichen Rechts, besonders im früheren Mittelalter, Historiographie des hohen und späten Mittelalters. StR Christian Heinrich, Lehrer für Geschichte, Deutsch, Latein und Erdkunde an der Albert-Schweitzer-Gemeinschaftsschule Lörrach und Doktorand am Seminar für Mittelalterliche Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Politische Konversation im Hochmittelalter, Individualisierung im Geschichtsunterricht. Prof. Dr. Klaus Herbers, Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Forschungsschwerpunkte: Papstgeschichte, Geschichte der Iberischen Halbinsel, Hagiographie, Pilgerwesen, Karolingerzeit.
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Jochen Johrendt, Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal; Forschungsschwerpunkte: Papst- und Kirchengeschichte, Geschichte Roms und Italiens, Hilfswissenschaften. Dr. Lotte Kéry, apl. Professorin am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Forschungsschwerpunkte: Kirchengeschichte, kanonisches Recht. Prof. Dr. Gerhard Lubich, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des Früh- und Hochmittelalters und Historische Hilfswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte: Verfassungs- und Kulturgeschichte insbesondere unter Berücksichtigung sozialer und regionaler Gruppenbildung, Historiographie, Regesta Imperii. Dr. Oliver Münsch, Gymnasiallehrer für die Fächer Geschichte und Latein am Albertus-Magnus-Gymnasium Ettlingen (Baden-Württemberg); 1997-2007 Lehrund Forschungstätigkeit am Historischen Seminar der Universität Freiburg; Forschungsschwerpunkte: frühmittelalterliche Rechtsgeschichte, Streitschriften des Investiturstreits, mittelalterliche Zahlen- und Tiersymbolik. Dr. Eugenio Riversi, Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Canossa und der Investiturstreit, Kirchenreform, Memoria, Häresie und neue Kulturgeschichte. Prof. Dr. Rudolf Schieffer, Präsident i. R. der Monumenta Germaniae Historica und emeritierter Professor für Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Frühes und Hohes Mittelalter, Quellenkunde, Texteditionen. Anja-Lisa Schroll, M.A., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Investiturstreits, Ideen- und Kirchengeschichte, Konfliktforschung Dr. Matthias Schrör, Forschungsschwerpunkt: Kirchen- und Papstgeschichte des Mittelalters sowie in der Geschichte der Salierzeit.
Autorenverzeichnis
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Dr. Georg Strack, Akademischer Rat auf Zeit am Historischen Seminar der LudwigMaximilians-Universität München, Lehrstuhl für Geschichte des Spätmittelalters; Forschungsschwerpunkte: Papstgeschichte des Hoch- und Spätmittelalters, Geschichte der Kreuzzüge, Humanismus- und Rhetorikforschung. Prof. Dr. Thomas Wetzstein, Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; Forschungsschwerpunkte: Papst- und Kirchengeschichte, Geschichte des gelehrten Rechts und der Rechtsprechung, Kommunikationsgeschichte. Dr. Roland Zingg, Wiss. Mitarbeiter am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz, Forschungsschwerpunkte: Englische Geschichte des Hochmittelalters, Briefsammlungen des Früh- und Hochmittelalters, Historiographische Konzepte des früheren Mittelalters.
Register der Orts- und Personennamen Abkürzungen nach dem Registerband des Deutschen Archivs für Erforschung des Mittelalters ( Jahrgänge 1–50), 2001. Adalbero, Bf. v. Würzburg 148 Adalbert, Ebf. v. Mainz 143 Adelheid, Frau Rudolfs von Rheinfelden 84 Ado, Ebf. v. Vienne 323f., 332 Ägidius, hl. 206f., 221 Agnes v. Poitou, Ks.in 209, 213f., 217, 223, 225–227, 230, 239f., 265, 274–276, 280f., 288, 291, 309 Alberich von Montecassino 90, 387–388 Alberich, Bf. v. Osnabrück 150 Alboin 97, 100 Alexander II., Papst 16, 52, 110, 150f., 155, 160f., 195, 198, 216f., 220f., 223, 228, 237, 240, 245, 249f., 254, 257–260, 266f., 269f., 274, 297, 304, 309f., 313, 354. Alexander III., Papst 60, 126 Alger v. Lüttich 337 Allia 253 Almus, Hzg. 142 Ambrosius, Ebf. v. Mailand 20 Anaklet II., Papst 116 Anastasius I., Papst 124 Anastasius Bibliothecarius 327–329, 332 Anastasius, Bf. v. Thessalonike 107 Anno II., Ebf. v. Köln 213, 309f. Anselm, Ebf. v. Canterbury, Anselm v. Aosta 19, 46, 157–159, 162–172, 174, 196, 261, 389 Anselm I., Bf. v. Lucca, siehe Alexander II., Papst Anselm II., Bf. v. Lucca 113, 189, 193–195, 198, 206–208, 210–224, 231, 236, 239f., 245–247, 278f., 289, 305–307, 311f., 317, 333, 348, 359, 362, 374f. Arkadius, Ks. 333 Arius 88, 124
Atto v. San Marco, Kard.pr. 348, 353–360, 376, 378f. Atto, Bf. von Vercelli 354 Augustin, Ebf. v. Canterbury 332 Augustinus, Kirchenvater 188, 249 Azelin, Bf. v. Hildesheim 149 Bamberg 57, 62, 120f., 149, 178f., 189, 280f., 287 Bardo 213, 218, 224, 231f., 236 Bartholomäus, Ebf. v. Tours 52 Basel 309 Beatrix, Mgfn. v. Tuszien 275, 277, 281, 288 Beauvais 324, 327f., 330f. Benedikt IX., Papst 82, 107 Benedikt X., Papst 108f., 113–115, 159 Benedikt v. Nursia, hl. 206–207 Benevent 108, 368 Benno II., Bf. v. Osnabrück 150f. Beno, Kard.pr. v. San Silvestro 184, 299, 303–305, 308. 310f. Benzo, Bf. v. Alba 76, 81f., 243–259, 295, 299–305, 310f., 317 Berald, Abt v. Farfa 340 Berengar v. Tours, Archidiakon 52, 60, 65, 388 Bernhard, Bf. v. Hildesheim 181, 190 Bernold v. Konstanz 20, 24, 82, 88, 97, 100, 147, 181f., 190, 351f. Bertha, Frau Heinrichs IV. 78 Berthold v. Reichenau 147, 182, 291f. Besançon 121 Bonifaz, Ebf. v. Mainz 320 Bonifaz, Mgf. v. Tuszien 107 Bonizo, Bf. v. Sutri 64, 81, 107, 123, 214, 274, 287, 295, 299, 307–313, 316–318, 337, 389 Bordeaux 352
Register der Orts- und Personennamen
Boris, Fürst v. Bulgarien 327 Brennus 253 Bruno v. Köln, hl. 196 Bruno v. Magdeburg 24, 79, 144, 147 Burchard I., Bf. v. Worms 127, 325, 333, 344, 355f., 360, 379 Burchard II., Bf. v. Halberstadt 49, 151f., 154 Bürgel 123 Byzanz 189, 321, 326f., 329 Cadalus, Bf. v. Parma, siehe Honorius II., Papst Caen 160, 164 Cäsar, römischer Ks. 226 Calixt II., Papst 106, 198 Cambrai 142, 176 Cambridge 173 Canossa 9–12, 23, 25f., 29, 34, 47, 70, 90f., 135f., 144, 217, 271f. Canterbury 162, 165, 167f. Cencius, Sohn des Präfekten Stefanus 109 Cencius, Sohn des Präfekten Johannes Tignoso 198, 214 Childeric, Kng. 20 Cicero 193, 211, 247, 252 Clemens II., Papst 126 Clemens (III.), Papst (Wibert, Ebf. v. Ravenna) 20, 81, 87, 114, 119, 162f., 186, 213, 218, 224f., 297, 302–311, 314–317, 339, 390 Cluny 30f., 43, 66, 222 Cölestin I., Papst 106, 124 Cornelius, Papst 363 Corvey 148, 150 Cyprian, Märtyrer 88, 363 Damasus II., Papst 107 David, Kng. v. Israel 228 Deborah, bibl. Richterin 233 Dedi I., Mgf. der Lausitz 151 Deusdedit, Kard.pr. v. S. Pietro in Vincoli 299, 315–318, 326, 333, 336f., 347f., 353, 358, 359–370, 372, 376f., 379f., 383, 386 Diego II. Gélmirez, Bf. v. Santiago de Compostela 371, 376f.
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Dietrich, Bf. v. Verdun 54f. Domenico Loricato 266 Donizo v. Canossa 197 Eadmer 46, 157, 196 Eberhard, Gf. 290 Ebo, Ebf. v. Reims 324 Eilbert, Bf. v. Minden 148 Ekkehard von Aura 136f., 145 Embricho, Bf. v. Augsburg Erlembald 277 Erlung, Kanzler 57 Ermenfried, Bf. v. Sitten 161 Fabian, Märtyrer 363 Farfa 338–347 Felix IV., Papst 113 Fermo 289–292 Ferrara 123 Florentius v. Worcester 183 Florus v. Lyon 78 Fonte Avellana 266 Frankenthal 179, 190 Fredianus, Bf. v. Lucca 207, 218 Friedrich I., Ks. 35, 37, 140 Friedrich II., Ks. 66 Friedrich II., Pfalzgf. v. Goseck 54 Frutolf v. Michelsberg 24, 88, 182 Fulda 54, 88 Gebhard, Bf. v. Konstanz 196 Gebhard, Ebf. v. Salzburg 65, 83, 93, 100 Gelasius I., Papst 358 Gelasius II., Papst 119 Gembloux 175–177, 183 Gerhard, Bf. v. Cambrai 285 Gerhard v. York 158, 173 Gerhard, Gf. v. Galeria 108f. Gerstungen-Berka 66, 93, 308 Gilbert Foliot 173 Goslar 149, 151, 154, 279 Gottfried IV. (der Bucklige), Hzg. v. Lothringen 275, 379 Gottfried, Ebf. electus v. Mailand 277, 282, 285 Gottfried, Abt v. Vendôme 373
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Register der Orts- und Personennamen
Gratian, Kanonist 320, 328–331, 343, 376 Gregor I., Papst 117f., 124, 189, 206, 215, 241, 320, 327, 332, 358 Gregor VII., Papst 16, 19, 24–30, 33–35, 49, 51f., 56, 62–67, 70, 80–87, 90, 99–101, 106, 109, 113f. 121, 123, 126, 135–137, 144, 148, 150, 153f., 158f., 163f., 175f., 179–188, 193, 195, 197f., 201, 206, 211–229, 234, 237–239, 250, 253–256, 258f., 271–293, 295, 297, 300–315, 339, 342, 348f., 352, 354, 364, 378, 382f., 388–390 Gregor IX., Papst 66 Gregor, Kard.pr. v. S. Grisogono 353, 371–377, 379f. Gregor, Bf. v. Vercelli 275 Gregor, Bf. v. Tours 137 Gregor v. Catino 339–347 Gundulf v. Rochester 168 Gunther, Bf. v. Bamberg 52 Hadrian I., Papst 230, 237, 358 Hadrian II., Papst 324 Halitgar v. Cambrai 357 Hamburg-Bremen, Erzbt. 332 Hartwig, Ebf. v. Magdeburg 190 Hartwig, Bf. v. Bamberg 122 Heinrich II., Ks. 121, 139 Heinrich III., Ks. 32, 37, 107, 112, 139f., 149, 226–228, 256, 276, 300 Heinrich IV., Ks. 14, 16, 19, 24–26, 29, 32, 35, 38f., 43, 46f., 49f., 50, 52, 54, 57, 64, 67f., 70, 76, 78–86, 90, 97, 100f., 114, 122f., 133–145, 149f., 153–155, 175, 178, 185f., 190, 198, 213–220, 223–238, 242, 252, 254, 271–293, 295, 300–302, 307, 309–312, 349, 382–384, 387f. Heinrich V., Ks. 19, 23f., 29, 32, 35, 64, 123, 129f., 133f., 136–145, 175, 178, 185f., 189, 240, 387 Heinrich I., Kng. v. England 166–171, 174 Heinrich II., Kng. v. England 161, 165, 171 Heinrich, Archidiakon in Lüttich 176 Heinrich v. Aquileja 286
Herford 150 Hermann v. Salm, Gegenkönig 153 Hermann, Bf. v. Bamberg 279f., 287 Hermann, Bf. v. Metz 63, 100, 175f., 186 Hermann der Lahme, Hermann v. Reichenau 108, 190 Hermann v. Lüneburg 151 Hersfeld 87 Herodes, Kng. 228 Hesiod 72 Hezilo, Bf. v. Hildesheim 147–155, 281 Hilarius, Bf. v. Poitiers 207 Hildebrand, siehe Gregor VII., Papst Hildegard v. Bingen 57f. Hildesheim 149–151 Hinkmar, Ebf. v. Reims 321, 324f., 327 Hinkmar, Bf. v. Laon 325, 329, 331 Hirsau 122f. Hötensleben 152 Homburg 286 Honorius (II.), Papst (Cadalus, Bf. v. Parma) 20, 81, 195, 217, 220, 224, 245, 248, 251–253, 256–259, 263, 267, 297–318, 383, 390 Hugo Capet, Kng. 329 Hugo Candidus, Kard.pr. v. S. Clemente, Kard.bf. v. Palestrina 162f. Hugo, Bf. v. Die, Ebf. v. Lyon 49, 190, 197, 278f., 285, 352 Hugo, Abt v. Cluny 43, 214 Hugo v. Flavigny 86f., 183, 278 Humbert, Kard.bf. v. Silva Candida 189 Huzmann, Bf. v. Speyer 285f. Ignatios, Patriarch 125 Ingelheim 43, 329 Ingeltrud, Frau des Gf.en Boso 125 Innozenz I., Papst 333 Innozenz II., Papst 111, 116, 123 Innozenz III., Papst 27, 103f. Innozenz IV., Papst 66 Isaia, Jesaja 213 Isidor, Bf. v. Sevilla 73 Ivo, Bf. v. Chartres 190, 326, 335, 342
Register der Orts- und Personennamen
Jeremia, Prophet 189, 389 Jerusalem 212, 236 Johannes, Apostel 187 Johannes VIII., Papst 126f., 323 Johannes XV., Papst 126 Johannes XVIII., Papst 121 Johannes VII., Ebf. v. Ravenna 326 Johannes, Bf. v. Cesena 264 Johannes Cassian, Abt v. St.-Victor in Marseille 215 Johannes v. Gaeta, siehe Gelasius II., Papst Johannes v. Mantua 197 Johannes v. Worcester 382 Kaiserswerth 309 Karl der Große, Ks. 228, 230f., 358 Köln 43 Konrad II., Ks. 139 Konrad III., Kng. 43, 139 Konstantin der Große, Ks. 228, 258, 301–303, 312 Konstantin IX., Ks. 189 Konstantinopel 282, 329 Konstanz 61, 82 Lampert v. Hersfeld 24, 79, 94, 135, 147, 149, 151 Laon 324 Lafranc, Ebf. v. Canterbury 159–166, 169 Le Bec 160 Le Mans 325 Leo I., Papst 106f., 124 Leo IV., Papst 323f., 330 Leo IX., Papst 16, 103, 106–110, 112, 121–124, 126f., 189, 339, 379, 389 Leo, Abt 329 Liemar, Ebf. v. Hamburg-Bremen 154, 280f., 283, 287 Livius 55 London 167, 170 Lothar II., Ks. 123, 129 Lothar III., Ks. 123, 129, 139 Lucca 196, 198, 201, 210, 213f., 216–219, 221f., 224f., 233, 235–240, 247, 312, 372 Ludwig II., Ks. 355
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Ludwig der Jüngere, Kng. 126 Lüttich 136, 176, 178 Mâcon 285 Magdeburg 120 Mailand 37, 50, 262, 274, 276, 281, 292, 354 Mainz 86, 129, 142, 183, 186 Malchus 326 Manegold v. Lautenbach 65, 82f., 96, 99, 190, 295 Mantua 249, 257, 310 Marbach 82 Marianus Scotus 24, 183, 190, 382f. Marmoutier 198 Martin, Bf. v. Tours, hl. 198, 206s., 223, 247 Mathilde, Mgfn. v. Tuszien 196f., 207, 209f., 213, 216–219, 221, 223f., 233, 235f., 239f., 275, 277, 281, 288, 307 Mathilde, Tochter Heinrichs III. 84 Matthäus, Apostel 187 Maximus, römischer Adliger 214, 255 Meinhard v. Bamberg 39, 52, 56, 57, 287 Metz 186 Michael III., Ks. 125, 328, 330, 373 Michael Kerullarios, Patriarch v. Konstantinopel 189 Montecassino 88, 119, 329, 352 Moriano 213, 218 Moses, Prophet 187 Nebukadnezar II. 228 Nero, Ks. 226 Nikolaus I., Papst 125–127, 319–321, 324–334, 355, 358, 369, 373 Nikolaus II., Papst 107, 109f., 113, 159, 300, 309f., 374 Normannischer Anonymus 174 Nürnberg 280f. Odilo, Abt v. Cluny 190 Odo, Kard.bf. v. Ostia, siehe Urban II., Papst Osnabrück 150 Otto I., Ks. 26, 32, 139 Otto II., Ks. 139 Otto III., Ks. 139 Otto v. Northeim, Hzg. 152
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Register der Orts- und Personennamen
Otto v. Bamberg, Bf. 129 Otto v. Bismarck, Reichskanzler 25 Ovid, Dichter 72 Paganus, Pr. 214 Paris 351 Parma 248, 251 Paschalis II., Papst 114–116, 143, 166, 176, 179f., 185, 196, 240, 339, 368, 372–375, 377 Paulinzella 123 Paulus, hl. 113, 115, 137, 226, 236, 312, 361f., 365 Paul von Bernried 87 Petrus, Apostel 46, 52, 113, 115, 182, 187, 198, 220f, 226, 231, 251, 254, 258, 271, 287, 312, 326, 361f., 365, 373 Petrus Damiani, Kard.bf. v. Ostia 18f., 59, 90, 131, 190, 261–270, 348, 379, 389 Petrus Igneus, Kard.bf. v. Albano 221 Petrus, Bf. von Lucca 198f., 210, 213f., 217–219, 221, 223f., 231f., 235f., 240 Petrus Crassus 84, 98 Phillip I., Kng. 101, 142, 285 Photios, Patriarch v. Konstantinopel 329 Placidus v. Nonantola 360, 369 Poitiers 352 Ponte Mammolo 144, 372–374 Praxedis, Frau Heinrichs IV. 79 Pseudo-Dionysius 355 Pseudo-Isidor 18, 20, 289, 324, 342f., 349f., 358f., 370, 386 Pseudo-Liutprand 322 Quedlinburg 120 Quintilian 55, 73 Rainald, Bf. v. Como 277 Ranger, Bf. v. Lucca 19, 193–201, 204–216, 219–228, 231, 234f., 237–248, 250f., 254–259, 299, 311–318 Regino, Abt v. Prüm 127, 321, 325, 333 Reims 324 Reinhard, Abt von Reinhausen 51 Ripoll 199 Robert Kurzhose 166
Robert Guiskard, Hzg. v. Apulien und Kalabrien 211, 218 Robert, Graf v. Flandern 176, 179 Robert v. Jumièges 160 Roboam 228f. Rodolf, Bf. v. Gubbio 266 Rom 17f., 29f., 32f., 104–109, 111f., 114, 116, 118, 128, 142, 180, 185, 189, 210, 214, 217f., 220, 225, 228, 239, 242, 252–259, 278, 280, 287f., 290f., 198, 309, 312f., 320, 327, 330, 332, 339, 350, 354, 363f., 370, 372, 386 Roncaglia 290 Rothad, Bf. v. Soissons 324 Rouen 173 Rudolf v. Rheinfelden, Gegenkönig 38, 84, 130, 153, 276f. Rudolf v. Vannes, Abt 63 Rufinus 88 Sachsen 85, 149, 151–153, 155, 185, 190, 216f., 272, 275, 278, 281, 286, 288, 290, 292f. Saint-Denis 351 Saint-Gilles 207, 213f., 217, 221f., 240 Salerno 114, 182 Salomo (III.), Kng. der Bretagne 331 Saul 228f., 291 Savoyen 142 Scholastika, hl. 207 Sennacherib 228 Senigallia 253 Serdica 363 Sergius III., Papst 88 Sergius IV., Papst 126 Siegfried I., Ebf. v. Mainz 278, 282f., 287 Sigebert v. Gembloux 19, 64f., 86, 88, 175–179, 181–191, 382f., 388 Silvester I., Papst 302, 312, 331 Silvester II., Papst 126 Simon Magus 198, 220f. Sorbara 209, 216, 218, 237 Speyer 136 Spoleto 289–292
Register der Orts- und Personennamen
Stephan III., Papst 372 Stephan IX., Papst 112f. Stigand, Ebf. v. Canterbury 159f. Sulpicius Severus 206, 215 Sutri 103f., 115, 120f., 126 Symmachus, Papst 310 Tacitus 76 Tado, toskanischer Adliger 198, 214, 231 Tedald, Ebf. v. Mailand 290 Tegrimo III., toskanischer Adliger 265 Theobald, Ebf. v. Canterbury 172 Theodosius I., Ks. 20, 228 Theodosius II., Ks. 124 Thomas Becket, Ebf. v. Canterbury 158, 161, 165, 171, 174 Thomas I., Ebf. v. York 158, 170 Thomas II., Ebf. v. York 170 Tours 330 Tribur 349 Trier 62, 121, 123 Ughiccio, Gf. in Tuszien 198 Ulrich von Hutten 88 Urban II., Papst 88, 110, 114, 119, 180, 185, 195f., 198, 222, 234, 239, 242, 303, 317f., 377 Utrecht 122 Valenciennes 329 Valentianius II., Ks. 236 Valerius, Bf. v. Saragossa 207, 220 Vallombrosa 221 Vergil 72f., 76, 193, 211
401
Venerius, Ebf. v. Mailand 124 Verona 82 Vincentius v. Valencia, hl. 207, 220 Viktor II., Papst 112–114, 276 Viktor III., Papst 88, 114, 185, 360, 364, 379 Walo, Abt v. St. Arnulf 275 Walcher, Bf. v. Durham 161 Wenrich v. Trier 54, 65, 83f., 96f., 99, 179, 190 Werner, Ebf. v. Magdeburg 151f. Wezilo, Ebf. v. Mainz 287 Wibert, Ebf. v. Ravenna, siehe Clemens (III.), Papst Widerad, Abt v. Fulda 149 Wido, Bf. v. Ferrara 81, 306 Widukind v. Köln 287 Widukind v. Corvey 137 Wilhelm I., Kng. v. England 159–161, 163f., 168 Wilhelm II, Kng. v. England 162, 165–167, 174 Wilhelm, Ebf. v. Rouen 174 Wilhelm, Bf. v. Calais 165 Wilhelm, Graf v. Burgund 282 Wilhelm, Abt v. Hirsau 153 Winchester 160 Worms 144, 148, 212, 214, 217, 219, 225, 230, 238f., 271, 325 Würzburg 130 York 158, 173 Zacharias, Papst 20 Zedekia 228
Rol and Zingg
die BRiefsammlungen deR eRZBischöfe von canteRBuRy, 1070–1170 KommuniK ation und aRgumen tation im ZeitalteR deR investituRKonfliK te (ZüRcheR BeitR äge ZuR geschichts wissenschaft, Band 1)
Nach der Eroberung Englands durch Wilhelm I. liegen von vier der zwischen 1070 und 1170 regierenden Erzbischöfe Briefsammlungen vor. Da selbst die päpstlichen Register erst ab 1198 eine geschlossene Überlieferung zeigen, ist es für England deshalb früher als anderswo möglich, Details aus der Amtsführung der ranghöchsten Geistlichen zu betrachten. Im Mittelpunkt der Studie steht die Untersuchung dieser faszinierenden Quellengattung des Mittelalters. Diese verknüpft dabei, eingebettet in die Ära des sozialen und politischen Umbruchs in Europa, die Frage nach dem Korrespondentenkreis mit einer Analyse der Argumentationsmuster, die den unterschiedlichen Empfängern gegenüber zur Anwendung kamen. 2012. 343 S. Gb. 155 x 230 mm. ISbN 978-3-412-20846-2
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