Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie [1 ed.] 9783428539352, 9783428139354

In vielfältiger Weise wurde im 19. Jahrhundert der Rahmen für das Wirken der Zivilgesellschaft abgesteckt bzw. wurden hi

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Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie [1 ed.]
 9783428539352, 9783428139354

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Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Band 59

Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie Herausgegeben von

Wilhelm Brauneder und Milan Hlavačka

Duncker & Humblot · Berlin

WILHELM BRAUNEDER/MILAN HLAVAČKA (Hrsg.)

Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Martin Schermaier, Bonn Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Hamburg

Band 59

Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie

Herausgegeben von

Wilhelm Brauneder und Milan Hlavačka

Duncker & Humblot · Berlin

Dieses Buch wurde finanziell von zwei Projekten des Historischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik unterstützt: GAČR P410/11/2324 und KID CZ-A M00188.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 978-3-428-13935-4 (Print) ISBN 978-3-428-53935-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83935-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Vor rund zweihundert Jahren entstanden in der Habsburgermonarchie die ersten Kodifikationen, die als systematisch, modern oder auch bürgerlich bezeichnet werden können. Anfang des 19. Jahrhunderts traten mit kurzem Zeitabstand das Strafgesetzbuch (1803) und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB: 1812) in Kraft. Wir glauben, dass diese Jahrestage eine geeignete Gelegenheit zur intellektuellen Bilanzierung darstellen, denn die Grundwerte der gegenwärtigen mitteleuropäischen Gesellschaft basieren neben der traditionellen christlich-jüdischen Grundlage nach wie vor in beträchtlichem Maße gerade auf den normativen Grundsätzen der Aufklärung, wie sie in den „großen österreichischen Kodifikationen“ formuliert wurden. Das internationale interdisziplinäre Treffen, das sich im Herbst 2011 in Prag abspielte, sollte zu einem Gedankenaustausch unter mittel­ europäischen Historikern und Rechtshistorikern über die nachstehenden Themenkreise führen: I. Genese des Strafgesetzbuchs und des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetz­ buchs und deren Anwendung in der Gesellschaft, thematisiert durch Einwirkung fremder Vorbilder und Aufeinanderfolge der Kodifikationen, Wirksamkeit des Gesetzbuchs in verschiedenen Gesellschaften der Habsburgermo­ narchie und Marginalisierung des Landesrechts, Übertragung der deutsch verfaßten Gesetzestexte in andere Nationalsprachen (Übersetzungs- und Terminologieprobleme) und visuelle Formen der historischen Gesetzbücher (Ikonografie, Symbolik und Porträts der Verfasser). II. Institutionalisierung des neuen Strafrechts und Zivilrechts, thematisiert durch Prinzipien und Grundsätze („Freiheit“, „Pflicht“; „Gleichheit“ versus „Tradition“; „Brüderlichkeit“ versus patriarchale Ordnung), traditionelle Formen der Sozialpflege (Vormundschaft, Sozialversicherung, Waisenpflege), Bürgerrecht und neue Moral, Geschlechtsaspekte („Bürger“ versus „Frau“, Formen des bürgerlichen „Weibtums“, neue Frauenbewertung in der güterrechtlichen Stellung), Situation und Schutz der Kinder (Problem der unehelichen Kinder, Frage der Minder- / Volljährigkeit, Vormundschaft usw.), Ehestand und Familie (Ehe als bürgerrechtlicher „Vertrag“), Eheversprechen / Verlobung und ihre Aufhebung; Scheidung / Trennung und ihre konfessionsabhängigen Unterschiede, Beziehungen zwischen dem bürgerlichen und dem kirchlichen Recht, Bürgerrecht und das Problem der religiösen (legalisierten und nicht legalisierten) Minderheiten, Güterrecht und die

6 Vorwort

(konfessionelle) Gleichheit beim Zutritt zum Eigentum; erweiterter Zutritt zum landtäflichen Eigentum, Proportionalität von Verbrechen und Strafe, strafbares Handlungskonzept und Dekriminalisierungsprozess, Strafkonzept und das Problem der „Besserung“, Frage der Todesstrafe und das Problem der Beibehaltung von „grausamen“ Strafen, Entstehung des „politischen Verbrechens“ und der politischen Kontrolle, Recht und die Soziale Frage, Kodifikation statt Konstitution. III. Konzeptueller und sozialer Rahmen der bürgerrechtlichen Kodifika­ tion, thematisiert durch ständische versus bürgerliche Gesellschaft, Bürger versus „starker“ Staat, was im Gesetzbuch nicht erschien und trotzdem in der Praxis existierte (Scheidung, Trennung), was im Gesetzbuch erschien und in der Praxis verschwand (Fideikommiss kontra Allod; Geteiltes Eigentum; Lehensinstitution; Erbpacht; Lehenszahlungen), Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Sozialpraxis, „Esprit de loi / Geist des Gesetzes“ à l’autri­ chienne („Recht“, „Pflicht“, „Freiheit“ im österreichischen Rechtsdenken) und endlich Frage der Überzeitlichkeit des österreichischen Bürgerlichen Rechts. Aufgrund dieses weitgespannten Konzepts der Tagung fanden auf ihr tatsächlich fünf Themenkreise Resonanz, die man diskutieren konnte. Zu diesen Themenkreisen gehörten I. Genese der Kodifikationen und ihre Einwirkungen auf die Formierung der „Zivilgesellschaft“ (Kodifikationen als Verfassungen); II. Sprache und Kodifikation bzw. Entstehung der juridisch-politischen Terminologie; III. Ehe, Familie und Kinderschutz wie die neue gesellschaftliche Posi­ tion der Ehe, Waisenvormundschaft und Kinderschutz zwischen ABGB und Kanonischem Recht; IV. Bürger werden bzw. die Erziehung der Landbevölkerung zum Rechtsbewusstsein in Österreich, Böhmen und Galizien in der Vormärzzeit; V. Wandlung in der Auffassung des Strafrechts, hauptsächlich Analyse der zeitgenössischen Diskurse um die Todesstrafe und Torturabschaffung bis zur Wandlung in der Auffassung der Bestrafung von Religionsverbrechen. Die Referate dieser Tagung sind in deutscher Sprache mit jeweils englischer Zusammenfassung (abstract) in diesem Sammelband zu finden. 

Wien und Prag im Sommer 2013

Wilhelm Brauneder und Milan Hlavačka

Inhaltsverzeichnis Wilhelm Brauneder Einleitung: Das ABGB als Leitfaden für den „Gebildeten Bürger“ Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. ABGB und Zivilgesellschaft: Privatrechtskodifikation statt Verfassung Wilhelm Brauneder Schutz der Zivilgesellschaft: Zivilrechtskodifikation als „Verfassung“ . . . . . . 27 Horst Dippel Rechtskodifikation als Verfassungsersatz: Das Beispiel Rhode Island . . . . . . . 35 Elisabeth Berger Gesetzgebungsgrundsätze in der Praxis bei Franz von Zeiller und Joseph Schuppler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Lothar Höbelt Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates. Die Debatte über den „Legalisierungszwang“ 1870 / 71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Stefan Malfèr Vertragsfreiheit oder Wucherschutz? Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und die Zinsfreiheit in Österreich und in Ungarn – eine Diskussion aus der Zeit des Neoabsolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

II. Sprache und Kodifikation Milan Hlavačka Die erste Übersetzung des ABGB ins Tschechische oder über das Zusammentreffen von zwei Kodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Magdaléna Pokorná Entwicklung der juridisch-politischen Terminologie für die slawischen Sprachen Österreichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

8 Inhaltsverzeichnis III. Ehe, Familie und Kinderschutz Zuzana Pavelková Čevelová Die Ehe aus der Sicht des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs und des Kirchenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Christian Neschwara Wege zur Umgehung der Unauflösbarkeit des Ehebandes von Katholiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Karel Schelle Stellung des Familienvaters in der Geschichte des Familienrechts . . . . . . . . 161 Martina Halířová Kinderschutz in der Gesetzgebung am Anfang des 19. Jahrhunderts . . . . . . . 171 Pavla Slavíčková Geschichte des Waisenvormundinstituts in den Böhmischen Ländern vor 1811 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Anna L. Staudacher Austritt oder Konversion? Die Notzivilehe in Prag und Wien 1870–1908 . . . 193

IV. Bürger werden Zdeňka Stoklásková Bürger werden in Österreich 1780–1811 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Jiří Šouša und Jiří Štaif Erziehung der Landbevölkerung zum modernen R ­ echtsbewusstsein in Böhmen in der Vormärzzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Damian Szymczak Österreichisches rechtspolitisches System und die Bildung der Zivilgesellschaft in Galizien in der Autonomieära 1871–1914 . . . . . . . . 281 Peter Urbanitsch Das elitäre Honoratiorengremium und die Vertiefung der civil society: Das österreichische Herrenhaus und die Revision des ABGB vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Lukáš Fasora Der Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie . . . . . 311

Inhaltsverzeichnis9 V. Verwandlung der Auffassung des Strafrechts Gerhard Ammerer Diskurse um die Todesstrafe. Vom Theresianischen über das Josephinische zum Franziszäischen Strafgesetzbuch (1768 / 69 – 1787 – 1803) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Petr Kreuz Die Abschaffung der Tortur und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Strafprozessrechts in den böhmischen Ländern und in Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert . . . . . . . . 365 Daniela Tinková „Das Recht, die Beleidigung Gottes zu rächen“. Verwandelte Auffassung der „Religionsverbrechen“ an der Wende des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 379 Milena Lenderová Prostitution und Gesetz: vom Strafgesetzbuch zum Gesetz über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 István Szabó Die Strafhandlungen gegen den Staat in dem ungarischen Strafgesetzbuch von 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Einleitung: Das ABGB als Leitfaden für den „Gebildeten Bürger“ Europas Wilhelm Brauneder I. Vorbemerkung Die bekannteste Zivilrechtskodifikation stellt wohl gerade zufolge seiner Ausstrahlungen der Code Civil Frankreichs aus dem Jahre 1804 dar, der über zweihundert Jahre in Geltung steht1. Er war allerdings nicht Europas erste Privatrechtskodifikation. In Österreich2 trat bereits 1786 ein „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ in Kraft, allerdings von drei geplanten Teilen nur der erste, da die Sanktion der übrigen zwei Teile durch den Tod Kaiser Josefs II. unterblieb. Eine komplette Zivilrechtskodifikation erhielt allerdings 1797 eine österreichische Provinz, nämlich Galizien: das „Bürgerliche Gesetzbuch für Galizien“. Da einerseits diese Provinz erst jüngst aus den Teilungen Polens erworben worden war, andererseits die Arbeiten an einem neuen „Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch“ (ABGB) vor dem Abschluß standen, setzte man den dafür vorliegenden Entwurf sozusagen vorgezogen in Kraft: Es war dies Europas erste komplette Zivilrechtskodifikation. Diese beiden Gesetzbücher erzielten begreiflicherweise keine Einflüsse über Österreich hinaus, denn jenes von 1786 war unvollkommen geblieben, jenes von 1797 ein Provisorium, das noch weiteren Arbeiten unterzogen wurde. Diese kamen 1811 zum Abschluß, der Entwurf enthielt nun die Sanktion des Kaisers und trat am 1. Jänner 1812 im Kaisertum Österreich ohne Ungarn in Kraft. In der Folge zeitigte das ABGB Ausstrahlungen, die zwar nicht an jene des Code Civil heranreichten, aber doch erhebliche Teile Europas erfaßten. Insgesamt kam es zu einem beachtlichen Rechtstransfer, und zwar in sehr unterschiedliche Teile Europas, nämlich insbesondere sowohl nach Westeuropa wie aber auch nach Osteuropa und in geringem Maße nach Süd- und Nordeuropa. 1  Laurent Pfister, Zweihundertjähriges Jubiläum des Code Civil, in: ZNR 33 (2011), S.  241 ff. 2  Zum Folgenden grundsätzlich Wilhelm Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie von 1811, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, S. 205 ff.

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Wilhelm Brauneder

II. Die Ausdehnung des Geltungsgebietes des ABGB Wie sich der Code Civil mit den Erweiterungen des französischen Staatsgebietes ausbreitete, so ähnlich auch das ABGB. Ein Unterschied bestand allerdings darin, daß die Vergrößerungen Österreichs überwiegend in der Wiedergewinnung von Gebieten bestanden, die es durch die Kriege gegen Napoleon verloren hatte3. Daran ist bemerkenswert, daß das Gesetzbuch nun auch in Teilen Österreichs in Kraft gesetzt wurde, aus denen nichts zu seinem Inhalt beigetragen worden war. Als das ABGB in Kraft trat, hatte das Kaisertum Österreich durch Gebietsabtretungen im Gefolge der Kriege gegen Napoleon I. den kleinsten Gebietsstand während seines Bestehens erreicht und war überdies zu einem Binnenstaat geworden. Erhebliche Teile des damaligen wie auch heutigen Österreich blieben, da abgetreten, vorerst außerhalb des Geltungsgebietes des ABGB. In Kärnten trat übrigens am 1. Jänner 1812 nicht nur im österreichisch gebliebenen Unterkärnten das ABGB in Kraft, sondern am selben Tag in Oberkärnten und in Osttirol der Code Civil: Letztgenannte Teile bildeten seit 1809 mit u. a. Dalmatien, Slowenien und Triest als Illyrische Provinzen einen Teil des französischen Kaiserreichs4. Mit der Rückgliederung so gut wie aller abgetrennten Gebiete zufolge des Wiener Kongresses 1815 wurde in diesen das ABGB eingeführt. Dabei trat es sowohl in den Illyrischen Provinzen wie auch in Oberitalien (Lombardo-Venetien) an die Stelle des Code Civil. Die nächste Gebietserweiterung5 des Kaisertums Österreich erfolgte 1846 durch die Annexion der kleinen polnischen Republik Krakau. Das ABGB wurde hier allerdings erst 1855 in Kraft gesetzt und löste auch hier den Code Civil ab. Eine weitere Ausdehnung der Habsburgermonarchie erfolgte erst nach etwa einem Vierteljahrhundert durch die Okkupation der bislang zum Osmanischen Reich gehörenden Provinzen Bosnien-Herzegowina 1878, wo das ABGB in komplizierter Weise einerseits teilweise, andererseits subsidiär zur Anwendung kam6. 3  Wihelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2009, S.  80 ff. 4  Dazu Wilhelm Brauneder, Zum Code Civil in Österreich, in: B. Dölemeyer, H. Mohnhaupt, A. Somma (Hrsg.), Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Rechtsprechung. Materialien und Studien 21, S. 413 ff.; Elfriede Holeczek, Die Verfassung und Verwaltung Oberkärntens im Vormärz (1809–1848), phil Diss 1966, S. 102. 5  Zu den folgenden Ausdehnungen und Einflüssen des ABGB Österreichs All­ gemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) III. Das ABGB außerhalb Österreichs, E. Berger (Hrsg.), 2010. 6  I. Pilar, Entwicklungsgang der Rezeption des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Bosnien und der Herzegowina unter besonderer Berück-

Einleitung13

Die größte Ausdehnung des ABGB innerhalb der Habsburgermonarchie selbst erfolgte durch die Reichsverfassung 1849. Da sie für die Gesamtmonarchie galt und diese nun bewußt als einen Staat organisierte, sah sie auch eine Erstreckung insbesondere des Straf- und Zivilrechts auf alle Teile dieses Staates vor. Sie sollten, vor allem auch das ABGB, als einheitliches Recht des Gesamtstaates neben der Behördenorganisation eine zusätzliche Staatsklammer bilden. So wurde das ABGB im Jahr 1853 in den ungarischen Teilen des Kaisertums Österreich in Kraft gesetzt, mit Modifikationen insbesondere im Eherecht. Im Zuge der Verselbständigung Ungarns trat es 1861 außer Kraft, galt aber als Gewohnheitsrecht weiter fort. In den mit Ungarn verbundenen Provinzen Siebenbürgen, Kroatien-Slawonien und im ungarischen Küstenland blieb es in Geltung, auch als dieses und Siebenbürgen 1867 Ungarn einverleibt bzw. Kroatien-Slawonien ein ungarisches Nebenland wurden; es unterlag aber hier einer einschneidenden Novellierung. Der Erwerb ungarischer Gebiete durch die Republik Österreich 1920 / 22 führte zur Erstreckung österreichischen Rechts und damit zu einer territo­ rialen Ausdehnung des ABGB. Es trat hier 1922 in Kraft, allerdings mit insbesondere folgender Modifikation: Das ungarische Eherecht blieb in Geltung7. Gebietsverluste des österreichischen Staates führten nicht gleich zu einer Aufhebung des ABGB, es galt in den abgetrennten Gebieten vielfach sogar noch lange fort, wofür Teile Bayerns ein frühes und die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns nach 1918 das markanteste Beispiel liefern. In der 1859 an Italien abgetretenen Lombardei galt das ABGB noch mehrere Jahre und wurde erst am 1866 vom Codice Civile abgelöst. Auch im 1866 verlorenen Venetien trat dieser erst späterhin, nämlich 1871 an die Stelle des ABGB. Insgesamt hatte sich somit seit dem Inkrafttreten 1812 der Geltungsbereich des ABGB ausgedehnt. Als 1914 bis 1916 in Österreich das ABGB durch die „Teilnovellen“ stark verändert wurde, blieb dies auf Österreich beschränkt, so daß in der österreichisch-ungarischen Monarchie mehrere ABGB-Textschichten galten: das teilnovellierte ABGB in Österreich, das nicht teilnovellierte ABGB in Gebieten Ungarns, nämlich in Siebenbürgen, in Kroatien-Slawonien mit Modifikationen sowie im ungarischen Küstenland mit starken Abänderungen, teilweise und subsidiär in Bosnien-Herzegowina.

sichtigung des Immobilienrechtes, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches I, 1911, S. 701 ff. 7  Christian Neschwara, Rezeption als Reform. Das ungarische Eherecht im österreichischen Burgenland nach 1921, in: ZNR 11 (1989), S. 39 ff.

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III. Geltung des ABGB außerhalb Österreichs Vor 1918 stand das ABGB im Ausland territorial lediglich in Staaten oder Gebieten des Deutschen Bundes in Kraft. So galt es durch die ursprünglich selbstverständliche Übung, österreichisches Recht als rezipiert anzusehen („automatische Rezeption“), sogleich ab 1812 im Fürstentum Liechtenstein, das Erbrecht allerdings erst ab 18478. Sodann hatte das ABGB in einigen kleineren, unselbständigen Gebieten Geltung9: Beispielsweise bildete es in Teilen Bayerns zufolge österreichischer Gebietsabtretungen eines der zahlreichen bayerischen Territorialrechte bis zu deren Ablösung durch das BGB am 1. Jänner 190010. Übrigens galt als weiteres bayerisches Lokalrecht in der bis 1805 österreichischen Grafschaft Burgau (Österreichisch-Schwaben) das Teil-ABGB 1786 gleichfalls bis zum BGB. Im Osmanischen Reich hatte das ABGB ab 1855 personelle Geltung für die der österreichischen Konsulargerichtsbarkeit unterworfenen österreichischen Staatsbürger und für die sogenannten osmanischen „Schutzgenossen“. IV. Einflüsse des ABGB auf andere Gesetzbücher Bald nach dem Inkrafttreten des ABGB hatte das Kaisertum Österreich am Wiener Kongreß 1814 / 15 wieder den Rang einer europäischen Großmacht erhalten. Es besaß formell und auch materiell die Führung im Deutschen Bund und übte in Italien die Hegemonie aus. Auf diese Weise politisch gestützt trug das ABGB aber seinen Wert vor allem in sich selbst. In diesen Jahren war es die jüngste und damit modernste deutsche Privatrechtskodifikation. Im Gebiet des Deutschen Bundes11 vermochte das ABGB Einfluß auf Kodifikationsprojekte in Hessen-Darmstadt 1816 / 1912, Bayern

8  Elisabeth Berger, Rezeption im liechtensteinischen Privatrecht unter besonderer Berücksichtigung des ABGB, Schriften zum liechtensteinischen Recht 16, 2008; dies., 190 Jahre ABGB in Liechtenstein, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung 2 / 2002, S.  27 ff.; K. v. in der Maur, Die Rezeption des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Liechtenstein, in: Festschrift, wie Fn. 6, S. 759, 761. 9  Hierzu R. Mayr, Das bürgerliche Gesetzbuch als Rechtsquelle, in: Festschrift, wie Fn. 6, S. 383 ff. 10  Paul v. Roth, System des deutschen Privatrechts I, 1880, S. 126 ff. 11  Barbara Dölemeyer, Einflüsse von ALR, Code civil und ABGB auf Kodifikationsdiskussionen und -projekte in Deutschland, in: Ius Commune VII (1978), S. 179 ff., 208; dies, Die bayerischen Kodifikationbestrebungen, in: Ius Commune V (1975), S.  138 ff. 12  Cristina Wicke, Kodifikationsbestrebungen und Wissenschaft in Hessen-Darmstadt im vorkonstitutionellen Zeitalter, Rechtshistorische Reihe 311, 2005, S. 192.

Einleitung15

1832 / 34, in geringem Maße in Preußen 184213 und dann besonders in Sachsen 1852 zu gewinnen; um 1815 wurde es als Vorbild für ein gesamtdeutsches Zivilgesetzbuch gepriesen sowie für seine Übernahme als solches plädiert14. Als gewichtiger zu veranschlagen ist jedoch der Einfluß des ABGB in Schweizer Kantonen15 insofern, als es auf tatsächlich geltende Zivilgesetzbücher einwirkte, hier also ein wirksamer Rechtstransfer stattfand. In der Schweiz läßt sich eine eigene „österreichische“ Gruppe an Gesetzbüchern ausmachen: Das „Zivilgesetzbuch“ des Kantons Bern (entstanden 1824 bis 1830) folgte nicht nur der Systematik des ABGB, sondern dessen Sachenrecht und Schuldrecht beinahe wortwörtlich. Teils über diese bernische Kodifikation, teils direkt aus dem ABGB nahmen Anleihen das „Bürgerliche Gesetzbuch“ des Kantons Luzern (entstanden 1831–1839), das „Zivilgesetzbuch“ des Kantons Solothurn (1838–1847) sowie das „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch“ des Kantons Aargau (1826–1855). Aber auch die weitere Kodifikationsgruppe Schweizer Kantone, welche sich das unter dem Einfluß der Historischen Rechtsschule entstandene Privatrechtsgesetzbuch Zürichs (1856) zum Vorbild wählte, setzte sich noch mit dem ABGB auseinander: So ist sein Einfluß in den Zivilgesetzbüchern der Kantone Thurgau (1860) und Graubünden (1862) feststellbar. Ähnliches gilt auch für den Codice Civile des Tessin (1837). Gemessen an Fläche und Bevölkerungszahl entsprach in der Schweiz der Einfluß des ABGB dem des Code Civil. Ein starker Rechtstransfer erfolgte nach Südosteuropa16. Schon früh ist vom ABGB im Fürstentum Moldau (Moldavien) der „Codex Civilis“ des Fürsten Skarlatos (Karl) Kallimachis, der Codex Kallimachus (Kodika lui Kalimachi), vom 1. Juli 1817, beeinflußt17. Man nahm häufig an, er stünde stark in der Tradition des byzantinischen Rechts. Genaueres hatte man aber 13  Bettina Kern, Der preußische BGB-Entwurf von 1842, Rechtshistorische Reihe 176, 1998, 1, S. 52, 111, 131 ff., 153, 161, 163, 171, 205, 207. 14  Jürgen Nolte, Burchard Wilhelm Pfeiffer, Gedanken zur Reform des Zivilrechts, Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte 1, 1969, S. 51 ff. (Vorschlag Pfeiffer); C. F. Savigny, in: ZGR I / 1815, S. 412 (Vorschlag Schmid); A. F. J. Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts in Deutschland, 1814 (Vorschlag Thibaut). 15  Louis Carlen, Rechtsgeschichte der Schweiz, 2. Aufl. 1978, S. 96; ders., Österreichische Einflüsse auf das Recht in der Schweiz, Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte 9, 1977. 16  Zum Folgenden grundsätzlich Jurij Fedynskyj, Räumlicher Geltungsbereich des ABGB im Wandel der Zeit, iur. Diss. Wien 1944, S. 84, 86 ff. 17  Zum Folgenden insb. Georg A. Mantzoufas, Die österreichischen Vorlagen des moldauischen Codex Civilis, in: ders.s, Über griechisches Privatrecht, 1956, S. 126 ff., mit zahlreichen Details; Joseph Trausch, Schriftsteller-Lexikon oder biographisch-literärische Denk-Blätter der Siebenbürger Deutschen, 1868, S. 327 ff.

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bereits 1847 der österreichischen Zeitschrift „Der Jurist“ entnehmen können18: Der Codex Kallimachus sei dem ABGB „nachgebildet“, zum Teil dessen „wortgetreue Übersetzung“ außer bei seiner Bedachtnahme auf „die Landesverhältnisse und Religionsverschiedenheit“. Ein ausführlicher synoptischer Vergleich mit dem ABGB von 70 Seiten mündet in die Feststellung, der Codex biete somit „über die Anwendbarkeit des österreichischen Gesetzes auf fremden Boden geeigneten Stoff“. Als einer der Verfasser des Codex galt in dieser Darstellung von 1847 noch Fürst Callimachis Nachfolger, Michael Grigori Sturdza. Tatsächlicher Verfasser ist aber der Siebenbürger Sachse Christian Flechtenmacher19 aus Kronstadt (geboren 1785). Er studierte ab 1811 in Wien Rechtswissenschaft und erlebte hier das Inkrafttreten des ABGB. Schlüssig nachgewiesen ist nun20, daß Flechtenmacher die erste deutsche ABGB-Ausgabe benutzte, sie aber mit dem ersten Kommentar zum ABGB von Franz v. Zeiller modifizierte, da er beide aus seiner Wiener Zeit kannte. Der Codex Kallimachus stellt somit im Wesentlichen eine Übersetzung des ABGB dar. Wenig später21 folgte 1844 das serbische Zivilgesetzbuch dem ABGB, und zwar mit System und im Inhalt, dieser allerdings auf ein Drittel der Paragraphen verkürzt, ebenso, nun erheblich später (1888), das „Allgemeine Gesetzbuch über Vermögen“ für Montenegro, der nach seinem Verfasser sogenannte Code Bogisits. Bogisits hatte so wie Flechtenmacher in Wien studiert und hier das ABGB kennengelernt. Einflüsse werden auch noch auf das griechische Zivilgesetzbuch 1856 festgestellt. Gering ist hingegen der Einfluß des ABGB nach Südeuropa, nämlich auf die Zivilrechtskodifikationen italienischer Staaten22, zumal er in jenen der habsburgischen Nebenlinien erwartet werden könnte. Doch dominiert hier der Einfluß des Code Civil, lediglich auf den Codice Civile des habsburgischen Staates Parma-Piacenza von 1820 konnte neben ihm auch das ABGB einwirken. Noch geringer sind die Spuren des ABGB im Norden Europas: Das Geteilte Eigentum im „Liv-, Est- und Curländischen Privatrecht“ (Gesetzbuch von 1864) ist dem ABGB entnommen.

18  Hillbricht, Ueber den gegenwärtigen Rechtszustand im Fürstenthume Moldau, in: Der Jurist 18 (1847), 353 ff., Zitate S. 356 f., 438. 19  Das Folgende nach J. Trausch, wie Fn. 17. 20  G. A. Mantzoufas, wie Fn. 17, S. 132 ff. 21  Dazu näher B. Berger, wie Fn. 5. 22  Filippo Ranieri, Kodifikation und Gesetzgebung des allgemeinen Privatrechts. Italien, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren ­europäischen Privatrechtsgeschichte III / 1. Kodifikation und Gesetzgebung des allgemeinen Privat- und Prozeßrechts (1815–1914), 1982, S. 177 ff., 233 ff.

Einleitung17

V. Gründe der Ausstrahlungen des ABGB Allein schon im österreichischen Staat galt das ABGB in Gebieten mit höchst unterschiedlichen Rechtskulturen, die ihren Ursprung nicht nur in den einzelnen Nationen hatten, sondern innerhalb derselben auch in verschiedenen regionalen Traditionen. So gab es beispielsweise in den deutschen Gebieten im Bauernstand unterschiedliche Erbgewohnheiten. In den tschechischen und polnischen Gebieten hatten zahlreiche Städte ihr eigenes Recht, welches sie aus dem Bereich des sächsischen Rechtes übernommen hatten. Größer noch waren natürlich die Unterschiede zwischen den Einflußgebieten des ABGB. So war das erwähnte Fürstentum Moldau in Osteuropa mit seiner zum Teil byzantinischen Rechtstradition in keiner Weise mit den Schweizer Kantonen in Zentraleuropa zu vergleichen, aber selbst zwischen diesen gab es Unterschiede. So stellt sich die Frage, wie es möglich war, daß dennoch das ABGB in so höchst verschiedenen Gebieten gelten bzw. auf diese Einfluß nehmen konnte. 1. Naturrechtliches Gesetzbuch Der Schlüssel zum Verstehen liegt in der Charakteristik des ABGB als naturrechtliches Gesetzbuch. Grundsätzlich suchte es als eine dem Naturrecht verpflichtete Kodifikation einen Ausgleich zwischen verschiedenen regional-lokalen wie personellen Rechte dadurch herbeizuführen, daß aus ihnen „Hauptprinzipien“ festzustellen und aus diesen „das Natürlichste und Billigste“ abzuleiten war23. Damit verband sich die Vorstellung, logisch geschaffene Rechtsätze könnten nicht nur in jedem Land gelten, sondern auch für jedermann. Allerdings erwies sich diese Grundhaltung als nicht tragfähig genug, um die konkreten örtlichen wie auch personellen Unterschiede einzufangen. Den unterschiedlichen örtlichen und personellen Bedingungen trägt die Legistik des ABGB durch Verweisungen vor allem auf die „politischen“, d. h. in der Regel auf die Verwaltungs-Gesetze Rechnung24. Derartige, zum ABGB hinzutretende Bestimmungen spielten noch eine weitere Rolle. Der naturrechtlichen Konzeption des ABGB entsprach es, nur solche Materien in die Kodifikation aufzunehmen, die nach naturrechtlichen Kriterien als „richtig“ galten und daher ewigen Bestand haben sollten. Das veränderliche Recht hingegen hatte außerhalb der Kodifikation zu bleiben. W. Brauneder, wie Fn. 2, S. 220 f. Brauneder, Über die Geschlossenheit der Kodifikation. Die Verweisungen im ABGB, in: P. Caroni / E. Dezza (Hrsg.), L’ABGB e la Codificazione Asburgica in Italia e in Europa, 2006, S. 1 ff. 23  „Compilationsgrundsätze“: 24  Wilhelm

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Ein Beispiel soll diese Haltung illustrieren25: Als das ABGB 1811 sanktioniert wurde, stand man mitten in einer Geldinflation, so daß die Bestimmungen über das Darlehen vorerst keine Sanktion erhielten. Der maßgeblich an der Kodifikation beteiligte Franz v. Zeiller bewirkte jedoch, daß auch diese Bestimmungen sanktioniert und daher mit dem ABGB in Kraft gesetzt wurden, wozu er wie folgt argumentierte: Die ABGB-Regeln bezüglich des Darlehens seien richtig und daher auch trotz Inflation gültig. Daß aber nun eine höhere Summe zurückgezahlt werden müsse als zum Darlehen gegeben, sei eine Angelegenheit, welche durch die „politischen“ Gesetze außerhalb des ABGB zu regeln ist. Tatsächlich erfolgte eine derartige Regelung durch das Finanzpatent 1811, welches eine genaue Tabelle für die Summe der Darlehensrückzahlungen nach den Kriterien des Datums der Darlehensaufnahme und des Datums der Darlehensrückzahlung enthielt. Mit derartigen Ergänzungen außerhalb der Kodifikation erhielt diese ohne Veränderungen ihres Textes eine besondere Anpassungsfähigkeit, welche sie oftmals selbst durch die erwähnten Verweisungen vorsah. Insofern wird auch verständlich, daß Zeitgenossen das ABGB als „Fundamentalgesetz“, als „Verfassung“ ansahen, auf dem weitere Regelungen von Details oder als Ausführungen aufbauen konnten und sollten. Bereits gute 25 Jahre nach Inkrafttreten des ABGB, 1829, wurden etwa 700 Bestimmungen aufgeführt, die es ergänzten, 1837 waren es knapp über 1000 Bestimmungen! Davon gingen 1829 rund 300, 1837 etwa 400 auf Verweisungen im ABGB selbst zurück. Aber es sind auch die nicht durch Verweisung entstandenen Ergänzungen von zum Teil sogar großer Bedeutung. Dies gilt vor allem einmal für § 2 ABGB, wonach sich niemand mit der Unkenntnis der Gesetze entschuldigen könne, „gehörige Kundmachung“ vorausgesetzt26. Das Wörtchen „gehörige“ kann besonders im Lichte der Vorgeschichte dieser Bestimmung sowie ihres Umfeldes der Sache nach als Verweisung betrachtet werden. Tatsächlich spezifizieren in sehr abgestufter und unterschiedlicher Weise Rechtsquellen außerhalb des ABGB die Art der Kundmachung von Gesetzen. Dazu zählt etwa zwar in erster Linie der Druck, vorgeschrieben waren aber durch zahlreiche Vorschriften auch ­Anschläge und Verlesungen vor dem Rathaus oder von der Kanzel einer Kirche.

25  Julius Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches II, 1889, S. 611. 26  Wilhelm Brauneder, „Gehörige Kundmachung“ – entschuldbare Rechtsunkenntnis, in: M. Senn  /  C. Soliva (Hrsg.), Rechtsgeschichte & Interdisziplinarität. Festschrift für Clausdieter Schott zum 65. Geburtstag, 2001, S. 15 ff.

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2. Ständisch-neutrales Gesetzbuch Die Habsburgermonarchie bekämpfte so wie Rußland und Preußen nicht bloß den französischen Imperialismus in Europa, sondern auch die mit ihm exportierte egalitäre Gesellschaftsstruktur. Sie beruhte wesentlich auch auf dem Code Civil: Er galt in den revolutionär-egalitären Staaten wie Frankreich und seinen Satelliten. Ihnen gegenüber stand die Gruppe der antirevolutionär-altmonarchischen Staaten: Hier konnte der Code Civil wegen der Differenzierung der Untertanen im Sinne der bisherigen Sozialordnung nicht gelten wie in manchen Rheinbundstaaten. Von ihnen setzte daher etwa Bayern den Code Civil nicht in Kraft, Baden versah ihn mit erheblichen Zusätzen ständischen Rechts als „Badisches Landrecht“, Liechtenstein übernahm sogar das ABGB. Zeiller als guter Kenner des Code Civil verwies mehrfach auf dessen Abweichungen vom ABGB27: daß im Code Civil der Privilegien nicht gedacht werde; daß hier die Einteilung in Ober- und Nutzungseigentum insbesondere für den Bauernstand fehle; daß die adeligen Familienfideikommisse aufgehoben und erst später wieder eingeführt worden seien; daß er im Gegensatz zum ABGB im Eherecht alle Konfessionen gleich behandle. Zeiller sah in der Vernachlässigung „von alten Einrichtungen“ auch einen Grund dafür, daß der Code Civil in manchen Geltungsgebieten – eben den ständisch orientierten Staaten – „so schnell wieder verschwinden“ mußte! Die im ABGB noch vorhandenen „alten Einrichtungen“28 schienen allerdings allgemein zugänglich zu sein, da sie keinem bestimmten Stand wie Adel oder Bauern zugeordnet sind, wenngleich sie Rechtsinstitutionen nur bestimmter Stände waren. Hierher zählt beispielsweise der Familienfideikommiß, dessen adelige Bezugnahme nur in termini technici wie Primogenitur, Majorat, Seniorat anklingt (§§ 618 ff.). Sodann gehört zu dieser Kategorie das Geteilte Eigentum, welches einerseits adelige Lehen und Familienfideikommisse sowie andererseits grunduntertänige bäuerliche Verhältnisse betrifft (§§ 357 ff., 1126 ff.). Eher unbewußt hat das ABGB auch das 27  Franz. v. Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der oesterreichischen Monarchie I, Wien und Triest 1812, S. 95 ff.; J. Ofner, Ur-Entwurf, wie Fn. 25, S. 465 ff.; W. Brauneder, Das ALR und Österreichs Privatrechtsentwicklung, in: B. Dölemeyer / H. Mohnhaupt (Hrsg.), 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 1995, S.  422 ff. 28  Wilhelm Brauneder, Das österreichische ABGB. Eine neuständische Kodifikation, in: G. Klingenberg, J. M. Rainer, H. Stiegler (Hrsg.), Vestigia Iuris Romani. Festschrift für Gunter Wesener, 1992, S. 67 ff.; ders., „Allgemeines“ aber nicht gleiches Recht. Das ständische Recht des ABGB, in: H. Hattenhauer, G. Landwehr (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786–1806, 1988, S. 23 ff.

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Ehegüterrecht insofern standesspezifisch erfaßt, als diesem als Regelungsmuster ein Ehevertrag (Heiratsbrief) des Adels bzw. des Bürgertums unterlegt ist, woraus sich die ausführlichen Bestimmungen über etwa Heiratsgut, Widerlage, Morgengabe und Witwengehalt (§§ 1217) verstehen, hingegen ist die eher bäuerliche Gütergemeinschaft nur ganz dürftig geregelt (§§ 1233–1236). Auffallend ist allerdings, daß, wie erwähnt, kein einziges der ständisch gebundenen Rechtsinstitute expressis verbis etwa dem Adel oder dem Bürgertum zugeordnet ist. Die Berücksichtigung der ungleichen Gesellschaft erfolgte durch das ABGB auf eine subtilere Weise. Während das preußische „Allgemeine Landrecht“ (ALR) von 1794 die ständische Gesellschaft mit eigenen Abschnitten über den Adelsstand, Bürgerstand und Bauernstand plakativ offenlegte, geschah solches im ABGB nicht. Die standesneutrale und damit fortschrittliche Haltung des ABGB beruhte auf einer tieferen Absicht. In Sprache und Verständnisgrad wandte sich das ABGB an den „gebildeten Bürger“, die „gebildete Nation“29. Es entsprach damit anderen literarischen Produktionen, die sich gleichfalls an diese Adressaten wandten wie die Lexika von Meyer und Brockhaus oder Periodika wie die „Deutsche Vierteljahresschrift“. Gerade zufolge derartiger Mittel sollte sich durch Verbreitung von Bildung zwischen der ursprünglich elitären „gebildeten Nation“ und der Gesamtbevölkerung schließlich kein Unterschied mehr zeigen30. Diesem Prozeß ließ das ABGB insofern freien Lauf, als es, im Gegensatz zum ALR, die – noch – gegenwärtig-formale Ständeordnung nicht etikettierte und auch in der Sache nicht zementierte. 3. Moderne Legistik In seinem Rechtsunterricht wurde der spätere Römisch-Deutsche Kaiser Joseph II. über Gesetze vor allem dahingehend belehrt, daß diese „kurz, deutlich“ sein müßten, dürften ferner „nicht in einer fremden oder wohl gar toten Sprache abgefaßt sein“, da sie in diesem Falle „nur wenige der Untertanen verstehen“31. 29  F. v. Zeiller, Commentar I, wie Fn. 33, S. 25, 35 ff.; ders. bereits 1809: Probe eines Commentars über das neue Österreichisch-bürgerliche Gesetzbuch, in: Jähr­ licher Beitrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Österreichischen Erbstaaten IV, S. 68 ff.; W. Brauneder, Kommentare und Bemerkungen Franz v. Zeillers zum ABGB zwischen 1809 und 1822, in: ders., Studien II. Entwicklung des Privatrechts, S.  31 ff. 30  Wilhelm Brauneder, Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840–1990, Wien 1992, S. 21. 31  Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- u. Völkerrecht sowie im Deutschen

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Derartige Äußerungen waren keine hingestreuten Bemerkungen, sondern fußten auf der Lehre von der Gesetzessprache. Sie ist einerseits Teil der umfassenden Bemühungen um eine sachgerechte und gleichzeitig allgemeinverständliche Rechtssprache, somit Teil der Lehre vom „Geschäftsstil“, andererseits auch Teil der „Prudentia Legislatoria“, der Gesetzgebungslehre, die sich weiters mit Anzahl, Abänderung und Systematik von Gesetzen befaßte. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei Josef v. Sonnenfels, Georg Scheidlein und auch Zeiller32 zu. Sonnenfels schreibt für die Rechts- und damit auch die Gesetzessprache folgende Kriterien vor: „Sprachrichtigkeit“, „Deutlichkeit“, „Kürze“ sowie „Anstand“, wozu bei Scheidlein noch „Angemessenheit“ und „Einheit“ treten. Hievon gehen in Zeillers Gesetzgebungslehre die „Deutlichkeit“ der „Gegenstände“ in die Erfordernisse der „materiellen Güte“ der Gesetze ein, die „Deutlichkeit“ der „Sprache“ in die „äußere oder formelle Güte“ als „Bestimmung der Begriffe“, hier findet sich auch die „Kürze“ wieder. „Kürze“ beispielsweise verlangt die „Vermeidung alles Überflüssigen“, das heißt „desjenigen, was hinwegbleiben kann, ohne daß von Seite des Gegenstandes etwas vermißt, ohne daß die Absicht minder erreicht werde“. Speziell für ein Gesetz bedeutet dies, daß das, „was befohlen, was verboten ist“ nur „in kurzen Sätzen“ niedergelegt werden darf, „die jeder für sich ihren vollendeten Sinn haben“ müssen. Ferner: Kurze Sätze haben „außer dem Vorteile der Verständlichkeit auch noch diesen, daß sie leichter behalten werden“. Hinsichtlich der „Eigenschaften“ eines Gesetzbuches ging Zeiller davon aus, daß es „Gewißheit und Sicherheit“ zu verschaffen habe. Da weiters mit dem Gesetz „der Wille des Oberen“ den „Untertanen durch Worte“ bekannt gemacht werde, sei der Wortwahl besondere Bedeutung beizumessen: Es müsse „in einer verständlichen Sprache kurz und deutlich abgefaßt“ sein. Tatsächlich folgt das ABGB diesen Kriterien. Die leichte Verständlichkeit trug mit zum Rechtstransfer bei. Es war überall im oft durch Dialekte geprägten deutschen Sprachraum, wie etwa in der Schweiz, leicht verständlich und kam Übersetzungen entgegen.

Staats- u. Lehnrecht, H. Conrad (Hrsg.), Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Wissenschaftliche Abhandlungen 28, 1964, S. 244 f. 32  Josef v. Sonnenfels, Über den Geschäftsstyl, 2. Aufl. 1785, S. 5  ff., 387 ff.; Georg v. Scheidlein, Erklärungen über den Geschäftsstyl in den Österreichischen Erblanden, 1794, S. 9 ff., 317 ff.; Franz v. Zeiller, Grundsätze der Gesetzgebung 1806 / 09, auszugsweise abgedruckt in: E. Wolf (Hrsg.), Deutsches Rechtsdenken, Heft 14, 1944, S. 36.

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4. Die Bedeutung der ABGB-Übersetzungen Der Code Civil stand überwiegend in französischer Sprache in Geltung, dies nicht nur in Frankreich und den französischen Kolonien, sondern auch in einigen der Satellitenstaaten. So galt er beispielsweise in den zu Frankreich gehörigen Illyrischen Provinzen, die Teile des deutschsprachigen Österreich und des italienischsprachigen Dalmatien umfaßten, in französischer Sprache33. Dieser Zustand dauerte fort, als die französischen Annexionen und die Satellitenstaaten nach dem Sturz Napoleons anderen Staaten eingegliedert wurden, aber den Code Civil in Geltung beließen, wie beispielsweise die Rheinprovinzen in Preußen oder das Großherzogtum ­ Warschau in Rußland. Übersetzt worden war er nur im Großherzogtum Baden in die deutsche Sprache und im Königreich Italien in die italienische Sprache. Anderes geschah mit dem ABGB34. Zwar galt der deutsche Text als maßgebliche authentische Fassung, doch gab es offizielle Übersetzungen in andere Sprachen des Staates wie vielfach in das Italienische, dann in Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch (Weißrussisch), Rumänisch, Ungarisch, Kroatisch, Slowenisch, Serbisch, Latein. Diese Übersetzungen verstanden sich aus der zitierten Forderung der Gesetzgebungslehre, daß Gesetze in einer jedem Staatsbürger verständlichen Sprache abgefaßt werden müßten, was nicht nur die Einfachheit der Sprache, sondern eben auch die Übersetzung in die Sprache der jeweiligen Nation betraf. Diese Übersetzungen trugen wesentlich dazu bei, daß alle Nationen in Österreich das ABGB wie selbstverständlich als „ihr“ Gesetzbuch ansahen. Dadurch entstand in der italienischen Provinz Lombardo-Venetien eine eigene, an den italienischen Übersetzungen des ABGB orientierte österreichisch-italienische Rechtswissenschaft. Sie produzierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kommentare zum ABGB. Auch erschien die erste vollständige Darstellung des österreichischen Zivilrechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in polnischer Sprache35. Die an die Übersetzungen in deren Sprachen anknüpfenden Werke der Rechtswissenschaft trugen weiters dazu bei, daß das ABGB den Zerfall der österreichischen Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs überlebte und in den neuen Staaten Polen, Tschechoslowakei und Jugoslawien bis nach dem Zweiten Weltkrieg weiter galt. Die Übersetzungen erleichterten ferner auch den Rechtstransfer.

33  W.

Brauneder, wie Fn. 4, S. 415. diesen Übersetzungen W. Brauneder, wie Fn. 2, S. 229 f. 35  Von Ernest Till ab 1884. 34  Zu

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VI. Ergebnis Auffallend ist der Rechtstransfer des ABGB durch seine Übernahme oder seine Vorbildwirkung in Staaten mit höchst unterschiedlichen politischen Systemen und gesellschaftlichen Strukturen. In Zentraleuropa waren dies absolute Monarchien wie Liechtenstein, frühkonstitutionelle bzw. konstitutionelle Monarchien wie u. a. Bayern bzw. Sachsen, republikanische Schweizer Kantone sowohl mit konservativer Verfassung wie Luzern, aber auch mit liberaler Konstitution wie Zürich, in Südosteuropa absolute oder absolutistische Staaten. Dies ermöglichten mehrere Umstände. Die naturrecht­ liche Haltung schuf einerseits logische, von örtlichen und personellen Sichtweisen abstrahierte Regelungen. Was örtlichen, personellen und zeitlichen Bedingungen verbunden bleiben mußte, blieb außerhalb der Kodifikation. Daraus ergab sich auch seine ständische, d. h. gesellschaftspolitische Neutralität. Seine allgemeine Verständlichkeit geht auf die Befolgung der Prinzipien der Gesetzgebungslehre zurück und erleichterte die Übersetzung in viele Sprachen. Sie wieder führten zur Akzeptanz in den entsprechenden Nationalitäten innerhalb und nach dem Ende Österreich-Ungarns 1918 auch außerhalb Österreichs.

I. ABGB und Zivilgesellschaft: Privatrechtskodifikation statt Verfassung

Schutz der Zivilgesellschaft: Zivilrechtskodifikation als „Verfassung“ Wilhelm Brauneder I. Charakteristiken einer Zivilrechtskodifikation Wie kann, nach heutigem Verständnis, eine Zivilrechtskodifikation eine Verfassung darstellen, die doch zum Bereich des Öffentlichen Rechts zählt, ja an dessen Spitze bzw. an der Spitze der Rechtsordnung überhaupt steht? Die Rechtfertigung liegt in der Sprache der zeitgenössischen Rechts­ quellen.1 Besonders deutlich ist hier das Kundmachungspatent des ABGB für das Fürstentum Liechtenstein.2 Es nennt dieses einen Teil der „Landesverfassung“, ein „Grundgesetz“, ein „Fundamentalgesetz“ zum Schutz der Privatrechte „des Untertans“. Dies ist keine singuläre Besonderheit. Beispielsweise galt auch in Rußland 1802 eine Privatrechtskodifikation als „Teil … der Verfassung“ und Zeiller bezeichnete das Galizische Bürgerliche Gesetzbuch als „Verfassung“ für Galizien.3 Zum künftigen ABGB sprachen bereits die Kompilationsgrundsätze von 1753 von der „Verfassung“ des Landes, der „Landesverfassung“ (XVII)4. Nach dem Codex Theresianus bestimmten sich die Grunduntertänigkeit, die Stellung des Adels („Landleute“), der „Bürger“ und „anderer Landesein1  Zum Folgenden: Wilhelm Brauneder, Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch – Eine europäische Privatkodifikation, Berlin 2013. 2  Fürstliche Verordnung vom 18. Februar 1812, betreffend die Einführung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches und der allgemeinen Gerichtsordnung, in: Amtliches Sammelwerk der Liechtensteinischen Rechtsvorschriften seit 1863 (Loseblattsammlung, 1971). 3  Norbert Reich, Kodifikation und Reform des Russischen Zivilrechts im neunzehnten Jahrhundert bis zum Erlaß des Svod Zakonov, in: Ius Commune III, 1970, S. 174, S. 172; Julius Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches I, 1889, S. 3. 4  Wilhelm Brauneder, Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, 221; ähnlich zum ALR: Heinz Mohnhaupt, Recht zwischen Generalisierung und Differenzierung: Das Beispiel des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, in: Marta Ferronato, Dal „de jure naturae et gentium“ di Samuel Pufendorf alla Codificazione Prussiana del 1794, Milano 2005.

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wohner“ nach den „Länderverfassungen“ (I / 2 §§ 1,3). Schließlich verweist das ABGB selbst, wie schon seine Vorläufer, etwa das Teil-ABGB 1786 (II § 4), bezüglich detaillierterer Regelungen auf die jeweilige „Landesverfassung“ (§ 1142), die „Verfassung jeder Provinz“ (§ 1146). Es waren dies also feststehende termini technici. Mit diesen Ausdrücken wollten die Zeitgenossen begreiflicherweise etwas Spezifisches ausdrücken, etwa den Charakter des ABGB knapp beschreiben. II. Zur Bedeutung von „Verfassung“, „Grundgesetz“, „Fundamentalgesetz“ Was das Wort „Verfassung“ anlangt, so besaß es im 18. Jahrhundert, also zur Entstehungszeit der Vorstufen zum ABGB, eine spezifische Bedeutung.5 Befand sich beispielsweise eine Gesellschaft „in guter Verfassung“, so bedeutete dies nach Goethe, sie befinde sich in einem wohlgeordneten Zustand. Wenn Schiller davon sprach, es sei etwas „in Verfassung zu setzen“, so meinte er damit die Herstellung eines guten Zustandes. Häufig wurde der Ausdruck auch in Bezug auf den Staat verwendet. Mit der „Verfassung“ eines Staates war daher dessen geordneter Zustand charakterisiert. Damit war die gesamte Rechtsordnung, nicht nur ein Teil davon, gemeint. Das Werk von Franz Joseph Schopf „Die Verfassung des Landes Böhmens“ von 1847 enthielt daher neben der Beschreibung der Verfassungseinrichtungen auch Ausführungen zum „Familienrecht“ und den Institutionen des Sachenrechts. Eben dies meinten die erwähnten Verweisungen auf die „Verfassung“ eines Landes bzw. einer Provinz vom Codex Theresianus bis zum ABGB. Allerdings wird offenkundig etwas Spezifischens mitgedacht. Die erwähnten Kompilationsgrundsätze 1753 (oben I.) erheben nämlich die Frage, „ob ein besonderes Landesgesetz … in die Landesverfassung einschlage“, bzw. stellen neben „alle Gesetze und Gewohnheiten“ eigens „die Verfassung eines jeglichen Landes“ (Punkt XVII). So erscheint die „Verfassung“ eines Landes als besonderer Teil von dessen Rechtsordnung. Dies beschäftigt die Weisung an die Gesetzesverfasser (Punkt XVI), daß „Gesetze und Gewohnheiten“, die „tief in die Länderverfassung einschlagen“, im Zuge der Kodifikationsarbeiten zu belassen und nicht wie bei anderen von einander „unterschiedenen Ländergesetzen“ anzugleichen sind. Die „Verfassung“, z. B. die eines Landes, galt somit als der nicht abänderbare Teil der Rechtsordnung. Eben dies drückten auch, von einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, die Termini „Grundgesetz“, „Fundamentalgesetz“ aus: Gemeint war also 5  Artikel „Verfassung“, in: Friedrich Jaeger, Enzyklopädie der Neuzeit 14, Stuttgart, Weimar 2011, S. 61 ff.



Schutz der Zivilgesellschaft: Zivilrechtskodifikation als „Verfassung“29

mit diesen Ausdrücken insgesamt, das ABGB bilde eine grundlegende, fundamentale und beständige Rechtsquelle der Landes-Rechtsordnung. Besteht, so die nächste Frage, irgendein Zusammenhang mit den Ausdrücken Verfassung, Grundgesetz oder Fundamentalgesetz in der späteren bzw. heutigen Bedeutung? Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstand zufolge der revolutionären Situationen sowohl in den USA wie in Frankreich das Bedürfnis, für das gesamte rechtliche Verfaßtsein der Gemeinwesen Grundzüge im revolutionären Sinne festzulegen. Dies geschah in eigenen Gesetzen, welche die Basis der neuen Ordnung festhielten, diese konstituierten. Sie trugen demnach sowohl in englischer wie französischer Sprache die Bezeichnung „constitution“. Da sie nur die Basis festlegten, umfaßte diese Bezeichnung nicht die gesamte Rechtsordnung. Als deutschen Ausdruck dafür wählte man das Wort „Verfassung“. Deutlich wird dies wohl zum ersten Mal in der Verfassung der Helvetischen Republik von 1798. Ihr doppelsprachiges Grundgesetz vom 12. April 17986 ist einerseits mit „Constitution“, andererseits mit „Verfassung“ bezeichnet. Diesem Sprachgebrauch folgten die „Verfassungen“ deutscher Staaten bereits ab der Rheinbundzeit.7 Aus dem bislang umfassenden Verfassungs-Begriff im Sinne der Gesamtrechtsordnung hob sich mit dem neuen Sprachgebrauch ein spezieller Teil heraus bzw. stand nun an der Spitze. In den Worten von Sonnenfels8 enthielt eine „Constitution“ jene Normen, die als „Richtschnur und Vorschrift“ den „davon abgeleiteten Gesetzen selbst“ dienten – von diesen aber „sorgfältig“ zu unterscheiden waren. Sonnenfels verstand dies freilich als Kritik: Die Regeln der „Constitution“ sollten sich nur an den Gesetzgeber wenden, nicht allgemein bekannt gemacht werden, denn sie könnten von den „Befolgenden“ der „abgeleiteten Gesetzen“ mißverstanden werden, wie dies eben die Französische Revolution zeige. Noch deutlicher beschreiben das Grundlegende, das Basisartige der Verfassung im neuen Sinn die Ausdrücke Grundgesetz und Fundamentalgesetz. Sie treten als Synonyme zur Bezeichnung „Verfassung“ etwa bei Rotteck / Welcker auf.9 6  Alfred Kölz, Quellenbuch zur Neueren Schweizerischen Verfassungsgeschichte I, Bern 1992, S. 126. 7  Hartwig Brandt / Ewald Grothe, Rheinbündischer Konstitutionalismus, in: Rechtshistorische Reihe 350, Frankfurt am Main 2007. 8  Sigmund Adler, Die politische Gesetzgebung in ihren geschichtlichen Be­ ziehungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, in: ABGB FS I  /  1, 1911, S.  128 ff. 9  Karl von Rotteck / Karl Welcker, Staatslexikon, 3. Auflage Leipzig 1859, S. 101.

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III. Die Legistik Bevor wir zur Charakterisierung des ABGB mit den Ausdrücken Verfassung, Grundgesetz und Fundamentalgesetz zurückkehren, ist ein Blick auf die zeitgenössische Legistik notwendig10. Sie beherrschte der Unterschied in Justizgesetze einerseits und politische Gesetze andererseits. Erstere galten für kodifikationsfähig. Dies auch deshalb, weil es hier möglich war, eine „Kette rechtlicher Wahrheiten“ festzulegen und dies „für die Dauer von Menschenaltern“, somit „ewig“ geltend. Die „politischen“ Gesetze hingegen erfaßten wandelbare Materien, abhängig von Zeit und Ort, und dies naturgemäß in Einzelgesetzen. Mit den Kodifikationen als „ewig“ geltend verband sich wesentlich eine Bestandsgarantie. Durch sie werde, so Sonnenfels11, eine „Verfassung befestigt“, die „Staat und Gesellschaft selbst gegen jeden Wunsch der Neuerung sichert“. Ohne diese Grundhaltung wäre auch die bekannte Einleitung zum Teil-ABGB („Josephinisches Gesetzbuch“) 1786 nicht verständlich: „Jeder Untertan erwartet sich vom Landesfürsten Sicherheit und Schutz“. Dazu zählen nicht nur inhaltliche Festlegungen, sondern auch deren Bestandsgarantie, also ihre Unabänderbarkeit. Dies wieder steht im Einklang mit der Gesetzgebungslehre der damaligen Zeit. Sie stand Novellierungen negativ gegenüber. Vor allem im monarchischen Staat bedeutete eine Novellierung Kritik am bisherigen – monarchischen – Gesetzgeber, was dem System zum Schaden gereicht hätte. Dem zufolge nahm das ABGB im Unterschied zu seinem Vorläufer, dem Galizischen Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 21), keine Regelung über eine Novellierung auf. Als das ABGB in Liechtenstein eingeführt wurde, behielt sich der Landesfürst ausdrücklich vor12, fallweise „Modifikationen“ anzubringen: Dies war eben einerseits durchaus nicht selbstverständlich, aber andererseits durch die Übernahme eines fremden Gesetzbuches, nämlich des österreichischen ABGB, verständlich. Zum ABGB ergingen in den folgenden Jahren sogenannte Durchführungsverordnungen13 – fünfundzwanzig Jahre nach seinem Inkrafttreten, 1837, waren dies bereits knapp über eintausend Bestimmungen. Vierhundert davon gingen auf Verweisungen im ABGB zurück. Diesen zufolge war das 10  Zum Folgenden Wilhelm Brauneder, Die naturrechtlichen Kodifikationen der Habsburgermonarchie als Modernisierungsprozess, in: Revista Chilena de Historia del Derecho, XXII / 2, Santiago 2010, S. 1177 ff. 11  S. Adler, Gesetzgebung, S. 128 f. 12  Ibid., S. 127. 13  Wilhelm Brauneder, Österreichs ABGB – Vom Zentrum an den Rand der Privatrechtsordnung?, in: C. Peterson (Hrsg.), Die Kodifikation und die Juristen, Stockholm 2008, S. 81 ff.



Schutz der Zivilgesellschaft: Zivilrechtskodifikation als „Verfassung“31

ABGB nach seinem Selbstverständnis auf Ergänzungen angelegt. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung Zeillers14: Das Privatrecht „beschränkt sich auf diejenigen Rechte …, welche … allen selbständigen Einwohnern auf gleiche Weise zustehen können und sollen“, denn die „Gerechtigkeit kennt keinen Unterschied der Geburt, der Religion, des Alters, Ranges oder Standes“; jedoch: „Für die politische Gesetzgebung ist dieser Unterschied allerdings wichtig“, aber „muß in Einklange mit der bürgerlichen den Grundsatz der gleichen Gerechtigkeit stets vor Augen haben“. Das ABGB war damit Grund-, Fundamental- und in diesem Sinne Verfassungs-Gesetz, auf dem andere Gesetze – die erwähnten Durchführungsverordnungen – aufbauen konnten bzw. unter Umständen sogar mußten. Drei Beispiele sollen dies erläutern.15 Als das ABGB 1811 fertiggestellt war, hatte die Inflation ihren Höhepunkt erreicht. Dies führte dazu, die Bestimmungen über das Darlehen nicht zu sanktionieren, weil seine Bestimmungen als unbillig erschienen. Dagegen allerdings stand die Meinung unter anderem von Zeiller: Das ABGB enthalte sozusagen die ewige Wahrheit, daß ein Darlehen zurückzuzahlen sei, die Art und Weise aber könne eine Durchführungsverordnung bestimmen. Dies geschah tatsächlich durch das Finanzpatent 1811, welches in tabellarischer Form festlegte, in welcher Höhe ein vor oder während der Inflation aufgenommenes Darlehen in dieser zurückzuzahlen sei. Ein zweites Beispiel geben die Regelungen über den Familienfidekomiss ab. Das ABGB enthält keine Einschränkungen etwa auf den Adel und erweckt so den Eindruck, als könne er auch außerhalb desselben vereinbart werden. Ein Patent über die Vorrechte des Adels 1838 erklärte sodann den Familienfidekomiss als adeliges Rechtsinstitut. Das dritte Beispiel bildet die Erbfolge im Bauernstand. Das ABGB enthält diesbezüglich eine Verweisung (§ 818) auf „besondere Gesetze“. Solche existierten bereits mit der Folge, daß sich das bäuerliche vom allgemeinen Erbrecht unterschied und überdies in manchen Ländern voneinander abwich. Vor allem fällt dies im Bezug auf Lombardo-Venetien auf. Hier gab es keine diesbezüglichen Sonderregelungen, so daß sich hier die bäuerliche Erbfolge nach den allgemeinen Erbrechtsregelungen richtete. Die Durchführungsverordnungen zum ABGB, vor allem dieses selbst durch Verweisungen auf derartige Ergänzungen, zeigen deutlich, daß das ABGB durch Verweisungen in manchen Materien, aber auch ohne diese als ein Grund-Gesetz angesehen wurde, welches näher zu präzisieren war bzw. präzisiert werden konnte. Dies erinnert an die Legistik etwa der zeitgleichen bayerischen Verfassung 1808, welche durch sogenannte „organische Edikte“ 14  Franz von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I, Wien 1811, S. 12 samt Fn. 15  W. Brauneder, Österreichs ABGB, S. 81 ff.

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näher auszuführen war. Insofern kam auch diesem der Charakter eines Grundgesetzes zu. Wie auch das ABGB enthielt es grundsätzliche Regelungen versehen mit einer Bestandsgarantie, auf denen Durchführungsbestimmungen aufbauen sollten bzw. konnten. Insgesamt war es auch gerechtfertigt, das ABGB als Teil einer „Verfassung“ im materiellen Sinne zu verstehen, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft, der Zivilgesellschaft. Als 1847 ein Buch in seinem Titel für Österreich die „Verfassungsfrage“ erhob, stellte es fest, es biete das ABGB einen „befriedigenden Rechtsschutz“.16 IV. Ausblick Diese Sicht des Verfassungs- und Grundgesetzcharakters des ABGB änderte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1848 und abermals 1849 erhielt Österreich Verfassungen im konstitutionellen Sinn wie zahlreiche Staaten des Deutschen Bundes schon zuvor. Das ABGB wurde damit zum, modern gesprochen, einfachen Gesetz „unterhalb“ der Verfassungsebene. Die Verfassung 1849 habe daher, so schon die Zeitgenossen, Bestimmungen des ABGB derogiert17. Mit dem Entschwinden der Idee des Grundgesetzcharakters hob eine Kritik am ABGB an, die dessen begriffliche Verfeinerung gemäß der zeitgenössischen Privatrechtswissenschaft forderte, die sogenannte „Pandektisierung“. Nicht Durchführungsverordnungen sollten grundgesetzliche Regelungen näher ausführen, sondern das ABGB selbst entsprechende Bestimmungen enthalten. Schließlich begann, in Abkehr von der Idee der Bestandsgarantie, freilich zögerlich, die Idee von Novellierungen Platz zu greifen. So entstand angesichts der Pandektenwissenschaft sogar die Idee, das ABGB im Wege einer Totalrevision durch ein neues Zivilgesetzbuch zu ersetzen; 1856 trat an die Stelle der Eherechtsbestimmungen des ABGB für Katholiken ein eigenes Ehegesetz; der Ersatz des ABGB-Schuldrechts durch ein Obligationenrechtsgesetz des Deutschen Bundes verhinderte nur dessen Auflösung 1866. Das ABGB war am Wege, eine „normale“ Zivilrechtskodifikation wie später etwa BGB und ZGB zu werden. Im Jahre 1852 aber erklärte rückblickend Justizminister Karl von Krauß, es habe das ABGB „durch vierzig Jahre als eine feste Schutzwehr gegen Willkür und Unrecht“ gedient.18 Insofern war es tatsächlich eine Verfassung, ein Grundgesetz der Zivilgesellschaft gewesen. 16  Anonym (Matthias Koch), Oesterreichs innere Politik mit Beziehung auf die Verfassungsfrage, 1847, S. 217. 17  W. Brauneder, ABGB, S.  349 ff. 18  Friedrich Walter, Diskussion über das ABGB, in: Derselbe, Die Österreichische Zentralverwaltung III / 3, 1970, S. 52.



Schutz der Zivilgesellschaft: Zivilrechtskodifikation als „Verfassung“33

Abstract Protection of civil society: Codification as „constitutionalisation“ Contemporaries considered the ABGB to be a part of „Constitution“, „Basic Law“ or „Fundamental Law“. In their current meaning these terms indicate the supreme state law and not a code of civil law. However, the contemporaries viewed this in a different way. They considered the ­ABGB – like people in other countries as to their respective civil law codifications – a fundamental part of the law system, as its base or foundation. Like constitutions in their current meaning these comprehensive codes were considered rather unalterable due to their natural-law content which was believed to be eternal. Actually, the AGBG was not amended until about 1850 (though, there were authentic interpretations). Like a constitution in its current sense the ABGB, too, received many additional stipulations; these, however, did not change its general character. As a sort of constitution, it was highly respected for a very long period of time and remained ­unamended until about 1850. For its contemporaries it constituted a tool protecting the civil society.

Rechtskodifikation als Verfassungsersatz: Das Beispiel Rhode Island1 Horst Dippel „Wie verschieden die Verfassungen der einzelnen Freistaaten sind, und welche Freiheit innerer Entwickelung und Konstituirung ihnen gestattet ist, zeigt Rhode Island, welcher Staat von einigen wenigen Familien altenglischer Abkunft regiert wird, während der großen Bevölkerung unter Präsident Doer es nicht gelang, auf dem Wege der Revolution, selbst in neuester Zeit nicht, dieses alte System zu brechen, und eine freiere Verfassung herbeizuführen, ja man hielt sich nicht einmal von Seiten des Congresses für befugt, hier einzuschreiten, und einen inneren Bürgerkrieg zu verhüten, geschweige denn diktatorisch zu verfahren, sondern man hat beide Theile nur freundlich bedeutet auf dem Wege ruhiger Reform die Sache zu schlichten, oder sie zu belassen.“2 Der steinige, sieben Jahrzehnte währende Weg Rhode Islands zu einer modernen Verfassung, dessen Höhepunkt mit dem „Dorr War“ oder der „Dorr Rebellion“ von 1842 hier von Friedrich Hundeshagen geschildert wird, der bis vor kurzem selbst zehn Jahre in den Vereinigten Staaten zugebracht hatte, ist nicht nur ohne Beispiel in der amerikanischen Geschichte, sondern auch um eine weitere atypische Facette reicher, als in den einschlägigen Untersuchungen dargelegt wird.3 Dabei hatte Rhode Islands Ausscheren aus dem amerikanischen Main­ stream eine Vorgeschichte, die zur Konsequenz hatte, dass Rhode Island ebenso wenig wie das benachbarte Connecticut es für nötig hielten, sich in Folge der Unabhängigkeitserklärung von 1776 entsprechend dem Beispiel der übrigen ehemals britischen Kolonien in Nordamerika eine Verfassung zu 1  Mein besonderer Dank gilt Christopher Brooks, Brandon Haynes, Matthias Schneider und Lee Teverow für die Unterstützung bei der Literaturrecherche. 2  Friedrich Hundeshagen, Das deutsche Parlament. An das deutsche Volk und seine Vertreter in Frankfurt a. M., 2. Abdruck, Frankfurt a. M. 1848, S. 24. 3  Vgl. dazu die einleitende Feststellung von Elmer Cornwell, „Constitutionalism in Rhode Island: Continuity of Colonial Design“, in: The Constitutionalism of American States, George E. Connor, Christopher W. Hammons (Hrsg.), Columbia, London 2008, S. 63–76, hier 63: „To a greater degree than most other states, Rhode Island’s political structure and constitution developed almost entirely in response to local needs and desires.“

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geben.4 Anders als in den übrigen Kolonien war unter dem Druck der militärischen Ereignisse die zivile Verwaltung nicht zusammengebrochen. Dass der Gouverneur sich nicht auf das nächstgelegene britische Kriegsschiff hatte retten müssen, lag daran, dass er kein königlicher Beamter war, sondern sein Amt allein der Wahl des Volkes verdankte, wie es die königliche Charter Rhode Islands von 1663 bestimmte. Nicht der König oder der Eigentümer der Kolonie, wie in den übrigen Kolonien, setzte den Gouverneur und seinen Rat ein, sondern alle politischen Ämter gingen aus der Volkswahl hervor und bedurften keiner weiteren königlichen Sanktion. Gleiches galt für die Gesetze der Legislative, die London in der Vergangenheit nur dann hatte annullieren können, wenn sie britischen Gesetzen widersprachen. Angesichts dieses demokratischen Grundcharakters hatte es 1776 keinen Anlass gegeben, nach einem Ersatz für die Charter von 1663 zu suchen. Erst im Laufe der 1780er Jahre begann sich diese Haltung allmählich zu ändern, und die Ursachen dafür lagen innerhalb wie außerhalb Rhode Islands. In einer wachsenden Zahl von Staaten hatten sich Verfassungen auf der Basis der Gewaltentrennung und mit einer Menschenrechtserklärung durchgesetzt, als prominenteste Beispiele die Verfassung von 1780 im benachbarten Massachusetts und dann die amerikanische Bundesverfassung von 1787 einschließlich der hinzugefügten Bill of Rights. Beides fehlte in Rhode Island, wo die Charter von 1663 die Legislative nahezu allmächtig gemacht hatte.5 Hinzu kam, dass man aus einer Reihe von Gründen bei dem Verfassungskonvent von Philadelphia erst gar nicht mitgemacht hatte, so dass im Laufe des Jahres 1790 der Druck von innen und außen auf Rhode Island ständig wuchs, als letzter der dreizehn Staaten nun endlich die Bundesverfassung zu ratifizieren. Ein weiterer Grund, der in diesen Jahren den Ruf nach Abschaffung der Charter von 1663 und der Einführung einer modernen Verfassung laut werden ließ, lag in der Bevölkerungsentwicklung des Staates, die insbesondere dem Norden und Nordosten Rhode Islands zugute kam. Dem stand entgegen, dass die Charter die Repräsentation der einzelnen Städte in der Legislative festgeschrieben hatte, wovon insbesondere der Süden und Westen profitierte, deren Bevölkerungszahlen jedoch stagnierten oder gar rückläufig 4  Der knappe Abriss der historischen Entwicklung Rhode Islands folgt im Wesentlichen der Standarddarstellung von Patrick T. Conley, Democracy in Decline. Rhode Island’s Constitutional Development 1776–1841, Providence 1977. Vgl. auch die ältere, populäre Darstellung von Arthur May Mowry, The Dorr War. The Constitutional Struggle in Rhode Island, [1901], Nachdruck New York, London 1970. 5  Vgl. dazu auch Patrick T. Conley, Neither Separate nor Equal. Legislative and Executive in Rhode Island Constitutional History, East Providence 1999, besonders S. 48–60.



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waren. Dieser Konflikt, sehr vereinfacht zwischen Newport im Süden und Providence im Norden, den Hundeshagen nicht weniger vereinfachend als den zwischen „einigen wenigen Familien altenglischer Abkunft“ und der „großen Bevölkerung“ bezeichnet hatte, eskalierte mit der Steuerfestsetzung von 1796, die bewirkte, dass entsprechend der innerstaatlichen sozioökonomischen Verschiebungen die Städte des Nordens und Nordostens fortan eine deutlich erhöhte Steuerlast zu tragen hatten, während die Belastungen für die stagnierenden bzw. schrumpfenden Städte im Süden und Westen kaum oder nur mäßig stiegen. Das gleiche sollte sich 1823, bei der nächsten Steuerfestsetzung, wiederholen, mit der sich die Steuerlast von Providence gegenüber 1796 mehr als verdreifachte und damit fast das Fünffache von Newport erreichte, dessen Belastung gegenüber 1796 lediglich um ein Drittel angewachsen war,6 ohne dass sich irgendetwas an der ungleichen politischen Gewichtung der Städte geändert hätte, da die Charter unveränderbar war. 1796 war es bei Protesten und dem Ruf nach einer Verfassung geblieben. Knapp dreißig Jahre später waren die Kräfte der Beharrung immerhin bereit, der Einberufung eines Verfassungskonvents zuzustimmen. Allerdings konnten sie durchsetzen, dass dieser Konvent nach dem den Norden und Nordosten benachteiligenden Repräsentationsmodus der Charter zusammengesetzt war. Das Ergebnis war eine Verfassung, die die Ungleichheit der Repräsentation zwar minderte, aber nicht beseitigte, und die allen entgegenlautenden Forderungen zum Trotz an dem hohen Wahlzensus von $134 festhielt, der 1760 mit £40 festgelegt worden war, was nach der offiziellen Umrechnung von 1798 den seither gültigen Dollarbetrag ergab.7 Es überrascht nicht, dass dieser Verfassungsentwurf von 1824 in der anschließenden Volksabstimmung durchfiel. Damit war das Thema Verfassung für die Reformkräfte nicht vom Tisch, und angesichts ihres anhaltenden Drucks wurde 1834 ein neuer Verfassungskonvent, jedoch wiederum auf der Repräsentationsbasis von 1824, einberufen. Das Ergebnis war noch niederschmetternder als zehn Jahre zuvor, indem sich dieser zweite Konvent erst gar nicht auf einen Verfassungstext hatte einigen können und sich schließlich unverrichteter Dinge vertagte, ohne jemals wieder zusammenzutreten. Wo die Verfassungsbewegung an den Kräften der Beharrung scheiterte, sollte Hilfe von ganz untypischer Seite kommen: der Rechtskodifikation. Wenn hier von Rechtskodifikation gesprochen wird, so sind damit nicht P. T. Conley, Democracy in Decline, S. 159. dazu Elisha Reynolds Potter, Considerations on the Questions of the Adoption of a Constitution, and Extension of Suffrage in Rhode Island, Boston ­ 1842, S. 10–11. 6  Dazu 7  Vgl.

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jene Versuche der 1820er Jahre und der beiden folgenden Jahrzehnte gemeint, die zu Ende des Jahrhunderts noch eine gewisse Wiederbelebung fanden, allerdings ebenso ausnahmslos scheiterten, eine Kodifikation des Common Law zu bewerkstelligen.8 Vielmehr geht es bei den hier gemeinten Rechtskodifikationen um die jeweilige Revision und Zusammenfassung des gültigen gesetzten Rechtes, die zwar angesichts ihrer chronologischen, teilweise auch alphabetischen Anordnung nicht europäischen Kodifikationen vergleichbar waren, aber doch der Rechtssicherheit und Rechtsvereinheit­ lichung dienen sollten. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wurden diese Zusammenstellungen des gültigen Gesetzesrechtes in den amerikanischen Staaten durchgeführt, wobei das Procedere mitunter in den Verfassungen geregelt war. Bis 1815 verfügten zehn der ursprünglichen dreizehn amerikanischen Staaten einschließlich Vermonts, des vierzehnten Staats, über eine derartige Kodifikation.9 In Rhode Island hatte es den letzten Law Digest der Kolonialzeit, wie diese Kodifikationen genannt wurden, im Jahr 1767 gegeben. Der nächste war der Digest of 1798, mit dem erstmals versucht wurde, das Fehlen einer Verfassung und einer Menschenrechtserklärung zumindest teilweise zu kompensieren. Die Declaration of Rights von Rhode Island vom Mai 1790 war in den politischen Kontroversen um die nur mit Mühe erfolgte Ratifizierung der Bundesverfassung durch den Staat untergegangen,10 und die knappe politische Mehrheit, die sie getragen hatte, vermochte nicht, der Politik des Staates in den nachfolgenden Jahren ihren Stempel aufzudrücken. Doch bei der Kodifizierung von 1798 wurde der verbreitete Ruf der letzten Jahre nach einer Verfassung samt Erklärung der Rechte insofern aufgegriffen, als der Kodifikation eine eigens dafür konzipierte Ersatz-Menschenrechtserklärung vorangestellt wurde, ein singulärer Vorgang in den amerikanischen Staaten dieser Zeit. Erstmals wurde damit der Weg der Rechtskodifikation 8  Vgl. dazu das Standardwerk von Charles M. Cook, The American Codification Movement. A Study of Antebellum Legal Reform, Westport 1981. Zu den Bestrebungen in den 1880er Jahren, vgl. Kunal M. Parker, Common Law, History, and Democracy in America, 1790–1900. Legal Thought before Modernism, New York, 2011, S. 238–240. 9  Ch. M. Cook, The American Codification Movement, S. 25 und 42. 10  Zur Entstehung und zum Text dieser Erklärung, Constitutional Documents of the United States of America, 1776–1860, Horst Dippel (Hrsg.), 8 Bde., Berlin, Boston 2006–2011, V, S. 421–426. Der Ratifizierungskonvent hatte am 29. Mai 1790 die Bundesverfassung mit 34 : 32 Stimmen angenommen, knapper als in jedem anderen Staat, vgl. Patrick T. Conley, „Rhode Island: First in War, Last in Peace. Rhode Island and the Constitution, 1786–1790“, in: The Constitution and the States. The Role of the Original Thirteen in the Framing and Adoption of the Feder­ al Constitution, ders. und John P. Kaminski (Hrsg.), Madison 1988, S. 269–294, hier S. 278.



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beschritten, um, über Einzelfallsregelungen hinausgehend, für einen zentralen Teilbereich einen Verfassungsersatz zu schaffen. Zwar war bereits der Kodifikation von Connecticut von 1784 „An Act containing an Abstract and Declaration of the Rights and Privileges of the People of this State, and securing the same“ beigefügt worden, doch beließ es dieses kurze Gesetz dabei, sich pauschal auf die alten Rechte zu berufen, die das Volk von Connecticut kraft seiner Charter von 1662 seit altersher besessen habe und bekräftigte nochmals ausdrücklich den Grundsatz der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz sowie der Bestimmungen des Ha­ beas Corpus Gesetzes.11 Ganz anders dagegen Rhode Islands „An Act declaratory of certain Rights of the People of this State“, der dem Digest of 1798 vorangestellt war.12 Da „a declaration of certain rights is deemed by this Assembly to be highly proper and necessary“, wurden bestimmte Rechte deklariert, die fortan als „the inherent and unquestionable rights of the people inhabiting within the limits and jurisdiction of this State“ als „paramount obligation in all legislative, judicial and executive proceedings“ gelten sollten.13 Was hier, in Ermanglung einer modernen Verfassung un­ ternommen wurde, war mithin nichts anderes als der Versuch, mit den Mitteln der gewöhnlichen Gesetzgebung allgemeine Menschenrechte zu fundamentalisieren,14 wenngleich ihre Rechtsverbindlichkeit für jedwedes 11  Acts and Laws of the State of Connecticut, in America, New-London: Printed by Timothy Green, Printer to the Governor and Company of the State of Connecticut, 1784, 1–2. Dieses Gesetz erschien dann erneut in leicht modifizierter, aber inhaltlich nicht über die Substanz von 1784 hinausgehender Form als „Title I. Declaration of Rights“ in der Kodifikation von 1808: The Public Statute Laws of the State of Connecticut. Book I. Published by Authority of the General Assembly, Hartford: Printed by Hudson and Goodwin, 1808, S. 23–24. Die erste moderne Verfassung Connecticuts trat erst im Jahr 1818 in Kraft. 12  Vgl. dazu auch die sehr knappen Bemerkungen von Patrick T. Conley, „The Bill of Rights and Rhode Island“, in: ders., Liberty and Justice: A History of Law and Lawyers in Rhode Island, 1636–1998, East Providence, 1998, S. 204–205. 13  The Public Laws of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, As revised by a Committee, and finally enacted by the Honourable General Assembly, at their Session in January, 1798. To which are prefixed The Charter, Declaration of Independence, Articles of Confederation, Constitution of the United States, and President Washington’s Address of September, 1796. Published by Authority, Providence: Carter and Wilkinson, 1798, S. 79. 14  Zur Unterscheidung zwischen Fundamentalisierung und Konstitutionalisierung von Menschenrechten, vgl. Gerald Stourzh, „Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Genese des modernen Verfassungsbegriffs“, in: Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Göttingen 1977, S. 294–328, erweiterter Wiederabdruck in Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien, Köln 1989, S. 1–35.

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staatliche Handeln vielfach nur als moralische Verpflichtung proklamiert,15 jedoch mangels einer tatsächlichen Verfassung nicht als höherrangiges Recht konstitutionalisiert werden konnte. Hier sollte also ganz konkret die Rechtskodifikation den Ersatz für die fehlende Menschenrechtserklärung einer Verfassung liefern. Die zehn Absätze des Gesetzes dokumentieren diese Absicht eindeutig: Sect. 1. Every person within this State ought to find a certain remedy, by having recourse to the laws, for all injuries or wrongs which he may receive in his person, property or character. He ought to obtain right and justice freely, and without being obliged to purchase it; completely, and without any denial; promptly, and without delay; conformably to the laws. Sect. 2. The right of the people to be secure in their persons, houses, papers and possessions, against unreasonable searches and seizures, shall not be violated; and no warrant shall issue, but on complaint in writing, upon probable cause, supported by oath or affirmation, and describing, as nearly as may be, the place to be searched, and the persons or things to be seized. Sect. 3. No person shall be holden to answer a capital or other infamous crime, unless on presentment or indictment by a Grand Jury, except in cases arising in the land or naval forces, or in the militia when in actual service, in time of war, or public danger. No person shall, for the same offence, be twice put in jeopardy of life or limb. Sect. 4. Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel punishments inflicted; and all punishments ought to be proportioned to the offence. Sect. 5. All prisoners shall be bailable by sufficient sureties, unless for capital offences, when the proof is evident, or presumption great; and the privilege of the writ of habeas corpus shall not be suspended, unless when, in cases of rebellion or invasion, the public safety may require it. Sect. 6. In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial Jury; to be informed of the nature and cause of the accusation, to be confronted with the witnesses against him, and to have compulsory process for obtaining them in his favour, and to have assistance of counsel for his defence; nor can he be deprived of his life, liberty or property, unless by the judgment of his peers, or the law of the land. 15  Auf das Fehlen dieses normativen Zwanges weist unter anderem auch der in der Hälfte der Absätze praktizierte Sprachgebrauch von „ought to“ anstelle des autoritativen „shall“ hin, wie er sich in den Einzelstaatsverfassungen seit 1790 durchgesetzt hatte. Vgl. dazu Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions, Baton Rouge, London 1980, S. 65– 67; Horst Dippel, „Human Rights in America, 1776–1849: Rediscovering the States’ Contribution“, in: Albany Law Review, 67 (2003 / 04), S. 713–761, hier S. 724–727.



Rechtskodifikation als Verfassungsersatz: Das Beispiel Rhode Island41 Sect. 7. The person of a debtor, when there is not strong presumption of fraud, ought not to be continued in prison, after delivering up his estate for the benefit of his creditors, in such manner as shall be prescribed by law. Sect. 8. Retrospective laws, punishing offences committed before the existence of such laws, are oppressive and unjust, and ought not to be made. Sect. 9. No man, in the courts of common law, ought to be compelled to give evidence against himself. Sect. 10. Every man being presumed to be innocent, until he has been pronounced guilty by the law, all acts of severity that are not necessary to secure an accused person ought to be repressed.16

Es waren Bestimmungen, wie sie aus den bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden amerikanischen Menschenrechtserklärungen längst hinreichend bekannt waren. So ist Absatz 1 mit der Rechtswegegarantie praktisch die wörtliche Wiedergabe des entsprechenden Absatz (Teil I, Artikel XI) der Verfassung von Massachusetts von 1780. Absatz 2 mit dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Durchsuchung ist die Kopie des sechsten Artikels der Bill of Rights der Bundesverfassung, deren Artikeln VII, IX und VIII ebenfalls der Text für die Absätze 3 (Garantie des Anklageverfahrens), 4 (Angemessenheit von Kautionen und Strafen) und 6 (Rechtsgarantien für den Angeklagten) entnommen wurde. Eine weitere Textvorlage bot die Menschenrechtserklärung der Verfassung von Pennsylvania von 1790 (Artikel IX), deren Absätze 14, 9 und 16 sich hier als Absätze 5 (Recht der Kautionstellung und Habeas-Corpus-Garantie), 6 (das Recht, nur von Seinesgleichen oder nach den Gesetzen des Landes verurteilt zu werden) und 7 (Schuldnerschutz) wiederfinden. Die Absätze 8 (Verbot rückwirkender Gesetze) und 9 (Recht der Aussageverweigerung) waren wiederum wörtlich der Menschenrechtserklärung von Delaware von 1776 (Artikel 11 und 15) entnommen.17 Allein für den zehnten Absatz (Unschuldsvermutung) fand sich in den amerikanischen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen der zurückliegenden zwei Dezennien kein Vorbild, so dass er auf der Ebene der Menschenrechtsgarantien als eigenständige Schöpfung Rhode Islands angesehen werden muss, die zudem so hoch bewertet wurde, dass sie nicht nur in den Menschenrechtskatalog der gescheiterten Verfassung von 1824 (Art. VI, Abs. 10), sondern auch in die Rechteerklärungen aller drei Verfassungstexte Rhode Islands von 1841 / 42 aufgenommen wurde.18 In der Tat hatte der Verfassungsentwurf von 1824 alle zehn Absätze des Gesetzes von 1798 16  Public

Laws of Rhode Island, 1798, S. 79–81. die genannten Originalstellen, vgl. Constitutional Documents of the United States of America, H. Dippel (Hrsg.), IV, S. 21, I, 82–83, V, S. 366–368, I, S. 212. 18  Vgl. ibid., V, S. 434, 452, 470, 484. 17  Für

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wörtlich als Abs. 1–10 seiner „Declaration of certain Constitutional Rights and Principles“ übernommen19 und damit nochmals unterstrichen, dass es sich bei dem Gesetz von 1798 tatsächlich um eine Ersatz-Menschenrechtserklärung handelte. Daran änderte auch ihr inhaltlich allein auf die Rechte Beschuldigter beschränkter Rechtekatalog nichts, während alle übrigen Rechte fehlten, die sich gemeinhin in diesen Jahrzehnten in Menschenrechtserklärungen fanden und die zum größeren Teil auch in der untergegangenen Menschenrechtserklärung Rhode Islands von 1790 aufgeführt waren, wie Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Eigentumsgarantie usw. Lediglich eine Ergänzung verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Der Digest of 1798 führte als zweites Gesetz „An Act relative to religious Freedom, and the Maintenance of Ministers“ auf, nicht allein eingedenk der Tatsache, dass seit der Gründung der Kolonie Religionsfreiheit eines ihrer zentralen Themen gewesen war, sondern dass diese auch bis heute einen unverrückbaren Platz unter den Menschenrechten einnimmt.20 So unvollständig damit insgesamt zwar der Katalog ungeachtet dieser Erweiterung geblieben war, stellte doch die Rechtskodifizierung von 1798 einen ersten bemerkenswerten Versuch dar, angesichts des Fehlens einer modernen Verfassung zumindest eine Ersatz-Menschenrechtserklärung zu schaffen, die bis zur definitiven Verfassung Rhode Islands von 1842 Bestand haben sollte. Angesichts der sich immer zäher hinschleppenden Verfassungsfrage konnte ein zweiter Versuch, auf dem Wege der Rechtskodifikation Abhilfe zu schaffen, nicht ausbleiben. Dieser ergab sich mit dem Beschluss zu einer neuerlichen Kodifikation von 1840, nachdem die vorausgegangene Kodifikation von 1822 keine weiteren Versuche in diese Richtung unternommen hatte, jedoch die beiden erwähnten Gesetze von 1798 ihrer Sammlung erneut vorangestellt hatte.21 Mit dem Entwurf einer erneuten Kodifikation 19  Vgl.

ibid., V, S. 433–434 (Hervorhebung hinzugefügt von H. D.). sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1895, besonders S. 35–37, in der Religionsfreiheit den Ursprung der Idee der allgemeinen Menschenrechte sah und dies durch Roger Williams 1636 in Rhode Island belegt fand. 21  The Public Laws of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, As revised by a Commitee, and finally Enacted by the Honorable General Assembly, at their Session in January, 1822. To which are prefixed The Charter, Declaration of Independence, Articles of Confederation, Constitution of the United States, and President Washington’s Address of September, 1796. Published by Authority, Providence: Printed and published by Miller & Hutchens, 1822, S. 66–69. Ebenso wie die Kodifikation von 1798 und 1844 wurde auch die von 1822 durch Supplements weitergeführt bis zur nächsten Kodifikation. Nur am Rande sei bemerkt, dass in dieser Sammlung ebenso wie in der im gleichen Jahr erschienenen Ausgabe der Verfassung 20  Es



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wurde William R. Staples, Richter am Supreme Court von Rhode Island, beauftragt und eine fünfköpfige Kommission eingerichtet, die den Vorschlag bewerten und gemeinsam mit Staples das Ergebnis der Legislative zur Beschlussfassung vorlegen sollte22. Im Januar 1841 wurde die Beauftragung dahingehend erweitert, dass, abweichend von 1798 und 1822 „the committee appointed to revise the statutes of this state, be requested to bring together all those statutes which relate to the same subject, and to digest the same under proper titles, chapters and sections, if deemed expedient by the committee“.23 Im Prinzip stellte diese Beauftragung nichts Ungewöhnliches dar, obgleich die beiden letzten Kodifikationen von 1798 und 1822 nicht nach diesem Ordnungsschema verfahren waren, sondern, wie es in dem Gesetz von 1822 geheißen hatte, die Gesetze angeordnet hatten „under proper titles, with a copious index and proper marginal notes“.24 Jedoch entsprach der Auftrag von 1841 genau jenem, nach dem die Rechtskodifikation von Massachusetts von 1836 erfolgt war25 und nach der auch die neuerliche Rechtskodifikation von Rhode Island von 1857 anzulegen beauftragt werden von Massachusetts – Anlass dazu waren die 1821 beschlossenen und nun in Kraft getretenen Verfassungsergänzungen – der 1810 vom Kongress beschlossene Zusatz zur Bundesverfassung („Titles of Nobility Amendment“) als „13. Amendment“ aufgeführt wurde (ibid., 46) – Ausdruck einer auch zwölf Jahre nach seiner Verabschiedung durch den Kongress weiterhin verbreiteten Überzeugung, dass dieses Amend­ ment angenommen sei, obwohl tatsächlich die erforderliche Zustimmung von drei Vierteln der Staaten nie erreicht worden war. Zur Geschichte dieses „napoleonischen“ Amendment und den Unklarheiten über seine Ratifizierung, vgl. Constitutional Documents of the United States of America, H. Dippel (Hrsg.), I, S. 90. Interessanterweise werden seit diesem fiktiven „13. Amendment“ die tatsächlichen Zusätze zur amerikanischen Bundesverfassung – auch rückwirkend bezüglich der ersten zwölf Zusätze – ausschließlich mit ihre Ordnungszahl zitiert. 22  Neuere wissenschaftliche Literatur zu Staples ist über die knappe Skizze von Patrick T. Conley, „Rhode Island’s Legal Luminaries, 1830–1860“, in: Rhode Island Bar Journal, 51 (2003), S. 9–11, 28–31, hier S. 10–11, hinaus nicht nachweisbar. 23  [Acts and Resolves] At the General Assembly of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, [1841–1842], [o. O., o.N., o. J.], S. 49. 24  Public Laws of Rhode Island, 1822, 63. Das gleiche Ordnungsprinzip hatte für den Digest of 1798 (Public Laws of Rhode Island, 1798, 76) gegolten mit Ausnahme der dort fehlenden „marginal notes“. 25  The Revised Statutes of the Commonwealth of Massachusetts, Passed November 4, 1835; To which are subjoined An Act in Amendment thereof, and an Act expressly to repeal the Acts which are consolidated therein, Both passed in February 1836; And to which are prefixed, The Constitutions of the United States and of the Commonwealth of Massachusetts. Printed and Published, by Virtue of a Resolve of Nov. 3, 1835; Under the Supervision and Direction of Theron Metcalf and Horace Man, Boston: Published by Dutton & Wentworth, State Printers, 1836, S. 55.

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sollte.26 Anders als in den bisherigen chronologischen Ordnungen sollte nun das geltende Gesetzesrecht systematisch angeordnet werden, wie das auch in europäischen Rechtskodifikationen der Fall war. Isaiah Thomas hatte 1788 erstmals in Massachusetts auf eigene Initiative eine derartige Kodifikation erstellt, die ebenso wie dann insbesondere die New Yorker Kodifikation von 182927 das Vorbild für die Massachusetts Kodifikation von 1836 wurde,28 auf die sich wiederum Staples bei der Vorlage seines Entwurfs ausdrücklich berief: „I present you the foregoing as an arrangement of the Statutes now in existence – conforming generally to the arrangement of the Statutes of Massachusetts.“29 Vergleicht man Staples Entwurf von 1841 im Einzelnen mit der Massachusetts Kodifikation von 1836, so fallen in der Tat die Parallelen ins Auge. Beide Kodifikationen bestanden aus vier Teilen: Öffentliches Recht, Privatrecht, Gerichte und Prozessrecht, Strafrecht, eine Rechtssystematik, wie sie letztlich Blackstone mit seiner Einteilung des Common Law vorgegeben hatte.30 Auch auf den nachfolgenden Ordnungsebenen setzten sich die Parallelen fort. So bestand zwar das Privatrecht in Staples Entwurf lediglich aus den beiden Titeln „Property and the alienation thereof“ und „Domestic Relations“, doch entsprachen diese den Titeln I und VII des zweiten Teils der Massachusetts Kodifikation. Deren Titel II–V finden sich angesichts der geringeren Regelungsdichte in dem ungleich kleineren Rhode Island bei Staples unter Titel I subsumiert. Dass jedoch der Titel VI „Of preventing frauds and perjuries in contracts and in actions founded thereon“ bei Staples fehlte, dürfte einer Unachtsamkeit geschuldet sein, da die Kodifikation von 1822 durchaus entsprechende Gesetze aufgewiesen 26  The Revised Statutes of the State of Rhode Island and Providence Plantations: To which are prefixed, the Constitutions of the United States and of the State. ­Published by Authority of the General Assembly, Providence: Sayles, Miller and Simons, 1857, S. iii. 27  The Revised Statutes of the State of New-York, passed during the years one thousand eight hundred and twenty-seven, and one thousand eight hundred and twenty-eight: To which are added, certain former acts which have not been revised, 3 Bde, Albany: Printed by Packard and Van Benthuysen, 1829. 28  Vgl. Ch. M. Cook, The American Codification Movement, S. 34–35, 132–143, 168–171. 29  Staples an die Kommission, undatiert [Anfang 1841] mit der Vorlage seines Entwurfs, Rhode Island Historical Society, Providence, R.I., MSS 9004: Rhode Island Manuscripts, Bd. 10, S. 99: Revision of the statutes, 6. Febr. 1841. Die nachfolgenden Nachweise aus der Rhode Island Historical Society beziehen sich auf diesen Bestand. 30  Vgl. William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 4 Bde., Oxford 1765–1769. Weitere Auflagen und zahllose Nachdrucke, insbesondere in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, bis heute.



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hatte, die jeweils 1798 beschlossen worden waren,31 die aber nun in Staples Entwurf fehlten. Eine Gegenüberstellung der Teile III und IV beider Kodifikationen lässt ebenso die letztlich in der Natur der Sache liegende Parallelität der Anordnung erkennen, selbst wenn es die eine oder andere Abweichung im Detail gibt, die eher in der unterschiedlichen Gesetzeslage beider Staaten als in inhaltlichen Differenzen begründet ist. Eine deutlichere Abweichung in der Anordnung ergibt sich erst mit der Kodifikation von 1857, die auf die Einteilung in die vier Blackstoneschen Teile verzichtete, so dass die Titel­ anordnung mitunter freier ist. So findet sich etwa der Titel „Of the Militia“ – Teil I, Titel IV in der Massachusetts Kodifikation von 1836 und Teil I, Titel V in Staples Entwurf von 1841 – in der Rhode Island Kodifikation von 1857 erst als Titel XXXIV ganz am Ende der Sammlung, obgleich die Gesamtzahl der Titel durchaus der von Massachusetts 21 Jahre zuvor vergleichbar ist. Eine bemerkenswerte Abweichung des Entwurfs von Staples sowohl von der Massachusetts Kodifikation von 1836 als auch der nachfolgenden Rhode Island Kodifikation von 1857 offenbart sich erst, wenn man die ersten Titel des ersten Teils des Entwurfs von Staples mit den Anfängen der beiden genannten Kodifikationen vergleicht. Bereits dieser Vergleich verdeutlicht, warum sich der Staplesche Entwurf als eine Ersatz-Verfassung, als der Versuch begreifen lässt, angesichts des Unvermögens, auf einem politischen Weg zu einer Verfassung zu kommen, die Kodifizierung der Gesetze des Staates zu nutzen, um – ähnlich wie das schon 1798 unternommen worden war – zu einer Art Verfassungsäquivalent auf dem Wege der normalen Gesetzgebung zu gelangen. Es war nicht allein die Wortwahl von Staples, die Anklänge an eine Verfassung suggerieren sollte. So nannte er seinen ersten Teil „Of the State Government and the Administration thereof“.32 Der entsprechende Teil in der Massachusetts Kodifikation von 1836 hatte dagegen deutlich gesetzesspezifischer „Of the Internal Administration of the Government“ geheißen. Noch eklatanter werden die Unterschiede mit den beiden Kapiteln des ersten Titels. Lauteten diese 1836 in Massachusetts „Of the jurisdiction of the Commonwealth, and of the concurrent jurisdiction of the United States over places ceded by the Commonwealth“ (Kap. 1) und „Of statutes and legislative proceedings“ (Kap. 2), so dachte Staples deutlich stärker in Kategorien einer Verfassung und formulierte „Of the jurisdiction and civil divisions of 31  Public

Laws of Rhode Island, 1822, S. 343, 366. Titelzitate beziehen sich im Folgenden auf die Ausgaben der genannten Kodifikationen. Staples Entwurf ist erstmals abgedruckt in Constitutional Documents of the United States of America, H. Dippel (Hrsg.), V, S. 437–450. 32  Alle

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the State“ (Kap. 1) bzw. „Of the rights of the inhabitants of this State“ (Kap. 2). Daran schloss sich bei Staples ein vollends spezifischer Verfassungstitel „Of the General Assembly“ an, der in der Massachusetts Kodifikation ebenso wie in der Rhode Island Kodifikation von 1857 angesichts des Vorhandenseins einer Verfassung naturgemäß fehlen musste. Stattdessen war es in der Massachusetts Kodifikation weitergegangen mit dem Titel über Wahlen, der bei Staples als Titel III folgte. Die eigentliche Originalität Staples, die seinen Entwurf eindeutig als den Versuch ausweist, eine Ersatz-Verfassung in Zeiten der Not zu schaffen, liegt mithin in seinen ersten drei Kapiteln begründet, die es näher zu betrachten gilt. Das gesamt erste Kapitel über die Einteilung des Staates in Counties und Städte hatte Staples selbst geschrieben und der Vollständigkeit halber vorangesetzt, wie es bereits in Massachusetts 1836 geschehen war, und wie es die Rhode Island Kodifikation von 1857 übernehmen sollte. Staples zweites Kapitel bestand aus der Übernahme der Ersatz-Menschenrechtserklärung von 1798 und des Gesetzes über die Religionsfreiheit samt seiner späteren Amendierung. Angesichts bestehender Verfassungen fehlte dieses Kapitel zwangsläufig in der Massachusetts Kodifikation von 1836 wie in der späteren von Rhode Island von 1857. Staples Kapitel 3 über die General Assembly bestand aus neun Absätzen, wobei er für die Absätze sechs bis neun die entsprechenden Absätze des „Act to provide for the performance of the duties of the Governor in certain cases, and also for regulating the sitting of the General Assembly“ zurückgriff, das in seinen Ursprüngen auf 1663 zurückging und bis 1822 immer wieder verändert und ergänzt worden war.33 Die ersten fünf Absätze fügte hingegen Staples eigenhändig ein: Sect. 1. The Legislative powers of the State shall continue to be vested in the General Assembly, composed of the Senate and the House of Representatives. Sect. 2. There shall be two stated sessions of the General Assembly holden each year, one on the first Wednesday in May at Newport, and the other on the last Wednesday in October. The next stated session in October shall be holden at South Kingstown, the next after at East Greenwich, the next after that at South Kingstown and the next after that at Bristol, and so continue to be holden alternately at those towns. The adjournments from the stated October session shall be holden at Providence. Sect. 3. The Senate shall consist of the Governor, Lieutenant Governor and the Senators. The Governor shall preside in the Senate, and in his absence the Lieutenant Governor, and in the absence of both Governor & Lieutenant Governor the Senior Senator present[.] The Senate shall set apart from the Representatives, and debate and vote in all public affairs of the State. 33  Vgl.

dazu Public Laws of Rhode Island, 1822, S. 99–101.



Rechtskodifikation als Verfassungsersatz: Das Beispiel Rhode Island47 Sect. 4. The house of Representatives shall consist of the Representatives of the several towns. They shall set debate and vote by themselves in all public affairs, and shall elect their speaker and two clerks. Sect. 5. The Senate and the house of Representatives shall join in grand committee in such cases as are prescribed by law, and may at any other times when they see cause, and when so joined shall set and vote together. In such cases the presiding officer of the senate shall preside, and shall have only the casting vote.34

Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich im strengen Wortsinn um Bestimmungen handelt, deren konstitutiver Ort die Verfassung ist. Hingegen drückt der Verweis auf das Gesetz von 1663 lediglich aus, dass diese Fragen in einem Staat geregelt sein müssen. Doch der Platz, dieses zu tun, ist die Verfassung. Nur wo eine Verfassung fehlt, bleibt kein anderer Weg als der der normalen Gesetzgebung. Folglich fehlten derartige Bestimmungen unter den Gesetzen von Massachusetts im Jahre 1836 ebenso wie in Rhode Island im Jahre 1857, da sie an entsprechender Stelle in die jeweilige Verfassung aufgenommen worden waren. Rhode Islands erste, 1843 in Kraft getretene Verfassung hat konsequenterweise diese Bestimmungen aufgegriffen und inkorporiert. Die obigen Absätze 1 und 2 finden sich dort in leicht abgewandelter Form im einschlägigen vierten Artikel wieder: Sect. 2. The Legislative power under this Constitution, shall be vested in two Houses, the one to be called the Senate, the other the House of Representatives; and both together the General Assembly. The concurrence of the two Houses shall be necessary to the enactment of laws. The style of their laws shall be, It is enacted by the General Assembly as follows. Sect. 3. There shall be two sessions of the General Assembly holden annually; one at Newport, on the first Tuesday of May, for the purposes of election and other business; the other on the last Monday of October, which last session shall be holden at South Kingstown once in two years and the intermediate years alternately at Bristol and East Greenwich; and an adjournment from the October session shall be holden annually at Providence.

Aus Absatz 3 wurden in der Verfassung die beiden folgenden Absätze in Artikel VI: Sect. 1. The Senate shall consist of the Lieutenant Governor and of one Senator from each town or city in the State. Sect. 2. The Governor, and, in his absence, the Lieutenant Governor, shall preside in the Senate and in grand committee. The presiding officer of the Senate and grand Committee shall have a right to vote in case of equal division, but not otherwise. 34  Zitiert nach dem Manuskript des Entwurfs in der Rhode Island Historical Society. Vgl. den Abdruck in Constitutional Documents of the United States of America, H. Dippel (Hrsg.), V, S. 438.

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Aus Absatz 4 wurden die beiden Absätze des fünften Artikels: Sect. 1. The House of Representatives shall never exceed seventy two members, and shall be constituted on the basis of population, always allowing one Representative for a fraction exceeding half the ratio; but each town or city shall always be entitled to at least one member; and no town or city shall have more than one sixth of the whole number of members to which the House is hereby limited. The present ratio shall be one representative to every fifteen hundred and thirty inhabitants, and the General Assembly may, after any new census taken by the authority of the United States or of this State, re-apportion the representation by altering the ratio; but no town or city shall be divided into districts for the choice of representatives. Sect. 2. The House of Representatives shall have authority to elect its speaker, clerks, and other officers. The senior member from the town of Newport, if any be present shall preside in the organization of the House.

Der Absatz 5 war hingegen fragmentiert worden. Für einen Teil seiner Bestimmungen stand nun aus dem Artikel IV bereit: Sect. 18. It shall be the duty of the two Houses upon the request of either, to join in grand committee for the purpose of electing Senators in Congress, at such times and in such manner as may be prescribed by law for said elections.35

Für den Rest galt der oben bereits erwähnte 2. Absatz aus Artikel VI. In diesen Kapiteln II und III des Entwurfs wird mithin die Absicht Staples deutlich, in dem andauernden, doch seit einem halben Jahrhundert immer wieder gescheiterten Bemühen um eine Verfassung, mit Hilfe der Rechtskodifikation eine Art Ersatz-Verfassung zu schaffen. Angesichts der bislang fehlenden modernen Verfassung Rhode Islands mit der Konsequenz, dass durch Gesetze Dinge geregelt werden mussten, die im modernen Verständnis Bestandteil von Verfassungen sind, gab es eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen, auf die Staples in seinem Entwurf verwies und die sich in der Folge in der Verfassung wiederfanden. Als Beispiel sei lediglich die Wahlrechtsqualifikation genannt, die von 1663 bis zur jüngsten Amendierung von 1822 das „Act regulating the manner of admitting freemen, and directing the method of electing officers in this State“ in seinem zweiten Absatz regelte.36 Staples fügte es unter „Elections“ (Titel III) in Kapitel 5 ein. In der Verfassung von 1842 tauchte der Zensus von $134 dann unter Artikel II, Absatz 1 auf.37 Staples Entwurf für die Rechtskodifikation in Rhode Island konnte das Verfassungsproblem Rode Islands nicht lösen; dieses sollte erst in der Krise 35  Alle

Zitate aus der Verfassung von 1842, ibid., V, S. 487–489. Laws of Rhode Island, 1822, 90, vgl. das ganze Gesetz, ibid., S. 89–98. 37  Vgl. Constitutional Documents of the United States of America, hrsg. v. H. Dippel, V, S. 485. 36  Public



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der folgenden 24 Monate geschehen, die Hundeshagen eingangs angedeutet hatte. Aber Staples versuchte angesichts des Fehlens einer modernen Verfassung und einer innenpolitischen Situation, die eher von Stagnation und Immobilität geprägt schien, die Möglichkeiten der Rechtskodifikation so weit auszuschöpfen, dass das Ergebnis eine Ersatz-Verfassung darzustellen vermochte. Damit war Staples zugleich an seine Grenzen gestoßen, die sein Scheitern nur konsequent erscheinen ließen. Die politischen Kernfragen, an denen sich Reformer und Beharrer stießen, ohne eine für beide akzeptable Lösung zu finden, die Repräsentationsfrage und der Wahlzensus,38 konnte auch Staples nicht lösen, sondern lediglich die bestehende Rechtslage fortschreiben. Das mag auch die von der General Assembly eingesetzte Kommission so gesehen haben. Ende Januar 1841 hatte die Legislative beschlossen, für November einen Verfassungskonvent einzuberufen.39 In dieser abrupt veränderten politischen Situation blieb der Kommission nichts anderes, als Staples am 6. Februar 1841 mitzuteilen, dass nach ihrer Überzeugung „it would not be expedient to adopt the system of which an outline is here given, but that the old arrangement with perhaps some improvements and a good index would answer the purpose better than the one here proposed“.40 So gesehen scheiterte Staples Entwurf einer Rechtskodifikation als Verfassungsersatz von 1841 an der Verfassung, die da kommen sollte. Dass diese Verfassung dann so nicht kam und es statt dessen um die Jahreswende 1841 / 42 gleich zwei konträre Verfassungen geben sollte, gefolgt von einem Fast-Bürgerkrieg und einer dritten Verfassung, die schließlich Anfang 1843 in Kraft treten konnte, ist eine andere Geschichte. Für Staples hieß das: „The adoption of the State constitution together with the laws made since his revisal, will, as he apprehends, render much of his former work of little value.“41 Eine Rechtskodifikation als Verfassungsersatz machte in dieser Situation keinen Sinn mehr, und Staples arbeitete folglich eine neue Kodifikation aus, „to be arranged in proper order, with a copious index, and proper notes at the commencement of each act“, die dann 1844 erscheinen konnte.42 38  Vgl. dazu Jacob Frieze, A Concise History of the Efforts to Obtain an Extension of Suffrage in Rhode Island, From the Year 1811 to 1842, Providence 1842. 39  Vgl. Elisha R. Potter, Considerations on the Questions of the Adoption of a Constitution, S. 15. 40  Kommission an Staples, 6. Febr. 1841, Rhode Island Historical Society. 41  Staples an General Assembly, January Session 1843, Rhode Island Historical Society. 42  Public Laws of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, Revised by a committee, and finally enacted by the General Assembly at their session in January, 1844. To which are prefixed The Charter of Charles II., Declaration of

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Die nahezu ein halbes Jahrhundert währende Episode, in Rhode Island auf dem Wege der Rechtskodifikation eine Ersatz-Menschenrechtserklärung und eine Ersatz-Verfassung zu schaffen, war beendet. Es ging in diesem Fall, anders als in Europa nach dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 oder dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811, nicht um eine retrospektive Diskussion, ob die erfolgte Rechtskodifikation als Verfassung verstanden werden könne und ob eine derartige Wertung methodologisch, terminologisch und inhaltlich zulässig sei. Vielmehr ging es in einer amerikanischen Situation, die nicht die Verfassungsfeindlichkeit der restaurativen Kräfte im zeitgenössischen Europa kannte, in der aber die Durchsetzung einer Verfassung politisch an entgegenstehenden materiellen Interessen scheiterte, darum, eine Ersatz-Verfassung, einschließlich einer Menschenrechtserklärung, auf dem Wege der Rechtskodifikation einzuführen, um auf diese Weise ein Mindestmaß an Äquivalenz zu einer politisch nicht durchsetzbaren Verfassung sicherzustellen, indem sie die politisch strittigen Fragen ausklammern konnte. Dass das, was 1798 Erfolg hatte, 1841 scheitern musste, hatte viele Gründe. Ein nahe liegender Verweis zielt auf die sich zuspitzende politische Krise in Rhode Island. Doch die tiefer liegenden Gründe sind in den Veränderungen des amerikanischen Rechtsdenkens und der Auffassungen von der Funktion von Recht zu sehen, die in diesen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten nach dem Ableben der Gründergeneration und angesichts des sozioökonomischen Wandels stattfanden. Nicht nur hatte der Wandel von der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts zur Handels- und Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts seine Konsequenzen, die auch vor dem Recht, seinem Verständnis und seiner Funktion nicht halt machten.43 Hinzu kam die Woge der Jacksonischen Demokratie, die seit den 1830er Jahren Amerika überzog und ohne die die „Dorr-Rebellion“ kaum denkbar gewesen wäre, die Veränderungen mit sich brachte, die das, was noch 1798 praktikabel gewesen war, zu Beginn der 1840er Jahre als längst nicht mehr zeitgemäß erscheinen ließ. Auch Staples musste erkennen, dass man zwar einige Menschenrechte 1798 per Gesetz dekretieren konnte, aber die ForderunIndependence, Resolution of General Assembly to support the Declaration of Independence, Articles of Confederation, Constitution of the United States, Proceedings of the Convention on the adoption of the Constitution of the United States by Rhode-Island, President Washington’s Address of September, 1796, and Constitution of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, Providence: Printed and published by Knowles & Vose, 1844, S. 60. 43  Zu diesem Wandel ausführlich K. M. Parker, Common Law, History, and Democracy in America, besonders S. 117–167. Aus der älteren Literatur insbes. Morton J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1780–1860, Cambridge, Mass. und London 1977.



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gen der Demokraten nach Gewaltentrennung, Gleichheit der Repräsentation und allgemeinem Männerwahlrecht ließen sich weder durch eine Rechtskodifikation umsetzen noch durch ihr Ausklammern ungeschehen machen. Insofern war 1841 das Scheitern dieses Versuches zwangsläufig. In dem Maße, in dem das Recht, statt der Bewahrung der Vergangenheit zu dienen, für die neuen wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert werden sollte, waren Rechtskodifikationen kein Mittel mehr, politische Grundsätze der Gründerzeit festzuschreiben. Nicht Aufarbeitung der Vergangenheit war gefragt, sondern die Bewältigung der Zukunft. Diese Anforderungen überstiegen die Möglichkeiten einer Rechtskodifikation, deren Aufgabe es war, altes Recht festzuschreiben, statt neues Recht zu setzen. Abstract Codification as Ersatz-Constitution: The Case of Rhode Island As the former charter colony, in 1776 and subsequent years, refused to join the other American states in drafting a constitution, the struggle for a modern constitution characterized the first seven decades of Rhode Island statehood. In spite of dramatic social and economic changes every political attempt from the 1770s through the 1830s to achieve a constitution was doomed to fail. In this situation, codification or revision of the statute law was twice used to introduce a minimum of modern constitutional features in Rhode Island. The Digest of 1798 was prefixed with „An Act declaratory of certain Rights of the People of this State“, containing ten sections which were verbatim copied from existing declarations of rights of other American states, and the Bill of Rights of the U.S. Constitution, respectively, and a second act declaring religious freedom. This Ersatz-Bill of Rights continued to be Rhode Island law until 1843 when it was elevated to form part of the Rode Island constitution. A second attempt to achieve an Ersatz-Constitution failed in 1841. The proposal to include constitutional provisions in the new law digest failed to be enacted at the very moment the call for a new constitutional convention intervened. Once the constitution established after months and years of a deep political crisis which led the state to the brink of a civil war, the Revised Statutes of 1844 restrained from any analogy to constitutional features. Superficially fallen victim to political developments in 1841–42, the attempt to arrive at an Ersatz-Constitution in 1841 came to nothing, as it had become obvious that codification of existing statute law was no way to solve the lingering fundamental political problems of the state and to make it fit for the challenges of a dramatically altered environment. The modernizing impulse of European codifications failed to translate to the American world.

Gesetzgebungsgrundsätze in der Praxis bei Franz von Zeiller und Joseph Schuppler Elisabeth Berger I. Allgemeines zur Gesetzgebungslehre Die Gesetzgebungslehre, die sich mit der Sprache sowie mit der Anzahl, Abänderung und Systematik von Gesetzen befasst, wurde an den Universitäten der Habsburgermonarchie im Rahmen der „Lehre vom Geschäftsstil“ entwickelt.1 Insbesondere Joseph von Sonnenfels2, Georg Scheidlein3 und Franz von Zeiller4 erwarben sich große Verdienste um die Ausbildung einer Gesetzgebungstheorie. Bei der Anwendung der Gesetzgebungsgrundsätze in der Praxis tat sich insbesondere Franz von Zeiller hervor, und zwar zum einen bei der Kodifikation des Strafrechts und zum anderen bei der Ausarbeitung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811.5 Zeillers Überlegungen zur Gesetzgebungslehre stellen einen gewichtigen Teil der Kodifikationsarbeiten dar. Mit der Arbeit an dem „Civil-Codex“ war Franz von Zeiller viele Jahre lang beschäftigt: 1801 wurde er als Referent der Hofkommission in Gesetzgebungssachen zugeteilt. Im selben Jahr und damit zum Beginn der 1. Lesung des sogenannten „Urentwurfs“ zum 1  Vgl. hierzu Wilhelm Brauneder, Gesetzeskenntnis und Gesetzessprache in Deutschland von 1750 bis 1850 am Beispiel der Habsburgermonarchie, in: W. Braun­ eder, Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt / Main etc. 1994, S.  519 ff. 2  Joseph von Sonnenfels, Ueber die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771, IV. Hauptstück, S.  52 ff.; Joseph von Sonnenfels, Über den Geschäftsstil, Wien 2. Aufl. 1785. Zu ihm vgl. Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Juristen in Österreich, Wien 1987, S.  82 ff., 355 ff.; Wilhelm Brauneder, in: M. Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon: Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S. 577 ff.; Gerd Kleinheyer / Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, Heidelberg 5. Aufl. 2008, S. 392 ff. 3  Georg Scheidlein, Erklärungen über den Geschäftsstil, Wien 1794. 4  Zu ihm W. Brauneder, Juristen, S. 97 ff., 374; Gerald Kohl, Franz von Zeiller (1751–1828), in: M. Stolleis (Hrsg.), Juristen, S. 687 ff.; G. Kleinheyer / J. Schröder (Hrsg.), Juristen, S. 477 ff. 5  Franz v. Zeiller, Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten, Bd. I, Wien 1806, S. 89 ff.

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ABGB sowie 1807 – in Zusammenhang mit dem Revisionsentwurf – äußerte er sich zur „inneren“ und „äußeren“ Güte der Gesetzgebung.6 Auch in seinem großen ABGB-Kommentar, erschienen von 1811–1813, waren „Allgemeine, in der Bearbeitung des Gesetzbuches zum Grunde gelegte, Betrachtungen“ enthalten, die die Grundsätze einer guten Gesetzgebung ausführlich erläuterten.7 In seinem sogenannten „2. Kommentar“ aus den Jahren 1816–1822, bezog er nochmals umfassend zum ABGB Stellung, indem er die diesem zugrundeliegenden Rechtsprinzipien erläuterte.8 Die von Zeiller entwickelten Grundsätze einer guten Gesetzgebung lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe betrifft den Inhalt der Gesetze, d. h. deren „innere Güte“: dazu zählen die Forderungen nach gleicher Gerechtigkeit, Gleichförmigkeit, Übereinstimmung mit anderen Teilen der Rechtsordnung, Vollständigkeit sowie Angemessenheit in Hinblick auf die Staatsverhältnisse. Die zweite Gruppe betrifft die Form der Gesetze, d. h. deren „äußere Güte“: dazu zählen ein logischer Aufbau, eine präzise Sprache, die sich kurzer und knapper Formulierungen bedient, sowie die gehörige Kundmachung. II. Die Gesetzgebungsgrundsätze in der Praxis bei Franz von Zeiller 1. Gleiche Gerechtigkeit Laut Zeiller bedeutet der Grundsatz, wonach „die bürgerlichen Gesetze gegen Alle gleich gerecht seyn müssen“, dass die „gleiche Gerechtigkeit“ keinen Unterschied der Geburt, der Religion, des Alters, Ranges oder Standes kennt.9 Der Befolgung dieses Grundsatzes entspricht im ABGB z. B. § 16 betr. die Rechtsfähigkeit jedes Menschen, § 17 betr. die Fortdauer der Geltung des Naturrechts soweit diese nicht beschränkt ist, und § 18 betr. den Rechtserwerb durch jedermann. Weiters folgen diesem Grundsatz auch 6  Vgl. hierzu Julius Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. I, Wien 1889, S. 1 ff.; Bd. II, Wien 1889, S. 329 ff. 7  Franz von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie, Bd. I, Wien-Triest 1811, S. 12 ff. Weiters finden sich dessen Überlegungen auch in: Franz v. Zeiller, Grundsätze der Gesetzgebung 1806 / 09, in: E. Wolf (Hrsg.), Deutsches Rechtsdenken, Heft 14, Frankfurt / Main 1944. 8  Wilhelm Brauneder  / Elisabeth Berger (Hrsg.), Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie. Vom Hofrath von Zeiller, Innsbruck 2. Aufl. 2011. 9  F. v. Zeiller, Commentar, I, S. 12 ff.; J. Ofner, Ur-Entwurf, II, S. 468.



Gesetzgebungsgrundsätze in der Praxis bei Zeiller und Schuppler55

die im ABGB verankerte Freiheit der Eheschließung und jene des Eigentumserwerbs. Im Einklang damit sind zudem diverse Einschränkungen der persönlichen Rechtsmacht zu verstehen, z. B. bei Minderjährigen oder Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben; sie stehen – um die gleiche Gerechtigkeit zu bewahren – unter dem besonderen Schutz der Gesetze. 2. Gleichförmigkeit Da das bürgerliche Gesetzbuch die „Privatrechte der Bürger“ zum Gegenstand hat, müssen diese „gleichartig“ sein.10 Das schließt die Gerichtsordnung, also das Verfahrensrecht, ebenso aus wie das Strafrecht und die politischen Gesetze und Verordnungen. Insbesondere letztere sind von der Staatsmacht abhängig, daher „zufällig und veränderlich“ und können „weder gleiche Rechte, noch gleiche Verbindlichkeiten“ begründen. Zeiller wollte mit der Ausscheidung solcher Normen aus dem Zivilgesetzbuch dessen Autonomie von der Staatsgewalt sicherstellen und empfahl daher, sich auf Verweisungen zu beschränken. Tatsächlich enthielt das ABGB von 1811 88 solcher Verweisungen, davon 30 auf politische Gesetze und Verordnungen.11 Damit bewahrte das ABGB zwar für sich den Grundsatz der Gleichförmigkeit, öffnete aber über die Verweisungen zugleich ein Einfallstor z. B. für ständische Differenzierungen, indem etwa der Familienfideikommiss zum adeligen Rechtsinstitut erklärt wurde. 3. Übereinstimmung und Vollständigkeit Die bürgerlichen Gesetze müssen sowohl unter sich als auch mit dem ganzen System der Gesetzgebung übereinstimmen.12 Da sich das bürger­ liche Gesetzbuch, wie dessen Name schon sagt, auf die „Privatrechte der Bürger“ zu beschränken hatte, musste es diesen möglich sein, daraus den ganzen Umfang ihrer Privatrechte zu entnehmen. Laut Zeiller werden Zweifel daran dadurch außer Kraft gesetzt, dass „das Recht auf festen und unveränderlichen Regeln beruhet, die aus höheren und allgemeinen, somit für alle möglichen Fälle ausreichenden Grundsätzen zurück abgeleitet sind“. Damit war der Kodifikationscharakter des ABGB festgelegt, das ebenso wie der Code civil die unbedingte Rechtseinheit im Privatrecht brachte. Einheit10  F.

v. Zeiller, Commentar, I, S. 15 ff.; II, S. 468 f. Brauneder, Über die Geschlossenheit der Kodifikation: Die Verweisungen im ABGB, in: P. Caroni/E. Dezza (Hrsg.), L’ABGB e la Codificazione ­Asburgica in Italia e in Europa, Padua 2006, S. 1 ff. 12  F. v. Zeiller, Commentar, I, S. 20 ff.; J. Ofner, Ur-Entwurf, II, S. 469. 11  Wilhelm

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liche Auslegungs- und Lückenfüllungsregeln in den §§ 6 und 7 ABGB sowie die Monopolisierung der authentischen Interpretation beim Gesetzgeber in § 8 ABGB standen damit im Einklang. 4. Angemessenheit in Hinblick auf die Staatsverhältnisse Während Zeiller die vorangegangenen Grundsätze zu den absolut erforderlichen Eigenschaften jedes bürgerlichen Gesetzbuches zählte, erachtete er es als relative Bedingung, dass die bürgerlichen Gesetze „den besonderen Verhältnissen der Staaten angemessen seien“.13 Er meinte damit die Verschiedenheit z. B. des Klimas, der Bevölkerung, der Religion, der Verfassung, der Kultur etc., die in Einzelfällen Modifikationen des Gesetzestextes erforderlich machen könnten. So könnte z. B. der Entwicklungsstand der Bevölkerung für die Ausgestaltung des Familien- oder Erbrechts eine Rolle spielen. 5. Form, Darstellung und Kundmachung Für Zeiller gehören die „angemessene Form, Darstellung und Bekanntmachung“ zur äußeren Form der Gesetze.14 Mit der Erfüllung dieser Formvorschriften sollte es möglich sein, sich „eine genaue Kenntnis und leichte Übersicht der Gesetze zu verschaffen“. Dies galt laut Zeiller jedenfalls für den „gebildeteren Bürger“, bei dem man „die Elementarbegriffe vom Rechte voraussetzen kann“.15 Zur Erleichterung der Übersicht und des Verständnisses erstellte Zeiller ein Register und arbeitete für das ABGB Marginalrubriken bzw. Randschriften aus, die in einzelnen Worten, zum Teil aber auch in fortlaufenden Sätzen oder Aufzählungen den Inhalt des Gesetzestextes verdeutlichen.16 Dem Zweck, dass niemand sich mit der Unkenntnis der Gesetze entschuldigen kann, dient das Gebot der „gehörigen Kundmachung“ in § 2 ABGB. Auch ohne ausdrücklichen Verweis wurde die Art und Weise der Kundmachung den politischen Gesetzen überantwortet. Damit bewahrte das ABGB den Grundsatz der Gleichförmigkeit, indem es die höchst unterschiedlichen Kundmachungsanordnungen außerhalb des Gesetzbuches beließ. Hinsichtlich der Kundmachungserfordernisse bestanden nämlich sowohl Unterschiede zwischen Stadt und Land als auch zwischen großen und kleinen Städten. 13  F.

v. Zeiller, Commentar, I, S. 23 f.; J. Ofner, Ur-Entwurf, II, S. 469. Ofner, Ur-Entwurf, II, S. 469 f. 15  W. Brauneder, Gesetzeskenntnis, S. 523 ff. 16  Ibid., S.  535 ff. 14  J.



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Insbesondere musste auf die Alphabetisierungsrate in der Bevölkerung Bedacht genommen werden, lag doch der Anteil der Analphabeten in ländlichen Gegenden bei bis zu 45 %.17 Die unterschiedlichen Kundmachungsarten entfielen erst mit der Einführung der Reichs- und Landesgesetzblätter, die ab 1849 / 50 für die „gehörige Kundmachung“ der Rechtsnormen sorgten. 6. Sprache und Kürze Josef II. war als künftiger Kaiser und Landesfürst in seinem Rechtsunterricht darüber belehrt worden, dass Gesetze „in einer verständlichen Sprache kurz und deutlich abgefasst“ sein sollen.18 Diesen elementaren Grundsatz der Gesetzgebungslehre wiederholte Franz von Zeiller 1801, indem er auf die dafür erforderliche legistische Arbeitsweise hinwies. Kürze und Deutlichkeit könnten demnach „durch eine natürliche Ordnung, durch Absonderung der in andere Zweige der Legislation gehörige Vorschriften, Vereinfachung der Rechtssätze und Vermeidung von Wiederholungen“ erreicht werden.19 Die Beachtung dieser Grundsätze sowie das Bestreben nach Verständlichkeit und präziser Ausdrucksweise führten im Laufe der Arbeiten an der österreichischen Zivilrechtskodifikation zu einer beträchtlichen Umfangreduktion. Schon der Entwurf Horten aus 1771 wies gegenüber dem Codex Theresianus aus 1766 eine Textreduktion um mehr als 60% auf und bis zum Ende der Gesetzgebungsarbeiten erfolgte nochmals eine Straffung des Gesetzestextes um mehr als 50%.20 Sozusagen ein Spezialproblem der Gesetzessprache bildeten in der mehrsprachigen Habsburgermonarchie die Übersetzungen der Gesetzestexte.21 Schon Joseph II. war dahingehend unterrichtet worden, dass die Rechtsnormen in der landesüblichen Sprache und nicht in einer fremden oder gar toten Sprache abgefasst sein sollten, um von den Untertanen verstanden zu werden. Was das ABGB betraf, so war es für Zeiller selbstverständlich, dass „das Gesetzbuch in alle, in den Provinzen, für die es bestimmt ist, üblichen Sprachen zu übersetzen sei“.22 Zu übersetzen war der deutsche Text, der als „Urtext“ den Übersetzungen zugrundelag. Dies deshalb, weil der deut17  Ibid.,

S. 522. v. Zeiller, Grundsätze, S. 36; J. Ofner, Ur-Entwurf, II, S. 475. Vgl. hierzu W. Brauneder, Gesetzeskenntnis, S. 527 ff. 19  J. Ofner, Ur-Entwurf, I, S. 8. 20  Wilhelm Brauneder, Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie von 1811, in: Gutenberg-Jahrbuch, 62. Jhg., Mainz 1987, S. 211 ff. 21  W. Brauneder, Gesetzeskenntnis, S. 538 ff. 22  F. v. Zeiller, Grundsätze, S. 22. 18  F.

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schen Sprache der Vorrang als allgemeine Verständigungssprache zukam, da sie die am weitesten verbreitete und die am weitesten entwickelte Sprache in der Habsburgermonarchie war. Schon von allen Vorarbeiten zum ABGB waren Übersetzungen angefertigt worden, so gab es z. B. vom Teil-ABGB 1786 schon im Jahr darauf zwei Übersetzungen ins Tschechische sowie eine ins Italienische. Als dann 1811 die vollständige Kodifikation, das ABGB, vorlag, löste dies geradezu eine Welle von Übersetzungen aus. Schon 1810 war die erste Übersetzung ins Polnische fertiggestellt, 1812 lagen Übersetzungen ins Tschechische, Rumänische und Lateinische vor, ab 1814 folgten mehrere italienische Fassungen. Damit war das ABGB schon drei Jahre nach seiner Fertigstellung in die wichtigsten Sprachen Cisleithaniens übersetzt worden. Damit sollte zum einen die Rechtskenntnis der nichtdeutschen Bevölkerung sichergestellt werden und zum anderen dafür gesorgt werden, dass auch im Ausland von der österreichischen Gesetzgebung Kenntnis genommen werden konnte. III. Die Gesetzgebungsgrundsätze bei Joseph Schuppler 1. Souveränität und Modernisierung Liechtensteins In der Tat sollte sich der österreichische Kodifikationsprozess auf die ausländische Zivilgesetzgebung auswirken. Der erste Staat, bei dem das der Fall war, war das Fürstentum Liechtenstein, das damals allerdings nicht an das Kaisertum Österreich grenzte, weil Tirol und Vorarlberg von 1805–1816 zum Rheinbundstaat Bayern gehörten. In Zusammenhang mit dem Erwerb seiner Souveränität 1806 erlebte das Fürstentum einen radikalen Modernisierungsschub, der einem völligen Umsturz der überkommenen Verhältnisse gleichkam. Die mit dem Ausscheiden Liechtensteins aus dem Reichsverband verbundene Beendigung der Wirksamkeit der Reichsverfassung veranlasste den vom josephinischen Spätabsolutismus geprägten Fürst Johann I.23, Maßnahmen für eine Neugestaltung der Verfassung, eine Rationalisierung der Verwaltung sowie eine Intensivierung der Herrschaftsausübung zu treffen. Seine sich am „österreichischen Absolutismus“ orientierende Reformtätigkeit verfolgte primär den Zweck, die teilweise noch archaisch anmutenden Zustände im Fürstentum den Verhältnissen in den übrigen liechtensteinischen Herrschaften anzugleichen.24 23  Siehe zu ihm Georg Schmidt, Fürst Johann I., (1760–1836): „Souveränität und Modernisierung“ Liechtensteins, in: V. Press / D. Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung. Geschichtliche Grundlagen und moderne Perspektiven, Vaduz-München 2. Aufl. 1988, S. 383 ff. 24  Vgl. dazu Paul Vogt, Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreformen im Fürstentum Liechtenstein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des



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Den fürstlichen Reformbestrebungen, die auf der durch die Rheinbund­ akte gewährten Alleinherrschaft des modernen Souveräns beruhten, fielen neben dem „Landsbrauch“ und den überlieferten Rechtsgewohnheiten auch die Einrichtungen der alten Landesverfassung zum Opfer, wie die beiden Landschaften, die Landammänner und die Gerichtsgemeinden. Wie seine Rheinbundkollegen demonstrierte der Regent auf diese Weise seine nahezu uneingeschränkte innenpolitische Souveränität, der aufgrund des Wegfalls der Reichsverfassung weder die bis dahin unangetastete dualistische Herrschaftsstruktur noch die Reichsinstitutionen, wie insbesondere die Reichsgerichte, als Korrektiv entgegenstanden. Die „Staatswerdung“ Liechtensteins wurde den Untertanen somit weniger mit der Aufnahme des Landes in den Rheinbund bewusst, als vielmehr durch die 1808 in Gang gesetzte Verwaltungs- und Rechtsreform und zwar in recht drastischer Weise. Angeordnet und überwacht wurde deren Durchführung von der fürstlichen Hofkanzlei, der obersten Zentralbehörde in Wien. Die Verwirklichung des fürstlichen Reformwillens vor Ort oblag dem Landvogt, der als Repräsentant des Fürsten der lokalen Behörde, dem Oberamt in Vaduz, vorstand, die als allein dem Fürst verantwortliche Regierung und zugleich Gerichtsbehörde erster Instanz fungierte.25 2. Landvogt Joseph Schuppler als Gesetzesredakteur Als idealer Mann für das geplante Reformwerk wurde Joseph Schuppler aus Landskron in Mähren ausgewählt.26 Er war nach der Absolvierung eines Rechtsstudiums als Justiziär auf verschiedenen liechtensteinischen Herrschaften beschäftigt. Ihm traute man in der fürstlichen Hofkanzlei in Wien zu, die beabsichtigte Neuorganisation und Umgestaltung der rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse Liechtensteins im Sinne des Fürsten durchzuführen. Im Oktober 1808 wurde Joseph Schuppler daher zum Landvogt des Fürstentums Liechtenstein ernannt und mittels Dienstinstruktion beauftragt, nach dem Vorbild Österreichs eine ganze Reihe von Gesetzen auszuarbeiten, darunter auch ein Bürgerliches Gesetzbuch.27 Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 92, Vaduz 1994, S. 84 ff. Zu den Modernisierungsmaßnahmen des Fürsten siehe insbesondere G. Schmidt, Fürst Johann I., S. 407 ff. 25  Zum Oberamt vgl. ausführlich P. Vogt, Verwaltungsstruktur, S.  58 ff. 26  Zum Folgenden grundlegend: Elisabeth Berger (Hrsg.), Eine Zivilrechtsordnung für Liechtenstein. Die Entwürfe des Landvogts Joseph Schuppler, Frankfurt / Main etc. 1999; kurzgefasst: Elisabeth Berger, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Fürstentum Liechtenstein, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, Wien 2010, S. 179 ff. 27  „Dienstinstruktion für Landvogt Joseph Schuppler vom 7. Oktober 1808“, abgedruckt in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte,

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Obgleich es in Liechtenstein – infolge der Mitgliedschaft beim Rheinbund und dem dadurch bewirkten Einfluss französisch-napoleonischen Gedankenguts – nahegelegen hätte, sich bei der Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuchs am Code Napoleon zu orientieren, wurde der Landvogt angewiesen, sich die österreichischen Gesetze zum Vorbild zu nehmen. Dafür gab es eine Reihe von Gründen. Die geographische Nähe des Fürstentums zu Österreich, die auf den ersten Blick als Argument für eine Orientierung an nachbarschaftlich-österreichischen Verhältnissen nahe läge, spielte allerdings keine Rolle, da Liechtenstein in dem maßgeblichen Zeitraum den Rheinbundstaat Bayern zum Nachbarn hatte. Von ursächlicher Bedeutung für die Entscheidung zugunsten österreichischer Rechtsvorschriften war zweifellos das persönliche Naheverhältnis der Fürsten von Liechtenstein zu Österreich, galten sie doch als eine der bedeutendsten Adelsfamilien der Monarchie. Ein weiterer wesentlicher Aspekt war die Vertrautheit der fürstlichen Beamten mit dem österreichischen Recht und der österreichischen Rechtspraxis. Darüber hinaus ging es dem Fürst in erster Linie darum, zum Zweck der Rechtseinheit eine möglichst weitgehende „Gleichförmigkeit“ in seinem gesamten Herrschaftsbereich herzustellen.28 Der Landvogt-Instruktion ist klar zu entnehmen, dass nicht vorrangig an eine Rezeption österreichischer Gesetze gedacht war. Das ergibt sich explizit daraus, dass dem neuen Liechtensteiner Landvogt ausdrücklich aufgetragen wurde, sich zunächst „in die Känntniss der dortigen Landesrechten, Gebräuche, und Gewohnheiten“ zu setzen und in der Folge dem Fürst „die den Umständen angemessenen Gesetzes Vorschläge“ zu unterbreiten,29 wobei ihm die österreichischen Rechtsvorschriften lediglich als Vorlage dienen sollten. Für die Erledigung seiner gesetzgeberischen Aufgaben wurde dem Landvogt eine denkbar kurze Frist eingeräumt: Die Gesetze sollten bereits zum 1. Januar 1809 vorliegen! Das erste Resultat von Schupplers gesetzgeberischem Wirken war eine Erbfolgeordnung, die zu Jahresbeginn 1809 in Kraft trat. Bei deren Ausarbeitung hatte dem Landvogt, soweit es das gesetzliche Erbrecht betraf, das Josephinische Erbfolgepatent aus 1786 als Vorbild gedient, das er nahezu wortwörtlich übernahm. Dieses Erbfolgepatent war das erste Ergebnis der österreichischen Kodifikationsarbeiten gewesen, dem kurz darauf das sogenannte „Teil-ABGB“ folgte, das den ersten Teil der geplanten Zivilrechtskodifikation umfasste. Während es in Österreich nie einen Zweifel daran des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein, hrsg. von der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Vaduz 1981, Anhang: S. 247 ff. Siehe hierzu E. Berger, Zivilrechtsordnung, S. 17 ff. 28  E. Berger, Zivilrechtsordnung, S. 21. 29  Zitat aus: Dienstinstruktion, S. 248.



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gegeben hatte, dass das Erbrecht einen Bestandteil der Kodifikation bilden sollte, wurden in Liechtenstein das Erbrecht und das Verlassenschaftsverfahren in einem separaten Gesetz geregelt.30 Die Existenz dieser Erbfolgeordnung hatte gravierende Auswirkungen auf einen weiteren Arbeitsauftrag des Landvogts, nämlich auf die Ausarbeitung eines Entwurfs für ein liechtensteinisches Zivilgesetzbuch. Als Vorlage verwendete Schuppler den von Karl Anton von Martini ausgearbeiteten Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs. Im Februar 1797 war Martinis Entwurf, mit geringfügigen Umarbeitungen, als „Bürgerliches Gesetzbuch für Westgalizien“ kundgemacht worden, im September 1797 folgten Ostgalizien und die Bukowina. Das zu Jahresbeginn 1798 in Kraft getretene Galizische Bürgerliche Gesetzbuch hatte bereits begonnen, sich in der Rechtspraxis zu bewähren, als es als sogenannter „Urentwurf“ den Arbeiten der österreichischen Gesetzgebungskommissionen zugrundegelegt wurde.31 Vergleicht man nun – unter Zugrundelegung der vorhin erörterten Gesetzgebungsgrundsätze – den österreichischen Urentwurf zum ABGB mit dem von Schuppler ausgearbeiteten Entwurf für ein Bürgerliches Gesetzbuch, so bildet der Umfang den augenfälligsten Unterschied.32 Im Gegensatz zum Urentwurf mit seinen insgesamt 1613 Paragraphen umfasst der Entwurf Schupplers nur etwas mehr als die Hälfte davon, nämlich 824 Paragraphen. Damit hat sich Joseph Schuppler offenkundig an dem für die Gesetzgebungslehre besonders typischen Grundsatz der Kürze orientiert, der laut Zeillers Gesetzgebungslehre zur „äußeren Güte“ eines Gesetzes zählt. Der geringere Umfang von Schupplers Entwurf hat seine Ursache zum einen in der separaten Erbfolgeordnung. Soweit diese bereits entsprechende Regelungen enthielt, konnte sich Schuppler auf Verweisungen beschränken, so z. B. im 10. Hauptstück „Vom Erbrechte“ mit dem Hinweis „Die anderweitigen Anordnungen sind in dem Erbfolgsgesetze enthalten“. Hinsichtlich der gesetzlichen Erbfolge beschränkt sich der Entwurf Schupplers lediglich auf den Hinweis: „Wenn und wie die gesetzliche Erbfolge einzutretten habe, ist in dem Erbgesetze bestimmt.“ Zu anderem hat Schuppler in seinem Entwurf massive inhaltliche Kürzungen vorgenommen und etliche Regelungen des Urentwurfs hielt er sogar für gänzlich entbehrlich. So finden sich z. B. im Ehegüterrecht keine Bestimmungen über „Morgengabe“, „Witwengehalt“ und „Schenkung unter Ehegatten“, obwohl er sich gerade in diesem 30  E.

Berger, Zivilrechtsordnung, S. 23 ff., Edition: S. 43 ff. hierzu W. Brauneder, Gesetzbuch, S. 215 f.; Wilhelm Brauneder, Europas erste Privatrechtskodifikation: Das galizische Bürgerliche Gesetzbuch, in: H. Barta/ R. Palme/W. Ingenhaeff (Hrsg.), Naturrecht und Privatrechtskodifikation, Innsbruck 1999, S.  303 ff. 32  Zum Folgenden vgl. E. Berger, Zivilrechtsordnung, S. 26 ff. 31  Vgl.

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Abschnitt besonders eng an die Vorlage hielt. Weiters übernahm Schuppler in seinem Entwurf nur selten Bestimmungen des Urentwurfs im Wortlaut. In den meisten Fällen benutzte er eigene Formulierungen, die sich durch Prägnanz und Schnörkellosigkeit auszeichnen. Bei der Straffung und Verdichtung des Gesetzestextes erwies er sich – trotz fehlender legistischer Ausbildung – als auffallend talentiert und einfallsreich, wie das folgende Beispiel zeigt. Schuppler formuliert: „Um das Eigenthum eines vermachten Guthes zu erwerben, muß die Einverleibung des Vermächtnisses ausgewirkt werden“. Im Urentwurf dagegen lautet die entsprechende Bestimmung: „Um das Eigenthum eines vermachten Gutes zu erwerben, ist es nicht genug, daß die letztwillige Verordnung überhaupt den öffentlichen Büchern einverleibt worden sey: wer eine Forderung dieser Art hat, muß bei der Behörde die besondere Einverleibung des Vermächtnisses auswirken.“ Die komprimierte Ausdrucksweise Schupplers kommt dem Gesetzestext in der Regel durchaus zugute. In etlichen Fällen baut er diese Technik noch weiter aus, indem er den Text zweier oder mehrerer Paragraphen in einer Bestimmung zusammenfasst. In der Regel geschieht dies ohne wesentlichen Substanzverlust, in einzelnen Fällen kommt es dadurch allerdings auch zu missverständlichen Formulierungen. Als weitere Mittel zum Zweck dienen dem Landvogt der nahezu völlige Verzicht auf die Anführung von Beispielen – wie sie der Anschaulichkeit wegen im Urentwurf sehr häufig vorkommen – und das weitgehende Fehlen von Definitionen. Damit verzichtet er allerdings zugleich auch auf Erklärungen und setzt Kenntnisse voraus, die das Verständnis des Textes erschweren. Abgesehen von den angeführten Textadaptionen weist der Zivilgesetzbuchentwurf des Landvogts kaum inhaltliche Modifikationen auf. Das unterstreicht die Ansicht, wonach eine naturrechtliche Kodifikation als logisch konstruiertes und daher als richtig angesehenes Recht überall gelten könne, auch in Gebieten, die – so wie Liechtenstein – auf die Entstehung des Gesetzestextes keinen Einfluss ausgeübt haben.33 Bei der Ausarbeitung seines Entwurfs standen Schuppler – soweit feststellbar – außer dem Urentwurf keine weiteren Unterlagen zur Verfügung. Aufgrund seines Aufenthalts in Vaduz – das damals mehrere Tagreisen von Wien entfernt war – hatte er auch keine Möglichkeit, sich Einblick in die gleichzeitig laufenden Arbeiten der österreichischen Gesetzgebungskommission zu verschaffen. Welche Überlegungen ihn daher im Einzelnen zu seinen Umarbeitungen am Gesetzestext veranlasst haben, lässt sich mangels Materialien nicht beantworten. Da er aber von der Hofkanzlei explizit angewiesen worden war, in seinen Entwürfen die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen und gegebenenfalls 33  Wilhelm Brauneder, Vom Nutzen des Naturrechts für die Habsburgermonarchie, in: D. Klippel (Hrsg.), Naturrecht und Staat, München 2006, S. 145 ff.



Gesetzgebungsgrundsätze in der Praxis bei Zeiller und Schuppler63

entsprechende Modifikation vorzunehmen, scheinen die Abweichungen von den österreichischen Verhältnissen marginal gewesen zu sein. Schupplers gesetzgeberischer Einsatz für Liechtenstein sollte sich nur zum Teil als erfolgreich erweisen: Während die Erbfolgeordnung sowie eine Konkursordnung und eine Grundbuchsordnung 1809 in Kraft traten, blieb sein Entwurf für ein Bürgerliches Gesetzbuch unrealisiert. Es gibt allerdings keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das an der Unzufriedenheit des Fürsten gelegen hätte. Der Grund war wohl vielmehr der, dass zu dieser Zeit die Arbeiten am ABGB schon sehr weit fortgeschritten waren und der Fürst sich deshalb dazu entschloss, das Inkrafttreten des ABGB abzuwarten. Diese Entscheidung wird verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass die wesentliche Intention der Reformarbeiten darin bestanden hatte, im gesamten liechtensteinischen Herrschaftsgebiet eine möglichst weitgehende Rechteinheit herzustellen. Das Inkrafttreten von Schupplers Entwurf, dem ja ein Vorläufer des ABGB als Vorlage gedient hatte, hätte dieser Zielsetzung widersprochen. Anstelle von Schupplers Entwurf wurde mit Fürstlicher Verordnung vom 18. Februar 1812 das österreichische ABGB in Liechtenstein in Kraft gesetzt. Zum Inhalt des ABGB enthielt die Verordnung eine Einschränkung: Während alle anderen Regelungen privatrechtlichen Inhalts vom Wirksamkeitsbeginn an aufgehoben waren, sollte die Erbfolgeordnung aus 1809 weiter in Geltung bleiben. Damit war das Erbrecht des ABGB zunächst von der Geltung in Liechtenstein ausgenommen. Erst 34 Jahre später, mit Verordnung aus 1846, wurde diese spezielle Regelung aufgehoben und die Hauptstücke VIII bis einschließlich XV des zweiten Teils des ABGB rezipiert. Das komplette ABGB galt demnach in Liechtenstein erst ab Beginn des Jahres 1847 und zwar, soweit es das Erbrecht betraf, mit leichten Modifikationen gegenüber der in Österreich geltenden Fassung. Abgesehen davon war das ABGB 1812 in Liechtenstein gänzlich unmodifiziert in Kraft getreten. Damit standen aber auch Bestimmungen in Geltung, die für liechtensteinische Verhältnisse unpassend oder gegenstandslos waren. Um darauf reagieren zu können, behielt sich der Fürst in der Einführungsverordnung ausdrücklich vor, gegebenenfalls Modifikationen vorzunehmen, wenn es die lokalen Verhältnisse in Liechtenstein erforderlich machen sollten. An die liechtensteinischen Verhältnisse angepasst wurde jedenfalls der Name des Gesetzbuchs. Unter Verzicht auf den nur für Österreich passenden territorialen Zusatz hieß und heißt das Gesetzbuch in dem „souveränen Fürstentum Liechtenstein“ schlicht „Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch“.34 34  Zur Rezeptionsgeschichte des ABGB in Liechtenstein vgl. ausführlich: Elisa­ beth Berger, Rezeption im liechtensteinischen Privatrecht unter besonderer Berücksichtigung des ABGB, Berlin, Wien, 2. Aufl. 2011.

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Die großen naturrechtlichen Kodifikationen verdanken ihre besonderen Qualitäten, wozu klare Formulierungen, aber auch Systematik und Textgestaltung gehören, zu einem wesentlichen Teil der Wissenschaft von der Gesetzgebungslehre. Während der jahrzehntelangen Arbeiten an der österreichischen Zivilrechtskodifikation standen die „Reinheit und Verständlichkeit“ des Gesetzestextes im Vordergrund, die von dessen wichtigstem Redakteur Franz von Zeiller mit größtmöglicher Konsequenz umgesetzt wurden. Die Gesetzessprache hatte den „gebildeten Bürger“ zum Adressaten, dem es eine umfassende und lexikalisch aufbereitete Rechtsinformation bot. Soweit aus den Quellen ersichtlich gab es bei der Rezeption des ABGB in Liechtenstein keine Verständnisprobleme in der Bevölkerung, was nicht nur an der gemeinsamen deutschen Sprache gelegen haben wird, sondern auch daran, dass die lokalen Bedingungen mit jenen in den ländlichen Gebieten Österreichs weitgehend übereinstimmten. Mittlerweile ist Liechtenstein – neben Österreich – das einzige Land, in dem das ABGB bis heute in Geltung steht. Obgleich das liechtensteinische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch mittlerweile nicht unerhebliche inhaltliche Modifikationen aufweist, konnte in Österreich ebenso wie in Liechtenstein 2012 das 200-Jahr-Jubiläum seines Inkrafttretens gefeiert werden. Abstract The great natural law codifications owe their outstanding qualities (un­ equivocal formulations, systematic organization, and wording) largely to the legislation science. During the decades of work on the Austrian civil law codification special emphasis was placed by its chief editor Franz von Zeiller on the „clearness and comprehensibility“ of text. The language of the law aimed at an „educated citizen“ by providing him with comprehensive and lexically correct legal information. As evidenced by relevant sources no comprehension- and / or acceptance-related problems among the population arose in the Principality of Liechtenstein when the Austrian ABGB was adopted there. This was not only due to the common German language, but also to the local conditions existing in that country that were largely identical with those in the provinces of Austria. Today, Liechtenstein is – beside Austria – the only country where the ABGB is still in effect. In spite of the fact that Liechtenstein’s „General Civil Code“ now contains some major modifications of its initial text, both countries, i. e. Austria and Liechtenstein, have good reasons to mark in 2012 the bicentenary of its introduction.

Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates Die Debatte über den „Legalisierungszwang“ 1870 / 71 Lothar Höbelt I. Prinzipien Die Jahre 1870 / 71 werden normalerweise mit ganz anderen, viel gewichtigeren Debatten in Zusammenhang gebracht als mit dem sogenannten „Legalisierungszwang“, der sich trotz des großen zeitlichen Abstands sehr wohl als eine der Ausführungsbestimmungen des ABGB von 1811 charakterisieren läßt.1 Die Entscheidung des Verfassungskonflikts, wie sie im Herbst 1871 mit dem Scheitern der „Fundamental-Artikel“ fiel, prägte das politische Leben bis zum Ende der Monarchie; doch fand auch der in den Pausen oder im Windschatten dieser Kämpfe beschlossene Legalisierungszwang eine nachhaltige Resonanz, und zwar eine negative. In den kommenden Wahlkämpfen zählten die Beschwerden über den Legalisierungszwang zum Standardrepertoire der ländlichen Gravamina gegen die Herrschaft der städtischen „Doctoren“. Was verbarg sich hinter der Formel vom „Legalisierungszwang“? Offiziell trug die Vorlage den Titel „Gesetz betreffend das Erfordernis der notariellen Errichtung einiger Rechtsgeschäfte und der Legalisierung der Unterschriften auf Tabularurkunden“. Es handelte sich darum, daß bei Urkunden, die als Grundlage von Eintragungen oder Löschungen im Grundbuch dienten, die Unterschriften der beiden Zeugen in Hinkunft notariell – oder vom Gericht – beglaubigt werden mußten. Das ABGB hatte sich – wie Justizminister Eduard Herbst 1870 ausführte – mit der unbeglaubigten Unterschrift zweier glaubwürdiger Zeugen begnügt (§ 434 und 435) und war dabei dem Beispiel der alten Landtafel für Böhmen gefolgt, die für derlei Eintragungen – wenn sie nicht persönlich erfolgten – die Beglaubigung durch zwei Mitglieder der Landstände „mit Unterschrift und Siegel“ verlangten.2 1  Stenographische Protokolle des Herrenhauses (StPHH) V. (Session) 127 (Lichtenfels, 21.3.1870): „Ich glaube daher, daß am besten thut, wenn man sich an das System des Gesetzbuches anschließt … man die ergänzenden Vorschriften hinzufügt.“ 2  StPHH V 179 (23.3.1870); StPAH V 1035 f. (2.4.1870).

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Diese Bestimmung war 1811 sinngemäß auf die Untertanen übertragen worden, die in dieser Beziehung als vollberechtigte Staatsbürger angesehen wurden und ebenfalls auf zwei ihrer „Pairs“ rekurrieren durften, mit dem Beisatz, daß es sich dabei um „glaubwürdige“ Zeugen handeln müsse. Das Urteil darüber, wer als glaubwürdig anzusehen war, stand weiterhin dem Vertreter der Grundherrschaft als Obrigkeit zu. Man ging dabei von der Annahme aus, daß ihm die Zeugen in der Regel persönlich bekannt waren, weil „die Sprengel klein und die Zahl der Ämter eine große“ sei.3 Nur für Urkunden, die außerhalb des (Kron-)Landes ausgestellt worden waren, war damals schon eine gerichtliche Beglaubigung vorgeschrieben. Mit der Aufhebung der Grundherrschaften 1848, „nachmärzlich“, hatten sich die Vorausetzungen selbstverständlich geändert, oder wie es Justizminister Glaser 1873 formulierte: „Unser Grundbuchsystem beruhte auf der Voraussetzung des gebundenen Besitzes.   /  …  /  Alle diese Beschränkungen sind gefallen.“4 Der Güterverkehr und namentlich der Hypothekarkredit habe sich „so außerordentlich kompliziert und vermehrt, daß eine erhöhte Vorsicht notwendig ist.“5 1850 wurde deshalb sogar ein genereller Notariatszwang statuiert; die entsprechende Bestimmung wurde aber zunächst nur in drei Ländern eingeführt, und auch dort Ende 1852 wieder aufgehoben.6 Man lebte daher 1870 / 71 schon fast zwei Jahrzehnte mit einem Provisorium. Schüchterne Anläufe zu einer gesetzlichen Regelung waren seit 1863 immer wieder unternommen, aber nicht mit der entsprechenden Energie verfolgt bzw. von der Peripetien der Verfassungsentwicklung in den Hintergrund gedrängt worden.7 Erst mit dem definitiven Beginn der deutschliberalen Ära ab 1867 / 68 wurde das Anliegen wieder aufgegriffen, nicht einmal so sehr um seiner selbst willen, sondern weil es in engem Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Reformvorhaben stand. Bezeichnenderweise wurde der erste Entwurf Eduard Herbsts am 4. Mai 1869 zusammen mit der Notariatsordnung eingebracht – und mit einem zweiten Entwurf, der für eine gewisse Periode gewisse Erleichterungen vorsah für den Zugang zum Notariat.8 Daraus leitete sich dann auch der Vorwurf ab, es handle sich bei der Vorlage um eine Art von „ordentlicher Beschäftigungspolitik“ für den Stand der Notare! 3  Der alte „Achtundvierziger“ Stremayr – allerdings mit einer Baronin Gudenus verheiratet – lobte ausdrücklich „die einfache Patrimonialgerichtsbarkeit, welche die Rechte für die Bevölkerung des flachen Landes zu wahren hatte.“ (StPAH VI 1150 ?, 20.6.1871). 4  StPHH VII 565 (22.4.1873). 5  So Glasers Amtsvorgänger Hye (ebd. 560). 6  StPAH VI 1152 (Habietinek, 20.6.1871), 1279 (Brandstetter, 27.6.1871). 7  Vgl. die Ausführungen des Berichterstatter Haerdtl StPHH V 183 (23.3.1870). 8  StPAH IV. 196 (4.5.1869).



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Die Notariatsordnung wurde freilich am 2. April 1870 bereits in dritter Lesung verabschiedet, als der Legalisierungszwang in zweiter Lesung gerade erst ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Die Vorlage wurde in dieser Ses­sion auch nicht mehr fertig beraten, sondern 1871 erneut eingebracht – diesmal in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem weiteren Vorhaben, nämlich den §§ 30 und 31 des Grundbuchsgesetzes, die sich auf seine Bestimmungen beriefen und zuerst im Herrenhaus eingebracht worden waren. Mit dem Grundbuchsgesetz war auch schon wieder eine Verbindung gegeben zur Streitfrage von Zentralismus und Föderalismus, die damals die Gemüter beherrschte. Denn das Gesetz nahm – jetzt schon unter der Ägide des föderalistischen Ministeriums Hohenwart – ausdrücklich Rücksicht auf die Kompetenzen der Länder. Es sollte erst in Kraft treten, wenn die Länder die entsprechenden komplementären Bestimmungen erlassen hätten. Manche Länder, wo andere Voraussetzungen galten, waren sogar explizit ausgenommen. Einzelne „großösterreichische“ Abgeordnete, die in der Debatte vehement für das Prinzip des Legalisierungszwanges eintraten (z. B. Julius Hanisch9 und Innocenz Zaillner), stimmten 1871 deshalb auch gegen den Entwurf.10 Schließlich wurde der Legalisierungszwang von Herbst auch noch einem übergreifenden Projekt zugeordnet, der neuen Zivilprozeßordnung, die darauf aufbaue, daß man sich mehr „an den Urkundenbeweis gewöhne“.11 Die Rechtssicherheit fordere dieses Opfer. Bei Herbst kam bei dieser Gelegenheit der Strafrechtler zum Vorschein: Man dürfe „nicht die Behaglichkeit des Individuums den Interessen der Ordnung und Sicherheit und öffent­ lichen Zucht unterordnen.“12 Pratobevera formulierte es noch prägnanter: 9  Hanisch – der als Rechtsanwalt nacheinander in Prag, Reichenberg, Brünn und Wien tätig war und aus dem Schönhengstgau stammte – wurde zunächst von den Landgemeinden Böhmens gewählt, 1872 für Mähren, ab 1873 wieder für den böhmischen Wahlkreis Leitomischl / Landskron. Als Großösterreicher schloß er sich 1876 der Fraktion Skene an; in den 1880er-Jahren beging er nach einem Bankrott Selbstmord (ich danke für diese Information Franz Adlgasser). 10  StPAH VI 572 (Zaillner 21.4.), 1289 (Hanisch 27.6.1871). Noch schärfer formulierte es Lichtenfels bei der Herrenhausdebatte über das Grundbuchsgesetz ­(StPHH V 126, 21.3.1870): „Diese Lückenhaftigkeit ist nicht die Schuld des Entwurfes, sondern eine Folge der Verfügung unserer Verfassung, der zufolge die Gesetzgebung über die innere Einrichtung der Grundbücher den Landtagen zufällt.  / … /  Der Reichsrath soll Vorschriften geben über die Art der Eintragungen in das Grundbuch und die Rechtswirkungen desselben und er weiß doch nicht einmal, welchen Inhalts das Grundbuch sein wird.“ 11  StPAH V 1037 (2.4.1870). Das Argument wurde von Zaillner wiederholt: Die ZPO sei nur „durchführbar, wenn die Parteien dahin geführt werden, über ihre Rechtsbeziehungen vollkommen beweiskräftige Urkunden gleich im Anfang herstellen zu lassen.“ (StPAH VI 572, 25.4.1871). 12  StPAH VI 1291 (27.6.1871).

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„Legalität vor Opportunität.“13 Damit war man bei einer prinzipiellen Frage angelangt, dem Janusgesicht des Rechtsstaates, sprich: dem stets aktuellen Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit, das Liberale nun allerdings bewegen mußte. Der schärfste Gegner der Vorlage, das neugewählte Mitglieder der Äußersten Linken, der Znaimer Gemeindesekretär Johann Fux14, bezog sich ausdrücklich auf diesen Punkt. Die Vorlage sei vom freiheitlichen Standpunkt aus bedenklich. In rührend-optimistischer Weise ging Fux davon aus, die „Strömung der Zeit geht nach Vereinfachung der Rechtsformen.“15 Auf das Argument, gerade die liberalen westeuropäischen Musterländer wiesen vielfach sogar viel strengere Bestimmungen auf, replizierte Fux ironisch, man müsse nicht immer dem französischem Vorbild folgen, wo „man überhaupt eine eigentümliche Verquickung von Freiheit und Zwang findet“.16 Spitz nahm er auch den in Österreich immer so beliebten Hinweis auf das Ausland (oder seine Meinung) aufs Korn. Es gäbe in „anderen Ländern noch viel besseres …, welches in unserem Vaterland noch immer keine Aufnahme gefunden hat.“17 Der Hinweis auf die Freiheit von staatlichen Vorschriften war freilich selbst für entschiedene Liberale vom Schlage Fux’ ein zweischneidiges Schwert. Fux argumentierte, es seien unter hunderttausenden Urkunden, die nach dem bisherigen Schema intabuliert worden seien, kaum mehr als ein Dutzend Fälschungen entdeckt worden18 und machte sich über das exzessive Sicherheitsbedürfnis des Staates lustig, der demnächst vielleicht verlangen würde, der Bürger müsse „ein noch höheres Gut als das Recht, z. B. die Gesundheit durch einen Arzt reparieren lassen.“19 Hanisch entgegnete ihm 13  StPAH

V 176 (23.3.1870). der meisten, jedoch nicht aller Abgeordneten finden sich in den Reichsraths-Almanachen von Sigmund Hahn, die jedoch nur 1867 (IV.) und 1873 (VII. Session) erschienen, nicht für die V. und VI. Session 1870 / 71. Auch die Listen bei Oswald Knauer, Das österreichische Parlament von 1848–1966 (Wien 1969) weisen gerade für diese kurzen Sessionen merkliche Lücken auf! 15  StPAH VI 614 (28.4.1871). 16  StPAH VI 1147 (20.6.1871). Inzwischen war Frankreich eine Republik, die sich im Bürgerkrieg befand – und eine monarchistische Mehrheit aufwies … 17  StPAH VI 557 (21.4.1871). Schönerer berief sich in einer späteren Debatte auf das englische Vorbild, das ganz ohne Notare auskomme, wurde vom Justizminister Glaser wegen dieses Vergleichs aber prompt der Ignoranz gescholten, denn in England gäbe es auch keine Grundbücher … (StPAH VIII 3612, 3627, 20.1.1875). 18  1873 verwahrte er sich dagegen, als ob das „österreichische Publikum ein Fälscherconsortium wäre“. Statistisch betrachtet koste die „Verhinderung einer jeden Fälschung mittelst der Legalisierung dem Volke 60.000 fl., ungerechnet die Arbeit, den Zeitverlust und die großen Unannehmlichkeiten“ (StPAH VII 1753, 1.4.1873). 1874 sprach er von 24 Fälschungen bei 800.000 Urkunden jährlich (StPAH VIII 422). 19  StPAH VI 587 (25.4.1871). Bei einer späteren Gelegenheit ergänzte Fux die Beispiele um den Paßzwang, um Landstreicher leichter aufgreifen zu können oder 14  Kurzbiographien



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daraufhin freilich prompt: Wenn er schon gegen jeden staatlichen Zwang auftrete, dann müsse er auch gegen den Schulzwang sein, der von katholisch-konservativer, „klerikaler“ Seite heftig bekämpft wurde, aber mit dem Reichsvolksschulgesetz gerade für fortschrittlich-antiklerikale Parteigänger wie Fux ein zentrales Anliegen darstellte.20 II. Praxis Allerdings räumte sogar Fux räumte ein, das Gesetz sei vom „theoretischen und juristischen Standpunkt wünschenswert.“21 Der „Legalisierungszwang“, so hat es den Anschein, war in erster Linie ein Anliegen des Juristenstandes, insbesondere der Notare. Franz Groß als einer der nicht allzu vielen Notare im Reichsrat gab sogar zu, das Vorurteil gegen die Notare sei bis zu einem gewissen Grad berechtigt, weil die Regierung bisher eben immer die falschen ernannt habe, nämlich Juristen, die sonst zu nichts taugten. Man müsse bei dieser Debatte jedoch auch die Rivalität der Anwälte, vor allem aber der Justizbeamten in Rechnung stellen, die um ihre lukrativen Nebengeschäfte bangten. Offenbar davon ausgehend, daß nur Rechtskundige sich Unabhängigkeit gegen die Behörden leisten konnten, argwöhnte er, „daß neben den „Advokaten noch eine Sorte von freien Menschen geschaffen werden solle, daß könnten die politische Beamten durchaus nicht vertragen.“22 Auf diese Polemik wollte sich Fux übrigens gar nicht einlassen, sondern den Notaren sogar weitere Kompetenzen in der Art eines Friedensrichters (des alten „adeligen Richteramts“) zuweisen.23 War den einen die Begünstigung des Notariatstandes ein Dorn im Auge, so war auch das Feindbild der Gegenpartei, das pünktlich wie das Amen im um eine Geschwindigkeitsbeschränkung bei Eisenbahnen (von fünf auf drei Meilen, sprich: von 35 auf 21 km / h), die zweifellos auch die Unfallgefahr senken würde (StPAH VIII 421, 23.1.1874). 20  StPAH VI 615 (28.4.1871). 21  StPAH VI 556 (21.4.1871). 22  StPAH VI 56 (25.4.1871). Hye rechnete im Herrenhaus auch die Advokaten zu den prinzipiellen Gegnern in diesem Kampfe, der seit sieben bis acht Monaten „mit großer Bitterkeit auf beiden Seiten geführt“ werde (StPHH V 173, 23.3.1870). Auch der Kärntner Notar Hermann Mertlitsch erwies sich als enthusiastischer Verfechter der Vorlagen (StPAH V 1030, 2.4.1870). Mertlitsch, der als „verfassungstreuer Slowene“ galt, hatte sich im Reichsrat 1869 der Äußersten Linken angeschlossen. Vgl. Lothar Höbelt, Die Stellung der Kärntner in der Politik der liberalen Ära (1861–1879), in: Wilhelm Wadl (Hrsg.), Kärntner Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Alfred Ogris zum 60. Geburtstag (Klagenfurt 2001) 433– 452; hier 439 f. In der nächsten VII. Session verstärkte die Reihen der Notare der Mährer Johann Kaser aus Leipnik. 23  StPAH VI 1145 (20.6.1871).

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Gebet immer und immer wieder zitiert wurde, klar definiert – nämlich der „Winkelschreiber“, „dieses Gelichter … und diese eigentliche Landplage“, die mit ihren „muthwilligen Gesuchen und überdieß kauderwälsch verfaßt, unverständlich und gar nicht die Competenz beachtend … den armen Par­ theien ganz unnöthige Kosten verursachen“.24 Groß hatte dabei insbesondere „Gemeindeschreiber und Sparkassenbeamte“25 im Visier, ergänzt von Hinweisen anderer Redner, daß sich auch in behördlichen Ämtern solche Winkelschreiber aufhielten. Die Winkelschreiberei sei eben ein „corrosives Gift, welches sich durch die gesamten Justizzustände in Österreich zieht“, – würde durch die Vorlage aber auch nicht beseitigt.26 Ein Gutteil der Debatte war freilich praktischen Bedenken gewidmet. Dabei spielten die Verkehrsverhältnisse am Lande eine Rolle: Man könne den bäuerlichen Realitätenbesitzern nicht zumuten, „ganze Gebirgsrücken zu übersteigen, um zu einem Notar zu gelangen“.27 Die schiere Anzahl der zu beglaubigenden Unterschriften müsse dazu führen, daß jegliche wirkliche Kontrolle erst recht nicht geübt würde; selbst den angeblich begünstigten Notaren, so insinuierte Fux, wäre diese Mühe wohl zuviel. Tatsächlich sollte das Gesetz „in Wirksamkeit treten“, sobald auch die „neue Notariatsordnung in Geltung tritt“, wobei jedoch für ein halbes Dutzend Länder eine Ausnahme gemacht wurde – dort sollte es erst dazu kommen, wenn durch Verordnung des Justizministers festgestellt werde, daß auch wirklich eine „genügende Anzahl von Notaren“ bestellt worden sei.28 Der klassische Einwand gegen den Legalisierungszwang lautete, für Bagatellfälle sei der Aufwand viel zu hoch. In diesem Sinne äußerte sich auch Gustav Gross, keineswegs ein Kleinhäusler, sondern Direktor der SüdNorddeutschen Verbindungsbahn, der es bei Grundablösen mit Tausenden solcher kleiner Transaktionen zu tun hatte.29 (Herbst freilich beschied ihm umgehend, er habe für die Bahnen kein Mitleid, die paar Tausend Gulden könne man bei der Geldbeschaffung leicht wieder hereinbringen.30) Der Vermittlungsantrag des Karlsbader Abgeordneten Knoll, daß der Legalisie24  StPHH

V 175 (Hye, 23.3.1870). VI 577 (25.4.1871). 26  StPAH VI 583 (Mende, 25.4.1871). 27  StPAH V 1031 (Dietrich aus Schlesien, 2.4.1870). 28  Dabei handelte es sich um Dalmatien (wo das französische Hypothekarsystem galt; vgl. StPHH VII 565) und die Alpenländer (Vorarlberg, Deutsch-Tirol, Salzburg, Kärnten und Krain), Galizien wollte diese Ausnahme ausdrücklich nicht in Anspruch nehmen. Es fällt auf, daß die italienischen Teile Tirols und des Küstenlandes ebenfalls nicht inbegriffen waren. Zu den abweichenden Voraussetzungen in diesen Ländern vgl. die Ausführungen von Sektionschef v. Benoni StPAH VI 1268 f. (27.6.1871). 29  StPAH V 1034 (2.4.1870). 30  StPAH V 1036 (2.4.1870). 25  StPAH



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rungszwang nur bei der Eintragung von Grundstücken im Wert von mindestens 500 fl. verpflichtend sein solle, wurde damals hingegen noch von beiden Seiten abgelehnt.31 Andere Skeptiker würdigten zwar die Motive Herbsts, dem Rechtsstaat einen universalen Charakter zu verleihen, bezweifelten aber deren Operationalisierbarkeit. Das Problem der Grundbücher sei nicht ihre Anfälligkeit für Eintragungen, die auf gefälschten Urkunden beruhten, sondern ihr Charakter als bloße Schuldenbücher, die über Grenzen, Umfang und Bestand eines Besitzes nichts aussagten;32 was hier nottue, sei eine Vereinigung mit dem Kataster.33 Wenn Hanisch darauf bestand, der Legalisierungszwang sei eine unabdingbare Voraussetzung für die Hebung des Realcredits,34 so argumentierte die Gegenseite: Die Bevölkerung werde das neue Institut – wegen der damit verbundenen Spesen und Mühen – erst recht nicht in Anspruch nehmen, selbst wenn die vorgesehenen Gebühren im Laufe der Debatte halbiert wurden.35 Selbst die Verteidiger der Verfügung, so führte der oberösterreichische Bauer (!) Johann Schrems aus, „gestehen das Vexatorische derselben ein.“36 Sie sei ein „Erzeugnis des sogenannten grünen Bureautisches, welcher von den realen Verhältnissen abstrahiert.“37 Der Rechtssicherheit erweise man damit keinen Dienst. Denn die Beglaubigung beziehe sich ja nur auf die Identität der Zeugen, nicht auf das Rechtsgeschäft als solches.38 Ein bäuerlicher Redner stellte die Frage, ob es nicht genüge, wenn man die Beglaubigung der Unterschriften dem Gemeindevorsteher anvertraue, dem man schließlich auch so viele andere Aufgaben aufbürde.39 Gegen Betrügereien bestünden ohnehin bereits rechtliche Handhaben; dazu bedürfe es keiner neuen Gesetze. Immerhin bestünde der gegenwärtige Zustand schon bald 31  StPAH VI 610 (28.4.1871). Betrüger, so wurde argumentiert, könnten sonst größere Grundstücke in mehrere kleinere aufteilen. 32  StPAH VI 1270 (Blitzfeld, 27.6.1871). 33  StPAH VI 1279 (Brandstätter, 27.6.1871). 34  StPAH VI 562 (21.4.1871); ähnlich Hartig (StPHH V 139, 21.3.1870). 35  StPAH VI 1274 (27.6.1871). 36  StPAH VI 1143 (20.6.1871). Zu dem Innviertler Schrems vgl. Harry Slapnic­ ka, Oberösterreich. Die politische Führungsschicht 1861–1918, (Linz 1983) 195; Peter Urbanitsch, Die Wahlen des Jahres 1873 zum cisleithanischen Reichsrat anhand ausgewählter Wahlbezirke der Wählerklasse der Landgemeinden und der Städte, Märkte und Industrialorte, in: XXX. 37  StPAH VIII 3607 (Fux, 20.1.1875). 38  Knoll führte später aus, es gäbe „ganz andere Gattungen von Vermögensübervorteilungen, die bem Tabularverkehr vorkommen“. (StPAH VII 158, 6.2.1872). 39  StPAH VI 608 (Weinhandl aus der Steiermark, 28.4.1871).

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zwanzig Jahre. Ein „nachhaltiges Bedürfnis“ – so der Grundtenor der Gegner – sei also keineswegs gegeben.40 III. Politik Über die prinzipiell juristischen und praktischen, volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte hinaus machten sich auch politische geltend oder bemerkbar – obwohl das immer wieder in Abrede gestellt wurde. Schon die formale Behandlung der Vorlage wurde von den politischen Konjunkturen in Mitleidenschaft gezogen: Denn die erste Debatte fand Anfang April 1870 in den Tagen unmittelbar vor dem endgültigen Zerfall des „Bürgerministeriums“ statt. Deshalb wurde nachträglich auch der Vorwurf laut, die Debatte sei nicht allzu gründlich gewesen; zwar wurden diverse Bedenken vorgebracht; doch die Abgeordneten waren offenbar nicht ganz bei der Sache. Vermutlich wollte man für das umkämpfte liberale Ministerium nicht auch noch zusätzliche Peinlichkeiten heraufbeschwören. Man gab sich damit zufrieden, daß die Minister eine Halbierung der Stempelgebühren für die Eintragungen konzedierten. So wurde die Vorlage damals noch ohne größeres Aufsehen durchgewinkt.41 Damit war die Sache jedoch nicht abgetan; denn die Vorlage fiel dem Sessionsschluß zum Opfer und wurde im Februar 1871 neuerlich mit geringen Modifikationen eingebracht, diesmal allerdings schon von Hohenwarts Justizminister Habietinek. Der Rest von Parteisolidarität, den selbst kritische Liberale ihrem Ministerium entgegenbrachten, fiel jetzt weg. Das Kabinett Hohenwart wurde vielmehr mit gerechtfertigten Mißtrauen betrachtet, selbst wenn der Premier den eigentlichen Verfassungskonflikt noch bis nach Ende der Session hinauszuzögern bemüht war. Für den Sommer erwartete man Neuwahlen der Landtage, zumindest jener mit verfassungstreuer Mehrheit. Wie immer man die Meriten der Vorlage beurteilte, populär war sie zweifelsohne nicht. Fux vermochte diesmal daher auch schlagende Argumente politischer Opportunität ins Treffen zu führen: „Unsere Gegner werden den Legalisierungszwang benützen, um den Landmann gegen uns aufzuregen, der ohnedieß schon gegen den Reichsrath und die moderne Legislation gereizt und gehetzt wird.“42 Selbst ein Befürworter der Vorlage wie der spätere Justizminister Glaser gab ihm in dieser Beziehung recht: Es handle sich um keine Parteifrage, aber sie könne zu Wahlkampfzwecken zu einer solchen gemacht werden. Die Linke mache „mitunter Erfahrungen … daß, während sie die Sachen des Staates und schließlich die Geschäfte der Re40  StPAH

VI 1271 (Blitzfeld, 27.6.1871). V 1030–1038 (2.4.1870). 42  StPAH VI 560 (21.4.1871). 41  StPAH



Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates73

gierung besorgt, diese gegen sie gekehrt werden, zu Angriffs- und Agita­ tionsmitteln gegen sie benützt werden.“43 Inzwischen waren auch aus Wählerkreisen diverse Petitionen gegen den Legalisierungszwang eingegangen, die meisten von ihnen aus Nordböhmen.44 So wurde die „gründliche“ Debatte über den Legalisierungszwang jetzt nachgeholt. Die Debatte um den umstrittenen § 2 der Vorlage nahm diesmal einige Sitzungstage in Anspruch. Es wurden Abänderungsanträge gestellt, die zwar allesamt keine Mehrheit fanden, aber zur Folge hatten, daß die Vorlage zwischen zwei Feuer geriet: Während die Mehrheit der Gegenstimmen wohl im Lager von Fux zu finden war, stimmte zumindest ein Abgeordneter (Zaillner) dagegen, weil ihm die Vorlage zu wenig weit ging. Zwar wurde der Antrag auf namentliche Abstimmung, den bezeichnenderweise ein klerikaler Bauer (der Oberösterreicher Schrems) gestellt hatte, nicht hinreichend unterstützt; aber bei der Auszählung stellte sich heraus, daß das Ergebnis so knapp war, daß sich der Präsident schließlich doch gezwungen sah, eine namentliche Abstimmung anzuordnen. Das Resultat lautete: „Der Ausschußantrag ist mit Einer Stimme gefallen. (Heiterkeit.)“45 Das Herrenhaus freilich, das in dieser Frage immer schon mit der durchgreifenderen Variante des Notariatszwanges geliebäugelt hatte, bestand auf dem § 2. Die Vorlage kam im Juni 1871 noch einmal an das Abgeordnetenhaus zurück – und wurde wiederum abschlägig beschieden, wenn auch ohne genaue Auszählung, offenbar also mit deutlicher Mehrheit.46 Unmittelbar darauf begann das Haus mit der zweiten Lesung des Grundbuchgesetzes, das im § 31 in seiner vom Herrenhaus herabgelangten Fassung nun ebenfalls den Legalisierungszwang beinhaltete. An diesem Punkt setzte eine Vermittlungsaktion ein: Auf eine bloße Vertagung der Frage, um Zeit zu gewinnen, wollte das Haus nicht eingehen. Doch sobald man in der Spezialdebatte zum § 31 gekommen war, stellte Glaser einen Vermittlungsantrag, um der Gefahr auszuweichen – wie er offen zugab – daß der jetzt bestehende Zustand perpetuiert würde, weil man ja schwerlich annehmen dürfe, „daß das hohe Haus, welches über diese Prinzipienfrage heute entschieden hat, jetzt eine Entscheidung im entgegengesetzten Sinne fällen werde.“47 43  StPAH

VI 1269 (27.6.1871). als Berichterstatter erwähnte Petitionen von Gemeindevertretungen in Schönlinde, Georgswalde, Schluckenau und dem Bezirk Niemes (StPAH VI 1148, 20.6.1871). 45  StPAH VI 619 f. (28.4.1871). Sturm sprach später irrtümlich von einer Stimme Mehrheit bei 143 Stimmen; die Liste umfaßt jedoch nur 139 Namen (StPAH VI 1282, 27.6.1871). 46  StPAH VI 1153 (20.6.1871). 47  StPAH VI 1159 (20.6.1871). Der Antrag Glaser ging dahin, eine Einverleibung mit unmittelbarer Wirkung nur bei legalisierten Urkunden vorzunehmen, daneben 44  Stremayr

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Glaser bemühte sich redlich, die Unterschiede herauszustreichen zwischen dem Legalisierungszwang (der für das ganze Reich gelten sollte) und dem Grundbuchgesetz, das nur für bestimmte Länder galt und erst unter bestimmten Bedingungen in Kraft trat.48 Gerade für die österreichisch-böhmischen Kernlande fielen diese Unterschiede jedoch kaum ins Gewicht. Die Vertreter Galiziens und des Küstenlandes aber hatten ohnedies für den Legalisierungszwang gestimmt. Der Antrag Glaser war vielmehr in erster Linie dazu bestimmt, dem Haus – oder doch zumindest einem Teil der Liberalen – zu helfen, das Gesicht zu wahren. Der umstrittene § 31 wurde an den Ausschuß zurückverwiesen und eine Woche später noch einmal im Plenum verhandelt. Zwar wurden geschäftsordnungsmäßige Bedenken laut, ob ein bereits verworfener Antrag in derselben Session überhaupt noch einmal im Hause verhandelt werden könne (§ 9 der Geschäftsordnung) oder nicht eher mittels einer gemischten Kommission das Einvernehmen mit dem Oberhaus gesucht werden müsse, aber die Mehrheit vollzog nur allzu bereitwillig den Sinneswandel, den man ihr in der Vorwoche noch nicht hatte zumuten wollen. Sie benützte dazu nicht einmal den Vermittlungsantrag Glaser, sondern nahm einfach den § 31 in der Fassung des Herrenhauses an. Vergeblich richtete Fux einen Appell an seine Parteigenossen, sie würden damit höchstens einen Pyrrhussieg erfechten. Auch mit der von ihm beantragten namentlichen Abstimmung drang er nicht durch.49 Damit war der Legalisierungszwang mit Gesetz vom 25. Juli 1871 nach mehreren Anläufen auf einem Umweg schließlich doch noch Gesetz geworden. Fux engerer Landsmann und Parteigenosse – im Sinne der im Entstehen begriffenen Fortschrittspartei – der Iglauer Abgeordnete Sturm als Obmann des Grundbuch-Ausschusses, hatte sich schon bei einer früheren Gelegenheit dagegen verwahrt, daß es sich bei der Debatte über den Legalisierungszwang um eine politische oder Parteifrage handle.50 Er könne sich deshalb auch „nicht zu jener Erregung begeistern, wie sie zwischen zwei Herren Vorrednern vorgekommen ist.“51 Diese Erklärung hatte zweifellos einen gewissen apologetischen Charakter. Inwieweit war sie dennoch zutreffend? Die so zufällig zustande gekommene namentliche Abstimmung vom 28. April gibt uns zur Beurteilung der Frage ein gewisses statistisches Material aber auch die bisherige Praxis fortzusetzen, hier aber längere Reklamationsfristen einzuräumen. 48  StPAH VI 1260 f. (Dinstl, 27.6.1871). 49  StPAH VI 1321 (30.6.1871). 50  StPAH VI 588 (25.4.1871); am 27. Juni (ebd. 1286) fügte er als Anreiz für seine Parteigenossen, als „politisches Motiv“, noch hinzu, wenn der Reichsrat nicht zumindest diese Normen aufstelle, würde die Praxis in den Ländern noch unterschiedlicher ausfallen. 51  StPAH VI 588 (25.4.1871).



Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates75

an die Hand. Zweifellos handelte es sich bei dem Votum pro und contra Legalisierungszwang um keine der üblichen Konfrontationen zwischen zentralistischer Linker und föderalistischer Rechter: So gingen z. B. die beiden Antipoden, Herbst und sein tschechischer Nachfolger als Justizminister, Habietinek, in dieser Frage konform; beide Blöcke waren ganz offensichtlich gespalten. Auf der Rechten hatten die Polen Galizien sogar ausdrücklich in den Wirkungsbereich des Grundbuchgesetzes hineinreklamiert: „Wir haben schon mehrmals erfahren, meine Herren, daß Gesetze, welche für andere Länder als passend befunden wurden, bei uns in Galizien wider unseren Willen doch eingeführt wurden. Heute tritt der besondere Fall ein, daß wir die Einführung, und zwar die allsogleiche Einführung des für andere Länder als passend anerkannten sogenannten … Notariatszwanges … bei uns in Galizien wünschen, während der Ausschuß und die Regierung dagegen sind.“52; während Rumänen (Petrino), Klerikale und Slowenen – bis auf jeweils eine Ausnahme53 – gegen den Legalisierungszwang votierten. Auch das Janusgesicht des Liberalismus machte sich bei der Abstimmung bemerkbar. Die Verfassungspartei stimmte mit 49 zu 30 gegen den Legalisierungszwang. Zumindest innerhalb der Verfassungspartei legt der erste Eindruck – mit Fux als Wortführer des öffentlichen Unmuts und dem Herrenhaus als Gegenpol – ein Links-Rechts Schema nahe, ein Muster Fortschrittliche gegen Liberal-Konservative. Auf den zweiten Blick freilich lösen sich auch diese Frontstellungen auf. Von der Äußersten Linken stimmten mehr mit der Regierung als gegen sie; von den beiden Groß der „linke“ Franz für, der „rechte“ Gustav gegen die Vorlage; der widerspenstige Herbst dafür – und Lasser dagegen; unter den Großgrundbesitzern stand es 50 : 50. Dafür schält sich ein anderes Muster heraus: Fast einhellig gegen den Legalisierungszwang stimmten die Vertreter der deutschen Landgemeinden – mit 18 liberalen (und 7 klerikalen) gegen bloß zwei Pro-Stimmen (Herbst und Ruß). Außerdem kristallisierte sich (Deutsch-)Böhmen als Kern des Widerstandes gegen den Legalisierungszwang heraus: Auch die Vertreter der Städte- (7 gegen 354) und Großgrundbesitzerkurie (7 zu 4) sprachen sich klar gegen die Vorlage aus. Vielleicht hatte in Böhmen, wo die Landge52  StPAH VI 620 (28.4.1871). Der Antragsteller, der Krakauer Rechtsanwalt Andreas Rydzowski, war bei einer früheren Wortmeldung vom Schriftführer mit einem anderen Kollegen verwechselt worden! 53  Bei den Klerikalen handelte es sich dabei um den Tiroler Landeshauptmann Franz Rapp, seines Zeichens Notar (!), bei den Slowenen um Cerne, aus dem Görzer Küstenland, der liberaler war als die Krainer. 54  Der Kontrast wird noch deutlicher, wenn man in Rechnung stellt, daß alle drei Legalisierungsbefürworter in dieser Kurie Handelskammervertreter waren.

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meinden nicht als klerikal galten, deren Stimme doch mehr Gewicht; vielleicht waren es auch einfach die oppositionellen Instinkte der Deutschen in Böhmen, wo die bevorstehenden Verfassungskämpfe schon ihre Schatten vorauswarfen. Als Kuriosum verdient vor diesem Hintergrund vermerkt zu werden, daß Herbsts berühmt-berüchtigter Dogmatismus ihn diesmal nicht ins oppositionelle Fahrwasser führte, sondern für seine Vorlage – und damit für die ungeliebte Regierung – votieren ließ …55 IV. Ein langes Postskriptum: „Die Seeschlange, die in jeder Session auftaucht …“ War der „Umfaller“ der Liberalen im Juni 1871 tatsächlich ein Pyrrhussieg, wie Fux vorausgesagt hatte. Bis zu einem gewissen Grad ja, wenn auch kein kriegsentscheidender. Der Legalisierungszwang – und seine Beibehaltung durch das Ministerium Adolph Auersperg – führte nicht zum Abfall der Landgemeinden – der war in den Alpenländern schon früher erfolgt, in den Sudetenländern hatte es dahin noch fast bis zur Jahrhundertwende Zeit. Aber das Thema sorgte für nahezu permanente Unruhe.56 Bevor das Gesetz am 15. Februar 1872 in Kraft trat, wurde schon heftig um seine Aufhebung petitioniert. Bereits am 6. Februar brachte Knoll einen Antrag ein, seine Bestimmungen, die er als einen „Überrest des mittelalterlichen Bevormundungssystems“ bezeichnete, wiederum abzuändern, z. B. in Form einer Verweisung an die Gemeindeämter.57 Ein Ausschuß wurde zur Beratung der Materie gewählt, der sich in seiner Mehrheit jedoch wiederum aus Befürwortern des Legalisierungszwanges zusammensetzte. Auf Fux z. B. entfielen nur 48 von 111 Stimmen; er wurde letztlich nur deshalb in den Ausschuß entsandt, weil sein Gegenkandidat in der Stichwahl (Tinti) auf die Nominierung verzichtete.58 Franz Groß wurde 55  Vgl. für das gegenteilige Muster: Lothar Höbelt, Gründerzeit und Börsenschwindel. Politik und Wirtschaft in der liberalen Ära, in: Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Korruption in Österreich. Historische Streiflichter (Wien 2011) 60–80; hier: 75–79. 56  Vgl. auch Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 2 (Wien 1903) 47: „Die erhöhte Rechtssicherheit, welche die Vorlage zum Zwecke hatte, war mit Unbequemlichkeiten und Kosten für die bäuerliche Bevölkerung verbunden, gegen welche sie jahrelang Sturm lief, um sich des Legalisierungszwanges zu entledigen.“ 57  StPAH VII 149 (6.2.1872). Im Herrenhaus monierte Hye dann, daß aus der „Blumenlese der Falsificate“ viele sogar von Gemeindevorstehern herrührten (­ StPHH VII 561). 58  StPAH VII 172 (13.2.1872). Von den neun Mitgliedern des Ausschusses hatten Demel, Groß, Jasinski und Ruß 1871 für den Legalisierungszwang gestimmt; Knoll, Fux und Wolfrum dagegen; Kaiser und Steinbrecher waren in dieser Hinsicht „unbeschriebene Blätter“. In einer Nachwahl wurde im Mai noch der Egerer Rechts­



Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates77

zum Obmann des Ausschusses gewählt, der sich prompt mit sechs gegen drei Stimmen gegen eine Änderung des Gesetzes aussprach. Außerdem war der Bericht zwar auf den 24. Mai 1872 datiert, wurde vor der Sommerpause aber nicht mehr in Druck gelegt; Groß wurde deshalb schon unterschwellig Verzögerungstaktik vorgeworfen.59 Der Druck „von unten“ freilich ließ nicht nach: Allein die Liste der Petitionen, die an das Abgeordnetenhaus um Aufhebung oder zumindest Erleichterung des Legalisierungszwanges gerichtet wurden, füllt im Index der Stenographischen Protokolle nicht weniger als elf Seiten.60 Das Plenum verwies die Materie im Januar 1873 deshalb auch an den Ausschuß zurück. Heinrich v. Perger, als ursprünglicher Befürworter des Legalisierungszwanges vom Saulus zum Paulus geworden, berief sich dabei ausdrücklich auf „politische Gründe“, nämlich auf die Stimmung im Volke: „Meine Herren! Sie werden keine Versammlung finden, in welcher nicht über die Aufhebung des Legalisierungszwanges gesprochen worden ist.  / … /  Überall ertönt an uns der Ruf um Aufhebung.“61 Am 1. April 1873 legte der Ausschuß pflichtschuldigst einen Kompromißantrag vor, der zwei Kategorien von grundbücherlichen Urkunden schuf. Auch die nicht legalisierten Urkunden waren demnach gültig, konnten aber drei Jahre lang angefochten werden. Dem Kompromißcharakter entsprechend, ließ sich selbst aus den Ausführungen der Befürworter, wie z. B. dem Liberal-Konservativen Wolfrum, ein gewisser Zwiespalt heraushören: „Bei großen Principienfragen muß die Gesetzgebung der öffentlichen Meinung vorauseilen“, gestand er zu, aber „ist denn diese Legalisierung ein so großes Princip?“ Es handle sich hier nur um ein Entgegenkommen auf (sic!) die Wünsche der Bevölkerung – „und ich glaube, in einem constitutionellen Staate kann wohl die Bevölkerung so etwas auch verlangen.“62 Freilich, auch Wolfrum als Anhänger einer Erleichterung führte den „allgemein verbreiteten, und ich möchte beinahe sagen, unbesiegbaren Widerstand gegen den Legalisierungszwang“ in erster Linie darauf zurück, daß die Bevölkerung über „die eigentliche Absicht“ des Gesetzgebers nicht aufgeklärt sei. Von der minderen Qualität der nicht legalisierten Urkunden versprach er sich in dieser Beziehung die pädagogische Wirkung, daß „doch vielleicht eben diese Maßregel die Bevölkerung dahin bringen werde, endanwalt Lubert Graf nominiert (ebd. 649) – nicht zu verwechseln mit dem Tiroler Konservativen Friedrich Graf, der sich dem Reichsratsboykott angeschlossen hatte. 59  Interpellation Wolfrum, StPAH VII 1022 (17.6.1872). 60  StPAH VII, Index 113–124. 61  StPAH VII 1117 (21.1.1873). 62  StPAH VII 1744 (1.4.1873). Zur Person vgl. Erinnerungen an Carl Wolfrum. Eigene Aufzeichnungen, Briefe, Reden und Zeitungsartikel, 2 Bde. (Aussig 1893).

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lich einzusehen, daß von dem gewöhnlichen Schlendrian, der bei unserem Grundbuchwesen seit langer Zeit eingerissen ist, abgegangen und strengere Bestimmungen angenommen werden müssen.“ Prompt warf ihm der Gegenredner Baron Hackelberg vor, seine Argumentation laufe daraus hinaus, daß „das Volk durch Schaden klug werden muß“; Aufgabe des Parlaments sei es aber, das Volk vor Schaden zu bewahren.63 Fux hingegen fühlte sich bemüßigt zu erklären, warum er „als ursprünglicher und einer der heftigsten Gegner“ den Legalisierungszwang bekämpfen müsse „trotz des voraussichtlich schroffen Widerstandes von Seiten der Regierung“.64 Damit hatte er den wunden Punkt berührt: Die Prager ‚Politik‘ zitierte die Charakterisierung eines Wiener Blattes, das Ministerium Adolf Auersperg sei „mit einem doppelten Gesicht begabt.  / … /  von oben gesehen ein konservatives, von unten gesehen ein liberales …“65 Denn das verfassungstreue Ministerium machte der Bürokratie die Mauer, die für das Gesetz eintrat und keinen Grund für ein Zurückweichen erblickte. Freilich: Die Mehrheit des Jahres 1871 für den Legalisierungszwang war unter dem Ministerium Hohenwart auf Grund des geschlossenen Votums der Polen zustande gekommen. Doch die Polen setzten im Frühjahr 1873 ein letztes Mal mit dem Boykott des Reichsrates ein.66 Die Abstimmung des 1. April 1873 entwickelte sich daher fast ausschließlich zu einer Partie unter Verfassungstreuen – und sie endete, wenige Monate vor den Wahlen, mit 63 zu 52 mit einem Sieg der Gegner des strikten Legalisierungszwanges, wie er 1871 beschlossen worden war.67 Die Zusammensetzung des Votums läßt einige auffallende Verschiebungen erkennen. Der Wahlkampf warf ganz offensichtlich seine Schatten voraus: Gleichgeblieben war das nahezu einstimmige Votum der Landgemein­ 63  StPAH

VII 1745 (1.4.1873). VII 1750 (1.4.1873). Fux operierte mit dem praktischen Argument, daß der Legalisierungszwang seinen Zweck der Rechtssicherheit wegen seines rein formalen Charakters verfehle. Der „erste beste Gauner“ könne zu einem Notar kommen „und wenn auch der Notar glaubt, die Urkunde selbst enthalte Schwindel, so sagt jener doch nur: Subscribe Ferdinandule – auf Grund des Legalisierungszwanges!“ (ebd. 1752) Die passende Alternative sei die „correctere, verläßlichere Zustellung der Bescheide“. 65  Politik 1.4.1873, unter Berufung auf die „Sonntags- und Montagszeitung“. 66  Bis auf drei Abgeordnete, die sich dem Boykott nicht anschlossen, wurden die Galizier deshalb ihrer Mandate verlustig erklärt. Eine Versammlung polnischer Landtagsabgeordneter schloß sich am 10. Mai allerdings mit 40 über 16 Stimmen dem Antrag Goluchowskis an, nach den Wahlen wieder in den Reichsrat einzutreten und wurde deshalb von der alttschechischen ‚Politik‘ gerügt: Die Polen hätten „nichts gelernt und alles vergessen“ (Politik, 14.6.1873). 67  StPAH VII 1761 (1.4.1873). 64  StPAH



Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates79

denvertreter;68 unter den städtischen Abgeordneten aber stimmte mehr als ein halbes Dutzend früherer Befürworter im Sinne der öffentlichen Meinung nunmehr für die teilweise Aufhebung des Legalisierungszwanges. Gerade unter der „Prominenz“ war diese Haltung verbreitet, von Herbst über seine Rivalen Plener und Sturm, zu Kuranda und Hanisch, Ruß und Perger. Im Großgrundbesitz machte sich dafür – wohl im Einklang mit den Wünschen der Regierung – der gegenteilige Trend bemerkbar: Seine Vertreter entschieden sich mit 21 gegen 7 für die Beibehaltung des Gesetzes.69 Auch in Böhmen ergab sich daher diesmal ein ausgewogenes Verhältnis (18 zu 16, davon neun Großgrundbesitzer). Unter den Tschechen reklamierte Glaser, inzwischen selbst Justizminister, ausgerechnet die jungtschechschen ‚narodni listy‘ für die Position der Regierung; die alttschechische ‚Politik’ ließ die Verhandlungen unkommentiert, veröffentlichte aber pointiert eine Liste der Abgeordneten, die für den Legalisierungszwang gestimmt hatten.70 Das Herrenhaus freilich verwarf die Vorlage ohne viel Federlesens und ging über den Beschluß des Abgeordnetenhauses zur Tagesordnung über. Justizminister Glaser meinte, schon aus „gebotenstem Conservativismus“ dürfe man einer solchen Agitation nicht Folge leisten, die – wie sein Amtsvorgänger Hye meinte – „mit einer Lüge das Volk irreführt.“ Außerdem, so Glaser, gäbe es im Sinne der Vorlage ja auch jetzt schon die Möglichkeit einer Pränotation ohne Beglaubigung, die zwar keine absolute Sicherheit biete, aber „genügt, wenn man sich auf den Geschäftsfreund verlassen könne …“71 Die Debatte war damit freilich nicht beendet; sie wurde im neugewählten Haus der Direktwahlen bereits in den ersten Wochen wieder aufgenommen. Das Procedere folgte einem inzwischen schon geläufigen Muster: Die „üblichen Verdächtigen“: Fux, Roser (bald auch der junge Georg v. Schönerer) brachten Anträge auf Aufhebung des Legalisierungszwanges ein. Das Haus bediente sich einer listigen, popularitätsschonenden Schizophrenie: Es be68  Aus dieser Kurie stimmte diesmal nur der Großindustrielle Peter Steffens aus Goldenkron / Zlatá Koruna (Landgemeinden Krumau in Böhmen) mit der Regierung. 69  Zwei böhmische Abgeordnete (Lumbe und Baron Wächter) stimmten diesmal anders. Der zweite große Block auf Regierungsseite waren die Abgeordneten der adriatischen Länder bzw. der Bukowina. 70  Politik 3.4.1873, S. 4. 71  StPHH VII 555–566 (22.4.1873). Im Herrenhaus verteidigte Graf Hartig erfolglos die Vorlage. Er habe sich selbst „die Agitation und Animosität nicht recht erklären können“, sich aber von deren Berechtigung überzeugt: Ein Bauer müsse entweder zwei Zeugen mit in die Stadt nehmen – oder dort zwei Leute anheuern, die im Sinne des Gesetzes erst recht keine Seriosität verbürgten. General Prinz Friedrich Liechtenstein hielt den Kompromiß für schlecht, forderte die Regierung aber auf, auf anderem Wege Abhilfe zu schaffen.

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stellte mit geheimen Stimmzetteln einen Ausschuß, der sich mit Mehrheit gegen eine Reform aussprach, bloß um vom Plenum in offener, z. T. namentlicher Abstimmung prompt desavouiert zu werden. Am 20. Januar 1875 beschloß das Abgeordnetenhaus sogar mit Zwei-Drittel-Mehrheit (115 über 41) eine Resolution, die Regierung möge einen entsprechenden Entwurf zur Abschaffung des Legalisierungszwanges vorlegen.72 Freilich, Schönerer unkte wohl zurecht, man habe „den Legalisierungszwang oft links bei der Tür hinausgeschafft.“ Er sei aber „bald darauf wieder bei einem Hintertürchen in diesem Hause erschienen.“73 Glaser mochte betonen, „wenn es eine Frage gibt, die keine politische ist, so ist es diese und wahrhaftig man sollte auch keine daraus machen.“74 Doch konnte es niemand verborgen bleiben – ja, Glaser wies auch noch selbst darauf hin – daß die Anträge auf Aufhebung des Legalisierungszwanges zum Steckenpferd einer (un-)heiligen Allianz geworden waren, im Sinne eines „les extremes se touchent“, nämlich von dezidiert antiklerikalen Fortschrittlichen auf der einen, und ihren erklärten Widersachern, von Hohenwarts klerikalen Bauern, auf der anderen Seite. Diese Kombination war nun freilich nicht geeignet, der Regierung ein Entgegenkommen schmackhaft zu machen.75 Da nützte es nichts, wenn Fux alle Register seiner Beredsamkeit zog, die Genesis des Gesetzes bemühte („es stammt bekanntlich aus dem Jahre 1871, aus einem Jahr traurigen Angedenkens“76), dem Innenminister Lasser Blumen streute, „der doch das praktische Leben ex nuce und ex asse kennt“ oder ausgerechnet Herbst mit dem Satz zitierte: „Principienreiterei hat wahrhaft noch keinen Staat großgemacht.“77 Doch die Regierung reagierte auf die Resolution des Hauses nicht; doch das Abgeordnetenhaus nahm diese Mißachtung nicht weiter tragisch: Ein weiterer Ausschuß unter dem Vorsitz des Czernowitzer Bürgermeisters Kochanowski, eines verläßlichen 72  StPAH VIII 3630 (20.1.1875). Von den 41 Gegenstimmen stammten 32 von Mitgliedern der Verfassungspartei, die Hälfte von Großgrundbesitzern, fünf von Mandataren der Handelskammern, drei weitere von Ministern. Nur mehr ein halbes Dutzend deutscher „Volksabgeordnete“ wagten ein Votum gegen die vox populi: Franz Groß als alter Anhänger des Legalisierungszwanges, sein Notarskollege Ryger aus dem mährischen Holleschau, die Gebrüder Sueß aus Wien – und als einzige Landgemeindenvertreter das Duo Herbst und Hanisch, das zu seiner ursprünglichen Überzeugung zurückgefunden hatte. 73  StPAH VIII 3611 (20.1.1875). 74  StPAH VIII 3627 (20.1.1875). 75  Vgl. StPAH VIII 3627 (Justizminister Glaser). 76  StPAH VIII 420 (23.1.1874). 77  StPAH VIII 3621 f. (20.1.1875). Fux konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen, bei den konfessonellen Gesetzen sei die Regierung weit weniger prinzipienfest (ebd. 3610).



Das Janusgesicht des liberalen Rechtsstaates81

Gouvernmentalen, hatte auch nach fast zwei Jahren immer noch keinen Bericht erstattet, weil seine vielbeschäftigten Mitglieder sich „nur mit Mühe die freien Stunden abringen konnten“.78 Es war ein geringer Trost, daß es der bäuerlichen Rechten nach dem Regierungswechsel des Jahres 1879 mit ihren Bemühungen nicht viel besser erging. An die Stelle von Fux trat unter dem Ministerium Taaffe – vive la petite difference – der Salzburger Fuchs als unermüdlicher Kämpfer gegen den Legalisierungszwang. Diesmal stimmte endlich einmal sogar der dafür eingesetzte Ausschuß mit seinen Anträgen überein, das Haus nahm mit Zwei-Drittel-Mehrheit die sofortige dritte Lesung vor. Inzwischen schlossen sich auch die Tschechen Adámek und Vašaty in der Debatte Fuchs an (Vašaty sah im Legalisierungszwang das Resultat einer „Importationsmanie“79 nach bayerischen und sächsischen Vorbildern); nur der Jungtscheche Trojan, vielleicht nicht zufällig ein Notar, lehnte sich gegen seine Klubkollegen auf.80 Doch das Resultat war auch 1880 das gleiche wie 1873: wenige Wochen später ging dem Abgeordnetenhaus der Bescheid zu, das Herrenhaus sei über seine Beschlüsse zur Tagesordnung übergegangen.81 Auch die nächste Session begann 1885 wie das Amen im Gebet mit Anträgen der Opposition auf Erleichterungen des Legalisierungszwanges, die zunächst auf lange Zeit im Ausschuß begraben, dann noch einmal an ihn rückverwiesen wurden. Schon lange vor dem Ungeheuer von Loch Ness war die Parabel bekannt: „Wie eine Seeschlange taucht  / diese Frage /  in jeder Session auf, um sich dann wieder für die nächsten Jahre zu verlieren.“82 Endlich zeitigten die Bemühungen 1890 ein Resultat,83 wenn auch eines, das von mehreren Rednern mit dem Ausruf: „Parturiunt montes, nascitur ridiculus mus“ begrüßt wurde.84 Der Legalisierungszwang wurde für Eintragungen von Grundstücken im Wert von unter 100 fl. aufgehoben (die Opposition hatte diese Grenze immerhin auf 500 fl. anheben wollen).

78  StPAH

VIII 9515 (29.9.1877). IX 1607 (5.3.1880). 80  StPAH IX 1587 (5.3.1880). 81  StPAH IX 2923 (4.5.1880). Das Herrenhaus trug damals – vor dem Pairsschub des Jahres 1881 – allerdings noch einen überwiegend verfassungstreuen Charakter. 82  StPAH X 12828 (14.5.1889). 83  Mayrhofers Handbuch I 984 f. 84  StPAH X 7117 (Türk), 7121 (Roser), 28.2.1888. 79  StPAH

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Abstract The Janus-faced Liberal Rule of Law – the Debate about the Reform of the Land Register 1870–71 In 1871, the Austrian Reichsrat passed a law that made it mandatory to provide two witnesses in front of a notary to „legalize“ the buying and selling of landed property. The passing of the law unleashed a storm of disapproval from farmers, with pros and cons that cut across the usual cleavages of Left and Right. The Liberals, temporary out of office in 1871, were split about the merits of the case. In the future, they usually adopted the tactic of bowing to the popular mood in public, while making sure that the law remained on the statute book by relying on the Upper House to prevent any change.

Vertragsfreiheit oder Wucherschutz? Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und die Zinsfreiheit in Österreich und in Ungarn – eine Diskussion aus der Zeit des Neoabsolutismus Stefan Malfèr Das 21. Hauptstück des ABGB − „von dem Darleihensvertrage“ − führte im § 993 den Begriff der „erlaubten Vertragszinsen“ ein. Ein Darlehensvertrag hatte nur dann Bestand, wenn die erlaubten Vertragszinsen nicht überschritten wurden. Der nachfolgende § 994 setzte die Höhe der erlaubten Vertragszinsen mit 5 % bei einem gegebenen Unterpfand, einer Hypothek, fest, und mit 6 % ohne eine solche, also wenn das Risiko, das verliehene Geld zurückzubekommen, größer war. (Dass die Zinsen mit dem Risiko steigen, wird uns heutzutage bei allen Nachrichten in Erinnerung gerufen. Im Umkehrschluss heißt das, dass billiges Geld, also niedrige Zinsen, Vertrauen und Sicherheit voraussetzen.) Die Regelung galt nur für Private, denn für den Handel und die Industrie untereinander galten gemäß dem nachfolgenden § 995 6 % als gesetzlich höchster Zins. Man muss sich fragen, warum die Verfasser des ABGB diese Paragraphen über die erlaubten Vertragszinsen und deren Höhe eingefügt haben. Sie sind vor dem Hintergrund der Jahrzehnte lang kontrovers diskutierten Frage zu verstehen, ob die Höhe der Zinsen freigestellt oder reguliert werden sollte. Valentin Urfus hat diese Debatte, die sich in periodischen Diskussionen konkretisiert hat, dargestellt1. Der Merkantilismus neigte zur gesetzlichen Festlegung der Zinsen. Was darüber hinaus ging, war Wucher. Der Physiokratismus, später der Liberalismus traten für die Freigabe ein, der Markt sollte die Zinsen regulieren. Nach dem merkantilistischen theresianischen Wucherpatent von 1751 folgte die Aufhebung des gesetzlichen Zinsfußes und der Strafbarkeit des Wuchers unter Kaiser Joseph II. durch das Patent vom Jahre 1787. Dieses enttäuschte aber, und so wurde unter Kaiser Franz mit dem Wucherpatent von 1803 wieder ein Höchstzinssatz eingeführt. Als Begründung wurde in der Einleitung zu diesem Patent gesagt: 1  Valentin Urfus, Die Wuchergesetzgebung in Österreich zwischen Josephinismus und Liberalismus, in: Nikolaus Grass / Werner Ogris (Hrsg.), Festschrift Hans Lentze zum 60. Geburtstag, Innsbruck − München 1969, S. 575–585.

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„Eine vieljährige, durch häufige Beispiele bestätigte Erfahrung hat die Erwartung, in welcher die vormals gegen den Wucher erlassenen Gesetze durch das Patent vom 29. Januar 1787 aufgehoben wurden, nur zu sehr widerlegt. An die Stelle der durch diese Begünstigung beabsichteten freieren Verwendung der Kapitalien zur Unterstützung nützlicher Unternehmungen trat ungemäßigte Gewinnsucht, die auf die Torheit der Verschwendung und die Drangumstände des Bedürfnisses spekulierte, Fleiß und Betriebsamkeit mutlos machte, den Privatkredit unterdrückte und die schädlichsten Folgen auf Sitten und Gesinnungen verbreitete.“2

Die Regulierung von 1803 wurde acht Jahre später auch ins ABGB übernommen. Dennoch muss man sich fragen, warum nicht nur das Prinzip, sondern auch die Zinshöhe selbst ins ABGB übernommen wurde, anders gesagt, warum man eine aus heutiger Sicht wirtschaftspolitische Festlegung in das Gesetzbuch über die bürgerlichen Rechtsverhältnisse aufgenommen hat. Die Autoren hätten ja sagen können, die Höhe der erlaubten Vertragszinsen werde durch entsprechende Verordnung oder durch das Wuchergesetz festgelegt. Ein Verweis im ABGB auf andere Gesetze war nichts Ungewöhnliches. Allein im 21. Hauptstück mit seinen nur 19 Paragraphen wird vier mal auf andere Gesetze verwiesen, nämlich im § 986 auf Vorschriften betreffend klingende Münze bzw. Papiergeld, im § 988 auf gesetzliche Münzveränderungen, im § 1000 auf das schon erwähnte Wuchergesetz und im § 1001 auf die Gerichtsordnung3. Der erste Grund ist darin zu sehen, dass hier eben einfach das Wuchergesetz ins ABGB inkorporiert wurde. Dort lautete der entsprechende Ausdruck nicht „erlaubte Vertragszinsen“, sondern „rechtliche Zinsen“, die Höhe der Zinsen war aber auch dort mit 5 % bzw. 6 % festgelegt. Der wirkliche, innere Grund dürfte aber der sein, dass diese Zinshöhe so selbstverständlich war, dass man sie nicht als ökonomische Aussage begriff, eine Änderung darin nicht vorstellbar war. Dass 6 % als obere, nicht überschreitbare Grenze empfunden wurde, resultiert auch aus der Tatsache, dass tatsächlich auch niedrigere Zinsen, zwischen 3 % und 5 %, üblich waren und dass der § 995 für Private als gesetzliche Zinsen für jene Fälle, wo gar keine Zinsen bedungen waren, solche aber gesetzlich gebührten, sogar nur 4 % festlegte. Das allgemeine Zinsniveau war einfach niedriger. Auch in Ungarn galten 6 % als gesetzlich höchster Zinssatz, gemäß dem Gesetzartikel 120 aus 17234. Allerdings wurde nicht zwischen hypotheka2  Patent

vom 2. Dezember 1803, Justizgesetzsammlung Nr. 640 / 1803. den Verweisungen im ABGB siehe umfassend Wilhelm Brauneder, Geschlossenheit der Kodifikation? Die Verweisungen im ABGB, in: P. Caroni / I. Dezza (Hrsg.), L’ABGB e la codificazione asburgica in Italia e in Europa, Padova 2006, S. 1–32; vgl. auch Werner Ogris, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band II, Verwaltung und Rechtswesen, A. Wandruszka, P. Urbanitsch (Hrsg.), Wien 1975, S. 590. 4  Anton Dauscher, Das ungarische Civil- und Strafrecht nach den Beschlüssen der Judex-Curial-Conferenz, Wien 21862, S. 130, nennt als Quelle den Gesetzarti3  Zu



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risch gesichertem und nicht gesichertem Kredit unterschieden, sodass auch für hypothekarisch gesicherte Kredite 6 % verlangt werden konnten anstatt wie in den Erbländern nur 5 % gemäß dem Wuchergesetz von 1803 bzw. dem ABGB. Der Unterschied war den Zeitgenossen natürlich bewusst. Nichts darüber schrieb Graf István Széchenyi in seinem berühmten ersten Buch „Hitel“, „Über den Kredit“, 1830 erschienen. Es war weniger eine ökonomische Abhandlung als eine politisch-moralische Schrift. In einer noch im Erscheinungsjahr herausgekommenen deutschen Übersetzung mit „Anmerkungen und Zusätzen von einem ungarischen Patrioten“ im Anhang wird auf einen kurzen Satz Bezug genommen und ein erläuternder Abschnitt mit dem Titel „Der Zinsfuß“ abgedruckt. Széchenyi hatte – in diesem Fall die ungarischen Zustände lobend – geschrieben: „Der [ungarische] Kapitalist kann bei guter Einrichtung in zwölf Jahren sein Kapital verdoppeln; und auch dieses hängt nur von uns selbst ab. Der türkische Kapitalist würde das schon nicht tun können, weil er Gefahr liefe, wenn er sein Geld auf Zinsen anlegte und nicht verschlösse. […] So gibt es in jedem Land Überfluss und Mangel.“5

Dazu der Kommentator: „Es ist ganz richtig, dass bei uns ein Kapital durch zusammengesetzte Zinsen in zwölf Jahren verdoppelt werden kann. Es ist richtig, weil der gesetzliche Zinsfuß bei uns der 6%ige ist. Aber dass er das ist, und dass bei uns eine so schnelle Verdoppelung des Kapitals durch Zinsen möglich ist, dürfen wir nicht zu den Vorzügen unseres Landes rechnen, dieser hohe Zinsfuß, der dem Wucherer schon darum, weil er der gesetzliche ist, nicht genügt, ist eine wahre Landplage. Er bereichert nur den Geldbesitzer, und tut es auf Kosten des Ackerbaues, des Handels und des Gewerbefleißes. […] Der Zinsfuß ist in allen Ländern des Erdbodens der zuverlässigste Messer ihres Wohlstandes und ihrer Zivilisation. In reichen und zivilisierten Ländern ist er sehr niedrig. In armen und unzivilisierten Ländern ist er erdrückend hoch. […].“6 kel 120  /  1723. Der ungarische Reichstag von 1722  /  23 ist vor allem wegen der Annahme der Pragmatischen Sanktion bekannt, er war aber auch in anderer Hinsicht sehr produktiv und verabschiedete zahlreiche Gesetzartikel zur Verwaltungsreform, zur Errichtung des königlich ungarischen Statthaltereirates, zur Wiederansiedlung usw. Der kurze Gesetzartikel 120 lautet: „Articulus 120 de coercendis usuariis. Ut usuarii (actione fisco regio competente, eidemque relicta) non tantum in totius interesse, sed etiam capitalis amissione puniantur; et quod ultra legale sex per centum interesse a debitoribus suis exegerunt, id damnificatis per idem judicium restituatur, justum est.“ 5  István Széchenyi, Ueber den Credit. Aus dem Ungarischen übersetzt von Joseph Vojdisek. Nebst einem Anhange. 2. verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig-Pest 1830, S. 49 f. 6  Ibid. S.  323 f.

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Mit der Einführung des ABGB in Ungarn am 1. Mai 18537 wurde schlagartig ein mit 6 % verzinster hypothekarischer Kredit zum Wucher. Gesetze wirken aber nicht zurück, und so beantwortete das Justizministerium eine entsprechende Anfrage damit, dass die vor dem Inkrafttreten des ABGB in Ungarn eingegangenen Verpflichtungen aufrecht blieben und das dafür bestellte Pfandrecht auch in die neuen Grundbücher übertragen werden dürfe. Diese Erläuterung wurde aber nicht öffentlich kundgemacht. Neue Hypothekarkredite durften nur mehr mit 5 % verzinst werden. Das führte natürlich dazu, dass sich Kreditgeber um bessere Möglichkeiten umschauten. Die Folge war eine gewisse Verknappung der Hypothekarkredite. Fünf Jahre nach der Einführung des ABGB, im Februar 1858, machte sich der Generalgouverneur in Ungarn, Erzherzog Albrecht, zum Anwalt in dieser Angelegenheit und regte an, als Zugeständnis für Ungarn dort den § 994 provisorisch aufzuheben und zu gestatten, dass auch für Pfandkredite 6 % bedungen werden durften, um der Geldklemme abzuhelfen8. Das Ansuchen wurde wie folgt begründet: „In Ungarn war es vor Einführung des ABGB gestattet, auch für hypothezierte Darlehen 6 % zu verlangen. Seit Einführung des ABGB können, nach § 994 ABGB nur 5 % bedungen werden. Dies hatte zur Folge, dass Sparkassen, Waisenämter, Stiftungsfonds u. dgl., die auf das früher gestattete 6. Prozent teils zur Deckung ihrer Administrationskosten, teils zur vollständigen Erfüllung ihrer Stiftungsverbindlichkeiten etc. mit angewiesen, den Grundbesitzern nichts leihen konnten, da sie durch Eskompteankauf von Staatspapieren etc. das 6. Perzent erlangten; und dass Private sich von Darlehen an Private ganz zurückzogen, da sie hierbei, nebst größeren Schwierigkeiten, auch noch weniger Interessen erhielten. Diese Übelstände fallen in einer Periode doppelt schwer, in der, wie gegenwärtig, die Grundbesitzer bares Geld zur Instruierung ihrer Güter so sehr bedürfen.“9

Im Ministerium des Inneren in Wien hatte man übrigens schon 1854 begonnen, sich über das Wuchergesetz Gedanken zu machen, allerdings nicht in der Absicht, es abzuschaffen, sondern um ein für die ganze Monarchie einheitliches Wuchergesetz zu erlassen, konsequent zum Plan der neoabsolutistischen Regierung, systematisch alle Rechtsbereiche zu verein7  Siehe dazu Christian Neschwara, Das ABGB in Ungarn: verfassungsrechtlich bedingte Adaptation einer Kodifikation, in: P. Caroni / I. Dezza (Hrsg.), L’ABGB e la codificazione asburgica in Italia e in Europa, Padova 2006, S. 451–478, hier S. 455–460. 8  Note Erzherzog Albrechts an den Justizminister v. 3.2.1858, Z. 706-G; dazu siehe den Vortrag Nádasdys v. 9.3.1858, Präs. 2610, Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien (AVA.), JM., I W 2 / 1, Karton 1862; die Note selbst liegt nicht bei den Akten. 9  Zit. nach dem Referat von Ministerialrat Anton Hye, Beilage zu Ministerkonferenz (MK.) v. 23. und 25.2.1858, Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867 (ÖMR.), Abteilung III: Das Ministerium Buol-Schauenstein, Band 6, bearbeitet von Stefan Malfèr, (im Druck), Nr. 436.



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heitlichen. Das Wuchergesetz von 1803 galt ja nur in den Erbländern. Man ging so wie immer vor: die einschlägigen bestehenden Gesetze wurden den Zentralstellen und den Landesbehörden zur Stellungnahme übermittelt. Im konkreten Fall wurde das Justizministerium gebeten, die Verhandlung zu führen. Grundsätzlich traten die drei Minister für Inneres, Finanzen und Handel, Alexander Freiherr v. Bach, Karl Ludwig Freiherr v. Bruck und Georg Ritter v. Toggenburg, für die unbedingte Aufhebung der Wuchergesetze und der zivilrechtlichen Bestimmungen ein, während Justizminister Karl Ritter v. Krauß und der Chef der Obersten Polizeibehörde Johann Freiherr Kempen v. Fichtenstamm für die Beibehaltung waren. Die befragten Oberlandesgerichtspräsidenten und die Statthalter waren geteilter Meinung. Alle diese Meinungen wurden im schriftlichen Verhandlungsweg eingeholt, was natürlich geraume Zeit erforderte10. Der Antrag Erzherzog Albrechts platzte herein, noch bevor die Verhandlung im Ministerium zu einer Antragstellung reif war, und er war durchaus geeignet, die Behandlung zu beschleunigen und auch die Diskussion zu intensivieren. Es zeigte sich nämlich, dass mit der Frage nach einem einheitlichen Wuchergesetz wieder eine Diskussion über Regulierung oder Freigabe der Zinsen ausgelöst wurde, wie schon mehrmals in den vergangenen hundert Jahren. Nur wenige Wochen nach dem Vorstoß Erzherzog Albrechts war es endlich so weit, dass die Ministerkonferenz mit dem Thema befasst wurde. In einer zweitägigen, ausführlichen Sitzung wurden die Argumente pro und kontra auf den Tisch gelegt11. Es stellte sich heraus, dass Innenminister Bach seine Meinung geändert hatte und nun, nach einer aufwändigen, auch die involvierten Geldsummen berücksichtigenden Prüfung, gegen die sofortige Aufhebung war. Toggenburg war nicht anwesend, er weilte − auf Hochzeitsreise. Nur mehr Finanzminister Bruck war für die Aufhebung der Wuchergesetze. Die Argumente, die in dieser Ministerkonferenz vorgebracht wurden, können wie folgt auf den Punkt zusammengefasst werden. Justizminister Franz Graf Nádasdy (er hatte am 18. Mai 1857 Karl Ritter v. Krauß in der Leitung des Ministeriums abgelöst) bestritt, dass es eine Geldknappheit gebe. Würde aber der gesetzlich erlaubte Zinssatz erhöht, dann würde auf alle Hypothekarforderungen ein Druck zur Erhöhung der Zinsen entstehen, die Folgen wären ein allgemeiner Preisanstieg und eine Inflation, im Gegenzug würden die Kurse der Staatspapiere und ebenso der Aktien sinken. Er war also aus nationalökonomischen, politischen und finanziellen Gründen für die Beibehaltung der bisherigen Gesetze. Finanzminister Bruck widersprach, es gebe sehr wohl einen Geldmangel, und eine allgemeine Zinssteigerung werde durch die Freigabe nicht eintre10  Die

Akten dazu in AVA., JM., I W 2 / 1, Karton 1862. v. 23. und 25.2.1858 / I, ÖMR. III / 6, Nr. 436.

11  MK.

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ten. Er vertraute ganz auf den Marktmechanismus, wie wir heute sagen würden. Denn wenn genug Geld vorhanden sei, dann sei die gesetzliche Zinsbeschränkung überflüssig, weil der Geldsuchende ohnehin billiger zu Geld komme, sei das Geld aber knapp, dann sei die Zinsbeschränkung gefährlich und schädlich, weil sie hemmend wirke. Innenminister Bach konzentrierte sich auf die sozialpolitischen Aspekte. Betroffen seien eigentlich nur die Grundbesitzer, denn für den Handel und die Industrie untereinander galten laut § 995 ABGB schon jetzt 6 %, die Privaten aber könnten durch die allgemeine Wechselfähigkeit nach der neuen Wechselordnung von 1850 leichter zu Geld kommen. Man müsse sich also fragen, was eine Freigabe für die, wie er sagte, geschlossene Klasse der Grundbesitzer bedeute. Für sie werde die Freigabe sicher eine Zinssteigerung bringen, eine solche sei aber gefährlich, denn mehr als 5 % könne der Grundbesitz nicht ertragen. Im übrigen gehe es dieser Klasse viel mehr um langfristige Sicherheit und Stabilität als um Gewinn. Er belegte mit Zahlen, dass es keine Geldknappheit gebe. In dieselbe Kerbe schlug der Minister für Kultus und Unterricht Graf Leo Thun. Alle Schranken würden fallen, der Grundbesitz würde belastet, die freie Teilbarkeit der Güter würde kommen, die Spekulation würde überhand nehmen. Der Chef der obersten Polizeibehörde Kempen unterstützte vorbehaltlos den Justizminister, ebenso Graf Buol-Schauenstein, der Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern und Vorsitzender der Konferenz. Er beendete die Debatte mit der Bemerkung, dass in reichen und in der Kultur entwickelten Ländern ein niedriger, in den weniger entwickelten ein höherer Zinsfuß bestehe und er demzufolge die Erhöhung des Zinsfußes in einem Staate für ein Armutszeugnis hielte12. Im Februar 1858 lehnte also die große Mehrheit in der Ministerkonferenz die Änderung der Gesetze und den Antrag Erzherzog Albrechts ab. Kempen kommentierte die Debatte in seinem Tagebuch lakonisch und ironisch mit dem Satz: „In der heutigen Ministerkonferenz wurde die Frage, ob die be­ stehenden Wuchergesetze aufzuheben seien, gegen die Meinung Brucks all­ 12  „Der tg. gefertigte Vorsitzende endlich erklärte sich ebenfalls für die Meinung des Justizministers, indem er bei dem Umstande, dass in reichen und in der Kultur entwickelten Ländern ein niedriger, in den minder entwickelten ein höherer Zinsfuß besteht, die Erhöhung des Zinsfußes in einem Staate für ein Armutszeugnis ansehen müsste und sich der Hoffnung überlässt, dass die Zeit, wo man in Österreich Geld zu 4 1 / 2 % auf Hypotheken leicht bekommen konnte, wiederkehren werde, sobald die unter besonderen Einflüssen entstandene, derzeit noch überwiegende Neigung der Kapitalisten, sich an Kreditpapieren aller Art in so ausgedehntem Maße zu beteiligen, infolge der vom Finanzminister in Aussicht gestellten Konjunkturen und Maßregeln in das rechte Geleise wird zurückgeführt worden sein.“



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gemein verneint. Diese Entscheidung wird bei den Geldmännern Lärm machen.“13 Auch der (neoabsolutistische) Reichsrat, dem die Angelegenheit vor der allerhöchsten Schlussfassung noch zugewiesen wurde, lehnte die Aufhebung mit eminenter Mehrheit ab14. Als einziger trat Reichsrat Franz Leodegar Ritter v. Wildschgo für die Freigabe ein. Referent war Thaddäus Peithner Freiherr v. Lichtenfels. Wie sehr die Thematik weltanschaulich besetzt war, zeigt seine Begründung für die Notwendigkeit, ein Zinsmaximum gesetzlich festzuhalten. Ich zitiere aus seinem Gutachten: „Das Gewicht der Anträge für die Freigebung des Zinsfußes beruht auf der Voraussetzung, dass im natürlichen Gefolge der allgemeinen Konkurrenz des Angebotes und der Nachfrage auch das Kapital einen mäßigen Marktpreis annehme, bei völlig freier Bewegung die Kapitalien dahin strömen werden, wo man derselben bedarf, und es dadurch dem Kapitalbedürftigen möglich werden wird, Geld zu niedrigeren Zinsen zu erhalten, als es jetzt unter dem Schutze des beschränkten Zinsfußes und der Wuchergesetze der Fall ist. Die Erfahrung aller Länder und Zeiten hat jedoch gelehrt, dass die Darlehenszinsen bei völlig freier Bewegung sich weit weniger nach einem Ebenmaße der Konkurrenz, als in jedem einzelnen Falle nach der Not des Schuldners und nach der schrankenlosen Gewinnsucht der Kapitalisten richte. Sie hat gelehrt, dass die Habsucht einerseits und Bedrängnis, Leichtsinn oder unbedachtes Vertrauen auf glückliche Unternehmungen mit erborgten Geldern andererseits die Zinsen bis zur Unmäßigkeit steigern, diese aber den Ruin zahlreicher Schuldner zur Folge haben und den öffentlichen Wohlstand eben so sehr als die allgemeine Sittlichkeit untergraben.“

Der Kaiser folgte der Mehrheit seiner Beratungsgremien. Das Wuchergesetz und der § 994 des ABGB blieben in Geltung. Allerdings wurde der Justizminister beauftragt, ein einheitliches Wuchergesetz für die ganze Monarchie auszuarbeiten, weiters wurde gestattet, jene Entscheidung des Justizministeriums, dass ältere Hypothekarkredite in Ungarn vom ABGB nicht betroffen waren, als Ministerialverordnung im Reichsgesetzblatt zu publizieren. Beides war so auch von der Ministerkonferenz beantragt worden. Das Justizministerium machte sich sofort an die Ausarbeitung des Entwurfs eines einheitlichen Wuchergesetzes. Die Meinungen blieben aber so geteilt, dass es nicht möglich war, zu einem einzigen Entwurf zu kommen, daher wurden zwei unterschiedliche vorgelegt, zu denen als dritter ein Entwurf des Innenministeriums zur Abänderung der Paragraphen 994–996 des ABGB kam. Diese Beratungen, die wieder alle Instanzen durchliefen, waren erst nach mehr als zwei Jahren abgeschlossen. In der Ministerkonferenz am 13  Josef Karl Mayr (Hrsg.), Das Tagebuch des Polizeiministers Kempen von 1848 bis 1859, Wien-Leipzig 1931, S. 465, Eintragung v. 25.2.1858. 14  Gutachten des Reichsrates, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHSTA.), RR., GA. 303 / 1858, GA. 398 / 1858 und GA. 512 / 1858.

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5. Juni 1860 legte der Justizminister das Ergebnis vor15. Inzwischen hatten sich aber die Verhältnisse und die personelle Zusammensetzung der Konferenz geändert. Der Vorsitzende Graf Buol-Schauenstein war nach dem Ausbruch des Krieges gegen Sardinien zurückgetreten, der Krieg ging verloren, Kaiser Franz Josephs Neoabsolutismus wurde schwer erschüttert. Der Nachfolger Buols, Johann Bernhard Graf v. Rechberg, führte ein z. T. personell erneuertes Kabinett. Die Minister Nádasdy und Thun vertraten zwar dieselbe Meinung wie zwei Jahre zuvor, und auch Bachs Nachfolger als Innenminister, Agenor Graf Gołuchowski, sprach gegen die Freigabe und befürwortete nur die allgemeine Anwendung des Satzes von 6 %. Die Mehrheit der Konferenz aber, 4 zu 3 Stimmen, sprach sich nun für die gänzliche Freigabe aus, nämlich Finanzminister Ignaz Edler v. Plener, der Amtsnachfolger des verstorbenen Freiherrn v. Bruck, Ministerpräsident Rechberg, Polizeiminister Adolph Freiherr v. Thierry und der Vertreter des Armeeoberkommandos, FML. Joseph Ritter v. Schmerling, der Bruder des späteren liberalen Staatsministers Anton Ritter v. Schmerling. Bemerkens- und lesenswert ist die Stellungnahme von Finanzminister Plener, der scharf und grundsätzlich den liberalen Standpunkt formulierte und in eigenhändiger Korrektur ins Protokoll einfügte. Da war von patriarchalischer Bevormundung, Gängelband, moralisierender Prohibition, von Ängstlichkeit und Halbheit der österreichischen Regierung die Rede. Pleners eigenhändige Einfügung wäre ein Lesebuchstück für das Kapitel „Mut vor Fürsten­ thronen“16. Am Ende der Sitzung versprach der unterlegene Justizminister, den Entwurf im Sinn der Majorität umzuarbeiten, und bereits eine Woche später, am 12. Juni 1860, verabschiedete die Ministerkonferenz den Entwurf eines Patentes über die Freigabe des Zinsfußes und die Abschaffung der Strafe für Wucher17. Er enthielt den ausdrücklichen Hinweis der Aufhebung der §§ 993–996 und 998 des ABGB.

15  MK. v. 5.6.1860 / III, ÖMR., Abteilung IV: Das Ministerium Rechberg, Band 2, bearbeitet von Stefan Malfèr, Wien 2007, Nr. 171. 16  „Es ist eine beklagenswerte Erscheinung in vielen Vorgängen der österreichischen Regierung, daß sie, das Bedürfnis einer Änderung und Aufhebung beengender Verbote gleichsam instinktmäßig herausfühlend, sich zwar anschickt, einen Schritt vorwärts zu gehen, aber dabei wieder einen halben Schritt zurück macht und ängstlich und unfrei von Vorurteilen für das Althergebrachte so häufig sich mit halben Maßregeln begnügt, die weit mehr schaden, als wenn es ganz bei dem alten bliebe. Eine derlei halbe Maßregel erblicke ich in dem Entwurfe I und entscheide mich daher für die gänzliche Aufhebung der Zinsfußnormierung und sofort für die Beratung des Entwurfes II. Österreich muß sich in öffentlichen Angelegenheiten den modernen Anschauungen erschließen und diesen Standpunkt in jeder Frage, somit auch in der vorliegenden mit Mut und Vertrauen einnehmen.“ 17  MK. I v. 12.6.1860 / I, ÖMR. IV / 2, Nr. 174.



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Aber − der Kaiser ließ den Entwurf liegen. Er leitete ihn nicht einmal dem (neoabsolutistischen) Reichsrat zur Begutachtung weiter, was der ­übliche Vorgang war. Er hatte 1858 ein einheitliches Wuchergesetz für die ganze Monarchie in Auftrag gegeben, nun legte die Regierung ein einheitliches Gesetz für die Monarchie zur Aufhebung des Wuchergesetzes vor. Er ließ es einfach liegen. Die Fortsetzung der Debatte erfolgte im Jahr darauf. Die Verhältnisse hatten sich schon wieder verändert. Das Oktoberdiplom und das Februarpatent waren erlassen, ein Parlament war einberufen und eröffnet worden (es hieß bekanntlich auch Reichsrat), in dem die liberale Verfassungspartei die Mehrheit hatte, der starke Mann in der Regierung war Anton Ritter v. Schmerling als Staatsminister. Am 7. Juli 1861 hatte der neue Justizminister Adolf Freiherr v. Pratobevera unter großem Beifall des Abgeordnetenhauses die Abänderung des Wucherpatentes angekündigt. Allerdings erwies sich der von Pratobevera vorgeschlagene Weg als nicht gangbar. Er wollte den strafgerichtlichen Teil erneuern, die Frage der Aufhebung oder Erhöhung des Zinsfußes aber den Landtagen überlassen. Das wurde einhellig abgelehnt, sowohl im Staatsrat, dem Nachfolger des neoabsolutistischen Reichsrates, als auch im Ministerrat. Die Rechtseinheit wollte niemand aufgeben. Interessant ist, dass im Ministerrat vom 6. November 1861, in dem dieser Vorschlag auf der Tagesordnung stand18, von fast allen die Aufhebung des Wucherpatents und die Freigabe des Zinses geradezu als Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit hingestellt wurde. Die gesetzliche Festlegung des Zinssatzes wurde als lächerlich, als dem Todesurteil verfallen, als Antiquität bezeichnet. Nur der neue Polizeiminister, Carl Freiherr v. Mecséry, warnte vor der plötzliche Freigabe, die den Grundbesitzern schade. Hatte 1858 Finanzminister Bruck als einziger gegen alle die Freigabe vertreten, so brachte nun, drei Jahre danach, Polizeiminister Mecséry als einziger gegen alle die alten Argumente vor. Der Verwaltungsminister Joseph Lasser Ritter v. Zollheim schlug vor, den Entwurf des Vorjahres, der ja liegen geblieben war, heranzuziehen und noch einmal zu revidieren. Den taktischen Ausweg wies Schmerling. Er pflichtete Lasser bei, schlug aber dezidiert vor, dass „die Frage der Zinsenbeschränkung nach allen Richtungen geprüft und ausgearbeitet werde“. Dieser Antrag, der sofort die Mehrheit des Ministerrates erhielt, mutet seltsam an, wenn man die Einmütigkeit und Eindeutigkeit sieht, mit der fast alle die Zinsenbeschränkung als überholt ansahen. Es handelt sich hier offensichtlich um einen jener Fälle, wo die Regierung zwischen dem Kaiser und dem 18  MR. I v. 6.11.1861, ÖMR., Abteilung V: Die Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff, Band 3, bearbeitet von Stefan Malfèr, Wien 1985, Nr. 148.

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Reichsrat lavieren musste. Was wie ein schwaches „auf die lange Bank schieben“ ausschaut, war in Wirklichkeit der Versuch, die Blockade aufzulösen, den gestrandeten Entwurf von 1860 wieder flott zu machen. Es galt, den Kaiser zu gewinnen, ein Stück vorwärts zu gehen. Wenn er schon die Aufhebung des Wucherpatents verweigerte, dann sollte er wenigstens „die erneute Prüfung nach allen Seiten“ erlauben. So geschah es tatsächlich. Aber eine rasche Erledigung der alten Frage war damit noch lange nicht erreicht. Eine wirkliche Debatte oder heftige Diskussion fand freilich auch nicht mehr statt, denn einerseits waren immer weitere Kreise davon überzeugt, dass die Zinstaxe, wie man sagte, eine Antiquität war, andererseits wurde sie mehr und mehr durch Ausnahmen für Banken und auf allen möglichen sonstigen Wegen umgangen und ausgehöhlt. Bevor wir zum nächsten und letzten Schritt kommen, müssen wir noch einmal auf Ungarn zurückkommen. Die Bitte Erzherzog Albrechts von 1856 war nicht erfüllt worden. Doch löste das (zu Unrecht geschmähte) Oktoberdiplom Bewegung aus. Eines der das Diplom begleitenden Handschreiben an den ungarischen Hofkanzler vom 20. Oktober 1860 stellte nämlich die frühere Justizverwaltung wieder her19, ein anderes ordnete eine Beratung über die Organisierung der ungarischen Justizpflege durch den Judex Curiae an20, ein drittes formulierte eine Rechtsüberleitung21. Aufgrund des Oktoberdiploms wurde bekanntlich 1861 der ungarische Landtag einberufen. Die Zeit für den Ausgleich war freilich noch nicht gekommen, der 1861er Landtag erwies sich aus Wiener Sicht als unbotmäßig, die Wiener Regierung war nicht flexibel genug (Schmerlings berühmter Ausspruch: „Wir können warten“), und so wurde der Landtag aufgelöst, und es folgte das so genannte Provisorium. Eine Sache aber erledigte dieser Landtag doch. Er verabschiedete die Beschlüsse der landesrichterlichen Konferenz, die so genannten Judexkurialkonferenzbeschlüsse. Diese Konferenz war zur Durchführung der zitierten Handschreiben zusammengetreten und hatte ungemein rasch und effizient gearbeitet. Franz Joseph sanktionierte die Beschlüsse, und am 23. Juli 1861 traten sie in Kraft, ungeachtet des bereits voll ausgebrochenen Streits zwischen dem Landtag und der Wiener Regierung über die staatsrechtlichen Fragen22. Die Beschlüsse von 1861 brachten auf vielen Rechtsgebieten eine wenigstens teilweise Rückkehr zum ungarischen Recht, mit ihnen hörte z. B. die Geltung des ABGB in Ungarn auf. Der Vorgang war 19  Edmund Bernatzik (Hrsg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze, Wien 1911, Nr. 61. 20  Ebd. Nr. 62. 21  Ebd. Nr. 65. 22  Siehe dazu Stefan Malf èr, Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch in Ungarn zur Zeit des „Provisoriums“ 1861–1867, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1, 1992, S. 32–44; Ch. Neschwara, Das ABGB in Ungarn 469 f.



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nichts weniger als ein Vorgriff auf den Ausgleich. In Bezug auf unser Thema hatte dies zur Folge, dass nun wieder Hypothekaranleihen zu 6 % aufgenommen werden konnten, wie vor dem Inkrafttreten des ABGB in Ungarn23. Erzherzog Albrechts Anregung und „Zugeständnis“ wurde auf diesem Weg umgesetzt, ohne dass die Frage für die ganze Monarchie grundsätzlich und „einheitlich“ gelöst worden wäre. Zur grundsätzlichen Lösung der Frage brauchte es noch einmal viel Zeit, dann ging es aber rasch. Wieder hatten sich die Verhältnisse geändert. Im Sommer 1865 entließ der Kaiser das Kabinett Erzherzog Rainer / Schmerling, weil es keine Lösung der ungarischen Frage hatte erzielen können. Er berief Graf Richard Belcredi zum Vorsitzenden des Ministerrates und zum Staatsminister und löste den Reichsrat auf. Im Herbst wurden die Landtage einberufen, gleichzeitig wurde das Grundgesetz über die Reichsvertretung sistiert24. Und dann geschah etwas Überraschendes. Vermutlich zu Beginn des Jahres 1866 beauftrage der Kaiser den Justizminister − es war nun Emanuel Heinrich Ritter Komers v. Lindenbach − in Erwägung zu ziehen, unter welchen Modalitäten die Wuchergesetze aufgehoben werden könnten. Weder der genaue Zeitpunkt noch die Art und Weise dieser Beauftragung werden in den Akten genannt, was auf einen mündlichen Befehl schließen lässt. Offensichtlich hatte der Kaiser seine Meinung geändert und den Widerstand gegen die Freigabe des Zinses aufgegeben. Warum? Die Antwort ist, dass mittlerweile die Grundbesitzer selbst, zu deren Schutz vor überhöhten Zinsen die Aufhebung der Obergrenze abgelehnt worden war, kein Interesse mehr daran hatten bzw. keine Befürchtungen mehr hegten. Komers befragte jedenfalls im Februar 1866 die Landwirtschaftsgesellschaften, „welche die Interessen des Grundbesitzes vorzugsweise zu kennen und zu wahren in der Lage sind“, und praktisch alle sprachen sich für die Aufhebung aus. Am 3. Dezember 1866 schließlich berichtete der Minister dem Ministerrat und legte einen Gesetzentwurf vor, der rasch und ohne Debatte beschlossen wurde und den der Kaiser ebenso rasch sanktionierte25. Das Gesetz fiel wie eine reife Frucht vom Baum. § 1 des Gesetzes vom 14. Dezember 1866 lautete: „Die gesetzlichen Beschränkungen in Betreff des Maßes der bei Gelddarleihen bedungenen Zinsen und sonstigen Leistungen, sowie das Verbot, Zinsen von Zinsen zu nehmen, werden außer Wirksamkeit gesetzt. Die übrigen Bestimmungen des 23  Im Detail dazu Dauscher, Das ungarische Civil- und Staatsrecht S. 130 und S. 329. 24  E. Bernatzik, Verfassungsgesetze Nr. 106 und 107. 25  MR. v. 3.12.1866 / X, ÖMR., Abteilung VI: Das Ministerium Belcredi, Band 2, bearbeitet von Horst Brettner-Messler, Wien 1973, Nr. 114. Auch der Staatsrat, das Nachfolgeorgan des (neoabsolutistischen) Reichsrates, stimmte zu, HHSTA., JStr., GA. 593 und GA. 610 / 1866.

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bürgerlichen Rechtes in Betreff des Darlehensvertrages bleiben unberührt.“26 Damit waren die §§ 993–996 und § 998 des ABGB außer Kraft gesetzt, auch wenn dies im Gesetz nicht ausgesprochen wurde. Es war die erste Gruppe von Paragraphen des ABGB, die dauernd aufgehoben wurde27. Die Bürgergesellschaft hatte sich in dieser Materie weiter entwickelt, und die Gesetzgebung folgte der Entwicklung nach28. Übrigens formulierte das Gesetz von 1866 im § 3, dass wegen Wuchers strafbar ist, „wer die Notlage, den Leichtsinn, die Unerfahrenheit oder die Verstandesschwäche des Anleihers zu dessen empfindlichem Nachteile missbraucht, um für sich oder andere […] einen Vorteil zu bedingen, welcher zu dem am Orte üblichen Zinsenmaße […] in auffallendem Missverhältnisse steht“. Über den Inhalt dieses Punktes gab es unter den Ministern und in der Regierung nie eine Meinungsverschiedenheit. Das Gesetz von 1866 war in der Sistierungsperiode ohne Parlament erlassen worden. Es wurde durch das Zinsgesetz vom 14. Juni 186829 parlamentarisch nachvollzogen. Hier war auch die Aufhebung der §§ 993–1000 und § 1196 des ABGB ausdrücklich ausgesprochen. Das cisleithanische Zinsgesetz von 1868 beseitigte alle 1866 noch verbliebenen Reste von Regulierung, auch in strafrechtlicher Hinsicht, indem es das Gesetz von 1866 aufhob. Später wurde eine strafrechtliche Formulierung und Ahndung des unmoralischen Wuchers doch wieder als notwendig erachtet30. Man griff auf den § 3 des Gesetzes von 1866 zurück, der auf dem Umweg des Wuchergesetzes von 1881 und einer Verordnung von 1914 in die 3. Teilnovelle des ABGB (§ 879) eingeflossen ist. 1868 fiel die Zinsbeschränkung auch in Ungarn, durch den Gesetzartikel 31, allerdings noch nicht dauerhaft. Gesetzartikel 8 aus 1877 führte wieder eine Zinsobergrenze ein, nämlich 8 %. Erst das zweite Wuchergesetz, Ge26  RGBL.

Nr.  160 / 1866. (Judenehe) war durch RGBL. Nr. 217 / 1859, § 593 (Zeugenfähigkeit von Juden) durch RGBL. Nr. 9 / 1860 aufgehoben worden. Die Aufhebung von Teilen des ABGB durch das Konkordat von 1855 wurde durch die Kündigung des Konkordats wieder rückgängig gemacht. 28  Zur dieser letzten Phase siehe auch Thomas Kletečka, Einleitung ÖMR. V / 6, Wien 1989, S. XXV f. 29  RGBL. Nr.  62 / 1868. 30  In diesem Kontext erschien die Schrift von Carl Graf Chorinsky, Der Wucher in Oesterreich, Wien 1877, in der ein guter Überblick über die Geschichte der Zinsbeschränkung und der Wuchergesetzgebung in Österreich seit dem 18. Jahrhundert geboten und die juristische Literatur besprochen wird. Chorinsky verteidigte die Zinsfreiheit, forderte aber eine strafrechtliche Regelung des Wuchers im engeren Sinn. 27  § 124



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setzartikel 25 aus 1883, verzichtete auf eine Obergrenze unter gleichzeitiger Bestrafung des unmoralischen Wuchers31. Die Abschaffung der gesetzlichen Regelung des Zinsfußes blieb davon unberührt. Sie war in Cisleithanien seit 1866, in Ungarn seit 1868 Tatsache. In Abwandlung der oben zitierten Tagebucheintragung des Freiherrn v. Kempen aus dem Jahre 1858 könnte man sagen: „Dieser Beschluss wird den Geldmännern gefallen haben.“ Heute, 150 Jahre später, wo die Gefahren eines schrankenlosen Liberalismus sichtbar geworden sind, wo die Staaten unter immer neuen Zinsaufschlägen stöhnen, wird wieder diskutiert, wie man die Auswüchse in den Griff bekommen kann. Das Ende der Geschichte ist also noch lange nicht erreicht. Abstract Freedom of contract or protection of usury? The General Civil Code and the liberalization of interest rate in Austria and in Hungary – a discussion in the period of neo-absolutism Prior to the ABGB coming into force on 1st May, 1853 a 6 % rate of contractual interest for individuals was allowed in Hungary while in the other countries of the Habsburg Monarchy a 5 % rate only was legal (§ 994 ABGB). The interest rates exceeding this level were considered usury and were prohibited. The reduction of the interest rate by 1 % caused a great stir in Hungary; it was feared that with the mortgage credits now less profitable these credits would start declining and thus cause a lack of capital for estate owners, who earned the money they needed from such credits. Simultaneously, the government in Vienna was working within the neo-absolutist plans of law standardization on a new Usury Bill embracing the whole Monarchy. Both events initiated heavy discussions in central government bodies that provide valuable information about the economic and financial policy with some interesting parallels to the current financial crisis in Europe. It was a sequel to the struggle between mercantilism and dirigisme on the one hand and physiocratism and liberalism on the other. In Hungary, the question was surprisingly resolved by the October Diploma and the ABGB cancellation in Hungary on 23rd July, 1861; in Cisleithania, more time was needed. Eventually, the rates of interest were fully liberalized in both parts of the Monarchy. Liberalism prevailed. 31  András Vári, Herren und Landwirte. Ungarische Aristokraten und Agrarier auf dem Weg in die Moderne (1821–1910), Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas 17, Wiesbaden 2008, S. 162 f.

II. Sprache und Kodifikation

Die erste Übersetzung des ABGB ins Tschechische oder über das Zusammentreffen von zwei Kodifikationen Milan Hlavačka In der vorliegenden Abhandlung treffen zwei historische Erscheinungen zusammen: 1. Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs als Ergebnis einer langjährigen, staatsüberwachten intellektuellen Tätigkeit, und 2. Kodifika­ tion der Landessprache, d. h. des Tschechischen (von den Nationalaufklärern in tschechischer Sprache auch mit großem erstem Buchstaben geschrieben) als Ergebnis der autonomen (außerstaatlichen), spontanen intellektuellen Bemühungen. Beide Kodifikationen, d. h. die vom Staat durchgesetzte Kodifikation von Privatrecht und die „nichtstaatliche“ Kodifikation der tschechischen Sprache erfolgten unwillkürlich zur gleichen Zeit, ungefähr zwischen den Jahren 1809 und 1811. Das Zusammentreffen bzw. der Zusammenstoß der beiden Kodifikationen erfolgte in der tschechischen Sprache durch die Übersetzung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches. Untersuchung dieses Zusammentreffens ist das Thema dieses Beitrags. Zunächst zu erwähnen ist jedoch die Sprachkarte Böhmens und der Zustand der tschechischen Sprache, in welche die grundsätzlich liberale, integrierende Kodifikations-Rechtsnorm durch Herrschererlass importiert werden sollte. I. Sprachkarte Böhmens Die sprachliche Situation im Königreich Böhmen zum Zeitpunkt der sprachunifizierenden und Organisationsoffensive des aufgeklärten Staates war territorial und sozial sehr kompliziert. Franz Martin Pelzl (František Martin Pelcl) bemühte sich 1774 um ihre sozial-territoriale Erfassung auf den letzten Seiten seiner Kurzgefaßte Geschichte der Böhmen, als er kon­ statierte, daß im Lande vier Sprachen gesprochen werden, d. h. Latein, Französisch, Deutsch und Tschechisch, bzw. Böhmisch, wobei er im Zusammenhang mit dieser Aufzählung im Voraus avisiert, dass es für alle Stände vorteilhafter wäre, mit einem einzigen Dialekt zu sprechen. „Die Geistlichen und die Gelehrten,“ behauptet F. M. Pelzl, „bedienen sich überhaupt der ersten (also Latein), … ob zwar nicht römisch genug, als ihre Muttersprache reden. Der Adel überhaupt bedient sich der französischen Mundart, etwa seit einem Jahrhundert, daß damals noch alles böhmisch war. Er spricht in den

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Gesellschaften nur diese Sprache, liest die Bucher, die in der selben abgefaßt sind, und schreibt seine Briefe nur in der selben. Gebohrne Franzosen erstaunen über die Fertigkeit, gute Aussprache, und Nettigkeit, mit welcher unser Adel französisch spricht und schreibt. Er hat sich diese Sprache gleichsam zur Muttersprache gewählt … und die böhmische nur für das gemeine Volk bestimmt zu sein schien. Der Bürger, der sich dem Adel nähern will, lernt auch französisch. Die deutsche Sprache hat der Kaufmann und Dikasterist angenommen; sie ist auch bey den Gebirgsleuten in Böhmen üblich, die aber sehr barbarisch klingt. Die alten Einwohner von Böhmen aber, die Cžechen bleiben noch immer bey ihrer alten Landessprache, die im Reichthume der Wörter, Nettigkeit und Kürze des Ausdruckes, in der Wortfügung der lateinischen und griechischen nicht nachgibt, und in der Mannigfaltigkeit der Töne alle andere übertrifft. Der Böhm findet beynahe alle Töne der übrigen europäischen Sprachen in seiner eigenen, und hat sieben Buchstaben mehr, als die Deutschen, welche diese nicht aussprechen können; daher kommt es, daß ein gebohrner Böhme alle anderen Sprachen so leicht lernt. Diese schon seit drey Jahren festgesetzte, und seit dem unveränderte Sprache ist jetzt unter einem Theil der Bürgschaft, unter dem Pöbel und Ackerleuten im Gange. Nur bey der Krönung eines Königs von Böhmen, bey Eröffnung eines Landtages, und einigen anderen öffentlichen Handlungen müssen noch gewisse Sachen von dem Oberstburggrafen, und den Herren Landesoffizieren böhmisch vorgetragen, und beantwortet werden. Dieses allein, andre Vortheile, die schon ein Graf Kinsky angeführt hat (also in Erinnerung über einen wichtigen Gegenstand von einem Böhmen, S. 79), zu geschweigen, sollte unseren Adel auf die Landessprache aufmerksamer machen, und ihn bewegen, die selbe unter sich wieder in Ganz zu bringen. Wenigstens konnte man hierdurch die jenigen nachdrücklich wiederlegen, die uns vorwerfen, daß wir keine besondere Nation mehr ausmachen, sondern uns in einer andren gleichsam verlieren müssen. Allein dessen ungeachtet wird dieser slawischer Dialekt bey uns nicht nur in Betracht gezogen, sondern sogar in einigen Gegenden vor der rohen deutschen Gebirgsmundart verdrängt, und ausgerottet.“1

Franz M. Pelzl schließt diese Abhandlung aus dem Jahre 1774, ähnlich wie später Antonín Jaroslav Puchmajer im Jahre 1797, mit der Hoffnung ab, die „slawische Sprache“ werde in der Zukunft in den Erbländern eher Verbreitung als Verderben finden, und er nutzt dabei zum ersten Mal dieses Argument, das dann von Dobrovský in seiner Rede 1791 vor Kaiser Leopold II. und von František Martin Pelcl in seiner Antrittsvorlesung 1793 am Lehrstuhl für tschechische Sprache und Literatur verwendet wurde.2 1  Franz Martin Pelzl, Kurzgefaßte Geschichte der Böhmen, von den ältesten bis auf die itzige Zeiten. Aus den besten Geschichtsschreibern, alten Kroniken und glaubenswürdigen Handschriften zusammen getragen, Praga 1774, S. 618–620. 2  Franz Martin Pelzl sprach im Jahre 1790 schon nicht so pessimistisch über den Zustand des Tschechischen, wozu am meisten „die patriotischen Bemühungen einiger weniger Gelehrten, welche sich angelegen seyn lassen, andere zur Erlernung der böhmischen Sprache durch Darstellungen ihres mannigfaltigen Nutzens aufzumuntern“, beigetragen hatten. Aber „so groß auch das Verzeichnis der böhmischen Bücher, welche seit 12 Jahren in Böhmen, Mähren und Ungarn erschienen sind,



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Zum Unterschied von den anderen großen Sprachen und Literaturen Europas, die sich bereits früher in ihrer Schriftnorm, d. h. in der kodifizierten Schriftversion unifiziert hatten, gab es bis Anfang des 19. Jahrhunderts praktisch kein modernes, also einheitliches Tschechisch. Diese Sprache hatte sich im Laufe des gesamten 18. Jahrhunderts praktisch nicht unifiziert, und in Folge der besonderen sozio-kulturellen und sozio-politischen Umstände hatte sich auch nicht unifizieren können (staatsrechtliche und politische Anbindung der Böhmischen Kronländer an die Habsburger Monarchie und äußerer Verlust der Staatlichkeit, besonders nach der Aufhebung der Böhmischen Kanzlei in Wien in der Mitte des 18. Jahrhunderts, kosmopoli­ tischer Charakter des Adels, teilweise germanisierte undynamische Schicht des politisch und ökonomisch nicht tatkräftigen Bürgertums) und selbstverständlich auch unter dem Einfluss der schnelleren Unifizierung und Modernisierung der anderen (deutschen) Landessprache, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts das Privileg eines offiziellen Kommunikationsmediums für die Staatsbürokratie genoss, denn der Wirkungsbereich dieser Sprache als allgemeines Kommunikationsmittel in ganz Mitteleuropa dehnte sich seit den 40. Jahren des 18. Jahrhunderts intensiv aus, und zwar nicht nur im administrativ-bürokratischen, sondern auch im Kultur- und Wissenschaftsbereich. Deutsch konnte sich vor allem von Latein, Französisch und Italienisch emanzipieren. Von Tschechisch brauchte es die deutsche Sprache nicht, denn dieser Prozess hatte bereits vor über einhundert Jahren stattgefunden, wie zum Beispiel in der Ausführungsform der entsprechenden Artikel der Erneuerten Landesverfassung. Tschechisch hatte sich auf dem Lande in ziemlich reiner Form und Originalität erhalten, war jedoch regional sehr unterschiedlich und terminologisch mangelhaft. In tschechischen Städten im Binnenland Böhmens galt Tschechisch bis zu den josephinischen Reformen als Stadtkanzleisprache und dadurch auch als übliches Kommunikationsmittel der mittleren und niedrigeren Bevölkerungsschichten. Der Sprachgebrauch war jedoch ziemlich schwankend je nach der Bildung und dem Wohnort ihrer Nutzer. Die Umgangssprache, insbesondere in Städten, enthielt viele Germanismen, weil sie selbst keine Termini für neue Begriffe und Situationen geschaffen hatte. ausfallen mag, so häufig auch die böhmischen Schauspiele, die in der Neustadt Prag seit einigen Jahren mehr malen in der Woche gegeben werden, besucht werden mögen, so nahmhaft auch Anzahl der Pränumeranten auf die böhmische Zeitung seyn mag, so zweifle ich doch sehr, daß die böhmische Sprache im Ganzen zu einem wirklich und merklich größeren Grade der Vollkommenheit gebracht werden können, als sie unter K. Rudolphs Regierung d. i. in dem Goldenen Zeitalter war, zumal da dies von vielen zufälligen äußeren Umstanden abhängt, die nicht in unserer Gewalt stehen.“ Siehe: Geschichte der Deutschen und ihrer Sprache von 1341 bis 1784, in: Neuere Abhandlung der k. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. Erster Band, Prag 1790, S. 363.

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Der zeitgenössische Zustand der tschechischen Sprache kann auf unterschiedliche Weise angesehen werden. Im 19. Jahrhundert wurde ihr Niveau vor allem nach der tschechischen Übersetzung der Kralitzer Bibel gemessen. Jene Sprache galt jedoch bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts als ziemlich archaisch, während die Gemeinsprache sich weiter entwickelte. Es wäre trotzdem nicht richtig, diese Entwicklung als Niedergang zu bezeichnen, denn „die Sprache auf gewisser Stufe stellt immer eine Qualität sui generis dar“ und es wäre täuschbar, die Sprachen in verschiedenen Zeiten miteinander zu vergleichen mit dem Ziel, eine als mehr fortgeschrittene und von höherer Qualität zu bezeichnen. Dem angedeuteten Problem liegen offensichtlich teilweise auch optische Aspekte zugrunde, weil während die gemeine Form von Tschechisch (d. h. nicht die Schriftsprache) in ihrer Entwicklung jünger war, wurde die neu kodifizierte Schriftsprache gerade von der älteren archaischen Sprache der Kralitzer Bibel gewissermaßen bewirkt, die jedoch Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts als ästhetisches Ideal galt. Das Problem der tschechischen Sprache im 18. Jahrhundert bestand also in der Absenz einer einheitlichen Sprachnorm einerseits und insbesondere in der Absenz des Tschechischgebrauchs in „höheren“ Kommunikationssitua­ tionen andererseits. Tschechisch existierte nicht als Hofsprache, Krönungssprache oder Verhandlungssprache des Böhmischen Landtags (natürlich ausgenommen die Anfangsformeln), bzw. als öffentliche Kommunikationssprache oder Salonsprache; es war keine verfeinerte Roman- und Theatersprache und auch keine private „wissenschaftliche“ Korrespondenzsprache, von der Publizistik gar nicht zu reden. Katholischer Priester Antonín Jaroslav Puchmajer definierte diesen Zustand im Jahre 1795 trefflich als „Vertreibung der tschechischen Sprache aus Schulen, Kirchen und Rathäusern“, d. h. als Verschwinden des Tschechischen aus dem offiziellen bürokratisierten Kommunikationsgebiet.3 Tschechisch an der Wende des 18. Jahrhunderts war also eine Sprache mit eingeschränkten Funktionen und eine eigenartige Sprache, die auf äußere Modernisierungsanregungen nur äußerst wenig reagierte. Dies bedeutet unter Anderem, dass Tschechisch „die Zeit verfehlte“ und dass ihm neue Begriffe für technische und technologische Innovationen und für rechtliche Konstrukte und Rechtsanstalten fehlten. Auf den kritischen Zustand der Sprache deuteten bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl zahlreiche Staatseingriffe in der bürokratischen Kommunikation als auch die Herausgabe zahlreicher sog. Verteidigungen der tschechischen Sprache und die Schwierigkeiten mit Übersetzungen, bzw. mit guten Übersetzern für die jüngsten Rechtskodifikationen.4 In Krisen3  Antonín Jaroslav Puchmajer, Sebrání básní a zpěvů (Gedichte und Lieder), Praha 1797, Vorrede. 4  Die Staatseingriffe in Bezug auf die tschechische Sprache wurden von zeitweiligen praktischen Rücksichten motiviert. So zeigte zum Beispiel der Staat Inter-



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zeiten oder bei der Wahl zwischen Erneuerung und Assimilation wurde jedoch auch eine „Kodifikationslösung“ fieberhaft gesucht. Als Ausgangspunkt für die neue Kodifikation der tschechischen Schriftsprache wurde schließlich die Literatursprache aus der Neige des 16. Jahrhunderts gewählt, insbesondere die der sog. Kralitzer Bibel und später das Werk von Jan / Johann Amos Komenský  /  Comenius. Von verschiedenen Kodifikationsversuchen wurde schließlich Josef Dobrovskýs Grammatik allgemein angenommen, die zum ersten Mal 1809 und zum zweiten Mal 1819 erschienen war. In jener Zeit tauchen auch puristische Bestrebungen auf, Tschechisch von wahren oder mutmaßlichen Germanismen zu reinigen. Aber in den ersten modernen tschechischen Grammatiken von František Jan Tomsa (1782), František Martin Pelcl (1795) und Josef Dobrovský (1809, 1819) spielt der sog. Purismus keine große Rolle.5 Dobrovskýs Ausführliches Lehrgebäude der böhmischen Sprache aus dem Jahre 1809 kann als grundsätzliches Kodifikationswerk bezeichnet werden. Dobrovský knüpfte an das humanistische Tschechisch der Kralitzer Bibel an und seine normativen Vorschläge wurden – bis auf ein paar Ausnahmen – allgemein akzeptiert. Die Ausarbeitung des zweiteiligen Deutsch-böhmischen Wörterbuchs, das 1802 und 1821 von Dobrovský herausgegeben wurde, hatte diese Norm ergänzt und unterstützt. Der endgültigen Erneuerung des tschechischen Wortschatzes trug dann insbesondere das fünfteilige Slovník česko-německý (Tschechisch-deutsches Wörterbuch) bei, das 1835–1840 von Josef Jungmann herausgegeben wurde. Dank der Begeisterung tschechischer Naturwissenschaftler und Ärzte, insbesondere der Gebrüder Presl oder Antonín / Anton Jungmann, entstand in jener Zeit auch die tschechische Fachterminologie. Dieser grundsätzliche Modernisierungsprozess erfolgte ganz ohne Interesse des Staats bzw. fand völlig außerhalb dessen Strukturen statt. esse an Tschechisch, als Maria Theresia am 16. Oktober 1747 ein Reskript erlassen hatte mit der Aufforderung, man solle an der Universität Prag Tschechisch mit guter Qualität unterrichten. Diese Aufforderung verfehlte jedoch ihre Wirkung, ausgenommen die Theologische Fakultät. Professioneller Tschechischunterricht begann zunächst in Wien im Jahre 1752 an der Theresianischen Ritterakademie und 1754 an der Militärakademie in Wiener Neustadt. In Prag wurde der Lehrstuhl für tschechische Sprache erst 1793 auf Ansuchen Josef Dobrovskýs errichtet. Im Jahre 1773 wurde der Jesuitenorden vom Staat verboten und mit dem Weggang der Jesuiten ging auch das bestehende Schulsystem zugrunde. Aus der Olmützer Universität wurde ein Lyzeum, und danach wurde auch die Zahl der Gymnasien reduziert, wo der Unterricht auf Latein basierte. Am18. Mai 1784 wurde ein Hofdekret erlassen, mit dem Deutsch zur „Landesamtssprache“ erklärt wurde. Tschechisch blieb jedoch weiterhin als amtliche Hilfssprache. Latein und Hebräisch waren dann nur Kirchensprachen. Die jüdische Gemeinschaft nahm sehr schnell Deutsch als ihr offizielles Kommunikationsmittel an. 5  http:  /    /   h omepages.uni-tuebingen.de  /   t ilman.berger  /   P ublikationen  /   B ergerCott bus.pdf.

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Unter strenger und langjähriger Staatsgestion wurde dagegen das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ausgearbeitet und am 1. Juli 1811 erlassen: „Aus der Betrachtung, dass die bürgerlichen Gesetze, um den Bürgern volle Beruhigung über den gesicherten Genuss ihrer Privat-Rechte zu verschaffen, nicht nur nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit, sondern auch nach den besonderen Verhältnissen der Einwohner bestimmt, in einer ihnen verständlichen Sprache bekannt gemacht, und durch eine ordentliche Sammlung in steten Andenken erhalten werden sollen, haben Wir seit dem Antritte unserer Regierung unausgesetzt Sorge getragen, dass die schon von unseren Vorfahren beschlossene und unternommenen Abfassung eines vollständigen, einheimischen bürgerlichen Bürgerbuches Ihrer Vollendung zugeführt werde“, lautete der Wunsch von Kaiser Franz I., geäußert in dem Vorwort zur Ausgabe des neuen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, das in tschechischer Sprache die archaische Benennung „Kniha všeobecných práv městských“ (Buch der allgemeinen Stadtrechte) trug.6 Die Erfüllung dieses Herrscherwunsches führte jedoch, mindestens im böhmischen Milieu, eine unerwartet große Menge von Problemen herbei. Das größte Problem bestand darin, einen fähigen Übersetzer zu finden, denn bei den Übersetzungen von Rechtskodifikationen geht es doch nicht nur um die formal sprachliche Richtigkeit, d. h. um eine Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Sprachnorm, sondern vor allem um geeignete und angemessene Terminologie und Stil gegenüber dem Adressaten und selbstverständlich auch um Verständlichkeit für die gebildete Laienöffentlichkeit von Nutzern.7 II. Übersetzungen der Kodifikationen ins Tschechische Bereits seit Herausgabe der theresianischen Kodifikationen wurde ein kompetenter Übersetzer ins Tschechische gesucht, der die tschechische Sprache perfekt beherrscht hätte, der sich aber auch, wie Johann Georg (Jan Jiří) Müller von Mühlensdorf , der erste Koordinator der Übersetzung vom Codex Theresianus ins Tschechische im Jahre 1766 geschrieben hatte, „ausgekannt 6  http: /  / alex.onb.ac.at / cgi-content / anno plus?apm=0&aid=jgs&datum=10120003& zoom=2&seite=00000275. 7  Diese Informationen kommen von: Josef Stupecký, Potíže s  překladem pořízených v souvislosti s kodifikací rakouského práva civilního (Die Übersetzungsschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Kodifikation des österreichischen Zivilrechts), Praha 1904 und Österreichisches Staatsarchiv, AVA  /  Justitz OJStk HK (Oberste Justitzstelle, Hofkommissionen, Remunerationen für Übersetzungen), Karton 15 (1780–1790), Philipp Harras Ritter von Harassovsky, Geschichte der Codifikation des Österreichischen Civilrechtes, Wien 1868, S. 155–167 und Julius Ofner, Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. I., II., Wien 1889.



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hätte in jure et praxi, weillen bekanndter massen die Boehmen viele terminos technicos haben, gefolglich bei ermanglender Kennttniss derselben zu besor­ gen wäre den wahren Verstand des Gesetzes zu verfehlen“.8 Der Codex Theresianus sollte ursprünglich von Johann Wenzel (Jan Václav) Pohl, Lehrer der böhmischen (tschechischen) an der Militärakademie in Wiener Neustadt, übersetzt werden, aber weil er für die Übersetzung 6000 Gulden und drei Jahre Zeit für die Arbeit verlangte, wurde er mit der Aufgabe nicht beauftragt. Von Mühlensdorf war bereit, den Codex für einen halbierten Preis, also für 3000 Gulden zu übersetzen, hatte sich jedoch ausbedingt, er würde weitere Übersetzer einladen und selbst die Endrevision der Arbeit durchführen können. Die eigentliche Übersetzung des Codexes wurde dann von dem Staatsanwalt der Prager Neustadt, Jan Nepomuk Faltin, angefertigt, der für die Übersetzung eines Druckbogens ein Honorar von 4 Gulden bekam. Als die Kaiserin im Jahre 1772 anbefohlen hatte, den Codex wieder umzuarbeiten, sollte mit der nachträglichen Übersetzung wieder Johann Nepomuk (Jan Nepomuk) Faltin durch Vermittlung von Mühlendorf beauftragt werden. Johann Nepomuk Faltin war jedoch plötzlich gestorben und seine Aufgabe übernahm Johann Josef Zebrer, sein Kollege, Kanzler der Prager Neustadt. Dieser bekam für einen Übersetzungsbogen einen Dukaten, also etwas weniger als 5 Gulden in Bankozetteln. Johann Josef Zebrer übersetzte später noch das josephinische Ehepatent aus dem Jahre1783, und 1786 auch den ersten Teil des ABGB. Aus dem obigen geht hervor, dass die „Translatores“ ins Tschechische von dem Rathaus der Prager Neustadt geliefert wurden, denn dieses Rathaus, zum Unterschied von dem Altstädter Rathaus, als tschechischsprachig, bzw. zweisprachig galt. Die Übersetzung der Allgemeinen Gerichtsordnung wurde dann Josef Valentin Zlobický, Kanzellist der Obersten Justizstelle und fünfunddreißig Jahre lang Professor für tschechische Sprache und Literatur an der Universität Wien, anvertraut. Im Dezember 1807 beschloss die Hofkommission in Gesetzwesen, der revidierte ABGB-Entwurf solle bereits ins Tschechische und Polnische übersetzt werden. Die polnische Übersetzung wurde dem „Translator“ Vincenc Okulicz von Koszalyn anvertraut und die tschechische sollte wieder Josef Valentin Zlobický, Professor für tschechische Sprache und Literatur an der Universität Wien, anfertigen. Zlobický konnte jedoch das ABGB nur bis Kapitel Neun des Teils Zwei übersetzen, weil er am 5.3.1810 (um 7 Uhr früh) plötzlich gestorben war. Am 9.4.1810 wurde seinen Erben für diese Arbeit eine Remuneration in Höhe von 63 Dukaten, d. h. 283 Gulden 30 Kreuzer in Bankozetteln bemessen; sie erhielten also fast 5 Gulden pro Bogen. Der Referent der Hofkommission in Gesetzwesen, Hofrat von Zeiler, empfahl als Fortsetzer der Übersetzerarbeit „den Sup8  J.

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plenten des gestorbenen Professors Zlobický Vojtěch Veselý, Adjunkt in der Wiener k. k. Bankalexaminatur, der „bereits viele gültige Zeugnisse vorge­ legt haben soll“. Vojtěch Veselý wurde unverzüglich mit der Probeübersetzung eines Teiles des Gesetzbuchs beauftragt und bereits in der nächsten Sitzung der Kommission am 30.4.1810 berichtete Hofrat Geyer von Ehrenberg über die Übersetzungsfähigkeiten Veselýs in dem Sinne, Veselý habe mit dieser Probe sein volles Vertrauen gewonnen „sowohl mit der Richtigkeit des Textes als auch mit der guten Sprachqualität“, aber weist gleichzeitig auf die Tatsache hin, dass Tschechisch in den letzten zwanzig Jahren einen großen Fortschritt erreicht hat und deshalb schlägt er vor, Veselýs Übersetzung „dem seiner Kenntnisse wegen allgemein bekannten Profesor Negedly zu Prag, welcher Advokat und Lehrer der Übersetzung und Anwen­ dung alter Urkunden, und auch mit dem Stadt- und Landrecht vollkommen vertraut ist“ durchlaufend zur Revision zu übersenden. Nur der Kommissionsbeisitzer von Aichen meinte, dieser Schritt sei unnötig und die Revision solle einer der Beisitzer der Kommission für Gesetzgebung machen. Die Kommissionsmehrheit beharrte jedoch auf der Einladung von Jan Nejedlý zur Schlussrevision der Übersetzung. Vojtěch Veselý hatte die Kommission anbefohlen, seine Übersetzung in Einklang mit der seines Vorgängers zu bringen. Honoriert werden sollte er ähnlich wie Josef Valentin Zlobický, d. h. 1 Dukaten pro Übersetzungs­ bogen. Veselý arbeitete sehr schnell und bereits am 30.9.1810 konnte der Kommission die Übersetzung des ersten Teils des Gesetzbuches und am 13.11.1810 desselben Jahres die ersten zwei Abschnitte des zweiten Teiles vorlegen, mit der Bemerkung, die Fertigstellung sei nur von dem deutschen Druck des gesamten Gesetzbuchs abhängig. In diesem Zeitpunkt, als auch Jan Nejedlý in Wien eingetroffen war, um persönlich von Veselý die Arbeit zu übernehmen, bat Veselý um die erste Anzahlung in Höhe von 200 Gulden. Vojtěch Veselý beendete die Übersetzungsarbeit am 30.1.1811, natürlich ohne das Anleihekapitel, dessen deutsche Version noch nicht fertig war. Die Übersetzung sollte nach Nejedlýs Revision in der Staatsdruckerei in Wien gedruckt werden. Diese aber verfügte nicht über alle tschechischen Buchstaben und deshalb beschloss die Kommission, den Druck in Prag zu realisieren und bat die Hofkammer um Zustimmung. In der Begründung dieses Gesuchs vom 11. Mai 1811 hieß es: „Es würde einerseits nicht an­ ständig sein, ein vom Staate selbst herauskommendes Werk dem Publikum nicht in der gehörigen Form in die Hand zu geben, und erregt anderseits auch das Besorgniss, dass das Gesetzbuch von Vielen, die bloss der böhmi­ schen Sprache kündig sind, schwer gelesen werden können“.9 Die tschechische Version vom Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch wurde vom Prager 9  Zitiert

nach J. Stupecký, S. 56.



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Buchhändler Kaspar Widtmann ab Anfang November 1811gedruckt und durchlaufend korrigiert. Es erschien kurz nach dem Neujahr 1812 in einer Auflage von 1500 Exemplaren (die polnische Mutation hatte 6000 und die italienische 8000 Exemplare) unter dem Titel „Kniha wsseobecných zákonů městských pro wssecky německé dědičné země Mocnářstwj Rakouského“ (Buch der allgemeinen Stadtgesetze für alle deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie). Der Wiener Hofkommission in Gesetzwesen wurde es im Ledereinband am 22.1.1812 vorgelegt. Sein Preis in Prag belief sich auf 2 Gulden und 21 Kreuzer, die deutsche Version des Gesetzbuchs war wegen des längeren Textes um 6 Kreuzer teurer. Der Lohn für die Übersetzung war zeitabhängig angemessen, jedoch stark differenziert. Und leider wurde auch in Folge des Staatsbankrotts stark devalviert. Mehr als Papiergeld wurden in jener ökonomisch unsicheren Zeit Präbenden und gesellschaftliche Ehren mit hohem symbolischem Kapital geschätzt. Josef Valentin Zlobický war, wie bekannt, ein Jahr vor dem Bankrott gestorben und die Auseinandersetzung mit seinen Erben erfolgte in den noch nicht wertlosen Bankozetteln. Vojtěch Veselý wurde am 31.12.1811 als zweiter Examinator bei der Prager Bankaladministration angestellt, nachdem er versucht hatte, die frei gewordene Universitätsstelle nach dem verstorbenen Josef Valentin Zlobický zu bekommen. Die freie Professorenstelle am Wiener Lehrstuhl für tschechische Sprache und Literatur erhielt jedoch sein Konkurrent, Jan Hromádko. Entscheidend für die Hofstudienkommission, obwohl Veselý den Konkurs gewonnen hatte, war nämlich sein hohes Alter. Die hohe Beamtenstelle in Prag war allerdings eine genügende Kompensation für die Übersetzungsarbeit mit Rücksicht darauf, dass Veselý für seine Übersetzung von 186 Gesetzbuchbogen, einschließlich der Register und Zlobickýs Übersetzungskorrektur, neben den bereits erwähnten 200 Gulden schließlich weitere 1000 Gulden Wiener Währung in Bankozetteln erhielt, obwohl ihr realer Wert inzwischen auf nur ein Fünftel gesunken war. Über den Lohn für den Landesadvokaten und – nach F. M. Pelzl – zweiten Professor im Lehrstuhl für tschechische Sprache und Literatur an der Karlsund Ferdinanduniversität in Prag, Jan Nejedlý, wurde in der Kommissionssitzung am 20.2.1812 verhandelt. Durch Ehrenbergers Mund schlug die Kommission vor, keinen Geldlohn auszuzahlen, denn „dem Mann seiner Stellung würde es nicht passen“, sondern den k. k. Rat-Titel zu verleihen, weil Nejedlý viele Berichtigungen machen musste, „um dieses Werk mit Richtigkeit liefern zu können, damit solches nicht nur als ein durchaus richtiger Ausdruck des Gesetzes überall erscheinen kann, sondern auch zum Unterricht in der böhmischen Sprache, und der Art, wie man sich über juridische Gegenstände ausdrücken soll, dienen werde“.10 Der hohe Pres­ 10  Stupecký,

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tigetitel von k. k. Rat wurde Jan Nejedlý, Sohn eines Metzgers aus der mittelböhmischen Kammerkleinstadt Žebrák, mit dem am 9.3.1812 datierten Kaiserserlass verliehen, in dem es buchstäblich heißt: „Ich verleihe dem Doktor und Profesor Negedly wegen der berühmten Übersetzung des neuen bürgerlichen Gesetzbuches in das Böhmische den k. k. Rathstittel mit Nach­ sicht der Taxe, und habe das Exemplar zurück behalten“. Den letzten Satz hatte der Kaiser eigenhändig zugefügt. Der sechsunddreißigjährige tschechische Patriot und „Volksaufklärer“ (von 1806 bis 1808 gab die erste tschechische Fachzeitschrift Hlasatel český heraus, 1804 ließ die Böhmische Grammatik erscheinen), Landesadvokat, ehemalige Pelzls Supplent und jetzt Universitätsprofessor JUDr. Jan Nejedlý war am Gipfelpunkt seiner Lebensbahn angelangt. III. Schlussfolgerungen Die ABGB-Übersetzung ins Tschechische ist als eine bewundernswerte Leistung anzusehen. Jan Nejedlý, zum Unterschied von Zlobický und Veselý, nutzte seine Kenntnisse der alten tschechischen Rechtsterminologie aus und als erfahrener Übersetzer zeigte mehr Verständnis für die Stileinheit des Werkes. Ich bin jedoch der Meinung, dass dieses Fachtschechische im Allgemeinen ziemlich schwer verständlich war. Die „gelebte tägliche juristische Praxis“ – und zwar nicht nur die strafrechtliche und die privatrechtliche – bevorzugte weiter die authentische Rechtssprache, d. h. Deutsch. Die tschechische Übersetzung erfüllte eher eine aufklärerische und propagierende Rolle und wies sicherlich auch auf das freundliche Antlitz von Franzens Herrschen hin. Meiner Ansicht nach nutzten jedoch die Juristen (Richter, Justiziare und Stadtnotare) diese Übersetzung aus praktischen Gründen nicht, oder machten davon nur sehr selten Gebrauch. Ähnlich wie die Staats- und Stadtbürokratie „bedienten sich“ auch sie der deutschen Sprache. Sie taten so nicht nur mit Rücksicht auf die Klienten, sondern insbesondere mit Rücksicht auf ihre eigene Autorität. Das Privatrecht und die in diesem Bereich geführten Streite sind eine zu empfindliche Sache, als dass hier unnötige Konflikte wegen der unterschiedlichen Auslegung des Buchstaben des Gesetzes entstünden. Die Übersetzung der theresianischen, josephinischen und franziskanischen Gesetzbücher ins Tschechische erreichte jedoch offensichtlich nicht die Qualität der Übersetzung der Peinlichen Rechtsordnung von Joseph I. aus dem Jahre 1707, die von Kašpar Jan Kupec von Bilenberg, Sekretär der böhmischen Appellation, angefertigt worden war. Der Begriff ‚Stadtrechte‘ war bereits in der Übersetzungszeit ungeeignet und irreführend. Tschechisch verfügte damals jedoch über keinen anderen



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Fachausdruck als denjenigen, der in Koldíns althergebrachtem Gesetzbuch vorhanden war. Der Übersetzer reagierte jedoch offensichtlich auch auf die aktuelle Tatsache, dass ausschließlich die Bürger der Königsstädte in der damaligen Gesellschaft der Jahrhundertwende und in der Übergangszeit der ständischen Gesellschaft in eine bürgerliche freie Bürger in den Böhmischen Ländern waren. Die phonetischen, morphologischen und syntaktischen Korrektionen Nejedlys Übersetzung waren erforderlich, weil Zlobický (und teilweise auch Vojtěch Veselý) die ursprünglichen Formen bevorzugte, also diejenigen aus dem goldenen Zeitalter des humanistischen Tschechischen, wo zum Beispiel noch keine Diphthongierung von „u“ in „ou“ stattgefunden hatte. Auf der syntaktischen Ebene wird der Übersetzung Zlobickýs vor allen Dingen ungeeignete Wahl des Satzreihentyps, Nichteinhaltung der logischen Wortfolge im Satz und Nachahmung des Deutschen, zum Beispiel mit dem Verb, bzw. mit finitum verbum am Ende des Nebensatzes, weiter unnötige Wortzugaben, welche den wahren Sinn der Paragraphenfassung verdunkeln, oder die Postposition kongruenter Adjektive vorgeworfen. Widersprüchige stilistische Auswirkung der Rechtsübersetzungen Zlobickýs wurde bereits 1786 von Josef Dobrovský scharf kritisiert. Insbesondere Zlobickýs „willkürliche“ und unorganische Neologismenbildung auf der Grundlage syntaktischer Latinismen, derer sich eigentlich auch die Kommission in Gesetzwesen selbst bewusst war, führte schließlich dazu, dass im Universitätsmilieu Prags Jan Nejedlý, der aus einem Gebiet an der Grenze zwischen Mittelund Westböhmen stammte, mit der Schlußkorrektur der ABGB-Übersetzung beauftragt wurde. Anfang des 19. Jahrhunderts trafen so in Böhmen zwei Kodifikationen zusammen, eine privatrechtliche und die andere sprachliche. Die rechtliche Kodifikation, die von außen, also aus einem unterschiedlichen Bürokratieund Kulturmilieu importiert war, ging leider der sprachlichen voraus. Zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes der beiden Kodifikationsnormen entstand dann etwas, was nach außen die sprachlich formalen Merkmale eines vollständigen bzw. vollkommenen Werkes zwar erfüllte, aber in der Praxis wegen allgemeiner Unverständlichkeit nicht viel gebraucht wurde. Die sprachliche Kodifikation hatte sich noch nicht „eingelebt“ und hauptsächlich kodifizierte eine Sprache, die keine lebende Sprache war. Ich vermute darüber hinaus, daß die „städtische“ Gesellschaft das einheitliche Recht und dessen einheitliche Auslegung in eigener Sprache nicht brauchte, während die wahre Bürgergesellschaft, die in jener Zeit noch nicht bestand, es nicht entbehren konnte.11 Sowieso die beiden systematischen Kodifikatio11  http: /  / books.google.cz / books?id=kgMbAAAAYAAJ&pg=PT46&lpg=PT46&dq =Prof.+Zlobitzky+Wien&source=bl&ots=NQXKdgnNMw&sig=EzleY5sQ1rE664zf5

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nen enthielten ein starkes Stabilisierungs- und Modernisierungspotential und bestimmten künftig grundsätzlich das intellektuelle und geistige Leben der Gesellschaft mit und trugen so deren Zivilisations- und Kulturkultivierung bei. Abstract The first ABGB translation into Czech language In the early 19th century two codifications appeared simultaneously in Bohemia: one for private law and the other one for language. Unfortunately, the private law codification, which was imported from outside, from a different bureaucratic and cultural milieu, preceded the linguistic one. The product of their clash was a hybrid that exhibited the formal linguistic features of a comprehensive and / or perfect work, but which was of little use in practice due to its total lack of comprehensibility. The linguistic codification could not „take root“ yet, but more importantly, the language codified there was far from the living one. Actually, I believe that the „municipal“ community of that time did not need unified law and / or its uniform interpretation in its own language whereas the true bourgeois society, which did not exist yet, could not do without it. Anyway, the two systematic codifications contained much stabilization and modernization potential and strongly codetermined the future intellectual and spiritual life of society and thus contributed to its civilisation and cultural cultivation.

ofFgEQ3oqM&hl=cs&ei=KhVqTs_PC8yg-waesKXrBA&sa=X&oi=book_result&ct= result&resnum=1&sqi=2&ved=0CCMQ6AEwAA#v=onepage&q&f=false und Josef Vintr / Jana Pleskalová, Vídeňský podíl na počátcích národního obrození. J. V. Zlobický (1743–1810) a současníci: život, dílo, korespondence (Wiens Anteil an den Anfängen der nationalen Wiedergeburt. J. V. Zlobický und Zeitgenossen: Leben, Werk, Korrespondenz), Praha 2004.

Entwicklung der juridisch-politischen Terminologie für die slawischen Sprachen Österreichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts Magdaléna Pokorná In meinem Beitrag folge ich der Spur derjenigen, die mit amtlicher Einwilligung, jedoch auch mit der Absicht, ihrer Heimat bestmöglich zu dienen, ihre Umwelt tschechisch umbenannten, den öffentlichen Raum besetzten, bzw. sich entschlossen – so František Špatný – „statt des fremden Anzugs die tschechische Kleidung anzuziehen“.1 Ich werde darauf eingehen, wie sich die vom Justizministerium im Juli 1849 ernannte Kommission ihres Auftrags, juridische und amtliche Terminologie in einzelnen Landessprachen, namentlich in Tschechisch auszuarbeiten, entledigte und vor allem welche Rolle darin ihrem hervorragenden Mitglied, Karel Jaromír Erben zukommt.2 Die Problematik der juridischen Terminologie (mit Akzent auf deren Entwicklung im 19. Jahrhundert) wurde von Forschern auch in der modernen Zeit untersucht. Eine umfangreiche und ausführliche Abhandlung wurde 1957 von Vladimír Růžička3 veröffentlicht. Der Verfasser widmete sich ein Jahr später gründlich auch der juridischen Terminologie im Werk von Karel Jaromír Erben.4 Dann, im Jahre 1995, veröffentlichte seine Studie auch Viktor Petioky,5 eigentlich als Aufruf zur Ausarbeitung eines moder1  Deutsch-böhmisches Wörterbuch für Uhr- und Gehäusemacher. Německočeský slovník pro hodináře a pouzdráře hodinářské. Zusammengestellt von František Špatný, Praha 1882. 2  Dieser Beitrag wurde in modifizierter Form tschechisch an der im April 2011 in Malá Skála gehaltenen Konferenz anlässlich der 200 Jahre seit K. J. Erbens Geburt präsentiert. 3  Vladimír Růžička, Vědecké zpracování české právní terminologie, zvláště v  19. století (Wissenschaftliche Bearbeitung der tschechischen juridischen Terminologie, insbesondere im 19. Jahrhundert), Právněhistorické studie III, 1957, S. 137–175. 4  Vladimír Růžička, Právní terminologie v díle Karla Jaromíra Erbena (Juridische Terminologie in Karel Jaromír Erbens Werk), Právněhistorické studie 4, 1958, S. 185–195. 5  Viktor Petioky, Německo-český slovník právní terminologie z  roku 1850 (Deutsch-tschechisches Wörterbuch der juridischen Terminologie aus dem Jahre 1850), Slovo a slovesnost 56, 1995, S. 55–59.

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nen Wörterbuchs der Rechtsterminologie. Nur ganz kurz wurde 1996 das Wörterbuch der juridischen Terminologie im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Arbeit Pavel Josef Šafaříks von Antonín Měšťan erwähnt.6 Ähnlich wie in anderen Ländern entwickelte sich auch die tschechische Fachterminologie mehrere Jahrzehnte lang; einen bedeutenden Meilenstein bildet bereits die Übersetzung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs. Es war jedoch nach wie vor erforderlich, die juridische Fachsprache weiter zu verbessern. Dies kommt letzten Endes auch in dem monumentalen Tschechisch-deutschen Wörterbuch von Josef Jungmann (1834–1839) zum Ausdruck, an dessen Vorbereitung sich zahlreiche Mitarbeiter beteiligten. „Wenn neue Wissenschaftsbegriffe erforderlich sind, wenn sie sachlich angemessen, bestimmt, ausreichend und nach eindeutigen Sprachregeln gebildet sind, sollen wir für sie dankbar sein und sie gerne annehmen, nicht in der Umgangssprache, in der Poesie oder der allgemeinen Prosa, sondern in belehrenden Büchern, wissenschaftlichen Systemen, in dem wissenschaft­ lichen Umgang …“7 Aus diesen Worten Palackýs ergibt sich das Bemühen der nationalen Aufklärer, tschechische Terminologie für Künste, praktisches Leben und Wissenschaft zu entwickeln. Die Ausarbeitung der in Wörterbüchern sowie der in anderen Literaturformen vorhandenen Fachterminologie spielte traditionell eine wichtige Rolle in dem zunehmenden tschechischen Interesse für Wortschatz und Sprache und dokumentiert sowohl die sprachliche als auch die nationalemanzipierende, kulturelle und politische Entwicklung der Gesellschaft. Anfang der dreißiger Jahre bemühte sich Josef Vladimír Pelikán, Bezirksadjunkt in Rychnov nad Kněžnou / Reichenau an der Knieschna und Černý Kostelec  /  Schwarzkosteletz, die tschechische Rechtsterminologie systematisch auszuarbeiten, als er sein Werk Navržení právnické české terminologie (Entwurf der juridischen tschechischen Terminologie) veröffentlichte.8 Mit juristischen Sachen, nicht aber ausdrücklich mit der juristischen Terminologie befassten sich in verschiedenen Werken auch František Palacký, Jan Krasoslav Chmelenský und Pavel Josef Šafařík. Jan Pravoslav Koubek widmete sich in seiner Abhandlung Jazyk a technika právnická Slovanů 6  Antonín Měšťan, Pavel Josef Šafařík a česká a slovenská právní terminologie (Pavel Josef Šafařík und die tschechische und slowakische juridische Terminologie), Slavia. Časopis pro slovanskou filologii 65, 1996, S. 139–140. 7  František Palacký, Pomůcka ku poznání řádů zemských království českého v druhé polovici XIII. století (Hilfsmittel zur Erforschung der Landesordnungen des Königreichs Böhmen in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts), Časopis českého museum 5, 1831, S. 302 ff. 8  Josef Vladimír Pelikán, Navržení právnické české terminologie (Entwurf der juridischen tschechischen Terminologie), Časopis českého muzea (weiter nur ČČM 5, 1831, S. 326–343.



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(Juridische Sprache und Technik der Slawen)9 dem Einfluss fremder Sprachen auf die slawischen Sprachen, insbesondere auf das Tschechische und Polnische.10 Gleichzeitig entstanden auch populäre Arbeiten, die für die breitere Öffentlichkeit und Praxis vorgesehen waren. Als Beispiel ist Právní sekretář (Der Rechtssekretär) von Antonín Emil Fayl-Drážkovický aus dem Jahr 1835 zu erwähnen. Arbeiten dieses Typs erschienen auch später, verfasst z. B. von Jan Vočadlo,11 oder als Handbücher von František Špatný für die Angestellten der neu errichteten Gemeindeämter.12 Mit dem Jahr 1848 entstanden neue Verhältnisse. Durch das Kabinettblatt des Kaisers Ferdinand V. vom 8. April jenes Jahres wurde Tschechisch der deutschen Sprache in Ämtern und Schulen gleichgestellt und alle Beamten waren verpflichtet beide Sprachen zu beherrschen. Im gleichen Geist heißt es dann im Paragraph 5 der oktroyierten Verfassung vom 4. März 1849: „Alle Volksstämme sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein un­ verletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Spra­ che“. Durch die Silvesterpatente vom 31. Dezember 1851 wurde jedoch diese Verfassung für nichtig erklärt. Und gerade diesem kurzen Zeitabschnitt von 1849 bis 1850 werde ich mich in dem folgenden Text widmen. Die behördlichen Anordnungen bedeuteten in der Praxis, dass das Gesetzbuch sowie weitere Rechtsdokumente in allen zehn Landessprachen erscheinen sollten, und zwar in Deutsch, Italienisch, Ungarisch, Tschechisch, Slowenisch, Ruthenisch, Serbo-illyrisch mit zyrillischer Schrift und Serbo-illyrisch mit lateinischer Schrift sowie in romanischer Sprache. Gerade die 9  Jan Pravoslav Koubek, Jazyk a technika právnická Slovanů (Die juridische Sprache und Technik der Slawen), ČČM 13, 1839, S. 215 ff. 10  V. Růžička, Vědecké zpracování české právní terminologie, zvláště v  19. století, S. 142. 11  Jan Vočadlo, Český právník. Nejpodrobnější formuláře listin, smluv, spisů notářských, soudních podání, výměrů a rozsudků, pak formuláře v  záležitostech trestních, politických a obecních. K  potřebě každého vzdělaného vůbec a jmenovitě úředníků, advokátů, notářů a jiných právníků, jakož i představených obcí sepsal dle nového právnicko-politického názvosloví na základě nejnovějších zákonů a obzvláště řádu notářského, zákonu trestního, kolkového a obecního, pak s  ohledem na nynější zřízení úřadů (Tschechischer Jurist. Detaillierte Formulare von Urkunden, Verträgen, Notariatsschriften, Gerichtseingaben, Bescheiden und Urteilen, dann Formulare in strafrechtlichen, politischen und kommunalen Sachen. Zum Bedarf jedes gebildeten Menschen im Allgemeinen und namentlich der Beamten, Advokaten, Notarien und anderen Juristen sowie der Gemeindevorstände verfasst nach der neuen juridischpolitischen Terminologie auf Grund der jüngsten Gesetze und insbesondere der Notariatsordnung, des Straf-, Stempel- und Gemeindegesetzes sowie mit Rücksicht auf die gegenwärtige Behördengestaltung), Praha / Prag 1852. 12  František Špatný, Příruční knížka k  úřadování představených obecních (Handbuch zur Amtierung der Gemeindevorstände), Praha 1851 und 1852.

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einzuführende Amtierung in tschechischer Sprache sollte es der sich durchsetzenden tschechischen Intelligenz ermöglichen, größeren Anteil am öffentlichen Leben und an der Staatsverwaltung zu gewinnen. Als diese Verfügung jedoch umgesetzt werden sollte, stellte sich heraus, in welchem Maße ihre Ausführung durch ungenügende oder sogar nicht existierende juridische Amtsterminologie in der Sprache der Völker, welche sich nicht an der Staatsverwaltung beteiligten, gehindert war.13 Einer gründlichen terminologischen Entwicklung bedurften auch die slawischen Sprachen. Es wurde angenommen, dass die Terminologie einerseits auf älteren Rechtsquellen basieren sollte und andererseits dem jeweiligen Sprachcharakter anzupassen war. Das Justizministerium, mit Alexander Bach an der Spitze, berief am 10. Juli 1849 in Wien eine Kommission von erfahrenen Kennern slawischer Sprachen, Juristen und Philologen ein und beauftragte dieses Gremium mit der Aufgabe, juridische und amtliche Terminologie auszuarbeiten. Die Mitglieder trafen sich auf der ersten Kommissionssitzung am 1. August 1849 unter dem Vorsitz von Pavel Josef Šafařík.14 Die Kommission wurde in mehrere Sektionen geteilt, namentlich tschechisch, polnisch, ruthenisch, slowenisch und illyrisch-serbisch. In der tschechischen Sektion arbeiteten Anton Josef Beck (1812–1895), Karel Jaromír Erben (1811–1870), Antonín František Rybička (1812–1899)15 und Alois Vojtěch Šembera (1807–1882). Da in das Wörterbuch auch slowakische Abweichungen eingearbeitet werden sollten, wurden Ján Kollár (1793–1852) und Karol Kuzmány (1806– 1866) kooptiert. Auch in anderen Kommissionen waren gute Sprachkenner und hervorragende Übersetzer vertreten (wie Felix Slotwiński, Jakob Holowackyj, Franz Miklosić und Vuk Stefanović Karadžić). 13  In der folgenden Passage lehne ich mich an die Abhandlung von Viktor Pe­tioky an, Německo-český slovník právní terminologii z  roku 1850 (Deutsch-tschechisches Wörterbuch der juridischen Terminologie aus dem Jahre 1850), Slovo a slovesnost 56, 1995, S. 55–59. 14  Seine Aktivität in diesem Bereich wird ganz kurz von Jan Novotný erwähnt, Pavel Josef Šafařík, Praha 1971. An Šafaříks Tätigkeit erinnert auch Karel Paul, Pavel Josef Šafařík: život a dílo (Pavel Josef Šafařík: Leben und Werk), Praha 1961. 15  Wegen der Bedeutung seiner Beziehungen zu K. J. Erben erwähne ich hier einige Details seiner Berufskarriere in dem untersuchten Zeitabschnitt. Antonín Rybička wurde am 9.4.1846 als Akzessit bei der Hofkanzlei angestellt, dann im Oktober 1847 als Translator bei demselben Amt. Als im Zusammenhang mit den Märzereignissen 1848 beim Innenministerium eine Kommission für Erledigung der Beschwerden von Untertanen auf deren Obrigkeit errichtet wurde, arbeitete er als ihr Protokollführer und Dolmetscher. 1849 wurde er Mitglied der Kommission für juridische Terminologie und ab 1.11.1849 wurde er mit vorläufiger Redaktion des tschechischen Gesetzbuchs beauftragt. Er blieb in Wien, obwohl er im März 1850 zum Assessor in Kutná Hora / Kuttenberg ernannt wurde; ein Jahr später (7.2.1851) gewann er die Sekretärstelle beim Obersten und Aufhebungsgerichts in Wien. Zum ständigen Angestellten wurde er am 25.9.1857 ernannt.



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Die Aufgabe der Kommission bestand darin, die juridische und amtliche Terminologie sowohl für das Reichsgesetzbuch, dessen Redakteur A. J. Beck war, als auch für die allgemeine juridische Praxis auszuarbeiten.16 Pavel Josef Šafařík hat in seinem Vorwort die zeitgenössischen Quellen angeführt, von denen die Unterlagen für das auszuarbeitende Werk exzerpiert wurden. Es handelte sich um verschiedene unter der Regierung Franz Josephs erlassene Patente und Gesetze, wie die Märzverfassung, das Grund­ entlastungspatent vom 4. März 1849 und 27. September 1848, das Pressegesetz vom 13. März 1849 (gegen Pressemissbrauch), das Gesetz über Verfahren bei Presseübertretungen vom März 1849, aber auch ältere Dokumente. Ausgenutzt wurden auch z. B. die Gerichts- und Konkursordnung vom 1. Mai 1781, das Strafgesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen vom 3. September 1803, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch vom 1. Juni 1811 und viele andere. Die Kommission glaubte zunächst, es werde möglich sein, eine gemeinsame (ähnlich lautende) juridische Terminologie für alle erwähnten Sprachen zu entwickeln. Diese Vorstellung hat sich jedoch als irrig erwiesen. Dessenungeachtet überdauerte die Forderung, in den Fällen, wo es für einen konkreten Begriff mehrere gleichwertige Ausdrücke gab, vorzugsweise ähnliche Wörter zu wählen sowie diejenigen, die in den meisten slawischen Sprachen vorhanden waren. Die Kommission hat einen Vorbereitungsausschuss errichtet, der aus älteren österreichischen Gesetzen und anderen Rechtsnormen einzelne Begriffe exzerpieren und diese dann den einzelnen Sektionen zur Übersetzung empfehlen sollte. Der angesammelte Wortschatz nahm zu und nach drei Monaten gab es bereits rund achttausend Zettel. Es erwies sich für die Arbeit der Kommission als wichtig, dass die Mitglieder der tschechischen Sektion dank ihrer bisherigen Arbeit über genug Übersetzungspraxis verfügten. Insbesondere Karel Jaromír Erben hatte wertvolle Erfahrungen mit der Übersetzung von Rechtsliteratur. Bereits während seines Rechtsstudiums fertigte Erben auf Veranlassung František Palackýs eine Abschrift des umfangreichen Werks von Pavel Skála ze Zhoře an. Später, in Zusammenhang mit der Ausarbeitung eines tschechischen Diplomatars, studierte er in „Provinzarchiven“ und ab 1843 erforschte Dokumente in den Archiven in České Budějovice / Budweis, Domažlice / Taus, Soběslav / Sobieslau, Tábor / Tabor, aber auch im Schwarzenberger Archiv in Třeboň / Wittingau und im Czerniner Archiv in Jindřichův Hradec /  / Neuhaus sowie im Clam-Gallas-Archiv in Frýdlant / Friedland. Aus Anlass des Landespräsidiums und – so Antonín Grund – „aus jugendlicher 16  V. Růžička, Vědecké zpracování české právní terminologie, zvláště v  19. století, S.  145 ff.

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Unbesonnenheit“17 arbeitete er zusammen mit Jan Neubauer, Vendelín Grünwald und Josef Jireček an der Übersetzung des Bürgerlichen Gesetzbuchs aus dem Jahre 1811; diese Arbeit ist jedoch nie im Druck erschienen. Sie knüpften so an die ältere Zusammenarbeit mit Josef Frič, Antonín Strobach, Karel Havlík und Jan Neubauer an, die zum Erlass (1847) der Allgemeinen Gerichtsordnung und der Konkursordnung führte. Während der Revolutionsjahre 1848–1849 verstärkte Erben diese Facharbeit noch mehr. Im September 1848 wurde er zum Translator deutscher Gesetze ins Tschechische und zum Mitglied der Terminologischen Kommission des Prager Guberniums ernannt. Mit Erben als Autor von Artikeln mit der Rechtsthematik rechnete auch František Palacký, der Anfang der fünfziger Jahre seine Idee zur Ausarbeitung eines Lexikons wieder belebte. K. J. Erben beteiligte sich damals auch an anderen Arbeiten; 1850 übersetzte er die Gemeindeordnung der königlichen Hauptstadt Prag vom 27. April 1850 und die vorläufige Strafordnung vom 17. Januar 1850. Zusammen mit Antonín Strobach und Jan Neubauer unterbreitete er auch das Strafgesetz vom 27. Mai 1852. In der Wiener Kommission zur Ausarbeitung der juridischen Terminologie entstanden bald Streitigkeiten über die Ausgabeform des Werkes. Sollte ein Gesamtwerk mit allen Sprachen oder separate Teilwerke in einzelnen Sprachen herausgegeben werden? Das Justizministerium beschloss, mit dem Druck des tschecho-slowakischen Teils zu beginnen, dessen Vorbereitung am weitesten war, und dann sollten der polnische und der ruthenische Teil folgen; diese erschienen dann im Jahre 1851. Die südslawische Version war als Gesamtwerk vorgesehen und erschien in drei Teilen im Jahre 1853. Innerhalb der Kommission gab es auch weitere Probleme mit der Vorbereitung des Wörterbuchs, wie es der vorliegenden Korrespondenz zwischen Erben und Rybička und der Erben-Monographie von Antonín Grund zu entnehmen ist. Es war schließlich Pavel Josef Šafařík, der sich bemühte die Widersprüche zu dämpfen; er hat jedoch dabei paradoxal Öl ins Feuer gegossen, als er, wie es seinerzeit üblich war, seine Korrespondenz zur sachlichen Information auch seinen Freunden, also auch Erben zur Verfügung stellte. Und dieser fühlte sich durch einige an Šafařík adressierte Worte Rybičkas bezüglich seiner Person sowie durch dessen nachfolgende Kommentare schwer gekränkt.18 17  A.

Grund, Karel Jaromír Erben, S. 58. Archiv Prag (weiter nur PNP), Fond. Antonín Rybička, Erben an Rybička, 6.–10.7.1849: „Nach Erhalt Ihres Briefes, der mich ebenso betrübt wie Herrn Šafaříks Brief Sie betrübte, und ich ging also gleich zu Herrn Šafařík und ich ließ ihn den Brief lesen. Er begann sehr viel zu lachen und lachte so, als er den Brief las, dass ich ihn nur selten habe lachen sehen, als ob es eine sehr witzige Komödie gewesen wäre. Dann sagte er mir, er habe es nicht so gedacht und habe 18  Literarisches



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Die Verfasser des Wörterbuchs beschwerten sich nach der Fertigstellung der Handschrift am Anfang des Jahres 1850 über gewisse Zögerung seitens der Staatsdruckerei, in der das Werk gedruckt werden sollte. Schließlich kam es jedoch auch dort nach einem Personaleingriff Antonín Becks zu einem „Eisbruch“ und Antonín Rybička musste dann sogar die Korrekturen des geplanten Werkes in Wien alleine machen, weil es keine Zeit mehr gab, die Texte an Erben nach Prag zu übersenden. Die tschechische Sektion gab ihr Werk unter dem Titel „Juridisch-politische Terminologie für die slawischen Sprachen Österreichs. Von der Commission für slawische juridisch-politische Terminologie. Deutsch-Böhmische Separat-Ausgabe“ in Wien im Juli 1850 heraus. Auf den 263 Seiten des Wörterbuchs befinden sich 7150 Stichwörter und „Stichwortnester“. Die Verfasser des Wörterbuchs konnten eingebürgerte fremdsprachige Begriffe nutzen (wie Advokat, Dotieren, Duplikat und andere) und neue Begriffe bilden (oft erwähnt werden „branec“ statt Rekrut, „četník“ statt Gendarm, oder „mzda“ statt Gage, u. a.), obwohl nicht alle gelungen waren (so z. B. der Neologismus „velvyslanec“ hat sich bewährt, aber „veldílna“ für die Fabrik oder „veldělník“ für Fabrikant nicht). Zahlreiche Begriffe werden bis heute verwendet,19 und das Wörterbuch galt seinerzeit als Vorbild für andere ähnliche Werke. Der Arbeitsablauf ist auch in Šafaříks eigenem Vorwort dokumentiert. Er schätzte darin insbesondere Erbens Anteil hoch sowie die Gründlichkeit und Beharrlichkeit anderer Mitarbeiter, namentlich von Antonín Rybička und Alois Vojtěch Šembera. Šafařík gibt allerdings zu, er habe die Leistung einzelner Mitarbeiter nicht bemessen wollen, um den anderen kein Missbehagen zu bereiten, aber bei Erben mache er eine Ausnahme auf Veranlassung des Ministerialbeamten Antonín Beck. „Der Wahrheit und Gerechtigkeit wegen bin ich verpflichtet an dieser Stelle besonders zu betonen, dass sich Herr Erben sowohl in Wien als auch später in Prag, als gedruckt wurde, der Bearbeitung des von der tschechischen Kommissions­ abteilung vorgegebenen Stoffes und der Anfertigung dieser Ausgabe mit so viel Eifer und Fleiß angenommen hat, dass es zum Erfolg des Werkes wesentlich nicht erwartet, Sie würden seinen Brief lesen; er habe darüber nur ein paar Worte geschrieben, die er eigentlich nicht so ernst gemeint habe. Seine einzige Absicht sei es gewesen, die ganze Sache so bald wie möglich abzuschließen, ohne Rücksicht auf die Reden einiger oder anderer Menschen, die dem Wörterbuch Unvollständigkeit oder etwas Anderes vorwerfen; man könne doch Vollständigkeit und Vollkommenheit sowieso auf einmal nicht erreichen.“ 19  Konkrete Beispiele dieser Termini V. Petioky, Německo-český slovník právní terminologie z roku 1850, S. 58 sowie auch V. Růžička, Vědecké zpracování české právní terminologie, zvláště v  19. století, S. 147.

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beigetragen hat. Die große Leistung kann nur derjenige wahrhaftig und völlig messen, welcher sich selbst um lexikalische und ähnliche Arbeiten bemühend aus Erfahrung weiß, wie viel Arbeit und Fleiß erforderlich ist, bevor so eine riesige Menge von Wörtern und Redewendungen in so kurzer Zeit so tadellos zusammengestellt und in entsprechende Ordnung gebracht wird, wie es mit diesem Werk der Fall war.“

Karel Jaromír Erben hat Šafaříks Anerkennung für seine Arbeit wohl verdient. Im tschechischen Kulturmilieu ist Karel Jaromír Erben eher dank seiner dichterischen Arbeit bekannt; in der Historiographie wird jedoch seine Archivar- und Editorarbeit anerkannt und geschätzt. Die vorliegende Abhandlung bietet also die Gelegenheit, Erbens Bedeutung für die Bildung der juridischen Terminologie zusammenzufassen und hervorzuheben. Seine Wirkung wurde auch von Autoren der älteren Literatur über Erben hoch geschätzt;20 eine eloquente Quelle in dieser Hinsicht ist auch seine Korrespondenz, insbesondere die im Literaturarchiv der Gedenkstätte der Nationalliteratur aufbewahrte Korrespondenz zwischen Karel Jaromír Erben und Antonín Rybička. Als Erben zum Mitglied der Kommission für juridische Terminologie ernannt wurde, war er fast vierzig Jahre alt und hatte keine feste Berufsstelle. Er musste deshalb, ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen nach der Revolution 1848, an seine Lebensaussichten denken. Seine finanzielle Lage war unsicher, bislang hatte er nur gelegentliche bzw. zeitlich beschränkte Einkünfte.21 Sein Engagement für das Justizministerium, also die Arbeit für die vom Ministerium errichtete Fachkommission nahm Erben mit der Hoffnung an, diese Arbeit werde ihm in seiner Lebenskarriere helfen und er werde eine ständige Arbeitsstelle bekommen und seine Familie sichern können. In seinen Gefühlen konnte ihn auch die persönliche Zuschrift vom Minister Alexander Bach bestärken, der Erbens Voraussetzungen für diese Arbeit hochschätzte und meinte, seine Beteiligung an dem Vorhaben sei höchst erforderlich.22 K. J. Erben hoffte, er werde dank seiner Arbeit in der Kommission oder dank den in diesem Zusammenhang zu gewinnenden Kontakten bessere Aussichten für die Zukunft haben. Umso mehr enttäuscht war er, als er in seiner Umgebung gewisse Eifersucht und Gehässigkeit wegen seiner Arbeit für Wiener Behörden spürte, und seine Befürchtungen und Unsicherheit vor der Zukunft nahmen zu. Auch diese höchst fachliche Arbeit in Wien konnte ihm nicht unmittelbar helfen, als er sich am 22. September 1849 um eine der zwei neu errichteten Archivarstellen (mit 20  Vincenc Brandl, Život Karla Jaromíra Erbena (Karel Jaromír Erbens Leben), Brno / Brünn 1887; Antonín Grund, Karel Jaromír Erben, Praha 1935; Julius Dolan­ ský, Karel Jaromír Erben, Praha 1970. 21  Während seines Aufenthalts in Wien anläßlich der Arbeit an dem Wörterbuch bezog Erben ein ungewöhnlich hohes Gehalt von 150 fl. 22  Zitiert nach A. Grund, Karel Jaromír Erben, S. 59.



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1000 fl. Gehalt pro Jahr) bei dem Landesgericht in Prag bewarb, und sein Stellengesuch wurde abgelehnt. Er war bereit, viel dafür zu tun: „Ich weiß nicht, wem ich gehöre und wem ich gehören werde, und deshalb bemühe ich mich, allen Seiten entgegenzukommen und mit niemandem mich einzulassen, bis die Entscheidung fällt, was von mir wird.“

Er beschwerte sich deshalb bitter bei Antonín Rybička: „Aus einer guten Quelle habe ich erfahren, dass derartige Menschen nicht gesucht werden, welche zwar von der Regierung Brot haben wollen, aber trotzdem bei ihrer Nationalpassion bleiben, denn sie stehen auf der Seite des Nationalfanatismus. Und ich war ein Narr als ich glaubte, ich würde Verdienste dadurch erwerben, dass ich das tschechische terminologische Wörterbuch ausarbeite!“23

Karl J. Erbens und Antonín Rybičkas Briefe sind überzeugende Belege der regen Kontakte zwischen den beiden Männern, als sie an diesem bedeutsamen Projekt zusammenarbeiteten und persönlich miteinander nicht sprechen konnten. Ihre Korrespondenz war eine Art Ersatz für das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, einschließlich sehr offen ausgedrückter Meinungen und Urteile über diejenigen, deren Arbeit sie aus irgendwelchen Gründen missachteten, oder wenn sie glaubten (und manchmal war es wahr), dass diese Menschen ihnen Knüttel zwischen die Beine warfen. Ihr Briefwechsel ist besonders bedeutend darin, dass sich in diesen Fällen an den Tisch setzten und zu Feder und Papier griffen Männer, die ihre Meinungen formulieren und über die Lage in ihrem Bereich informieren konnten und die auch danach fragten, was los war und wie sie aus dem Geschehen profitieren konnten. Nicht selten bemühten sie sich, den anderen als Fürsprecher oder Vermittler zu gewinnen.24 Auch Karel Jaromír Erben nutzte seine Briefe zu solchen Zwecken, als er schreibt: „Was mich anbelangt, habe ich Gründe zu fürchten, dass mein Bemühen bezüglich jenes Amtes, obwohl sehr mühselig, aussichtslos ist und dass meine Reise nach Wien unnütz sein wird. Ich bitte Sie um Gottes willen, wissen Sie nichts davon? Kann man in dieser Sache, falls erforderlich, noch etwas tun? Ich scheue mich Herrn Dr. Bek (!) zu schreiben, damit ich ihn schließlich mit ewigem Drängen nicht verdrieße; er ist doch der einzige, auf den ich alle meine Hoffnungen setze. Strobach treibt mich immer dazu an, ihm noch einmal zu schreiben, damit er sich der Sache bei Herrn Referent annimmt.“25 23  LA PNP, Fond. A. F. Rybička, Brief K. J. Erbens an A. Rybička vom 6.– 10.7.1849. 24  Näheres darüber siehe Lenka Kusáková, Korespondence jako aktivní činitel literárního života v  období národního obrození (Korrespondenz als aktiver Faktor des literarischen Lebens zur Zeit der nationalen Wiedergeburt), in: Spisovatelé, společnost a noviny v  proměnách doby. K 150. výročí úmrtí Karla Havlíčka, Literární archiv (Literarisches Archiv 38), Praha 2006, S. 235–258. 25  V. Brandl, Život Karla Jaromíra Erbena (Das Leben von Karel Jaromír Erben), Brno / Brünn 1887.

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Erben hatte jedoch auch Gründe dazu, und er hielt sie in seiner Korrespondenz mit Rybička nicht geheim, Wirkung und Einfluss anderer Tschechen in Wien zu befürchten; es war insbesondere Alois Jelen (1801–1857), ehemaliger Chorleiter in Prag und gegenwärtiger Archivar des Innenministeriums in Wien. Erben bezeichnete gerade Jelen als Autor der falschen Information, Erben habe von der Gelehrtengesellschaft (also der Königlichen Böhmischen Gesellschaft – Anm. der Autorin) 600 Gulden als deren Aktuar jährlich sicher, und so habe er Erbens Ernennung zum Amt im September 1849 verhindert. Erben reagierte darauf äußerst bitter in seinem Brief an Rybička vom 29. April 1850 und seine Worte zeugen davon, wie er sich wahrscheinlich fühlte: „Wenn ich 600 Gulden sicher hätte, würde ich nicht wie ein Hund kriechen und würde mich auch nicht wie ein Hund wegstoßen lassen.“26 Bei ihrer Facharbeit gingen Erben und seine Mitarbeiter auch von der alttschechischen Gerichtsterminologie aus und einen Teil der Terminologie haben sie neu gebildet. Ähnlich wurde auch bei ihrer Arbeit an dem juridischen Rechtswörterbuch vorgegangen.27 Nach der Herausgabe fand das Wörterbuch schnell auch Widerhall in der lokalen Fachöffentlichkeit. Karel Jaromír Erben hielt in einem Brief aus Prag an Rybička in Wien seine Empörung darüber nicht geheim, wie das Wörterbuch „zu Hause“ empfangen wurde. Über die Autoren derartiger Reaktionen sprach er wie über „Dorfherren, welche sich Feder und Maul schärfen“, und versprach ihnen mit Empörung: „ / Ignoranz /  ist in ihren journalistischen Artikeln zu sehen, welche voller Fehler und Germanismen sind, und wenn einige von ihnen herauskriechen, da werde ich auch meine Feder schärfen und sie mit ihren eigenen Arbeiten so herunterreißen, dass niemand ein Stück Brot von ihnen nehmen wird.“ Er meinte damit zwei tschechische Rechtspraktiker, Josef Vladimír Pelikán und Josef Kohout, die selbst ein Werk über Rechtsterminologie vorbereiteten und die im Blatt Moravské listy Einwendungen gegen das frisch erschienene Wörterbuch erhoben hatten. Ein anderer zeitgenössischer Patriot, Jakub Malý, hieß das Werk zwar mit Sympathien, jedoch auch mit gewissen Anregungen willkommen und veröffentlichte seine Rezension in Časopis českého Musea (Muzejník).28 Er reagierte darin nur auf einen Teil des Werkes (Buchstaben 26  LA

PNP, Fond. A. F. Rybička, K. J. Erbens Brief an A. Rybička vom 29.4.1850. seiner Arbeit (Právní terminologie  /  Juridische Terminologie, S. 190–191) analysierte V. Růžička auch andere Tätigkeiten Erbens zur Vertiefung der Kenntnisse von juridischer Terminologie, wie die Herausgabe alter Denkmäler der tschechischen Literatur und Erbens spätere Arbeit am Anfang der 60er Jahre in dem Juristenverein, der ein juridisches terminologisches Wörterbuch vorbereitete. 28  ČČM 24, 1850, 4. Band, S. 624–632. 27  In



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A-E), den er damals zur Verfügung hatte. Er widersetzte sich den unorganischen, künstlichen, gelehrten Eingriffen in die Sprache, jedem – wie er sagte – „Sprachputzen“, und deshalb quittierte er mit Vergnügen die Tatsache, dass „die tschechische Sprache und Stil zu ihrer Natur in dem Maße zurückkehrt, in dem ihre Pfleger anfangen, das Augenmerk auf ihre lebende Quelle, den Volksmund zu richten“.29 Er meinte, die letzten politischen Ereignisse in der Monarchie, namentlich die „ausgesprochene Gleichberechtigung der Völker“, hätten eine lobenswerte Bereicherung der Sprache zur Folge. J. B. Malý hat auch die Lage erklärt, in der die Kommission ihre Arbeit ergriff, und wies auf die kurze Zeit von nur vier Monaten hin, welche die Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgabe hatte. Er zitierte auch ziemlich detailliert aus Šafaříks Vorwort zum Wörterbuch die Grundsätze, welche die Kommission für ihre Arbeit festgesetzt hatte.30 Viele neu gebildete Begriffe wurden von Malý geschätzt (er äußerte sich nicht zur Nutzung der alttschechischen Termini, die er eigentlich respektierte), über andere hatte er Zweifel, von denen einige – wie darauf bereits die ersten Biographen Erbens Vincenc Brandl und Antonín Grund aufmerksam machen – sich als falsch erwiesen, während in anderen Fällen seine Schätzungen perspektivischer waren. J. B. Malý machte der Kommission für ihre Arbeit im Allgemeinen ein Kompliment, hielt jedoch diese Arbeit für ein Abbild der gegenwärtigen Kenntnisse, des gegenwärtigen Erkenntnisstandes, den man in der Zukunft entsprechend den Forderungen der Praxis weiter verbessern und vertiefen kann oder sogar muss. Und die tschechische Rechtsterminologie wurde verständlicherweise in den folgenden Jahren kontinuierlich weiter gestaltet und reagierte damit – ähnlich wie die Terminologie in anderen Bereichen – auf ihre innere Entwicklung. Karel Jaromír Erben wurde ein Jahr danach Mitglied einer anderen Wiener Kommission, diesmal für die Terminologie der an Mittelschulen unterrichteten Wissenschaftsbereiche, denn eine neue tschechische Terminologie war auch für Mittelschulen erforderlich, d. h. in einem Bereich, in dem gerade nach 1848 grundsätzliche Änderungen stattfanden;31 sein Engagement dort war jedoch nicht mehr so intensiv, denn er war inzwischen in ein Amt berufen worden und diese Arbeit stellte für ihn eine Priorität dar. Von 29  Ibid,

S. 625. S. 627. 31  Magdaléna Pokorná, Slovník vědeckého názvosloví. Nástroj k rozvoji vědy i politické loajality v polovině 19. století (Wörterbuch der wissenschaftlichen Terminologie. Ein Werkzeug zur Entwicklung der Wissenschaft und der politischen Loyalität in der Mitte des 19. Jahrhunderts), in: Magister noster. Sborník statí věnovaných in memoriam prof. PhDr. Janu Havránkovi, CSc., Michal Svatoš, Luboš Velek, Alice Velková in Zusammenarbeit mit W. D. Godsey und R. Melville (Hrsg.), Praha 2005, S. 241–252. 30  Ibid,

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der Prager Gemeinde wurde er am 29. Juli 1851 zum Stadtarchivar gewählt (mit dem Jahresgehalt von 1000 Gulden) und am 1. August desselben Jahres trat er sein Amt an.32 Aber auch diese Tatsache hatten ihm gewisse Umstände versauert: „Die ganze deutsche Seite hat mir ihre Stimmen ausnahmslos gegeben und damit gezeigt, dass ich konservativ bin; die tschechische Seite jedoch, mindestens ihr radikaler Teil, weigerte sich lange, bis sie sich für mich entschloss. So habe ich schließlich 68 Stimmen gegen zwei erhalten.“33

Mit seiner weiteren Arbeit, sei es als Archivar, Historiker und insbesondere Dichter, bleibt Karel Jaromír Erben fester Bestandteil der neuzeitlichen tschechischen Kultur, jene „Majestät des Gesetzes“, wie es Vojtěch Jirát in seiner bis heute geschätzten Erben-Studie formuliert hat.34 Abstract Development of the vocabulary of law for the Slavonic languages of Austria in the mid-19th century The activity of the Commission created by the Ministry of Justice in July 1849 and charged with the task of preparing a vocabulary of law and administration in particular provincial languages is analyzed in the study. The result of its work was the Vocabulary of Law of the Slavonic Languages in Austria that was published in July 1850. Systematic work on dictionaries and vocabularies had already a good tradition in Czech science (Josef Dobrovský, Josef Jungmann), and specialized vocabularies were also developed by other outstanding researchers, such as Pavel Josef Šafařík, the Presl brothers, Jan Evangelista Purkyně, František Špatný, and others. The present study is based on the existing literature related to the history of law or devoted to the life and work of Karel Jaromír Erben. One of the sources used here was also the unpublished correspondence between Karel Jaromír Erben and Antonín Rybička available in the Literary Archives in Prague. The Commission’s task was to prepare a vocabulary of law and administration needed for both the Imperial Code and the general legal practice. The 32  Über Erbens Wirkung in diesem Amt berichtete zum letzten Mal Milena Běličová an der Konferenz anläßlich der 200 Jahre seit K. J. Erbens Geburt, Karel Jaromír Erben a úloha pamětǒvých institucí v historických proměnách, Kateřina Pio­ recká (ed.), Semily, Turnov 2011. 33  Zitiert nach V. Brandl, Život Karla Jaromíra Erbena, S. 44. Einer der tschechischen Gegenkandidaten für die Stelle war der Arzt, Schriftsteller und Übersetzer Josef Bojislav Pichl. 34  Vojtěch Jirát, Erben čili Majestát zákona (Erben oder die Majestät des Gesetzes), in: V. Jirát, Portréty a studie, Praha 1978, S. 132–148.



Juridisch-politische Terminologie für die slawischen Sprachen123

author focuses on the work done by the Commission’s Czech Section, the most important members of which were Pavel Josef Šafařík and Karel Jaromír Erben. The latter had already gained much experience with this type of work. The course of work is described as well as the problems that emerged both inside the Commission and in the Commission’s contacts with the Ministry. Attention is also paid to the response by the Czech professional public to the resulting Vocabulary.

III. Ehe, Familie und Kinderschutz

Die Ehe aus der Sicht des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs und des Kirchenrechts1 Zuzana Pavelková Čevelová Am Anfang des 19. Jahrhunderts, als das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat, war die Eheinstitution schon längst ein Staatspolitikum. Wenn Maria Theresia noch der katholischen Kirche gewissen Einfluss auf die Eheschließung und deren anschließende Kontrolle (durch Kirchengerichte) überlassen hatte, war die Politik ihres Sohns Joseph II. in dieser Frage ganz unterschiedlich. Im Einklang mit der zeitgenössischen Ansicht der Staatsmacht und deren Einwirkung auf die alltägliche Haltung der Bevölkerung setzte er den Grundsatz durch, dass die Ehe in erster Linie als bürgerlicher Vertrag und erst in zweiter Linie als Sakrament der katholischen Kirche zu betrachten war. Diese Ansicht war ganz neu und stellte einen wesentlichen Eingriff in die Kompetenzen der Kirche dar, die jahrhundertelang ihre Rechte in Bezug auf die Eheschließung beansprucht hatte.2 Joseph II. hatte eine neue Eheauffassung bereits in seinem Ehepatent aus dem Jahre 1783 eingeführt, das anschließend in das josephinische bürger­ liche Gesetzbuch eingegliedert wurde.3 Bereits in dem Ehepatent wurde die Ehe als eine Art Bürgervertrag aufgefasst und diese Ansicht wurde dann 1  Dieser Beitrag entstand dank der Unterstützung von Grantová agentura České republiky im Rahmen des Projektes „Každodennost manželství v ‚dlouhém‘ 19. století. Výzkum katolických normativních a institucionálních pramenů“ (Ehe im Alltag des „langen“ 19. Jahrhunderts. Erforschung der katholischen normativen institutionellen Quellen) No. P410 / 11 / P218. 2  Zur Frage der ursprünglichen und der Nachtridentinischen Eheform siehe die allgemeine Zusammenfassung in: Josef Grulich, Populační vývoj a životní cyklus venkovského obyvatelstva na jihu Čech až 16. až 18. století (Populationsentwicklung und Lebenszyklus der Landbevölkerung in Südböhmen im 16. bis 18. Jahrhundert), České Budějovice, 2008, S. 230–240; von der älteren Literatur siehe Jiří Kla­ bouch, Manželství a rodina v  minulosti (Ehe und Familie in der Vergangenheit), Praha 1962. 3  Zur katholischen Interpretation der Auswirkungen von Änderungen im Familien- und Eherecht in der Habsburgermonarchie siehe František Kryštůfek, Dějiny církve katolické ve státech Rakousko-uherských s  obzvláštním zřetelem k  zemím koruny české II (Geschichte der katholischen Kirche in den Staaten Österreich-Ungarns mit besonderer Rücksicht auf die Böhmischen Kronländer II), Praha 1899, S. 204–210.

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Zuzana Pavelková Čevelová

automatisch auch in das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (weiter nur ABGB) übernommen und anschließend in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts angewendet. In Folge des Ehepatents verloren die kirchlichen (bischöflichen) Gerichte die Kompetenz über Ehestreite zu entscheiden und diese Gerichtsbarkeit wurde von jetzt an ausschließlich den weltlichen Gerichten anvertraut. Es handelte sich um einen radikalen Staatseingriff in die Kompetenzen der Kirche, der zwar viel Unwillen hervorgerufen hatte, aber selbst die Kirche konnte an dieser Tatsache nichts ändern. Der gesamte Eliminierungsprozess des kirchlichen Einflusses auf die Ehe durch den Staat korrespondiert völlig mit den im Aufklärungsgeiste gefassten Reformen Josephs II. und entspricht den Bemühungen, die Kirche auch in vielen anderen Bereichen dem Staat unterzuordnen. Für die Ehepaare selbst bedeutete die Änderung eher Vorteile im praktischen Leben. In Ehestreitfällen sollten sie jetzt nur vor dem Zivilgericht erscheinen, das sowohl über die elementaren Rechtsfragen (Gültigkeit der Ehe, Ehescheidung von Tisch und Bett, Hindernisse u. a.) als auch über die güterrechtlichen Sachen entschied. Der Ehestreit konnte von jetzt an mit allen Auswirkungen von einer einzigen Institution beigelegt werden. Die bischöflichen Kirchengerichte durften nämlich nur in Sachen Ehegültigkeit entscheiden, aber in Scheidungsfällen musste der Vermögensausgleich von dem Zivilgericht beigelegt werden. Schritt nach Schritt übernahm der Staat auch das Recht, über die für gültige Eheschließung erforderlichen Bedingungen, d. h. über die sog. Ehehindernisse zu entscheiden, und deshalb konnte er nach Bedarf diese Bedingungen auch nachsehen (dispensieren). Von der Kundmachung des Ehepatentes an wurde die Eheinstitution aus zwei Gesichtswinkeln angesehen. Die Ansicht durch den Staat war unterschiedlich von der Ansicht durch die Kirche, die von den Brautleuten verlangte, ihre Ehe auch aus der Position der katholischen Kirche gültig zu schließen. Beide Gesichtspunkte waren selbstverständlich in Einzelheiten unterschiedlich. Die Position der katholischen Kirche war schlimmer (wenn die Problematik aus einem weniger üblichen Gesichtspunkt angesehen wird) auch infolge des Toleranzpatentes, das es ermöglichte, gemischte Ehen zwischen den Christen unterschiedlicher Konfession zu schließen, was in der Praxis zusätzliche Komplikationen bedeutete. Die Visionen des Toleranzpatentes korrespondierten später auch mit der Ehefassung im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, das die Eheschließung zwischen Angehörigen der tolerierten christlichen Kirchen und den Katholiken erlaubte. Die rechtlichen, vom Staat festgesetzten Ehegrundlagen (das Ehepatent, das josephinische Bürgerliche Gesetzbuch und das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch) basierten in manchen Aspekten auf dem bestehenden Kirchen-



Die Ehe aus der Sicht des AGBG und des Kirchenrechts129

recht, insbesondere in Bezug auf die Ehehindernisse. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch kopierte praktisch die in der katholischen Kirche praktizierten Ehehindernisse und in einigen Punkten wurden sie sogar verschärft bzw. erweitert. Es gab deshalb in der Praxis Fälle, wo aus dem Gesichtspunkt der Kirche die Brautpaare alle Voraussetzungen für die Eheschließung erfüllten, aber aus dem Gesichtspunkt des Staates nicht. Und es gab auch umgekehrte Fälle. Dieser Widerspruch in der Ansicht der Ehe durch den Staat (bzw. durch die Obrigkeit) und durch die Kirche ist keine neue Auffassung, die erst in dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch eingeführt worden wäre. Bereits vor der Einführung der Ehepolitik des aufgeklärten Staats wurde über das Schicksal der Untertanen von deren Obrigkeit entschieden, welche mittels ihrer Kanzleien über die Eheschließungen Aufsicht führte. Die konkrete Lage konnte jedoch in verschiedenen Gebieten unterschiedlich sein.4 Mit dem ABGB erhielt jedenfalls die Eheinstitution einheitliche Regelungen. Es war nach wie vor im Interesse des Staates und der Kirche, dass die Brautpaare ihre Ehe in gültiger Weise schlossen. Dies bedeutete in der Praxis, dass beide Seiten die vor der Eheschließung zu erfüllenden Bedingungen festsetzten. Mit dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch gerieten die vom Staat festgesetzten Bedingungen an die erste Stelle und der Staat räumte sich auch das Recht ein, diese Bedingungen nachzusehen (dispensieren). Wie bereits erwähnt, formulierte der Staat die Ehehindernisse nach dem kirchenrechtlichen Schema und es wurden drei allgemeine Gruppen definiert.5 Die erste Gruppe umfasst die Ehehindernisse, deren Existenz den freien und informierten Ehekonsens bzw. die spätere Ausübung von Rechten und Pflichten durch Mann und Frau verhindert. Diese Gruppe von Ehehindernissen ist als Konsensmangel bekannt. Anschließend ist im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch die Mangelgruppe von Zweckmächtigkeit zu finden. Gemeint wird hier also der Mangel an Fähigkeit, den Ehezweck zu erfüllen, abgesehen davon, wie der erwünschte Ablauf und Beitrag der Ehe 4  Zur Regelung des Ehevorgangs in der Schwarzenberger Herrschaft in der frühen Neuzeit siehe Pavel Matlas, Shovívavá vrchnost a neukáznění poddaní? Hranice trestní disciplinace poddanského obyvatelstva na panství Hluboká nad Vltavou v 17.–18. století (Nachsichtsvolle Obrigkeit und undisziplinierte Untertanen? Grenze der Strafdisziplinierung der untertanen Bevölkerung auf der Herrschaft Frauenberg im 17.–18. Jahrhundert), Praha 2011. S. 89–105. 5  Ehehindernisse im ABGB verfasst nach dem Handbuch der Zivilkodexe von Ilona und Karel Schelle. Ilona Schelleová / Karel Schelle, Civilní kodexy 1811 –  1950 – 1964 (Die Zivilkodexe 1811 – 1950 – 1964), Brno 1993, S. 47–54; in Tschechisch erschien das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch unter dem Namen Kniha všeobecných zákonů městských (Buch der allgemeinen Stadtgesetze), Praha / Prag 1812, das in digitaler Form auf Seiten der Tschechischen Nationalbibliothek in der Applikation Kramerius studiert werden kann.

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verhindert wird. In diese Kategorie fallen verschiedenartige Hindernisse, von der unzulässigen Verwandtschaft bis hin zum Partnermörder zwecks weiterer Ehe. Der Staat, ähnlich wie die Kirche, achtete konsequent auf die Pflichtformalitäten bei der Eheschließung. In die letzte Gruppe von Ehehindernissen, unter dem Namen Formalitätsmangel, kommen deshalb die amtlichen Pflichtbedingungen für gültige Eheschließung, darunter insbesondere die Tridentinische Eheschließungsform (am geeigneten Ort, vor dem Priester und zwei Zeugen) sowie die Aufgebotsforderung. Die beiden grundlegenden Formalitäten wurden von dem kanonischen Recht übernommen. Die Eheanzeige war in der Praxis in unserem Gebiet bereits im Mittelalter erforderlich, die bestehende Eheform wurde dann vom Tridentinischen Konzil festgelegt. Zur Zeit der ABGB-Kundmachung, also Anfang des 19. Jahrhunderts, waren diese Formalitäten in der Praxis ganz üblich. Jetzt waren sie unentbehrliche Bestandteile im Leben der Christen als Staatsbürger, denn sie wurden gesetzlich festgelegt. Tabelle 1 ABGB-Ehehindernisse versus kanonische Hindernisse I. Mangel an Konsens

ABGB

Kirche

• § 48 Mangel an Vernunft (wütend, stumpfsinnig, wahn­ sinnig …)

Ja

Ja

• § 49 Minderjährigkeit (Vaters- bzw. Vormundseinwilligung erforderlich)

Ja

Nein

• § 50 Minderjährige uneheliche Kinder (Einwilligung von Vater / Vormund und Gericht erforderlich)

Ja

Nein

• § 51 Minderjährige Ausländer (Gerichtsbewilligung erforderlich)

Ja

Nein

• § 53 Einkommensmangel, schlechte Sitten und ansteckende Krankheiten

Ja

Nein

• § 54 Militärangehörige unterliegen besonderen Gesetzen auch im Falle der Eheschließung

Ja

Ne

• § 55 Zwangstrauung

Ja

Ja

• § 56 Entführung

Ja

Ja

• § 57 Irrtum (im künftigen Ehegatten)

Ja

Ja

• § 58 Wenn der Mann nach der Eheschließung erfährt, dass seine Frau bereits mit einem anderen Mann schwanger ist, kann er fordern, dass seine Ehe für nichtig erklärt wird6

Ja

Nein



Die Ehe aus der Sicht des AGBG und des Kirchenrechts131 II. Mangel an Zweckmächtigkeit

ABGB

Kirche

• § 60 Dauerhafte, vor der Trauung nachgewiesene Unfähigkeit die Ehepflicht auszuüben

Ja

Ja

• § 61 Schwerkerkerverurteilung

Ja

Nein

• § 62 Dauerndes Eheband (Wahrung der Monogamehe)

Ja

Ja

• § 63 Ordensgelübde und Ordensweihe

Ja

Ja

• § 64 Unterschiedliche Religion (Christ – Nichtchrist)

Ja

Ja

• § 65 Verwandtschaft7

Ja

Ja

• § 46 Schwägerschaft

Ja

Ja

• § 67 Ehebruch

Ja

Ja

• § 68 Gattenmord (oder nachgewiesene Mordabsicht)

Ja

Ja

III. Mangel an wesentlichen Förmlichkeiten

ABGB

Kirche

• § 69–72 Aufgebot

Ja

Ja

• § 73 Aufgebotsgültigkeit 6 Monate

Ja

Nein8

• § 74 Mindestens ein Aufgebot

Ja

Nein

• § 75 Feierliches Ehegelöbnis vor einem Priester und zwei Zeugen

Ja

Ja

• § 76 Die Mischehe muss vor einem katholischen Priester geschlossen werden

Ja

Ja

• § 78 Alle Dokumente müssen vorliegen

Ja

Nein

• § 80–82 Pflichteintragung in Trauungsmatrikel

Ja

Ja

Die wichtigsten, vom ABGB eingeführten Änderungen umfassen die Ansicht der Ehe als eine Art Vertragsverhältnis, die erforderliche Einwilligung des Vaters oder Vormunds (bzw. auch der politischen Behörden) bei den 678

6  § 58 wird dann weiter spezifiziert mit § 120 und § 121, wo der Mann diesen Anspruch verliert, wenn die Frau eine andere Ehe während der gesetzlich festgesetzten Schutzfrist, d. h. 6 Monate nach dem Untergang der vorherigen Ehe geschlossen hat. Ibid., S. 59. 7  Im Verwandtschaftsfall handelt es sich um eine Verwandtschaft in gerader Linie: Geschwister, Cousins und Cousinen, Geschwister der Eltern. 8  Wir konnten leider nicht genügend überprüfen, ob auch die katholische Kirche die Aufgebotsgültigkeit zeitlich einschränkte.

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Zuzana Pavelková Čevelová

Minderjährigen als unvermeidliche Ehebedingung, den Nachweis genügender Einkünfte des Bräutigams, u. a. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch enthält jedoch auch einen Schutz der Ehe und der Interessen von Brautleuten, die sich auf ihre Rechte bei einem weltlichen Gericht berufen konnten. Falls ihnen die Eheeinwilligung (zum Beispiel vom Vormund) aus irgendwelchem Grund verweigert wurde, konnten sie sich auf das Gericht zur Verhandlung wenden (§ 52). So schützte das Gesetzbuch beispielsweise den Gatten im Falle der irrtümlichen Brautschwangerschaft, denn die von einem anderen Mann als dem Gatten verursachte Schwangerschaft war ein Grund dafür, die Ehe für nichtig zu erklären. Andere Irrtümer jedoch, insbesondere unerfüllte Erwartungen oder vorausgesetzte bzw. vereinbarte Vorteile, stellen nicht die Ehe in Frage (§ 59), zum Unterschied von dem kanonischen Recht, wo das Hindernis in breiterem Kontext angewendet wird. Der Irrtum kann auch in wesentlichen Eigenschaften des Partners (Gatten) bestehen, welche erwartet wurden oder deren Abwesenheit bewusst verheimlicht wurde. Es kann sich auch aus der Sicht des kanonischen Rechts um einen Irrtum in der Person des Partners handeln. Sind derartige Tatsachen absichtlich verheimlicht worden, handelt es sich um einen Scheidungsgrund.9 Bei einem Versuch, die Ehehindernisse aus der Sicht des kanonischen Rechts und des ABGB miteinander zu vergleichen, sind zahlreiche Uneinheitlichkeiten festzustellen. Das kanonische Recht erkennt grundsätzlich an, dass eine gültige Ehe nur von den Menschen geschlossen werden kann, die genug Vernunftsreife erreicht haben, um die entsprechende Entscheidung treffen zu können. Diese Bedingung ist mit dem Alter der Brautleute eng verbunden. Als das ABGB in Kraft war, lag im kanonischen Recht das Mindestalter für Eheschließung der Mädchen bei zwölf Jahren und der Jungen bei vierzehn Jahren, wobei die katholische Kirche die Einwilligung der Eltern bzw. des Vormunds nicht verlangte, denn die Verlobten seien fähig, die Entscheidung über Eheschließung selbst zu treffen, und ihr freier Wille und Vernunftsreife seien nachgewiesen worden. Der Staat legte mit dem ABGB das Volljährigkeitsalter auf vierundzwanzig Jahre fest. Der auffallende Unterschied in dieser Frage zwischen Staat und Kirche ist jedoch nicht als allzu widersprüchlich anzusehen, denn die Kirche setzte einfach die untere Mindestgrenze fest, die übrigens auf dem römischen Recht basierte.10 Keine weitere Einwilligung seitens der Verwandten oder des Staates besteht im kanonischen Recht. Ähnlich ist es mit den ABGB-Forderungen, die in 9  Ignác Antonín Hrdina, Manželství v  současném českém i kanonickém právu (Die Ehe im gegenwärtigen tschechischen und kanonischen Recht), Manželství v současném českém i kanonickém právu, Revue církevního práva, 16 (2000), č. 2, S.  91–104. http: /  / spcp.prf.cuni.cz / 15-20 / 16-hrdin.htm, 16.12.2011. 10  Jiří Kašný, Zneplatňující překážky (Nichtigmachende Hindernisse) – De impedimentis dirimentibus, http: /  / www2.tf.jcu.cz / ~kasny / book4m / imped.htm, 15.12.2011.



Die Ehe aus der Sicht des AGBG und des Kirchenrechts133

§ 53, § 54 oder § 61 formuliert sind, wo der Staat die Tendenz zeigt, diejenigen zu beeinträchtigen, welche dem Staat nach die Voraussetzungen für das Eheverhältnis nicht erfüllten. Die Kirche setzte keine derartigen Anforderungen fest. Andere Streitpunkte können das Irrtums- bzw. Betrugshindernis umfassen (schlechter Gesundheitszustand und andere verheimlichte Eigenschaften), was jedoch einer individuellen Beurteilung jedes konkreten Falles bedurfte. In den anderen Ansichten sind Kirche und Staat mehr oder weniger einig, insbesondere in Bezug auf die Unfähigkeit, die Ehepflicht auszuüben (dauerhaft und bereits vor der Vermählung nachgewiesen), bestehendes Eheband, Ordensgelübde und Ordensweihe, Verwandtschaft, Schwägerschaft, Mord, und selbstverständlich auch Entführung und Zwangsehe. In dem alltäglichen Leben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spiegelt sich insbesondere die Uneinigkeit zwischen Kirche und Staat in der Mischehe wider. Mit dem Toleranzpatent entfiel zwar staatsseitig ein Hindernis, aber die katholische Kirche betrachtete die Entstehung einer Mischehe weiter als ein Hindernis bzw. Mangel für die Ehe. Das Hindernis mixta religio bedarf eines Dispenses der Kirchenautorität und eines Reverses der nichtkatholischen Seite über die katholische Erziehung der Kinder sowie einer Verpflichtung der katholischen Seite über Religionserhaltung. Nur in diesem Falle war die Ehe in gültiger (vor Staat und Kirche) und zulässiger (vor der Kirche) Weise geschlossen. Falls Garantien über die religiöse Kindererziehung fehlten, so bedeutete es, dass die Ehe zwar gültig, aber unerlaubt war, was aus der Sicht der katholischen Kirche bedeutete, dass der / die katholische Verlobte durch die Eheschließung eine schwere Sünde beging. Im Falle eines Hindernisses disparitatis kultus, wo eine Seite getauft und die andere ungetauft ist, konnte noch im Laufe der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gültige Ehe nicht geschlossen werden. In dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch wird dieses Hindernis im §64 folgenderweise präzisiert: „Eheverträge zwischen den Christen und den Personen, welche sich zur christlichen Religion nicht bekennen, dürfen nicht in gültiger Weise geschlossen werden.“11 Unter den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestehenden Bedingungen handelte es sich praktisch um eine Ehe zwischen Christ und Jude (d. h. einer Person, die sich zur jüdischen Religion bekannte). Zum Unterschied von dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, in dem nur die Hindernisse festgelegt sind, welche den Ehevertrag nicht begründen, d. h. ausschließende Hindernisse, arbeitet das kanonische Recht zu jener 11  I. Schelleová / K. Schelle, Civilní kodexy 1811 – 1950 – 1964 (Die Zivilkodexe 1811 – 1950 – 1964), Brno 1993, S. 50.

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Zuzana Pavelková Čevelová

Zeit mit zweierlei Typ von Hindernissen. Die bereits oben erwähnten, aus der kanonischen Sicht ausschließenden Hindernisse wurden vom ABGB im Großen und Ganzen kopiert. Die Ehehindernisse sind derartige, welche der Eheschließung im Wege stehen, die jedoch die Ehe nicht nichtig machen. Es handelt sich also um die Hindernisse, in deren Folge die Ehe zwar gültig, aber unerlaubt ist.12 In vielen Fällen, wo aus der Sicht der katholischen Kirche ein Hindernis besteht, muss das nicht unbedingt aus der Sicht des Staates auch ein Hindernis sein. Es handelt sich also um ein weiteres Gebiet, in dem die katholische Kirche und die damalige Habsburgermonarchie rechtlich nicht einig waren. Zu den Ehehindernissen zählte vor allem vorherige Verlobung mit einer anderen Person, Gelübde der Keuschheit, oder die sog. Verbotszeit, d. h. liturgischer Zeitabschnitt, in dem keine Eheschließung erlaubt ist (Advent, Fastenzeit).13 Aufmerksamkeit wird im Gesetzbuch auch der Verlobung gewidmet, aus der sich weder eine Verpflichtung zur Eheschließung noch eine Verpflichtung zur Erfüllung der im Voraus vereinbarten Verluste ergibt für den Fall, dass die Verlobung rückgängig gemacht wird (§45). Die beschädigte Vertragspartei konnte sich vor Gericht verteidigen und hatte Anspruch auf den tatsächlichen Schadenersatz (§56). Zu den wichtigsten Hindernissen, die in der Praxis häufig behandelt wurden, zählten Verwandtschaft und Schwägerschaft. Im Schwägerschaftsfall durfte der Mann nach dem Eheerlöschen keine gültige Ehe mit einer Verwandten seiner Ehegattin und die Frau mit einem Verwandten ihres Ehegatten schließen. Es handelte sich typisch um die Lage, wo der Mann nach dem Tod seiner Frau deren Schwester heiraten wollte, obwohl dies als der bequemste und logische Ausgang zu sein schien. Ziel der Ehehindernisse wegen Ehebruch und Gattenmord war es, die Ehezerrüttung oder sogar Zwangsbeendigung der Ehe während deren Dauer in Folge außerehelicher Verhältnisse zu verhindern. Die Ehe der Personen, die miteinander Ehebruch begangen haben, wird nichtig ebenso wie die Ehe der Personen, die zwar miteinander nicht die Ehe gebrochen haben, die aber (oder nur eine von ihnen) um das Eheversprechen zu erfüllen, nach dem Leben des Gatten / der Gattin getrachtet haben. Obwohl es sich um äußerst 12  Der gegenwärtige Kanonische Rechtskodex kennt nur ausschließende Hindernisse, also diejenigen, die die Ehe nichtig machen. František Polášek, Církevní manželství podle kanonického práva (Die kirchliche Trauung nach dem kanonischen Recht), S. 30. 13  Genaue Beschreibung der Ehehindernisse und Ehemängel für die zeitgenössische Pastoralpraxis ist in dem Pastoralhandbuch von Klement Borový aus dem Jahre 1879 zu finden. Klement Borový, Úřední sloh církevní. Příručná kniha praktického úřadování pro katolické duchovenstvo (Der kirchliche Amtsstil. Ein Handbuch von praktischer Amtierung für die katholische Geistlichkeit), Praha 1979, S. 583–588.



Die Ehe aus der Sicht des AGBG und des Kirchenrechts135

belangvolle Taten handelt, wurde tatsächlich über Gattenmorde zwecks ­Legalisierung eines außerehelichen Verhältnisses berichtet.14 Ähnlich wird diese Problematik auch im kanonischen Recht angesehen, von dem dieses Hindernis eigentlich auch übernommen wurde. Beim Mangel an wesentlichen Förmlichkeiten (die dritte Gruppe von Ehehindernissen) geht es um die Einhaltung der vorgeschriebenen Form von Eheschließung, wie bewusste Zustimmung, Aufbietung, und Eheschließung während der Aufgebotsdauer. Das Aufgebot muss sowohl in der Pfarrgemeinde der beiden Verlobten als auch in dem Heiratsort stattfinden, wenn diese Orte unterschiedlich sind. Grundsätzlich soll das Paar zwar dreimal aufgeboten werden, jedoch aus der Sicht des Staates genügt nur ein Aufgebot für die gültige Eheschließung. Da die Aufgebotsforderung auch aus der Praxis der katholischen Kirche übernommen wurde, ist das Aufgebot auch kirchenseits erforderlich. Ein Dispens ist jedoch möglich und das Brautpaar kann nur einmal aufgeboten werden. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch machte es auch möglich, eine Hindernisnachsicht zu ersuchen, insbesondere die Aufgebotsnachsicht. Die Verlobten konnten sich mit ihrem Ersuchen auf die Landesverwaltung bzw. auf das Kreisamt wenden. Zu den wichtigsten Mitteln, welche den Seelsorgern ermöglichten, sowohl die Pfarrer- als auch die Staatsbeamtenrolle in Ehesachen auszuüben, zählte das Brautexamen, das Aufgebot und das Versöhnungssakrament (die Beichte). Alle diese Tätigkeiten machten es möglich, Informationen über die Brautleute (bzw. über deren Verwandte und Freunde) zu gewinnen, die als Grundlage für eine gültig geschlossene Ehe erforderlich waren. Wenn Ehehindernisse erst nach der Heirat festgestellt wurden, so kamen diese meistens bei der Beichte an den Tag. Auch in derartigen Fällen konnten viele Mängel nachträglich mit Dispens gutgemacht werden.15 14  Milena Lenderová et  al., Žena v  českých zemích od středověku do 20. století (Die Frau in den Böhmischen Ländern vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert), Praha 2009, S. 588–602. 15  Über die grundlegende Problematik der Beichtpraxis, die noch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ziemlich aktuell war, spricht der südböhmische Pastoraltheologe Antonín Skočdopole. Er selbst gibt zu, dass die Ehehindernisse und deren Dispensierung eine schwierige Sache für alle Seelsorger darstellt; ausreichende Hinweise gibt es weder in den pastoralen Handbüchern noch in den kirchlichen Kirchenrechts-Lehrbüchern. Antonín Skočdopole, O manželských překážkách ve zpovědi objevených (Über die bei der Beichte enthüllten Ehehindernisse), Časopis katolického duchovenstva 8, 1867, S. 173–174. Allgemeine Hinweise für die Prüfungen von Verliebten sind auch in dem pastoralen Handbuch desselben Autors zu finden: An­ tonín Skočdopole, Příručná kniha bohosloví pastýřského (Handbuch der pastoralen Theologie), České Budějovice 1874.

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Das wichtigste Werkzeug war eindeutig die Prüfung von Brautleuten (Brautexamen, Eheprüfung). Es handelte sich um Pastoralgespräche des Priesters mit Verlobten mit dem Ziel, grundlegende Personalangaben über das Brautpaar und dessen Verwandte zu gewinnen, Ehehindernisse zu entdecken und, falls erforderlich, ihre Dispensierung sicherzustellen, sowie die Religionskenntnisse der Verlobten zu prüfen und sie über das Ehesakrament zu belehren. Es kommt darauf an, wie konsequent der jeweilige Pfarrer seine Amtspflichten ausübte. Über das Examen sollte jedenfalls ein offizieller Bericht verfasst werden. Der Pfarrer hatte auch sämtliche gesetzlich vorgeschriebenen Dokumente einzuholen. Er sorgte also für die Dokumentation sowohl für weltliche als auch für kirchliche Zwecke. In dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch wird zwar nicht ausdrücklich über pflichtgemäßes Brautexamen geredet, aber die katholischen Pfarrer sind hier in der Rolle von Staatsbeamten, die für die Kontrolle von Dokumenten, Beurteilung von Hindernissen (sowohl staatlichen als auch kirchlichen) und Eintragung in die Ehematrikel persönlich verantwortlich sind. Innerhalb der katholischen Kirche entwickelte sich also im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter das System von Prüfungen für Verlobte und deren Evidenz, wobei die Kirche diese Prüfungsform von Heiratsfähigkeit viel früher eingeführt hatte. Systematische Eintragungen in den Brautexamenbüchern liegen ungefähr seit den 70er bzw. 80er Jahren des 18. Jahrhunderts vor.16 Mit der Reform des Theologiestudiums unter Maria Theresia und Joseph II. und mit der Einführung eines neuen Theologiefaches – Pastoraltheologie – verstärkte sich der Nachdruck, den die katholische Kirche auf eine aktive und effektive Zusammenarbeit der Pfarrer mit Gläubigen jetzt legte.17 16  Zur Feststellung der angeführten Angaben wurden zwei einfache Sonden in den Pfarrarchiven Pardubice und Přelouč gemacht. In dem Fond des Dekanats Pardubitz sind Trauungsbelege für die Jahre 1784–1950 vorhanden. In Pschelautsch sind Prüfungsprotokolle der Verlobten aus den Jahren 1792–1941 zu finden. Zusammenhängende Reihen von Ehedokumenten haben sich erhalten. Einzelne Dokumente sind natürlich in unterschiedlichen Orten belegt. SOkA Pardubice, Fond Erzdekanat Pardubice, Inventar; SOkA Pardubice, Pfarramt Přelouč, Inventar. 17  Näheres zu dieser Problematik siehe: Alois Křišťan, Počátky pastorální teologie v  českých zemích (Anfänge der Pastoraltheologie in den Böhmischen Ländern), Praha 2004; Kamil Činátl, Katolické osvícenství a koncept pastorální teologie (Katholische Aufklärung und das Konzept von Pastoraltheologie), Kuděj 2, 2000, S. 28– 39; Hedvika Kuchařová / Zdeněk R. Nešpor, Pastor bonus, seu idea (semper) reformanda, Vzdělání a výchova kléru pro působení ve farní správě v  českých zemích v  18. a na počátku 19. století (Ausbildung und Erziehung des Klerus in der Pfarrverwaltung in den Böhmischen Ländern im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts), Český časopis historický 2, 2007, S. 351–392.



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Damit wurden mindestens die Rahmenbedingungen für Durchsetzung der vom ABGB auf die Pfarrer gestellten Anforderungen festgelegt. Im Rahmen der Pflichtdokumentation war es erforderlich, die Taufe der beiden Verlobten zu überprüfen. Fand die Heirat nicht im Wohnort der Verlobten bzw. in ihrem Geburtsort (und Taufort) statt, musste ein Auszug aus der Taufmatrikel ersucht werden. Im Allgemeinen kann man sagen, dass der Pfarrer Probleme hatte, wenn die Verlobten (oder einer der beiden) nicht aus seiner Pfarrgemeinde stammten. Neben dem Matrikelauszug hatte er auch einen Aufgebotsbeleg aus einer fernen Pfarrgemeinde und bei dem Bräutigam auch einen Nachweis über die Religionsprüfung einzuholen. Der Bräutigam konnte sich in seiner ursprünglichen Pfarrgemeinde in Religion prüfen lassen und konnte diese Prüfung in der Pfarrgemeinde seiner Braut (wo die Heirat fand) ablehnen. Einen Nachweis über die Religionsprüfung erforderte jedoch nur die Kirche und es lag an dem Pfarrer, ob er diesen Nachweis einholt oder nein. Der Pfarrer sollte weiter einen Ehekonsensnachweis besorgen, der vom Staat angesichts der Methoden, mit denen seine Populationspolitik durchgesetzt wurde, mindestens während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Pflichtdokument erforderlich war. Der Mangel an erforderlichen Einkünften stellte gesetzgemäß ein Ehehindernis dar und deshalb wurde eine vom politischen Amt dem Bräutigam auszustellende Bestätigung verlangt, die als Meldezettel, Eheerlaubnis oder Eheankündigung genannt wurde. Die so verlangten Bewilligungen waren jedoch mindestens diskutabel. Mit dem Dekret Josephs II. über Aufhebung der Leibeigenschaft wurde auch auf die Pflicht verzichtet, eine Ehebewilligung von der Obrigkeit zu erhalten. In der Praxis wurde jedoch diese Bewilligung von den Pfarrern weiterhin verlangt und die Obrigkeit stellte also weiter die sog. Meldezettel aus18 mit dem eindeutigen Ziel, ökonomisch perspektivlose Ehen einzuschränken. Der Staat verfolgte inzwischen die Politik von Eheregelung der Staatsbeamten. Mit zahlreichen Dekreten waren die Ehemöglichkeiten auch von Lehrern, Finanzwache, Gendarmerie, Polizei, und mit Sondervorschriften auch des Militärs eingeschränkt.19 Laut Edith Saurer befürchteten die Regierungskreise und die höheren Gesellschaftsschichten, insbesondere 18  Edith Saurer, Reglementovaná láska. Církevní a státní zákazy sňatku v  předbřeznové habsburské monarchii (Reglementierte Liebe. Die kirchlichen und staatlichen Eheverbote in der Habsburgermonarchie der Vormärzzeit), in: Existuje středoevropský model manželství a rodiny? hrsg. v. Hana Havelková, Praha 1995, S. 36. 19  Jiří Klabouch, Politický konsens k  manželství v  Čechách (Z novějších dějin manželství v našich zemích) (Der politische Ehekonsens in Böhmen. Aus der jüngeren Ehegeschichte in unseren Ländern), Praha 1960, S. 16.

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in Frankreich, unerwünschtes Anwachsen der niedrigsten Sozialschichten und auf den höchsten Ebenen diskutierte man über die Eheeinschränkung als politisches Mittel zur Einschränkung der Armut. Im Schwerpunkt des Interesses war vor allem die Lage in Wien.20 Laut zeitgenössischer Meinungen sollte die Ehe vor allem Staatszwecke erfüllen. Die Ehe von arbeitslosen, mittellosen, arbeitsunfähigen, faulen oder pflichtunkundigen Menschen bringe keinen Gewinn für die Gesellschaft. Deshalb konnte Landstreicherei, niedriges Einkommen oder schlechter Ruf die Verweigerung des Ehekonsenses zur Folge haben.21 Obwohl, wie von Jiří Klabouch belegt, auf der legislativen Ebene in Böhmen ein Chaos in Sache Ehekonsens herrschte, wurde die Bewilligung ohne Rücksicht auf die legislativen Bestimmungen allgemein verlangt, und zwar in einigen Fällen auch von Frauen.22 Wie bereits oben erwähnt, konnten sich die Verlobten, wenn sie Einwände gegen die vom Staat festgesetzten Einschränkungen hatten, zum Kreisamt bzw. zur Landesregierung berufen. Man kann jedoch nur vermuten, welcher Geldausgaben die ganze Prozedur bedurfte. Die Verlobten waren dem Staat gegenüber bloße Bittsteller, deren Gesuch keine Folge gegeben werden musste. Es besteht praktisch keine systematische Untersuchung der Quellen über das Brautexamen in Böhmen,23 obwohl die Brautexamenbücher sowie die Eheprotokolle in den Pfarr- und Dekanatsfonds in staatlichen Bezirksarchiven weitgehend vorhanden sind. Diese Serialquelle kann die demographische, matrikelgestützte Eheforschung ziemlich gut ergänzen. Bestandteil der Eintragungen sind auch die von den Verlobten gelieferten Dokumente, einschließlich Ehekonsense. Die angelegten Dokumente umfassen eine Menge von Belegen. Neben verschiedenen Bestätigungen, wie über die Taufe und die Religionserziehung, oder über die Eheerlaubnis, können es je nach der spezifischen Situa­ tion der Verlobten weitere Dokumente sein, wie eine Übersicht der Verwandten für deren Prüfung oder als Unterlage für ein Dispensgesuch. In 20  E. Saurer, Reglementovaná láska. Církevní a státní zákazy sňatku v  předbřez­ nové habsburské monarchii, S. 34. 21  Ibid, S. 35. 22  J. Klabouch, Politický konsens k  manželství v  Čechách, S. 20. 23  Hana Linhartovás Diplomarbeit ist eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Die Verfasserin konzentrierte sich auf die Untersuchung der Eheschließungsrate in Pardubice / Pardubitz in den Jahren 1880–1889 auf der Grundlage einer Analyse der Evidenz- und Normativquellen der katholischen Kirche (einschließlich der Trauungsprotokolle) und deren Vergleich mit den durchschnittlichen Landeswerten. Siehe: Hana Linhartová, Církev a manželství ve druhé polovině 19. století (Kirche und Ehe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), Diplomarbeit an der Universität České Budějovice, České Budějovice 1999.



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derartigen Fällen sollten das entsprechende Gesuch und dessen Ergebnisse beigelegt werden, also das Dokument über politische und kirchliche Dispensierung. Auch andere Dispenstypen waren möglich. Bei Mischehen liegt gewöhnlich der von einem nichtkatholischen Verlobten zu liefernde Revers über Religionserziehung der Kinder vor. In einigen Fällen hat der Revers die Form eines vorehelichen Vertrags zwischen Verlobten. Bislang handelte es sich immer um Pflichtdokumente. Am interessantesten sind die über das soziale Netz, welches das Brautpaar noch vor der Heirat um sich geschaffen hat, was in einigen Fällen die künftige Ehe komplizieren konnte. Das Aufgebotsinstitut sollte es ermöglichen, alle Ehehindernisse zu entdecken, einschließlich derjenigen, die von dem Pfarrer durch Anfragen nicht enthüllt werden konnten. Und schließlich wurden sich dank dem Aufgebot auch die Verlobten selbst dessen bewusst, was (bzw. wen) sie eigentlich wollten: „Der Bräutigam František / Franz, Arbeiter, ein wenig geistesschwach und noch willensschwächer, ließ sich mit der Braut Františka / Franziska dreimal zur Ehe aufbieten. Nach den Aufgeboten hatte er sich jedoch anders besonnen, ließ Franziska sitzen, knüpfte Bekanntschaft mit Kateřina / Katharine an und etwa zwei Wochen danach ließ sich mit dieser Braut aufbieten. Aber sobald zum dritten Mal „sein Name mit Kateřina von der Kanzel fiel“, verlor er wieder den Mut, die Ehe einzugehen. Inzwischen bewarb sich um seine Gunst seine erste Braut Františka und nach etwa vier Wochen erschien er mit ihr auf der Pfarre und bat, mit ihr getraut zu werden …“24 František heiratete also schließlich seine ursprüngliche Braut Františka. Dieser Fall wurde im Rahmen der Pastoralgeschichten aus der Praxis auch in der Fachzeitschrift für Priester veröffentlicht. Diskutiert wurde über die Gültigkeit der Aufgebote versus das öffentliche Ärgernis, das die Verlobten mit ihrer Handlung erregt hatten. Es galt, dass das Aufgebot dreimal an nacheinander folgenden Feiertagen stattfinden sollte. Laut ABGB war es erforderlich, den Vor- und Zunamen der Verlobten, ihr Geburtsort, Stand und Wohnort anzuführen. Die Pastoralräte empfahlen auch zusätzliche Angaben, aber der Priester durfte nach seinem Ermessen einige Angaben auslassen. Einige Angaben, wie uneheliche Herkunft eines Verlobten, unterschiedliche Religion, großer Altersunterschied der Verlobten, hätte der Priester sicherlich aus der Kanzel nicht verkünden wollen. Die Aufgebote wurden von der Pfarrgemeinde verfolgt, sie funktionierten wie eine Art Sozialkontrolle, jedoch der Priester sollte andererseits mit Vorsicht vorgehen, um nicht mit unbedachter Handlung großes Aufsehen 24  V. K., Opětování prohlášek manželských. Dotaz (Wiederholung des Eheaufgebots. Anfrage). Časopis katolického duchovenstva 3, 1889, S.173–174.

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zu erregen.25 Die katholische Kirche lehnte die Mischehen sehr lange ab und deshalb erließ z. B. das Königgrätzer Konsistorium noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Ordinariatsverordnung, die Mischtrauungen oder Trauungen mit Ungläubigen gar nicht anzukün­digen.26 Auch die normative Literatur für Priester machte auf die Aufdeckung von Sozialnetzen in Zusammenhang mit dem Brautexamen und insbesondere mit dem Aufgebot aufmerksam. Es geschah mit großer Wahrscheinlichkeit, dass auf der Pfarre verschiedene Menschen erschienen und gegen die Heirat protestierten, wie die frühere Braut, Verlobte, Geliebte, also eine Frau oder ein Mädchen und behauptete, der Mann habe ihr Ehe versprochen, oder sie habe mit ihm sogar uneheliche Kinder. Obwohl derartige Beschuldigungen auch begründet sein konnten, sollte es für den Pfarrer kein Grund sein, die Aufgebote zu unterbrechen. Er sollte gründlich untersuchen, ob derartige Beschuldigung nicht auf Hass oder Rache zurückzuführen war. Sollte die protestierende Frau auf ihrer Beschuldigung weiter beharren, konnte sie im gerichtlichen Wege versuchen, das Aufgebot und die Heirat einzustellen, bis die Sache völlig aufgeklärt ist.27 Von der Tatsache, dass sich die Priester mit derartigen Problemen auseinandersetzen mussten, zeugen zumindest Teildokumente über die Existenz von außerehelichen Ausgleichen, die auf der Pfarre in der Anwesenheit des Pfarrers und zweier Zeugen vereinbart wurden. Solche Dokumente sind gewöhnlich Bestandteil der Berichte über Brautexamen, oder werden im Rahmen der römisch-katholischen Amtsagenda aufbewahrt.28 Es ist anzunehmen, dass die Pfarrkinder in ihrem Pfarrer eine Autorität sahen, vertrau25  Die Pfarrer durften beim Aufgebot nichts vernachlässigen. Mit der zunehmenden Migration war es jedoch immer schwieriger, zum Beispiel den Wohnort der Verlobten zu bestimmen. Von der Tatsache, dass es nicht einfach war, die Rolle des Pfarrers als Staatsbeamten und Geistlichen zu erfüllen, zeugen auch zahlreiche fachliche Anweisungen zu den Eheaufgeboten in der Zeitschrift Časopis katolického duchovenstva. Josef Kupka, Ohlášky manželské a promíjení jich (Das Eheaufgebot und seine Nachsicht), Časopis katolického duchovenstva 3, 1862, S. 169–179. 26  Nová ustanovení a rozhodnutí. Ohlášky sňatků smíšených (Neue Bestimmungen und Beschlüsse. Aufgebote der Mischehen), Časopis katolického duchovenstva, 3, 1934, S. 183–184. 27  So der Priester Emanuel Doležal, der in den 40. Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche Pastoralartikel in der Zeitschrift Časopis pro katolické duchovenstvo veröffentlichte. Auf ähnliche Probleme stießen die Priester selbstverständlich sowohl früher als auch später im ganzen 19. Jahrhundert. Siehe: Emanuel Doležal, O zkužbách snoubců (Über die Prüfungen der Verlobten), Časopis pro katolické duchovenstvo 4, 1847, S. 253–265. 28  Archive der römisch-katholischen Pfarrgemeinden und Vikariate sind in Bezirksarchiven vorhanden; viele Archivgüter sind jedoch weiter in Pfarren zu finden (meistens ohne entsprechende Evidenz).



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ten ihm voll und kamen zum richtigen Schluss, dass ein Ausgleich den bequemsten und billigsten Ausweg darstellte: „Ich, die Unterzeichnete, gestehe hiermit, dass ich von Václav Křivka, Taglöhner aus Čivice, zehn österreichische Gulden bar als Entschädigung erhalten habe, wobei ich mich verpflichte, dass ich Václav Křivka nie Hindernisse in dem Weg legen werde, wenn er mit irgendwelcher Person die Ehe eingehen möchte, dass ich ihn aufgebe und ewiges Schweigen bewahren werde,“ verspricht Anna Muňáčková aus  Čivice in der Nähe von Pardubice / Pardubitz. Dieser außereheliche Ausgleich wurde 1860 in Pardubitz vereinbart. Wir wissen leider nicht, ob Václav Anna vorher Ehe versprochen hatte, was zu vermuten ist. Jedenfalls, beide Akteure haben sich über einen akzeptablen Betrag geeinigt, der den „Verrat“ durch den Bräutigam kompensierte.29 Frage ist, inwieweit die Verschwiegenheitsgarantie zuverlässig war. In diesem konkreten Falle hatte jedoch Václav Křivka keine anderen Verpflichtungen gegenüber Anna (uneheliches Kind) und es ist deshalb anzunehmen, dass damit ihre gegenseitigen Forderungen ausgeglichen waren. Einen anderen, ziemlich komplizierteren Fall hatte der Pfarrer mit dem Bräutigam Jan Liška aus Střevař und Jozefa Škaloudová, auch aus Střevač (ein Dorf in Ostböhmen in der Nähe von Jičín / Gitschin), zu lösen. Jan Liška wollte nämlich heiraten, aber seine Braut sollte eine andere Frau sein, Barbora Škaloudová. Außer dem Zunamen hatte aber Barbora mit Josefa nichts Gemeinsames, natürlich neben dem Interesse an demselben Mann. Barbora hatte einen unbestrittenen Vorteil, denn sie war eine ökonomisch interessantere Braut für Jan. Jan hatte jedoch bereits mit Josefa ein uneheliches Kind. Ziel der außerehelichen Auseinandersetzung war es, den Unterhalt von Kind und Mutter so zu gewähren, dass Josefas Forderungen an Jan ein für allemal erfüllt waren. Jan Liška verpflichtete sich Josefa insgesamt 100 Gulden zu zahlen, wobei ein Teil dieses Betrags in der Waisenkassa zu deponieren war und der Mutter sollten jährlich Zinsen ausgezahlt werden. Jan hatte sich darüber hinaus verpflichtet, während fünf Jahr immer nach dem Neujahr einmalig einen Geldbetrag zu zahlen „in Höhe des nach dem Neujahr geltenden Wertes eines Scheffels Korn, damit sie das Kind, falls es am Leben bleibt, besser nähren und erziehen kann, wobei sie dieses Geld immer aus den Händen des hochwürdigen Pfarrers in Veliš bekommt.“30 Der Vereinbarung nach sollte dann Josefa das Kind selbst nähren, bekleiden und sorgfältig erziehen, von Jan nichts Anderes verlangen und ihn nicht 29  SOkA Pardubice (Staatliches Bezirksarchiv), Fond Arciděkanský úřad Pardu­ bice, Ehedokumente 1861, Inv.Nr. 213., Dossier Brautprüfungen; Václav Křivka a Anna Matoušková. 30  SOkA Jičín (Staatliches Bezirksarchiv), Fond Pfarramt Veliš, Neue Zugänge, Faszikel Nr. 1 – Ausgleich wegen des unehelichen Kindes.

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ins Gerede bringen, und darüber hinaus „darüber ganz schweigen, dass sie das Kind mit ihm zur Welt gebracht hat.“ Sie verpflichtete sich dazu unter strenger Strafe, denn sie „ist mit diesem Ausgleich völlig zufrieden.“31 Die außereheliche Auseinandersetzung zwischen Jan Liška und Josefa Škaloudová sollte also einen Ausgleich der Beziehungen und aller Forderungen auf Lebenszeit sicherstellen. Wie sich aber Josefa Škaloudová in dem Augenblick fühlte, als sie damit zur Heirat des Vaters ihres Kindes mit einer anderen Frau zustimmte, das können wir nur vermuten. Der finanzielle Ausgleich bedeutete für die ledige Mutter eine bedeutende Unterstützung. Die Auseinandersetzung wurde auf der Pfarre zu Veliš am 12. Februar 1811 unterzeichnet und kurz danach folgte die Heirat,32 was wieder auf die Bedeutung des Brautexamens hindeutet. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (und vor ihm bereits das Ehepatent Josephs II.) brachte endgültig in das Leben zweierlei Ansicht über die Eheinstitution – die des Staates und die der katholischen Kirche. Der Staat beabsichtigte immerhin, in der Person des Pfarrers beide Ansichten zu vereinen, und der Pfarrer trat wie ein zuverlässiger Staatsbeamter auf, der die Verlobten zur gültigen Eheschließung administrativ „abfertigen“ konnte. Seine Lage war nicht einfach, denn er musste sowohl die zivilen als auch die kirchlichen Ehehindernisse verfolgen, Dispense beim Bischofsamt und bei der Statthalterei (bzw. bei deren Vertretungsämtern) ersuchen, usw. Er leistete sozusagen kompletten Vorheiratsservice für das Brautpaar. Mit der Einführung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs nahm die administrative Arbeit des Pfarrers wesentlich zu und es ist nachweisbar, dass er sich selbst manchmal in der komplizierten Problematik nur schwer orientieren konnte. Gewisse Hilfsmittel für ihn waren die pfarramtlichen Handbücher und die Fachperiodika für Priester, deren Qualität sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verbesserte. Der katholische Pfarrer blieb so mindestens während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine unübersehbare Person im Leben praktisch jedes einzelnen Menschen, denn er begleitete das Ehepaar während der ganzen Dauer der Ehe und als Staatsbeamter sogar auch bei der Scheidung von Tisch und Bett. Trotz der geschwächten Position der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert bleibt also der katholische Pfarrer ein wichtiger Vermittler des Staatswillens, zumindest bis Ende der 60. Jahre des 19. Jahrhunderts, als das bisherige Konkordat aufgehoben und die obligatorische Zivilehe eingeführt wurde. 31  Ibid.

32  Die Heirat fand am 20.2.1811 statt, Eintragung in der Ehematrikel der Pfarrgemeinde Veliš. SOA Zámrsk, Traumatrikel Veliš 1797–1841, Sign. 169–13, S. 67. Ich bedanke mich bei der Kollegin Jana Stráníková für die Bereitstellung der Unterlagen zu diesem Fall.



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Abstract Marriage between the General Civil Code and the Ecclesiastical Law The General Civil Code (preceded by Joseph II’s Patent of Marriage) finally introduced into practice two different views of the institution of marriage: the state’s view and that of the Catholic Church. Nevertheless, the state required that both views be integrated in the person of parish priest and that the priest take on the role of reliable civil servant being able to administratively „clear“ the fiancés for regular marriage. His situation was not easy, as he had to consider both the civil and the ecclesiastical obstacles to marriage and to ask the Episcopal and / or the Governor’s (or another competent) office for dispensation. He had to provide a sort of full premarital service. With the introduction of the General Civil Code the administrative burden of priests considerably increased and they could often hardly cope with the complex tasks. Of some help to them were pastoral instructions and specialized periodicals, the level of which was steadily increasing throughout the 19th century. Thus, at least during the first half of that century, the Catholic priest was an unavoidable person in the life of every individual, as he accompanied the married couple during their married life and, as a civil servant, also in the case of their divorce. In spite of the declining role of the Catholic Church during the 19th century the Catholic priest remained an important executor of the state’s will, at least until the late 1860s when the concordat ceased to apply and obligatory civil marriage was introduced.

Wege zur Umgehung der Unauflösbarkeit des Ehebandes von Katholiken Christian Neschwara Unter den Instituten des österreichischen Privatrechts gibt es wohl kein anderes, das häufiger Versuchen zu Änderungen ausgesetzt gewesen ist als das Eherecht1 – wobei stets die Frage der Auflösbarkeit der Ehe bei Lebzeiten der Ehegatten den Hauptangriffspunkt bildete: Bis zu seiner Vereinheitlichung im Jahr 1938 kannte das österreichische Eherecht in dieser Frage keine einheitliche Behandlung der Rechtsunterworfenen; seit dem Ehepatent von 17832 waren nach Konfessionen differenziert – grob vereinfacht – folgende Lösungen vorgesehen:3 I. Die Ehehindernisse des Ehebandes und des Katholizismus Für Katholiken gab es bei Lebzeiten der Gatten keine Auflösbarkeit der Ehe und daher auch keine Möglichkeit zur Wiederverehelichung (§ 111 ABGB), lediglich die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft (nach ABGB „Scheidung“ von Tisch und Bett genannt) war zulässig;4 als eine 1  Dokumente zur Geschichte der Eherechtsreform in Österreich, Ludwig Wahrmund (Hrsg.), Innsbruck 1908, S. 892 ff. passim, besonders 1063 f., 1077 ff., 1115 f., 1169–1174. 2  Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938, (Ius Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main. Sonderhefte. Studien zur Europäi­ schen Rechtsgeschichte 212), Frankfurt / Main 1999, S. 17 ff.; Arthur Lenhoff (Bearbeiter), §§ 44–111, 115–136, in: Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. v. Heinrich Klang, Band I, 1. Halbband, Wien 1933, S. 724 ff. (§ 111); Gustav Walker, Internationales Privatrecht, 5. Auflage Wien 1934, S. 603; Christa Pelikan, Aspekte der Geschichte des Eherechtes in Österreich, Dissertation an der Wiener Universität, Wien 1981, S. 228 ff. 3  Arthur Lenhoff, Auflösung der Ehe und Wiederverehelichung, Wien 1926; A. Lenhoff, in: Klang, S. 367 ff.; Othmar Wentzel (Bearbeiter), §§ 44–136, in: Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, hrsg. v. Heinrich Klang, Band I, 1. Halbband, Wien 1964, S. 299 ff. 4  U. Harmat, Ehe, S. 1  ff.; A. Lenhoff, in: Klang, S. 448 ff., 466 ff., besonders 450 ff. (ad §§ 62, 111 ABGB) sowie 776 f. (ad § 115 ABGB) und 738 ff. (ad § 116 ABGB); O. Wentzel, in: Klang, S. 299 ff.

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Katholikenehe wurde eine Ehe allerdings bereits angesehen, wenn bei ihren Abschluss auch nur ein Teil katholischer Konfession war; nicht als eine solche Ehe wurde es dagegen angesehen, wenn eine Akatholikenehe erst nach erfolgtem Abschluss durch Konfessionswechsel zu einer Mischehe geworden ist: Weder für den Katholik gewordenen Teil noch für den Akatholik gebliebenen Teil sollte also einer Wiederverehelichung ein Hindernis entgegenstehen. Auf Drängen des Klerus wurde aber noch im ausgehenden 18. Jh dem katholischen Dogma der Unauflösbarkeit der Ehe von Getauften bei Lebzeiten der Ehegatten durch den Gesetzgeber zunächst in Einzelfällen, und seit 1814 aufgrund einer authentischen Interpretation allgemein Rechnung getragen und als neues Ehehindernis der Katholizismus ins Leben gerufen:5 Seitdem bestand bei Auflösung von Mischehen für den Akatholik gebliebenen Teil ein relatives Verbot der Wiederverehelichung mit Katholiken, für den Katholik gewordenen aber – trotz Auflösung des Ehebandes – sogar ein absolutes.6 Ehen von Akatholiken (§§ 115 ff. ABGB), und seit 1870 auch von Konfessionslosen7, konnten mit der Erlaubnis zur Wiederverehelichung für beide Teile dem Bande nach getrennt werden (§ 119); Judenehen (§§ 123 ff. ABGB) unter Umständen sogar ohne gerichtliche Mitwirkung.8 Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war Österreich mit seinem differenzierten Eherecht aber umzingelt von Staaten mit obligatorischer Zivilehe, in denen – unabhängig vom Bekenntnis – die Auflösung einer Ehe mit Erlaubnis zur Wiederverehelichung zulässig war, vor allem im Deutschen Reich9 und in Ungarn.10 5  Hofdekret,

in: Justizgesetzsammlung Nr. 1099. Rittner, Österreichisches Eherecht. Systematisch und mit Berücksichtigung anderer Gesetzgebungen dargestellt, Leipzig 1876, S. 78 ff.; U. Harmat, Ehe, S.  17 ff. 7  Gesetz über die Ehen von Personen, die keiner gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft angehören, und über die Führung der Geburts-, Ehe- und Sterberegister für dieselben, vom 9.4.1870 (Reichsgesetzblatt Nr. 51). 8  Dazu Lenhoff, Auflösung, S.  9 f. 9  Stephan Buchholz, Einzelgesetzgebung, I. Ehe- und Familienrecht, in: Handbuch der Quellen und Literatur der Neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte, hrsg. v. Helmut Coing, Band III / 2, München 1982, S. 1655 ff. mit weiteren Literaturnachweisen, besonders 1663; Adolf Stölzel, Über das landesherrliche Ehescheidungsrecht. Ein Beitrag zur Geschichte des Ehescheidungsrechts und zur Interpretation der neueren Reichsgesetzgebung, Berlin 1891. 10  Christian Neschwara, Rezeption als Reform: Das ungarische Eherecht im österreichischen Burgenland seit 1921, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 11 (1989), S. 39–62, besonders 44 ff.; Christian Neschwara, Das ABGB in Ungarn, in: 6  Eduard



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II. Umgehung des Gesetzes durch Scheinmigration (bis 1918) 1. Rechtliche Bedingungen Von scheidungs- und wiederverehelichungswilligen Katholiken aus Österreich wurden daher nach 1867 Wege zur Umgehung des strengen österreichischen Eherechts gesucht: und zwar durch Unterstellung unter die deutsche oder ungarische Eherechtsordnung, wodurch die Auflösung einer von Tisch und Bett geschiedenen Ehe erreicht und der Weg für eine Wiederverehelichung beschritten werden konnte.11 Um die Anwendung des in Ungarn oder im Deutschen Reich geltenden Eherechts zu bewirken, musste – abgesehen von einem allfälligen Wechsel zu einer akatholischen christlichen Konfession – durch den von Tisch und Bett geschiedenen und wiederverehelichungswilligen Ehegatten vor allem eine – zumindest vorübergehende – Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland und am besten auch ein Wechsel der Staatsbürgerschaft in Kauf genommen werden, wobei eine Rückkehr nach Österreich in der Regel geplant war.12 2. Praxis Erste Fälle von solchen Scheinmigrationen wurden Mitte der 1870er Jahre, nach Scheitern der 1867 in Gang gekommenen Reform des Eherechts, evident.13 In der Judikatur der österreichischen Gerichte zeigen sich verschiedene Ziele österreichischer Scheidungsmigranten: Zunächst wurde vor allem Siebenbürgen angesteuert14, wo, nach Übertritt zu einer evangelischen Konfession bei den autonomen Kirchengerichten – anders als bei den staatlichen Gerichten im übrigen Ungarn –, die Auflösung einer in Österreich Das ABGB. Eine europäische Kodifikation, hrsg. v. Wilhelmr Brauneder, Band III (Das ABGB außerhalb Österreichs), Berlin 2010, S. 33–133, besonders 130 ff. 11  U. Harmat, Ehe, S. 47  ff.; Wilhelm Fuchs, Die siebenbürgischen Ehen und andere Arten der Wiederverehelichung geschiedener österreichischer Katholiken, Wien 1889; A. Lenhoff, Auflösung, S.  44 ff. Vergleiche Wilhelm Brauneder, Eherechtsreform auf der Bühne, in: Perspektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab, hrsg. v. Sybille Hofer, Diethelm Klippe, Ute Walter, Bielefeld 2005, S.  3 ff. 12  W. Fuchs, Ehen, S. 3 f.; A. Lenhoff, in: Klang, S. 381; Ch. Pelikan, Aspekte, S.  85 ff.; U. Harmat, Ehe, S.  127 ff. 13  U. Harmat, Ehe, S. 53 ff. 14  W. Fuchs, Ehen, S. 50  ff., 52 ff., 55 f., 75 f., 77 ff.; A. Lenhoff, in: Klang, S.  454 ff.; Ch. Pelikan, Aspekte, S. 195 ff., 202, 204 f.; A. Apel, Ehen, S. 65 ff.; U. Harmat, Ehe, S. 50 ff.

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von Tisch und Bett getrennten Ehe sowie die Erlaubnis zur Wiederverehelichung15 sogar ohne kontradiktorisches Verfahren erwirkt werden konnte.16 Und das schien für wiederverehelichungswillige Katholiken aus Österreich attraktiver, auch wenn für den Gatten der Wiederverehelichung zur Umgehung des österreichischen Eherechts im übrigen Ungarn der Übertritt zu einer evangelischen Konfession nicht notwendig gewesen wäre.17 Nach der Vereinheitlichung des Eherechts in Ungarn mit Einführung der obligatorischen Zivilehe 1894 war dann für Scheidungs- und Wiederverehelichungsmigranten aus Österreich der Erwerb der ungarischen Staatsbürgerschaft das allein ausschlaggebende Mittel zum Zweck18. Auf ähnliche Weise wäre dies zwar auch im Deutschen Reich, und das sogar schon ab 1875 möglich gewesen.19 Und obwohl die Angehörigkeit zu einem „deutschen“ Staat – im Vergleich mit Ungarn – sogar leichter zu erwerben gewesen wäre, sind Fälle von sogenannten „deutschen“ Ehen in der österreichischen Judikatur weitaus weniger häufig zu konstatieren als zunächst „siebenbürgische“ oder später „ungarische“ Ehen.20 Seltene Einzelfälle blieben sogenannte Coburger Ehen.21 Hierbei handelt es sich um Ehen, die nach erfolgter Auflösung einer von Tisch und Bett getrennten Ehe durch Entscheidung des Landesfürsten als Oberbischof der evangelischen Landeskirche beim Standesamt geschlossen wurden; Voraussetzung dafür war – außer dem Erwerb der Coburger Staatsbürgerschaft – anders als bei „deutschen“ oder „ungarischen“ Zivilehen – auch die Zugehörigkeit zum protestantischen Bekenntnis. Hinweise über durch Scheinmigration erwirkte Eheschließungen fanden sich seit Mitte der 1870er-Jahre laufend in der juristischen Literatur und den 15  W.

Fuchs, Ehen, S. 31 ff.; A. Apel, Ehen, S. 86 f. Fuchs, Ehen, S. 35 ff.; Angela Apel, Die Siebenbürger und die Ungarischen Ehen, Dissertation an der Wiener Universität, Wien 1999, S. 27 ff., 35 ff., 39 ff., 44 ff. 17  W. Fuchs, Ehen, S. 79–84; A. Lenhoff, Auflösung, S.  63 f.; A. Apel, Ehen, S.  48 ff., 51 ff.; U. Harmat, Ehe, S. 61 ff. 18  Desider Markus, Die ungarischen kirchenpolitischen Gesetze. Ehegesetz …, Budapest 1895, S. 1 ff.; A. Lenhoff, in: Klang, S. 455 f.; Ch. Pelikan, Aspekte, S.  240 ff.; A. Apel, S.  55 ff., 57 ff.; U. Harmat, Ehe, S. 61 ff. 19  W. Fuchs, Ehen, S. 47 f., 84 ff.; A. Apel, Ehen, 205 f.; U. Harmat, Ehe, S. 59 ff. 20  Margarete Grandner / Ulrike Harmat, Begrenzt verliebt. Gesetzliches Ehehindernis und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn, in: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, hrsg. v. Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriell Hauch, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 292 f. 21  A. Stölzel, Ehescheidungsrecht, S. 54 ff., 56; Die Staatsverfassungen des Erdballs. Unter Mitwirkung von Gelehrten und Staatsmännern, Paul Posauer (Hrsg.), Charlottenburg 1909, S. 473 f. Vergleiche W. Fuchs, Ehen, S. 92 ff.; Ch. Pelikan, Ehen, S.  200 ff. 16  W.



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Rechtsprechungssammlungen. Um 1880 wurde ihre Zahl bereits auf mehrere hundert geschätzt.22 3. Rechtliche Beurteilung der durch Scheinmigration bewirkten Eheschließungen Bis 1907 Für den Bestand der durch Scheinmigration im Ausland erwirkten Eheschließung – aber auch für die Auflösung der früheren in Österreich bloß von Tisch und Bett getrennten Ehe war zweierlei entscheidend, nämlich abgesehen von der Anerkennung des ausländischen Erkenntnisses über die Auflösung einer in Österreich geschlossenen Ehe, vor allem die Beurteilung der Gültigkeit der nachfolgenden Eheschließung durch die österreichischen Zivilgerichte – was jeweils dann relevant werden konnte, wenn der Wohnsitz der Ehegatten nach erfolgter Scheinmigration und Verehelichung im Ausland (wieder) nach Österreich verlegt worden ist.23 Entscheidend für die Gültigkeit oder Ungültigkeit für die im Ausland erwirkte Eheschließung war es, ob für die österreichischen Gerichte die Fähigkeit zum Abschluss solcher Ehen bestand oder nicht.24 Nach ABGB waren österreichische Staatsbürger in Bezug auf ihre Handlungsfähigkeit gemäß § 4 stets nach österreichischem Recht zu behandeln, insbesondere „auch in Handlungen …, die sie außer dem Staatsgebiethe vornehmen, … insoweit diese … zugleich in diesen Ländern [also im Inland] rechtliche Folgen hervorbringen sollen“. Ein fremder Staatsbürger war nach dem Recht zu beurteilen, dem er „vermöge seines Wohnsitzes, oder, … seiner Geburt als Unterthan unterliegt …“ (§ 34). Und „wenn Ausländer … mit Unterthanen dieses Staates [also österreichischen Staatsbürgern] im Ausland Rechtsgeschäfte vornehmen, so sind sie [gemäß § 37] nach den Gesetzen des Ortes, wo das Geschäft abgeschlossen worden, zu beurtheilen; [es folgt der Zusatz] dafern bey der Abschließung … die … im §. 4 enthaltene Vor­ schrift nicht entgegen steht“.25 Alle drei Bestimmungen konnten bei der Beurteilung von durch Scheinmigration bewirkten Ehescheidungen und Eheschließungen relevant werden: 22  W.

Fuchs, Ehen, S. IV; U. Harmat, Ehe, S. 53 ff. Fuchs, Ehen, S. 170 ff.; Ch. Pelikan, Aspekte, S.  224 ff. 24  W. Fuchs, Ehen, S. 85 ff., 97 ff.; A. Lenhoff, in: Klang, S. 453 f.; G. Walker, in: Klang, S. 305 ff.; A. Lenhoff, Auflösung, S.  47 ff., 50 ff., 54 ff.; Maximilian Pie­ karski, Ehescheidung und Ehetrennung, Wien 1935, S. 15 ff.; G. Walker, Privatrecht, S.  532 ff. 25  G. Walker, in: Klang, S. 320 ff. 23  W.

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Während die Rechtsprechung der unteren Instanzen schwankte, hatte der OGH26 bei der Beurteilung von solchen Ehen stets eine einheitliche Linie vertreten: Er hielt sie für ungültig – und zwar unabhängig davon, ob beide oder nur einer der Ehegatten der durch Scheinmigration bewirkten Wiederverehelichung Ausländer geworden war oder nicht. War einer der Gatten bei Wiederverehelichung österreichischer Staatsbürger geblieben, so wurde entweder die durch Scheinmigration bewirkte Ehescheidung als unwirksam angesehen, oder die anschließende Wiederverehelichung für ungültig erklärt, und zwar entweder wegen des Ehehindernisses des bestehenden Ehebandes oder wegen Katholizismus.27 Für den Fall, dass beide Gatten einer solchen Ehe ausländische Staatsbürger geworden waren, sollte für die Beurteilung der Gültigkeit ihrer im Ausland geschlossenen Ehe, das jeweilige Heimatrecht, also ausländisches Recht, maßgeblich sein. Nach Ansicht des OGH musste aber, selbst wenn die Ehe nach Heimatrecht der Ehegatten als gültig anzusehen war, noch geprüft werden, ob nicht kraft Vorbehaltsklausel einer Vorschrift des österreichischen Rechts zwingende Bedeutung dahingehend zukomme, sodass einer von Ausländern im Ausland geschlossen Ehe in Österreich ein Ehehindernis entgegenstand, weswegen dieser Ehe hier die staatliche Anerkennung versagt werden musste.28 Ein ausländisches Gericht konnte daher nach Ansicht des OGH die Auflösung einer in Österreich geschlossenen Ehe mit Wirkung für den Geltungsbereich des ABGB nicht herbeiführen, weil die Bestimmungen des ABGB „auf der Sittenlehre der katholischen Kirche und ihrer Auffassung“ von der Ehe als Sakrament beruhten, wofür „der Gesetzgeber, soweit es sich um … Katholiken … handelt, auch den staatlichen Schutz sichern wollte“.29 Diese Normen berührten nach Ansicht des OGH eben nicht nur das Privatrecht, sie waren von öffentlich-rechtlicher Relevanz: Sie hatten Einfluss vor allem auf den Personenstand von Ehegatten und allfälligen Kindern; es kam bei der Beurteilung von solchen Ehen daher „nicht auf die später unter Herrschaft ausländischer Gesetze von einem Eheteil im Ausland erlangte Fähigkeit zur Eingehung einer zweiten Ehe“ an, „sondern auf jenes Verhältnis, das bei Eingehung der ersten Ehe bestanden hatte“.30 26  Sammlung von civilrechtlichen Entscheidungen des k. k. Obersten Gerichtshofes, hrsg. v. Julius Glaser, Josef Unger, Wien 1859 ff., Nr. 12701 (1879). 27  A. Lenhoff, in: Klang, S. 454; A. Lenhoff, Auflösung, S.  65 ff., 69 ff.; M. Piekar­ ski, Ehescheidung, S. 18 ff.; G. Walker, Privatrecht, S. 620 ff.; Ch. Pelikan, Aspekte, S.  209 ff., 215 ff., 220 f. 28  G. Walker, Privatrecht, S. 627 ff. 29  J. Glaser / J. Unger, Nr. 14504 (1879). 30  Neue Folge der Sammlung von civilrechtlichen Entscheidungen des k.  k. Obersten Gerichtshofes, begründet von Julius Glaser und Josef Unger, Wien 1898,



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Seit 1907 Gegen diese Auffassung wurden aber zunehmend Bedenken laut.31 Und 1907 erklärte auch der OGH erstmals eine „ungarische“ Ehe für gültig; eine im Ausland von Ausländern nach ausländischem Recht geschlossene Ehe war nun auch in Österreich als gültig anzusehen, weil andernfalls eine „Weltjudikatur der österreichischen Gerichte“ im Eherecht die Folge sein würde – wie der OGH erklärte.32 Die österreichischen Gerichte waren daher an ein im Ausland von der zuständigen Behörde gefälltes Erkenntnis, womit die Auflösung einer in Österreich geschlossenen Ehe eines Ausländers ausgesprochen wurde, gebunden.33 Dessen ungeachtet blieb aber eine Frage weiterhin ungelöst, nämlich ob dadurch die erste Ehe auch für den anderen Gatten wirksam getrennt werden konnte.34 Über die Trennung der Ehe von österreichischen Staatsbürgern hatten nämlich ausschließlich österreichische Gerichte zu entscheiden und sie mussten auch österreichisches Recht anwenden.35 Das Erkenntnis etwa eines ungarischen Gerichts über die Ehe eines ungarischer Staatsbürger gewordenen früheren Österreichers konnte also nach Ansicht des OGH nur für den Ungar gewordenen Ehegatten bindend sein. Seine zweite Ehe, die er in Ungarn mit einem ungarischen Staatsbürger geschlossen hatte, war zwar auch in Österreich gültig; es war jedoch strittig, ob durch das Urteil eines ungarischen Gerichts auch für den österreichischen Gatten aus der ersten Ehe das Eheband gelöst werden konnte. Nach der 1907 vom OGH geäußerten Ansicht blieb er nämlich an seine „frühere“ Ehe gebunden: Für den OGH war es also denkmöglich, dass zwei Ehen nebeneinander bestanden.36 Erst 1924 ist er von dieser Ansicht abgegangen und hat die Rechtswirkung ausländischer Eheauflösungserkenntnisse für den Inländer gebliebenen katholischen Ehegatten anerkannt. Auch er konnte nun jede beliebige neue Ehe schließen:37 weil – so der OGH: „Der Gedanke, daß eine Ehe, deren Nr. 2394 (1903); Rechtsprechung des k. k. Obersten Gerichtshofes in Eheungültigkeitssachen, hrsg. v. Richard Junker, Gustav Fuchs, Wien 1916, Nr. 18. 31  A. Lenhoff, Auflösung, S.  75 f.; M. Piekarski, Ehescheidung, S. 15 f.; G. Wal­ ker, Privatrecht, S. 632 ff. 32  J. Glaser / J. Unger, Neue Folge, Nr. 3811 (1907). 33  A. Lenhoff, Auflösung, S.  27 ff., 62 ff. 34  R. Junker / W. Fuchs, Nr. 56 und 61. 35  A. Lenhoff, in: Klang, S. 677; A. Lenhoff, Auflösung, S.  55 ff., 73 f. 36  A. Lenhoff, Auflösung, S. 44 ff., 73. 37  A. Lenhoff, in: Klang, S. 452 f.; G. Walker, in: Klang, S. 322; M. Piekarski, Ehescheidung, S. 16, 19 (mit weiteren Lieraturhinweisen in Fußnote 19); G. Walker, Privatrecht, S.  636 f.

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Band gelöst ist, einen Teil bindet, den anderen aber nicht, … mit dem Be­ griff des Ehevertrages, der zwei Teile bindet, … nicht vereinbar“ war.38 III. Umgehung des Gesetzes durch Dispens (bis 1934) Die neue Judikatur des OGH hatte für das Phänomen der Scheidungsmigration freilich kaum noch Relevanz. Denn nach 1918 hatte man für Katholiken ein wirksameres Instrument zur Wiederverehelichung nach erfolgter Scheidung von Tisch und Bett gefunden, die sogenannten Dispensenehen.39 1. Rechtliche Bedingungen Die Dispensehen waren auch noch eine Reaktion auf die in der Monarchie – gegen den konservativen Kaiser – nicht realisierbare Beseitigung des konfessionell orientierten ABGB-Eherechts durch die Einführung eines Eherechts, nach dem auch die Wiederverehelichung von Katholiken nach erfolgter Auflösung einer Ehe zulässig war. Das ABGB (§ 83) gab aber – bei Vorliegen von „wichtigen Gründen“ – den Verwaltungsbehörden die Ermächtigung, von Ehehindernissen zu dispensieren; die Nachsicht vom bestehenden Eheband wurde vor 1918 von Tisch und Bett getrennten Katholiken durch die dafür zuständigen Verwaltungsorgane, die Statthalter beziehungsweise die diesen übergeordneten Ministerpräsidenten, erteilt, aber nur in seltenen Ausnahmefällen.40 Ein solcher Dispens war also bloß ein rechtlicher „Notbehelf“41 für Einzelfälle; er fand in der Republik aber, nachdem die nun von den Sozialdemokraten forcierte Reform des Eherechts politisch nicht durchsetzbar war, in sozialdemokratisch regierten Ländern, vor allem in Niederösterreich und später in Wien sowie zeitweise auch in Kärnten42 – eine massenhafte Anwendung.43 38  Karl Satter, Die neueste Rechtsprechung über die Anerkennung ausländischer Urteile in Ehesachen, in: Juristische Blätter [JBl] 1934, S. 245 ff., besonders 245 Fußnote 6; Rechtsprechung. Ordentliche Gerichte. Zivilrecht, in: JBl 1935, S. 15. 39  U. Harmat, Ehe, S. 125 ff.; Christian Neschwara, Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen, in: Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, hrsg. von Thomas Olechowski und Werner Ogris (Schriftenreihe des Hans Kelsen Instituts, Band 32), Wien 2009, S. 246–263, besonders 249 ff.; Kathrin Bauer, Dispensehen in der Steiermark in der Zwischenkriegszeit, Dissertation an der Karl-Franzens Universität, Graz 2004, S. 7 ff. 40  K. Bauer, Dispensehen, S. 10 f.; U. Harmat, Ehe, S. 125 ff. 41  Julius Roller, Österreichsch-deutsche Eherechtsangleichung, Wien 1929, S. 27. 42  Albert Sever soll als Landeshauptmann von Niederösterreich nach eigenen Angaben von Anfang 1919 bis Ende 1921 etwa 15000 Dispense erteilt haben. In



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2. Praxis In den christlich-sozial regierten Bundesländern konnte man zwar von den Landesregierungen keine Dispense vom bestehenden Eheband erhalten, es wurden solche Ausnahmen aber allenfalls im Rechtsmittelweg gemacht: und zwar zunächst durch den dafür zuständigen sozialdemokratischen Staats­ sekretär für Inneres.44 Aber auch nach Verschiebung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse musste die seit 1922 auf Wien beschränkte Dispenspraxis von den nun regierenden Christlichsozialen weiterhin geduldet werden, weil sie die mit ihnen in Koalition verbundenen Großdeutschen für den Verzicht auf die Unterstützung der Sozialdemokraten bei der Reform des Eherechts politisch entschädigen mussten.45 Zu diesem Zweck wurde die dem Bundeskanzleramt – als den Landesregierungen in der Beurteilung der Dispensenerlässe übergeordnete Behörde – vorbehaltene Zuständigkeit vom christlich­ sozialen Bundeskanzler, zeitweise war das sogar ein Prälat, nämlich Ignaz Seipel, dem großdeutschen Vizekanzler delegiert werden.46 43

Im Ergebnis ermöglichte diese Dispensenpraxis zwar eine Reform des Eherechts auf dem Verwaltungsweg – sie war aber de facto auf Wien beschränkt.47 Diese rechtspolitisch bereits bedenklich verwirrte Eherechtsordnung wurde sodann durch die Rezeption des ungarischen Eherechts im Burgenland mit Einführung der obligatorischen Zivilehe für burgenländische Landesbürger im Jahr 1922 noch verwickelter. Verstärkend kam überdies hinzu, dass in der rechtlichen Beurteilung der Dispens-Ehen nicht nur in der Lehre unterschiedliche Auffassungen bestanden, sondern auch die Rechtsprechung in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit schwankte.48 Der Bestand einer Dispensehe war für die Betroffenen also gleichsam ein Glücksspiel geworden.

Kärnten ist eine Dispenspraxis in Einzelfällen nur unter Landeshauptmann Arthur Lewisch von 1927 bis 1931 zu konstatieren. 43  U. Harmat, Ehe, S. 164 ff., 184, 486. 44  Ibid, S.  235 ff. 45  Rudolf Adalar Metall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, S. 50 f. 46  U. Harmat, Ehe, S. 251 ff. 47  Ibid. S.  231 ff. 48  Ibid. S.  194 ff., 212 ff., 272 ff.

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3. Rechtliche Beurteilung Bis 1927 Nachdem der Verwaltungsgerichtshof 1921 eine vom Bundeskanzleramt im Rekurswege erteilte Dispens als gesetzlich nicht begründet aufgehoben hatte49, wurde angesichts der wachsenden Zahl von Dispensehen – es waren inzwischen mehr 12.00050 – vom Justizminister ein Gutachten des OGH angefordert: Er stellte ihre Ungültigkeit fest und löste damit eine Lawine von Ungültigkeitserklärungen aus.51 Trotz dieser Rechtsunsicherheit wurde die Dispenspraxis aber unvermindert fortgesetzt, bis März 1926 waren von geschätzten 50.000 Dispensehen mehr als 1.000 auch wieder für ungültig erklärt worden.52 Seit 1927 Eine Wende im Dispensehen-Chaos zeichnete sich im Sommer 1926 ab, und zwar mit der Anrufung des Verfassungsgerichtshofs wegen Entscheidung eines positiven Kompetenzkonflikts zwischen Gericht und Verwaltungsbehörde53, weil ein Gericht mit seiner Entscheidung über die Ungültigkeit einer Dispensehe die dazu erteilte Dispens als ungesetzlich erklärt und dadurch die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde aufgehoben, somit in die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden eingegriffen habe. Der Antrag wurde damals als unbegründet zurückgewiesen.54 Von den an der Beratung beteiligten Verfassungsrichtern sprachen sich nur zwei dagegen aus, einer der beiden war Hans Kelsen.55 Auf seinen Vorschlag als Referent erkannte der VfGH im folgenden Jahr, im November 1927, nachdem er abermals mit 49  Erkenntnis vom 14.3.1921 in Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes. Administrativrechtlicher Teil. Zusammengestellt von Max Schuster, Band XLV (1921), Wien 1922, Nr. 12785. 50  Hans Sperl, Die Frage des Ehedispenses und der Doppelehe in Österreich, in: Auslandsrecht. Blätter für Industrie und Handel, Band 12 (1922), S. 373 f. 51  Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil- und Justizverwaltungssachen. Veröffentlicht von seinen Mitarbeitern [SZ], Band IV / 1922, Wien 1923, Nr.  155 / 1922. 52  U. Harmat, Ehe, S. 222, 287, 299. 53  Ibid, S.  290 ff. 54  Beschluss vom 13.10.1926: Sammlung der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes. Neue Folge amtlich veröffentlicht [VfSlg], Heft VI / 1926, Wien 1927, Nr. 726. 55  Ch. Neschwara, in: Olechowski, S. 252; vergleiche: Robert Walter, Kelsen als Verfassungsrichter (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 27), Wien 2005, S.  57 f.



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einer Dispensehensache befasst worden war, dann doch auf Vorliegen eines Kompetenzkonfliktes, weil das Gericht durch seine Entscheidung, wenn auch nur indirekt, die Rechtskraft eines Verwaltungsakts verletzt habe.56 Die Entscheidung des VfGH stellte die Rechtskraft des Dispenserlasses wieder her und bewirkte damit auch die Wiederherstellung der für ungültig erklärten Dispensehe.57 In der Öffentlichkeit wurde diese Entscheidung geradezu als eine Sensation aufgenommen. Die Tagespresse reagierte aber zwiespältig, vor allem aus den Reihen der Christlichsozialen kamen Stimmen, welche in dieser Entscheidung eine politisch motivierte Aktion gegen die Bundesregierung sehen wollte, welche Kelsen und seinem Naheverhältnis zu sozialdemokratischen Politikern zugerechnet wurde.58 Das Erkenntnis des VfGH hatte Wirkung freilich nur für den konkret entschiedenen Fall59, so dass es auch weiterhin zu Ungültigkeitserklärungen von Dispensehen kam – wie auch die Dispenspraxis unvermindert fortgesetzt wurde.60 Um den Bestand von zehntausenden Dispensehen dauerhaft zu sichern, wäre es notwendig gewesen, dass auch der OGH die Entscheidung des VfGH respektierte. Der OGH anerkannte 1928 in einem weiteren Gutachten zur Dispensehenfrage61 zwar die grundsätzliche Bindung der Gerichte an rechtskräftige Verwaltungsakte, er sprach allerdings in Zusammenhang mit den Dispenserlässen, weil sie aus seiner Sicht zu Doppelehen und damit zu einem mit der Rechtsordnung verbotenen Ergebnis führen mussten, von absolut nichtigen Verwaltungsakten62, welche einer formellen – die Gerichte bindenden – Rechtskraft aber gar nicht zugänglich seien.63 Lediglich in jenen Fällen, in denen der VfGH im Einzelfall mit Erkenntnis eine für ungültig erklärte Dispensehe wiederhergestellt habe, wäre für den OGH der entsprechende Dispenserlass auch für die Gerichte bindend.64 56  U. Harmat, Ehe, S. 259 ff.; Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Verfassungsgerichtshof [ÖstA, AdR, VfGH], Karton 74: Akt K 6 / 27, Post 5 (Beratungsprotokoll vom 5.11.1927); VfSlg, Nr. 878. 57  Kelsen qualifizierte einen Bindungskonflikt als einen indirekten Kompetenzkonflikt, um überhaupt die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes begründen zu können. 58  U. Harmat, Ehe, S. 303 f., 304 ff. 59  Dazu das Sitzungsprotokoll vom 5.11.1927, in: ÖStA, AdR, VfGH, Karton 74. 60  U. Harmat, Ehe, S. 328 ff., 305 ff. 61  SZ X / Nr.  51; U. Harmat, Ehe, S. 317 ff. 62  Dazu Hans Kelsen, Staatsunrecht, in: [Samuel Grünhutzs] Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Band 40 (1913), S. 86. 63  Dazu Ch. Neschwara, in: Olechowski, S. 265 f. (Anhang C.). 64  Der Oberste Gerichtshof gab vor, zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung – mit dem Gutachten – ein auch sich selbst bindendes Judikat schaffen zu wollen.

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Die Anfechtung der Ungültigerklärung einer Dispensehe beim VfGH musste natürlich stets zur Aufhebung des betreffenden Gerichtsurteils führen.65 Deswegen wurde in der den Christlichsozialen nahe stehenden Presse auch alsbald Kritik am VfGH laut. Es wurde ihm offen vorgeworfen, er habe bei seinen Dispensehen-Entscheidungen ein politisches Kalkül geltend gemacht. Der VfGH wurde als parteipolitisch beeinflusst oder zumindest beeinflussbar angesehen66 – was im Hinblick auf seine Zusammensetzung ein nicht ganz unberechtigter Vorwurf gewesen ist. Die Verfassungsrichter wurden nämlich – aufgrund von Parteienvereinbarungen – durch Nationalrat und Bundesrat gewählt, ausgenommen waren bloß die Vorschläge für die Wahl des Präsidiums sowie von zwei Mitglieder- und einer Ersatzmannstelle, wofür die Bundesregierung politisch neutrale Richter zu nominieren hatte. In der Dispensehen-Frage standen die von Parteien nominierten Verfassungsrichter einander aber geschlossen mit unterschied­ lichen Auffassungen gegenüber:67 Fünf sozialdemokratische und ein großdeutscher Verfassungsrichter folgten der Auffassung von Kelsen, die sechs christlichsozialen lehnten sie ab, sodass sich eine Pattstellung ergab. Entscheidend war daher das Abstimmungsverhalten der neutralen Verfassungsrichter, und sie stimmten – von einer Ausnahme abgesehen – stets für die Rechtsansicht von Kelsen.68 Die Dispensehen-Judikatur des VfGH wurde von der christlichsozialen Presse dessen ungeachtet auf eine vermeintliche sozialdemokratische Dominanz unter den Richtern des VfGH zurückgeführt.69 Dem ersten Dispensehen-Erkenntnis vom November 1927 folgten bis zur Auflösung des VfGH im Jänner 1930 noch mehr als 250 weitere, welche jeweils auf Aufhebung von Gerichtsurteilen über Ungültigerklärungen von Dispensehen erkannten.70 Der Bestand von Dispensehen blieb daher weiterhin von Zufällen, Prozessfinten und vom Wohlwollen der Verwaltungsbehörden abhängig. Die 65  Hans Kelsen, Das Ergänzungsgutachten des Obersten Gerichtshofes, in: Neue Freie Presse vom 27.4.1928, S. 4. 66  U. Harmat, Ehen, S. 403 ff. 67  Christian Neschwara, Verfassungsgerichtsbarkeit und Parlament in Österreichs erster Republik, in: Assemblées et parlements dans le monde, du moyen-age à nos jours, hrsg. v. Jean Garrigues und anderen, Paris 2010, S. 1240 f.; Thomas Zavadil, Die Parteienvereinbarungen über den VfGH und die Bundes-Verfassungsnovelle 1929, in: Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag, Thomas Angerer, Brigitte Bader-Zaar, Margarete Grandner (Hrsg.), Wien 1999, S. 345 ff. 68  Ch. Neschwara, Hans Kelsen als Verfassungsrichter: Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: Hans Kelsen – Staatsrechtslehrer und Rechtsphilosoph, hrsg. v. Stanley Paulson und Michael Stolleis, Tübingen 2005, S. 375. 69  A. Metall, Kelsen, S. 54 f.; U. Harmat, Ehe, S. 406 ff. 70  Ch. Neschwara, in: Olechowski, S. 254 Fußnote 36.



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Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Wirkungen der Dispensehen, auf die Zugehörigkeit allfälliger Kinder zu einem bestimmten Familienkreis, die Heimatberechtigung und damit die Staatsbürgerschaft der Ehegattin, vor allem aber in Bezug auf Hinterbliebenenversorgung und Erbfolge, steigerte sich ins Unerträgliche.71 Seit 1930 Von der Gesetzgebung konnte eine Abhilfe aber nicht erwartet werden, sie war durch den Koalitionspakt der Christlichsozialen und Großdeutschen paralysiert: Im Zuge der Ende 1928 anlaufenden Diskussion um eine Verfassungsrevision wurde aber eine Reform des VfGH im Sinne einer „Entpolitisierung“ gefordert.72 Es wurde vor allem an eine Neuregelung für die Bestellung der Verfassungsrichter gedacht: Sie sollte der Regierung eine Mehrheit der ihr gewogenen Verfassungsrichter sichern.73 Der nach den neuen – bis heute geltenden – Regeln ernannte VfGH begann Mitte Februar 1930 seine Wirksamkeit; die von der Regierung durch seine „Umpolitisierung“74 erwartete Wende in der Judikatur über die Dispensehen hatte sich in der nächsten Session im Juli 1930 auch schon eingestellt. Die Problematik der Dispensehen blieb aber ungelöst: Vom Wiener Magistrat wurden weiterhin Dispense erteilt, in Einzelfällen im Rekursweg auch vom Bundeskanzleramt, es liefen auch die Verfahren zur Ungültigkeitserklärung von solchen Ehen durch die Gerichte weiter. Ja es wurden sogar weiterhin Anträge auf die Entscheidung von Kompetenzkonflikten beim VfGH eingebracht, freilich allesamt abgewiesen.75 4. Lösung des Dispensehenproblems (1938) Das seit 1919 von Sozialdemokraten und Großdeutschen forcierte Projekt einer Angleichung des österreichischen Eherechts an das deutsche BGB, 71  Ch.

Neschwara, in: Paulson, Stolleis, S. 373 (Julius Merkl). Berchtold, Die Verfassungsreform von 1929. Dokumente und Materialien zur Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle von 1929, Wien 1979, Band I, S. 115 f., 238 f., 343 f.; ibid. Band II, S. 181 ff., 224, 243; vergleiche Gernot Hasiba, Die zweite Bundes-Verfassungsreform von 1929, Graz 1976, S. 95 ff., 103 ff.; Robert Walter, Die Organisation des VfGH in historischer Sicht, in: Festschrift für Ernst Carl Hellbling zum 70. Geburtstag, Hans Lentze (Hrsg.), Wien 1971, S. 771 ff. 73  Die 1929 beschlossenen Regeln sind bis dato im Wesentlichen unverändert beibehalten worden: Art. 147 (Absatz 2 bis 5) im Bundes-Verfassungsgesetz. 74  Dazu Adolf Julius Merkl, Der „entpolitisierte“ VfGH, in: Der österreichische Volkswirt 23 (1930) S. 510. 75  U. Harmat, Ehe, S. 415 ff. 72  Klaus

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wofür seit 1927 sogar ein gemeinsamer Entwurf vorlag, blieb aus.76 Stattdessen kam es mit dem Konkordat 1934 bei Fortbestand des ABGB-Eherechts zur Einführung des kanonischen Eherechts für Katholiken, sodass der österreichische Eherechtswirrwarr kaum noch steigerungsfähig schien.77 Auf der Grundlage von etwa 70.000 Dispensehen wurde die Zahl der von der damit verbundenen Problematik betroffenen Personen auf etwa 300.000 geschätzt.78 Dass die Beseitigung dieser unhaltbar gewordenen Situation und damit auch die „Legalisierung“ der Dispensehen letztendlich dem nationalsozialistischen Regime vorbehalten blieb, mag als eine Ironie der Geschichte erscheinen; sie hat aber in weiten Kreisen der österreichischen Bevölkerung durchaus „Beifall“79 gefunden, vor allem bei jenen, die von einer Dispensehe rechtlich und moralisch waren.80 Abstract Ways to evade the indissolubility of marriage between Catholics Among the institutions of Austrian civil law none has experienced more proposed amendments than the marriage law. In this context the question arises whether a married couple can get a divorce or not. From 1875 on, Austria with its marriage law that was bound to Catholicism and discriminated against other confessions was surrounded by states in which marriage was legally concluded without a religious ceremony. Moreover, while the Austrian law provided for a ‚separation of table and bed‘ only, these states were giving their citizens the possibility to divorce and remarry without confessional restraints. This development can first be seen in Germany and Hungary. Apart from the option to convert to Protestantism, German or Hungarian marriage law could be applied to Austrian Catholics who wanted to remarry, if they changed their place of residence and citizenship (at least for a short period of time). Another more effective instrument was found after 1918 for the Catholics intending to remarry after a ‚separation from table and bed‘: the permission to marry by dispensation from the impediment of the existing marriage. Before 1918 government officials, such as J. Roller, Eherechtsangleichung. Neschwara, Rezeption, S. 56 ff. 78  U. Harmat, Ehe, S. 448 ff., 450 ff., 475 ff. 79  Ibid, S. 248 in Anmerkung 33; vergleiche auch Lothar Gruchmann, Das Ehegesetz vom 6. Juli 1938. Entstehung und Beurteilung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 11 (1989), S. 69. 80  U. Harmat, Ehe, S. 529 ff. 76  Dazu 77  Ch.



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provincial governors or the Prime Minister as higher authorities, had granted such dispensations only in exceptional cases. Actually, the dispensation route was just a legal makeshift. However, in the Republican era these marriages by dispensation became mass phenomena in the territories ruled by Social Democrats. A reform of the marriage law, which was co-initiated by the Social Democrats, proved unsuccessful.

Stellung des Familienvaters in der Geschichte des Familienrechts Karel Schelle I. Einleitend Zu den Faktoren, die die Entwicklung des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches prägten, zählte neben dem Naturrecht das römische Recht. Gerade hier muss nach einer der ersten rechtlichen Regelungen gesucht werden, die die Stellung des Familienvaters betrafen, wiewohl sich dessen Stellung unbestritten aus dessen faktischen Einfluss entwickelt hat, den der Familienvater innerhalb der Sippe und der Familie in der vorstaatlichen Zeit hatte. Deshalb wird einleitend zu diesem Beitrag auf die römische väterliche Gewalt kurz eingegangen, indem nur die Hauptmerkmale der Patria Potestas zusammengefasst werden: Dem römischen Pater Familias kam tatsächlich nicht nur in der Tradition, sondern auch nach dem Gesetz eine unvertretbare Rolle und Macht zu. Dank der Patria Potestas war es ihm möglich, auf die Familienmitglieder auf drei verschiedenen Einflussebenen einzuwirken. Die erste davon war die Gewalt über die Ehefrau (Manus). Sie war zwar keine Bestehens- und Existenzvoraussetzung für die Ehe als solche, stellte jedoch nach dem klassischen strengen Eheverständnis ein Merkmal dar, das der Frau eine völlig untergeordnete Rolle zuwies, dies ungeachtet dessen, dass das Matrimonium Legitimum, die legitim geschlossene Ehe, durch einen Vertrag zwischen Mann und Frau begründet wurde. Dieses Vertraglichkeitsprinzip findet man übrigens auch sonst in der Geschichte. In einer streng geführten Ehe war die Ehefrau dem Ehemann, manchmal sogar dessen Vater rechtlich und wirtschaftlich völlig unterstellt, sodass der „Vertrag“ in diesem Fall eine Unterwerfung des einen Subjekts unter das andere mit sich brachte. Die zweite Komponente der Patria Potestas bestand in der Gewalt über die Kinder. Sie war die väterliche Gewalt im eigentlichen Sinne. Gaius sagt dazu in seinem Lehrbuch: „In unserer Gewalt sind weiter unsere Kinder, die wir in einer rechtmäßigen römischen Ehe gezeugt haben. Dieses Recht kommt nur den römischen Bürgern zu: Denn es finden sich kaum Menschen, die über

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ihre Kinder eine solche Befugnis hätten wie wir“.1 Die Patria Potestas war eine lebenslange und absolute Herrschaft des Familienoberhaupts über die Kinder, und es machte keinen Unterschied, wie alt die Kinder waren, ob sie mit dem Vater blutsverwandt waren oder von ihm adoptiert wurden. Beschränkt war die Gewalt ursprünglich nur durch die Moral und durch das sakrale Recht.2 Die sich daraus ergebenden Hauptbefugnisse finden ihren Niederschlag in ius vitae necisque, ius exponendi, ius noxa edandi, ius vendendi und ius vindicandi. Die Patria Potestas entstand durch die Geburt eines in einer gültigen römischen Ehe gezeugten Kindes, wenn sowohl der Vater als auch das Kind römische Bürger waren. Außerdem wurde sie durch Annahme an Kindes statt (Adoption, Arrogation), bzw. durch die Legimitation (Ehelichkeitserklärung) begründet. Hingegen erlisch die Patria Potestas, wenn der Tod des Familienvaters oder des Kindes eintrat (der körperlicher oder rechtlicher Natur sein konnte, etwa bei der Capitis Deminutio Media und bei der Capitis Deminutio Maxima), wenn das Kind aus der väterlichen Gewalt rechtsgeschäftlich entlassen wurde (Emancipatio), bzw. erlisch die Patria Potestas durch die Arrogation des Vaters oder durch die Adoption des Kindes. Die väterliche Gewalt war insbesondere durch die Vindicatio Filii, Vindicatio Patriae Potestatis und später durch das prätorische Nutzungsrecht, etwa durch die Interdicta de Liberis geschützt. Was bedeutete die Patria Potestas in der Praxis für die Stellung der an diese Gewalt gebundenen Kinder? In privatrechtlicher Hinsicht waren die im väterlichen Herrschaftsbereich stehenden Kinder den Sklaven praktisch gleichgestellt. Da deren Mutter im Falle der Matrimonia cum in Manum Conventione dem Pater Familias ebenfalls unterstand, bzw. im Falle der Matrimonia sine in Manum Conventione aus der Sicht der agnatischen Familie mit den Kindern rechtlich nicht verwandt war, bleibt nur festzuhalten, dass die Kinder rechtlich dem Vater völlig unterworfen waren. Die obigen Ausführungen gelten jedoch nur für eheliche Kinder. Bei den unehelichen Kindern tat man, als ob sie überhaupt keinen Vater hätten. Es wurde im Sinne des klassischen Rechts überhaupt keine Gewalt über sie begründet. Sogar die kognatische Verwandtschaft wurde nur der mütter­ lichen Familie gegenüber anerkannt. In der Kaiserzeit haben die von einer Konkubine stammenden, unehelichen Kinder, wenigstens das Unterhaltsrecht gegenüber dem Vater bekommen und konnten von ihm eventuell legitimiert werden. 1  Jaromír Gaius, Učebnice práva ve čtyřech knihách (Lehrbuch des Rechtwesens in vier Büchern), Praha 1981, S. 42. 2  Milan Bartošek, Encyklopedie římského práva (Enzyklopädie des römischen Rechts), Praha 1981, S. 247.



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Die dritte Komponente der Patria Potestas bestand im sog. Mancipium, in einer Hoheitsgewalt des Vaters über die ihm unterworfenen Personen sowie über die wirtschaftliche Familiengrundlage (Sklaven, „Sklaven auf Zeit“). Im Rahmen unseres Beitrags werde ich versuchen, einige Charakterzüge der römischen Patria Potestas der Vater-Kind-Stellung gegenüberzustellen, wie sie in die neuzeitlichen Kodifikationen, insbesondere ins österreichische ABGB Eingang gefunden hat. Dabei werde ich mich auf den Blickwinkel des Vater-Kind-Rechtsverhältnisses konzentrieren. Zugleich müssen wir festhalten, dass es die väterliche Gewalt auch im mittelalterlichen Familienrecht gab. Sie umfasste die Erziehung der Kinder, die Wahrung der Hausdisziplin, den Schutz der Kinder und Vermögensverwaltung ohne die Rechnungslegungspflicht.3 Die väterliche Gewalt ist auch in einigen nichteuropäischen Rechtsordnungen bekannt. Uns interessiert nur, wie sie von den neuzeitlichen europäischen Kodifikationen aufgefasst wurde. II. Verständnis der väterlichen Gewalt im österreichischen ABGB Der Kodifikationsprozess begann in den Habsburgischen Ländern bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Betrachtet man alle seine Phasen, so kommt man darauf, dass die väterliche Gewalt in allen Versionen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die vorbereitet wurden, relativ gleich geregelt war. Um dies zu verifizieren, muss man der Reihe nach verschiedene Quellen heranziehen: Zunächst die Theresianische Kodifizierung des bürgerlichen Rechts4, dann der Entwurf Horten.5 Ein wichtiger Meilenstein war die Kundmachung des Josephinischen Gesetzbuchs.6 Der endgültigen Version kam schließlich der Entwurf Martini sehr nahe, der später in das sog. Westgalizische Gesetzbuch Eingang fand7. Dass das römische Recht sowie das französische Code Civil die endgültige Version des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs beeinflusst haben, wird dadurch unterstrichen, dass der ABGB-Entwurf im Jänner 1808, nach Abschluss der Arbeiten 3  Siehe etwa Karel Malý / Florián Sivák, Dějiny státu a práva v  Československu do roku 1919 (Staats- und Rechtsgeschichte der Tschechoslowakei bis 1919), Praha, 1988, S. 228. 4  Codex Theresianus wurde 1766 in Brünn geschaffen. 5  Den ersten Entwurfteil hat Horten im Jahre 1771 vorgelegt. 6  Das Josephinische Gesetzbuch wurde im Jahre 1786 herausgegeben. 7  Hier wurde der Gesetzbuch-Entwurf im Jahre 1797 durch das Patent JGS 337 „zur Probe“ als geltendes Recht eingeführt.

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durch die Gesetzgebungskommission, dem Kaiser mit einem Vergleich unterbreitet wurde, der den Entwurf dem römischen Recht, dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten und dem französischen Code Civil gegenüberstellte. Darauf wurde mit Patent vom 1. Juli 1811 (JGS 946) das „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erblande“ mit Gesetzeskraft vom 1. Jänner 1812 kundgemacht. Von da an galt das Gesetzbuch, das vor allem unter der Abkürzung ABGB bekannt ist, mit Ausnahme der Länder der Ungarischen Krone, in allen Ländern, die das damalige Kaisertum Österreich gebildet haben.8 Das Familienrecht ist in diesem Kodex im Ersten Teil, 2. Hauptstück geregelt. Konkret war die väterliche Gewalt in den §§ 147 ff ABGB geregelt. Unter dem Begriff der väterlichen Gewalt verstand das bürgerliche Gesetzbuch Rechte, die ausschließlich dem Vater und niemals der Mutter zustanden. Inhaltlich war die väterliche Gewalt im ABGB wie folgt festgelegt: • Der Vater hatte das Recht, den Beruf des Kindes zu wählen. • Er verwaltete das Kindesvermögen. • Er ergänzte den Willen des Kindes, wenn es zu einer selbständigen Willenserklärung nicht fähig war. • Er war der gesetzliche Vertreter des Kindes. • Außerhalb dieser Bestimmungen hatte der Vater das Recht, in der letztwilligen Verfügung bzw. in einer sonstigen Form für den Todesfall einen Vormund für das Kind zu bestellen, oder, umgekehrt, bestimmte Personen von der Vormundschaft auszuschließen. Außerdem ergab sich aus der Bestimmung des § 91, Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch, das Recht des Vaters, den gemeinsamen Haushalt der Ehegatten und der Kinder zu leiten. 1. Berufsbestimmungsrecht des Vaters gegenüber dem Kind Der Vater bestimmte den Zweck der Erziehung und war auch berechtigt, sie in Grundzügen festzulegen. Das bedeutete damals unter anderem, zu bestimmen, in welcher Sprache das Kind erzogen werden soll. Selbstverständlich musste unterschieden werden, wie weit das Kind erwachsen war. War das Kind unmündig, war der Vater in keinerlei Hinsicht beschränkt 8  Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch. In der tschechischen Übersetzung, die im Jahre 1812 erschien, hieß es „Kniha všeobecných práv městských“, wörtlich „Buch der allgemeinen Stadtrechte“, weil das damalige Tschechisch keinen Begriff für „Bürger“ kannte.



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außer durch die allgemeine Zweckmäßigkeit. Es gab nur eine Möglichkeit, die Entscheidung des Vaters abzuwenden, nämlich den Gerichtsweg. Jeder, der der Meinung war, dass die väterliche Gewalt missbraucht wurde, konnte bei Gericht Anzeige erstatten und das Gericht konnte dann von Amts wegen einschreiten. Allerdings waren die Anzeigeerstatter keine Parteien des Verfahrens und deshalb nicht rechtsmittellegitimiert, es sei denn, es handelte sich um die Mutter des Kindes. Ein mündiges Kind konnte sich selbst an das Gericht mit dem Gesuch wenden, das Gericht möge direkt eine andere Berufsbildung bestimmen. In einem solchen Fall hat das Gericht im Verfahren außer Streit entschieden, in welchem dem Kind die Stellung einer Partei zukam. Da das Kind noch nicht prozessfähig war, musste das Gericht einen Kurator bestellen. Darauf hat das Gericht nach den körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Kindes entschieden9. 2. Verwaltung des Kindesvermögens Das Kind konnte zwar für sich selbst Vermögen erwerben, konnte es aber nicht verwalten. Diesbezüglich bestand ein grundsätzlicher Unterschied gegenüber dem römischen Recht, wonach ein Kind in der väterlichen Gewalt kein eigenes Vermögen haben konnte. Die ABGB- Verfasser gingen davon aus, dass das Kind Eigentum nach denselben Modi erwerben kann wie sonstige Personen nach §16 ABGB. Nur insoweit der Wille des Kindes an sich nicht rechtlich relevant wäre, bedurfte der Wille des Kindes der Ergänzung durch die Willenserklärung dessen gesetzlichen Vertreters. Somit oblag dem Vater nur noch die Verwaltung des Vermögens des minderjährigen Kindes. Diese Verwaltung kann auch als Überbleibsel der römischrecht­ lichen väterlichen Gewalt gesehen werden. Von der Vermögensverwaltung konnte der Vater aus mehreren Gründen ausgeschlossen werden. Wurde das Kind etwa beschenkt, so konnten die Schenkenden den Vater von der Ver9  Zur Auslegung der Begriffe „Kind“, „Unmündiger“ und „Minderjähriger“: Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch hat, der römisch rechtlichen Tradition folgend, zwischen drei Stufen der altersbedingten Handlungsunfähigkeit unterschieden: a)  Kinder unter 7 Jahren – sie entsprachen dem römisch rechtlichen Institut der Infantia, b) Unmündige unter 14 Jahren – im Sinne der römisch rechtlichen Bestimmungen über die Impuberes, c) Minderjährige unter 24 Jahren – diese Altersgrenze wurde durch das Gesetz 447 / 1919 Sb. auf 21 Jahre herabgesetzt. Dies entsprach gewissermaßen den römisch rechtlichen Regelungen über die Puberes XXV annorum minores. Im Gegensatz zum römischen Recht standen alle drei Gruppen von Minderjährigen entweder unter der väterlichen Gewalt, oder es wurde ein Vormund für sie bestellt und kein Kurator wie bei der mündigen Minderjährigkeit nach dem römischen Recht.

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waltung des von ihnen geschenkten Vermögens ausschließen. Ein anderer Fall des Ausschlusses von der Vermögensverwaltung ergab sich aus der generellen Unfähigkeit des Vaters, das Vermögen zu verwalten. Das Gesetz rechnete diesbezüglich einerseits mit einem Fall der mangelnden Geschäftsfähigkeit, andererseits mit solchen körperlichen oder geistigen Zuständen, die den Vater zur Vermögensverwaltung unfähig machten. Demnach brauchte dem Vater nicht eigens entmündigt zu werden. Es reichte aus, dass er in einem konkreten Fall nicht in der Lage war, das Kindesvermögen zu verwalten. Nach der Beendigung der Vermögensverwaltung musste der Vater das Vermögen dem großjährigen Kind herausgeben, dies mit der Maßgabe, dass er einen Anspruch auf Ersatz der verwaltungsbedingten Aufwendungen hatte. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch legte auch genau fest, wozu das Kindesvermögen verwendet werden durfte. Dabei wurde streng zwischen dem Stammvermögen und den Erträgnissen unterschieden. Das Gesetzbuch legte fest, dass das Stammvermögen erhalten bleiben soll, während die Erträgnisse daraus der Erziehung des Kindes dienen sollen. Mit dieser Bestimmung wollten die Verfasser des Gesetzbuchs wahrscheinlich den bis dahin dem Vater zustehenden väterlichen Fruchtgenuss am Vermögen des Kindes aufheben, weil er ihrer Meinung nach „wider die Natur“ war. Daneben konnte das Kind auch eigene Einkünfte (etwa eine Rente) haben. Auch diese Einkünfte konnten zur Deckung der Erziehungskosten des Kindes herangezogen werden. Wie gesagt, das Stammvermögen war unantastbar, außer, es lag einer der folgenden, gesetzlich geregelten Fälle vor: Außerordentliche Aufwendungen, die aus den laufenden Einkünften nicht gedeckt werden konnten. Allerdings mussten die Aufwendungen zweckmäßig sein. Jedoch unterlag die Verwendung von Mitteln des Stammvermögens der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht. Als Beispiele waren insbesondere die Kosten einer Heilbehandlung, Operation usw. angegeben. Ausstattung des Kindes, etwa durch Möbel, die angesichts der bevorstehenden Eheschließung für den gemeinsamen Haushalt des Brautpaars angeschafft werden, Aussteuer der Tochter usw. Die Kosten des Unterhalts und der Erziehung konnten weder aus den Vermögenseinkünften noch aus den Mitteln der unterhaltspflichtigen Personen gedeckt werden, zu denen insbesondere der Vater zählte. Allerdings trennte das Allgemeine bürgerlichen Gesetzbuch das zuvor genannte Vermögen vom Besitz, der nicht unter die väterliche Gewalt fiel. Es handelte sich um das Erwerbseinkommen des Kindes sowie um Sachen, die ihm zur Nutzung überlassen worden sind.



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3. Ergänzung der ergänzungsbedürftigen Willenserklärung des Kindes Gemeint ist insbesondere die Fähigkeit der Minderjährigen zu „onerösen“, belastenden Rechtsgeschäften, d. h. zu Rechtsgeschäften, die mit einer Pflicht für den Minderjährigen belastet sind, und die der Ergänzung der Willenserklärung durch den Vater bedürfen. Somit legte das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch insbesondere eindeutig fest, dass sich die Kinder durch Rechtsgeschäfte nicht verpflichten können, es sei denn, der Vater genehmigt sie. Davon ausgenommen waren Arbeitsverträge von Kindern, die die Eltern nicht versorgt haben. Jedoch konnte der Vater aus wichtigen Gründen einen solchen Vertrag aufheben. Genannt wurden insbesondere erzieherische Aspekte, wenn der Arbeitsvertrag, bzw. das sich daraus ergebende Arbeitsverhältnis das Kind körperlich oder geistig gefährden sollte. Kinder unter 7 Jahren konnten keine rechtserhebliche Willenserklärung abgeben. Dies musste der Vater für sie tun. Die Minderjährigen, die älter als 7 Jahre waren, konnten zwar eine selbständige Willenserklärung abgegeben, diese war aber nicht verpflichtend für sie, sofern sie nicht durch die Willenserklärung des Vaters ergänzt wurde. Der Vater konnte seine Genehmigung im Voraus, gleichzeitig oder nachträglich erteilen. Jedoch konnte er im Voraus keine allgemeine Genehmigung zu allen nicht näher bestimmten Rechtsgeschäften geben. Die Genehmigung musste sich stets auf ein bestimmtes Rechtsgeschäft beziehen. 4. Gesetzliche Vertretung des Kindes Der Vater war, soweit das Kind nicht selbständig handeln konnte, dessen gesetzlicher Vertreter, es sei denn, er war von der Verwaltung des Kindesvermögens ausgeschlossen. Nach dem neuzeitlichen Verständnis wurde die Patria Potestas im österreichischen ABGB als persönliches Recht des Vaters aufgefasst, das unverzichtbar und unverjährbar war. Der Vater konnte sein Recht auch niemandem übertragen. Selbst wenn er jemanden anderen mit der Ausübung der väterlichen Gewalt betraute, blieb er nach wie vor für deren Ausübung verantwortlich. Der neuzeitliche Begriff der väterlichen Gewalt im österreichischen ABGB war durch Interesse des Kindes und nicht durch das Interesse des Vaters begrenzt. Dieser Aspekt unterscheidet das neuzeitliche Verständnis der Patria Potestas vom alten römischen Begriff, in dem die Hoheitsgewalt der römischen Familie geballt zum Ausdruck kam.

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Ähnliche Bestimmungen wie im ABGB findet man freilich auch im ungarischen Zivilrecht, selbst wenn sie etwas allgemeiner formuliert sind und die väterliche Gewalt im Vergleich zur österreichischen Regelung ziemlich eingegrenzt war. Sieht man zum Beispiel im § 15 Vormundschaftsgesetz Art. XX / 1877 nach, so entnimmt man daraus unter anderem, dass der Vater aufgrund väterlicher Gewalt: • der gesetzliche Vertreter seines minderjährigen Kindes war; • in seinem Testament oder in einer öffentlichen Notariatsurkunde einen Vormund für seine minderjährigen Kinder bestellen oder eine beliebige Person von der Vormundschaft ausschließen konnte; • in der Regel der Verwalter des dem minderjährigen Kind gehörenden Vermögens war, ohne verpflichtet zu sein, darüber Rechnung zu legen. Das bedeutete, dass er den überschüssigen Reingewinn aus dem Vermögen seines Kindes behalten durfte. In tschechoslowakischer Rechtsordnung wurde die väterliche Gewalt erst im Jahre 1949 aufgehoben. Ihre Aufhebung erfolgte durch das Familiengesetz Blatt Nr. 265 / 1949 Sb. Dieses Gesetz trat am 1. Jänner 1950 in Kraft. Das bisher geltende Institut der einseitigen väterlichen Gewalt wurde durch die gleichberechtigte Stellung beider Elternteile im Verhältnis zu ihren Kindern ersetzt. Es wurde die elterliche Gewalt eingeführt und als gemeinsame Gewalt beider Elternteile definiert, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie Ehegatten waren oder nicht. Zugleich wurde ausdrücklich festgehalten, dass die elterliche Gewalt beiden Elternteilen gebührt. Die elterliche Gewalt wurde als die Summe der elterlichen Rechte und Pflichten definiert, das Verhalten der Kinder zu steuern, sie zu vertreten und ihr Vermögen zu verwalten.10 Abstract Father’s position in the history of family law Some features of the Roman „patria potestas“ are compared in the study with the position of Father and his relation to children in Modern Age codifications, particularly in the Austrian ABGB, with special focus paid to 10  Komentář k  československému obecnému zákoníku občanskému a občanské právo platné na Slovensku a v Podkarpatské Rusi (Kommentar zum tschechoslowakischen ABGB sowie zu dem in der Slowakei und Karpatenukraine geltenden Zivilrecht), gestaltet von František Rouček und Jaromír Sedláček, Praha 1935; Jan Krčmář, Právo občanské IV. Právo rodinné (Bürgerliches Recht IV., Familienrecht), Praha 1930.



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the legal interrelation between father and child. It should be reminded that even the medieval family law recognized paternal power. This applied to the education of children, home discipline, protection of children, and disposal of property without rendering accounts. Some legal systems outside Europe, too, contained this institute. We shall primarily focus on its concept in modern European codifications. Paternal power was abolished in Czecho­ slovak system of law as late as 1949 with the Family Law Act No. 265 / 1949 Coll. that came into effect on 1 January 1950. The previous institute of one-sided paternal power was abolished and the equal position of both ­parents in relation to their children was introduced by defining the joint power of both parents, parental power, irrespective of their being married or not. It was expressly declared that the parental power belonged to both parents. Parental power was defined as the right and obligation to control the actions of children, represent them, and dispose of their property.

Kinderschutz in der Gesetzgebung am Anfang des 19. Jahrhunderts Martina Halířová Jede Gemeinschaft bemüht sich, die Geschlechtskontinuität zu sichern und deshalb auch ihre Nachwelt zu schützen. Dieser Schutz wies und weist unterschiedlichen Charakter auf. In der Vergangenheit basierte er auf abergläubischen Praktiken, auf Traditionen oder Gewohnheitsrecht. Unsere Aufgabe ist es zu zeigen, welche Schutzelemente in den am Anfang des 19. Jahrhunderts erlassenen Gesetzbüchern vorhanden sind, nämlich im Strafgesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen aus dem Jahre 1804 und in dem 1811 ergangenen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch.1 Der in diesen Gesetzbüchern garantierte Schutz bezog sich sowohl auf geborene als auch auf ungeborene Kinder, wobei das Schutzausmaß nach dem Alter des Minderjährigen abgestuft war. Wir werden jetzt darauf eingehen, in welcher Weise der Schutz geboten wurde und wovor die Minderjährigen geschützt waren. Den ersten Bereich stellt der Schutz des ungeborenen Kindes dar und bezieht sich auf sowohl eheliche als auch uneheliche Kinder. Das ungeborene Kind besaß das Recht auf Leben und Erbschutz. Denjenigen, die versuchten, dem Kind bereits in der pränatalen Phase das Leben zu nehmen, drohte eine Freiheitsstrafe von unterschiedlicher Länge je nach der Vollendungsstufe der Tat und deren Folgen. Bei einem gescheiterten Abortversuch musste die Täterin mit einem Halbjahr bis einem Jahr, bei einem vollendeten Abort mit fünf Jahren Gefängnis rechnen.2 Erwies sich der Versuch als gesundheitsschädlich für die Schwangere, konnte bis zehnjährige Freiheitsstrafe verhängt werden. Vorgesehen im Gesetz war auch die Möglichkeit, dass der Vater des Kindes an der Fehlgeburt schuld war. Wurde seine Schuld 1  Kniha práv nad přečiněními hrdelními a těžkými řádu městského, (totiž policye) přestupky (Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen, weiter nur Kniha práv), Wien 1804, Obecný zákoník občanský císařství ­rakouského (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch des österreichischen Kaiserreichs, weiter nur ABGB), Wien 1862. 2  Die Täterinnen konnten Mütter, in der späteren Schwangerschaftsphase Hebammen (Engelmacherinnen) sein. Siehe dazu: Alice Velková, Schuld und Strafe. Von Frauen begangene Morde in den böhmischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 2012.

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bewiesen, drohte ihm eine Strafe von bis fünf Jahren Gefängnis. Der Gesetzgeber dachte auch daran, dass die Fehlgeburt wider Willen der schwangeren Frau stattfinden konnte. Die Strafe war in derartigem Falle gleich: ein bis fünf Jahre Gefängnis.3 Strafbare Handlung war auch die Tötung bzw. Weglegung des Kindes. Das Gesetz setzte voraus, dass die Täterin die Mutter ist. In solchem Falle war die Strafe von der Herkunft des Kindes abhängig. War das Kind im Ehebett gezeugt worden, drohte der Täterin lebenslängliches Zuchthaus; bei einem unehelichen Kind lag die Strafe zwischen zehn und zwanzig Jahren.4 War das weggelegte Kind ohnmächtig, hängte die Strafhöhe von dem Weglegungsort ab. Die Strafe war niedriger, wenn die Mutter ihr Kind in einem öffentlichen Raum weggelegt hatte, wo es bald gefunden werden konnte, und war höher im Falle eines weniger frequentierten Ortes. War das weggelegte Kind gestorben, konnte eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und zehn Jahren zugemessen werden.5 Der Gesetzgeber bemühte sich, dem Kindermord mit der Anordnung vorzubeugen, jede ledige schwangere Frau müsse bei der Entbindung die Hebamme herbeirufen. Sollte die Geburt unerwartet kommen und das Kind war vorzeitig geboren bzw. gestorben, so sollte die Mutter das Kind zur Hebamme bringen und ihr zeigen. Hielt die Frau die Entbindung geheim, drohte ihr eine sechsmonatige Freiheitsstrafe. Gesetzlich bevorzugte war dabei der Schutz der Mutter, denn sie sollte die Strafe erst nach der Entbindungserholung antreten.6 Der Schutz des ungeborenen Kindes war auch im Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehen. Das noch nicht geborene Kind besaß das Erbrecht; in diesem Punkt wurde das Kind im Gesetzbuch als geboren angesehen.7 Der zweite Bereich, in den die beiden Gesetze eingreifen, ist die Familie. Das Bürgerliche Gesetzbuch definiert in erster Linie einen besonderen Schutz von Kindern, Unmündigen und Minderjährigen. Als Kinder gelten die Menschen bis sieben Jahre alt, als unmündig die zwischen 7 und 14, und als minderjährig die Menschen zwischen 14 und 24 Jahren.8 Man wurde volljährig erst im Alter von 24 Jahren. Bis zu diesem Alter, um zu hei3  Kniha

práv, Hauptstück 17, §§ 128–132. práv, Hauptstück 16, § 122. 5  Für die Weglegung an einem öffentlichen Ort drohte Gefängnis von sechs bis zwölf Monaten; war das Kind gestorben, konnte ein bis fünf Jahre Gefängnis verhängt werden. Für die Weglegung an einem nichtöffentlichen Ort wurde die Täterin zum schweren Gefängnis von fünf Jahren und mehr verurteilt. Im Todesfalle drohte der Frau die Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren. Siehe Kniha práv, Hauptstück 18, §§ 133–135. 6  Kniha práv, II. Teil, Hauptstück 8, §§94–95. 7  ABGB, § 22, war das Kind totgeboren, sollte seine Existenz im Erbrecht nicht berücksichtigt werden. 8  ABGB, § 21. 4  Kniha



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raten, brauchte der Junge / das Mädchen eine Zustimmung des Vaters bzw. des Vormundes.9 Bei Empfängnis und Geburt wurden im Bürgerlichen Gesetzbuch die Elternpflichten gegenüber dem Kind genau definiert. Das Gesetzbuch widmet sich an erster Stelle dem ehelichen Kind und erlegt den Eltern die Pflicht auf, das Kind zu erziehen, auf dessen Gesundheitszustand und guten Unterhalt zu achten. Die Eltern waren verpflichtet, ihrem Kind Bildung zu ermöglichen und so für dessen Zukunft zu sorgen.10 Man findet hier eine genaue Rollenzuteilung – der Vater hat dem Kind den Unterhalt zu leisten, die Mutter soll für dessen Gesundheit und Erziehung sorgen. War der Vater gestorben, ging die Unterhaltspflicht auf die Mutter über. Geriet die Mutter in Schwierigkeiten, sollten laut Intention des Gesetzgebers zunächst die Großeltern väterlicherseits, bzw. mütterlicherseits mit der Obsorge helfen.11 Die Kinder waren gegenüber den Eltern mit Gehorsamkeit und Achtung verpflichtet. Ihr Vater verfügte über die väterliche Macht bis zu ihrer Volljährigkeit, d. h. er entschied über ihre Erziehung, Bildung und künftigen Beruf. Im Alter von vierzehn Jahren konnte das Kind seinen Vater um eine andere Bildung bitten; war der Vater damit nicht einverstanden, konnte sich das Kind ans Gericht wenden, das dann entsprechend dem Vermögen und der sozialen Herkunft des Vaters entscheiden sollte. Die Einwände des Vaters sollten dabei berücksichtigt werden. Wenn erforderlich, konnten die Eltern ihr Kind strafen. Die Strafe sollte angemessen sein, ohne die Gesundheit des Kindes zu verletzen.12 Waren die Eltern geschieden, bzw. lebten sie nicht zusammen ohne sich über die Kindererziehung geeinigt zu haben, sollte der Sohn bei der Mutter bis zum Alter von vier, die Tochter bis zum Alter von sieben Jahren bleiben. Der Vater hatte dem Unterhalt beizutragen. Die Kinder konnten der Mutter entzogen werden, falls sie sie schlecht erzog und vernachlässigte; die Erziehungspflicht ging dann auf den Vater über.13 Uneheliche Kinder hatten nicht gleiche Rechte wie die aus dem Ehebett. Im Gesetzbuch wurde genau festgelegt, welche Kinder als unehelich zu betrachten sind: diejenigen, die binnen sechs Monaten nach der Eheschließung oder elf Monate nach der Scheidung bzw. Verwitwen geboren waren.14 Als unehelich betrachtet wurden weiter die Kinder, die nicht in der Ehe geboren waren.15 Derartige Kinder hatten kein Familienrecht, hatten 9  ABGB, § 48–50, neben dem Vormund war zur Eheschließung auch die Gerichtsbewilligung erforderlich. 10  ABGB, § 139. 11  ABGB, § 141 und §143. 12  ABGB, § 144 und §147. 13  ABGB, § 142. 14  ABGB, § 138. 15  ABGB, § 155.

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keinen Anspruch auf den Vatersnamen oder das Wappen. Ihr einziges Recht bestand in der Forderung, von ihren Eltern ernährt, erzogen und versorgt zu werden. Zum Unterschied von dem ehelichen Kind befand sich das uneheliche Kind unter der väterlichen Macht; den Vater sollte in diesem Falle der Vormund vertreten. Der Unterhalt des Kindes war des Vaters Pflicht; im Falle dessen Mittellosigkeit ging diese Pflicht auf die Mutter über. Vorgesehen im Gesetz ist auch die Möglichkeit, dass die Mutter nicht wünscht, dass das Kind vom biologischen Vater erzogen wird, und ermöglichte deshalb, dass sie selbst das Kind erzieht, wobei der Vater der Erziehung entrechtet ist. Hatte sich jedoch gezeigt, dass die Mutter um das Kind nicht gut sorgte, war der Vater verpflichtet, ihr das Kind abzunehmen und bei sich, oder an einem anderen sicheren Ort das Kind zu versorgen.16 Sowohl das Strafgesetzbuch als auch das Bürgerliche Gesetzbuch sehen die Möglichkeit vor, dass einige Eltern ihre Pflichten gegenüber den Kindern nicht erfüllen. Den Eltern konnte eine Strafe auferlegt werden, wenn sie ein wehrloses Kind verlassen, dessen pflichtgemäße Obsorge vernachlässigt oder das Kind aufsichtslos an einem gefährlichen Ort gelassen hatten.17 Gesetzgemäß konnte dem Vater seine väterliche Macht entzogen werden, insbesondere wenn er seine Kinder nicht unterhielt und sie völlig vernachlässigte.18 Falls der Vater seine Rechte gegenüber dem Kind missbrauchte, die Rechte seines Kindes beeinträchtigte und seine Obliegenheiten nicht erfüllte, konnte jedermann diese Tatsache dem Gericht mitteilen und dieses musste die ganze Sache untersuchen und über weitere Maßnahmen gegen den Vater entscheiden.19 So konnte das Gericht dem Vater dessen Rechte gegenüber dem Kind entziehen. Vorgesehen war sogar auch die Möglichkeit, das Kind der Familie abzunehmen. Im Gesetzbuch wurde jedoch keine Meldepflicht festgelegt und es wurde nichts gesagt, was mit dem Kind geschehen sollte, wenn es der Familie entzogen worden war. Die Möglichkeit von Kindesentziehung besteht teilweise im Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1803 und es wird weiter festgelegt, die Eltern müssten in diesem Falle die Kindeserziehungskosten tragen. Die Entziehung drohte, 16  ABGB, §§ 165–169. Waren beide Eltern tot, ging die Unterhaltspflicht für den minderjährigen nichtehelichen Nachkommen auf ihre Erben über, siehe ABGB, § 171. 17  Für das Verlassen des Kindes, wenn es verwundet wurde bzw. starb, lag die Strafe zwischen 3 Tagen und drei Monaten. Die Strafe konnte im Falle einer größeren Pflichtvernachlässigung mit Kostentziehung verschärft werden. Wurde das Kind an gefährlichen Orten unbewacht gelassen und verwundete sich oder starb dabei, konnte die Strafe verlängert werden. Siehe Kniha práv, II. Teil, Hauptstück 8, § 130– 131. 18  ABGB, § 177. 19  ABGB, § 178. Das Kind konnte selbst um Hilfe bitten, oder auch jeder, der wusste, dass das Kind vernachlässigt oder misshandelt wird.



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falls sich bei der ersten Ortsbesichtigung das Kind in Lebensgefahr befand oder wenn die Eltern nach vorherigen Warnungen seitens der Behörden diese Tat zum dritten Mal begangen hatten. Das heißt, dass die Eltern insgesamt dreimal von jemandem aus der Umgebung angezeigt werden mussten, um amtlich anzuerkennen, dass weitere Anwesenheit in der Familie für das Kind gefährlich war. War dies tatsächlich der Fall, sollte die Sache der Obrigkeit angemeldet und ein Vormund für das Kind ernannt werden. Waren die Eltern unfähig, die Unterhaltskosten für ihr Kind zu tragen, das der Obhut eines Anderen anvertraut war, sollte statt ihrer die Obrigkeit diese Kosten tragen.20 Beide Gesetze bestimmen nicht genau, wie die Obsorge für das der Familie entzogene Kind aussehen soll. Nichts garantierte, dass die Obrigkeit das Kind besser versorgen würde als die Eltern, welche die Sorge zwar vernachlässigten, aber dem Kind mindestens gewisses Zuhause gewährten. Frage ist, welches Übel für das Kind größer war, ob in der Familie weiter zu bleiben, in der sie schlechter Behandlung und Hunger ausgesetzt waren, oder der Obrigkeit anvertraut zu sein, wo es dasselbe erwarten konnte.21 Das Strafgesetzbuch ermöglichte es, das Kind der Familie zu entziehen, hat jedoch nicht die Erziehungsform präzisiert, die dem Kind zu gewährleisten war, und initiierte auch nicht die Gründung spezialisierter Anstalten. Sowohl das Bürgerliche als auch das Strafgesetzbuch regelten den Schutz der Kindergesundheit. Davon zeugt die Besorgnis vor der Vernachlässigung der Elternobliegenheiten. Berücksichtigt im Strafgesetzbuch wurden auch die Gesundheit der Säuglinge und deren Beschädigung seitens der Säug­ ammen. Der Amme, welche eine ansteckende Krankheit vor dem Dienstantritt verheimlicht hatte, drohten drei Monate im Gefängnis, verschärft mit physischen Strafen.22 Der dritte Bereich, der in den Gesetzbüchern geregelt wird, ist die Kindererziehung. Die Elternpflicht, ihr Kind ordentlich zu erziehen und in die Schule zu schicken, haben wir schon erwähnt. Wir werden jetzt auf die Vorbeugungsversuche bezüglich der pathologischen Erscheinungen in der Gesellschaft eingehen. In den armen Gesellschaftsschichten war es in dem untersuchten Zeitabschnitt ganz üblich, dass die Kinder zum Betteln missbraucht wurden. Denjenigen, die Kinder nicht nur zum Betteln, sondern auch zur Prostitution missbrauchten oder die Kinder misshandelten, drohten 20  Für Kindesmisshandlung drohte den Eltern Gefängnis zwischen einer Woche und drei Monaten. Siehe Kniha práv, Teil II., Hauptstück 10., §§ 166–167. 21  Rudolf Secký, Smilování a útrpnost s  ubohými a nešťastnými. Obrázky ze života těch, na něž rádi zapomínáme (Erbarmen und Mitleid mit Armen und Unglücklichen. Bilder aus dem Leben derjenigen, die wir gerne vergessen), Praha 1910. 22  Kniha práv, Teil II., Hauptstück 8., § 132.

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gesetzliche Strafen. Wurde ein Mädchen unter vierzehn sexuell missbraucht, drohte dem Täter eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren; sollte das Opfer dabei verwundet werden, lag die Strafe zwischen zehn und zwanzig Jahren Gefängnis. Außerdem sollte auch der Inzest bestraft werden.23 Es gab also Gesetze gegen den Missbrauch, aber wie sah die Praxis aus? Die Strafhöhe war in derartigen Fällen minimal. Ähnlich wie heute war es schwer für das Mädchen, den Täter anzuzeigen, insbesondere wenn es sich um den Vater bzw. Vormund, also um den Nährvater handelte. Angaben über die Bestrafung der Täter, oder mindestens über deren Ladung zu Gericht sind sehr selten. In dem von mir untersuchten Zeitabschnitt konnte ich keine Information über die Ermittlung bzw. Bestrafung eines Zwischenfalls dieses Typs finden. Besser auffindbar sind derartige Taten in der Tagespresse24 oder in der zeitgenössischen philanthropischen Literatur;25 entsprechende Informationen sind auch den in Stadtarchiven vorhandenen Dokumenten zu entnehmen.26 Über die Tatsache, dass die Strafverfolgungsorgane manchmal machtlos waren, zeugt Bohuslav Gebauers Bericht über den regelmäßigen Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Tochter seit dem Mädchenalter von zwölf Jahren. Als dies herauskam, wurde der Vater zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach seiner Rückkehr nahm er den intimen Verkehr mit seiner Tochter wieder auf. Der Täter kam diesmal ohne Strafe davon, denn die Tochter verweigerte das Zeugnis bei Gericht und es gab keinen anderen Zeugen.27 Die Täteranzeige war umso schwieriger, dass das Mädchen inzwischen stigmatisiert wurde; es wurde nämlich allgemein vorausgesetzt, sie sei selbst an der Vergewaltigung schuld, denn sie habe den 23  Kniha práv, Teil I., Hauptstück 15., § 112. Über die Schändung einer minderjährigen Person unter vierzehn Jahren, § 113 Naturwidrige Unzucht und Inzest. Strafe 6 Monate bis 1 Jahr (§ 114). 24  So z. B. 1887: „Josef Lexa aus Trnávka, 28 Jahre alt, arbeitslos, lockte am 22. April das vierjährige Mädchen Marie Zemanová in Trnávka, das auf dem Dorfplatz spielte, in sein Haus herein, und weil niemand zu Hause war, missbrauchte das Mädchen zur Befriedigung seiner geilen Begierden und so hat das Schändungsverbrechen begangen. Die Eltern des genannten Kindes machten darüber eine Anzeige an der Gendarmerie und auf deren Grundlage wurde Lexa verhaftet und vor Gericht gestellt.“ Pernštýn, Jg. 8, Nr. 36, vom 7.5.1887, S. 3. 25  Zum Beispiel Lydia von Wolfring, Erster Oesterreichischer Kinderschutzkongress. Die Kindermisshandlungen, ihre Ursachen und die Mittel zur ihrer Abhilfe, Wien 1907. 26  So versuchte ein Bürger in Chrudim seine minderjährigen Dienstmädchen zu vergewaltigen. SOkA Chrudim, AM Chrudim, Inv. Nr. 872, sg. 13 / 1 / 1–85, Kart. 109, zit. nach Milena Lenderová / Karel Rýdl, Radostné dětství? Dítě v  Čechách devatenáctého století (Freudige Kindheit? Das Kind in Böhmen im 19. Jahrhundert), Praha 2006, S. 302. 27  Bohuslav Gebauer, Východočeské otrokářství (Ostböhmischer Sklavenhandel), Praha 1906, S. 40–41.



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Anstoß dazu gegeben.28 Es war unmöglich festzustellen, ob auch Jungen dieser Gefahr ausgesetzt wurden. Verschiedene Erwähnungen deuten darauf, dass es auch homosexuellen Verkehr zwischen Minderjährigen und Erwachsenen gab.29 Die Möglichkeit einer Vergewaltigung von Knaben bzw. Jungen ist in den Gesetzen nicht erwähnt und diese Möglichkeit wurde auch in der zeitgenössischen Diskussion nicht reflektiert. Die Verführung von Sohn bzw. Tochter wurde dagegen im Strafgesetzbuch vorgesehen. Der Gesetzgeber ließ in diesem Falle den Eltern bzw. dem Vormund freie Hand und weitere Schritte waren von ihrer Entscheidung abhängig. Es besteht hier wieder eine unterschiedliche Beurteilung der sexuellen Erfahrungen von Mädchen und Jungen. Bei Mädchen folgt eine Information über die Strafe für diese Tat, bei Jungen heißt es, die Täterin sei ähnlich zu strafen, aber ihre Anzeige ist den Eltern überlassen.30 Die Eltern konnten bestraft werden, wenn sie ihren Sprössling zur Schließung einer ungültigen Ehe gezwungen hatten;31 sie konnten auch wegen Kuppelei bestraft werden. Handelte sich um eine / n Minderjährige / n, stellte die Kuppelei eine Straftat dar; im Falle einer erwachsenen Person wurde die Tat als Sittlichkeitsvergehen angesehen.32 Als potentielle Täter figurieren im Gesetzbuch die Eltern, Vormunde, Erzieher und Lehrer. Die Strafe für Kuppelei war ein bis fünf Jahre Gefängnis.33 Trotz den gesetzlichen Maßnahmen sind Kuppeleifälle belegt worden. Schuld daran trugen vor allem die Eltern bzw. Vormunde von verwaisten Mädchen. Die Kuppleropfer waren meistens arme Mädchen, die in die Stadt kamen um Arbeit zu suchen, sowie Mädchen aus armen Familien in der Stadt. Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts gab es in Böhmen und Mähren keine Besserungs- bzw. Schutzanstalt für Mädchen, obwohl es bekannt war, dass Anstalten dieses Typs im Ausland existierten.34 Erst eine Initiative der Frauenbewegung führte 1885 zur Gründung eines „Schutzver28  Georges Vigarello, Histoire du viol. XVe–XXe siècle. Paris 1998, S. 203. Zit. laut M. Lenderová / K. Rýdl, Radostné dětství, S. 301–302. 29  Homosexueller Verkehr zwischen Minderjährigen und Erwachsenen im 19. Jahr­ hundert. Siehe zum Beispiel B. Gebauer, Východočeské otrokářství, S. 27. 30  Kniha práv, Teil II., Hauptstück 13., §§ 249–250. 31  Kniha práv, Teil II., Hauptstück 13., § 253. 32  Kniha práv, Teil I., Hauptstück 15., §  115 und Teil II., Hauptstück 13., §§ 254–260: Ein Vergehen beging derjenige, der Prostituierten Wohnung oder Obdach gewährte, Kunden vermittelte oder in anderer Weise als ihr Vermittler auftrat. Die Strafe für derartige Vergehen war Gefängnis von drei bis sechs Monaten. Die Strafe konnte verschärft werden. Für das Kuppeleivergehen konnte auch der Gastwirt bestraft werden, der den Prostitutionsbetrieb ermöglichte. 33  Kniha práv, Teil I., Hauptstück 15., § 116. 34  Milena Lenderová, Chytila patrola aneb prostituce za Rakouska i republiky (Von der Patrouille erwischt oder die Prostitution in der österreichischen Monarchie und in der tschechoslowakischen Republik), Praha 2002, S. 156–157.

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eins für verlassene und verwahrloste Mädchen“, der sich deren Umerziehung widmete.35 Zum Unterschied von der Kuppelei wurde das Betteln für ein Sittlichkeitsvergehen gehalten, auch wenn die Bettler Kinder unter vierzehn waren, die von ihren Eltern bzw. Vormunden zum Betteln gezwungen wurden. Dem Täter, falls erwischt, drohten acht Tage bis ein Monat Gefängnis. Ähnliche Strafe drohte den Eltern bzw. dem Vormund, wenn sie das Kind jemandem zwecks Bettelei zur Verfügung stellten.36 Handelte es sich um eine wiederholte Tat, konnte dem Vater bzw. dem Vormund seine Macht über dem Kind entzogen werden. Der vierte Bereich, auf den sich der Kinderschutz bezog, war der Schutz vor den Auswirkungen unüberlegter Handlungen. Hier wurde die geistige Unreife des Minderjährigen vorausgesetzt. Das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1803 unterscheidet genau die Strafbarkeit im Falle eines Verbrechens und die im Falle eines Vergehens. Hatten Minderjährige eine Tat begangen, die als Verbrechen betrachtet werden konnte, wurde ihnen vom Gesetz Straflosigkeit bis zum Alter von vierzehn Lebensjahren garantiert.37 Mildernder Umstand war auch das Alter unter zwanzig Jahren.38 In diesem Falle sollte der Täter bestraft werden, als ob er nur ein Vergehen begangen hätte; bei einem wichtigeren Vergehen konnte die Strafe zwischen einem Tag bis zu sechs Monaten Gefängnis liegen. Im Gefängnis sollten dem Gesetz nach die Minderjährigen getrennt gehalten werden.39 In der Praxis konnte sich jedoch diese Bestimmung als problematisch erweisen, denn wenige Gerichte verfügten über die Möglichkeit, minderjährige Täter von den Erwachsenen zu trennen. Vorgesehen im Gesetzbuch war auch die potentielle Rezidive, die als belastender Umstand galt. Der Richter sollte bei der Bemessung der Strafe auch die Gefährlichkeit der Handlung, das bisherige Benehmen des Übeltäters sowie dessen Alter berücksichtigen. Nach der Bemessung der Straffe war der Minderjährige von einem Priester oder Katecheten über die Gefährlichkeit seiner Handlung zu belehren.40 Weniger wichtige Taten wurden der sog. Hausdisziplin überlassen, d. h. das Kind war

35  Marie Červinková Riegrová, Ochrana chudé a opuštěné mládeže, rozhledy po lidumilství v  Evropě (Schutz der armen und verlassenen Jugendlichen, Überblick über die Philanthropie in Europa), Praha 1894, S. 249–303. Dazu siehe auch M. Len­ derová, Chytila patrola, S. 134. 36  Kniha práv, Teil II., Hauptstück 13., §§ 264–265. 37  Kniha práv, Teil I., Hauptstück 1., § 2d. 38  Kniha práv, Teil I., Hauptstück 4., § 39a. 39  Kniha práv, Teil II., Hauptstück 3., § 28a. 40  Kniha práv, Teil II., Hauptstück 3., §§ 29–30.



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von seinen Eltern zu strafen. In Ausnahmefällen, z. B. wenn das Kind keine Familie hatte, sollte der Fall der Obrigkeit übergeben werden.41 Neben den oben erwähnten Bereichen, die von dem Gesetz geregelt waren, widmete sich das Bürgerliche Gesetzbuch auch der Problematik von Waisen, deren Erbansprüchen, Vormundschaftspflege, usw. Das Gesetz ermöglichte auch die Adoption bzw. Ziehkinderpflege. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch in seiner Fassung aus dem Jahr 1811 hatte das Kind Recht auf Pflege von beiden Eltern. Das im Eheband geborene Kind kannte sowohl seine Mutter als auch den Vater. Dieses Vorrecht hatten nicht die in der Landesentbindungsanstalt und im Findelhaus geborenen Kinder. Es handelte sich um Anstalten, die bereits 1789 errichtet wurden. Bereits bei der Gründung der Entbindungs- und Findelanstalt wurde angeordnet, niemand solle die Mutter nach Herkunft und Vaternamen des Kindes fragen. Die Vaterrolle übernahm der Staat, obwohl gesetzgemäß vor allem der Vater und im Falle dessen Mittellosigkeit die Mutter für den Unterhalt des unehelichen Kindes zu sorgen hatte. Die Geheimhaltung der Väter der in der Entbindungsanstalt geborenen Kinder sollte offensichtlich dem Staat ermöglichen, über die hier geborenen Kinder nach eigenen Bedürfnissen zu verfügen, denn gesetzgemäß durfte über Erziehung und Bildung des Kindes nur dessen Vater entscheiden. Ein zusätzlicher Grund für die Geheimhaltung des Vaternamens war wahrscheinlich die Sorge des Gesetzgebers, dass die Frau nicht den Namen des tatsächlichen Vaters, sondern eines anderen Mannes angeben würde. Die Vaterrolle des Staates hatte einen Sinn, solange die Findelpflege bis zum Alter von fünfzehn Jahren dauerte, weil der Staat über den Lehre- bzw. Dienstantritt des Kindes, also über dessen Zukunft entscheiden konnte. Diese Staatspflegedauer wurde jedoch allmählich verkürzt und damit auch die Zeit, während der die Kinder mittels Findelhausverwaltung unter dem Staatsschutz standen. Zusammen mit der Pflegekürzung wurde so auch die Zeit verkürzt, während welcher der Staat über diese Kinder entscheiden konnte. Der Landesausschuss verzichtete nach der Verkürzung der Findelpflege auf sechs Jahre im Jahre 1872 auf seine Verantwortung für das Kind und übergab sie in die Kompetenz der Selbstverwaltungsorgane.42 Das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch waren nicht die einzigen Normativen, die sich auf den als Kindheit bezeichneten Begriff 41  Kniha

práv, Teil II., Hauptstück 3., § 32. dem Beschluss des böhmischen Landestags vom 3.12.1872 wurde der normale Zeitabschnitt von Findelpflege auf sechs Jahre beschränkt. Die ab 1.1.1873 in der Entbindungsanstalt geborenen und in die Provinzpflege anbefohlenen Kinder sollten mit ihrem sechsten Geburtstag ihrer Mutter, bzw. ihrer Heimatsgemeinde übergeben werden. 42  Mit

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beziehen. Anfang des 19. Jahrhunderts existierten zahlreiche Verordnungen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Als Beispiel sei das Bemühen erwähnt, die Pockenimpfung zu erweitern, sowie die Verordnung über Einschränkung der Kinderlohnarbeit in Fabriken mit der Altersgrenze von neun Jahren.43 Gleichzeitig, zur Zeit der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft, erschien das Konzept von Kinderkriminalität und Kinderdelinquenz, in Zusammenhang mit den in der Gesellschaft stattfindenden Änderungen. Es ist unumstritten, dass sowohl das Strafgesetzbuch als auch das Bürgerliche Gesetzbuch in die bestehende Gesetzgebung Innovationen eingeführt hatten, die auf naturrechtlichen Theorien basierten. Das Bürgerliche Gesetzbuch ging darüber hinaus in mancher Hinsicht seiner Zeit voraus, wie bezeugt von seiner äußerst langen Geltungsdauer.44 Abstract Legislative protection of children in the early 19th century Protective elements contained in the codes enacted in the early 19th century are discussed, namely in the Kniha práv nad přečiněními hrdelními a těžkými řádu městského, (totiž policye) přestupky (Penal Code), issued in1804, and the General Civil Code enacted in 1811. The protection provided by the codes applied to children both already born and not yet born, legitimate and illegitimate. Children under the age of seven enjoyed the best protection. Both codes distinguished between the legitimate and the illegitimate children; those born out of wedlock enjoyed fewer rights that the legitimate children, and the sentence for abandoning or killing such children was lower; yet these laws guaranteed to all children the right to protected life, the right to nourishment, education, and the protection of health. In the case of ill-treatment, the child could be removed from the family, but his / her next education failed to be specified.

43  Siegmund Kraus, Kinderarbeit und gesetzlicher Kinderschutz in Österreich, in: Bernatzik Edmund / Philippovic Eugen, Wiener Staatswissenschaftliche Studien. Fünfter Band, Wien und Leipzig 1904, S. 249–451. 44  Ilona Schelleová / Karel Schelle, Civilní kodexy 1811 – 1950 – 1964 (Die Zivil­ kodexe 1811 – 1950 – 1964), Brno 1993, S. 20–21.

Geschichte des Waisenvormundinstituts in den Böhmischen Ländern vor 18111 Pavla Slavíčková Der Schutz von Waisen- und Kinderinteressen fällt im Allgemeinen ins Konzept der bürgerlichen Gesellschaft, wie auch immer diese definiert wird.2 Der historische Blick auf diese Problematik wird jedoch gewöhnlich nur auf die soziale Ebene eingeschränkt, auf weggelegte, kranke bzw. arme Kinder, die auf die Pflege in Waisenhäusern und anderen Anstalten von Armenpflege angewiesen sind, und lässt völlig außer Acht die Majoritätsgruppe von Kindern, die im Rahmen der Mehrheitsgesellschaft und im Einklang mit deren Regeln aufwachsen. Deswegen wird gewöhnlich als Ansatzpunkt der Institutionalisierung von Rechtsschutz in der österreichischen Monarchie erst das Jahr 1863 angeführt, als das Reichsheimatgesetz Nr. 105, anknüpfend an das Landesarmengesetz (für Böhmen Nr. 59 aus dem Jahr 1868, gebilligt wurde. Die Schlüsselprinzipien des Rechtsschutzes insbesondere von verwaisten Kindern waren jedoch in der bestehenden Rechtsordnung bereits viel früher verankert worden. Grundlage des modernen Rechtsschutzes von Waisen ist die Kinderpflege und Kindererziehung, Wahrung der Interessen und Schutz des Vermögens des Minderjährigen wegen dessen körperlicher und geistiger Unreife. Schlüsselinstitut des rechtlichen Kinderschutzes in der vormodernen Zeit war die Vormundschaft. Diese ist bereits in den ältesten Rechtssammlungen zu finden, und zwar sowohl auf der Landes- als auch der Stadtebene. Während sie in dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, ähnlich wie im römischen (allgemeinen) Recht in zahlreichen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen 1  Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Grantprojektes von GA ČR „Rechtsschutz der Minderjährigen in der frühen Neuzeit“, Reg. Nr. 404 / 09 / P173. 2  Martina Blafková, Občanská společnost: Spory mezi generalisty, maximalisty a minimalisty (Die bürgerliche Gesellschaft: Streite zwischen Generalisten, Maximalisten und Minimalisten), in: E-polis.cz, 25. Februar 2008, http: /  / www.e-polis.cz /  politicke-teorie / 233-obcanska-spolecnost-spory-mezi-generalisty-maximalisty-a-mi nimalisty.html; Lubomír Brokl, Hledání občanské společnosti (Suche nach der bürgerlichen Gesellschaft), Praha 2002; Karel Müller, Češi a občanská společnost: Pojem, problémy, východiska (Die Tschechen und die bürgerliche Gesellschaft: Begriff, Probleme, Ausgangspunkte), Praha 2002.

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Rechtsvorschriften rezipiert wurde, besteht ein Unterschied zwischen Vormundschaft (tutela) und Pflegschaft (cura); dem böhmischen und mährischen Landes- und Stadtrecht bleibt dieser Unterschied jedoch fremd und die Sorge für den die väterliche Gewalt losen Waisen wurde als ein einziges Institut angesehen.3 Nach František Čáda war das Waisenschutzsystem an der Wende des 14. Jahrhunderts ziemlich gut konstruiert und die konkreten Bestimmungen in Rechtssammlungen waren fast tadellos.4 Der Grund, meint er, seien die heiklen, vom Landgericht verhandelten Waisenfälle. Kontrovers war insbesondere die Reichweite des tafelgemäß festgelegten Vormundes5 und ob auch erwachsene Geschwister des Waisen die Vormundschaft übernehmen und über das Vermögen des jüngeren Bruders oder der jüngeren Schwester verfügen können. „právni kniha“ (das Gesetzbuch) von Ondřej z  Dubé enthaltend die Landesrechte, an das sich Čáda lehnt, basierte in diesen beiden Fällen bei der Formulierung von Grundregeln auf der Landgerichtspraxis, konnte jedoch keine endgültige Lösung bieten. Insbesondere der letzte Widerspruch überdauerte das nächste Jahrhundert und konnte erst durch den Landgerichtsspruch aus dem Jahr 1496 gelöst, von der Wladislaw-Landesordnung bestätigt und in der Landesordnung aus dem Jahr 1530 endgültig entschieden werden.6 Das Gesetzbuch von Ondřej z  Dubé stellen übrigens die erste Sammlung dar, in der den vormundschaftlichen Verwaltungsregeln ziemlich viel Aufmerksamkeit gewidmet ist.7 Die erste Definition der Vormundschaft und zugleich die älteste systematisch geordnete Übersicht der Rechtsnormen für dieses Institut ist erst einhundert Jahre später Viktorín Kornel ze Všehrd zu verdanken. Ältere Rechtssammlungen unterschätzen zwar die Bedeutung dieses Instituts für die Praxis nicht, enthalten aber nur ein paar Artikel ohne das Ziel, die Problematik komplex zu erfassen.8 Všehrd widmete in seinem 3  Jan Kapras, Poručenství nad sirotky v  právu českém se zřetelem k  právům římskému, německému a v  Rakousích platnému (Vormundschaft über Waisen im böhmischen Recht mit Rücksicht auf das römische, deutsche und in Österreich geltende Recht), Praha 1904, S. 11. 4  František Čáda, Kniha Ondřeje z  Dubé a české právo kolem roku 1400 (Das Buch von Ondřej z  Dubé und das böhmische Recht um 1400), in: František Čáda (Hrsg.), Nejvyššího sudího Království českého Ondřeje z Dubé Práva zemská česká, Praha 1930, S. 58. 5  Es handelt sich um eine der üblichsten Formen von Vormundernennung. Der Vormund wurde in diesem Falle vom Vater ernannt, der darüber einen Eintrag in Landtafeln machen ließ. Siehe J. Kapras, Poručenství, S. 24. 6  F. Čáda, Kniha Ondřeje z  Dubé, S. 59; J. Kapras, Poručenství, S. 83. 7  František Čáda (Hrsg.), Nejvyššího sudího Království českého Ondřeje z  Dubé Práva zemská česká, Praha 1930, Art. 96–99. 8  Vincenc Brandl (Hrsg.), Kniha rožmberská (Das Rosenberger Buch), Praha 1872, Art. 72, 123, 126, 188; František Palacký (Hrsg.), Řád práva zemského (Die



Entwicklung des Instituts der Waisenvormundschaft183

Werk „Knihy devatery“ (Neun Bücher) der Vormundschaft insgesamt zehn, bzw. sechzehn Kapitel im Buch Fünf, bezeichnet in der Edition als 33 bis 43, bzw. 49, in denen, beginnend mit der Definierung des Instituts, die Hauptprinzipien der Vormundschaftsverwaltung und deren Kontrolle zusammengefasst sind. Aus praktischen Gründen sind zwischen einzelne Kapitel auch Vorschriften über Vereine sowie über die Altersbestimmung von Waisen eingelegt.9 Auch in dem ein wenig älteren „Kniha tovačovská“ (Tobitschauer Buch) ähnlich wie in dem „Kniha drnovská“ (Drnover Buch) ist die Vormundschaftsproblematik in mehreren nacheinander folgenden Bestimmungen dargelegt, deren Inhalt jedoch nicht so erschöpfend behandelt wird wie in Všehrds Erläuterung.10 Die Wladislaw-Landesordnung und deren nicht sehr gelungene, 1530 herausgegebene Überarbeitung enthält eine selbständig betitelte Passage über Waisen sowie weitere, an verschiedenen Orten verstreute Bestimmungen über die Vormundschaft.11 In der böhmischen Landesordnung von 1549 ist dieser Problematik ein selbständiges Kapitel gewidmet, betitelt „O sirotcích a poručenství“ (Über die Waisen und die Vormundschaft), das eine umfangreiche Einleitung (Art. F 11) enthält, welche offensichtlich aus der vorherigen Landesordnung übernommen wurde, samt Beschreibung sämtlicher, mit der Vormundernennung und der Waisengutsverwaltung verbundenen Formalitäten. In den nachfolgenden vierzehn Absätzen (Art. F 12 bis F 25) wird auf weitere konkrete, mit der Wirkung dieses Instituts verbundene Fälle eingegangen. Die einzelnen Artikel weisen zwar nicht mehr die Form konkreter Gerichtssprüche auf, sind jedoch nicht systematisch geordnet. Der letzte Artikel dieses Kapitels (Art. F 25) ist eine Umschrift des von Wladislaw Jagello erlassenen Privilegs, in dem des Herrschers Heimfallansprüche geregelt sind. Darüber hinaus gibt es in verschiedenen Kapiteln der Landesordnung auch mehrere Landesrechtsordnung), in: Archiv český Nr. II, Praha 1842, Art. 33, 39, 40; Ondřeje z  Dubé Práva zemská česká, Art. 16, 97, 98, 148, 149, 155, 166. Siehe auch die Einleitung dieser Edition, S. 58–59. 9  Hermenegild Jireček (Hrsg.), O právích země české knihy devatery M. Vik­ torina ze Všehrd (Über die Rechte des böhmischen Landes neun Bücher von M. Viktorin ze Všehrd), Praha 1874, Buch. V., Kap. 33–49. 10  Vincenc Brandl (Hrsg.), Kniha Tovačovská aneb Pana Ctibora z Cimburka a z  Tovačova Pamět obyčejů, řádů, zvyklostí starodávných a řízení práva zemského (Das Tobischauer Buch oder Herrn Ctibors von Cimburk und von Tobischau Erinnerung an Bräuche, Ordnungen, alte Gewohnheiten und Landesrechtsverwaltung), Brno 1868, Art. 158–164. Vgl. Vincenc Brandl (Hrsg.), Kniha drnovská (Das Drnover Buch), Brno 1868, S. 73–76. 11  Petr Kreuz  / Ivan Martinovský (Hrsg.), Vladislavské zřízení zemské a navazující prameny (Die Wladislaw-Landesordnung und die anknüpfenden Quellen), Praha 2007, Art. 105–111 (nicht alle beziehen sich auf die Waisenproblematik!), weiter Art. 167, 171, 204, 340, 353, 361, 369, 370, 375, 389, 480, 513, 514, 519, 520, 524, 526, 529, 536.

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weitere Artikel über Vormunde.12 Die mährischen Landesordnungen aus den Jahren 1535 und 1562 basierten auf dem Tobitschauer Buch und erreichten nicht die in den böhmischen Landesordnungen stattfindende Systematisierung.13 Die böhmische und mährische Erneuerte Landesordnung rezipierte zwar die Rechtsvorschriften sowohl aus den vorigen Landesordnungen als auch aus der Stadtrechtskodifizierung durch Pavel Kristián z Koldína; trotzdem erreicht sie nicht die hohe Bearbeitungsstufe von Waisen- und Vormundschaftssachen wie im Falle der Stadtrechte.14 Wahrscheinlich auch aus diesem Grunde mussten einige Artikel umgearbeitet bzw. ergänzt und Nachträge in den Novellen und Deklaratorien veröffentlicht werden.15 Auf der Stadtrechtsebene ist das Institut von Waisenvormundschaft in der bereits erwähnten Schlüsselkodifizierung des Stadtrechts, also in den Stadtrechten des Königreichs Böhmen sehr detailliert behandelt worden, wie darüber anderswo berichtet wird.16 Auf die Vormundschaft wird dort, ähnlich wie in Všehrds Neun Büchern, in einem besonderen Kapitel betitelt De tutela, de tutoribus et curatoribus popillorum (Über Vormundschaft und Vormunde der Waisen und deren Güter) mit insgesamt 34 Artikeln eingegangen. In den älteren Stadtrechtssammlungen, wie zum Beispiel im Gesetzbuch von Brikcí z Licska, ist hingegen unvergleichbar weniger Raum der Vormundschaft vorbehalten, obwohl auch dort diese Thematik ein selbständiges Kapitel bildet, benannt O poručenství a správcích statkuov a dětí (Über Vormundschaft und Vormunde von Gütern und Kindern), das jedoch nur sieben Artikel enthält. Gleiche sieben Artikel sind auch im Kapitel De 12  Josef Jireček / Hermenegild Jireček (Hrsg.), Zemská zřízení království českého 16. věku (Landesordnungen des Königreichs Böhmen im 16. Jahrhundert), Praha 1882: Landesordnung von 1549: Art. F 11, C 25, D 20, D 21, D 30. Vergleiche mit der Landesordnung von 1564: Art. I 54 bis I 67, B 48, C 10 (nur in diesem ZZ), C 36, C 37, C 48, C 62. 13  František Čáda (Hrsg.), Moravské zřízení zemské z  roku 1535 spolu s  tiskem z roku 1562 nově vydaným (Die mährische Landesordnung von 1535 neu herausgegeben zusammen mit dem Druck von 1562), Praha 1937, Art. 56, 58, 78–84, 99, 103, 104, 105, 135, 146. 14  Hermenegild Jireček (Hrsg.), Verneuerte Landes-Ordnung des Erb-Markgraf­ thums Mähren. Obnovené zřízení zemské dědičného markhrabství moravského 1628, Brünn 1890, Kap. LXXIX, Art. 396–415. 15  Novely a Deklaratoria (Novellen und Deklaratorien), in: Karel Malý / Ladislav Soukup, Vývoj české ústavnosti v  letech 1618–1918 (Geschichte der böhmischen Verfassung 1618–1918), Praha 2006, Ad rubricam O poručenství, Art. H.h.9-H.h.12. 16  Pavla Slavíčková, Rodinné právo v  Právech městských Království českého (Das Familienrecht in Stadtrechten. Kommentar für die zu erscheinende Edition von Stadtrechten), im Druck; dies., Právní podstata poručnické správy sirotků v raném novověku (Die rechtliche Grundlage der Vormundschaft von Waisen in der frühen Neuzeit), Acta Universitatis Palackianae Olomucensis, Facultas Philosophica, Reihe Historica 34, 2008, S. 45–52.



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curatoribus des Gesetzbuchs der Stadt Brünn zu finden, von dem übrigens Brikcí seinen Text übernommen hat. Während Brikcí den Text der einzelnen Artikel fast buchstäblich umschrieb, hat er, wie es bei ihm üblich ist, nur die Ortsnamen im ersten Satz geändert bzw. ausgelassen und die Namen der einzelnen Vorschriften meistens ganz unterschiedlich angeführt, wobei die Überschrift des jeweiligen Artikels auf dessen Inhalt nicht immer klar deutet, eher umgekehrt.17 Die Bestimmungen bezüglich Vormundsachen wurden von Brikcí angesichts der älteren Magdeburger Rechtssammlungen ziemlich kurz verfasst. Die Magdeburger Rechtsbücher von Litoměřice / Leitmeritz widmeten sich der Vormundschaft in mehreren Kapiteln, und zwar sowohl in dem Weichbildbuch als auch in dem Distinktionenbuch. Kapitel 28 der erstgenannten Sammlung, betitelt Über Vormundschaft, definiert den Vormund als „Vertei­ diger… vor Recht und derartige Verteidiger sind im lateinischen Recht als tutores genannt.“18 Auf die Vormundschaft von Waisen wird auch in zehn nächsten Artikeln, Kapiteln 29 bis 39,19 und gleich im ersten Teil des Distinktionenbuchs eingegangen, wobei hier nur teilweise das wiederholt wird, was im Weichbildbuch bereits besteht.20 Im Olmützer Meißnerbuch ist der Vormundschaft im ersten Buch das Kapitel  41 Von vormund und wer ge­ seyn mag gewidmet, das insgesamt 22 Artikel enthält.21 Vormundschaft figuriert auch im Extrakt, in dem die wichtigen Prinzipien dieses Rechtsinstituts treffend zusammengefasst sind, wie sie jahrhundertelang im Leitmeritzer Gebiet des Magdeburger Rechts angewendet wurden und selbstverständlich auch in Reaktion darauf; in Srovnání (Vergleich), andererseits, wie es bei ihm üblich ist, wird die Qualität der Prager Rechte gegenüber dem Magdeburger Recht hervorgehoben.22 17  Miroslav Flodr (Hrsg.), Právní kniha města Brna z poloviny 14. století (Rechtsbuch der Stadt Brünn aus der Mitte des 14. Jahrhunderts), Teil I., Brno 1990, Art. 141–147. 18  Práwa sazská (Die sächsischen Rechte), http: /  / www.psp.cz / kps / knih / prawa, fol. 142r. 19  Práva saszká, Capitolum 29–39, 142r-148v. Und weiter: fol. 213v-214r, fol. 214r. 20  Práva sazská, První kniha (Erstes Buch). fol. 300v-326r. 21  Vladimír Spáčil / Libuše Spáčilová (Hrsg.), Míšeňská právní kniha. Historický kontext, jazykový rozbor, edice (Das Meißener Gesetzbuch. Historischer Kontext, sprachliche Analyse, Edition), Olomouc 2000., Art. I.41.1–I.41.22. 22  Hermenegild Jireček (Hrsg.) Extrakt hlavnějších a přednějších atikuluov z práv Sasských anebo Magdburských (Ein Extrakt der wichtigsten Artikel aus den Sächsischen oder Magdeburger Rechte), Jeho Mti. Císařské, Maximilianovi Druhému etc. podaný od Litoměřických i jiných měst týchž práv užívajících (Seiner kaiserlichen Gnade Maxmilian dem Zweiten etc. gegeben von den Leitmeritzern sowie von anderen, dieselben Rechte nutzenden Städten). 13. Februarii Anno etc. 1571, in:

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Nach Všehrds Definition heißt die Vormundschaft, „seine Kinder und sein Gut, die einer in den Tafeln zu pflegen und zu vermehren, nicht aber zu vermindern hat, nach seinem Willen durch Tafeln oder Testament, auf die mächtige königliche Urkunde anvertrauen und nach seinem Tode Kinder und sein Gut, erblich und frei, oder Lehens- und Pfandgut zedieren.“23 Všehrd, wie es in der Einleitung und im Schlussteil seiner Neun Bücher wiederholt erwähnt ist, basierte bei der Verfassung seiner Sammlung insbesondere auf Sprüchen des Landesgerichts und des alten Landesrechts im Allgemeinen, „was im Lande fürs Recht gehalten und durch Tafelerkennt­ nisse oder Gebräuche durchgeführt werden kann.“24 Während hier einige ältere Rechtssammlungen, wie Maiestas Carolina, völlig übergangen sind, waren ihm dagegen andere minimal bekannt und er schöpfte trotzdem von ihrem Inhalt.25 Keine der erwähnten Quellen enthält jedoch die zitierte Definition der Vormundschaft, sodass ihre Autorschaft vielleicht ihm zuzuschreiben ist. Seine Formulierung war dann offensichtlich Inspiration für den ersten Teil der in den Stadtrechten angeführten Definition, wo buchstäblich steht: „Vormundschaft heißt Schutz, Gewalt und Obrigkeit über eine freie Person zu Pflege und Schutz dieser Person, welche wegen Jugend und Kindesalter und Unmündigkeit weder sich selbst noch ihre vom Recht be­ stätigten und gegebenen Sachen besorgen und wahren kann.“26 Die Rezeption aus den Neun Büchern wird sowohl von Jan Kapras27 als auch von Jaromír Štěpán bestätigt.28 Dem ersten Absatz folgt im Gesetzbuch noch ein zweiter Teil, nach dem „Vormundschaft heißt die Anvertrauung von Kindern und deren Gut der Person bzw. den Personen, auf welche die Vor­ Spisy právnické o právu českém v  XVI-tém století, Vídeň / Wien 1883: Extrakt, Art. 26; Srovnání (Vergleich) Art. ad 26. 23  O právích země české knihy devatery (Neun Bücher über die Rechte des böhmischen Landes), Buch V, Kap. 33, Art. 1. 24  O právích země české knihy devatery (Neun Bücher über die Rechte des böhmischen Landes), Zavřenie všech knih (Abschluss aller Bücher), Edition S. 453– 460. 25  Právní kniha (Das Gesetzbuch von) Ondřeje z  Dubé, Řád práva zemského, Officium circa tabulas, Řád deskový, Ordo agendi minoribus terrae judicii officialibus praescriptus, Ordo taxarum, Práva písařská. Siehe Einleitung in der Edition von O právích země české knihy devatery (Neun Bücher über die Rechte des böhmischen Landes), S. XII. Es bestehen gewisse Zweifel über das Rosenberger Buch. Während es von Hermenegild Jireček als Quelle von Všehrd noch bezweifelt, die späteren Autoren meistens nicht mehr. 26  Josef Jireček (Hrsg.), M. Pavel Kristián z Koldína Práva městská království českého a markrabství moravského (Die Stadtrechte des Königreichs Böhmen und der Markgrafschaft Mähren), Praha / Prag 1876, Art. D V, Abs. I. 27  J. Kapras, Poručenství, S. 11. 28  Jaromír Štěpán, Studie o kompilační povaze Koldínových Práv městských (Abhandlung über die Kompilationsnatur von Koldíns Stadtrechten), Praha 1940.



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mundsarbeit und Vormundspflichten von dem Vater oder Großvater dersel­ ben Waisen aufgelegt wird.“29 Dieser Teil wurde von Pavel Kristián z Koldína aus dem römischen Recht übernommen, ähnlich wie die meisten anderen Artikel in dem Kapitel über Vormundschaft. Der erwähnte Artikel wurde dann, mit einigen Änderungen, Bestandteil der Erneuerten Landesordnung, womit der Verflechtungskreis von Landes- und Stadtrecht geschlossen ist.30 Aus dem römischen Recht wurde in den Stadtrechten auch die Vormundteilung in drei Typen übernommen: 1. tutores legitimi, die mit Waisen blutsverwandten Vormunde, 2. tutores testamentarii, die vom Vater im Testament genannten Vormunde, und 3. dativi per inquisitionem judicis, die von der öffentlichen Macht ernannten Vormunde.31 Neben der unterschiedlichen Ernennungsweise besteht der wichtigste Unterschied zwischen den einzelnen Vormundtypen in unterschiedlichen Möglichkeiten, über das anvertraute Vermögen zu verfügen, sowie in der Aufsichtsweite seitens der öffentlichen Macht. Im übertragenen Sinne also auch in den Vormundpflichten gegenüber den Waisen. Ähnliche Teilung besteht jedoch nach Kraut32 bereits im alten deutschen Recht, und in den Böhmischen Ländern in älteren, von dem römischen Recht offensichtlich unberührten Landesrechtssammlungen sowie im Brünner, bzw. Magdeburger Stadtrecht und schließlich auch in der jüngsten Erneuerten Landesordnung, wo jedoch dieses System nicht aus den vorherigen böhmischen und mährischen Landesordnungen sondern aus den Stadtrechten übernommen worden ist, wie es mindestens von Jan Kapras angenommen wird.33 Statt um Rechtsrezeption handelt es sich offensichtlich um einen Kulturtransfer von bestehender Praxis, wo nach dem Tod des Vaters die Waisen unter Gewalt und Vormundschaft ihres nächsten Verwandten in männlicher Linie übergingen ähnlich wie das Vermögen in der Erbfolge. Der Wille des Hauptes der Familie als 29  Práva

městská (Stadtrechte), Art. D. V, Abs. II. jest moc a právo nad osobami svobodnými, k  obhajování sebe samých a statku jim náležitého pro mladost věku aneb jinou slušnou příčinu nezpůsobnými. A podle práva českého žádného rozdílu mezi poručníky a opatrovníky není a poručenství jak na statky tak i na osoby se vztahuje.“ (Die Vormundschaft ist Gewalt und Recht über freie Personen, welche wegen Jugend oder aus einem anderen anständigen Grunde unfähig sind, sich selbst und das ihnen gehörende Gut zu verteidigen), Obnowené Práwo a Zrjzenj Zemské Dedjcného Králowstwj Cžeského / Cýsare Ržijmské Vherského a Cžeského, etc. Krále, etc. Geho Milosti Ferdynanda Druhého etc., http: /  / kramerius.mzk.cz, čl. N I; Moravské obnovené zřízení zemské (Mährische erneuerte Landesordnung), Art. 396. 31  Práva městská, Art. D VI. 32  Wilhelm Theodor Kraut, Die Vormundschaft nach den Grundsätzen des Deutschen Rechts, Göttingen 1835, S. 1003. 33  J. Kapras, Poručenství, S. 22–23. 30  „Poručenství

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Grund für Vormundberufung (siehe die tutores testamentarii) erscheint zwar ein wenig später, jedoch spätestens in der frühen Neuzeit wird in unseren Ländern in der Praxis bevorzugt und hat die tutores legitimi in den Hintergrund gedrängt.34 Der letztgenannte Typ, der von der öffentlichen Macht ernannte Vormund, erscheint in der Rechtspraxis erst im 12. Jahrhundert. Die älteren Rechtssammlungen, wie der sächsische Spiegel und dessen Derivate, entweder kannten diesen Typ überhaupt nicht, oder – wie die Magdeburger Schöffensprüche – schlossen ihn sogar aus.35 Von den oben erwähnten Rechtssammlungen wurden die Unterschiede zwischen einzelnen Tutela-Typen und die Vormundrechte und -pflichten in den Neun Büchern von Viktorín Kornel ze Všehrd und in den Stadtrechten des Königreichs Böhmen grundsätzlich beschrieben bzw. zusammengefasst. Ähnliche Gewalt wie der eigene Vater hatte über den Waisen nur der machtvolle Vatersvormund. Es handelte sich um einen besonderen Vormundtyp, welcher in die Gruppe tutores testamentarii fällt. Derartige Vormunde, welche in den Stadtrechten als paternae potestatis36 benannt sind, waren in ihren Rechten und Pflichten bei der Kindererziehung und bei der Verwaltung deren Vermögens gar nicht eingeschränkt, d. h., es bezogen sich auf sie keine üblichen Pflichten der anderen Vormunde, wie z. B. Absicherung des Waisengutes mit eigenem Vermögen, oder Rechnungsführung und regelmäßige Rechnungsberichte über das Waisenvermögen.37 Die Verwaltung von Vermögen des Pflegekindes war übrigens die wichtigste Vormundaufgabe und deshalb ist die große Mehrheit der oben erwähnten Artikel in verschiedenen Rechtsvorschriften gerade dieser Problematik gewidmet. Alles andere, was sich nicht auf das Waisenvermögen bezieht, geriet in den Hintergrund oder wurde in vielen Sammlungen ganz unterlassen. Zu derartigen anderen Vormundrechten und -pflichten zählte vor allem die Pflicht, die anvertrauten Kinder vor Gericht zu vertreten, was spätestens von Všehrd als allgemein und unbestreitbar bezeichnet wurde.38 In älteren Landesrechtssammlungen, wie Kniha rožmberská (Das Rosenberger Gesetzbuch) oder das Gesetzbuch von Ondřej z  Dubé, wird stattdessen über das sog. Waisenrecht gesprochen.39 Gleiche Bestimmungen wie bei Všehrd erschienen dann in allen

34  J.

Kapras, Poručenství, S. 36, Anm. 1. Weizsäcker (Hrsg.), Magdeburger Schöffensprüche und Rechtsmitteilungen für den Oberhof Leitmeritz, Stuttgart, Berlin, 1943. 36  Práva městská (Die Stadtrechte), Art. D IX. 37  J. Kapras, (Poručenství), S. 61. 38  O právích země české knihy devatery (Neun Bücher über die Rechte des böhmischen Landes), Buch V., Kap. 7, čl. 15. 39  Rožmberská kniha (Das Rosenberger Buch), Art. 123, 126; Právní kniha Ondřeje z  Dubé, (Das Gesetzbuch von Ondřej z  Dubé) Art. 13, 75. 35  Wilhelm



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Landesordnungen.40 Diesen Bestimmungen nach war der Vormund verpflichtet, Klagen im Namen des Waisen zu erheben bzw. auf diese zu antworten. Persönliche Anwesenheit des Pflegekindes vor Gericht wurde nur im Stadtrecht verlangt, wie im „Právní kniha písaře Jana“ (Des Schreibers Johann Gesetzbuch), und zwar nur in den gesetzlich festgelegten Fällen.41 Völlig unterlassen in den Sammlungen von Landes- und Stadtrecht ist die Ebene von Pflege, Erziehung und Ernährung des Kindes. Ältere Rechtsvorschriften lassen die Personalebene ganz außer Acht, ausgenommen die Glaubensbekenntnis.42 Die ersten entsprechenden Bestimmungen erscheinen erst in den chronologisch jüngsten Rechtssammlungen. So ist zum Beispiel im Gesetzbuch von Pavel Kristián z Koldína die Berufswahl des Kindes erwähnt, die – ähnlich wie die Wahl des Ehegatten / der Ehegattin – für eine freie Entscheidung jedes einzelnen Menschen, also offensichtlich auch des Minderjährigen, gehalten wird.43 Weder Vater noch Vormund durften über diese Sache anstatt des Kindes entscheiden, sie sollten jedoch dessen endgültige Wahl bewilligen.44 In demselben Gesetzbuch liegt zum ersten Mal mindestens eine kurze Weisung für Vormunde bezüglich Erziehung und Behandlung der anvertrauten Waisen vor: „Alle Vormunde sollen dann kennen und wissen, dass sie nicht nur verpflichtet sind, die Waisengüter fleißig, sorgsam und gerecht zu bewahren, sondern dass ihnen vorerst die Pflicht zufällt, die Waisen in deren Kinderjahren zu Tugenden, Sitten und jeglichem Guten zu führen. Und deshalb nachdem sie selbst mit Fleiß im Voraus überlegt haben, wozu die Waisen naturgemäß geneigt sind, mit Rat der Waisenfreunde und mit Rechtsberatung die Waisen frühzeitig entweder zu freier Lehre oder zu ehrlichem Handwerk, sowie auch zu Diensten zu guten Leuten geben, sodass sie sich gleich in ihrer Jugend daran gewöhnen, ehrlich und edelmütig zu leben und guten Menschen zu dienen, und wenn es Herrn Gott beliebt, dass sie die Vernunftsjahre erreichen, vor allem der Kirche, dann ihrer Heimat und zuletzt ihren Freunden alles vergelten und allen anderen Leuten nützlich und zu Ehrlichkeit sein können.“45

Die Sorge für das Waisenvermögen und für das Kind selbst ist erst im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch voneinander getrennt, und sogar die 40  Vladislavské zřízení zemské (Die Wladislaw-Landesordnung), Art. 105; České zemské zřízení z  roku 1549 (Die böhmische Landesordnung von 1549), Art. F 11; Tovačovská kniha (Das Tobitschauer Buch), Art. 222. 41  Miroslav Flodr, Brněnské městské právo (Das Brünner Stadtrecht), Brno 2001, S. 355–357. 42  Der entsprechende Artikel wurde in den Stadtrechten nach 1618 ausgelassen. 43  Die Heiratseinwilligung durch Vormund zählte zu den wichtigsten Vormundrechten, siehe J. Kapras, Poručenství, S. 59. 44  Práva městská, Art. C XXXIV, C XXXV. 45  Práva městská, Art. D XX.

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Reihenfolge der beiden Bestandteile der Vormundschaft ist verkehrt: „Dem Vormund liegt vor Allem die Sorge für das Pflegekind, aber zugleich auch die Verwaltung dessen Vermögens ob.“46 Es ist auch zum ersten Mal gesetzgemäß möglich, beide Kompetenzen zu trennen, wobei die Erziehung des Kindes vorerst dessen  Mutter zu vertrauen ist, was in den früheren Rechtsvorschriften entweder gleich untersagt, oder mindestens verschiedenartig eingeschränkt wurde.47 Zum ersten Mal wurde im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch auch die für Erziehung und Ernährung des Waisen anzuerkennende Ausgabensumme festgelegt und diese Ausgaben sollten von der öffentlichen Macht, nämlich von dem Vormundschaftsgericht kontrolliert werden. Obwohl diese Bestimmungen, ähnlich wie die oben erwähnte Erziehung des Kindes durch dessen Mutter von der etablierten Praxis ausgehen, sind in den Böhmischen Ländern in keinerlei Gesetzform ähnliche Bestimmungen vor dem ABGB zu finden. Ganz gesondert möchte ich auf das Problem der Vormundbelohnung eingehen. Die einzige der älteren Rechtsvorschriften, wo diese Frage geregelt wird, ist das Gesetzbuch Pavel Kristián z Koldína, und zwar nur im Falle, dass alle dem Vormund anvertrauten Kinder vor ihrer Volljährigkeit gestorben sind. In derartigem Fall stand dem Vormund, zusammen mit anderen Erben, Anspruch auf gewissen Teil des Waisenvermögens zu.48 Die Fraglichkeit dieser Lösung führte wahrscheinlich dazu, dass in dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch jedem Vormund, der seine Aufgabe richtig ausgeführt hat, der Anspruch auf Belohnung zuerkannt wurde.49 Zusammenfassend kann man sagen, dass die Hauptprinzipien der Waisenvormundschaft in unseren Ländern sich bereits im Mittelalter entwickelt hatten und dass sie seitdem fast in unveränderter Form aufrecht geblieben sind. Am weitesten, was Qualität und Vollkommenheit der Regelung anbelangt, wird in zwei Rechtssammlungen gegangen, und zwar in den Neun 46  Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch vom 1. Juni 1811, in: Ilona Schelleová / Karel Schelle (Hrsg.), Civilní kodexy 1811 – 1950 – 1964. (Die Zivilkodexe von 1811 – 1950 – 1964), Brno 1993, § 188. 47  Pavla Slavíčková, Instituce mocného otcovského poručníka jako příklad kontroverzního vztahu města a rodiny v oblasti poručenství nezletilých sirotků (Die mächtige vom Vater ernannte Vormundinstitution als Beispiel der kontroversen Beziehung zwischen Stadt und Familie im Bereich Vormundschaft für minderjährige Waisen), in: Kateřina Čadková et al., Konfliktní situace v dějinách, Pardubice 2007, S. 45–50. 48  Pavla Slavíčková, Ukončení poručenské správy nezletilých osob v raně novověkém městském prostředí (Ende der Verwandschaftssorge für minderjährige Personen in dem frühneuzeitlichen Stadtmilieu), Theatrum historiae, Nr. 6, Pardubice 2010, S. 9–21. 49  Obecný zákoník občanský (Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch), § 266, 267.



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Büchern von Viktorín Kornel ze Všehrd und in Práva městská Království českého (Die Stadtrechte im Königreich Böhmen) von Pavel Kristián z Koldína. Jede dieser Sammlungen entstand unter ganz unterschiedlichen Umständen und hatte unterschiedliche Schicksale. Während Všehrd sich bei der Verfassung seines monumentalen Werkes vorwiegend an die einheimische Tradition an- und fremde Einflüsse eindeutig ablehnt, ist der Text von den Stadtrechten im Königreich Böhmen, ich wage es zu sagen, insbesondere im Bereich des Vormundschaftsinstituts buchstäblich auf dem römischen Rechtssystem und dessen Inhalt gebaut. Trotzdem sind die allgemeinen Vormundschaftskontouren in beiden Sammlungen de facto identisch, sei es in der Typologie der Vormunde oder in den Regelungen der Vormundschaftsverwaltung und der Ausübung von Vormundpflichten. Wie wir ganz kurz gezeigt haben, lehnte sich zwar das Werk Stadtrechte von Pavel Kristián z Koldína an Všehrds Sammlung an, namentlich in der Definition der Vormundschaft, es gab jedoch keine breitere Rezeption von deren Artikeln in die Stadtrechte und es wäre falsch derartige Theorie zu vertreten. Die Gründe dieser Übereinstimmung sind deshalb eher in dem bereits erwähnten Transfer von Kulturwerten- und regeln als in der Rechtsrezeption zu suchen. Všehrds Werk geriet nicht in breiteres Bewusstsein der zeitgenössischen Öffentlichkeit und wurde nie in der Praxis ausgenutzt. Die Stadtrechte von Pavel Kristián z Koldína spielten dagegen eine Schlüsselrolle in dem Unifizierungsprozess des Stadtrechts in den Böhmischen Ländern und spätestens seit Ende des 17. Jahrhunderts wurden in allen Städten bei uns, ja sogar (angesichts der subsidiären Wirkung) auch im adeligen Milieu gebraucht. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch knüpfte offensichtlich an die etablierte Rechtspraxis und an die in den Böhmischen Ländern jahrhundertelang verwendeten Vorschriften an. Während sich die älteren Rechtssammlungen auf die Vermögensebene der Vormundschaftsverwaltung konzentrierten, wurde im ABGB zum ersten Mal die andere Ebene bevorzugt, also die Sorge für das Kind selbst. Wenn wir also jetzt zu der in der Einleitung erwähnten Erklärung zurückkehren, können wir sie in dem Sinne präzisieren, dass während die faktischen Grundlagen des Rechtsschutzes von Kindern auf die ältesten Rechtssammlungen zurückzuführen sind, ist die soziale Ebene dieser Problematik erst Sache der modernen Zeit.

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Abstract The Development of the Guardianship of Orphans in the Czech Lands before 1811 Modern historical writing concerning the legal protection of children usually focuses on the social dimension of the problem. The beginning of the institutionalization of legal protection of children in the Austrian monarchy is the issue of Poor Law in 1863. Key principles of legal protection of orphaned children in particular were defined in the legal order in Czech lands much earlier. The essence of modern legal protection of an orphan is to provide child with care and education as well as to protect the interests of the minor and his property. The main legal institute of the protection of children in pre-modern times had been the guardianship. The system of the protection of orphans was at the end of 14th century already quite elaborated and specific articles in the legal collections highly developed. The first collection, which gave the rules of guardianship systematic attention, was the land law compiled by Ondřej from Dubé. The most sophisticated system of legal articles relating to guardianship is included in the land law of Viktorín Kornel from Všehrdy so called Nine Books and The Municipal Law written by Pavel Kristián from Koldín. The content of the legal institute of guardianship in Všehrd’s Nine Books is based on the domestic law without foreign influences while Koldín took over most of the articles in the chapter from the Roman law. The typology of guardianship as well as rights and obligations of tutors are in all legal collections of land or municipal law of pre-modern time quite similar. All pre-modern legal collections focus on protection of the orphans’ property and completely ignore the child and its upbringing and education. This dimension of the legal protection of orphans appeared first time in the General Civil Code from 1811, which even prefers the protection of the child to the protection of its property. Reasons of conformity between pre-modern legal collections we have to seek in the transfer of cultural values and rules and not in the reception of legal articles. The General Civil Code from 1811 in its content followed the previous practice of law and rules used in the Czech lands for centuries. We can clarify argument from the beginning of the paper: although the legal protection of children has its roots in the oldest legal collections, social level of this issue is a matter of the modern period.

Austritt oder Konversion? Die Notzivilehe in Prag und Wien 1870–1908 Anna L. Staudacher I. Einleitend Die obligatorische Zivilehe wurde in Österreich erst mit der Übernahme des deutschen Ehegesetzes im Jahr 1938 eingeführt.1 Geheiratet wurde bis zum Jahr 1868 ausschließlich in der Religionsgemeinschaft, der man angehörte. Interkonfessionelle Eheschließungen waren nur zwischen Katholiken und Protestanten möglich, nicht jedoch zwischen Christen und Juden. Gesetzliche Grundlage hierzu bildete der § 64 des ABGB, demzufolge Christen mit Nichtchristen keine gesetzlich gültige Ehe eingehen konnten.2 Zudem hatte es bis zum Jahr 1868 keine gesetzliche Form des Übertrittes zu nichtchristlichen Religionen und damit auch nicht zum Judentum gegeben. Daher mußte bis dahin der jüdische Teil eines Paares, das eine gesetzlich gültige Ehe eingehen wollte, die Taufe annehmen. Eine beabsichtigte Eheschließung bildete daher nicht selten das Hauptmotiv zur Annahme des Christentums. Und doch gab es interkonfessionelle Ehen zwischen Christen und Nichtchristen, dann nämlich, wenn nach einer jüdischen Eheschließung ein Ehepartner das Christentum angenommen hatte, was nicht zwangsläufig zu einer Auflösung der Ehe geführt hat, weiters wenn eine päpstliche Dispens ab impedimento disparitatis cultus erteilt worden war, und schließlich wenn anderswo, nicht in Österreich, die Ehe geschlossen wurde, wo bereits eine Zivilehe möglich war. So war Max Friedländer, der Herausgeber der Neuen Freien Presse in Wien, durch seine mit Regine Deligat (später Delia) in Eisenach geschlossene Ehe zivil verehelicht, lange bevor dies in Österreich möglich war.3 1  GBlÖ 1938, No 244, 1938  /  07  /  12: Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch das Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938 bekanntgemacht wird (in Kraft ab 1. August 1938). 2  ABGB 1811, § 64: „Eheverträge zwischen Christen und Personen, welche sich nicht zur christlichen Religion bekennen, können nicht gültig eingegangen werden.“ 3  Max Friedländer, 1829–1872, Journalist, Mitbegründer der Neuen Feien Presse in Wien (ÖBL 1), bereits evangelisch AB, verehelicht in Eisenach 1862 / 09 / 02 mit

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Die interkonfessionellen Gesetze des Jahres 18684 hoben den § 64 des ABGB zwar nicht auf, ebneten jedoch den Weg zur sogenannten „Notzivilehe“, indem sie einen neuen Status schufen, den der Konfessionslosigkeit: Nun konnte man die Religionsgemeinschaft, in die man hineingeboren wurde verlassen, ohne zu einer anderen übertreten zu müssen. Der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft hatte bei der politischen Behörde zu erfolgen, um auf diese Weise zu verhindern, dass auf den Austretenden Druck ausgeübt werde. Sobald jemand allerdings aus der Kirche ausgetreten war, konnte er mit einem Angehörigen einer gesetzlich anerkannten christlichen Religionsgemeinschaft keine eheliche Verbindung mehr eingehen, wie es im Jahr 1811 mit dem § 64 des ABGB festgelegt worden war:

Für Ausgetretene und für Angehörige gesetzlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften wurde schließlich im Jahr 1870 die Institution der absoluten Notzivilehe geschaffen.5 Im Falle einer Trauungsverweigerung eines Seelsorgers aus gesetzlich nicht anerkannten Gründen war schon zwei Jahre zuvor die „relative Notzivilehe“ eingeführt worden.6 Die Matrikenführung lag in all diesen Fällen, wie auch bei den für diesen Personenkreis zu führenden zivilen Geburten- und Sterbebüchern, bei der politischen Behörde, beim Magistrat bzw. bei den Bezirkshauptmannschaften. Hinter der Notzivilehe standen somit drei Gesetze, der § 64 des ABGB, der eine Eheschließung zwischen Christen und Nichtchristen ausschloß, das Regina Deligat (später Delia), zu dieser Zeit noch jüdisch – ihre in Wien geborenen Kinder wurden alle gleich nach ihrer Geburt evangelisch getauft, folgten damit gesetzlich der Religion des Vaters. 4 RGBl. 1868, No 49: Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch die interconfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden. 5 RGBl. 1870, No 51: Gesetz vom 9. April 1870, über die Ehen von Personen, welche keiner gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft angehören, und über die Führung der Geburts-, Ehe- und Sterberegister für dieselben. 6 RGBl. 1868, No 47, Gesetz vom 25. Mai 1868, Art. II: Relative Notzivilehe vor einer weltlichen Behörde, wenn der Seelsorger „die Entgegennahme der feierlichen Erklärung der Einwilligung zur Ehe […] verweigert, so steht es den Brautleuten frei, […] die feierliche Erklärung zur Einwilligung zur Ehe vor dieser Behörde abzugeben.“



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Interkonfessionelle Gesetz vom Jahr 1868, das mit dem Austritt aus einer Religionsgemeinschaft einen neuen Status, den der Religionslosigkeit begründete, das Gesetz vom 9. April 1870, durch welches die absolute Not­ zivilehe für Konfessionslose eingeführt wurde, jedoch nicht nur für diese, auch für Angehörige gesetzlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften.7 Hatte vor dem Jahr 1868 der jüdische Teil eines Paares, welches heiraten wollte, aus dem Judentum auszutreten, so mußte nun, zur Schließung einer Notzivilehe, der christliche Teil aus der Kirche austreten, für den jüdischen Teil des Paares genügte eine Trauungsverweigerung des zuständigen Rabbiners – derartige Trauungsverweigerungen wurden in Wien zu Tausenden ausgestellt. Der Austritt aus der Kirche konnte jedoch, auch bei aufrechter Ehe, wieder rückgängig gemacht werden. Nach der Wiederaufnahme in die Kirche konnte die Notzivilehe kirchlich „konvalidiert“ werden, sie wurde damit unauflöslich, wohingegen bei einer Notzivilehe eine Scheidung und auch eine Wiederverehelichung möglich war. Die Matrikenführung für Konfessionslose und damit auch die Führung der Eheregister lag bei der politischen Behörde. Die Trauung erfolgte in Wien zunächst durch den „Bürgermeister der Haupt- und Residenzstadt Wien“, zumeist in dessen Vertretung durch einen Magistratsbeamten, zunächst im Alten Rathaus in der Wipplingerstraße, weshalb der Bürgermeister in seiner Funktion als Trauungsorgan im Volksmund auch der „Pfarrer von St. Wipplingen“ genannt wurde.8 Im ersten Wiener Ziviltrauungsbuch zeichneten u. a. die Bürgermeister Cajetan Frh. von Felder (1868–1878) und Julius von Newald (1878–1882), in Prag Franz Dittrich (1870–1873). Die Trauungsmatriken der Notziviltrauungen waren im Formular ganz ähnlich gehalten wie die Trauungsbücher der Katholiken und Protestanten, in Prag allerdings zweisprachig in den Rubrikbezeichnungen, in den Eintragungen zumeist deutsch bei Brautleuten jüdischer Herkunft, oft tschechisch bei Konfessionslosen, die aus der Kirche ausgetreten waren, ganz selten erfolgten zweisprachige Eintragungen in beiden Landessprachen. Angehörige des jüdischen Großbürgertums schlossen die Notzivilehe ebenso wie solche aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung, hin und wieder mit beachtlichem Altersunterschied und gesellschaftlich gesehen nicht immer ganz standesgemäß. Maximilian Ritter von Gutmann, Großindustrieller, jüdisch, ehelichte Emilie Christine Sofie Hartmann, Tochter des 7  So finden sich in den Zivilmatriken Eintragungen zur Trauung von Angehörigen der Gemeinde der Rationalistischen freien Kirche in Wien, der Freien reformierten Kirche in Prag, desgleichen von Muslimen, Mennoniten, Unitariern, Baptisten und Anglikanern, insofern letztere nicht der britischen Botschaft angehörten. 8  Werner Ogris, Vom Galgenberg zum Ringtheaterbrand. Auf den Spuren von Recht und Kriminalität in Wien, Wien, Köln, Weimar 1997, S. 221.

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Hofschauspielers Ernst Karl Gottfried Hartmann – er war 38, sie 19 Jahre alt.9 Der Altersunterschied betrug bis zu über 40 Jahren, 44 Jahre in Wien, 43 Jahre in Prag: So heiratete in Wien der 74jährige verwitwete Liqueurdestillateur Adam vulgo Hermann Zwak, jüdisch, aus Battelau in Mähren, die 30jährige Maria Schreiber, aus Müglitz, konfessionslos,10 und in Prag der 66jährige Wundarzt Johann Fischer, Witwer, die 23jährige Pauline Löwi. Johann Fischer hatte zuvor die Taufe angenommen und mußte, um diese Ehe zu schließen, wieder aus der Kirche austreten.11 Den Nachträgen bezüglich einer Trennung oder auch Scheidung zufolge scheinen diese ehelichen Verbindungen nicht besonders stabil gewesen zu sein, von den ideologisch bedingten Scheidungen aus dem Jahr 1938 ganz abgesehen. II. Statistisches um die Notzivilehen in Prag und Wien12 Wien verzeichnete bis zum Jahr 1908 3646 Trauungen in fünf magistratischen Trauungsbüchern, Prag 451 Eintragungen in zwei Bänden, 127 in Deutsch, 322 in Tschechisch, zweisprachig sind nur zwei Trauungseintragungen gehalten. Die Zahl von 451 Ziviltrauungen in Prag mag – an Wien gemessen – gering erscheinen, jedoch schlossen in Wien nahezu 970 Brautleute aus Böhmen die Zivilehe – 596 Männer, 474 Frauen. Diese Zahlen schließen auch relative Notziviltrauungen mit ein, 20 in Prag und 92 in Wien. Zumeist war bei einer absoluten Notzivilehe ein Teil jüdisch, der andere Teil war aus der Kirche ausgetreten, um diese Form der Ehe schließen zu können – in Prag waren es 210 Brautpaare, 2305 in Wien, dicht gefolgt von jenen Brautpaaren, welche beide vor ihrer Eheschließung konfessionslos geworden waren – in Prag 201, in Wien 1224: Die Tendenz 9  TrM MagWien 1896  /  1850 1896  /  06  /  02: Maximilian Ritter von Gutmann & Emilie Christine Sofie Hartmann. 10  TrM MagWien 1892 / 1424 1892 / 06 / 11: Adam vulgo Hermann Zwak & Maria Schreiber. 11  TrM MagPrag 1881 / 0052 1881 / 01 / 18: Samuel Johann Baptist (früher Samuel) Fischer & Pauline Löwi: getauft 1859 / 08 / 20. 12  Alle nun folgenden statistischen Angaben wurden aus den Datenbanken der Autorin zur Notzivilehe in Österreich generiert: Sie erfassen die diesbezüglichen Zivilmatriken in Wien, Salzburg, Graz und Prag bis zum Jahr 1908, mit fallweise ergänzenden Quellen. Ein biographisch erweiterter Index der Wiener Ziviltrauungen wurde für die Jahre 1870–1908 publiziert, in: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik, Wien Jg. 24, Heft 1 (2007), S. 41–64; Heft 3 (2007), S. 149–167; Heft 4 (2007), S. 201–216; Heft 7 (2008), S. 353–375; Jg. 25, Heft 2 (2009), S. 89–104; Heft 3 (2009), S. 149–162; Heft 5 (2010), S. 253–264; Heft 6 (2010), S. 301–312; Heft 7 / 8 (2010), S. 361–392; zu den Ziviltrauungen siehe Heft 8 (2012), S. 321–336.



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zum Austritt aus dem Judentum vor einer Ziviltrauung mag in Prag größer gewesen sein als in Wien. Jedenfalls lag de facto der jüdische Anteil in den Zivilehen durch einen vorhergehenden Austritt aus dem Judentum, belegt durch ergänzende Quellen,13 nicht bei 53 % in Prag bzw. bei 65 % in Wien, sondern wesentlich höher, bei 75 % und darüber – in Prag und in Wien. Das frühere Religionsbekenntnis wurde in der Trauungsmatrik zumeist nicht erwähnt und kann nur durch ergänzende Quellen geklärt werden. III. Die relativen Notzivilehen Die gesetzliche Grundlage für relative Notzivilehen wurde bereits im Jahr 1868 geschaffen und kam bei Katholiken und Protestanten nur ganz selten zum Tragen, scheint jedoch für Juden eine größere Bedeutung als für Christen gehabt zu haben, vor allem dann, wenn bei Verwitweten der Tod des Ehepartners durch zwei Zeugen nicht erwiesen werden konnte oder wenn die rituelle Form einer gesetzlichen Scheidung durch die Überreichung und Annahme des Scheidebriefes, aus welchen Gründen auch immer, nicht eingehalten werden konnte. In Wien wurde katholisch-katholisch acht Mal, jüdisch-jüdisch jedoch 84 Mal eine relative Notzivilehe geschlossen, in Prag kam es drei Mal zu einer katholisch-katholischen, und 16 Mal zu jüdisch-jüdischen Ziviltrauungen. Je eine evangelisch-evangelisch und eine christlich-interkonfessionelle (evangelisch-katholische) und damit relative Notzivilehe hatte nur Prag zu verzeichnen. In Graz wurden in den Jahren 1871 bis 1908 96 Notzivilehen geschlossen, darunter eine jüdisch-jüdische, drei katholisch-katholische sowie neun evangelisch-katholische. IV. Die absoluten Notzivilehen Absolute Notzivilehen waren erst ab dem Jahr 1870 möglich: Für Konfessionslose, für Angehörige staatlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften, für vermischte Ehen von diesen mit Angehörigen nichtchristlicher Religionsgemeinschaften. In Wien waren fünf Brautleute anglikanisch, vier waren zuvor aus der anglikanischen Kirche ausgetreten, fünf waren griechisch-nichtuniert, zwei griechisch-orthodox und einer griechisch-katholisch. 13  Ergänzende Quellen zur Klärung der früheren Religionszugehörigkeit: Austrittserklärungen, Taufbücher, Proselytenprotokolle, in welche auch Rücktritte zum Judentum eingetragen wurden. Eine umfassende personenorientierte Untersuchung der Austrittserklärungen aus dem Judentum in Prag könnte hier mehr Klarheit schaffen.

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Weiters schlossen zwei Muslime die Zivilehe, Mirza Mohamed Ali de Tabrizi,14 ein Dessinmaler aus Teheran, und ein Bediensteter der ottomanischen Botschaft in Wien namens Mehmed Raschid15. Mit Angehörigen der „freien Kirche der Vernunft“ wurden sechs Trauungen vorgenommen. In Prag kam es zu sieben baptistischen Zivilehen, 30 Zivilehen wurden zwischen Angehörigen der tschechischen Freien reformierten Kirche verzeichnet.16 V. Die Zivilehe und Funktionäre der frühen Arbeiterbewegung Neben den ursprünglich konfessionell vermischten Paaren – er oder sie früher jüdisch, katholisch bzw. evangelisch – gab es noch solche mit gleicher, zumeist katholischer Religionszugehörigkeit, welche sich aus ideologischen Gründen, in Ablehnung einer konfessionell gebundenen Verehelichung, für eine Zivilehe entschieden und deshalb zuvor aus der Kirche bzw. auch aus dem Judentum ausgetreten waren: Es waren dies vor allem Funktionäre aus der frühen, organisierten österreichischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Redakteure von Arbeiter- und Gewerkschaftszeitungen und linksgerichtete, politische Schriftsteller. Ob das Paar nun früher jüdisch war oder katholisch, sie traten vor der Ziviltrauung aus ihrer Religionsgemeinschaft aus, wie Rudolf Hilferding, später Reichstagsabgeordneter und Finanzminister. Zur Zeit seiner Verehelichung, im Jahr 1904, war er 26 Jahre alt, seine Braut Margarete Hönigsberg hatte bereits ihr Medizinstudium abgeschlossen – beide waren knapp zuvor aus dem Judentum ausgetreten.17 Karl Kautsky heiratete zweimal zivil, 1883 und 1890, das zweite Mal gerichtlich getrennt:18

14  TrM MagWien 1897  /  2038 1897  /  11  /  27: Mirza Mohamed Ali de Tabrizi & ­Marie Elisabeth Jaczko. 15  TrM MagWien 1876 / 0370 1876 / 09 / 13: Mehmed Raschid & Franziska Bremgartner – suchte nach dem Tod von Mehmed Raschid (1884) um Wiederaufnahme in die katholische Kirche an. 16  Hin und wieder fügten Matrikenführer der Eintragung „konfessionslos“ eine nähere Erklärung hinzu, die das eigentliche, staatlich nicht anerkannte Religionsbekenntnis der Brautleute betraf, um deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass es in diesem Fall nicht um Konfessionslosigkeit ging, sondern um eine staatlich nicht anerkannte Religionszugehörigkeit. 17  TrM MagWien 1904  / 2877 1904 / 05 / 09: Rudolf Hilferding & Margarete Hönigsberg. – Rudolf Hilferding (1877–1941), sozialdemokratischer Finanzpolitiker, führender Theoretiker des Austromarxismus, 1928 / 29 Finanzminister, starb in Gestapohaft in Paris (PLÖ, ÖAJH 1, DBMOI 1). – Margarethe Hilferding geb. Hönigsberg (1871–1942), 1903 Dr. med., Psychoanalytikerin (ÖAJH 1, DBMOI 1).

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Nicht wenige aus dieser Intelligentia der frühen österreichischen Arbeiterbewegung haben sich später einen Namen gemacht wie der Musikkritiker David Josef Bach,19 der Historiker und Politiker Ludo Moritz Hartmann,20 Hugo Breitner,21 der Psychoanalytiker Josef Karl Friedjung,22 der Verleger 18

18 TrM MagWien 1883 / 0796 1883 / 03 / 06: Karl Johann Kautsky & Ludowika Josefa Strasser, beide konfessionslos. – TrM MagWien 1890 / 1274 1890 / 04 / 23: Karl Johann Kautsky & Luise Ronsperger, konfessionslos, zuvor jüdisch. Kautsky’s Austritt aus der kath. Kirche erfolgte bereits 1880, zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder. – Karl Kautsky (1854–1938), Theoretiker des Marxismus, Begründer der „Neuen Zeit“ (PLÖ, DBMOI 1). – Luise Kautsky geb. Ronsperger (1864–1944), Übersetzerin, Schriftstellerin (ÖAJH 1). 19 TrM MagWien 1906 / 3223 1906 / 08 / 23: David Josef Bach, konfessionslos, zuvor jüdisch & Gisela Cohn, jüdisch. – David Josef Bach (1874–1947), Musikschriftsteller, gründete 1906 die Arbeiter-Symphoniekonzerte in Wien, Leiter der sozialdemokratischen Kunststelle (PLÖ, OeML 1, DBMOI 1). 20 TrM MagWien 1893 / 1482 1893 / 01 / 21: Ludwig Hartmann & Margarethe Chrobak, beide konfessionslos – Trauzeugen waren Dr. Theodor Billroth, k. k. Hofrath und Universitätsprofessor und Leopold von Lieben, Großhändler. – Ludo Moritz Hartmann (1865–1924), Historiker, Erwachsenenbildner, Univ.-Prof. (PLÖ, DBMOI 1, ÖAJH 1). 21 TrM MagWien 1901 / 2543 1901 / 12 / 07: Hugo Breitner, konfessionslos, zuvor jüdisch & Maria Hedwig Anna Eigl. – Hugo Breitner (1873–1946), sozialdemokratischer Stadtrat für Finanzwesen, legte Grundlagen für den sozialen Wohnbau in Wien (PLÖ, DBMOI 1, ÖAJH 1). 22 TrM MagWien 1905 / 3005 1905 / 03 / 30: Josef Karl Friedjung, konfessionslos & Johanna Neumann, jüdisch. – Josef Karl Friedjung (1871–1946), Kinderarzt, Psychoanalytiker, Kulturpolitiker, gründete 1921 die Wiener sozialdemokratische Ärztevereinigung, jüdisch, evang. getauft 1899 (ÖAJH 1).

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und Kunsthändler Hugo Heller,23 Karl Leut(h)ner,24 Rudolf Pokorny,25 Julius Popp,26 Hugo Schulz,27 Amalia Seidl,28 Leo Walecka,29 Leopold Winarsky,30 Otto Pohl mit seiner Frau Charlotte Glas in Wien31 – in Prag 23  TrM MagWien 1901  /  2491 1901  /  07  /  16: Hugo Heller, konfessionslos, zuvor jüdisch, evang. getauft 1910 & Hermine Ostersetzer, jüdisch. – Hugo Heller (1870– 1923), beteiligt am Aufbau der Wiener Volksbuchhandlung, Buch- und Kunsthändler, Verleger (DBMOI 1, ÖAJH 1). 24  TrM MagWien 1895  / 1693 1895 / 03 / 15: Karl Johann Josef Leuthner, konfes­ sionslos & Chaja Klara Berlin, konfessionslos, zuvor jüdisch. – Karl Leuthner (1869–1944), Redakteur der Arbeiterzeitung, sozialdemokratischer Abgeordneter (PLÖ, DBMOI 1). 25  TrM MagWien 1891 / 1322 1891 / 01 / 05: Rudolf Pokorny & Juliana Maria Sobotecky, beide konfessionslos, zuvor katholisch – Trauzeugen: Viktor Adler und Julius Popp. – Rudolf Pokorny (1862–1912), Metallarbeiter, zunächst Exponent der radikalen Arbeiterpartei, sodann enger Mitarbeiter von Viktor Adler, Mitherausgeber der Arbeiterzeitung, Beamter der Unfallversicherungsanstalt, förderte Konsumvereine (ÖBL 8, DBMOI 1). 26  TrM MagWien 1894 / 1582 1894 / 02 / 27: Julius Popp & Adelheid Dvorak, beide konfessionslos – Trauzeugen: Viktor Adler und Ignaz Brand. – Julius Popp (1849– 1902), Schuhmacher, Obmann der Genossenschaftskrankenkassen, Verwalter der Arbeiterzeitung und Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes (ÖBL 8, ÖAJH 1, DBMOI 1). – Adelheid Popp (1869–1939), sozialdemokratische Politikerin, Journalistin, Aktivistin der Frauenbewegung in Österreich, im Vorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Abgeordnete (PLÖ, DBMOI 1). 27  TrM MagWien 1901  /  2550 1901  /  12  /  24: Hugo Max Schulz, konfessionslos, zuvor jüdisch & Helene Teteles, jüdisch – Trauzeuge: Moritz Böhm, Redakteur. – Hugo Schulz (1870–1933), Redakteur der Arbeiterzeitung, Kriegsberichterstatter, Militärexperte (ÖBL 11, DBMOI 1). 28  TrM MagWien 1895  / 1728 1895 / 07 / 20: Richard Karl Eduard Seidl & Amalia Anna Ryba, beide konfessionslos. – Amalia Seidl (1876–1952), Exponentin der sozialdemokratischen Frauenbewegung in Österreich, Nationalratsabgeordnete (DBMOI 1). 29  TrM MagWien 1887 / 1119 1887 / 08 / 29: Leo Waleczka(sic) & Maria Tittelbach, beide konfessionslos, zuvor katholisch. – Leo Walecka (1856–1914), Mechaniker, Obmann des Arbeiterbildungsvereins, Exponent der radikalen Arbeiterbewegung (DBMOI 1) – Gleichfalls aus der radikalen Arbeiterbewegung hatten u. a. die Zivilehe geschlossen: Franz Gam(b)s, Georg Matzinger, Franz Moc (Motz), Franz Pech und viele andere mehr (siehe: Anna Staudacher, Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Wien 1988, 286, 304, 305, 309). 30  TrM MagWien 1896 / 1840 1896 / 05 / 05: Leopold Josef Maria Winarsky & Theresia Beran, in zweiter Ehe: TrM MagWien 1901 / 2474 1901 / 05 / 30: Leopold Josef Winarsky & Anna Dorfner. – Leopold Winarsky (1873–1915), Tapezierer, sozialdemokratischer Parteisekretär, Mitbegründer der Sozialistischen Jugend, Abgeordneter (DBMOI 1). 31  TrM MagWien 1900  /  2365 1900  /  08  /  13: Otto Pohl & Charlotte Glas, beide konfessionslos, zuvor jüdisch. – Otto Pohl (1872–1941), Publizist, Auslandskorrespondent der Arbeiterzeitung, Diplomat (ÖAJH 2). – Lotte Pohl geb. Glas (1873– 1943), Schriftstellerin, Aktivistin der sozialdemokratischen Frauenbewegung in Österreich (DBMOI 1, NDB 20).



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die Redakteure und Schriftsteller Josef Steiner,32 Julius Myslik33 und Ignac Vaclav Herrmann34, in Graz Michael Kappauf bei der Allgemeinen Arbeiterkranken- und Invalidenkasse35. In Salzburg wieder ließen der Redakteur Jakob Prähauser und der Schriftsteller Robert Preussler – beide aktiv in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung – ihre Kinder in das magistratische Geburtenbuch der Stadt Salzburg aufnehmen.36 VI. Trauzeugen Verweigerte ein Amtsträger der Kirche oder ein Rabbiner einer Kultusgemeinde aus gesetzlich nicht anerkannten Gründen die Trauung, so konnte das Brautpaar seit dem Jahr 1868 eine relative Notzivilehe schließen. Als Trauzeugen zeichneten bei solchen Trauungen auch Rabbiner und Funktionäre der Kultusgemeinden, wie bei der Verehelichung von Sigmund Herzel mit Mathilde Eichberg, verwitwete Gutmann, bei welcher sich Dr. David Brüll, Rabbiner von Währing, als Trauzeuge ins Trauungsbuch des Magistrates eintrug.37 Josef Fuchs, Rabbinatssekretär, war Trauzeuge bei der Trauung von Israel Holz mit Fanni Hirsch, geschiedene Thürmann.38 Julius Braun unterschrieb seinerseits als Trauzeuge von vermischten Ehen zu wie32  TrM MagPrag 1896  / 021 1896 / 02 / 25: Josef Steiner & Anna Pav-ova, beide konfessionslos. – Josef Steiner (1862–1912), Glasschleifer, Parteiführer der tschechischen Sozialdemokratie, Redakteur, Abgeordneter (BLBL 4). 33  TrM MagPrag 1900 / 098 1900 / 08 / 27: Julius Kleofas Vaclav Myslik & Johanna Maria Dietrich, beide konfessionslos. – Julius Myslik (1877–1938), sozialdemokratischer Redakteur, Journalist, Schriftsteller; Mitbegründer tschechischer Freidenkerorgane (BLBL 2). 34  TrM MagPrag 1881 / 056 1881 / 10 / 15: Ignac Vaclav Herrmann & Hermine Anna Chvala, beide konfessionslos. – Ignát Herrmann (1854–1935), Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen, Feuilletons zum Prager Milieu, Schriftsteller (BLBL 1). 35  TrM MagGraz 1878  / 024 1878 / 06 / 29: Michael Kappauf & Juliana Triecher, beide konfessionslos. – Michael Kappauf (1843–…), Buchhalter bei der ArbeiterKranken- und Invalidenkasse, Funktionär der frühen Arbeiterbewegung in Graz (DBMOI 1). 36  Geburtsbuch für Confessionslose, Stadtrat Salzburg 1902 / 10 / 18: Paula Ottilie Prähauser; 1908 / 09 / 15: Richard Robert Preussler. – Jakob Praehauser (1849–1924), Steinschneider, sozialdemokratischer Parteisekretär für Salzburg-Land, bekannt als mitreißender Redner (DBMOI 1). – Robert Preussler (1866–1942), Glasbläser, Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen, Landtags- und Nationalratsabgeordneter (DBMOI 1). 37  TrM MagWien 1887 / 1113 1887 / 07 / 07: Sigmund Herzel & Mathilde Gutmann, verwitwete Eichberg, Trauzeuge: Dr. David Brüll, Rabbiner in Währing. 38  TrM MagWien 1897 / 2002 1897 / 08 / 05: Israel Holz & Fanni Hirsch, getrennte Thürmann, Trauzeuge: Josef Fuchs, Rabbinatssekretär, Dr. Jakob Kohn, Landes­ gerichtsrat.

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derholten Malen in seiner Eigenschaft als Beamter der Israelitischen Kultusgemeinde, wie bei der Trauung von Lazar Ludwig König mit Anna Juliana Ansprenger, bei jener von Salomon Rabinovitz mit der Verkäuferin Hedwig Barbara Sedmihradsky, der Tochter eines böhmischen Schneidermeisters, und bei jener des Kaufmanns Josef Kern mit Anna Nosek.39 Beamte und Funktionäre der Kultusgemeinden mögen bei einer relativen Notziviltrauung einen jüdisch-rechtlichen Akzent gesetzt haben. Bei absoluten Notzivilehen traten in ähnlicher Funktion auffällig häufig als Trauzeugen Hof- und Gerichtsadvokaten in Erscheinung, in Wien mehr bei mehr als 250 Trauungen. Ansonsten folgte man bei der Wahl der Trauzeugen durchaus den bürgerlichen Gepflogenheiten: Sie gehörten zum gesellschaftlichen Umfeld, zählten zum engeren Freundeskreis, waren nahe Verwandte oder auch Vorgesetzte. In der Arbeiterbewegung mag es als besondere Auszeichnung angesehen worden sein, wenn höhergestellte Funktionäre oder gar Viktor Adler40 als Trauzeuge auftrat – so bei den Ziviltrauungen der sozialdemokratischen Funktionäre Rudolf Pokorny, Leopold Winarsky und bei der Verehelichung von Julius Popp mit Adelheid Dvorak. VII. Jüdische Konvertiten in der Zivilehe War man jüdisch geboren und hatte man bereits das Christentum angenommen, so hatte man zur Schließung einer Zivilehe wieder aus der Kirche auszutreten, wie der Ingenieur Alfred Goldberg, der 1903 in Wien in der evangelischen Stadtkirche die Taufe angenommen hatte und zweieinhalb Jahre später in Prag die Notzivilehe mit Marie Schmutzer einging.41 Der Schriftsteller Ludwig Wilhelm Flekles, nach seinem Namenswechsel Ludwig Ramschak, hatte sich im Jahr 1859 in Wien Leopoldstadt römischkatholisch taufen lassen, mußte jedoch, um die Zivilehe mit Louise Polensky schließen zu können, wieder aus der Kirche austreten.42 Nicht an39  Julius Braun, Sekretär bzw. Beamter der IKG: TrM MagWien 1876  /  0320 1876 / 01 / 12: Lazar (Ludwig) König & Anna Juliana Ansprenger; TrM MagWien 1896 / 1906 1896 / 11 / 24: Salomon Rabinovitz & Hedwig Barbara Eleonore Sedmihradsky; TrM MagWien 1877 / 0418 1877 / 05 / 08: Josef Kern & Anna Nosek. 40  Dr. Viktor Adler: TrM MagWien 1891 / 1322 1891 / 01 / 05: Rudolf Pokorny & Juliana Maria Sobotecky; TrM MagWien 1894 / 1582 1894 / 02 / 27: Julius Popp & Adelheid Dvorak; TrM MagWien 1901 / 2474 1901 / 05 / 30: Leopold Josef Winarsky & Anna Dorfner. 41  TrM MagPrag 1905 / 199 1905 / 11 / 13: Alfred Goldberg & Marie Schmutzer. – TM AB Wien 1903 / 03 / 09: Alfred Martin Goldberg, Ingenieur. 42  TrM MagWien 1873 / 0123 1873 / 03 / 18: Ludwig Wilhelm Ramschak & Louise Polensky. – TM St. Josef in der Leopoldstadt, Wien 1859 / 06 / 14: Ludwig Wilhelm Flekles Ramschak; Notiz zum Namenswechsel von Flekles-Ramschak zu Ramschak, 1873.



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ders hat es sich mit Alfred Siegfried Kreilsheim43 und Israel Johann Schulsinger44 verhalten, getauft 1869 bzw. 1879, in einer Zivilehe verehelicht 1882. Berthold Grün45 hatte 1873 die Taufe angenommen und ist 1885 eine Zivilehe mit Hermine Kaiser eingegangen. Evangelisch getauft wurde Angela Münz46 im Jahr 1881, welche 1903 den Elektrotechniker zivil heiraten sollte. Der Advokaturskandidat Robert Emil Mayer47 hatte sich gleichfalls Jahre zuvor taufen lassen und mußte in Folge dessen wieder austreten um die um 10 Jahre jüngere Elisabeth Deutsch ehelichen zu können. Mit 19 Jahren ließ sich als Oberrealschüler Ernst Lemberger48 taufen, mit 31 Jahren konfessionslos, heiratete er zivil Emma Drescher. Auch Hofund Gerichtsadvokaten konnten in ein derartiges konfessionelles Labyrinth geraten, wie Theodor August Schuloff, der unter dem Namen Schulhof 1846 im Kindesalter getauft wurde. 1875 heiratete er nach seinem Austritt aus der Kirche Eugenie Bing beim Wiener Magistrat.49 Der Beispiele gibt es viele, nicht nur in Wien und Prag. VIII. Rück- und Übertritte zum Judentum Eine Religionsveränderung vor der Schließung einer Zivilehe war keineswegs definitiv. Ging die Ehe nicht gut, so konnte man nach einer Trennung, Scheidung oder dem Tod des Ehepartners seinen Schritt wieder rückgängig 43  TrM MagWien 1882  / 0758 1882 / 10 / 04: Alfred Siegfried Kreilsheim & Marie Charlotte Senz. – TM St. Michael, Wien 1869 / 07 / 01: Alfred Josef Kreilsheim, Offizial der k. k. priv. Kaiser-Ferdinand-Nordbahn. 44  TrM MagWien 1882  /  0752 1882  /  08  /  19: Israel Johann Schulsinger & Maria Pohl. – TM St. Josef ob der Laimgrube, Wien 1879 / 07 / 04: Johann Bapt. Schulsinger, Comptoirist. 45  TrM MagWien 1885 / 0970 1885 / 08 / 14: Berthold Grün (verwitwet) & Hermine Kaiser. – TM Schotten, Wien 1873 / 11 / 07: Berthold Grün, Beamter bei der Versicherungsgesellschaft Anker, heiratete Leopoldine Neuber 1874  /  01  /  22 in der Pfarre St. Josef in der Leopoldstadt, Wien. 46  TrM MagWien 1903  / 2826 1903 / 12 / 31: Emerich Bernhard Langsam & Anna Virgina Blanka Münz. – TM AB Gumpendorf, Wien 1881 / 05 / 22: Angela Virgina Blanka Münz. 47  TrM MagWien 1903  /  2750 1903  /  06  /  06: Robert Emil Mayer & Elisabeth Deutsch. – TM St. Johann in der Praterstraße, Wien 1894 / 03 / 08: Robert Emil Mayer. 48  TrM MagWien 1903  / 2732 1903 / 04 / 25: Ernst Leopold Lemberger & Emma Anna Alexandrina Drescher. – TM AB Gumpendorf, Wien 1890 / 08 / 01: Ernst Lemberger, absolvierter Realschüler. 49  TrM MagWien 1875 / 0317 1875 / 12 / 07: Theodor August Schuloff & Eugenie Bing. – TM Schotten, Wien 1846 / 07 / 25: Theodor August Schulhof (Namenswechsel des Vaters von Schulhof zu Schuloff, anläßlich seiner Taufe). Nach der Taufe seiner Frau wurde er wieder in die Kirche aufgenommen und ihre Zivilehe kirchlich konvalidiert (1888).

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machen. So kam es vereinzelt auch zu Rücktritten zum Judentum, wie bei den zivilgetrauten Eheleuten Böhm-Matzel50 und Woticky-Nejtek,51 getraut 1884 bzw. 1892, Rücktritt des Ehemannes 1902 bzw. 1905. In das Trauungsbuch des Wiener Magistrates wurde im Jahr 1870 mit der Reihezahl 1 die Trauung des Redakteurs und Eigentümers des Wiener Salonblattes Moritz Engel mit Maria Fürnstal verzeichnet. Moritz Engel war damals 25 Jahre alt, aus Budapest, seine Braut war 17, aus Wien. Beide waren „konfessionslos“, er war zuvor jüdisch,52 sie katholisch – ausgetreten 1870, drei Wochen vor ihrer Verehelichung. Drei ihrer Kinder wurden in das Magistratische Geburtenbuch eingetragen, Barbara Maria, Tassilo und Elvira – geboren 1872, 1874 und 1875.53 Später waren sie übereingekommen, dass zwei ihrer Kinder, darunter Elvira, katholisch getauft und erzogen werden sollten. Im Dezember 1886 trat Moritz Engel in Wien Leopoldstadt zum Judentum zurück.54 Im Jahr 1910 suchte die Pfarre St. Ulrich um Wiederaufnahme der nun verwitweten Marie Fürnstal in die katholische Kirche an, was vom Ordinariat, nach erfolgter Klärung einiger Fragen mit dem 6. April auch umgehend bewilligt wurde:55

Beide Ehepartner waren in die Religion zurückgekehrt, der sie vor ihrer Eheschließung angehört hatten. Anders verhielt es sich mit den Ehepaaren Gartner und Wiesner: Wilhelm Gartner, ein Geschäftsreisender aus Prerau in Mähren, hatte die 1898 die 50 TrM MagWien 1884 / 0927 1884 / 12 / 27: Jakob Böhm & Auguste Matzel. – IKG Proselyten Wien-Stadt 1902 / 0618 1902 / 07 / 17: Jakob Böhm, Kaufmann, Austritt aus dem Judentum 1884. 51 TrM MagWien 1892 / 1450 1892 / 09 / 05: Karl Woticky & Katharina Nejtek. – IKG Proselyten, Wien-Stadt, 1905 / 0157 1905 / 05 / 15: Karl Woticky, Schneidermeister, Austritt aus dem Judentum 1892. 52 TrM MagWien 1870 / 0001 1870 / 09 / 12: Moritz Engel & Maria Fürnstal. – Moritz Engel (1846–1897), Journalist, Hrsg. des „Wiener Salonblattes“, gründete die Wiener Zeitungskorrespondenz (ÖAJH 1). 53 Gb MagWien 1872 / 018: Barbara Maria Engel; Gb MagWien 1874 / 099: Tassilo Engel, Gb MagWien 1875 / 149: Elvira Engel. 54 IKG Proselyten, Wien-Leopoldstadt 1886 / 12 / 16: Moritz Engel, Journalist. 55 DAW Gestionsprotokoll 1910 / 03279 1910 / 03 / 24: Pfarre St. Ulrich bittet um Wiederaufnahme der Marie Fürnstal in die katholische Kirche, bewilligt 04 / 06.



Austritt oder Konversion?205

Kleidermacherin Emma Mathilde Tavernier zivil geheiratet, welche 1908, nach zehnjähriger Ehe, zum Judentum konvertierte.56 Eduard Wiesner57 war jüdisch, in Wien geboren, Privatbeamter von Beruf, zivilgetraut mit Anna Miska, Tochter eines Gendarmeriepostenführers in Manetin in Böhmen. Sie heirateten 1897 beim Wiener Magistrat. Eduard Wiesner war bereits 1886 aus dem Judentum ausgetreten, 1891 aber zum Judentum zurückgetreten,58 zum Zeitpunkt seiner Verehelichung wieder jüdisch. Seine Frau trat unmittelbar vor der Verehelichung aus der katholischen Kirche aus, um zehn Jahre später, im Jahr 1907 mit dem Proselytennamen Chana zum Judentum überzutreten.59 Ungleich häufiger als ein Rücktritt zum Judentum war bei Zivilehen der Rücktritt zur katholischen Kirche, verbunden mit der Taufe des jüdischen bzw. des aus dem Judentum ausgetretenen Ehepartners. IX. Der Rücktritt zum Christentum Der Austritt aus der Kirche mag später in vielen Fällen zu argen Gewissensbissen und als unerträgliche Belastung empfunden worden sein, was zur Folge hatte, sich um eine Wiederaufnahme in die Kirche zu bemühen. Voraussetzung für eine Wiederaufnahme war zum einen die Taufe der in der Zivilehe geborenen Kinder und die Taufe des nichtchristlichen Ehepartners – Ausnahmen waren nur im Fall einer Todesgefahr vorgesehen. Somit führte die Notzivilehe über den Gewissenskonflikt des Ausgetretenen schlußendlich nicht selten zur Konversion des jüdischen Teiles und der Kinder zur katholischen Kirche, erst dann konnte die Wiederaufnahme des aus der Kirche Ausgetretenen erfolgen, gefolgt von der Konvalidierung der Zivilehe, die kirchlicherseits als Konkubinat angesehen wurde. Taufe und Wiederaufnahme mußten im Gesuchswege vom erzbischöflichen Ordinariat bewilligt werden, oft waren es Sammelgesuche zur „Sanierung“ der Zivilehe, bei welchen es um die Taufe des jüdischen Ehepartners und gegebenenfalls um die in der Zivilehe geborenen Kinder ging, dann um die Wiederaufnahme des Ausgetretenen, um die Konvalidierung der Ehe, verbunden mit einer Dispens von allen drei Aufgeboten. So hatte der Klavierhändler Martin Pliska, konfessionslos, im Jahr 1899 Rosa Goldner, jüdisch, civiliter 56  TrM MagWien 1898  / 2059 1898 / 02 / 04: Wilhelm Gartner & Emma Mathilde Tavernier. – IKG Proselyten Wien-Stadt 1908 / 010 1908 / 01 / 27: Emma Mathild Gartner geb. Tavernier, Proselytenname: Chana. 57  TrM MagWien 1897 / 1991 1897 / 07 / 10: Eduard Wiesner & Anna Miska. 58  WStLA Hauptregistratur K 1886 A46 Karton 068: Protokoll 1891  /  10  /  24: ­Eduard Wiesner, Widerruf seines Austrittes aus dem Judentum. 59  IKG Proselyten Wien-Stadt 1907 / 065 1907 / 07 / 01: Anna Wiesner geb. Miska, Austritt aus der röm.-kath. Kirche 1897 / 03 / 23, Proselytenname: Chana.

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geheiratet. 1903 bat im Gesuchswege die Dominikanerpfarre in Wien um die Erlaubnis, Frau Rosa Pliska und deren Sohn Erwin taufen, deren zivilgetrauten Mann Martin das Glaubensbekenntnis abnehmen und beide Eheleute kirchlich trauen zu dürfen, was auch innerhalb von vier Tagen umgehend bewilligt wurde.60

Rücktritte zur Kirche erfolgten nicht selten nach dem Tod des Ehepartners, wie im Fall des Ehepaares Engel-Fürnstal oder nach dem Scheitern einer Zivilehe: Antonia Bauer geb. Hromadnik, Köchin, konfessionslos, war mit dem Tapezierergehilfen Max Bauer, jüdisch, zivil verehelicht gewesen. Die Ehe wurde vom Landesgericht Wien im Oktober 1900 getrennt. Im November 1901 bat ein Cooperator der Pfarre St. Leopold um die Bewilligung, die konfessionslose Antonia Bauer wieder in die katholische Kirche aufnehmen zu dürfen und ferner, ihre vom k. k. Landesgerichte aufgelöste Zivilehe durch ein kirchliches Urteil für aufgelöst zu erklären.61

60 TrM MagWien 1899 / 03 / 01: Martin Pliska & Rosa Goldner. – Abb.: DAW Gestionsprotokoll 1903 / 08341 1903 / 09 / 05. 61 TrM MagWien 1894 / 10 / 08: Max Bauer & Antonia Hromadka. – Abb.: DAW Gestionsprotokoll 1901 / 09846 1901 / 11 / 06.



Austritt oder Konversion?207

Gesuche um Dispensen ab impedimento disparitatis cultus waren von der betreffenden Pfarre an den Papst zu richten, hatten in lateinischer Sprache abgefaßt zu werden, wurden nur selten gestellt und noch seltener bewilligt – die Kinder waren auf jeden Fall der Taufe zuzuführen. So hatte der Privatbeamte Max Toch, jüdisch, im Jänner 1908 vor dem Wiener Magistrat Barbara Sekal, konfessionslos, Inhaberin eines Wäschegeschäftes, geheiratet.62 Im Oktober wurde ihr Sohn Richard geboren und im November in der Pfarre St. Josef in Wien Margarethen mit dem Einverständnis der Eltern und deren Zusicherung seiner katholischen Erziehung getauft. Bei diesem Kinde wurde später die Wiederaufnahme von dessen Mutter in die katholische Kirche im Jänner 1911 vermerkt, desgleichen, dass mit einer Dispens aus Rom vom Ehehindernisse disparitatis cultus die Magistratsehe der Eltern für den kirchlichen Bereich konvalidiert wurde.63 X. Kinder aus Notzivilehen Die Religion der zu erwartenden Kinder konnte vom Brautpaar vertraglich festgelegt werden, was einzig und allein bei Kindern aus einer Zivilehe möglich war64 – sonst hatten die Kinder der Religion der Eltern zu folgen. Häufig entschied man sich für die Taufe und katholische Erziehung der Kinder,65 welche in einem solchen Fall zumeist unmittelbar nach der Geburt im Pfarrsprengel des Wohnortes der Eltern getauft und in das Taufbuch der jeweiligen Pfarre – und nicht in das magistratische Geburtenbuch – eingetragen wurden, zuweilen mit dem Zusatz, dass dem Kinde auf Grund der 62  TrM

MagWien 1908 / 01 / 04: Max Toch & Barbara Sekal. Margarethen St. Josef, Wien 1908 / 11 / 08: Richard Toch. – Die betreffenden Akten sind im DAW nicht erhalten. 64  Ungesetzlich waren daher jene Kindertaufen, die auf ausdrücklichen Wunsch der jüdischen Eltern erfolgten – um hier nur drei Beispiele zu nennen: TM St. Peter, Wien 1874 / 02 / 01: Friedrich Wilhelm Paul Reisner, mit eingtragener Erklärung der jüdischen Eltern; TM Santa Maria Rotunda, Wien 1893 / 02 / 14: Anna Maria Amalia Schiller, mit Willenserklärung der jüdischen Eltern; TM St. Heinrich, Prag 1888 / 09 / 28: Leo Wenzel Pollak, mit einem Vermerk bezüglich der eidesstattlichen Erklärung der Eltern. 65  Mit der vertraglichen Festlegung der Religion der zu erwartenden Kinder wollte man sicherlich den Eltern entgegenkommen – sie sollten entscheiden, ob die Kinder dem einen oder anderen Ehepartner konfessionell zu folgen hatten. An einen „dritten“ Weg hatte man wohl nicht gedacht: Dass die Eltern sich auf ein Religionsbekenntnis einigen könnten, dem keiner von beiden angehörte, wie z. B. der Schriftsteller Hermann Bahr, zivilgetraut 1895 mit Rosalia Jokl – beide konfessionslos. Ihr Kind Natalie Elisabeth wurde im Alter von zwei Wochen katholisch getauft in der Pfarre Lichtental in Wien (TrM MagWien 1895 / 1703 1895 / 05 / 05: Hermann Anastasius Bahr, Schriftsteller, konfessionslos & Rosalia Jokl, Schauspielerin, konfessionslos, zuvor jüdisch. – TM Lichtental, Wien 1907 / 04 / 14: Natalie Elisabeth Bahr). 63  TM

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Zivilehe der Eltern nur die Rechte der bürgerlichen ehelichen Geburt zustehen.66 Aus der geringen Zahl von Kindern, welche in die Geburtenbücher der Zivilmatriken in Wien eingetragen wurden67 darf daher nicht geschlossen werden, dass in Zivilehen weniger Kinder als in konfessionell geschlossenen Ehen geboren wurden. Einige Tausend Kinder aus Zivilehen mögen bis zum Ersten Weltkrieg mit der Zusicherung einer katholischen Erziehung von Seiten der Eltern unmittelbar nach ihrer Geburt getauft worden sei. Da war zum Beispiel der Handlungscommis Josef Straka aus Wischau in Mähren, konfessionslos, zivilgetraut in Wien im Jahr 1888 mit Hermine Freund, jüdisch. Ihre sechs Kinder wurden alle gleich nach der Geburt in der Pfarre St. Leopold römisch-katholisch getauft.68 Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dies wäre ein Phänomen der Unterschichten gewesen. Der Bankier Robert Biedermann Ritter von Turony, konfessionslos, hatte im Jahr 1877 Adolfine Popper, jüdisch, beim Wiener Magistrat – mit dem Vermerk einer Trauungsverweigerung von Adolf Jellinek69 – geheiratet. Nach der Konversion von Adolfine70 zur katholischen Kirche wurde diese Ehe in der Pfarre Am Hof konvalidiert. Drei aus dieser Ehe stammende Kinder waren zu dieser Zeit bereits getauft.71

66  „Dem Kinde kommen nach dem bürgerlichen Gesetze die bürgerlichen Rechte der ehelichen Geburt zu“ (TM Lichtental, Wien 1905 / 12 / 28: Elisabeth Dorothea Charlotte Bertha Stoerk, Vater: Oskar Stoerk, Universitätsassistent, Mutter: Katharina geb. Honig, zivilgetraut beim Magistrat Wien: TrM MagWien 1904  /  2965 1904 / 12 / 17); weiters: „Diesem Kinde kommen die Vorrechte der ehelichen Geburt nur für den bürgerlichen Rechtsbereich zu“ (TM Altlerchenfeld, Wien 1897 / 03 / 05: Karl Franz Sedivy, Vater: Karl Josef Friedrich Sedivy, Mutter: Katharina geb. Kilian, getraut beim Magistrat Wien: TrM MagWien 1877 / 0431 1877 / 08 / 06). 67  In Wien wurden den Jahren 1870 bis 1882 gerade 144 Kinder aus 780 Zivilehen in das erste Geburtenbuch der Zivilmatriken eingetragen. 68  TrM MagWien 1888  /  1146 1888  /  03  /  05: Josef Straka, konfessionslos, zuvor katholisch & Hermine Freund, jüdisch. – Kinder getauft zu St. Leopold in Wien: Maria Antonie, geboren 1888 / 09 / 30, getauft 1888 / 10 / 08; Karl Ludwig Josef, geboren 1893 / 01 / 15, getauft 1893 / 02 / 05; Johanna Philippine, geboren 1899 / 06 / 25, getauft 1899 / 07 / 09; Leopoldine Johanna, geboren 1901 / 10 / 15, getauft 1901 / 10 / 27; Margarethe Bertha, geboren 1903 / 06 / 02, getauft 1903 / 06 / 21. 69  Adolf Jellinek (1821–1893), Rabbiner und bedeutender Prediger, ab 1856 in Wien (PLÖ, ÖBL 3). 70  TM Am Hof, Wien 1884 / 02 / 17: Adolfine Eveline Maria von Popper. 71  Die beiden Töchter Lucie Amelie Adolfine, geboren 1878 / 04 / 11 und Stefanie Leontine Maria, geboren 1880 / 03 / 23, wurden bei den Schotten getauft (1878 / 05 / 18 bzw. 1880 / 04 / 17), der Sohn Robert Johann Simon, geboren 1883 / 01 / 27, empfing 1883 / 02 / 25 in der Servitenpfarre Rossau die Taufe.



Austritt oder Konversion?209

XI. Abschließend Die Notzivilehe von 1870 bot nur scheinbar einen Ausweg aus dem Dilemma des § 64 des ABGB, einen Weg, den das Interkonfessionelle Gesetz des Jahre 1868 vorbereitet hatte. Mit einer einfachen Austrittserklärung konnte man sich zwar nun aus jener Religion lösen, in die man hineingeboren war, ohne einer anderen Religionsgemeinschaft beizutreten. Für die Pioniere der Arbeiterbewegung mag dieser Austritt und die darauf folgende Ziviltrauung ein politisches Bekenntnis gewesen sein. Häufig wurde die Notziviltrauung zu einer Drehscheibe zur Annahme der Taufe: Die in eine Zivilehe geborenen Kinder wurden oft gleich nach ihrer Geburt getauft, womit eine Voraussetzung zur Wiederaufnahme des Ausgetretenen in die Kirche schon erfüllt war. In vielen Fällen war es dann nur mehr eine Frage der Zeit, dass der jüdische oder früher jüdische, nun konfessionslose Ehepartner in die Taufe einwilligte, um die Wiederaufnahme des Ausgetretenen in die katholische Kirche zu ermöglichen. Abkürzungen ABGB

Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, 1811

AHMP

Archiv hlavního města Prahy

BGBl.

Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich

BLBL

H. Sturm / F. Seibt / H. Lemberg / H. Slapnicka (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder, München  /  Wien 1979 ff.

DAW

Diözesanarchiv Wien

DBMOI

J. Maitron / G. Haupt, Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier internationale, I Autriche. Paris 1979

Gb Geburtenbuch GBlÖ

Gesetzblatt für das Land Österreich

Mag. Magistrat ÖAJH

Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jhdt. Wien 2002

ÖBL

ÖAW, Österreichisches Biographisches Lexikon. Wien 1957 ff.

OeML

R. Flotzinger (Hrsg.), Österreichisches Musiklexikon. Wien 2002– 2006

PLÖ

E. Bruckmüller (Hrsg.), Personenlexikon Österreich. Wien 2001

RGBl.

Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich

TM

Taufmatrik [Pfarre Taufdatum]

TrM MagPrag AHMP Zivilmatrik Eheregister [Jahr / Reihezahl Datum]

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Anna L. Staudacher

TrM MagWien WStLA Zivilmatrik Zweitschriften B3 Eheregister [Jahr / Reihezahl Datum] WStLA

Wiener Stadt- und Landesarchiv

Die Datierung im Anmerkungsteil folgt dem „wissenschaftlichen Format“, Jahr / Monat / Tag, z. B. 13. Februar 1880–1880 / 02 / 03. Zivilmatriken Die Ziviltrauungsbücher von Wien befinden sich als Zweitschrift im Wiener Stadt- und Landesarchiv, jene von Prag im Prager Stadtarchiv – Archiv hlavního města Prahy, jene von Graz im Amtshaus Graz, Referat Personenstands- und Staatsbürgerschaftswesen, jene von Salzburg beim Standesamt Salzburg.

Abstract Leaving the church or converting? Unilateral civil marriage in Prague and in Vienna 1870–1908 The unilateral civil marriage stipulation of 1870 provided only seemingly a solution to the dilemma of the ABGB § 64, the way that the Interconfessional Marriage Act of 1868 had prepared. By a mere leaving declaration it was possible to break away from his / her maternal church without needing to join another religious congregation. For the pioneers of labour movement leaving the church and then contracting a civil marriage this might have been a sort of political declaration. Unilateral civil marriage often constituted a „hub“ for rechristening: The children born from a civil marriage were often baptized right after their birth and thus a condition of rejoining the Church by the leaver was met. In many cases it was only a matter of time for the Jewish, or ex-Jewish and now confessionless spouse to consent to baptism and thus make it possible for the leaver to rejoin the Catholic Church.

IV. Bürger werden

Bürger werden in Österreich 1780–1811* Zdeňka Stoklásková I. Der Begriff Bürger „Der Bürger als Bezeichnung des vorstaatlichen Charakters der freien mensch­ lichen Persönlichkeit wurde dem autoritativen Regime nicht bekannt und wird auch aus modernen autoritativen Staatsformen verdrängt, dessen Grundlage nicht die menschliche Freiheit darstellt, sondern das hypothetische Interesse des nationalen oder staatlichen Ganzen.“ (Ottův slovník naučný nové doby – Otto’s Enzyklopädie der Neuen Zeit, Bd. IV / 1, Praha 1936, S. 658)

Der Inhalt des Begriffs Bürger ist sehr eng mit der geschichtlichen Entwicklung in verschiedenen Staaten und Nationalgesellschaften verbunden.1 Im Deutschen deckt der Oberbegriff Bürger mehrere Bedeutungen ab, deren Grenzen verschwommen sind.2 Im Englischen wird der heute archaische Terminus burgher als Bürger der Stadt verstanden, citizen als der Bürger im allgemeinen Sinne.3 Die im Französischen üblichen Termini citoyen (Bürger), citadin (Bewohner der Stadt) und bourgeois (Bürger der Stadt) erlebten eben in der hier behandelten Zeit eine deutliche Änderung in der Bedeutung.4 Im Tschechischen gibt es zwei Termini: občan (Bürger) und měšťan (Bürger der Stadt). Das Russische verfügt historisch über mehrere Termini: гражданин (Bürger), горожанин, городчанин (Bürger der Stadt), мещанин (der niedrigere Bürger der Stadt, der der Wehrpflicht unterliegt).5 *  Der

Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes der Masaryk-Universität in Brünn MSM 0021622426 Forschungszentrum für die Geschichte Mitteleuropas: Quellen, Land, Kultur. 1  Zum Begriff Bürgertum vgl. besonders: Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Hrsg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1987, S. 21–63. 2  Interessant erscheint, dass das Etymologische Wörterbuch aus dem Jahre 1899 beim Begriff Bürger bloß die Bedeutung des Bürgers der Stadt anführt. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 6. Auflage (1. Auflage 1883), Straßburg 1899, S. 64. 3  http:  /    /  dictionary.reference.com  /  browse  /  burgher. 4  http:  /    /  www.lexilogos.com  /  francais_langue_dictionnaires.htm. 5  Толковый словарь живаго великорускаго языка Владимира Даля, москва 1865.

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Wer war ein Bürger in Österreich? In der Zeit von 1780–1811 kristallisierte sich der Begriff Bürger aufgrund verschiedener rechtlicher Quellen heraus: aus dem Grundbuchrecht (1768), der Allgemeinen Gerichtsordnung (1781), des Dienstbotenrechts (1782), des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (1786), des Allgemeinen Gesetzes über Verbrechen und derselben Bestrafung (1787), der Allgemeinen Kriminal-Gerichtsordnung (1788). Die Analyse des Begriffs Bürger in allen Gesetzessammlungen (seit der Regierungszeit Maria Theresias) bis 1811 zeigt die inhaltliche Fülle dieses Terminus. Der Begriff Bürger ist zwar in den Gesetzessammlungen bis 1811 zu finden, jedoch nicht „im allgemeinen bürgerlichen“ Sinn, sondern nur in der Bedeutung des Staatsbürgers oder der des Bürgers der Stadt. Der Begriff Bürger wird erst allmählich als „Summa“ „aller Gattungen von Menschen“ gebildet, d. h. die inhaltliche Entwicklung des Terminus ist erst in den Rechtsquellen zu beobachten, die alle Gesellschaftsschichten betreffen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Dienstbotenordnung von 1782,6 die die rechtliche Stellung von untersten Schichten der Bevölkerung in den neuen Verhältnissen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft regeln musste. Die Aufhebung der Leibeigenschaft am 1. November 1781 war die erste Stufe zur Freiheit der Person und damit auch zum Bürger. Dem ehemaligen Leibeigenen konnte jetzt die freie Mobilität und das Recht auf persönliche Wahl (Heirat, Bildung) gestattet werden, aber der Staat wollte die volle Kontrolle behalten, um Leute zählen, besteuern und vor allem wieder auffindbar machen zu können, was besonders für das Militär wichtig war, da besitzlose Bevölkerungsschichten die meiste Anzahl an Soldaten lieferten. Gegen eine Arbeitsmobilität, die bei armen Menschen am höchsten war, bestanden sicher keine Einwände, da es der staatlichen Intention der wirtschaftlichen Entwicklung der Monarchie entsprach und in voller Einstimmung der regierenden Kreise war, unter denen sich zahlreiche Industrielle befanden. Der umfassende Kontrollmechanismus der Leibeigenschaft musste durch andere Mittel ersetzt werden: an erster Stelle durch statistische Erfassung, indem die Schichten, die nicht an den Besitz gebunden waren, zahlenmäßig erfasst und registriert wurden. In den im September 1782 eingeführten Dienstbüchern wurde als Grundeinheit die Gemeinde definiert und nicht die Herrschaft, wie dies bei Pässen, Entlassscheinen und anderen Personalurkunden bisher der Fall war, was als einer der ersten 6  Die Gesindordnung für das Landgesind in Böhmen, Mähren und Schlesien vom 8. Februar 1782, Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die k. k. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer sistematischen Verbindung, Wien 1780–1789, weiter siehe: Joseph II. – Gesetze, Bd. 1 (1785), S. 84. Die Gesetze werden hier nach den Herrschern zitiert, da ich dies bei Gesetzsammlungen, die von unterschiedlichen Herausgebern veröffentlicht wurden, für übersichtlicher halte.



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Züge des neuen Systemdenkens in der Zuordnung von Menschen anzusehen ist. Die Gemeinde wird allmählich zum Zentrum der Ordnung, Evidenz, Sicherheit und Fürsorge, was wesentlich später – 1848 – in der Aufhebung der Untertänigkeit und der Übergabe der Verwaltung an Gemeinden mündete. Dieselbe Tendenz weist bereits die Einführung der von Herrschaften unabhängigen Werbbezirke und des ebenso von Dominien unabhängigen neuen Systems der Pfarreien. Der Übergang vom Leibeigenen zum Bürger scheint sich langsam und kontinuierlich zu ergeben, höchstwahrscheinlich aus Angst, Kontrolle zu verlieren und nicht mehr die Möglichkeit zu haben, alte Mechanismen anwenden zu dürfen: „Würde jemand einen Dienstboten durch Geschenke oder Verheissungen mehreres Lohnes zur Verlassung des Dienstes bereden: so ist derselbe, und eben die Unterhändler dessen mit Geld oder Arrest zu bestra­ fen, und die Dienstboten zu züchtigen.“7 Die Drohung mit strengen (auch körperlichen) Strafen zeigt die Stellungnahme der Machthaber und deren Furcht, dass die alte Hierarchie auf einmal zusammenstürzt. Warum aber geschah dies so spät, fast ein Jahr nach der Aufhebung der Leibeigenschaft? War der Kaiser zu Zugeständnissen seitens des Adels gezwungen? Der Anspruch des „neuen Bürgers“ (des ehemaligen Leibeigenen) auf Schutz von Seiten des Staates gegen die unmenschliche Behandlung durch Dienstherrn bestand meist nur auf dem Papier, da sich der Betroffene außer der „Gefahr an seinen Gliedern oder Leben Schaden zu leiden“ nicht von seinem Arbeitsplatz entfernen durfte,8 aber er bot – zumindest theoretisch – bereits die Möglichkeit, seinen Arbeitgeber für eine schlechte Behandlung anzuzeigen, war also eines der neuen bürgerlichen Rechte. Die nur auf der theoretischen Ebene existierenden bürgerlichen Rechte wurden von den Zeitgenossen scharf kritisiert. „Noch erst vor zwölf Jahren mußte man im orthodoxen Polen ein Gesetz machen, daß der christliche Edelmann den christlichen Bauern nicht bloß aus Laune totschlagen soll.“9 Auch im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1786 existiert der Begriff Bürger bloß im bereits oben erwähnten Sinne als Staatsbürger oder Bürger der Stadt. Bei den Termini „Untertan“ oder „Individuum“ ist jedoch dem Inhalt nach bereits „der stille Weg“ vom Untertan zum Bürger zu spüren: „Zugleich werden Richter und Untertanen an den wahren und allgemei­ nen Verstand der Worte dieses Gesetzes angewiesen, und sollen sie unter keinem ersinnlichen Vorwande von der Vorschrift desselben abweichen.“10 7  § 24,

Patent vom 30. September 1782, Joseph II. – Gesetze, Bd. 1 (1785), S. 92. S. 98. 9  Johann Pezzl, Marokkanische Briefe, Frankfurt und Leipzig 1785, S. 40. 10  Einleitung zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch 1786, Joseph des Zweyten Römischen Kaysers Gesetze und Verfassungen im Justiz-Fache. Für Böhmen, 8  Ibid.,

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Die Tatsache, dass der Terminus „Bürger“ in den Gesetzessammlungen vor 1811 nicht im „allgemeinen bürgerlichen“ Sinn erscheint, heißt nicht, dass sich nicht allmählich und schleichend der Inhalt des Begriffs zum Teil auch neu füllte. Nicht ganz eindeutig bleibt die Frage seiner Anwendung den Frauen gegenüber. Im ABGB von 1786 erscheint lediglich der Terminus Untertan (womit jedoch auch Frauen hätten gemeint sein können), wenn auch prinzipiell Frauen gegenüber andere Begriffe benutzt wurden, wenn sie direkt gemeint waren. Im ABGB 1811 steht neben Bürger parallel auch der Begriff Inwohner und Mensch. „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten.“11 Hier sind zweifelsohne auch Frauen inbegriffen, die auch bei anderen Termini mitgemeint sein könnten: Jedermann, Untertan, Inwohner. „Jedermann ist unter den von den Gesetzen vorgeschriebenen Bedingungen fähig, Rechte zu erwerben.“12 Gernot Kocher präzisiert in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Termini „jedermänniglich, Untertan, Inwoh­ ner zu allgemein, Bürger, Staatsbürger“.13 Die Bürgerlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse von der Wende des 18. und zum 19. Jahrhundert bildet in der zeitgenössischen Terminologie Kategorien, deren Bedeutungen miteinander verflochten sind: 1. die allgemeine Staatsbürgerlichkeit, die alle Inwohner des österreichischen Reiches umfasst, wobei die Termini Bürger und Untertan bzw. Inwohner nebeneinander und vertretend benutzt werden. 2. Die bürgerliche Gesellschaft allgemein, die sich aufgrund der Reformen der Aufklärung bildete, deren Ideale waren: Fleiß, Bildung, der Wille das eigene Schicksal beeinflussen zu wollen, der ökonomische Umgang mit Zeit und Gesundheit, „Weisheit und Tugend“, wo im „Wohl des Einzelnen“ „die Glückseligkeit des Staates“ beruht. 3. Bürger der Städte, deren Machtpotential durch die Josephinischen Reformen stieg, die sich bewusst von anderen Bevölkerungsschichten wie Adel, Klerus, Landbevölkerung und vor allem von besitzlosen Stadtbewohnern abgrenzten. 4. Die Gruppen innerhalb der bürgerlichen Schicht, vor allem „Intelligenz“, Beamte (später Bildungsbürgertum), freie Berufe (Handwerker und Künstler – die letztgenannten, insbesondere in der Josephinischen Zeit, übertraten die unsichtbare Linie zwischen „bedenklichen“ Mähren, Schlesien, Oesterreich ob und unter der Enns, Steyermark, Kärnthen, Krain, Görz, Gradisca, Triest, Tyrol und die Vorlande, weiter siehe: Justizgesetzsammlung, 2. Vorsetzungs-Band, Wien 1817, S. 72. 11  ABGB 1811, § 16, Seiner Majestät des Kaisers Franz Gesetze und Verfassungen im Justiz-Fache. Für die deutschen Staaten der Oesterreichischen Monarchie, weiter siehe: Justizgesetzsammlung, dritte Fortsetzung (1804–1811), Nr. 946, S. 278. 12  ABGB 1811, §  18, Justizgesetzsammlung, dritte Fortsetzung (1804–1811), Nr. 946, S. 278. 13  Gernot Kocher, Vortrag am 13. Internationalen Symposium 2011 in Graz.



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und „ordentlichen Menschen“ – sowie Unternehmer), die zum Fundament der bürgerlichen Gesellschaft wurden und unter der Kurzformel „Besitz und Bildung“ charakterisiert werden konnten.14 Die Methode dieses Ansatzes ist es, die „Sprache der Bilder“ und die „Sprache der Texte“ miteinander in Bezug zu bringen. Die Sprache der Bilder wird als Ausdruck der herrschenden Macht verstanden; die Sprache von Texten der Gesetzbücher (ebenso als Ausdruck der Macht) wird der Sprache der zeitgenössischen Autoren gegenübergestellt, also die offizielle Meinung gegenüber den kritischen und satirischen Texten der Zeitgenossen. II. Die Rechtsikonographie 1. Gesetze und Gesetzgeber in Bild Die Rechtsikonographie ist in diesem Zusammenhang eine Methode, die eine verbindende Funktion der Rechtssymbolik, der historischen Disziplinen und Rechtsvolkskunde liefert, um Personen, Realien, Texte und deren Funktionen darstellen zu können. Bilder gehören zu sekundären Rechtsquellen, ebenso wie Gebäude, Gegenstände, rücken aber im Vergleich zu primären Rechtsquellen – Texten – fast ganz in den Hintergrund.15 Sie dienen nicht nur dazu, „der Trockenheit“ der Rechtsgeschichte zu einem für das Publikum anschaulicheren Bild zu verhelfen, sondern sie können auch Lücken in der interdisziplinären Forschung füllen und Rechtsquellen anschaulich darstellen. Gerade in der hier behandelten Zeit kommt es zum Prozess des Zurücktretens des rechtlichen Bildes. Die Ursachen können wahrscheinlich in der Verminderung des Analphabetismus, dem besseren Zugang der breiteren Öffentlichkeit zu Publikationen, nicht nur Büchern, sondern eben auch Rechtsnormen, liegen. Der Staat bemühte sich um Wege, Gesetze auch den untersten Schichten zugänglich zu machen. In Gebieten, wo die Kenntnis des Lesens nicht bei allen Menschen vorausgesetzt werden konnte, werden fürs Publikum wichtige Verordnungen von der Kanzel vorgelesen. Der Pfarrer übernimmt damit in Rechtssachen zwischen der Regierung und der Bevölkerung eine Vermittlungsrolle. Es kommt nicht nur zum Zurücktreten des Rechtsbildes, sondern auch zu dessen inhaltlicher Verlagerung. Es tauchen Rechtsbilder auf, deren Hauptfunktion nicht die Vermittlung von Information ist, sondern die kritische 14  Hannes Stekl, Ambivalenzen von Bürgerlichkeit, in: Gerhard Ammerer  /  Hanns Haas (Hrsg.), Ambivalenzen der Aufklärung. Festschrift für Ernst Wangermann, Wien  /  München 1997, S.  33–48, hier S.  33. 15  Gernot Kocher, Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie, München 1992, S. 7.

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oder satirische Stellungnahme zu behandelten Problemen. Hier zieht sich der rote Faden zu später sehr beliebten satirischen und humoristischen Periodika, die ihre Blütezeit vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebten. Die Verlagerung auf eine für die Regierung nicht günstige Form ist sicher dem Josephinischen „Tauwetter“16 der Zensur zu verdanken, die die Veröffentlichung satirischer und kritischer Literatur, nicht selten mit Bildern, ermöglichte. Primärjuristische Bilder stehen an „der Kreuzung“ mehrerer Disziplinen, vor allem der Rechtsgeschichte und Kunstgeschichte, sowie der Geschichtswissenschaft, Volkskunde, Literaturgeschichte u. a. Sie sind also unterschiedlich zu bewerten, was im Grenzfall dazu führen könnte, dass sie vom Standpunkt der Rechtsgeschichte bzw. Rechtsikonographie als extrem wertvoll, von der Kunstgeschichte aber als fast wertlos angesehen werden könnten. 2. Der Autor Alle Rechtsbilder (mit der Ausnahme des Letzteren), deren Inhalt hier zu analysieren versucht wird, wurden in den Gesetzessammlungen der Regierungszeit Josephs II., Leopolds II. und Franz’ II. veröffentlicht. Der Autor der Rechtsbilder Jos(ef) G(eorg) Mansfeld entstammt wahrscheinlich der alten Kupferstecher-Familie Mansfeld (auch Mannsfeld), deren Mitglieder in den späteren Generationen auch Maler wurden.17 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten in Prag mindestens fünf Kupferstecher namens Mansfeld (Mannsfeld): A(nton) Johann Mansfeld,18 Gerhard Mannsfeld (tätig in Prag 1740–1754), Johann Ernst Mansfeld (1738 Prag 1796 Wien),19 Kajetan Mansfeld und Martin Mansfeld. Gerhard Mansfeld zog 1754 mit seinem Sohn Johann Ernst nach Wien, wo er k. k. Stempelgraveur wurde, er schuf viele Portraits bedeutender Persönlichkeiten seiner Zeit. Alle bekannten Kupferstecher und Maler namens Mansfeld wurden danach in Wien 16  Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung, (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 6), 2. erweiterte Auflage, Wien  /  Köln  /  Weimar 1995. 17  Zur Familie Mansfeld vgl. Heinrich Schwarz  /  Elisabeth Herrmann-Fichtenau, Die Anfänge der Lithographie in Österreich, Wien 1988. 18  In der Taufmatrikel der Pfarrkirche zu St. Wenzel auf der Kleinseite in Prag wird er als Vater des am 9. Dezember 1705 getauften Kindes angeführt, er musste spätestens 1687 geboren worden sein, vermutlich aber früher. Vgl. Johann Gottfried Dlabacz, Allgemeines historisches Künstler-Lexikon für Böhmen und zum Teil auch für Mähren und Schlesien, Prag 1815, hier S. 253–254. 19  Sein Name wird auch mit Joseph Ernst Mansfeld verwechselt, genauso wie bei seinem Sohn, die Namen Johann Georg und Joseph Georg verwechselt werden. Es handelt sich aber unbestritten um Johann Ernst Mansfeld.



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geboren, ohne dass jedoch aufgrund der fehlenden Quellen die Möglichkeit besteht, die Verwandtschaft aller Künstler namens Mansfeld nachzuweisen. Johann Georg Mansfeld (1763–1817), Sohn des Johann Ernst Mansfeld, schuf Illustrationen zu verschiedenen Taschenbüchern und Almanachen. Dieser Johann Georg Mansfeld, den einige Autoren Josef Georg Mansfeld nennen (mit dem Sterbejahr Januar 1818, was aber bloß einige Tage Differenz sein können, da das Sterbedatum bei Johann Georg der 21. Dezember 1817 ist), könnte der Autor der Kupferstiche der hier behandelten Gesetzessammlungen sein.20 Josef (Johann) Georg Mansfeld bildete sich zuerst unter der Leitung seines Vaters aus, dann besuchte er die Kaiserliche Akademie der bildenden Künste, wo er sich vor allem dem Stich und der Lithografie widmete. Seine Idee, eine eigene Schriftgießerei zu errichten, erwies sich als sehr glücklich, denn damit konnte er seine Existenz sichern. Neben dem Kupferstich widmete er sich auch der Aquarellmalerei. Seine Stiche sind nach Meinung der Kenner zwar von sehr guter Technik, jedoch künstlerisch wenig ausgefeilt.21 Unter den bekannten Arbeiten von Josef (Johann) Georg Mansfeld sind jedoch nicht die hier behandelten Bilder aus den Gesetzbüchern angeführt, sodass an seiner Urheberschaft durchaus Zweifel bestehen könnten. Im 19. Jahrhundert setzten die Tradition der Kupferstecherei der Familie Mansfeld folgende Personen fort: Kupferstecher Heinrich Joseph Mansfeld (1785–1866), Sohn des Kupferstechers und Stempelgraveurs Sebastian 20  Georg Caspar Nagler, Neues allgemeines Künstler-Lexicon oder Nachrichten von dem Leben und den Werken der Maler etc., München 1838, Bd. 8, S. 255. Joseph Georg nennt ihn auch Friedrich Müller (Fortsetzung Karl Klunziger). Die Künstler aller Zeiten und Völker oder Leben und Werke der berühmtesten Baumeister, Bildhauer, Maler, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen etc., Bd. 3, Stuttgart 1853, S. 17. Dagegen Franz Graeffer und Johann Jakob Heinrich Czikann, Oesterreichische National-Encyklopaedie oder alphabetische Darlegung der wissenswürdigsten Eigenthümlichkeiten des österreichischen Kaiserthumes, Wien 1835, Bd. 3, S. 532, nennen ihn Johann Georg Mansfeld mit dem Sterbedatum 21.12.1817. Allgemeine Deutsche Biographie führt den Namen Johann Georg Mansfeld, Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 20, Leipzig 1884, S. 211. Ebenso Hans Vollmer (als Fortsetzer von Ulrich Thieme und Felix Becker) Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 24, Leipzig 1978 (Nachdruck, 1. Aufl. 1930), S. 33, gibt bloß Johann Georg Mansfeld an. Constant von Wurzbach Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche seit 1750 in den österreichischen Kronländern geboren wurden oder darin gelebt oder gewirkt haben, Bd. 16, S. 396–397, äußert die Meinung, dass es sich bei Josef Georg Mansfeld und Johann Georg Mansfeld um denselben Mann handeln könnte. Dies scheint sehr wahrscheinlich, besonders wenn das Geburtsjahr übereinstimmt und das Sterbejahr bloß in zwei Varianten besteht, die zeitlich dicht beieinander liegen: 21.12.1817 oder 1818. 21  Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich …, Bd. 16, S. 397.

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Mansfeld (1751–1816), Vater des Graveurs Eduard Mansfeld (1815–1861) und des Malers August Heinrich Mansfeld (1816–1901); der Maler Josef Mansfeld (1819–1894) war Enkelsohn des Kupferstechers Josef (Johann) Georg Mansfeld. III. Die Rechtsbilder 1. Toleranz und Aufhebung der Leibeigenschaft  22 Es ist sicher nicht ohne Absicht, dass das erste Titelblatt der Josephinischen Gesetzessammlung die Allegorie der wichtigsten Merkmale der Regierung von Josef II. darstellt – nämlich den Hinweis auf die gebrochene Macht der Kirche und ihrer Herrschaft.23 Justitia ist hier mit den üblichen Zeichen des Rechts – dem Schwert und der Waage, aber nicht mit der üblichen Augenbinde gezeichnet (dies ist übrigens für Justitia in Josephinischen Gesetzbüchern keine seltene Erscheinung). Es bleibt ein Desiderat der Forschung, inwieweit dies in der Zeit des Josephinismus üblich war (und sofern dies Absicht der Josephinischen Selbstdarstellung oder Propaganda gewesen wäre). Es fand diese Justitia jedoch bei Zeitgenossen einen satirischen Widerhall: „In Tropos, einer großen Stadt dieses Landes, war Herr Schlendrian der oberste Richter. So lange die Gerechtigkeit noch eine Binde vor den Augen hatte, hielt er es für seine Pflicht, die arme blinde Frau an seiner Hand zu leiten; und er führte sie sehr oft in eine Grube, worein sie stürzte. Da nun der Gerechtigkeit die Binde abgenommen ward, glaubte er, daß sie ihn leiten müsse, und war froh, eine so gute Führerin, auf die er sich ganz verlassen könnte, gefunden zu haben.“24

Die enge Bindung der Justitia an „Gott gefällige reine Justiz“ bedeutet das aufgeschlagene Buch mit der Aufschrift „Handbuch der Gesetze“. „(…) folglich Seiner Majestät obliege, eifrigst zu sorgen, damit Ihrer getreuen Länder und gehorsamsten Untertanen Wohlstand und gute Regierung beför­ dert erhalten, und dann die Gott gefällige reine Justiz auf das genaueste gehandelt werde.“25 Die gesprengten Fesseln sind die Attribute der beschränkten Macht der Herrschaft – die Aufhebung der Leibeigenschaft.26 22  Joseph II. – Gesetze, Bd. 1 (1785). Die Bezeichnung der Rechtsbilder stammt lediglich von der Verfasserin mit dem Zweck, einzelne Bilder auseinanderzuhalten, da sie im Original nicht betitelt sind. Siehe Abbildung 1. 23  Alle hier behandelten Rechtsbilder von Joseph Georg Mansfeld sind Kupferstiche im Oktavformat. 24  Franz Xaver Huber, Herr Schlendrian, oder der Richter nach den neuen Gesetzen, Wien 1787, S. 5. 25  Regierungsantritt, Joseph II. – Gesetze, sv. 1 (1780–1784), S. 12. 26  Hofreskript und Patent vom 1. November 1781, Joseph II. – Gesetze 1 (1708– 1784), S. 74 ff.

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Abbildung 1: Toleranz und Aufhebung der Leibeigenschaft. Joseph II. – Gesetze, Bd. 1 (1785), Titelblatt, nicht paginiert.

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Die auf dem Boden unter den Füßen der Justitia liegende bischöfliche Mitra sowie das Kreuz und die Bibel weisen auf die gebrochene Macht der katholischen Kirche hin (das Toleranzpatent 1781, Aufhebung der nicht sozial tätigen geistlichen Orden 1782, die Errichtung von Generalseminaren, die neue Ordnung des Pfarrsystems usw.). Den Sieg Josephs II. über „die alte Ordnung“ bestätigt noch das Bild von Pallas Athena, die zum kaiser­ lichen Porträt – im antiken Stil mit Lorbeerblattkranz auf dem Haupt – hin­ aufschaut. 2. Gebrochene Macht der Kirche27 Auf dem Titelbild des zweiten Bandes der Josephinischen Gesetzessammlung hält die Mutter Kirche in einer Hand ein Kreuz, in der anderen einen Kelch, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Evangelium als Zeichen für die neu tolerierten Kirchen. Neben einer Ruine der Kirche steht eine neue (oder sanierte) Kirche als Allegorie des neuen Pfarrsystems. Der auf dem Boden liegende Mensch auf dessen Ornat die Kirche mit einem Fuß steht, symbolisiert die besiegte Kirchenhierarchie, deren Symbol – die bischöfliche Mitra und die Stola – neben dem Menschen und unter den Füßen der Kirche ruht. Das Evangelium steht hier also höher als dessen Interpretation durch die Kirche. Die Bulle könne das Toleranz-Patent darstellen, die auf den Boden niedergeworfene Fahne (neben den Kerzenständern) mag das Symbol der bereits verbotenen Prozessionen sein. „Da alle Prozessionen außerhalb der Erbländer ohnehin verboten bleiben: so sollen von nun an auch iene Prozessionen, wo man auch innerhalb der Erbländer über Nacht ausbleibt, abgestellt werden; (…)“28 Von diesem strengen Verbot wurden bloß Wallfahrten nach Maria Zell ausgenommen, dem zentralen Wallfahrtsort des Marien-Kults. 1783 verbot Joseph II. auch diese Wallfahrt. Dies war das Resultat von langen Debatten von Aufklärern auf Regierungsposten, die von kritischen Veröffentlichungen der aufgeklärten Publizisten unterstützt wurden. Prozessionen wurden immer häufiger als Vagabunden-Lust-Wanderungen angesehen, die sehr wenig mit der wahren Andacht zusammenhängen, da sie eben in der Zeit der wichtigsten Feldarbeiten stattfanden. Es wurde argumentiert, dass Prozessionen ohne die nötige geistige Hingabe verlaufen, im Gegenteil: die Sittlichkeit von Wanderern war besonders bei der Übernachtung fragwürdig. „Da lagen oft in einem Zimmer gegen 50 Menschen, Männchen und Weibchen, wie das liebe Vieh auf Stroh beysammen.“29 1775 27  Joseph

II. – Gesetze, Bd. 2 (1785). Siehe Abbildung 2. vom 11. April 1772, Joseph II. – Gesetze, Bd. 2 (1785), S. 112. 29  Joseph Richter, Bildergalerie katholischer Mißbräuche, Frankfurt und Leipzig 1784, S. 103. 28  Verordnung

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Abbildung 2: Gebrochene Macht der Kirche. Kupferstich in Oktavformat. Joseph II. – Gesetze, Bd. 2 (1785), Titelblatt, nicht paginiert.

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wurde auch die Möglichkeit unterbunden, nach Rom zu pilgern. Offiziell wurde das Verbot der Pilgerreisen nach Rom mit dem eventuellen Schwund der Bevölkerung begründet (besonders für das Militär), aber es war sicher auch eine Auseinandersetzung zwischen Kaiser Joseph II. und Papst Pius VI. im Spiel. Das vom Himmel kommende Licht könnte der üblichen Darstellung von religiösen Themen entsprechen; hier aber mag es ebenso das Licht der Aufklärung bedeuten. Interessant erscheint, dass dieses Rechtsbild bei der Leopoldinischen Gesetzessammlung wieder veröffentlicht wurde. 3. Justiz30 Den Zweck des Bandes – nämlich die Gerichtssachen – symbolisieren die üblichen Attribute der „sehenden“ Justitia (die der Augenbinde entbehrt): die Waage und das Schwert. Nicht üblich ist die Positionierung des Schwertes, nicht in der nach vorne vorgestreckten Hand, sondern etwas schlicht an den Arm anlehnend (was durchaus dem Geist des Josephinismus entspricht). Zu Füßen der Justitia liegt das Liktorenzeichen – das Rutenbündel – als Symbol der herrscherlichen Funktion, die auch durch Bücher, Urkunden und versiegelte Schriftstücke – vielleicht Gesetze und Patente – zum Ausdruck kommt. Im Hintergrund ist die Hinrichtungsstätte am Stadtrande zu sehen, konkret der Galgen. Die Bestrafung von Übeltätern wird hier noch ganz im „alten“ Sinne, also öffentlich, zur Abschreckung der Bevölkerung gezeigt. Der „erziehende“ Zweck der öffentlichen Bestrafung von schweren Verbrechen wird hier der „modernisierenden“ Tendenz der nicht öffentlich zugänglichen Hinrichtungen vorgezogen.

30  Joseph

II. – Gesetze, Bd. 5 (1786). Siehe Bild Abbildung 3.

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Abbildung 3: Justiz. Kupferstich in Oktavformat. Joseph II. – Gesetze, Bd. 6 (1786), Titelblatt, nicht paginiert.

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4. Dominien31 Manche Titelbilder der Gesetzessammlung demonstrieren ganz direkt den Zweck von Patenten und Verordnungen und damit auch die Quelle des „Gemeinwohls“ – nämlich die Arbeit der Untertanen. Der Band ist den Dominien- und Untertanenangelegenheiten gewidmet. Die Abbildung zeigt eine Herrschaftskanzlei, deren halb geöffnete Tür die ganze Reihe von Untertanen ahnen lässt, die ergeben ihre Gelder mitbringen und ihre Pflichten bestätigen lassen: zwei Schreiber führen die wichtigsten Bücher des Dominiums, nämlich das Steuerbuch und das „Gabebuch“, also das Buch der untertänigen Pflichten und Abgaben. Beide Bücher sind symbolische Darstellungen, da sie in solcher Form nicht bestanden hatten. Sie verbildlichen die Wirtschaft im Dominium. In den Raum hinein bringt ein Militärangehöriger (oder ein Wachmann) einen ungehorsamen Untertanen in Fesseln. Dieses relativ eindeutige Bild könnte als eine Allegorie (und eine kritische Vereinfachung) des herrschaftlichen Systems verstanden werden.

31  Joseph

II. – Gesetze, Bd. 8 (1787). Siehe Abbildung 4.

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Abbildung 4: Dominien. Kupferstich in Oktavformat. Joseph II. – Gesetze, Bd. 8 (1787), Titelblatt, nicht paginiert.

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5. Waisen32 Im Vergleich mit der relativ einfachen strukturierten Abbildung zu den Dominien und Untertanen-Angelegenheiten bringt Joseph Manfeld das Bild des Staates, verkörpert in einer schönen jungen Mutter, der sich seiner Waisen (und eventuellen Findlinge) erbarmt und für sie sorgt, in einer symbolischeren Weise. Den Zweck des Bildes verdeutlichen das auf dem Boden liegende Waisenprotokoll sowie das Schema der genealogischen Tafel, deren Namenstellen aber leer sind, wie die verstorbenen Eltern de facto nicht bestehen, d. h. die nicht für ihre Kinder sorgen können. Die durchaus friedliche Szene wird von einer ebenso ruhigen Umgebung und einem Himmel umrahmt.

32  Joseph

II. – Gesetze, Bd. 11 (1788). Siehe Abbildung 5.

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Abbildung 5: Waisen. Kupferstich in Oktavformat. Joseph II. – Gesetze, Bd. 11 (1788), Titelblatt, nicht paginiert.

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6. Spiel mit dem Glück – Lottospiel33 Das Bild zeigt eines der interessanten Phänomene der modernen Zeit – das Lottospiel (bereits die Tatsache, dass dieses Bild auf der Titelseite des Gesetzbuches erschien, verweist auf die Bedeutung dieses Phänomens für die Öffentlichkeit). Das Bild zeigt die Lotterie-Kanzlei: der uniformierte Mann trägt einen Sack mit gewonnenem Geld davon; dies wird von einem anderen Mann mit Interesse beobachtet. Eine Frau mit Kind zahlt Geld ein, was vom Bediensteten eingetragen wird. Die Gewinnzahlen stehen am Türpfosten. Darüber schwebt Fortuna, die in einer Hand das Glücksrad hält, in der anderen das Füllhorn, aus dem Münzen herausfallen. Das Bild spiegelt die Verhältnisse zur Zeit der Publikation des Lotteriepatents von 1787 wider, das das „Geschäft mit dem Glück“ regelte.34 Die unter Maria Theresia 1751 genehmigte Lotterie konnte anfangs keinen großen staatlichen Gewinn erzielen, da sie unter der höheren Gesellschaft als eine zu gering eingestufte Art der Vergnügung galt,35 und die unteren Schichten der Bevölkerung besaßen zu wenig Geld, um es auszugeben.36 Dies änderte sich in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Aber mit der Beliebtheit des Lottospiels wuchsen zugleich der trügerische Glaube an die Möglichkeit des Gewinns sowie abergläubische Vorstellungen, wie ein Gewinn zu beeinflussen sei.37 Kaiser Joseph II. beabsichtigte anfangs, die Lotterie zu verbieten, da er den Verlust von Geld, das mühsam erworben werden musste, bei Untertanen verhindern wollte. Dieses beabsichtigte Verbot stand im Einvernehmen mit der Regelung, die Zahl wandernder Musikanten, Komödianten und Aussteller von Tieren und Missgeburten einzuschränken, die ebenfalls an das Geld der Untertanen heranwollten. Die ausschlaggebende Rolle bei der Entscheidung des Herrschers, das Lotterie33  Joseph

II. – Gesetze, Bd. 13 (1789). Siehe Abbildung 6. vom 21. Oktober 1787, Joseph II. – Gesetze 13 (1787), S. 411 ff. 35  In der ersten Pachtperiode hatten die Pächter die Verpflichtung, bei jeder Ziehung fünf arme heiratsfähige Frauen auszulösen und sie mit der Lotto-Aussteuer von 30 Fl. zu beschenken. Innsbrucker Nachrichten 49, 3. November 1902, Nr. 252, S. 1. 36  Das Lotteriepatent vom 30. Dezember 1777, Maria Theresia – Gesetze, Bd. 8 (1787), Nr. 1926, S. 112–126. André Barata und seine „Kompagnie“ erhielt das exklusive Privileg des Lottospiels („Lotto di Genova“) vom 1. April 1778 bis Ende März 1786; Konkurrenten ohne Lizenz sollte das Vermögen konfisziert werden. Österreichischen Untertanen wurde es verboten, in den ausländischen Lotterien zu spielen oder sich in einer Weise zu betätigen; eine hohe Geldstrafe für die Nichtbeachtung sollte ein wirksames Mittel darstellen (50 Fl. für jedes Ticket). „Die Kompagnie Lotto di Genova“ musste jedoch eine Kaution von 500.000 Gulden erlegen. 37  Zu zeitgenössischen Lotterien vgl. Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 18, Leipzig 1738, S. 563–569. 34  Lotteriepatent



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spiel nicht zu verbieten, spielte die Tatsache, dass der Pachtzins für die Lotterie mit deren Beliebtheit stieg. 1778 betrug er 12.000 Gulden, die für die Finanzierung von Armen- und Waisenhäusern benutzt wurden.38 Joseph II. entschied, die Lotterie weiter bestehen zu lassen und die Lizenz zu verlängern, jedoch mit einer wichtigen Veränderung: die Bürgschaft (und damit auch das Recht, die Kaution zu bewahren) sollte künftig nicht die Wiener Stadtbank, sondern direkt das landesfürstliche Ärar übernehmen.39 Die Stellungnahme des Staates zum offiziell erlaubten Hasardspiel wurde von Zeitgenossen kritisiert, die darin eine gefährliche Art des wirtschaft­ lichen Niedergangs von Mittel- und Unterschichten der Bevölkerung sahen. „Wenn jemand gegen ein jährliches Erlagsquantum sich von irgend einem Reichsfürsten die Erlaubnis erbäte, seine Untertanen plündern zu dürfen, so dürfte ihm solche (wäre dieser Fürst auch ein Seelenverkaufer) schwerlich zugestanden werden, und doch ist diese seine Genueserspekulation weiter nichts als eine maskierte Plünderung, bei der man freylich keinem den Rock mit Gewalt vom Leibe nimmt; aber ihn durch die süsse Lockungen ansehnlicher Gewinne so ein einzuschläfern weiß, dass er ihn freywillig hingibt.“40

Joseph Richter kritisiert sehr scharf auch die Tatsache, dass sogar der Papst auf seinen souveränen Gebieten die Lotterie nicht nur erlauben, sondern sogar privilegiert haben wollte.41 Richter weist darauf hin, dass sich Spieler nicht der Gefahr der Verarmung durch das Hasardspiel bewusst sind, da sie die mathematische Probabilität nicht kennen und deswegen an ihren 38  In der letzten Pachtperiode stieg die Pachtsumme auf 425.000 Fl., die Pachtkaution blieb bei 500.000 Fl. 39  Lotteriepatent vom 21. Oktober 1787, Joseph II. – Gesetze 13 (1787), S. 414. 40  Pater Hilarion [Joseph Richter], Bildergalerie weltlicher Mißbräuche, ein Gegenstück zur Bildergalerie katholischer und klösterlicher Mißbräuche, Frankfurt und Leipzig 1785, S. 190. 41  Die Lebensdaten von Joseph Richter sind nicht ganz sicher: Constant von Wurzbach gibt vier verschiedene Geburtsdaten an (zwischen 1. März 1748 und 19. März 1748), andere Autoren eins dieses vier Daten; noch problematischer ist das Sterbedatum, sicher ist der Tag, aber nicht das Jahr. Constant von Wurzbach Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich …, Bd. 26, 1874, S. 57–62; gibt den 16. Juni 1783 an, die Allgemeine Deutsche Biographie den 16. Juni 1813, dieses Datum halten mehrere Autoren für richtig: Franz Graeffer und Johann Jakob Hein­ rich Czikann, Oesterreichische National-Encyklopaedie …, Bd. 4, 1836; Edith Ro­ senstrauch-Königsberg, 1988; Leslie Bodie, 1995. Durch die gelockerte Josephinische Zensur war es Joseph Richter möglich, sich als freier Schriftsteller durchzuschlagen. C. von Wurzbach würdigt sein „wohlwollendes, freundliches, höfliches Wesen, seine Munterkeit und witzige Gesprächigkeit“. Eine gute Beziehung zum Polizeiminister von Pergen und der Gnadengehalt vom Kaiser könnten den Verdacht untermauern, dass er sich als Polizeikonfident betätigte. Es ist mir leider bisher aus der zu Richter vorhandenen Literatur nicht gelungen festzustellen, ob Richters ­Anonyme oder Pseudonyme bereits bei seinen Lebzeiten entdeckt wurden.

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Abbildung 6: Spiel mit dem Glück – Lottospiel. Kupferstich in Oktavformat. Joseph II. – Gesetze, Bd. 13 (1789), Titelblatt, nicht paginiert.



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Gewinn glauben. Außerdem finden sich unter den Lottospielern Geschäftemacher, die den Aberglaube der Lottospieler mit dem Verkauf vermeintlich „sicherer Zahlen“ auszunutzen versuchen. Hierzu kontrastiert die ungleiche Behandlung von Zigeunern, gegen die und deren „Locken von Geld“ österreichischer Untertanen es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Gesetze gibt, sowie Wahrsagern, Kartenauslegern usw., die ihre Tätigkeit ungehindert betreiben konnten. Joseph Richter (wenn auch unter Pseudonym) wagte es wahrscheinlich nicht, den Herrscher direkt für die Mitwirkung des Staates am Lottospiel anzugreifen, obwohl der Profit des Staates offensichtlich war, deswegen äußert er bloß seine Hoffnung, dass „[die Herrscher] bedenken, dass es nicht großmüthig, nicht edel sey, aus der Schwachheit des Volkes Wucher zu ziehen“.42 IV. Allegorie des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches Diese einmalige Allegorie des ABGB (siehe Abbildung 7) stammt von Ignaz Pieschel, dem Maler und Stadtrat der Stadt Aussig an der Elbe.43 Die Lebensdaten von Ignaz Pieschel sind nicht sichergestellt; er wirkte in den Jahren 1828–1855 unter Bürgermeister Josef Hoyer als ungeprüfter Rat der Stadt Aussig. Ignaz Pieschel widmete sich vor allem der dekorativen Malerei, d. h. Malen von Interieurs der wohlhabenden Bewohner der Stadt Aussig und des unweit liegenden Kurortes Teplitz. Das Museum der Stadt Aussig bewahrt außer der hier erwähnten Allegorie des ABGB noch die Schießscheiben, die Ignaz Pieschel für den Aussiger Schützenverein anfertigte.44 Die zentrale Figur der Allegorie des ABGB ist die Justitia mit der Waage in der einen und dem Schwert in der anderen Hand. Die Justitia ist hier „sehend“ dargestellt, entbehrt also, ähnlich wie die Justitia in der Josephinischen Gesetzessammlung, der Augenbinde. Die Farbe des Kleides – royal blue – symbolisiert die außergewöhnliche Stellung des ABGB. Der für diese Figur sehr ungewöhnliche Kopfschmuck – die Schleife mit Schleier – gibt der Justitia einen bürgerlichen Charakter. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch symbolisieren die Gesetze des Alten Testaments und vor allem das von einem Engel gehaltene aufgeschlagene Buch mit der Aufschrift „Allgemeines Bürgerl. Gesetzbuch“ sowie ein Stapel von „Verordnungen von dem k. k. Landesgubernium“. Die Allegorie ergänzen rechtshistorische 42  Pater

Hilarion [Joseph Richter], Bildergalerie weltlicher Mißbräuche, S. 198. Josef Umlauft, Geschichte der deutschen Stadt Aussig. Eine zusammenfassende Darstellung von der Stadtgründung bis zur Vertreibung der Deutschen, Bayreuth 1960, S. 266. 44  Mein Dank gilt Herrn Magister Václav Houfek vom Museum der Stadt Ústí nad Labem. 43  Franz

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Attribute: das Liktorenzeichen als Symbol der Herrschaft, (ebenso stellt die Krone ein Zeichen der Herrschaft dar), und die schwörende Hand. Der Lorbeerast unter dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch und die darunter liegende Krone mögen zudem als Symbole des Sieges interpretiert werden, und zwar sowohl des Herrschers als Sieger über Napoleon als auch des Sieges der Justitia, also der „reinen Justiz“. Der von einem der Engel gehaltene Spiegel zeigt nicht das Gesicht des Schauenden, sondern das Janusgesicht, verweist also auf den manchmal komplizierten Gang des Rechts. Ein weiterer Engel hält die gesprengten Fesseln, vielleicht als Attribut der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Die schöne starke muskulöse Gestalt der Justitia umrahmt ein den religiösen Darstellungen ähnlicher Lichtkreis. Das große Bild entstand nicht zur Zeit der Publikation des ABGB, sondern wesentlich später: zwischen den Jahren 1847–1849.45 Ob die Allegorie des ABGB als Ausdruck der bürgerlichen Freiheiten bzw. als Forderungen des konstitutionellen Lebens in der Revolution von 1848 entstanden, bleibt eine Hypothese. Anschließend kann man die Frage stellen, warum so wenige Abbildungen des Kaisers Franz mit dem ABGB existieren. Der Herrscher ließ sich doch als „Pacifikator“ darstellen und sein Wahlspruch „Justitia regnorum fundamentum“ verspricht einen engen Bezug zur Justiz. Dies steht in krassem Widerspruch zum Kaiser der Franzosen, Napoleon I., der sich als Schöpfer des ersten bürgerlichen Gesetzbuches „Code civil“ (1804) oft darstellen ließ. Eine der raren Abbildungen des Kaisers Franz I. mit dem ABGB zeigt ein Freskoentwurf von Leopold Kupelwieser46 für die Niederösterreichische Landesregierung (1847), der nie realisiert worden war.47 Dass so wenige Rechtsdarstellungen existieren und die Ursache dafür bleiben wohl noch ein Desiderat der historischen Forschung.

45  Die Größe der Leinwand beträgt 130 × 130 cm; das Bild wird im Museum des Stadt Ústí nad Labem aufbewahrt. 46  Leopold Kupfelwieser (1796–1862) wirkte ab 1836 als Professor für die historische Malerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Er beschäftigte sich mit Porträts, religiösen Motiven und auch der Freskomalerei. Zu seinen bekanntesten Werken gehört das Porträt des Kaisers Franz I. im Krönungsornat (1805  /  1810). 47  Den Freskoentwurf für die Niederösterreichische Landesregierung von Leopold Kupferwieser veröffentlichte und analysierte Barbara Dölemeyer: Sichtbarmachen der Gesetzgebung. Zur Ikonographie des ABGB, in: Gernot Kocher  /  Heiner Lück  /   Clausdieter Schott (Hrsg.), Signa Iuris. Beiträge zur Rechtsikongraphie, Rechts­ archäologie und rechtlichen Volkskunde, Bd. 6, S. 9–35.



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Abbildung 7: Allegorie des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches. Öl auf Leinwand, 130 × 130 cm, Museum der Stadt Ústí nad Labem.

V. Die Staatliche Intention und die Wahrnehmung der Gesetze – ­Gesetze und Gesetzgeber in Text Die bürgerliche Gesellschaft, dem Buchstaben nach, beginnt bereits bei Joseph II., der zwei Reihen von Gesetzessammlungen herausgibt (wie kein Herrscher vor und nach ihm) – nämlich die chronologische und die thematische. Bereits der beachtliche Umfang der Josephinischen Gesetzessammlung lässt die Flut von Gesetzen ahnen, die der Kaiser für seine nicht allzu lange Zeit der Alleinregierung herausgab. Für den Kaiser und seine aufgeklärten Berater erscheint der Hauptzweck der Veröffentlichung in der Zugänglichkeit der Gesetze für jeden Bürger zu liegen. Das Ziel ist die „reine Justiz“, die im Endeffekt die Willkür der Richter beseitigen oder mindestens einschränken

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wird. „(…) dadurch wird sich ieder von Zeit zu Zeit in die wahre Kenntnis der Verordnungen setzen: der Chef, der Rath, der Vorsteher und Richter wird alle ergangene Gesetze in einem Buche beisammen haben, nach welchen sie sich bei Vorträgern, Entschliessungen und Bescheiden richten können (…)“48 Dieselben Argumente findet man auch im Kommentar zum ABGB aus dem Jahre 1811 von einem der herausragenden Juristen seiner Zeit, nämlich von Franz von Zeiller, der das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811 mit „einem großen Gebäude“ vergleicht, „das die unvergeßliche Maria Theresia entwarf, und Josephs rascher Geist nur erst begann, (…) nun auch die große Wohltat eines einheimischen allgemeinen Civil-Codex, wodurch der Bürger über seine und seine Mitbürger Rechte und Rechtspflichte gelehrt, die Streitsucht beschränkt, und die Willkür immer aus den Streithöfen verbannt worden soll.“49 Franz von Zeiller unternahm zudem einen Vergleich der zu seiner Zeit bestehenden Gesetzbücher – nämlich des französischen Code civil und des Preußischen Landrechts. Das Preußische Landrecht bewertet von Zeiller als ausführlich, so dass es keiner weiteren systematischen Übersicht bedurfte, hingegen hat der „kurz gefaßte“ Code civil „bereits mehrere, mit dankbarem Beyfalle gepriesene Commentatoren gefunden“. Zeillers Erklärung bewegt sich diplomatisch auf dem schmalen Grat zwischen einem Juristen und einem Untertanen, der nicht gegen den vom Kaiser publizierten Codex handeln möchte, andererseits will er seinen Kommentar zum Gesetzbuch publizieren, da er als Jurist überzeugt ist, dass dieser notwendig sei. Bereits der Umfang des ersten Teiles, etwa 600 Seiten, bezeugt die Ansichten des Autors. Den Code civil wollte Zeiller nicht offen loben, da es sich bei Frankreich unlängst noch um einen Feind Österreichs handelte. Zeiller sucht also Gründe für die Veröffentlichung seines umfangreichen Kommentars, der eigentlich nicht erforderlich hätte sein sollen, wenn das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ausreichend präzise abgefasst gewesen wäre. VI. Zwei Aspekte aus dem „Katalog der bürgerlichen Wünsche“ Die satirische Literatur zur Wende des 19. Jahrhunderts ermöglicht die Einsicht in den „Katalog der bürgerlichen Wünsche“, also Wünsche der Mitglieder einer neuen modernden bürgerlichen Gesellschaft. Es ist hier, insbesondere wegen des Umfangs des Beitrags, leider nicht möglich den gesamten „Katalog der bürgerlichen Wünsche“ zu behandeln, es wurden hier also zwei Aspekte herausgegriffen, die für die bürgerliche Gesellschaft 48  „Vorbericht“,

Joseph II. – Gesetze, Bd. 1, S. 4. von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Bd. 1, Wien und Triest 1811, Vorrede (nicht paginiert). 49  Franz



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wichtig waren: nämlich die persönliche Freiheit und Gleichheit sowie die Rolle des Herrschers in der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft. 1. Die persönliche Freiheit und Gleichheit Ein wichtiger Schritt zur Freiheit und Gleichstellung aller männlichen Staatsbürger auf der Zivilebene in Österreich war unbestritten mit der Veröffentlichung des Hofreskripts und Patents am 1. November 1781 getan: „Ein großer Teil seiner Provinzen lag in den schändlichen Ketten der Leib­ eigenschaft. Joseph zertrümmerte sie, setzte die unterdrückte Menschheit in ihre Rechte ein, stellte das wahre Verhältnis zwischen Fürst und Untertan her – und doch liebt ihn sein Volk nicht.“50 Diese scharfen kritischen Worte entstanden einige Jahre später, als die Popularität von Joseph II. gesunken war; mit Recht aufgeworfene Rednerfragen zeigen die Diskrepanz in der Gesellschaft, die im Zuge der neuen Verhältnisse „verbürgerlichte“. Zu diskutieren sind die Beweggründe, die Joseph II. zu einer der wichtigsten Maßnahmen seiner Regierung veranlasst hatten. Der bürgerliche Aspekt trat hinter der Staatsräson zurück: die Möglichkeit der freien Migration der Arbeitskräfte war für die wirtschaftliche Entwicklung des Staates notwendig, genauso wie die freie Wahl des Berufes, die mit dem größeren Interesse an der beruflichen Karriere zusammenhing und zur Entwicklung von industriellen und wissenschaftlichen Technologien beitrug. Der Kaiser befahl das Eigentum der untertänigen Gründe Untertanen einzuräumen: „(…) so wie es anderswärts die Erfahrung bestätiget, dem Fleiße, der Arbeitsam­ keit und Industrie des Unterthans einen neuen Trieb geben wird.“51 Die Landwirtschaft, deren Struktur durch die Aufhebung der Leibeigenschaft beträchtlich betroffen war, sollte aber in ihrem Wesen nicht beeinträchtigt werden, wie dies z. B. in Krain befürchtet wurde: die Herrschaften sollten den Untertanen den jetzt zur Pflicht gewordenen, unentgeltlich ausgestellten Entlassschein zwar immer auf Wunsch erteilen, jedoch darauf achten, dass Bauerngründe durch den Abzug nicht verlassen bleiben.52 Das Patent vom 1. November 1781, seine Kommentare und innere Instruktionen deuten an, dass es weniger um den Menschen ging als vielmehr um „das Gemeinwohl“, das einigen Aufklärern zu folge „das einzelne Wohl“ bildet und voraussetzt. „Die Wohlfahrt der Teile gründet sich auf die Wohl­ 50  Anonymus [Joseph Richter], Warum wird Kaiser Joseph von seinem Volke nicht geliebt? Wien 1787, S. 11. 51  Kommentar zum Patent vom 1. November 1781, Joseph II. Gesetze, Bd. 1, S. 81. 52  Untertansregulativ für Krain vom 13. September 1782, Joseph II. Gesetze, Bd. 1, S. 78. Dies scheint jedoch bloß für arme Gegenden in Krain zu gelten.

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fahrt des Ganzen: aber auch die Wohlfahrt des Ganzen entspringt nur aus der Wohlfahrt der Teile.“53 Joseph von Sonnenfels schlägt ein „modernes“ Mittel zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Staates vor, dass nämlich die Eigenliebe bei den einzelnen Menschen erweckt werden soll, d. h. die Bemühung muss bei jedem Einzelnen beginnen, der mit eigenen Kräften sein Schicksal ändert. „Wir suchen unser eignes Beste, indem wir das Beste des Vaterlandes suchen, wir lieben in dem Vaterlande uns selbst. Diese Entdeckung setzt die Vaterlandsliebe zwar ein wenig herab, und zeigt uns die Halbgötter der Geschichte in einer menschlichen Gestalt. (…) Was nur als die höchste Anstrengung der Tugend angesehen werden konnte, war wenig tauglich, ein Beispiel zur Nachahmung zu seyn. Nur wenige edlere Seelen sind einer solchen Anstrengung fähig. Aber es ist möglich, die Eigenliebe selbst bei einem Haufen zu erregen. Man kann ein ganzes Volk zu Patrioten machen.“54

Es wurde dem „mündigen Bürger“ ein Mittel angeboten, um die bisher unantastbare Macht der Herrschaften über die Untertanen zu brechen und sich wirtschaftlich zu entwickeln. Gerade die bürgerliche Schicht – Bildungsbürgertum, Handwerker und Meister (später Unternehmer, Industrielle, Kaufleute) – war diejenige, die als erste die privilegierte Stellung des Adels mit besten Mitteln – nämlich mit Geld – bedrohte. Die Aufhebung der Leibeigenschaft trug dazu bei, dass der Adel an Ansehen verlor. Dies fand seine satirische Darstellung in der Literatur Ende des 18. Jahrhunderts, wie z. B. bei Franz Xaver Huber:55 Der Blaue Esel.56 „Stammbaum des blauen Esels, meines Onkels. (…) Sein Adel ist so alt, daß aus allen adeligen Familien, und wenn die Zahl der Ahnenporträts alle Wände ihres Familienschlosses vom Kornboden bis in den Keller ausfüllen 53  Joseph

54  Joseph

von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz, Bd. 1, S. 6. von Sonnenfels, Über die Liebe des Vaterlandes. Gesammelte Schriften,

Bd. 7, S. 10. 55  Die biographischen Angaben zu Franz Xaver Huber sind nicht gesichert. Die Nachforschungen werden besonders durch den Umstand erschwert, dass es in Österreich zu gleicher Zeit zwei ungefähr gleichaltrige Autoren des Namens Franz Xaver Huber gab, die von verschiedenen Forschern teils verwechselt wurden. Der hier zitierte F. X. Huber wurde 1755 in Beneschau in Böhmen geboren und starb wahrscheinlich 1814 in Mainz. Vgl. Edith Rosenstrauch-Königsberg (Hrsg.), Literatur der Aufklärung 1765–1800, Wien 1988, S. 332. Neue deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin 1972, S. 692–693. 56  Der Blaue, das heißt der blaublütige Esel ist eine Mischung aus philosophischem Roman, politischer Satire und grotesker Tierfabel. Vgl. L. Bodi, Tauwetter in Wien, S. 342. Als Parodie der Parodie stellt der Blaue Esel die durch die Reformpolitik schwächer gewordenen traditionellen Werte der Gesellschaft an den Pranger. Da die Schrift die Josephinischen Reformen angreift, wurde sie von der Studienhofkommis­ sion dem Kaiser persönlich zur Entscheidung vorgelegt, der sie trotz scharfer Kritik seiner Person mit der Bemerkung bewilligte: „Da mich schon so viele Menschen geta-



Bürger werden in Österreich 1780–1811239 sollten, sich keine eines gleichen Ursprungs rühmen kann; (…) Der erste Stammvater, von dem das Geschlecht meines Onkels in gerader Linie bis auf ihn, den blauen Esel, ununterbrochen fortgepflanzt wurde, war eben derjenige Esel, der vor den Augen Gottes, da die Welt des argen Zeugs wegen, das sie trieb, durch das Wasser vertilget wurde.“57

Die offene, mit scharfen Worten der Satire dargebotene Kritik der Privilegien, der Erziehung und der elitären Lebensweise des Adels ist eines der Merkmale der neuen „allgemeinen bürgerlichen“ Zeit. 2. Die Rolle des Herrschers „Jeder Unterthan erwartet von dem Landesfürsten Sicherheit und Schutz. Es ist also die Pflicht des Landesfürsten, die Rechte der Unterthanen deut­ lich zu bestimmen, und ihre Handlungen so zu leiten, wie es der allgemeine und besondere Wohlstand fordert.“58 So die Einleitung zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch im Jahre 1786. Der Herrscher wird hier zum unbezahlten, wenn auch von Gott bestimmten obersten Beamten und Schutzherrn seiner Untertanen. Die neue Rolle des Herrschers, die sich grundlegend und bewusst von der älteren, vor allem durch den Sonnenkönig formulierten Stellung: „Wir sind der Staat“ unterscheidet, kann in Österreich erst mit der Person Josephs II. verbunden werden, da die Regierungszeit seiner Mutter eine Übergangsphase darstellte. Die neue Rolle des Herrschers fand eine satirische Widerspiegelung in der zeitgenössischen Prosa, hier im Werk des hohen österreichischen Beamten Johann Pezzl:59 „Es ist gar lange nicht, daß man noch hie und da disputierte, ob das Volk für den König oder der König für das Volk existiere. (…) Wenn ich nur einen Despoten zu meinem Beherrscher habe, so bin ich seiner los, wenn ich mich vor ihm zu delt, so mag mich auch ein Esel tadeln.“ Anonymus, Briefe über den gegenwärtigen Zustand der Literatur und des Buchhandels in Oesterreich, Wien 1788, S. 120. 57  Franz Xaver Huber, Der Blaue Esel, Wien und Leipzig 1789, S. 21–22. 58  Patent vom 1. November 1786, Einleitung zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch 1786, Justizgesetzsammlung, 2. Forts.-Bd. (1786), Nr. 590, S. 71 an, hier S. 72. 59  Johann Pezzl (1756–1823), Sohn eines niederbayerischen Bäckermeisters, besuchte das Benediktinerlyzeum in Freising, verließ nach dem Probejahr als Novize den Benediktinerorden in Scheyern. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Salzburg lebte er in der Schweiz; 1783 kam er nach Wien. Zu seinem gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg verhalf das Angebot von Staatskanzler Fürst Kaunitz, der ihm im Jahre 1785 eine Stelle eines Vorlesers, Bibliothekars und Sekretärs anbot. 1791 wurde Johann Pezzl Offizial im Geheimen Chiffrenkabinet. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 25, Leipzig 1887, S. 578–579; Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 288–289; Österreichisches biographisches Lexikon 1815– 1950, Bd. 8, Wien 1979, S. 22–23; E. Rosenstrauch-Königsberg (Hrsg.), Literatur der Aufklärung 1765–1800, S. 330–332; L. Bodi, Tauwetter in Wien, S. 184–196.

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Boden werfe, seinen Kaftan küsse oder ihm den Staub vom Stiefel lecke, je nachdem es die Zermonialregister seiner Kanzlei fordern; (…)60

Die übereilte Umwandlung der „alten“ in eine moderne Gesellschaft rief bei den vielen Schichten der Bevölkerung Widerstand gegen den großen Reformator Joseph II hervor. Manche zeitgenössische Intellektuelle versuchten, Gründe für die allgemeine Revolte, die mit der Zeit anstieg, zu finden und die Situation zu analysieren. Die Gesellschaft bzw. ihre Intellektuellen gewannen damit einen durchaus bürgerlichen modernen Charakter: zum ersten Mal konnte eine offene Kritik am Monarchen samt der Regierung geübt und nach eventuell neuen „besseren“ Wegen der gesellschaftlichen Entwicklung gesucht werden. Joseph Richter stellte die Verdienste Josephs II. heraus, und er fragt mit Recht, weshalb die Reformen solch heftigen Widerstand hervorriefen. „Die Gesetze waren dunkel, der Gang der Rechte langsam, die Richter spielten mit Gesetzen, und die Rechtsfreunde mästeten sich vom Vermögen ihrer betrogenen Partheyen. Joseph verbesserte die Gesetze, gab den Rechten einen raschen Gang, beschränkte die Habsucht der Advokaten, – stellte unbe­ stechliche Männer zu Richtern auf – und doch liebt ihn sein Volk nicht.“61 Diese Schrift richtet sich nicht so sehr gegen die Reformen selbst, die von vielen zeitgenössischen Broschüren zwar ironisiert, jedoch nicht abgelehnt werden, sondern sie nimmt kritisch zu den Methoden des Kaisers Stellung, in welcher Weise Reformen durchzuführen sind, und sie kritisiert die allzu strenge Persönlichkeit des Kaisers. „Ein Regent soll dem Gotte der Christen glei­ chen: Er soll kein strenger Richter, er soll ein liebreicher Vater seyn. Strenge verhärtet nur die Herzen; aber Großmuth und Güte gewinnt sie.“62 Diese bisher undenkbare Schrift war nur durch die Lockerung der Zensur möglich, was wiederum die Klugheit und Selbstironie des Kaisers zeigt. Die Josephinische Zensur ließ den bisher undenkbaren Gedanken zu: Den Zweifel an der Person des Herrschers. Natürlich kommt hier noch nicht die Idee zum Tragen, dass man einen schlechten Herrscher durch die republi60  Der in der Aufklärungsliteratur beliebte Topos eines wilden Fremden in der „zivilisierten“ Stadt ermöglichte Johann Pezzl, die Schwächen des Regimes und der westlichen Zivilisation und Religion zu zeigen. Anonym unter dem Titel „Marokkanische Briefe. Aus dem Arabischen. Frankfurt und Leipzig 1784“ erschienenes Werk nahm den tatsächlichen Besuch einer marokkanischen Gesandtschaft in Wien im Jahre 1783 zum Anlass, um als fiktives Mitglied im Gefolge des Gesandten – seinem eignen Geständnis nach „mehr Beobachter als Geschäftsmann“ – über verschiedene Themen offen zu schreiben. Edith Rosenstrauch-Königsberg vermutet im Unterschied zu anderen Autoren, dass Johann Pezzl den Besuch der marokkanischen Gesandtschaft wahrscheinlich selbst erlebte. E. Rosenstrauch-Königsberg (Hrsg.), Literatur der Aufklärung 1765–1800, S. 245–247. 61  Anonymus [Joseph Richer], Warum wird Kaiser Joseph von seinem Volke nicht geliebt? Wien 1787, S. 14. 62  Ibid., S. 45.



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kanische Staatsform ersetzen könne, aber bereits die Mittel „der Besserung“ der bisher unantastbaren Person des Herrschers – nämlich die Erziehung und Pressefreiheit – gehören zu den durchaus (allgemeinen) bürgerlichen Forderungen. „(…) Ein einziger Umstand machte mir die Alleinherrscher noch auf eine gewisse Art fürchterlich: dies ist die Besserung der Fürsten. Politische Höhe schützt nicht vor moralischer Tiefe. (…) Wie es wohl möglich sei, einen Fürsten zu bessern, der vom Glanze seines Thrones geblendet, vom Geklirre seines zahllosen Heeres trotzig gemacht, und, von den Schmeicheleien seiner Hofschranzen eingewiegt, einmal auf die schlimme Wege geraten sei und sich einbilde, das Volk sei bloß seinetwegen da. (…)“

Die Anspielung auf die religiöse Gerechtigkeit, die erst im Jenseits erfolgen wird, jedoch das irdische Leben nicht ändert, beinhaltet die Attacke auf die Macht der Kirche als eine wichtige Stütze des Herrschers. „Wir sollen ein Mittel haben, das den irrenden Gewaltsmann noch bei seinem Leben bessert. Die erwachende Philosophie gibt uns gelindere Mittel: diese sind Erziehung und Preßfreiheit, (…) die doch das einzige aufrichtige Organ ist, durch das der Fürst die Gesinnungen seines Volkes gegen ihn und seine Bedienten unverstellt erfahren kann.“63 VII. Zusammenfassung „Die Archonten dieses Reiches fühlten sich verpflichtet, dem aufgehenden Tage gemäß, alle Verordnungen, Einrichtungen usw., die in den Finsternissen eingeführt und verfaßt wurden, abzuschaffen, und an deren Stelle neue einzuführen. Man fand die alten Gesetze dunkel, woraus denn in den Gerichtsstuben nichts als Verwirrung entstund, (…) Diesem Unfuge zu steuern, traten die ältesten und geschicktesten aus dem Rate zusammen, und verfaßten ein neues Gesetzbuch. Deutlichkeit aller Gesetze war die erste Grundregel: und man befolgte sie. Das Gesetzbuch erschien und der Verstand dieser neuen Gesetze war so einleuchtend, das Schulknaben sie ohne einen Kommentar verstehen konnten. Durch dieses neue Gesetzbuch glaubten die Archonten der Gerechtigkeit die Binde abgenommen zu haben, (…).64

Was für ein Staat war Österreich um 1811? Satirische Texte von Franz Xaver Huber, Johann Pezzl, Joseph Richter boten trotz scharfer Kritik kein negatives Bild des Staates und deren Herrscher. Sie sagten mehr über die geänderte, sich modernisierende Gesellschaft aus, deren Entwicklung unter anderem durch zwei Allgemeine Bürgerliche Gesetzbücher ermöglicht und beschleunigt wurde. Für die Zeitgenossen stand die Publikation vom ABGB Zitate: J. Pezzl, Marokkanische Briefe, S. 32–33, 34. Xaver Huber, Herr Schlendrian, oder der Richter nach den neuen Gesetzen, Wien 1787, S. 4. 63  Beide

64  Franz

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am 1. Juni 1811 im Schatten des Finanzpatents vom 20. Februar 1811, das den finanziellen Zusammenbruch Österreichs bedeutete. Dies betraf jeden Menschen, der in Österreich lebte, besonders arme Schichten, die von der Lohnarbeit abhängig waren. Dagegen rief die Publikation vom ABGB unter der breiten Bevölkerung kein großes Aufsehen hervor, da dieses Gesetzbuch zu jenen Erscheinungen gehörte, die erst nach „langen Strecken“ an Bedeutung gewann. Abstract Becoming a citizen in Austria 1780–1811 The author explains the processes that accompanied the dramatic period of changes prior to and during the publication of two new civil codes that became then fundamental legal standards of the Austrian state. Their roots are visible both in the contemporary Bohemian law and in the current civil law in Austria. The paper focuses on an analysis of the new state approach to the subjects, their duties and rights, and on the perception of the new situation by „the people“. Attention is also paid to the citizenship, its legal foundation, and on the problematic aspect of citizenship in view of its obtention or loss.

Erziehung der Landbevölkerung zum modernen R ­ echtsbewusstsein in Böhmen in der Vormärzzeit Jiří Šouša und Jiří Štaif I. Einleitend Einleitend halten wir es für erforderlich vorzuschicken, dass wir den Begriff Landbevölkerung dem Begriff Landvolk vorziehen, denn es handelt sich um einen Termin, der die Ambivalenz der Werte besser bezeichnet, die für die auf Böhmens Lande in der Vormärzzeit lebende Bevölkerung maßgebend waren. Wir tun so, weil ihre Mentalität, ähnlich wie bei der Kleinstadtbevölkerung, gewisse Situationsspannung zwischen den zunächst allmählichen und nach 1830 immer mehr auffallenden Einwirkungen der gesellschaftlichen Modernisierung und dem bisherigen Traditionalismus aufweist. Diese Tatsache kann als zeitbedingter Dialog zwischen der intellektuell hochentwickelten, genre- und inhaltsreichen und damit auch allseitig „höheren“ Gelehrtenelite und der weniger entwickelten, inhaltsund genreärmeren, doch immer noch vitalen und in einigen deren Äußerungen nichtkonformen „niedrigeren“ Kultur der kleinstädtischen und ländlichen Gesellschaftsschichten interpretiert werden. Wir vermuten, das ideale Ziel für ihre Erziehung zum modernen Rechtsbewusstsein bestand darin, das nichtkonforme Potential der Untertanenkultur im Sinne des Aufklärungs- bzw. Spätaufklärungskonzeptes von Gemeinwohl positiv zu bewirken. Zugleich wird berücksichtigt, dass die niedrigeren Gesellschaftsschichten in der Vormärzzeit im Allgemeinen nur über elementaren Bildungsgrad verfügten. Ihr Informationshorizont war also viel eingeschränkter als bei denjenigen, die „mehr“ und „besser“ wussten. Auch die Dispositionen zur abstrakten Denkweise entwickelten sich bei den weniger gebildeten Menschen viel langsamer als bei den mit höherem Bildungsgrad. Es ist zu bemerken, dass wir den Begriff Land- und Kleinstadtvolk als zeitgenössische Bezeichnung respektieren, deren soziokulturelle bzw. symbolische Bedeutung dank der Aufklärung und insbesondere der Romantik zugenommen hat. Einige Forscher, die sich mit einem Vergleich der nationsbildenden Prozesse beschäftigen, sind überzeugt davon, dass die Ansicht des Volkes als Nationsgrundlage mit gewisser innerer Logik erst im Zusam-

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menhang mit der Entstehung literarischer Nationalkulturen entstand, in die der europäische klassizistische Streit zwischen Traditionalisten und Modernisten über die Auslegung des antiken Kulturerbes ausgemündet hatte. Wir vermuten jedoch, dass die ähnlich aufgefassten Konstruktionen des Begriffs „Volk“ auch weitere Ideenquellen hatten; von diesen kommt in Frage insbesondere das Konzept der Volksaufklärung als eine der wichtigen Richtungen von Kulturmodernisierung, deren Einfluss in Mitteleuropa besonders auffällig ist. Wir meinen auch, dieses pädagogische Projekt hat die führenden tschechischen Volksaufklärer dazu inspiriert, innerhalb der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftseinschränkungen der niedrigeren Gesellschaftsschichten als ihrer potenziellen Klientel „positive“ Kultur- und Ideeninhalte und Übergriffe zu suchen und so objektive Nachteile in erwünschte wertvolle Vorteile zu verwandeln. Unbeachtet lassen wir dabei das geistig-aristokratische Volkskonzept im Sinne der Plebeiermissachtung, in dem das Volk nur als Objekt zweckdienlicher Gewaltmanipulationen gilt.1 Der weitere Ausbau des Begriffs „Volk“, das diesmal als politischer Souverän auftritt, erfolgte im Rahmen verschiedener Konzepte der bürgerlichen Gesellschaft, deren Initiativrolle bei der Bildung einflussreicher Vorstellungen über die Modernisierung der Gesellschaft unumstritten ist. Wir gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass das Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft in der Vormärzzeit gewissermaßen tautologisch als idealer Typ deren Ordnung aufgefasst wird mit besonderem Nachdruck auf die freie Entwicklung verschiedener Formen der Bürgerpartizipation in öffentlichen Angelegenheiten. Um diese Tautologie mindestens teilweise zu vermeiden, versuchen wir jetzt, die damalige Vorstellung über die Abgrenzung des Begriffs „Bürger“ flüchtig zu beschreiben. Als Bürger galten diejenigen Bewohner des Staates, deren gleiche Rechte sowie entsprechende Pflichten durch Verfassung und Gesetze garantiert werden sollten. Niemand sollte also in diesem Sinne privilegiert werden. Die so aufgefassten „Bürger“ werden auch als Personen betrachtet, welche – bis auf gewisse gesetzliche Einschränkungen – im öffentlichen Raum frei handeln und sich vereinen können, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Es war dabei wünschenswert, derartige Einigkeit mit anderen Mitbürgern zu erreichen, welche die perspektivische Existenz einer auf Rationalität, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Verantwortlichkeit beruhenden Gesellschaft ermög1  Der Begriff „Volk“ als integrierendes und zugleich mitkonstituierendes Phänomen der literarischen Nationalkultur erschien in Deutschland zwischen den Jahren 1760 und 1780 in der Form von derartigen Begriffen wie Volkspoesie, Volksdichtung, Volkslied und Volkssage, insbesondere dank J. G. Herder und G. A. Bürger. Dazu vgl. David L. Cooper, Creating the Nation. Identity and Aesthetics in Early nineteenth century Russia and Bohemia, Illinois 2010, insbesondere S. 91–96.



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licht. Das Konfliktpotential der bürgerlichen Gesellschaft sollte deshalb mit einer höheren Beilegungskultur aktueller und perspektivischer Streite gemäßigt werden, in der die einseitig angewendeten Machtautoritäten und insbesondere die Gewalt als äußerste Mittel gelten, die praktisch nur ausnahmsweise einzusetzen sind im Einklang mit den bestehenden Gesetzen, die nur in Übereinstimmung mit dem Willen der Bürger geändert werden können.2 Diese Abgrenzung der „bürgerlichen Gesellschaft“ ist aus dem heutigen Sichtwinkel sicherlich nicht ideal. Es ist jedoch genügend klar, dass ihre Gestaltung auch als ein pädagogischer Prozess angesehen werden kann, der die Menschen auf das ideale Ziel orientiert, wobei die Teilnehmer fähig sind, die auf diesem Wege befindlichen Hindernisse zu überwinden. Es ist beizufügen, dass die Gestaltung unserer Ausgangsvorstellungen über die moderne bürgerliche Gesellschaft auf die Aufklärungsphilosophie und auf die mit ihr verbundene Naturrechtstheorie über die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen grundsätzlich zurückzuführen ist; diese Theorie wird zum geschichtlichen Faktor mittels des Gesellschaftsvertrags und ist nur wirksam, solange sie von Bürgern für legitim gehalten wird. Die Evolutionskonzepte der Aufklärung, gegenüber denen heute die Gesellschaftswissenschaften oft ein wenig voluntaristisch inneren Abstand bewahren, basierten seinerzeit „authentisch“ auf der These, der Mensch müsse systematisch erzogen werden, um sich als Bürger zu fühlen. Damit kommen wir zum Konzept der Volksaufklärung, das die Tatsache berücksichtigen musste, dass in vielen Ländern Mitteleuropas sich die meiste Bevölkerung im ausgehenden 18. Jahrhundert im Untertanenstand befand und dem absolutistischen Staat unterstand. Den so gegebenen Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Machtrahmen musste auch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) aus dem Jahre 1811 respektieren, das dank seiner Auffassung der privatrechtlichen Bürgergleichheit und deren Vereinheitlichung in den allgemein gültigen Rechtsnormen für einen unbe2  Die Fachliteratur zum Thema „bürgerliche Gesellschaft“ ist äußerst umfangreich. Die Verfasser konstatieren meistens gewisse Unklarheit, Instrumentalität oder sogar Illusivität dieses Begriffs, oder die Versuche in einem der Konzepte das andere zu problematisieren. Es ist jedoch offensichtlich, dass sich der Begriff „bürgerliche Gesellschaft“ nicht nur entwickelt, sondern weiterhin ein geeignetes Instrument für die Konzeptualisierung der gesamten Gesellschaft unter Berücksichtigung der Wertrolle in der Handlung entsprechender Akteure darstellt. Dazu vgl. zumindest Jiří Štaif, Počátky občanské společnosti, revoluce 1848–1849 a české země. Koncepty historiografie a výzkum (Die Anfänge der bürgerlichen Gesellschaft, die Revolution 1848–1849 und die Böhmischen Länder. Konzepte der Historiographie und Forschung) (Hrsg.), in: K  novověkým sociálním dějinám českých zemí II, Zdeněk Kárník, Praha 1998, S. 11–47 und Rudolf Kučera, Občanská společnost. Koncept a jeho historizace (Die bürgerliche Gesellschaft: Das Konzept und seine Historisierung), Dějiny – teorie – kritika 2, 2007, S. 219–231.

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streitbaren Beitrag zur defensiven Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft gehalten werden kann angesichts der Tatsache, dass es das liberale Konzept von gleichen Bürgerrechten in anderen Bereichen des Gesellschaftslebens in sein Programm nicht einschließt. Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, auf seine gemeinsamen Punkte und seine Parallelen mit den Erziehungsbemühungen der Volksaufklärung zu deuten und so mindestens einige Probleme in Bezug auf die Rechtsaspekte der Beziehungen innerhalb der Landgesellschaft in Böhmen in der Vormärzzeit zu entwerfen.3 II. Die Volksaufklärung als Erziehung „zum Besseren“4 Die moderne Erziehung der Landbevölkerung zum Rechtsbewusstsein spielte sich in der Vormärzzeit auf dem von der Aufklärung und dem österreichischen Staatsabsolutismus gestalteten Wertparadigma ab. Diese Tradition wurde zwar nach 1790 und insbesondere nach 1815 gebremst, doch bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts, als sie vom Liberalismus und von verschiedenartigen Nationalinteressen verstärkt beeinflusst wurde, ist sie als maßgebend anzusehen. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie als Durchdringen der Aufklärungsideologie ins Rechtssystem, Verwaltung, Schulwesen, Volkswirtschaft und andere Bereiche von Staatsinteresse stattfand. Mit dem Staat entsprechend dessen Aufklärungsprinzip von Bevölkerungserziehung zum „Besseren“ kooperierten mehr oder weniger einige Institutionen, die bereits auf Grund des modernen Prinzips von Vereinigung der individuellen Interessen zu einem allgemein nützlichen Ziel des Staates entstanden waren. Als ihr wichtiger Vertreter in Böhmen auf dem hier untersuchten Forschungsgebiet gilt die Patriotisch-ökonomische Gesellschaft mit dem Sitz in Prag, die sich bemühte, die ökonomischen Staatsziele mit den Inte3  Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, passim, insbesondere S. 96 ff. und 207–231. 4  Dazu siehe Ivan Pfaff, Lidové osvícenství a lidoví buditelé. Se zřetelem na sociální stratifikaci lidového národního hnutí 1800–1850 (Volksaufklärung und Volksaufklärer. Mit Rücksicht auf die soziale Stratifikation der Nationalbewegung 1800–1850), Moderní dějiny 15, 2007, S. 5–59. Der Verfasser lässt die Pädagogik von Volksaufklärung unbeachtet, ähnlich wie die Frage der juridischen Modernisierung von menschlichen Beziehungen. Den Begriff „Volk“ bezieht er vor allem auf kleinstädtische Handwerker und Gewerbsleute und unterstreicht deren einzigartige konstitutive Rolle im tschechischen nationsgestaltenden Prozess. In seiner bilanzpolemischen Abhandlung hat er sich mit zahlreichen, von Barbora Mlynaříková durchgeführten Analysen nicht auseinandergesetzt. Ihr Werk „Geografický horizont prostého venkovské člověka v  Čechách v  letech 1740–1830 I.–II.“ (Der geographische Horizont des einfachen Dorfbewohners in Böhmen in den Jahren 1740–1830 I.–II.) Praha 2001 bezeugt, dass die Gesichtskreise der Land- und Kleinstadtbevölkerung von einem, die Fortschrittlichkeit der einzigartigen Volkskultur akzentuierenden Interpretationskode nicht überzeugend zu erklären sind.



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ressen des Großgrundadels, dessen patrimonialer Beamter und einer ziemlich kleinen Gruppe von Volkswirtschaftsexperten zu harmonisieren.5 Um die erwünschte Modernisierung der Landwirtschaft durchzusetzen, sollte sie auch die Untertanenbevölkerung auf dem Lande, insbesondere deren Bauernschicht ansprechen. Gewissen Vorsprung in diesem Bereich hatte jedoch das Nachbarland Deutschland, wo sich bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verschiedene Bildungsrichtungen entwickelt hatten, die sich im Rahmen des Volksaufklärungskonzeptes auch bemühten, die Landbevölkerung so zu erziehen, dass sie die Bildung als Hauptschlüssel zum „wahren“ menschlichen Glück achtete. Ihnen zugrunde lag die Übertragung der „höheren“ aufgeklärten Bildungsstufe auf die „niedrigere“ Ebene der untertanen Landleute. Dieses erzieherische Vorhaben konnte allerdings nur unter der Voraussetzung erfolgreich sein, dass ein perspektivisches Kommunikationsfeld bestand, in dem sich die „höhere“ Kultur mit der „niedrigeren“ gewaltlos vermischen konnte. Man bemühte sich deshalb, die Landleute zum Lesen von Belehrungstexten zu bewegen, um ihnen die Grundsätze beizubringen, die sie dann im praktischen Leben ausnutzen konnten. Die so aufgefasste volksaufklärerische Bildungsliteratur ging u. a. von der Voraussetzung aus, die Landbevölkerung solle ähnlich wie kleine Kinder „zum Besseren“ erzogen werden. Die Autoren wussten nämlich, dass die Bauern in einigen mit dem zyklischen Charakter des Landwirtschaftsjahres verbundenen Stereotypen leben und deshalb tendieren dazu, in ihren Handlungen die traditionellen Bräuche ihrer Vorfahren zu wiederholen und im Aberglauben sowie in Vorurteilen befangen zu sein.6 Einer der wichtigen Verfasser von Bildungsliteratur für die Landbevölkerung im deutschen Kulturkreis war Rudolph Zacharias Becker (1752–1822), der von dem Grundsatz ausging, dieses Kulturgenre solle den Anschaulichkeits- und Belehrungsprinzipen folgen in der Form von sittenrichterlichen Erzählungen, die der Landkommunität eine unbestrittene moralische und gesellschaftliche Autorität vermitteln sollten. Diese Rolle erfüllte in seinen Werken ein Priester in der Gemeinde mit einem typisch aufklärerischen Namen Mildheim. Der Verfasser benutzt als literarische Form dessen fiktive Gespräche mit Pfarrkindern und die erzieherische Komponente ist zusätzlich in den Predigten betont. Die pädagogischen Bemühungen des Verfassers zielen darauf, die aufgeklärte Wirtschaftsrationalität mit dem ethischen Perfektionalismus, in dem jeder Christ ständige Selbstvervollkommnung anstre5  Miloslav Volf, Organizace a působení Vlastensko-hospodářské společnosti (Organisation und Wirkung der Patriotisch-ökonomische Gesellschaft), Praha 1961, passim. 6  Annegret Völpel, Der Literarisierungsprozeß der Volksaufklärung des späteren 18. und früheren 19. Jahrhunderts. Dargestellt anhand der Volksschriften von Schlosser, Rochow, Becker, Salzmann und Hebel, Frankfurt a. M. 1996, passim, S. 333 ff.

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ben soll, zu harmonisieren. Die Gesetze seien, so Becker, den Menschen nicht nur gegeben worden, um die gesetzwidrige Handlung gerecht zu strafen, sondern auch um dem Verbrecher eine Besserungschance und den anderen ein abschreckendes Beispiel zu bieten, das man vermeiden soll, um erlöst zu werden. In diesem Erziehungskonzept hat den moralischen Anspruch auf Rechtsschutz „von oben“ nur derjenige, der sich selbstvervollkommnen will. Zu diesem Ausgangsparadigma kommt noch das Phänomen des Philanthropismus, der jeden ehrlichen Menschen hochachtet und ihm mit richtiger Bildung hilft geistig und materiell besser leben. So wird er überzeugt, auch er könne „Besseres erlangen“. Ein weiteres konstitutives Element der so aufgefassten Volksaufklärung ist die systematische Bildung der auf dem Lande lebenden Bevölkerung, um ihren Geisteshorizont ständig zu erweitern. Es geht dabei insbesondere um die möglichst große Rationalität und Verflechtung aller die Landwirtschaftsproduktivität positiv bewirkenden Faktoren. In diesem Zusammenhang wurde besonderer Nachdruck auf die sinnvolle Zeitnutzung, vorbildliche Arbeitsorganisation, Gesundheitspflege sowie auf geeignete veterinäre Maßnahmen gelegt. Im Rahmen des aufklärerischen Konzeptes der Kultivierung von zwischenmenschlichen Beziehungen sollte die gemeinsame Arbeit auch Freude des Wirtes, der Wirtin und ihres Gesindes an dieser Arbeit herbeirufen und so ihre hohe physische Mühe ausgleichen. Die Humanisierung der Gesellschaft wurde hier nämlich nicht nur als ethische, allgemein erwünschte Zivilisationsaufgabe, sondern auch als unentbehrliche Voraussetzung für die Harmonisierung der materiellen und geistigen Komponente des menschlichen Glücks betrachtet. Die Volksaufklärung bemüht sich, die Bauernschicht der Untertanenbevölkerung zu gewissem Stolz darauf zu erziehen, dass es gerade durch sie möglich ist, ein meist konfliktloses Fungieren der Menschenbeziehungen zu erreichen, was für alle Anderen ungeachtet deren Stellung in der Gesellschaftshierarchie vorteilhaft sein wird. Die Bürgergleichheit im liberalen Sinne ist jedoch dieser Bildungsströmung fremd. Es handelt sich also grundsätzlich um das ideal-typisches Modell einer „konfliktlosen“, hierarchisierten und „glücklichen“ Gesellschaft, für dessen Umsetzung das richtige Tool die aufgeklärte, von niemandem gehinderte Bildung darstellt.7 7  Ibid., S. 129 ff. Rudolph Zacharias Becker bekannte sich zu der lutherischen Konfession. Sein Buch „Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersläute oder lehrreiche Freuden- und Trauer- Geschichte des Dorfs Mildheim I–II“, erschien in den Jahren 1788 und 1798. Es handelte sich seinerzeit um einen tatsächlichen Bestseller im Literaturgenre der Volksaufklärung, der von dem Autor auch in einer Version für katholische Leser verfasst wurde. Das Werk wurde häufig nicht nur im deutschen Sprachgebiet gelesen; es wurde in viele andere Sprachen übersetzt, wie Slowenisch,



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Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass der erste Teil von Beckers Buch nur mit einer kleinen Verspätung in tschechischer Übersetzung erschien. Dies geschah in Brünn im Jahre 1789, denn nach der Überzeugung der hiesigen Freimaurerloge, zu deren Mitgliedern übrigens der Verfasser zählte, bot das Buch geeignete Anregung zur Umsetzung ihres Volksaufklärungsprogramms. Josef Jungmann hielt jedoch die zweite Übersetzung ins Tschechische von František Jan Tomsa (1753–1814) aus dem Jahre 1791 für besser. Die tschechische Schrift hatte den Titel „Pomoc v  potřebě neb užiteční, veselí a smutní příběhové obyvatelů Mildheimu“ (Noth- und HülfsBüchlein für Bauersläute oder lehrreiche Freuden- und Trauer- Geschichte des Dorfs Mildheim) und der Text erschien im Verlag der Normalschule in Prag, wo der Autor als Buchlagerbeamter angestellt war. Diese Umstände deuten darauf, dass das Werk nicht nur als Buch für beliebige Interessenten vorgesehen war, sondern auch als Hilfsmittel auf niedrigeren tschechischsprachigen Schulen in Böhmen für die Lehrer, die ihre Bildungswirkung mit den tieferen Argumenten unterstützen wollten. Es ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Tomsas Übersetzung dank gewisser Komplexität der deutschen Vorlage zusätzlich für einen Text zu halten ist, der das bedeutsame Paradigma der Volksaufklärungsbemühungen auch im tschechischen Milieu der Vormärzzeit formuliert.8 Aus dem Inhalt dieser Publikation geht nämlich eindeutig hervor, dass sowohl der ursprüngliche Verfasser als auch der tschechische Übersetzer sich dessen sehr gut bewusst waren, dass die Volksaufklärung sich nicht nur mit der immer noch sehr niedrigen Bildungsstufe der Landbevölkerung, sondern auch mit der Tatsache auseinandersetzen mussten, dass es erforderlich war, mit systematischer Bildung die Spitzen verschiedenster Konflikte abzustumpfen, welche die aufklärerischen Vorstellungen über erforderliche Kultivierung der menschlichen Beziehungen in einem Milieu störten, in dem die meisten Menschen in Untertanenstellung gegenüber ihren Grundherren als auch gegenüber dem Staat als höchste Obrigkeit lebten. Besonderer Nachdruck wurde deshalb auf die Milderung aktueller und potentieller Tschechisch, Estnisch, Holländisch, Ungarisch, Lettisch, Sorbisch, Italienisch, Dänisch, Schwedisch und Polnisch. Beckers Mitarbeiter in Eisenach war der Freimaurer Christian C. André (1763–1831), der später auch als Direktor der evangelischen Schule in Brünn (1798–1821) tätig war und der sich um die Entwicklung von Wissenschaftsforschung nicht nur in Mähren, sondern auch in Böhmen verdient machte. 8  Vgl. Jiří Kroupa, Alchymie štěstí. Pozdní osvícenství a moravská společnost (Glücksalchymie. Die Spätaufklärung und die mährische Gesellschaft), Brno 1988, passim, insbesondere S. 85 ff. und Jiří Štaif, Ideální konstrukce obce v  českých výchovných spisech 19. století. Komunální elity jako nositelé obecného dobra (Ideale Gemeindekonstruktion in den tschechischen Erziehungsschriften. Die Kommunalelite als Träger des Gemeinwohls), in: Občanské elity a obecní samospráva 1848–1918, Lukáš Fasora, Jiří Hanuš, Jiří Malíř (Hrsg.), Brno 2006, S. 117–130.

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Streite in der Handlung individueller Akteure sowie in den Familien- und Nachbarbeziehungen sowohl auf der individuellen als auch der Landgemeindeebene gelegt. Weniger häufig handelte es sich dann um potentielle Konflikte mit Obrigkeit und Staat, die in dem Buch ein wenig alibistisch so dargestellt werden, dass beide diese hierarchisch höher stehenden Machtsphären sich aufrichtig nach dem Aufklärungsprinzip von Gemeinnutz und Gerechtigkeit richten, von denen auch die Bauern profitieren können vorausgesetzt, dass sie ihre Denkweise und Handlung ändern. Im Grunde genommen geht es um ein Gesellschaftskonzept, in dem die Macht- und Bildungselite darüber entscheidet, welcher Anteil an dem Gemeinwohl für die anderen Gesellschaftsschichten „freigegeben“ wird. Tomsas Übersetzung von Beckers Buch ist deshalb im Kontext der Tatsache anzusehen, dass 1786 der erste Teil des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) erlassen wurde, das im Bereich Familienrecht gegenüber dem früheren Stand mehr Rechte für Frauen, Ehefrauen und Kinder enthielt, ohne jedoch die führende Rolle der Männer zu beseitigen. Die Konstruktion von Familienbeziehungen in diesem paradigmatischen Buch von Grundsätzen für Volksaufklärung basierte nämlich auch auf der analogischen Überzeugung, die Familie solle vor allem eine juristische Entität sein, in der aus der Prestigesicht die stärkere Position dem Mann, d. h. dem Bauer zukommt, der zusammen mit seiner Ehefrau, die im Bauern­ hof herrscht, in gegenseitigem Einklang sowohl seine Kinder als auch sein Gesinde führt. Diese didaktische Schrift überlappte mit dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch auch darin, dass beide Eltern für die Erziehung ihrer Kinder in gleichem Maße verantwortlich sind und deren möglichst glückliche Zukunft sichern sollen. Weiter fortgeschritten wurde insbesondere in der Anweisung, dass die Ehe nur auf Grund der gegenseitigen Zuneigung der beiden Partner geschlossen werden soll. Überwiegt in dieser Sache nur die Rücksicht auf Reichtum bzw. physische Schönheit, wird das Eheband höchstwahrscheinlich unglücklich sein und kann deshalb auch keine geeignete moralische Grundlage für erfolgreiche Kindererziehung schaffen. Der Mildheimer Pfarrer, geführt von psychologischer Rücksicht auf die Mentalität der Landleute, bestärkt seine Pfarrkinder durch seine mehrstufige Moralerzählung über ein verführtes Bauernmädchen, dessen ungeratene Brüder und dessen Verführer – adeligen Offizier in der Erkenntnis, der Missklang zwischen Eltern könne sogar zu einem bedenklichen Rechtsstreit führen, der viel Geld kostet und schließlich mit einem ekelhaften Verbrechen endet.9 9  Vgl. Philipp H. Harrasowsky, Geschichte des österreichischen Civilrechtes, Wien 1868, S. 142–152 und F. J. Tomsa, Pomoc v  potřebě neb užiteční, veselí a



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Die unglückliche Frau nämlich, auf Anraten ihres Vaters, einem zynischen Trinkbruder, ermordet in ihrer Ratlosigkeit ihr uneheliches Kind dadurch, dass sie es in heißen Ofen wirft. Der Seelsorger nutzt pädagogisch diese Geschichte, um seine Pfarrkinder zu belehren, dass Gott jedem die Chance bietet, sich in seinem Leben entweder nach guten oder nach schlechten moralischen Grundsätzen zu richten. Im ersten Fall führt Gott den Menschen zum Glück, in dem anderen ist aber Mensch selbst für seine Fehltritte, Vergehen und Verbrechen verantwortlich. Eine Chance für Erneuerung der Gunst Gottes hat man nur wenn man diese Taten aufrichtig bereut und sich bemüht, die Fehler wieder gutzumachen. Auch ein schlechtes Beispiel kann also aus der Erziehungssicht von positiver Bedeutung sein. Das sei übrigens der Hauptgrund, warum jeder sittsam, vernünftig, ehrlich und bedächtig handeln soll. Er soll so mit angemessener Aktivität nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber seiner Familie, Gesinde, Nachbarn, Gemeinde, Obrigkeit und Staat handeln.10 III. Tugenden und Rechte des „Landbürgers“ In der so aufgefassten menschlichen Handlung steht im Vordergrund vielmehr die moralische Verantwortung der Landbevölkerung als deren aktuelle bzw. nur erwünschte Rechte. Ähnlich konzipierte komplexe Werke mit psychologisch subtiler Argumentation wie die Bildungsschrift „Pomoc v  potřebě“ (Hilfe im Bedarfsfall), die in Böhmen nach 1800 zum Beispiel von dem Verleger populärer tschechischer Literatur V. M. Kramerius oder von dem katholischen Priester der tschechischen „Wiedergeburt“ Antonín Jaroslav Puchmajer herausgegeben wurden, hinkten.11 Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang ist das in Brünn vom mährischen katholischen Priester Tomáš Fryčaj (1759–1839) herausgegebene Buch „Pravidla výborného sedlského života“ (Die Regeln eines ausgezeichsmutní příběhové Mildheimu (Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersläute oder lehrreiche Freuden- und Trauer- Geschichte des Dorfs Mildheim), Praha 1791, S. 169 ff. 10  Ibid., S.  187 ff. 11  [V. M. Kramerius], Dobrá rada v potřebě. Aneb: Vypsání života Davida Opatrného (Guter Rat im Bedarfsfall. Oder: David Opatrnýs Lebensbeschreibung). Praha 1803, Antonín Jaroslav Puchmajer, Krátké naučení o polním hospodářství pro obecný lid, podle katechetického způsobu učení. Sepsané v  němčině od jednoho českého držitele statku. Nyní působením c. k. Vlastenecké hospodářské společnosti v češtinu uvedené (Kurze Belehrung über Feldwirtschaft für das gemeine Volk, nach der katechetischen Lehrweise, verfasst von einem tschechischen Gutsbesitzer. Jetzt durch Wirkung der k. k. Patriotisch-ökonomischen Gesellschaft in Böhmen ins Tschechische übersetzt), Praha 1817. Für bibliographische Angaben über diesen Typ von Erziehungsliteratur siehe Josef Jungmann, Historie literatury české (Geschichte der tschechischen Literatur), 2. Aufgabe, Praha 1849, bzw. 1851, S. 460 ff., 472 ff., 487 ff.

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neten Bauernlebens), das von dem Konzept allgemein gültiger Nachbartugenden ausgeht, welche Achtung und Ehre jedem verschaffen, der sich aufrichtig nach ihnen richtet, also auch dem Bauern. Zum Unterschied von Tomsas Übersetzung von Beckers Werk geht es hier gewissermaßen um gezielte Erziehung zur Bürgerlichkeit, die jedoch auch hier im liberalen Sinne nicht verstanden ist.12 Die Menschen in dieser Ansicht sind nämlich nicht gleichberechtigt in ihren Bürgerrechten, sondern darin, dass jeder gleiche Ehre erreichen kann, auch wenn man nur Untertan seiner Obrigkeit ist. Deshalb wird auch der Bauer von Fryčaj für einen Menschen bürgerlichen Standes gehalten. Als Mensch hat auch der Untertan zahlreiche Verpflichtungen nicht nur gegenüber dem Herrscher, den Staatsbehörden, seiner Obrigkeit und der Kirche, sondern auch gegenüber seiner Frau, seinen Kindern, Eltern, seinem Gesinde, seinen Nachbarn und seiner Gemeinde. Aus diesen Verpflichtungen ergeben sich im asymmetrischen Maße kleinere, gleiche oder größere Rechte gegenüber denjenigen, denen er verpflichtet ist. Zu einem ehrwürdigen Nachbarn wird er durch die Grundsätze von Haltung und Handlung, denen er folgen soll, d. h. Anstand, Ehrlichkeit und Höflichkeit, wohlwollend sein, sein Wort halten, Diskretion, Versöhnlichkeit und Widerwillen gegen Schadenfreude. Die Schlüsselrolle von Garant dieser Tugenden kommt der Institution von Dorfrichter als „Friedensrichter“ sui generis auf der niedrigsten Ebene zu.13 Gerade er soll nämlich dafür sorgen, dass möglichst viele in der Gemeinde aufgetauchte Konflikte auf friedliche Weise geschlichtet werden, sodass sich die Herrschaftsbeamten, oder sogar Gerichte nicht damit beschäftigen müssen. Die Dorfuntertanen versuchten nämlich diese erste Instanz so zu vermeiden, dass sie sich in einigen Herrschaften mit ihren Bitten mündlich oder schriftlich direkt an die Obrigkeit wandten, die so manchmal willkommene, meistens aber offensichtlich unwillkommene Gelegenheit hatte, die symbolische Rolle deren patriarchalen Beschützers auszuüben. Ähnlich ge12  Vgl. Vladimír Lukášek, Každodennost sedláka a jeho rodiny ve vzdělávacích lidových knížkách přelomu 18. a 19. století (Der Alltag des Bauern und seiner Familie in volkserzieherischen Büchern an der Wende des 18. Jahrhunderts), Diplomarbeit an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität, Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Praha 1999, passim. 13  Tomáš Fryčaj, Pravidla výborného sedlského života obsahující povinnosti sedlského občana, jakožto otce, domácího hospodáře, souseda, stavu občanskému, vrchnosti a všelikým představeným poddaného, pak i povinnosti vesnického rychtáře (Die Regeln eines ausgezeichneten Bauernlebens mit Pflichten des Landbürgers als Vater, Hauswirt undNachbar gegenüber dem Bürgerstand, der Obrigkeit und sämtlichen, des Untertanen Vorgesetzten, sowie die Pflichten eines Dorfrichters), III. Brünn 1808, passim, insbesondere S.102 ff., 119 ff. und 224 ff. Dazu vgl. Archiv český 25, hrsg. v. Josef Kalousek, Praha 1910, u. a. S. 265 ff. und August Sedláček, Paměti z mého života (Erinnerungen aus meinem Leben), Praha 1924, S. 20–21.



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richtet waren übrigens auch die herrschaftlichen und allgemeinen Anweisungen für die Dorfrichter. Nach Fryčaj allerdings nur der Dorfrichter, der gerecht ist, vielseitig verhandeln und mit Nachbarn Rat halten kann, ist imstande, die Dorfkommunität zum Gemeinwohl zu führen.14 Daraus geht hervor, dass das liberale Prinzip von Bürgergleichheit und von Gleichgewicht zwischen Bürgerrecht und Bürgerpflicht  ihm – wie Becker – auch fremd war. Der bürgerliche Aspekt der volksbildenden Bemühungen ist allerdings für den mährischen Geistlichen viel wichtiger als für den deutschen Pädagogen. Für beide stellt jedoch die Untertänigkeit eine gültige Rechtsverpflichtung dar, die von ihnen nicht in Frage gestellt wird. Fryčaj geht in dieser Hinsicht noch weiter, denn er hält es für primär, in Übereinstimmung mit der Ideologie der Volksaufklärung, derartiges Verflechtungsmaß von Menschen- und Untertanenverpflichtungen mit Menschen- und Untertanenrechten zu erreichen, das eine effektive Erziehung der Landsleute so ermöglicht, dass sie die gegenwärtige Gesellschaftsordnung für legitim halten. Auch die Patriotisch-ökonomische Gesellschaft in Böhmen bemühte sich, die Landbevölkerung nach 1800 mit ihren in respektablen Auflagen herausgegebenen Volkskalendern zu erziehen. Aus verständlichen Gründen wurde dabei vor Allem die praktische Erziehung auf rationelle Führung der Bauernwirtschaft orientiert und so akzentuiert, dass möglichst große Effekte im Vergleich zu den Kosten erreicht werden.15 In den aufklärerischen Kontext von „Erziehung zum Besseren“ und Verstärkung der Rechtssicherheiten aller Bevölkerungsschichten in den österreichischen, böhmischen und polnischen Ländern der Habsburgermonarchie fällt zweifellos auch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch vom Juni 1811 (ABGB), obwohl sich die Arbeiten über fünfzig Jahre gezogen hatten und die darin enthaltenen Rechtsansichten auch gewisse Entwicklung aufweisen. Mit seinen Bestimmungen korrespondiert die für die Landbevölkerung bestimmte Literatur, insbesondere – wie wir schon wissen – im Bereich Familienrecht und Nachbarbeziehungen. Offen bleibt jedoch vor allem die Frage, welchen Widerhall eigentlich seine Bestimmungen gerade auf dem Lande fanden. Der bekannte tschechische Volkschronist, Dorfrichter und wissbegierige Zeitungsleser František Jan Vavák (1741–1816) äußert sich nur indirekt 14  Siehe insbesondere Verzeichnis in: Maxmilián Obentraut, Příruční kniha pro vesní rychtáře k  seznání důležitosti své služby a k poučení o povinnostech jim přináležících (Handbuch für die Dorf-Richter zur Erkennung der Wichtigkeit ihres Dienstpostens und zur Belehrung über die ihnen obliegenden Pflichten), Prag 1847. 15  Karel Bednařík / Věra Havelková, Časopisy a kalendáře vydávané Vlastenecko – hospodářskou společností v  Praze (Die von der Patriotisch-ökonomischen Gesellschaft in Prag herausgegebenen Zeitschriften und Kalender). Praha 1977, S. 3 ff. und passim.

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dazu. Anfang 1812 wurden nämlich von Kreisbehörden in Böhmen Zirkulare versandt, welche die zuständigen Ämter sowie die Vertreter von Landgemeinden darüber detailliert informierten, wie das ordentliche Testament aussehen soll, um nachträgliche Rechtsstreite auszuschließen. Auf dem Vormärz-Lande war es nämlich weiter ganz üblich, dass die Untertanen diesen Rechtsakt „auf die lange Bank“ schoben. Nicht selten wurde das Testament erst nachträglich, d. h. nach dem Tod des Erblassers auf der Grundlage persönlicher Zeugenaussagen schriftlich errichtet. Die Anwesenheit des Dorfrichters bei dem mündlichen „Testamenthandel“ sollte die Vertrauenswürdigkeit dieser Rechtsverrichtung verstärken.16 Die anderen Dorfgelehrten erwähnen, soweit es uns bekannt ist, zum Unterschied von dem Finanzpatent aus dem Jahre 1811 bezüglich der „Staatsbankrotterklärung“, das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) wie ein denkwürdiges Ereignis von symbolischer Bedeutung für die bessere Orientierung der Landbevölkerung in ihrer Umwelt überhaupt nicht. Dies bezieht sich auch auf die (Klein)stadtchronikschreiber. Wir glauben jedoch nicht, dass diese Tatsache nur damit zu erklären ist, dass das ABGB sich in das Leben der niedrigeren Bevölkerungsschichten in dem nichtungarischen Teil der Habsburgermonarchie „buchstäblich eingeschlichen“ hat.17 Es ist auch bemerkenswert, dass der tschechische Schriftsteller Alois Jirásek (1851–1930) in seinem paradigmatischen Roman „F. L. Věk“ über die Anfänge der tschechischen nationalen Wiedergeburt, der in den Jahren 1890–1907 etappenweise erschien, über das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch überhaupt nicht spricht, obwohl einer der Protagonisten des Romans im Jahre 1811 Jura auf der Prager Universität studiert und dabei auch als Schreiber in einer Advokatenkanzlei arbeitet. Von grundsätzlicher Bedeutung für die literarische Konstruktion symbolischer Orte der tschechischen Wiedergeburtsgeschichte ist nämlich nicht nur der Krach von Staatsfinanzen, sondern der Anfang tschechischer Vorstellungen im Prager 16  Srv. Alice Velková, Krutá vrchnost, ubozí poddaní? Proměny venkovské rodiny a společnosti v  18. a v  první polovině 19. století na příkladu západočeského panství Šťáhlavy (Grausame Grundherren und arme Untertanen? Verwandlungen der Bauernfamilie und Landgesellschaft im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der westböhmischen Herrschaft Šťáhlavy), Praha 2009, S.  163 ff. 17  Paměti Františka Jana Vaváka, souseda a rychtáře milčického z let 1770–1816. (Memoiren von František Jan Vavák, Nachbar und Richter in Milčice, aus den Jahren 1770–1816. Buch VI–VII), Kniha VI – VII (1810–1816), hrsg. v. Martin Kučera, Praha 2009, passim, insbesondere S. 127–128. Dazu vgl. Jiří Klabouch, Manželství a rodina v minulosti (Ehe und Familie in der Vergangenheit), Praha 1962, S. 120 f. und Marie Macková, Všeobecný občanský zákoník v  habsburské monarchii roku 1811 (Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in der Habsburgermonarchie von 1811), Historica Olomucensis 40, 2011, S. 53–63, zit. S. 62.



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Ständetheater. Bedeutsam war auch der Beitritt Russlands als Schlüsselmacht der Siegerkoalition gegen das napoleonische Frankreich. Die bisherige Geschichtsforschung kann uns nicht eindeutig sagen, ob der „Mangel an Interesse“ für das ABGB unter der Landbevölkerung dadurch zu erklären ist, dass die Leute während der napoleonischen Kriege andere, mehr prosaische Sorgen hatten, oder eher dadurch, dass es zwischen den ABGB-Bestimmungen und der in Böhmen in diesem Bereich immer noch gültigen Legislative keinen großen Unterschied gab. Die Josephinische Regelung der Rechtsstellung von Untertanen auf dem Lande bildete nämlich eine moderne Rechtskultur, die organisch zum österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch führte in derartigen Bereichen wie Erbangelegenheiten, Eheschließung und Lehr- und Studiumsmöglichkeit für Kinder. Gerade in diesen Bereichen wurde die Kompetenz der Obrigkeit offensichtlich relativiert. Es ist dabei zu belegen, dass für die Stabilisierung der Rechtsverhältnisse von hörigen Bauern, insbesondere für deren Familienstrategie das Patent über Erbrechtsänderung zu Gunsten des ältesten Sohns vom Anfang April 1787, besonders starke Auswirkung hatte.18 Die sehr vage Kenntnis der „grundsätzlichen“ Bedeutung des Bürgerlichen Gesetzbuches unter den breiten Schichten der böhmischen Bevölkerung ist auch darauf zurückzuführen, dass die Schlussrevision dessen erster Übersetzung ins Tschechische (1812) von dem Juristen und Literat der tschechischen „Wiedergeburt“ Jan Nejedlý (1776–1834) sprachlich sehr „halsbrecherisch“ war. Eine tschechische Übersetzung von guter Qualität ist nämlich erst A. V. Šembera (1807–1882), Professor an der Wiener Universität, fünfzig Jahre später zu verdanken.19 18  Vgl. Kamil Krofta, Dějiny selského stavu (Geschichte des Bauernstandes), 2. Aufl., Praha 1949, S. 340 f., 350 f. und 367 ff. Dazu siehe insbesondere A. Velková, Krutá vrchnost, ubozí poddaní?, S. 152, 220 ff., 234 ff. und 448–452. 19  Zu der ersten Übersetzung des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs ins Tschechische siehe die Abhandlung von Milan Hlavačka in dieser Publikation. Ihm folgte: Kniha všeobecných zákonů občanských říše rakouské. Do české řeči přeložená a krátkým výkladem opatřená od Jana Petržilky (Buch der allgemeinen bürgerlichen Gesetze in Österreich, ins Tschechische übersetzt und mit kurzer Erklärung versehen von Jan Petržilka), Praha 1857. Šemberas Übersetzung hatte den Titel: Obecný zákoník občanský císařství rakouského (Das Allgemeine Gesetzbuch des Kaisertums Österreich) I–III, Vídeň 1862. Es folgte eine weitere Übersetzung von František Joklík (1865–1942), der bereits auf mehrere Novellen reagierte: Obecný občanský zákoník rakouský vyhlášený patentem ze dne 1. června 1811 č. 946 sb. Ve znění, jež se některým paragrafům dostalo cís. nařízením ze dne 12. října 1914 č. 276 ř. z., ze dne 22. července 1915 č. 208 ř. z. a ze dne 19.  března 1916 č. 69 ř. z. (tzv. novelami), (Das Allgemeine österreichische Gesetzbuch verkündet mit dem Patent vom 1. Juli 1811 Nr. 946 Slg. In der Fassung, die einige Paragraphen erhielten durch die kaiserliche Verordnung vom 12. Oktober 1914 Nr. 276 RG., vom 22. Juli 1915 Nr. 208 RG. und vom 19. März 1916 Nr. 69

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Es ist auch offensichtlich, dass der österreichische Staat in der Vormärzzeit daran nicht sehr interessiert war, dass juristisch unqualifizierte Menschen sich der fachlichen Rechtsangelegenheiten aktiv annahmen. Diese Tendenz tritt eindeutig in den Vordergrund in einem der letzten, für Dorfrichter bestimmten normativen Handbücher, das 1847 von dem erfahrenen Beamten der politischen Staatsverwaltung in Böhmen Maxmilian Obentraut (1795–1883) in deutscher und tschechischer Fassung herausgegeben wurde. Obwohl darin betont wird, dass gerade die Untertanen auf dem Lande, insbesondere die Bauern, mit der richtigen Ausübung ihrer Pflichten dem „Gemeinnutz sämtlicher Bürgerschaft“ wesentlich beitragen, ist dort das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch überhaupt nicht direkt erwähnt. Dagegen findet man dort einen Überdruck der gesamten Gesindeordnung für Böhmen und Mähren aus dem Jahre 1782 sowie von zahlreichen Finanz-, Veterinär-, Bau- und Feuerschutzvorschriften, für deren Einhaltung die Richter amtliche Verantwortung auf sich nehmen mussten. Für den Approach des Verfassers in dieser Sache ist charakteristisch, dass er den Wirkungsbereich des privaten Bürgerrechts als einen Raum respektiert, der gegen Staats- und Obrigkeitseingriffe gewissermaßen autonom sein soll. Deshalb werden die Richter in den Richtlinien auch nicht ermahnt, direkte Aufsicht über die Rechtsverhältnisse der Landbevölkerung auf dem Gebiet auszuüben, das von dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt wurde. Obentrauts Richtlinien stimmen deshalb mit diesem Rechtsdokument nur selten überein, nämlich in den Passagen über öffentliche Sittenpflege und Kindergesundheit, Gesindevertragsrechte sowie über Nachbarstreite, die vom Dorfrichter im Rahmen seiner Kompetenzen möglicherweise mit Zurede geschlichtet werden sollten, um unnötige Ausgaben für das Gerichtsverfahren zu vermeiden. Sein Buch enthält nicht derartige Begriffe wie Ehe- und Elternrechte bzw. Pflichten, und die Regeln für Testamentsverfassung und weitere Erbschaftsfragen sind auch nicht erwähnt. Es ist ganz typisch, dass das Ausgedinge nicht als eine Art „Pension“ betrachtet, sondern nur im Zusammenhang mit Bauvorschriften erwähnt wird. RG. (durch sog. Novellen), Praha 1917. František Joklík gab seine Übersetzung auch später heraus, siehe: Obecný zákoník občanský pro republiku československou vyhlášený patentem ze dne 1. června 1811 č. 946 sb. Ve znění, jež se některým paragrafům dostalo cís. nařízením ze dne 12. října 1914 č. 276 ř. z., ze dne 22. července 1915 č. 208 ř. z. a ze dne 19. března 1916 č. 69 ř. z. (tzv. novelami) (Das Allgemeine österreichische Gesetzbuch verkündet mit dem Patent vom 1. Juni 1846 Nr. 946 Slg. In der Fassung, die einige Paragraphen erhielten durch die kaiserliche Verordnung vom 12. Oktober 1914 Nr. 276 RGB, vom 22. Juli 1915 Nr. 208 RGB und vom 19. März 1916 Nr. 69 RGB (durch sog. Novellen), 3. Aufl., Praha 1922.



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In den anderen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens hält dieser juristisch hochgebildete Verfasser für das wichtigste Regulativ den Gehorsam der Untertanen gegenüber den höheren Autoritäten, d. h. Staat und Obrigkeit. Die Dorfrichter müssten deshalb die Versuche der Untertanen verhindern, sich „ihrer“ Rechte aktiv anzunehmen, insbesondere in den Bereichen, wo das private Bürgerrecht nicht mehr wirksam war. Amtlich sollten sie so insbesondere in den Fällen vorgehen, wo die nichtkonformen Landsleute „willkürlich“ ihre eigene Auffassung der Legitimität für die allgemein gültige Legalität vertauschen wollten. Sie müssten deshalb kompromisslos gegen deren Bemühen auftreten, heimliche Schreiber für die Verfassung von Beschwerden anzustellen. Besonders streng sollten die Versuche verhindert werden, für deren Honorare Sammlungen zu organisieren. In streitigen, oder nur scheinstreitigen Angelegenheiten sollten sie sich nämlich auf den Instanzenweg verlassen, auf dem ihnen die Gerechtigkeit vom absolutistischen Staat garantiert wird.20 Viel mehr auffallende Berührungspunkte mit der Diktion des österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuchs als in Obentrauts Handbuch finden wir in der volksbildenden Schrift des Herrschaftsbeamten Vojtěch Šwippl (1791– 1875) über einen vorbildlichen Bauernwirt. Seine Publikation wurde von der Patriotisch-ökonomischen Gesellschaft in Böhmen zunächst in deutscher Fassung im Jahre 1832 (dort wurde auch die deutsche Variante seines Vorund Zunamens Adalbert Schwippel verwendet) und nachträglich auch in tschechischer Übersetzung im Jahre 1835 herausgegeben. 1840 folgte die zweite tschechische Ausgabe. Der lange Name des Protagonisten dieser didaktischen Abhandlung sowohl in Deutsch als auch in Tschechisch „Georg Frey oder Beispiel wie viel Gutes ein verständiger Mann in einer Gemeinde zu stiften vermag; dem Landwirte überhaupt, insbesondere aber dem lieben Bauernstande zum Nutzen ausgestellt  /  Jiří Volný, anebo příklad, jak mnoho dobrého rozumný muž v obci způsobiti může, hospodáři vůbec, zvláště ale k užitku milého stavu sedlského“ ist kein reiner Zufall, denn es handelte sich um die Lebensbahn eines tapferen österreichischen Soldaten, der nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst zu einem vorbildlichen Bauernwirt geworden ist. Seine habituelle Sehnsucht nach „etwas Besserem“ wird dabei von nützlicher Selbstbildung sowie von positiven Belehrungen durch weise und zugleich philanthropische Herrschaftsbeamte unterstützt. Er ist auch ein vor20  Maxmilián Obentraut, Příruční kniha pro vesní rychtáře k  seznání důležitosti své služby a k poučení o povinnostech jim přináležících, Praha 1847, zit. S. IV. Weiter siehe auch insbesondere S. 4, 7–16, 145–146, 149–151, 177 ff. Die deutsche Version dieser Publikation trug den Titel: Maximilian Obentraut, Handbuch für die Dorf-Richter zur Erkennung der Wichtigkeit ihres Dienstpostens und zur Belehrung über ihre auf demselben ihnen obliegenden Pflichten, Prag 1847.

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bildlicher Ehemann und Vater, gerechter Hausherr und vorbildlicher Bauernwirt. Arbeitslust, Gerechtigkeitsgefühl und weise Beharrlichkeit – diese Eigenschaften werden bei ihm insbesondere dank der Obrigkeitsgunst entwickelt. Die vorbildliche Lebensbahn Jiří Volnýs / Georg Freys gipfelt mit der allgemeinen Anerkennung seiner Verdienste, nachdem er sich von der Untertänigkeit in dem Dorf ablöst, in dem er vorher „mit Recht“ Dorfrichter geworden ist. Er bewährt seine Fähigkeiten auf diesem Weg u. a. auch dadurch, dass er zunächst als angesehener Nachbar und später als umsichtiger Gemeindevertreter auf friedliche Weise verschiedene übliche Streite im Dorf schlichten kann. Ebenso geschickt kann er günstige Bedingungen für die erfolgreiche wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung dieser Dorfgemeinschaft mit den Herrschaftsbeamten verhandeln und weigert sich „deshalb“ auch nicht, aus der Gemeinschaft „schlechte“ Bauernwirte, Rebellen und verschiedene Wanderexistenzen zu vertreiben.21 Er macht sich so darum verdient, dass die Dorfnachbarn verstärkt an dem Gemeinwohl interessiert sind, das ihnen persönlich, ihren Familien, der Gemeinde im Allgemeinen, aber auch der Obrigkeit und dem Staat insoweit gut tut, dass „alle zufrieden sein können“. Es bestehen Gründe zu glauben, dass Šwippl hier im zweiten Plan seiner Ausführungen mit dem Konzept einer streng hierarchisierten bürgerlichen Gesellschaft operiert, in der auch die Landbevölkerung „ihr Glück“ erreichen kann, wenn sie mit durchdachter und intensiver Arbeit zum Glück der gesamten Gesellschaft beiträgt. Die Legitimität der Gesellschaftsordnung basiert hier jedoch wieder nicht auf dem Prinzip der bürgerlichen Gleichheit; diese wird von der privatrechtlichen Bürgergleichheit und dem Prinzip gleicher Ehre für jeden, der sie aufrichtig erreichen will, ersetzt. Diese bereits seinerzeit ein wenig naiv idyllische Pädagogik einer vorbildlichen Lebensgeschichte stellt jedoch nur einen kleinen Teil von Schwippels Buch dar. Der größere Teil heißt nämlich „Zlatá pravidla aneb věrný raditel a vůdce, jak hospodář čím dále rozumnějším, lepším, mohovitějším a šťastnějším býti může“ (Goldene Regeln oder treuer Rater und Führer, wie ein Wirt immer vernünftiger, besser, wohlhabender und glücklicher sein kann). Es handelt sich eigentlich um die Grundsätze, nach denen sich auch Jiří Volný / Georg Frey richtet. Diese sind jedoch nicht in belehrenden bzw. warnenden Geschichten und Beispielen enthalten, welche ursprünglich im Rahmen der pädagogischen Prinzipien von Volksaufklärung häufig veröffentlicht wurden, sondern sind ähnlich wie Gesetze in einzelne Paragraphen zusammengestellt. Ihr Sprachstil ähnelt sich auch dem wissenschaftspopularisie21  Vojtěch Šwippl, Jiří Volný, anebo příklad, jak mnoho dobrého rozumný muž v obci způsobiti může  … (Georg Frey, oder ein Beispiel, wieviel Gutes ein verständiger Mann in einer Gemeinde zu stiften vermag), Praha 1840, S. 1–57, 317–348.



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renden Sprachtyp. Der Verfasser nimmt nämlich an, dass der Leser nicht nur sprach- und lesekundig ist, sondern dass er auch in mehr abstrakter Weise als seine Vorfahren denken kann. In diesem Sinne sind u. a. die Paragraphen über Glauben, Sittlichkeit, Menschentugenden, und insbesondere die Regeln für anständiges Benehmen konzipiert.22 Die wichtigsten Hindernisse auf dem Weg „zum Guten“ sieht der Verfasser, im Einklang mit der Volksaufklärung, in Müßiggang und Feilheit, sowie in anderen schlechten Eigenschaften des Menschen, wie Geiz, protzenhafter Ehrgeiz, Habgier, Trunksucht, Spielteufel, Hass, Rachgier, Ignoranz und Abergläubigkeit. Merkwürdigerweise wendet er sich in dieser Hinsicht nicht nur auf Männer, sondern auch auf die Bauernfrauen, namentlich in den Paragraphen über Kinderpflege, die in seinem Buch am meisten mit dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch korrespondieren. Falls diese Frauen etwas nicht verstehen, sollen sie sich bei dem lokalen Pfarrer oder auch bei dem Lehrer Rat holen; der letztere stellt also neben dem Seelsorger eine zusätzliche moralische Autorität dar. In komplizierten Fällen wird den Frauen empfohlen, sich auf den Arzt zu wenden. Auffallend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Regeln Schwippels die Diktion dieses Gesetzbuches in die Sprache moderner Gesundheitslehre und Psychologie überführt. Auf die physische und geistige Gesundheit des Kindes, dem bereits vor seiner Geburt gewisse Rechte garantiert sind, muss deshalb die künftige Mutter schon während der Schwangerschaft streng achten. Nach der Geburt und in den nachfolgenden Monaten besteht die pädagogische Hauptaufgabe darin, die Grundsätze der modernen Gesundheitslehre und insbesondere der Hygiene einzuhalten. Daran soll dann die mütterliche Erziehung zur richtigen Sprache anknüpfen, denn es ist der Schlüssel zur gesunden psychischen bzw. intellektuellen Entwicklung des Kindes. Danach sind die effektivsten Erziehungsmethoden zu wählen, damit das Kind seine schlechte Angewohnheiten ablegt, welche in seiner Mündigkeit zur Last sein könnten und ihm verhindern, durch die Wahl „des Besseren“ zu den „echten“ Bürgertugenden zu gelangen. Für die Erziehung des heranwachsenden Kindes sind dann bereits beide Eltern verantwortlich, die physische Strafen nur als extremes Erziehungsmittel anwenden sollen. Nie sollen sie das Kind auf den Kopf schlagen, denn gerade darin befindet sich nach den Aufklärungsprinzipien das Zentrum der menschlichen Vernunft, das so ernst beschädigt werden kann. Für die Gesamtentwicklung des Kindes ist eine harmonische Erziehung erforderlich, in der beide Eltern als Vorbild dienen sollen. Es soll dann ein regelmäßiger und effektiver Schulbesuch folgen, bei dem das Kind erforder22  Ibid.,

S.  72 ff.

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liche Angewohnheiten und Bildung gewinnt. Im Einklang mit dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) sind beide Eltern gemeinsam verpflichtet, ihren Kindern eine „glückliche“ Zukunft sicherzustellen. Mädchen sollen sich für die vorbildliche Hausfrau- und Mutterrolle, Knaben für einen ordentlichen Beruf vorbereiten; der Beruf soll ihnen solche materielle Existenz bieten, dass sie ihre eigene Familie „gut“ versorgen können.23 Šwippls / Schwippels Buch über Jiří Volný / Georg Frey erreichte im Vormärz-Böhmen das Ziel, über das man im Rahmen der pädagogischen Bemühungen der Volksaufklärung nicht hinausgehen konnte. Die Sehnsucht „nach besserem Gemeinwohl“ brachte nämlich seinem Protagonisten Jiří Volný / Georg Frey glückliche Familie und allgemeine Achtung, und für die ganze Gemeinde die Möglichkeit, sich von der Untertänigkeit loszukaufen. Einen Bürger im liberalen Sinne konnte es, ähnlich wie das österreichische allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, von ihm jedoch nicht machen. Die Volksaufklärung sowie dieses Rechtsdokument stellten aber in diesem Prozess eine wichtige Entwicklungskomponente dar, die in dem Dialog zwischen der „höheren“ und der „niedrigeren“ Kultur den Modernisierungsdruck auf mentale Verwandlungen der Landbevölkerung im Rahmen des heute als Metternichscher Absolutismus benannten Machtsystems mitgestaltete und beherrschte. Beide diese Regulative waren allerdings nicht imstande, den Weg von den für „jeden“ Menschen erreichbaren und für den absolutistischen Staat nützlichen Bürgertugenden zu gleichen Bürgerrechten zu öffnen.24 Die größte legislative Konzession, die der österreichische Staat in der Vormärzzeit den Untertanen machen konnte, war das Robotpatent vom 18. Dezember 1846, das jedoch keine allgemein bindende Rechtsnorm darstellte, denn es ermöglichte die Ablösung von dieser Pflicht nur nach einer Vereinbarung der Untertanen mit ihrer Obrigkeit, ohne jedoch konkrete Regeln dafür festzulegen, wie der Preis dieser Verpflichtung zu ermitteln ist. Es wird dabei kein Bezug auf das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch genommen, das in den Paragraphen 1122–1150 das Hörigkeitsverhältnis in seinen Bestimmungen über Erbpacht, Zins und Bodenzins als privatrechtliche Sache juristisch definiert. In seinem Paragraphen 1146 heißt 23  Ibid.,

S.  99 ff. Albrecht Tebeldi, Geldangelegenheiten Oesterreichs, Leipzig 1847, S. 227  ff. Dazu vgl. Jan Heidler, Čechy a Rakousko v  politických brožurách předbřeznových (Böhmen und Österreich in politischen Vormärzbroschüren). Praha 1920, S. 88, wo es falsch steht. Der Verfasser dieser Publikation sei Karl Beidtel (1817–1893), der auch in den Jahren 1848–1849 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung für den Wahlkreis „Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště“ war. Siehe auch die Edition des Robotpatentes vom 18.12.1846, in Archiv český 25, hrsg. v. Josef Kalousek, Praha 1910, S. 686–691. 24  Siehe:



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es nämlich eindeutig, dass die Rechtsbeziehungen der Untertanen, bzw. der Nutzungsbesitzer zu den Obrigkeiten, bzw. den Wesensbesitzern durch die entsprechende Landesverfassung und die politischen Vorschriften völlig geregelt sind.25 Zur Robot- und Zehntenablösung konnten allerdings jetzt die Untertanen von dem Jahr 1847 auch das Gemeindevermögen, insbesondere die Kontributionsfonds nutzen. Durch die allgemeine Diktion des Patentes wurden sie jedoch gegenüber der Obrigkeit beeinträchtigt und diese Tatsache konnte unter gewissen Umständen zunehmende Konfliktspannung auf dem Lande zur Folge haben. Es war nämlich zu erwarten, dass beide Vertragsparteien zielbewusst nur ihre eigenen Vorstellungen darüber verfolgen, was auf diesem Gebiet eigentlich legitim ist.26 Und gerade diesem wollten durch ihre Konstruktion von „allgemeiner Verbindlichkeit“ sowohl die Erziehungsbemühungen der Volksaufklärung als auch das österreichische Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) sowie die administrativen Maßnahmen des Vormärzstaats entgegenwirken. Die Revolution 1848–1849 konnte dann nur bestätigen, dass es nicht nur zur Lösung des Untertanenproblems, sondern auch zur Lösung anderer wichtiger Fragen des öffentlichen Lebens erforderlich ist, viel modernere Rechtsinstrumente einzusetzen, mit denen man einen neuen Gesellschaftskonsens bauen kann. IV. Rechtsnormen und Gerichtsorganisation Die Gestaltung des individuellen und kollektiven Rechtsbewusstseins der Landbevölkerung Böhmens in der Vormärzzeit wurde stark, ja sogar primär von der Rechtsordnung selbst bewirkt, und deshalb muss hier dieser Ordnung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zu den wichtigsten zeitgenössischen, allgemein bindenden normativen Akten zählen das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1803 als Schlüsselregelung des materiellen und Prozessrechts, welches die disziplinar repressive Komponente vertritt, und das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1811 (ABGB)27, das die disziplinar formative Komponente darstellt. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch war ein Produkt seiner Zeit. Seine Verfasser waren von den Aufklärungs- und Rationalismusideen der Ära Josephs II. durch25  Merkwürdigerweise wurde keiner dieser Paragraphen nach 1848 annulliert. Auch nach 1918 wurden sie in das tschechoslowakische Bürgerliche Gesetzbuch übernommen. Dazu siehe: Obecný zákoník občanský pro Republiku československou (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die Tschechoslowakische Republik), 3. Aufl., übersetzt von František Joklík, Praha 1922, S. 308–315. 26  Vgl. K. Krofta, Dějiny selského stavu (Geschichte des Bauernstandes, 2. Aufl., Praha 1949, S. 386 ff. und 408–409. 27  ABGB, Patent Nr. 946 / 1811 JGSlg. (Justitzgesetzsammlung).

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glüht. Das rationalistische Konzept der Naturrechtstheorie als AGBGGrundlage basiert auf der Überzeugung, man könne dank menschlicher Vernunft die richtige, auf (unveräußerlichen) Naturrechten jedes Menschen beruhende Gesellschaftsordnung kennenlernen und konstruieren.28 Diese rechtstheoretische Konstruktion geriet jedoch in Kontraposition mit de lege lata in der Ungleichheit der Menschen, insbesondere wegen der bestehenden Erbuntertänigkeit der Landbevölkerung. Gerade die iusnaturalistische Denkweise – die Redakteure und Mitverfasser des Gesetzbuchs Karl Anton Martini (1726–1800) und Franz Zeiller (1751–1828) waren ja Universitätsprofessoren des Naturrechts – führte zur Durchsetzung des Prinzips von Privatrechtsgleichheit vor dem Gesetz als eines der Hauptprinzipien des Rechtsstaates.29 Obwohl dort derartige Redewendungen wie „Naturfreiheit“, „jeder hat das Recht“ oder „jeder ist befähigt“ zu finden sind, bezieht es sich gar nicht auf die Gleichheit von Bürgerrechten im politischen Sinne. Der Normverfasser bemühte sich auch, das ABGB durch u. a. allgemeine Formulierungen, relativ hohe Abstraktionsstufe der Terminologie, Verzicht auf Kasuistik und ihr entsprechende Strukturierung der Vorschrift ausschließlich zu machen. Deshalb wurden die Normen des Prozess-, Straf- und Staatsrechts in das Gesetzbuch nicht eingeschlossen. Besonders reguliert sind die sog. „politischen Fragen“, womit die Trennung von Justiz und Verwaltung in der Tat erfolgt. 28  Das rationalistische Konzept von Naturrechten ist im § 16 ABGB ausgedrückt, wo es heißt: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“. 29  Vgl. P. Harras von Harrasowski, Geschichte des österreichischen Civilrechtes, S. 38–167. Vladimír Kubeš betonte in seiner Abhandlung über den Einfluss des Naturrechts auf das ABGB gerade den Anteil von Karl Anton von Martini und Franz von Zeiller, als er sagt: „Einen noch größeren Einfluss zeichnete die naturrechtliche Doktrin auf, als sich in den gegetzgebenden Arbeiten an der Universität Wien Karl Anton Martini engagierte“ und danach: „Die radikale Änderung fand statt, als sich in den gesetzgebenden Arbeiten der genialste Verfasser von gesetzgebenden Werken Franz von Zeiller engagierte, der den entscheidenden Einfluss auf die Endstruktur und die allgemeine Fassung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches hatte“. „Nach Zeiller kann keine Rede mehr darüber sein, es könne ein Kodex von unveränderlichen naturrechtlichen Lehrsätzen existieren, sondern man müsse das Axiom der Unveränderlichkeit nur auf die höchsten Rechtsprinzipien, auf das Prinzip von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz beschränken, die als bloße regulative Prinzipien der Gesetzgebung und Rechtsnormbildung dienen sollten“. Vladimír Kubeš, Filozofický základ a celková výstavba o.z.o. z r. 1811 a vládního návrhu o.z. (Philosophische Grundlage und allgemeiner Aufbau des Bürgerlichen Gesetzbuchs aus dem Jahr 1811 und des Regierungsentwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs), in: Vědecká ročenka Právnické fakulty MU, Jg. XIV, 1936–37, S. 38–39; vgl. Ladislav Vojáček / Ka­ rel Schelle / Vilém Knoll, České právní dějiny (Die tschechische Rechtsgeschichte), Praha 2008, S. 408. Vgl. Jiří Klabouch, Osvícenské právní nauky v českých zemích (Die aufgeklärte Rechtskunde in den böhmischen Ländern), Praha 1958.



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Das Bürgerrecht sollte so ex definitione komplett sein; die tatsächliche Vollständigkeit des Gesetzbuchs an sich kann allerdings gewissermaßen bezweifelt werden. Die Milderung der Gesetzhärte beruhte nicht mehr nur auf den gegenüber dem bisherigen Feudalrecht moderneren Instituten des römischen Rechts, sondern auch auf rein gedanklichen Konstrukten von „Naturanstand“ u. ä.30 Sehr wichtig war auch die Anregung zum Wissen eigener Rechte durch deren Rezipienten. So wurde das Erbrecht im ABGB systematisch und symmetrisch konstruiert, basierte auf der Vernunft sowie auf der Rezeption römischrechtlicher Eigentumsinstitute und nicht primär auf den traditionellen Gewohnheitsgrundlagen. In den grundlegenden Güterrechts- und Vertragsrechtsbestimmungen des Gesetzbuchs waren uneingeschränktes Vermögen und Vertragsfreiheit enthalten,31 was den zunehmenden Marktverhältnissen konvenierte. Im Hinblick auf die Hörigkeit wird jedoch in den Paragraphen 1125–1132 weiter unterschieden zwischen dem sog. „über das Wesen verfügenden“ Obereigentümer (d. h. Grundherr) und dem „über Nutzung verfügenden“ Eigentümer (Nutzungseigentümer, höriger Rustikalist). Das Gesetzbuch enthält insgesamt 1502 Paragraphen und gliedert sich in die Einleitung mit Derogationsbestimmungen, allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts u. a., den ersten Teil über das Personalrecht (Staatsangehörigkeit, Ehe- und Familienrecht), den zweiten Teil über das Recht auf Sachen (Besitz, Eigentum, Pfandrecht, Dienstbarkeiten), Erb- und Schuldrecht (Bestimmungen über Obligationen, einzelne Vertragstypen, Schadenersatz), und den dritten Teil mit gemeinsamen Bestimmungen für Personalund Sachenrechte (Sicherung der Rechte, Änderungen und Aufhebung von Rechten und Verbindlichkeiten, Verjährung und Ersitzung).32 In den Jahren 1811–1848 wurden dann primär zur Materie Privatrecht Hofdekrete erlassen, welche diese Materie ausführten, näher spezifizierten, oder boten authentische Interpretationen bzw. nähere Ausführung einzelner Institute und Normen des Gesetzbuchs (viele davon beziehen sich auf das Familienrecht.)33 Zielstellung der konkretisierenden normativen Akten war 30  Siehe Emanuel Tilsch, Občanské právo rakouské. Část všeobecná (Österreichisches Zivilrecht. Allgemeiner Teil), 2. ergänzte Auflage, Praha 1913, S. 18 f. 31  Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, §§ 353, 354. „Alles, was jemanden zu­ gehöret, alle seine körperlichen und unkörperlichen Sachen, heißen sein Eigentum“… „als ein Recht betrachtet das Befugnis, mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkühr zu schalten, und jeden Andern davon auszuschließen“. 32  ABGB, Wien 1811; Obecný zákoník občanský císařství rakouského (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch des Kaisertums Österreich), I–III. Wien 1862. 33  Von den wichtigsten sind zu erwähnen: Hofdekrete vom 26. August 1814, Nr. 1099 und vom 17. Juli 1835, Nr. 61, mit denen ein Hindernis für den Katholizismus eingeführt wird (so präsentiert, als ob das ganz selbstverständlich wäre);

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es den Sinn des Gesetztextes zu erklären, insbesondere mit Rücksicht auf die nachfolgende Anwendung von Recht oder einer anderen Form dessen Realisierung, wobei unter der Realisierung von Rechtsnormen deren Umsetzung in der juristischen Praxis zu verstehen ist. Mit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch sollten in erster Linie Beamte arbeiten, unter ihnen in exklusiver Position Juristen und von diesen vor allem Richter. Gerade von jener Zeit an stellte die juristische Bildung eine unentbehrliche Voraussetzung für den Staatsdienst dar. Vor allem Richter sollten auf die ABGB Einhaltung achten und man kann sich mit Recht die Frage stellen, ob sie sich auch an der Normverfassung beteiligten.34 Nach der mitteleuropäischen Kontinentalrechtsdoktrin war der Einfluss der Richter auf die Rechtsbildung seit der Aufklärungsära ziemlich klein; in den ABGB-Bestimmungen war dieser Einfluss übrigens ausdrücklich untersagt. Im ABGB wurde darüber hinaus festgelegt, dass die in einzelnen Rechtsfällen von Gericht verkündeten Urteile keinerlei gesetzliche Kraft haben und dass sie auf andere ähnliche Fälle oder Personen nicht zu beziehen sind.35 Gemäß dem ABGB-Konzept im Falle, dass gewisse Sache vom Gesetz nicht geregelt ist und auf keine andere, rechtlich relevante Weise, d. h. durch systematische Auslegung oder per analogiam legis geregelt werden kann, weist das Gesetzbuch im § 7 auf „naturrechtliche Grundsätze“ hin.36 Es ist Hofdekret vom 4. Februar 1837, Nr. 168 mit zusätzlicher Erläuterung dieses Hindernisses; Hofdekret vom 27. Juni 1837, Nr. 208, darüber, wann die Ehe nach dem Tod für ungültig erklärt werden kann; Hofdekret vom 4. Mai 1841, Nr. 531 über Alimente für die Frau nach der Scheidung; Hofdekret vom 15. Juni 1835, Nr. 39, über das von einer geschiedenen Frau geborene Kind; Hofdekret vom 28. Januar 1816, Nr. 1206, dass die Eltern ihre unehelichen Kinder nicht adoptieren dürfen; Hofdekret vom 10. Mai 1833, Nr. 2610, dass die Adoptivkinder Anspruch auf den Pflichtteil haben; Hofdekret vom 7. Februar 1844, Nr. 781, dass der Pflichtteil nicht in natura, sondern in Geld zusteht; Hofdekret vom 3. Juni 1846, Nr. 968, dass die Sicherstellung gemäß § 822 nur für einzelne Nachlassstücke erlaubt werden kann; Hofdekret vom 22. Oktober 1814, Nr. 1106 über die Ungültigkeit der hebräisch verfassten Urkunden, und vom 4. März 1846, Nr. 938, über die hebräische Unterschrift; Hofdekret vom 10. April 1839, Nr. 355, über Knechtslohnverjährung; Hofdekret vom 16. Juni 1846, Nr. 970, über die Schatzteilung. Von den wichtigeren Normen sind erwähnenswert: Hofdekret vom 23. August 1819, Nr. 1595, über das Verfahren in Ehesachen; Zoll- und Monopolordnung vom 11. Juli 1835 Sammlung politischer Gesetze Bd. 63; Sparkassenregulativ vom 26. September 1844, Nr. 832; Patent vom 19. Oktober 1846, Nr. 992 über das Urheberrecht. Vgl. Emanuel Tilsch, Občanské právo rakouské, Werk, S. 22. 34  Aleš Gerloch / Jan Kysela / Zdeněk Khün / Jan Wintr / Jan Tryzna / Pavel Maršálek /  Karel Beran, Teorie a praxe tvorby práva (Theorie und Praxis von Rechtsbildung), Praha 2008, S. 92–93. 35  § 12, ABGB. 36  § 7, ABGB: „Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen



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allerdings charakteristisch, dass § 7 im 19. Jahrhundert von der Judikatur „in Standardzeiten“ nicht viel in Anspruch genommen wurde, denn die Richter sollten „der Rechtsbildung unter dem Deckmantel der traditionellen Interpretationstechniken Vorzug geben“.37 Die österreichische Rechtskultur war legalistisch und dogmatisch, völlig im Geiste der Rechtstraditionen Mitteleuropas. Die Richter halten sich selbst für diejenigen, die im Gesetz dessen Bedeutung suchen, wobei der Sinn des Gesetzes mehr oder weniger von dessen Text bestimmt ist. Droht jedoch eine absurde Wirkung der Rechtsnorm dadurch, dass man an dem Text des Gesetzes klebt, weigern sich die Richter in der Praxis nicht, den rationalen Sinn des Gesetzes zu enthüllen.38 Die wichtigste Stelle, wo Staatsbewohner in Berührung mit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch kamen, war das Justizgebiet, namentlich die Gerichte, welche die Zivilagenda ausübten. Die Gerichtsorganisation der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte ihren Ursprung im „Reformdezennium“ der Regierung Josephs II. und wurde von der Zentralisierung und Bürokratisierung des Machtapparates der Monarchie völlig gekennzeichnet. Das rasante Eindringen des Staates in alle Lebensbereiche der Gesellschaft führte zur starken Transformation der bisherigen Gerichtsstruktur mit unterschiedlicher persönlicher, sachlicher und lokaler Zuständigkeit, und zum Ersetzen der bisherigen Prozessprinzipien durch ein neues, festeres System. Ihm zugrunde lag die Verstaatlichung aller Gerichte, Errichtung eines einheitlichen Systems permanenter Gerichte mit genau definierter sachlicher und lokaler Kompetenz, Trennung der Justiz von der Verwaltung und Einführung einer einheitlichen Gesetzgebung sowohl in formaler (d. h. äußere und innere Organisation der Gerichte, Verhandlungen vor Gericht) als auch materieller Hinsicht (Strafgesetzbuch, ABGB).39 Die Ausübung der Gerichtsbarkeit war weiter unveräußerliches Recht des Herrschers, dem angesichts der absolutistischen Regierungsform die gesamte Gewalt im Staat, d. h. auch die Justizgewalt gehörte. Die Gerichtsbarkeit wurde vom Herrscher als Staatsgewaltträger entweder unmittelbar durch landesfürstliche Gerichte ausgeübt, oder er delegierte seine Kompetenz auf bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.“ 37  A. Gerloch / J. Kysela / Z. Khün / J. Wintr / J. Tryzna / P. Maršálek / K. Beran, Teorie a praxe tvorby práva, S. 92. 38  Ibid., S. 94. 39  Václav Šolle, Civilní soudnictví předbřeznové v  českých zemích (Zivile Gerichtsbarkeit der Vormärzzeit in den böhmischen Ländern), Sborník archivních prací X, 1960, S. 111 f.

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die Patrimonialgerichte. Die landesfürstlichen Gerichte übten die Gerichtskompetenzen des Herrschers direkt aus, d. h. als Staatsorgane und in dessen Namen. Die Patrimonialgerichte realisierten Justiz im Namen und auf Kosten des sog. patrimonialen Gerichtsherrn, d. h. der Obrigkeit (Dominiumsbzw. Gutsbesitzer), aber diese Kompetenz ergab sich nicht mehr aus dem Bodenbesitz. Sie war nur Ausdruck des übertragenen Staatswirkungskreises, eine Delegation, die auch als provisorische Konzession dem weichenden Ständesystem zu verstehen ist. Als Maßstab der Kompetenzgrenze zwischen den einzelnen Gerichtstypen diente unter dem Einfluss der romanistischen Pandektistik die Unterscheidung zwischen Zivil- und Strafagenda. Die Zivilagenda teilte sich in zwei Gruppen: streitig und unstreitig. Die Reform von Gerichtswesen wurde jedoch nicht vollendet, und offensichtlich konnte auch nicht vollendet werden; trotzdem stellt sie ein Dokument jener Zeit dar. Ziemlich typisch in dieser Hinsicht ist die Unterscheidung der allgemeinen oder ordentlichen Gerichte, die für die gesamte Bevölkerung und Immobilien in einem bestimmten Territorium zuständig waren, von den privilegierten Gerichten, die für die aus der Kompetenz der ordentlichen Gerichte ausgeschlossenen Personen sowie für gewisse Immobilientypen bestimmt waren. Es handelte sich allerdings nicht um ganz neue Gerichtsinstitutionen, denn zu besonderen, d. h. prorogierten Gerichten wurden die privilegierten Gerichte immer, wenn sie auf Grund einer Ausnahme außerhalb ihres üblichen lokalen oder sachlichen Wirkungsbereichs handelten.40 Ausschließliche Zivilgerichte erster Instanz waren seit den josephinischen Zivilgerichtsreformen, also ab 1. Juli 1784, die Ortsgerichte als allgemeine Gerichte, und die Landgerichte, Berggerichte, Mercantil- und Wechselgerichte sowie die Lehengerichte als privilegierte Gerichte. Eindeutig von größter Bedeutung für die Landbevölkerung waren die Ortsgerichte, zu denen nach den Jurisdiktionsnormen zählten: a) Magistrate einzelner Städte und Kleinstädte, die „ihre eigene Jurisdiktion“ ausübten, und b) Justizämter der Dominien, Grundgerichte, falsch benannt als herrschaftliche Ortsgerichte bzw. Patrimonialgerichte, die als Überbleibsel der in der Vergangenheit umfangreichen Jurisdiktion der Besitzer von Landtafelgütern betrachtet werden können. Diese Gerichte übten ihre Gerichtsbarkeit über der Bevölkerung aller untertanen Dörfer und derjenigen untertanen Städte und Kleinstädte aus, welche die Voraussetzungen für die Errichtung eines eigenen Ortsgerichtes nicht erfüllten. Die Magistrate übten grundsätzlich die volle streitige und unstreitige Zivilkompetenz von Ortsgerichten aus; sie waren organisierte, d. h. kollegiale 40  Ibid.,

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Gerichte. Die Bürokratisierung dieser Gerichtsstufe wurde in den böhmischen Ländern erst am 1. April 1808 abgeschlossen, als nach dem Hofdekret Nr. 838 die Ernennung geprüfter Magistratsräte für die Ausübung von Gerichtsbarkeit in die Kompetenz der Gubernien und Appellationsgerichte überging, welche diese Beamten nur auf Antrag der Magistrate ernannten. Unentbehrliche Qualifizierungsbedingung für solche Ernennung war Studium der Rechte, Praxis, und Dekret auf Grund einer Richterprüfung.41 Die Justizämter der Dominien übten – als nichtorganisierte Ortsgerichte, d. h. Einzelgerichte – allgemeine Gerichtsbarkeit in streitigen sowie unstreitigen Zivilverfahren aus über Personen und Immobilien innerhalb des gegebenen Dominiums, bzw. mehrerer, einen Gerichtsbezirk bildenden Dominien. Ihre Kompetenzen wurden jedoch bereits durch das Hofdekret Nr. 879 vom 21. August 1788 zu Gunsten der grundherrlichen Wirtschaftsämter der Obrigkeiten eingeschränkt, denen die Parteien (d. h. Causateilnehmer) in streitigen Angelegenheiten unterlagen. Weiter handelte es sich um Immobilien in Buchsachen und um Waisen bzw. Erblasser (im Nachlassfall) in unstreitigen Angelegenheiten. Auf diese Weise wurde die Agenda der Ortsgerichte teilweise reduziert und die Bedeutung der Dominien verstärkt. Es ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass die zunächst nicht genau spezifizierten Justizkompetenzen zu wiederholten Streiten zwischen Ortsgerichten und Wirtschaftsämtern führten, die meistens im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch neue, den Wirkungsbereich der beiden Ämter abgrenzende Vorschriften beseitigt wurden.42 Ausschließlich in die Kompetenz der Ortsgerichte fielen sämtliche streitigen Sachen außer den Fragen, die vom Patent vom 21. August 1788 den Wirtschaftsämtern zugewiesen wurden. Von den unstreitigen Sachen behandelten die Ortsgerichte insbesondere: Todeserklärung, Verfassung von Gerichtstestamenten, Legalisierung amtlicher Dokumente, Amortisierung von Urkunden und alten Buchfehlern (d. h. Erklärung für ungültig), freiwillige Ehescheidungen von Tisch und Bett, Adoption von Minderjährigen unter Abwesenheit des Ehevaters, und Erklärung für wahnsinnig, bzw. schwachsinnig. Sowohl das Ortsgericht als auch die Wirtschaftsämter konnten kleine Rechtsgeschäfte der unstreitigen Agenda durchführen, wie Vidimation von Urkunden und Expensmoderierungen in den von beiden Ämtern erledigten Angelegenheiten. 41  Ibid., S. 122. Näher vgl. Jiří Šouša Jr., Vývoj právní úpravy státních civilních úředníků od 18. století do roku 1938 v českých zemích (Geschichte der Rechtsregelung staatlicher Zivilbeamter vom 18. Jahrhunder bis 1938 in den böhmischen Ländern), Dissertation an der Juristischen Fakultät der Karlsuniversität, Praha 2011, S. 61. 42  Václav Šolle, Civilní soudnictví předbřeznové v  českých zemích, S. 127.

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Im Wirkungsbereich der Wirtschaftsämter, jedoch unter Kontrolle durch Ortsgericht, lag grundsätzlich das Nachlassverfahren, d. h. Erbvertragsentwürfe, bzw. Anträge auf Nachlassübergabe, die der Überprüfung durch Ortsgericht unterlagen. Ausschließlich den Wirtschaftsämtern zugewiesen waren von den streitigen Sachen Streite über die Bezahlung anerkannter Schulden, Ehrenverletzungsklagen, Exekutionsführung und amtliche Vergleichsversuche, deren vorherige Realisierung eine Bedingung für die Streitlösung durch das Ortsgericht darstellte. Im Rahmen der unstreitigen Agendabehandlung nahmen die Wirtschaftsämter sämtliche Handlungen im Vormundschaftsverfahren vor, wie Vormundbestellung, Überwachung des Waisenvermögens, Bestätigung der waisenbezogenen Verträge, Eröffnung und Änderung von Waisenrechnungen, Mündigkeitserklärung, Übergabe von Waisenvermögen und Grundbuchführung.43 Der Aufklärungsstaat führte auch eine andere Neuigkeit ein – die Rechtshilfe für Untertanen, ausgenommen die in die Kompetenz der politischen Ämter fallenden Angelegenheiten, vermittels der sog. „Unterthanenadvokaten“, deren Aufgaben durch das Patent über Verfahren in Streiten zwischen Untertanen und der Obrigkeit und durch die Instruktionen für Untertanenadvokaten aus demselben Jahre geregelt wurden.44 Die Ausübung der herrschaftlichen Gerichtsbarkeit im Namen und auf Kosten des Herrschaftsbesitzers unterlag der Staatsüberwachung mittels der dem Appellationsgericht jährlich vorzulegenden Arbeitsberichte (sog. Justitztabellen). Der Dominiumsbesitzer haftete auch für die von seinen Gerichtsbeamten verursachten Schäden, wobei er nur über das nachträgliche Regressrecht verfügte.45 Nach Erfüllung der für die Ausübung des Richteramtes vorgeschriebenen Bedingungen, d. h. der juristischen und richterlichen Qualifikation entsprechend den josephinischen Regelungsprinzipien, konnte 43  Mit dem Hofdekret vom 6.4.1797 Nr. 348 wurden für öffentlich und voll vertrauenswert sämtliche Urkunden über Verträge erklärt, die von Untertanen von den grundherrlichen Ämtern, also vor allem von den Wirtschaftsämtern geschlossen wurden. Siehe: Václav Šolle, Civilní soudnictví předbřeznové v českých zemích, S. 127 f. Komplementär, abschließend zur Abhandlung über die Aufteilung der gerichtlichen Zivilagenda in der niedrigsten Instanz, ist noch der Begriff „Oberamt“ zu erläutern, der in der Praxis oft zur Bezeichnung der zentralen grundherrlichen Administrative verwendet wurde. Die erwähnte Benennung wurde auch für das „Wirtschaftsamt“ als Träger der zivilen Jurisdiktion neben dem Ortsgericht verwendet, und zwar infolge der allgemeinen Delegierung der zivilen Gerichtskompetenz nach dem Hofdekret Nr.  879 / 1788 Justitzgesetzsammlung. 44  Stanislav Balík et al., Dějiny advokacie v Čechách, na Moravě a ve Slezsku (Geschichte der Advokatie in Böhmen, Mähren und Schlesien), Praha 2009, S. 80; vgl. Archiv český 25, hrsg. v. Josef Kalousek. Praha 1910, S. 13–23. 45  Václav Šolle, Civilní soudnictví předbřeznové v  českých zemích, S. 129.



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der Herrschaftsbesitzer selbst das Richteramt bekleiden. Er hatte allerdings die entsprechende Qualifikation nachzuweisen und persönlich zu amtieren; es handelte sich also eher um eine hypothetische Situation. Ziel des absolutistischen Staates war es, ordentliche Ausübung der Ziviljustiz im Allgemeinen sicherzustellen, also auch in den Dominien, bzw. Gütern, deren Besitzer meistens aus ökonomischen Gründen diese Gerichtsbarkeit nicht ausüben konnten bzw. nicht wollten. In der josephinischen Ära wurde deshalb mit dem Hofdekret Nr. 279 vom 21. August 1788 verordnet, in jedem Kreis drei „geeignet gelegene“ Magistrate zu bestimmen, die in der vorigen Regelung mindestens über zwei belohnte qualifizierte Justizmänner verfügten und die als Ortsgerichte wirken sollten, an welche die Nachbargrundherrschaften deren eigene Gerichtsbarkeit durch „Delegierung“ übertragen konnten. Dem so beauftragten Magistrat wurde dann ein weiterer (dritter) Jurist zugeteilt, womit dieses städtische Amt in die höhere Kategorie kam und wurde zum sog. organisierten Gericht.46 Seine erhöhten Kosten wurden mittels der von Streitparteien zu zahlenden Gerichtstaxen gedeckt, die notwendigenfalls von Repartitionsquoten der delegierenden Herrschaft ergänzt werden konnten. Die Herrschaft konnte zwar ihre Delegation zurücknehmen, allerdings erst nach Errichtung eines eigenen, mit qualifizierten Arbeitskräften ordentlich ausgestatteten Gerichtsamtes. Andere Delegierungsformen von Gerichtsbarkeit waren in der Anfangsphase der josephinischen Zeit verboten. Spätere Vorschriften, insbesondere das Hofdekret Nr. 1090 vom 17. Juni 1814 und andere, ermöglichten es, die Gerichtsbarkeiten mehrerer, im Besitz verschiedener Herrschaften befindlichen Dominien in den Händen eines einzigen Justiziars zu konzentrieren. In solchem Falle trat allerdings der Justiziar nicht im Namen der eigenen Herrschaft, sondern im Namen der delegierenden Herrschaft (sog. delegatario nomine) auf, die auf ihn ihre Gerichtsbarkeit übertragen hatte. Zur Ausübung der delegierten Gerichtsbarkeit brauchte allerdings der Justiziar eine Zustimmung seines Arbeitgebers (d. h. der zuständigen Patrimonialverwaltung) und musste auch zusätzliche Bedingungen erfüllen, wie z. B. die Arbeitstage in der Kanzlei der delegierenden Herrschaft festzulegen und sich nicht mehr als zwei Meilen vom Rande ihres Dominiums aufzuhalten. Die Delegationen unter46  In der Vormärzterminologie (also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) von Justizgliederung ist eine vereinfachte Struktur der 1. Instanz-Gerichte zu finden: a) organisierte Gerichte – d. h. Gerichte bestehend aus mindestens drei „geprüften“ Richtern, die auch als „förmliche Collegialgerichte“ bezeichnet werden; b) regulierte Gerichte, wie die Kollegialgerichte bezeichnet werden, bei denen höchstens zwei „geprüfte“ Richter anwesend waren, und c) unorganisierte Selbstgerichte, bestellt nur mit einem geprüften Gerichtsjustiziar. Siehe: Václav Šolle, Civilní soudnictví předbřeznové v  českých zemích, S. 115, Anm. 12.

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lagen auch der vorherigen Bestätigung und danach der Überwachung durch das Appella­tionsgericht.47 V. Rechtspraxis In der Vormärzzeit gab es im Rahmen der Gerichtsorganisation in Böhmen rund 1200 Ortsgerichte, namentlich 217 Magistrate von Königs- und Munizipalstädten als Ortsgerichte und 983 grundherrliche Justizämter als Ortseinzelgerichte und Wirtschaftsämter mit Ziviljurisdiktion. Das Patent vom 11. Mai 1786 über grundherrliche Gerichtsbarkeit mittels Justiziare enthielt allerdings nur allgemeine wesentliche Bestimmungen und alles Andere wurde auch bei dieser neuen Regelung von Gerichtswesen auf dem Lande in erster Instanz den Grundherren überlassen. Die Gerichte mit Justiziaren waren so auch im Rahmen dieser neuen Regelung von den Besitzern der entsprechenden Dominien abhängig und in der Praxis entstanden bei ihrer Errichtung und in ihrer Arbeit ziemlich große Unterschiede, auch wenn sie einem und demselben Grundherrn unterstanden. Die grundherrliche Praxis kann an der Gerichtsbarkeit in einer der höchstentwickelten Organisationen von Patrimonialverwaltung in den Böhmischen Ländern, der Schwarzenberger Herrschaft in Böhmen illustriert werden. Die erste Regelung der grundherrlichen Gerichtsbarkeit mit neu eingesetzten Justiziaren ist dort bereits im Sommer 1786 zu belegen, mit Nachträgen vom April 1787. Am 16. August 1786 informierte der Oberverwalter von Böhmisch Krumau als bisheriger Hauptvertreter der Schwarzenberger Gerichtsbarkeit seinen Majoratsherrn über das Patent vom 11. Mai 1786, mit dem die grundherrliche Gerichtsbarkeit geregelt wurde, und schlug ihm gewisse Wege zu dessen Ausführung vor. Kurz danach meldeten sich Juristen aus verschiedenen Institutionen und bewarben sich um die Justiziarstellen im Dienste der Schwarzenberger, die sich als Arbeitgeber zweifellos eines guten Rufs erfreuten. Die Wirtschaftsämter einzelner Herrschaften hatten dann dem Oberverwalter in Krumau Begutachtungen der Bewerber vorzulegen.48 Am 20. September 1786 sandte der Krumauer Oberverwalter mit dem Schwarzenberger Hofratstitel dem Fürsten Johann Nepomuk von Schwarzenberg Vorschläge zur Bestellung der Justiziarposten in einigen Herrschaften zu und schlug ihm auch die Organisationsregeln für deren Dienst vor, die dann vom Gutsbesitzer bestätigt wurden. Es wurde vor Allem ein Amtstag in jeder Woche für die Erledigung der Gerichtsangelegenheiten festgelegt. Es wurden auch Amtsbücher eingeführt (insbesondere das Justizprotokoll in der Form 47  Hofdekret 48  Archiv

Nr. 1780 vom 20.7.1821 Justitzgesetzsammlung. český 25, Josef Kalousek (Hrsg.). Praha 1910, S. 137–152.



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von Exhibitenprotokoll), Verwaltung in Waisensachen spezifiziert, Eintragungsformulare für Kauf und Verkauf von Liegenschaften angefertigt, Taxen festgelegt und Pflichtverzeichnisse von Vermögen im Todesfalle der Untertanen aufgestellt. Aufmerksamkeit wurde in erster Linie der Amtsbücheragenda gewidmet und der neu angestellte Schwarzenberger Gerichtsrat – ehemaliger Bürgermeister von České Budějovice / Budweis – Battista fertigte die Entwürfe entsprechender Formulare an. Es wurde weiter genau festgelegt, wer die Nachlassinventare, Waisenrechnungen, Kaufverträge, Eheverträge, Testamente usw. führen sollte. Die Wirtschaftsämter waren auch verpflichtet, zu wichtigen Gerichtsverhandlungen den Justiziar beizuziehen und keinen Beschluss in der Causa in seiner Abwesenheit zu fassen.49 Es bestand also ein Gesetz und dazu Normen von niedrigerer Rechtskraft; die konkrete Situation und z. B. die Evidenz im Bereich der Zivilgerichtsagenda waren jedoch in der Praxis weiterhin unterschiedlich in Abhängigkeit von der Qualität der entsprechenden Patrimonialverwaltung und ihres Personals. Die Ortsgerichte entschieden im Rahmen ihres sachlichen Wirkungsbereichs über die Zivilagenda, sowohl streitig als auch unstreitig, und es unterlagen ihnen alle Personen und Immobilien in dem entsprechenden Territorialgebiet. Thematisch beschäftigten sich die Ortsgerichte in erster Linie mit der Nachlassagenda, Vormundschaft und Waisenangelegenheiten, Pflegschaft usw. sowie mit der Agenda bezüglich Immobilien, einschließlich Abhandlung der Streite über Sachenrechte zu Immobilien sowie Führung von Grundbüchern u. ä. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) ging in den erwähnten Fragen teilweise von dem revolutionären Hofdekret vom 21. August 1788 aus, nach dem die Wirtschaftsämter der Herrschaften mit den Versöhnungsverhandlungen in Streiten zwischen Untertanen beauftragt wurden, was ziemlich logisch ist, denn die Gerichtsverhandlungen waren teuer und das Verstreiten des Guts, gefolgt von Pauperisierung des Untertanen, war weder im Interesse des Staates noch im Interesse der Obrigkeit. Der Vergleichsweg wurde auch durch die Anordnung des böhmischen Landesguberniums vom 9. August 1793 gefördert, nach der das Wirtschaftsamt für Vergleichsversuche in Streiten zwischen Untertanen keine Taxen einheben sollte. Auf die Anordnung wurde vom Gubernium am 23. Mai 1828 wieder hingewiesen.50 Die Tatsache, dass den Kern der Zivilagenda von grundherrlichen Wirtschaftsämtern die Fragen von Verlassenschaft, Vormundschaft, Pflegschaft, 49  Ibid.,

S. 150–163. S. 354, 458, 597. Bereits ab 2. August 1804 war das Bemühen, die Streite zwischen Untertanen „gütlich“ beizulegen, ganz obligatorisch. Ibid., S. 452–453. 50  Ibid.,

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Waisensachen, Depositen und Grundbuchführung sowie die Vergleichsversuche in Streiten zwischen Dorfbewohnern bildeten, bezeugt der Inhalt des praktischen Handbuchs von Franz Josef Schopf (* 1787 † ?),51 gebürtig aus Brünn, einem seinerzeit produktiven Fachschriftsteller im Rechtsbereich. Schopf verfügte auch über umfangreiche praktische Erfahrungen, denn als herrschaftlicher Justiziar hatte er viele einträgliche Ämter bekleidet. In den Jahren 1821–1832 war er Rechtsanwalt in Budweis und als Justiziar war er in mehreren Dominien tätig, meistens in Südböhmen; von dort kommen auch seine empirischen Kenntnisse her. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zog er nach Wien um und neben Inspektion in einigen Herrschaften widmete er sich der Arbeit an seinen juristischen Schriften und war einer der fleißigsten Gesetzkompilatoren, der allerdings viel Verständnis für die zeitgenössische Rechtsordnung hatte.52 Das erwähnte Handbuch, in dem er ausgewählte ABGB-Paragraphen ziemlich kurz und lapidar erläuterte, konzipierte er als Studienmaterial zu Prüfungen der Kandidaten für Arbeit in Wirtschaftsämtern, d. h. für Erreichung der niedrigsten Stufen von juristischer Qualifikation. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der gesamte zweite Teil von Schopfs Handbuch den Vergleichsversuchen zwischen Mitgliedern der Dorfkommunität gewidmet ist, insbesondere bei Schuldklagen und Immobilienstreiten. Neben dieser Publikation ist noch sein umfangreiches Buch von 200 Seiten zu erwähnen, in dem Rechte und Pflichten der grundherrlichen Obrigkeiten und der Wirkungsbereich der Wirtschaftsämter in Böhmen beschrieben sind. Auch das letztgenannte Werk war vor allem für praktische Zwecke vorgesehen.53 In dem dritten Teil des Handbuchs wird meistens auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Zivilbereich, auf deren Gegenstand, Einteilung der Kompe51  Franz Josef Schopf, Praktischer Unterricht zur Besorgung der an die Wirtschaftsämter, Stadt- und Marktrichterämter in Böhmen, Mähren und Schlesien übertragenen adelichen Richteramts-, Waisenamts- und Grundbuchs-Geschäfte. Zugleich als Vorbereitung zur Prüfung für die Kandidaten mit den erforderlichen Beispieln in Fragen und Antworten, Prag, Leitmeritz und Teplitz 1847. 52  Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, (Schnabel / Schröter), Wien 1876, S.  230–234. 53  Franz Josef Schopf, Die Rechte auch Pflichten der Grundherren und der Wirkungskreis der grundobrigkeitlichen Wirtschaftsämter im Lande Böhmen. Aus den gesetzlichen Vorschriften, und mit Rücksicht auf die Landesverfassung auch Übung praktisch dargestellt, I. Band, I. Teil: Der grundobrigkeitliche und der Grundherrlichkeit unterliegende Besitzstand; II. Teil: Der Unterthänigkeits- und Grundbarkeitsverband, und zwar erste und zweite Unterabteilung: Das persönliche Unterthänigkeitsverhältniss; II. Band, II. Teil (Zweite Unterabteilung): Das gesetzliche Verhältniss das Realunterthänigkeits- oder grundbarkeitsverbandes; III. Band, III. Teil: Die Ausübung obrigkeitlicher Rechte in Folge landesherrlicher Delegation; IV. Teil: Die besonderen mit dem Besitze einer Herrschaft verbandenen Gerechtsamen und Lasten, Prag 1847.



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tenzen zwischen Ortsgerichte und Wirtschaftsämter, streitige sowie unstreitige Zivilangelegenheiten, Lösung von Jurisdiktionsstreiten, Einfluss der politischen Behörden auf Gerichtsbarkeit, und Taxen eingegangen. Insgesamt kann konstatiert werden, dass die juristischen Handbücher Schopfs tatsächlich wohl fundiert sind. Als Problem zeigt sich eher die Tatsache, dass sie erst 1847 erschienen, d. h. kurz vor tiefgreifenden Änderungen in Verwaltung und Justiz, welche sie antiquierten. Gelang es den Wirtschaftsämtern nicht, einen Vergleichsvertrag zu erreichen, und hielt eine der Streitparteien das Urteil des Ortsgerichtes für ungerecht, war es möglich, sich zum Appellationsgericht zu berufen. Die Appellationsgerichte entschieden in den Böhmischen Ländern über die Berufung gegen Urteile aller Gerichte erster Instanz und erledigten die Rekurse, d. h. Beschwerden als Rechtsmittel gegen die Erkenntnisse erster Instanz in streitigen und unstreitigen Zivilsachen. Sie prüften darüber hinaus die Gerichtsdienstkandidaten und stellten ihnen Dienstfähigkeitsdekrete aus. Appellationsgerichte entstanden auch im Rahmen der josephinischen Reorganisation des Gerichtswesens. Dies geschah in Böhmen auf der Grundlage der alten, 1545 von Ferdinand I. errichteten Institution von Appellationsgericht. Diese Institution wurde durch Hofdekrete vom 12. April 1782 und insbesondere vom 7. April 1783 in neue Form transformiert. Zu den Kompetenzen der neu errichteten Appellationsgerichte zählten auch die Entscheidungen über Gerichtsdelegierung und nicht zuletzt auch die Erlassung von Rechtsweisungen für untergeordnete Gerichte.54 An der Spitze der Appellationsgerichte standen der Präsident und der Vizepräsident. Die Rechtsagenda wurde von Räten, Sekretären, Protokollisten und dem Expeditor erledigt. Sonstiges Personal umfasste Beamte des Exhibitenprotokolls, Adjunkte, Registratoren, Registranten, Kanzellisten und Amtsdiener. Die Größe des Amtspersonals nahm allmählich zu. Nach den quantitativen Angaben über Geschäftszahlen bei dem Prager Appellationsgericht erhöhte sich ihr Umfang zwischen den Jahren 1784 und 1849 beinahe aufs Vierfache.55 Die Staatsbewohner beriefen sich also offensichtlich viel häufiger als zuvor, was das allmählich zunehmende Rechtsbewusstsein der Gesellschaft implizit bezeugt. Die Streitparteien wollten sich nicht mehr mit der Entscheidung der Justiziare abfinden, die den Domini54  Johann Ferdinand Schmidt, Monographie des k. k. böhmischen Appelationsgerichtes 1548–1850, Prag 1850; Inventář Apelačního a vrchního trestního soudu v Praze (Findbuch des k. k. böhmischen Appelations- und Strafrechtsgerichtes), Praha 1982. 55  Nationalarchiv Prag, Fond Apelační a vrchní trestní soud v  Praze 1783–1850, Registraturní pomůcky (protokoly) 1783–1850: Civilní sporná a nesporná agenda (Nationalarchiv Prag, Bestand des Appelations- und Strafrechtsobergericht, Registratur Bücherprotokolle 1783–1850, Streitige und unstreitige Zivilagenda).

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umsbesitzern weiterhin stark unterlagen. Also auch in Böhmen in der Vormärzzeit fangen die Untertanen an, ihr Recht an einer höheren „unbefangenen“ Instanz zu fordern. Die dritte höchste Instanz des Gerichtssystems war die Oberste Justizstelle in Wien, die im Bereich der eigenen Gerichtsbarkeit auch als Oberster Gerichtshof bezeichnet wurde. Die Berufung zu dieser Instanz war allerdings in der Praxis hauptsächlich nur im Falle möglich, wenn die Gerichte niedrigerer Stufe konträre Urteile gefällt hatten. In den Appellationsgerichten und im Obersten Gerichtshof entschieden ziemlich logisch qualifizierte Juristen, Absolventen juristischer Universitätsfakultäten. Es waren in Böhmen insbesondere die juristischen Fakultäten der Karls- und Ferdinanduniversität in Prag. Es ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch auch die Modifizierung des Rechtsstudiums stark bewirkte und der Unterricht lehnte sich endgültig an die Exegese des positiven gültigen Rechts an.56 Neben der allgemeinen Vorstellung des Zivilrechts und dessen Anwendung und Realisierung im Gerichtsbarkeitsbereich kann man auch ausgewählte Beispiele von streitigen und unstreitigen Causae aus der konkreten Rechtspraxis in der Vormärzzeit anführen. Als Beispiel der Streitschlichtung zwischen Obrigkeit und Untertanen kann die Causa zwischen der Obrigkeit von Elčovice und den Untertanen in den Gemeinden Elčovice (heute Lčovice), Malenice und Radostice in einem malerischen Vorgebirge des Böhmerwaldes zwischen Strakonice / Strakonitz und Vimperk / Winterberg dienen. Die umstrittenen Objekte waren Grundstücke, welche laut Vertrag aus dem Jahre 1796 die Untertanen ihrer Obrigkeit abgetreten hatten, und diese hatte ihnen in Reziprozität ihre Robotpflicht vermindert. Die Untertanen traten nach dem ABGB-Erlass von dem Vertrag zurück. Der jahrelange Streit wurde schließlich erst auf der höchsten Ebene entschieden, und zwar durch die Höchste Entscheidung des Kaisers vom 9. Juli 1820, auf deren Grundlage am 13. August 1828 ein Hofdekret erlassen wurde, intimiert am 21. Oktober 1828 von dem Prachiner Kreisamt mit dem Sitz in Písek. Die Herrschaft Elčovice war nach dem Dekret verpflichtet, die abgetretenen Grundstücke ihren Untertanen zurückzugeben, bzw. – falls diese inzwischen verkauft oder ausgetauscht worden waren – Ersatz zu leisten. Die Untertanen hatten dagegen die gleiche Robotpflicht wie vor dem Vertragsabschluss im Jahre 1796. Das Recht des Obereigentümers, also des Grundherrn, überwog so reell die privatrechtliche Vertragsfreiheit der Untertanen. Damit war jedoch der Fall nicht zu Ende. Das Wirtschaftsamt Elčovice 56  Valentin Urfus, Právnická fakulta 1802–1847 (Die juristische Fakultät 1802– 1847), in: Dějiny Univerzity Karlovy III (Geschichte der Karls-Universität), Jan Havránek et al. (Hrsg.), Praha 1997, S. 48.



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versuchte nämlich (1833) das Hofdekret mit einem Hinweis auf die Robotprobleme teilweise umzustoßen, denn die Untertanen weigerten sich die Robotpflicht im vorgeschriebenen Umfang zu leisten. Nach Zeugnis der Chronik von Zálezly wurde die Lage nicht ruhiger; noch in den Jahren 1836 und 1837 weigerten sich die Untertanen von Malenice die Arbeiten für die Obrigkeit zu leisten und es war deshalb notwendig sie durch „Einsatz“ von Militär und mit physischen Strafen zu dieser Arbeit zu zwingen.57 Als ziemlich häufig umstrittene Frage unter den Untertanen erwies sich der zwischen Verlobten bzw. Ehegatten geschlossene Erbvertrag, in dem derartige Fragen vereinbart wurden wie Mitgiftleistung, Heiratsgut der Ehefrau, Gütergemeinschaft, u. ä. Nach den älteren Rechtsbestimmungen sicherte dieser Vertrag das Erbe für den / die hinterbliebene / n Gatten / Gattin und es war nicht mehr erforderlich, das Testament zu errichten. Nach §§ 1249 und 1253 des ABGB war es jedoch notwendig, den gegenseitigen Erbvertrag schriftlich zu verfassen, und auch danach konnte der / die Ehepartner / in auf sein / ihr testamentarisches Recht völlig verzichten, denn ein reines Vermögensviertel, unbehaftet mit Schulden, musste (gesetzgemäß) „für freie letzt­ willige Verfügung“ behalten werden. Da die neue Regelung oft missverstanden wurde und die Streitfälle nahmen zu, erließ der Prager Oberburgraf und böhmischer Guberniumspräsident Franz Graf Kolowrat am 11. September 1817 eine Verordnung, in der auf diese Tatsachen besonders hingewiesen wurde, und die Verlobten bzw. Ehegatten mussten darüber informiert werden, um Streite zu vermeiden.58 Zum Unterschied von gebildeten Juristen und geprüften Magistratsräten, Syndiken und Justiziaren, welche Entscheidungen im Rahmen des Gerichtssystems trafen, wo die Kenntnis des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs für die Berufsausübung unentbehrlich war, zeigte weder der Staat noch seine Elite viel Interesse daran, dass die breitere Öffentlichkeit, insbesondere die auf dem Lande über den allgemeinen ABGB-Inhalt informiert wurde. Allerdings, auch wenn der Staat und seine Elite daran interessiert gewesen wären, wäre es unter den damaligen Bedingungen von Informationsverbreitung äußerst schwer durchführbar gewesen. Von der Amtsvorsicht zeugt z. B. das böhmische Guberniumsdekret vom 12. Juli 1830, nach dem die Kreisämter in den Entscheidungen über Beschwerden der Untertanen nur derartige Sachen anzuführen hatten, welche den Untertanen bei der Begründung der getroffenen Entscheidung bekannt sein mussten, nicht aber die herrschaftsbezogenen Tatsachen.59 57  Archiv

český 25, S. 599–600, 642–643. S. 536–537; Obecný zákoník občanský císařství rakouského (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch des Kaisertums Österreich), Wien 1862, §§ 1249, 1253. 59  Archiv český 25, S. 623. 58  Ibid.,

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VI. Schlusswort Die Informations- und Aufklärungstätigkeit des Vormärzstaates in Rechtsfragen konzentrierte sich eindeutig neben der umsichtigen Gesellschaftsdisziplinierung auf Vermittlung der Kenntnisse über sachenbezogene Rechte (Besitz, Eigentum), Erbrecht (Testamentsfragen), Schuldrecht, Eherecht (insbesondere Eheverträge) und Elternrecht. Diese Rechtsbereiche waren auch für den schlichten Landbewohner in der Vormärzzeit am interessantesten. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, das die bislang bestehenden Normen vereinheitlicht und präzisiert hatte, ging in seinen Bestimmungen den legitimen Erwartungen der hörigen Landbevölkerung entgegen. Diese wurden in entsprechenden Entscheidungen der Gerichtsund Verwaltungsämter dermaßen wiederholt bestätigt, dass der Privatrechtsbereich keine längeren Formen von „bürgerlicher“ Unzufriedenheit hervorrief. Wesentlicher Fortschritt war auch die wiederholte Bestätigung der Prinzipien von Privateigentum, das nur in genau definierten Fällen von dem Hörigkeitsband eingeschränkt wurde. Weiter handelte es sich um das Prinzip der Vertragsfreiheit. Beide Prinzipien nähern sich eher – und nicht entfernen – den Grundsätzen des modernen Liberalismus an. Insbesondere die wohlhabende Landbevölkerung erwarb unbestrittene sachbezogene Rechte sowie Erbrechte, die für einen wesentlichen Schritt im allmählichen Prozess ihrer künftigen vollen Integrierung in die entstehende bürgerliche Gesellschaft zu halten sind. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch wurde nicht nur in Böhmen, sondern in allen nichtungarischen Ländern der Habsburgermonarchie zum untrennbaren Bestandteil der langzeitig fungierenden Rechtsordnung. Es war allerdings nicht die einzige Norm, die bei der Lösung von Konflikten und bei unstreitigen Rechtshandlungen der Landbevölkerung angewendet wurde. In der Rechtsprozedur kam auch das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1803 sowie eine Reihe weiterer Regulative zur Geltung, insbesondere im Bereich Verwaltungsrecht. Es gab offensichtlich auch Normen, die für das Leben der Gesellschaft von größerer bzw. kleinerer Bedeutung waren und deren Gewalt- und Kulturaspekte historisch noch viel komplexer zu untersuchen sind als es bislang der Fall war. Bereits heute ist es jedoch klar, dass die den Reformen von Joseph II. nachfolgenden Rechtsregulative der Regierungen von Leopold II. und Franz II. (I.) die josephinischen Prinzipien mehr oder weniger milderten, aber nicht beseitigten. Gewisse Ambivalenz ihrer „Zuspitzung“ kommt nach 1790 auch in den Gerichtsentscheidungen über die Beziehung zwischen Obrigkeit und Untertanen zum Ausdruck, die unter den bestehenden Umständen von der erwünschten „neutralen“ Lage in einer oder anderer Richtung ein wenig abweichen konnten. Man sollte dabei jedoch immer das „richtige“ Verhältnis



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zwischen der gesellschaftlichen „Stabilität“ und „Gerechtigkeit“ erreichen. Im Rahmen der damaligen Hierarchie von amtlichen bzw. gerichtlichen Institutionen blieb darüber hinaus weiter die Frage offen, wie die praktische Umsetzung von Rechtsnormen aus der Vormärzzeit eigentlich aussah und in welchem Maße sie auf unterschiedlichen Gesellschaftsebenen als legitim wahrgenommen wurde. Es ist unbestritten, dass die Umsetzung in zentralen Wiener Institutionen begann und im böhmischen Gubernium fortgesetzt und von dort an Kreisämter und an Städte mit regulierten Magistraten weiter gerichtet wurde. Von den Kreisämtern zielten die Rechtsnormen auf die Patrimonialämter, Städte und Kleinstädte, und die letzte Instanz waren die Dorfrichter, die bei ihrer Umsetzung zwischen den Forderungen von Staat und Herrschaft, den Interessen von Gemeinden und von einzelnen Bürgern, insbesondere von sog. Nachbarn balancieren mussten. Diese Gemeindevorsteher wurden von der politischen Staatsverwaltung und von grundherrlichen Ämtern angewiesen, die Konflikte in Gesellschaftsbeziehungen möglichst zu vermeiden. Parallel dazu und manchmal in Interaktion damit machte sich die Volksaufklärung als ein wichtiges Gesellschaftsphänomen bemerkbar, dass sich um die Verbreitung des Begriffs „allgemeine, auf moralischer Handlung beruhende Bürgerehre“ in den breiten Bevölkerungsschichten bemühte. Es wurden ihnen jedoch nicht gleiche Bürgerrechte versprochen, sondern nur in dem Maße, das die aufklärerische, bzw. spätaufklärerische Konstruktion einer „gerechten“, vom „unparteiischen“ Staat geführten Gesellschaft für optimal hielt. Absichtlich bzw. absichtslos entwickelte sich so der Diskurs über die Beziehung zwischen der bestehenden Rechtspflege und den Vorstellungen über Legitimität bei den Landakteuren zu einem Dialog zwischen der „höheren“ und der „niedrigeren“ Kultur. Es ging dabei nicht nur um einen Einbahnprozess, sondern um eine erhebliche konzeptuelle Verschiebung, in der die „höhere“ Kultur Respekt vor der „niedrigeren“ Kultur zu suchen hatte, mindestens in dem Maße, um bei deren Partizipanten Verständnis für die Erziehungsziele erwarten zu können. Auch in Böhmen in der Vormärzzeit stieß allerdings dieses typische Idealkonzept des von oben geregelten menschlichen Glücks und der asymmetrischen Anerkennung „des Anderen“ auf ganz konkrete Lebenserfahrungen der Untertanen, die ihm gegenüber gewisse Autonomie aufwiesen. Im kleinsten Widerspruch waren diese Erfahrungen – mit unzweifelhafter Ausnahme des Untertanenverhältnisses zum grundherrschaftlichen System – zu der offiziellen Legalität im Wirkungsbereich des privaten Zivilrechts. In anderen Bereichen von Gesellschaftsbeziehungen waren die Beziehungen zwischen der Legalität und der nichtkonformen Auffassung von Legitimität

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unter der Landbevölkerung gespannter, wie bezeugt u. a. von einer Anweisung, nach der sich die Dorfrichter richten sollten. Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) führte so in unmittelbarer Anknüpfung an die josephinischen Regelungen der Verhältnisse der hörigen Bevölkerung in der Vormärzgesellschaft eine Rechtskultur ein, die einen langzeitigen Stabilisierungseffekt hatte. Allerdings konnte es wegen seiner inneren Einschränkungen kein Instrument sein, das einen Rechtsrahmen für die allgemein bindende Lösung der bedrückenden Untertanenfrage darstellen würde. Der Inhalt vieler seiner Bestimmungen war offensichtlich bereits vor seinem Erlass selbstverständlicher Bestandteil des Rechtsbewusstseins der breiten Bevölkerungsschichten, sodass sein Erlass keine besondere Spur in ihrem Gedächtnis hinterließ. Abstract Modern law knowledge among Bohemia’s rural population in „Vormärz“ The present study aims at identifying common points and parallels between the law as codified in the Austrian General Civil Code (ABGB) and the education efforts of people’s enlightenment. The first chapter is entitled People’s enlightenment as education „for better“, the second bears the name Virtues and rights of the rural „citizen“. The central point is that in the concept of people’s enlightenment the people are unequal as to their civil rights; nevertheless, everybody, even those who are subject to their lord or state, can achieve the same level of honor. In connection with the Josephinian law and the subsequent Austrian General Civil Code, equality is guaranteed to people in the field of private law. The same level of equality is also foreseen in the General Penal Code issued in 1787 by Joseph II for the non-Hungarian part of the monarchy. Therefore, the third chapter concentrates on the role of courts in the particular interpretation and implementation of law. The fourth chapter deals with Jurisprudence with regard to the Schwarzenberg Domain in southern Bohemia and the (E)lčovice Domain in the region of Šumava Mountains. From what has been said above and from these examples follows that neither the Austrian state nor the local lords were much interested in making the general, law-incompetent public well acquainted with the contents of the Austrian General Civil Code. The rural population was expected to have just a vague knowledge of that law. Court decisions concerning the interrelation between lords and their subjects may have slightly varied from the desired „neutral“ position; nevertheless, it was always important to find the „right“ balance between social „stability“ or „justice“, and human „happiness“ regulated from above. The least differ-



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ence between the collective experience of the subject population, including their view of legitimacy, and the official legitimacy view was apparently in the sphere of private civil law. It also appears that owing to Josephinism and the late enlightenment a number of ABGB provisions in Bohemia in the pre-March period of time had become quite natural parts of the law awareness among the subject population so that the Code after its issue (1811) failed to engrave a special „trace“ in their collective memory.

Österreichisches rechtspolitisches System und die Bildung der Zivilgesellschaft in Galizien in der Autonomieära 1871–1914 Damian Szymczak Ein in solcher Gestalt vorgeschlagener Titel dieses Artikels kann ein bisschen intrigieren. Ob und in welchem Sinne kann man von der Geburt der galizischen Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert überhaupt sprechen? Doch die Habsburgermonarchie ähnelte auf keinen Fall den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielte. Dennoch kann man meinen, dass die Grundlagen für eine derartige Gesellschaft in Galizien schon bestanden haben. Es wäre deswegen interessant eine Frage zu stellen, auf welche Art und Weise das rechtspolitische System der Habsburgermonarchie seinen Einfluss auf diese Prozesse ausgeübt hat, und zwar ob sie es bevorzugte, förderte, gab sogar den Anstoß oder ganz im Gegensatz, wurde es versucht, die Entstehungsprozesse einer solchen Zivilgesellschaft einzudämmen. Es wird hier nur die Problematik der polnischen oder Polnisch sprechender Bevölkerung erwähnt, obwohl die oben erwähnte Frage auch die ukrainischen und die jüdischen Bewohner Gali­ ziens betraf. Am Anfang die Terminologiefrage: Wie verstand man im 19. Jahrhundert den Begriff der „Bürger“ beziehungsweise der „Staatsbürger“? Als ein nützliches Beispiel kann die klassische Definition von einem deutschen liberalen Denker Robert von Mohl, dienen, der der Meinung war, dass ein Bürger eine Person ist, die das Recht besitzt, eine Unterstützung für ihre Absichten seitens des Staats zu verlangen, besonders in dem Fall, wenn sie eine rechtliche Teilnahme an der Staatsführung hat und auf diese Art und Weise eigene Rechte sichern kann. Im Gegenteil dazu befand sich die Stellung der Untertanen. Zu dieser Klasse gehört eine Person, deren Teilnahme am Staatsleben nur darauf beschränkt wurde, gehorsam zu sein und die allgemeinen Pflichten zu erfüllen.1 In der angeführten Definition wurde der Druck auf das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Individuum gelegt. 1  Robert von Mohl, Encyklopedia umiejętności politycznych (Enzyklopädie der Staatswissenschaften), Warszawa 2003, S. 107.

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Inzwischen auf den ehemaligen polnischen Territorien, zu denen Galizien gehörte, verstand man ganz anders den Begriff des Bürgers. Bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts umfasste dieser Begriff nur den Adel, der noch eine altpolnische Denkart pflegte. Dieser zur Folge konnte nur ein Adliger zur Bürgerschaft gehören.2 Die Bauern und die Stadtbewohner galten ausschließlich als Untertanen. Sie hatten keine Möglichkeit, an den Arbeiten des Zentralparlaments oder an den regionalen Landtagen teilzunehmen. Man muss hinzufügen, dass der Bürgerbegriff damals mit der Angehörigkeit zur Nation gleichbedeutend war. Wenn die Bauern und die Städtebewohner keine Bürgerschaft bildeten, waren sie auch kein Nationsteil. Demgemäß betrachteten sie sich selbst nicht als Polen und sie wurden auch als Polen nicht betrachtet. Diese Auffassung des Bürgerbergriffs bezog sich eher auf die Gesellschaft als auf den Staat. In diesem Licht war der Bürger vor allem mit der Gesellschaft verknüpft, gegenüber der Gesellschaft hatte er seine Pflichten und mit der Gesellschaft sollte er im Einklang stehen. Jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach der Niederlage des polnischen Novembersaufstands aus den Jahren 1830 / 1831 erschien in Galizien die demokratische und liberale Idee, die die Forderungen nach einer Erweiterung des Bürgerbegriffs auf nichtadelige Schichten umfasste. Die Leute, die solche Ansichten kündeten, glaubten daran, dass man bezwungenes Polen selbständig, mit eigener Anstrengung wiederherstellen könnte. Es wäre jedoch notwendig, die bisher zu schmale nationale Grundlage, die nur der Adel behält, zu erweitern. Auf diese Art und Weise konnten die begrenzten polnischen Kräfte vermehrt werden und ein siegreicher Aufstand erschien als höchst wahrscheinlich. Angesichts der Schwächen des polnischen Bürgertums musste man vor allen die Bauern „verbürgen“. Der Bauer sollte zur Bürgerschaft erhoben werden und als ein vollrechtliches Mitglied der polnischen Gesellschaft und Nation fungieren. Das war sehr wichtig in der Epoche, als in Galizien irgendwelcher, der die Bauern zu überzeugen versuchte, dass sie sich zu „Polen“ zählen würden, einfach durch diesen angeblichen „Polen“ verprügelt sein könnte. Für Bauern war ein Pole ohne Ausnahme nur ein Adliger. Deshalb Edward Dembowski, einer von diesen oben erwähnten demokratischen Aktivisten, sprach in seinen politischen Schriften den Adel an: „Aber spreche mal ehrlich dem Bauern von Galizien oder Kongresspolen zum Herz an, (…) zeigt ihm, dass du tatsächlich die Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft bringst und ihn nicht nur mit den wertlosen Versprechungen trügst. Spreche ihm das

2  Zu dieser Frage interessante Bemerkungen in: Józef Siemieński, Dziedzictwo Rzeczypospolitej (Die Erbschaft von Königreich Polen), Warszawa 1918.



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klar an und der polnische Bauer mit ganzer Ergebenheit und Eifer die Revolution unterstützt“.3 Die polnischen Politiker, die solche Konzeptionen entwickelt haben, hatten jedoch keinen Einfluss auf die Wirklichkeit. Wenn jemand die Bauern gewinnen möchte, sollte er die Möglichkeit haben, die wichtigsten und notwendigsten Reformen, wie zum Beispiel die Abschaffung der Leibeigenschaft, durchführen. Das alles konnte natürlich die Habsburgermonarchie machen, ein Staat, wo die liberalen Ideen immer mehr Interesse zu erwecken begannen und zu denen besonders die Stadtbewohner eine starke Neigung zeigten. Diese letzten verlangten nach Einführung einer Verfassung und eines Rechtstaates. Das waren die Ideen von Völkerfrühling und das war die zweite Quelle, – nach polnisch-revolutionären – der bürgerlichen Tendenzen, die auf Galizien einwirken sollten. Erst die Ereignisse der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts bahnten für Galizien den Weg zur Verwirklichung der Konzeption einer Zivilgesellschaft. In dieser Periode der Abschaffung der absolutistischen Monarchie war der Bau des Rechtstaats im Begriff. Als eine Grundlage für ein solches Staatssystem kann man die Verfassung von 1867 betrachten. Die ehemalige Auffassung des Begriffs „Untertan“ ist in die Vergangenheit gegangen und in Österreich sind definitiv die „Staatsbürger“ erschienen, die ihre Rechte und auch die Institutionen, die diese Rechte schützen sollten, hatten. Diese Prozesse waren nicht ohne Bedeutung für die Umwandlungen in Galizien und verursachten die Modernisierung hiesiger (polnischer aber auch ukrainischer oder jüdischer) Gesellschaft. Jedoch bald wurde die Verbreitung der politischen Rechte eingestellt. Die liberalen Ideen und Reformen, die von den sogenannten deutschen Liberalen gefördert waren, trafen seit dem Anfang auf einen harten Widerstand eines großen Teils der polnischen politischen, besonders konservativ gesinnten Eliten aus Galizien, die unter der Fahne der sogenannten Autonomie standen.4 Diese letzten betrachteten die Gesellschaft als einen Organismus, der mit natürlicher Hierarchie herausgebildet wurde, mit der Einteilung der Rechte und Pflichten, die – wie sie glaubten – in den historischen Be3  Edward Dembowski, Pisma społeczne i polityczne (Die sozialen und politischen Schriften), Warszawa 1979, S. 242. Dembowski verstand unter dem Begriff „Revolution“ die Aufhebung der Herrschaft der Teilungsmächten auf den ehemaligen polnischen Gebieten. 4  Zu diesen Frage sehr ausführlich in: Stanisław Pijaj, Między polskim patriotyzmem a habsburskim lojalizmem. Polacy wobec przemian ustrojowych monarchii habsburskiej (1866–1871) (Zwischen polnischem Patriotismus und Loyalität zu den Habsburger. Die Polen im Angesichts innerer Staatsumwandlungen in der Habsburgermonarchie (1866–1871), Kraków 2003.

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dingungen ihre Wurzeln hatten. Nicht jeder konnte – wie sie meinten – als ein vollrechtlicher Bürger fungieren und dazu entsprechende Rechte bekommen, besonders in der Frage der Mitwirkung bei der Ausübung der Staatsund Landesgewalt.5 Es ging selbstverständlich in großem Maße um die Bauern, die die zahlreichste Gruppe der Galiziensbewohner bildeten. Diese mussten – wie die Konservativen überzeugten – erst erzogen werden. Die Stadtbewohner, also die Gruppe, die zu liberalen Tendenzen und zu den Ideen der Zivilgesellschaft die Neigung offenbarte, waren in Galizien zu schwach, um die Übergewicht der konservativen Schichten, vor allem des Adels, zu bewältigen. Die Bauern dagegen bildeten bis zu den 90er des 19. Jahrhunderts keine nennenswerte politische Kraft.6 Um die Unabhängigkeit von Wien, wo die liberalen und zentralistischen Tendenzen herrschten, aufrechtzuerhalten, mochten die polnischen führenden Schichten eine möglich breite Autonomie erwerben. Einen programmatischen Ausdruck für diese Ideen bildete die sogenannte Resolution vom September 1868. Eine Verwirklichung dieser Resolution wäre mit rechtpolitischen Ausscheidung des Galiziens aus österreichischer Hälfte der Habsburgermonarchie gleichbedeutend. Das wäre eine Sperre für die liberale und zentralistische Gesetzgebung des Reichsrats und der Regierung. Die polnischen Konservativen waren davon überzeugt, dass sie auf diese Art und Weise die liberalen Strömungen aus Wien eindämmen können. Gleichzeitig würden sie die ganze Gewalt über das Land in ihren Händen behalten. Am Anfang der 70er des 19. Jahrhunderts scheiterten die Bemühungen um die Verwirklichung der Resolution definitiv.7 Die Zugeständnisse der Wiener Regierung zeigten sich mehr als illusorisch gegenüber den polnischen Forderungen. Umso mehr, im Laufe der Zeit – wie sehr richtig ein bekannter Galizien-Forscher Harald Binder bemerkte – sogar solche relativ bescheidenen autonomischen Errungenschaften machten schrittweise keinen Unterschied zwischen Galizien und den übrigen Kronländern.8 Die so laut betonte galizische Autonomie wurde zum Stichwort ohne eigentliche Bedeu5  Józef Milewski, Zdobycze i iluzje postępu w XIX wieku (Die Errungenschaften und Illusionen des Fortschritts im 19. Jahrhundert), Kraków 1901, S. 65. 6  Franciszek Bujak, Wieś zachodnio galicyjska u schyłku XIX w. (Das westgalizische Dorf am Ende des 19. Jahrhunderts), Lwów 1904, S. 49. 7  Irena Pannenkowa, Walka Galicji z centralizmem wiedeńskim. Dzieje rezolucji sejmu galicyjskiego z 24 września 1868. W 50 rocznicę uchwały rewolucyjnej (Der galizische Kampf gegen den wienerischen Zentralismus. Die Geschichte des Resolutionsbeschlusses des galizischen Landtags von 24. September 1868. Zum 50. Jahrestag des Resolutionsbeschlusses), Lwów 1918. 8  Harald Binder, „Galizische Autonomie“ – ein streitbarer Begriff und seine Karriere, in: Moravské vyrovnání z roku 1905: možnosti a limity národnostního smíru ve střední Europě, Brno 2005, S. 239–266.



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tung geworden, das nur den polnischen Politikern eine gute Stimmung machen sollte. Doch die Böhmen und die Slowenen hatten dieselben Rechte und Möglichkeiten im Rahmen des Zisleithaniens wie die Bevölkerung von Galizien. Kein Wunder, weil die Verfassung von 1867 dem zentralen Parlament eine Überlegenheit gegenüber den Landtagen zugab und diese Überlegenheit wuchs nach und nach. Obwohl die Gesetze und Beschlüsse vom Reichsrat und von den Landtagen ein gleichbedeutendes rechtliches Gewicht hatten, kam es vor, was in diesem Zusammenhang viel besagt, dass diese erste Institution fast ausnahmsweise die kaiserliche Sanktion bekam, die zweite hingegen nicht unbedingt.9 Eine Überlegenheit der konservativ-adligen Schichten in Galizien wurde von dem politischen System begründet und war von einem kurialen Wahlrecht als ihre Unterstützung bedingt. Man muss unterstreichen, dass die Wahlkurien auch in den anderen Staaten bestanden, wie zum Beispiel in Preußen, aber in diesem letzten Fall war eine Zugehörigkeit zur einzelnen Kurie mit der Höhe der Steuern verbunden. In Österreich dagegen resultierte das auch teilweise aus der Angehörigkeit zu einem von Ständen (wie zum Beispiel die Kurie des Großgrundbesitzers). Eine der von oben eingeführten Einschränkungen von politischen Rechten konnte dem polnischen konservativen nicht ausreichen und um noch effektiver ihre Einflüsse zu sichern, haben sie die Freiheit der Wahlen durch sogenannte Zentral Wahl Komitee (Ausschuss) gefesselt. Diese Organisation monopolisierte in ihren Händen die Ernennung von Kandidaten zum Reichsrat und Landtag. Obwohl ein solches System nicht imstande war, die Probe der Zeit zu überdauern, beanspruchte seine Erosion ein paar Jahrzehnte. Als ersten winzigen Einbruch muss man die Einführung der direkten Wahlen zum Reichsrat erwähnen. Einen hartnackigen Widerstand leisteten dagegen vor allem die galizischen Abgeordneten. Die Ursache dafür war eine Befürchtung, dass die polnischen Politiker ihren Einfluss auf den Bestand der galizischen parlamentarischen Delegation in Wien verlieren würden. Nicht ohne Bedeutung war auch die Tatsache, dass man die bisherige Auswahl der Delegation durch den regionalen Landtag als einen Teil der Landessouveränität betrachtete. In den 90er des 19. Jahrhunderts kam die Einführung der fünften Kurie des Allgemeinwahlrechts, was paradoxerweise ein polnischer konservativer Premierminister durchgeführt hat.10 Endlich seit 1907 haben wir in Zisleithanien das Allgemeinwahlrecht, aber mit Ausschließung der 9  Edward Dubanowicz, Prawno-państwowe stanowisko królestwa Galicji i innych krajów przedlitawskich. Szkic prawno-historyczny (Rechtpolitische Stellung Königreichs Galizien und anderer zislithanischen Länder. Eine recht-historische Skizze), Lwów 1916, S. 99 ff. 10  Waldemar Łazuga, „Rządy polskie“ w Austrii 1895–1897 („Die polnische Regierung“ in Österreich 1895–1897), Poznań 1991, S. 127–152.

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Frauen. Der Prozess der politischen Verbürgerung der galizischen Bevölkerung (gleichzeitig auch der Juden und der Ukrainer) schritt unumstößlich vor. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs warteten auf volle Verleihung der politischen Rechten nur die früher erwähnten Frauen. Doch blieben diese letzten auch nicht passiv. In letzten Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die führenden Aktivistinnen der Frauenbewegung, wie zum Beispiel Maria Dulębianka, forderten immer energischer nach Verleihung der Wahlrechte für Frauen.11 Jedoch sie mussten nicht nur den Widerstand der Staatsführung, sondern auch den, in den Umgangsformen sehr stark konservativer, polnischer Gesellschaft bezwingen, was in dieser Zeit keinen Erfolg versprach. Es ist bemerkenswert, dass sogar die polnischen Sozialisten zur diese Idee skeptisch eingestellt waren. Nichtsdestoweniger soll man hervorheben, dass die Frauen in Galizien endlich einen winzigen Erfolg erlangt haben, und zwar ein Recht zur Teilnahme an den Wahlen zu Stadtgemeinden von Lemberg und Krakau.12 Im Vergleich zu übrigen polnischen Gebieten war das unbestritten ein Fortschritt. Die galizische Gesellschaft verlangte auch nach Verbesserung der hiesigen Selbstverwaltung, die – wie man betonte – eine unvollendete und unvollkommene Konstruktion war. Eine solche Kritik war umso vielsprechend, dass das Bestehen einer breit ausgebauten und leistungsfähigen Selbstverwaltung als ein Grundstein für eine gesunde und gut funktionierende Zivilgesellschaft betrachtete. Ein großes Gewicht legten auch die galizischen Konservativen darauf, die so skeptische Stellung zu der Frage der übereilten – wie sie glaubten – Verbreitung der Wahlrechte zum Landtag und Reichsrat angenommen haben. Nach ihrer Meinung sollte gerade die Selbstverwaltung eine Erziehungsrolle spielen, besonders auf dem Niveau des Kreises, wo in den Kreisräten die Vertreter von bäuerlichen Schichten der Gesellschaft eine Gelegenheit hatten, eine bildende Zusammenarbeit mit politisch erfahrenem Adel anzuknüpfen. Dagegen sollten sich natürlich die Gemeinden unter die ständige Obhut der oberen, gebildeten Schichten befinden. Deswegen machten die Konservativen der Regierung Vorwürfe, dass die Gemeinden zu weitgehende Freiheit bekommen haben13. Ganz andere Mei11  Maria Dulębianka, Polityczne stanowisko kobiety (Die politische Stellung der Frau), Warszawa 1908. 12  Bogusława Czajecka, „Z domu w szeroki świat  …“ Droga kobiet do niezależności w zaborze austriackimw latach 1890–1914 (Aus dem Haus in die weite Welt … Der Weg der Frauen zur Unabhängigkeit in österreichischem Teilungsgebiet in den Jahren 1890–1914), Kraków 1990, S. 231–232. 13  Mowy Juliana Dunajewskiego w Sejmie Krajowym i w Radzie Państwa (Die Reden von Julian Dunajewski, gehalten im Landtag und Reichstrat), B. I, Mowy ministerialne. (Die ministerialen Reden), Kraków, Warszawa 1914, S. 211.



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nung vertraten die galizischen Liberalen. Nach ihrer Meinung sollte eine relativ von der Zentralgewalt unabhängige Gemeinde als ein wirklicher Hort für bürgerliche Freiheiten dienen.14 Mit anderen Worten zu sagen – umso stärkere Gemeinden desto besser entwickelte Zivilgesellschaft. Aus einer solchen Überzeugung ausgegangen, forderten etwas idealistisch gesinnte Liberalen noch nach mehr Befugnissen und Rechten für die Gemeinden. Es gab auch andere Vorschläge, die mit Forderungen nach Verstärkung und Verbreitung der galizischen Autonomie verbunden waren. Es ging um Auflockerung der – wie man meinte – zu engen Beziehungen mit Zentralregierung in Wien also um eine Dezentralisation des Staats.15 Die Beamten sollten in erster Linie nicht der Regierung in Wien sondern der lokalen Gewalt in Lemberg untergeordnet werden. Diese Anregung zielte in die Richtung ab, vor allem eine stärkere Verknüpfung der Beamten mit der Landeshauptstadt, nicht unbedingt mit der Staatshauptstadt, herzustellen. Gleichzeitig könnten auf diese Weise der Verwaltungsapparat und die hiesige Gesellschaft einen erheblich besseren, gegenseitigen Verkehr aufnehmen. Auf diese unvollkommene Selbstverwaltung und erst entstehende Zivilgesellschaft lauerte aber zusätzlich eine Bedrohung und zwar schnell wachsende Bürokratie.16 Aus einer Seite galt diese Letzte als ein Erbe absolutistisch-zentralistischer Epoche. Aus der anderen – die galizischen Publizisten bemerkten mit Erstaunen, dass für die breiten Schichten der Gesellschaft eine Staatsbeamtenuniform zum höchsten Gut avancierte. Zwar eine amtliche Stelle gab kein atemraubendes Einkommen, garantierte aber das Ansehen in den Augen der Gesellschaft und ein kleines, aber festes Gehalt. Einer von ihnen in einigen Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrie: „Was für eine Krankheit beherrschte unsere Gesellschaft, wo fast jeder junge Mann keine Lust hat, sich in einen freien Beruf zu bestätigen, sondern erblickte sein Ideal in Karriere im Staatsdienst“.17 Mit dem erheblichen Wachstum der Bürokratie waren auch die anderen Gefährdungen verbunden. Ein System der Landesverwaltung, das sich auf 14  Włodzimierz Bernacki, Jednostka, Naród, Niepodległość. Myśl polityczna demolibrerałów galicyjskich (1882–1905) (Individuum, Nation, Unabhängigkeit. Der politische Gedanke der galizischen Demoliberalen (1882–1905), Kraków 1997, S. 98. 15  Witold Lasota, W sprawie reformy administracyjnej (Die Frage der Verwaltungsreform), in. Czasopismo prawnicze i ekonomiczne, Heft. 1–4, Kraków 1903, S. 313–342. 16  Die kritischen Äußerungen über den Bürokratie-Zustand in Galizien siehe: Stanisław Szczepanowski, Nędza Galicji w cyfrach i program energicznego rozwoju gospodarstwa krajowego (Das galizische Elend in Zahlen und ein Entwurf der energischen Entwicklung der Landes-Wirtschaft), Lwów 1888, S. 73 ff. 17  Ciekawe zjawisko (Ein interessantes Phänomen), „Przyjaciel Ludu“, Nr. 39 von 22 IX 1912, S. 9.

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die von Zentralbehörden lenkende Bürokratie und nur im bescheidenen Masse auf Selbstverwaltung stützte, hat – nach vielen Meinungen – einen tödlichen Charakter für die Gesellschaft und entzog ihr das Subjektivismusgefühl und Initiative. Man konnte die Wirkungen fast überall bemerken. Als einige Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Gruppe von ein paar Hundert Studenten der Jagiellonen-Universität von Königreich Polen und Galizien mit Benutzung eines Fragenbogens untersucht wurde, waren die Ergebnisse merkwürdig. Es stellte sich heraus, dass die jungen Leute aus Kongresspolen (also russischer Herrschaft) reger als die Jugend aus Galizien sind, mehr Initiative bezeigen, mehr Interesse am politisch-gesellschaftlichen und kulturellen Leben haben. Im Gegensatz dazu zeigten sich die Galizianer als passiver und sich eher auf die Hilfe des Staates und ihrer Lokalverwaltung als auf eigene Kräfte verlassen. Man erwartete allgemein, dass die Behörden Initiative aufnehmen sollten, um die Probleme der Einwohner auszulösen.18 In diesem Zusammenhang sind gegenwärtige Forschungen von Professor Andrzej Banach aus Jagiellonen-Universität sehr interessant. Der Krakauer Wissenschaftler verfolgte die Karrieren der Studenten der bäuerlichen Herkunft. Die Ergebnisse zeigten eindeutig, dass die Mehrheit von absolvierten Studenten seine Zukunft eher im Staatdienst (zum Beispiel in der Gerichtsbarkeit) erblickte als in freien Berufen19. Diese sogenannte neue Intelligenz (stammende aus niedrigen Schichten der Gesellschaft) wies auch wenig Interesse am Politik und öffentlicher Aktivität. Diese in erster Generation so hoch ausgebildeten Leute konzentrierten sich vor allem auf eine geschickte Ausübung beruflicher Pflichten und in der freien Zeit nach der Arbeit bevorzugten sie das Zurückziehen ins Privatleben.20 Nach der Meinung der Kritiker des österreichischen Regierungssystems, führt der beste Weg zur Schwächung des Bürokratismus über die beharrlichen Bemühungen im Rahmen der geltenden Gesetze, und vor allem mit dem Verzicht auf die bisherige Sitte, dass der Staat, ohne einzugreifen, immer Hilfe leisten sollte, um eine Aktivität zu entwickeln. Die beste Schule zur Verschaffung des selbständigen Denkens und zur Eroberung der praktischen Kenntnisse auf dem Gebiet der Verwaltungsmethoden ist die Tätigkeit der freien politischen und wirtschaftlichen Vereinigungen. Dem kann man eine Kenntnis der Selbstregierung entnehmen und daher kommt der Glaube an 18  Młodzież z  Królestwa a młodzież z  Galicji (Die Jugend aus Kongresspolen und die Jugend aus Galizien), „Rok Polski“ Nr. 2 von 1916, S. 32. 19  Andrzej Kazimierz Banach, Kariery zawodowe studentów Uniwersytetu Jagiellońskiego pochodzenia chłopskiego z lat 1860 / 1861–1917 / 1918 (Die beruflichen Karrieren von Studenten der Jagiellonen-Universität bäuerlicher Herkunft), Kraków 2009, S. 143. 20  Ibid.



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eigene Kräfte. Hier befand sich die Hoffnung nach ersprießlicher Entwicklung Galiziens mit Benutzung des Potenzials der Zivilgesellschaft.21 Die galizische Gesellschaft unter dem Einfluss der rechtspolitischen Wandlungen veränderte sich. Die liberalen Gesetze, die vom Reichsrat verabschiedet worden waren, die positive Rolle des Reichsgerichts und Verwaltungsgerichts und das ziemlich apolitische Bürokratiegerät beeinflussten immer mehr die Bewohner Galiziens, ihre Mentalität, Gewohnheiten, die Auffassung von Politik und Staat. Eine erhebliche, lehrende Rolle spielte hier auch die galizische Presse, besonders diese Titel, die an Bauern und Kleinbürger gerichtet waren. Auf den Spalten der populären Volks-Zeitschriften eroberten diese Klassen ihre ersten bürgerlichen Erfahrungen. Dazu ziemlich mildere Zensur eher bewachtete als blockierte die Meinungsfreiheit.22 Es verbreitete sich also zwischen Galiziens-Einwohnern das Bewusstsein, dass sie zu Staatsbürgerkategorie gehören und durch zuständige Institutionen von der Verletzung ihrer Rechte geschützt sind. Unbestritten waren das die positiven Anzeichen der fortschrittlichen Umwandlungen. Doch diese Prozesse erweckten auch die Besorgnis und dies nicht nur bei den Konservativen. Indirekt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es zu einer Debatte betreffs der Einführung in das Lehrprogramm eines neuen Lehrfachs, nämlich der Bürgererziehung. Ans Wort meldete sich unter anderem eine linksgerichtete Publizistin Zofia DaszyńskaGolińska. Erstaunlicherweise bemerkte diese als fortschrittlich geltende Autorin in derartigen Absichten eine große Bedrohung23. Auf einer Seite konnte man eine solche Erziehung im bürgerlichen Geiste als modern bezeichnen. Auf der anderen Seite konnte es auch als ein Assimilation-Mittel in den Händen des Staates dienen. Die polnische Gesellschaft sollte ganz anders definiert werden als es sich die deutschen liberalen wünschten. Für Daszyńska-Golińska sollte eine Lehre für polnische Kinder ihren Ausgangpunkt nicht im Begriff ‚Staat‘ sondern im Begriff ‚Nation‘ oder ‚Nationalität‘ haben. Die Behörden wollten den Jugendlichen beibringen, dass sie sich an der ersten Stelle als Staatsbürger von Habsburgermonarchie betrachten und erst dann von der Stellung des Menschen entscheidet, ob er Pole oder Ukrainer also Mitglieder einzelner Nationalitäten sind. Für national gesinnte Polen war das unannehmbar und gefährlich. Eine Idee der Zivilgesell21  Józef

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Olszewski, Biurokracja (Der Bürokratie), Lwów, Warszawa 1903, S. 382–

22  Andrzej Dziadzio, Monarchia konstytucyjna w Austrii 1867–1914. Władza, obywatel, prawo (Die konstitutionelle Monarchie in Österreich. Gewalt, Bürger, Recht) Kraków 2001, S. 270–272. 23  Zofia Daszyńska-Golińska, Nauki społeczno-prawne jako problemat wychowania narodowego (Die sozial-rechtliche Wissenschaften und die Frage der nationalen Erziehung), in: Muzeum, Jahrgang 29, 1913, S. 330.

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schaft, die von Mehrheit von Polen postuliert war, nahm es an, dass ein Individuum den Vorzug der Gemeinschaft geben muss. Das Individuum hat seine bürgerlichen Rechte nur im Rahmen der Gesellschaft (in diesem Fall der polnischen Gesellschaft), mit der es verbunden ist und in welchem Interesse es dienen sollte. Das österreichische rechtspolitische System drückte immer mehr eine sichtbare Spur auf die galizische Gesellschaft ab, was im Allgemeinen bemerkt wurde. Am Ende des 19. Jahrhunderts überzeugte Stanisław Tarnowski, ein einflussreicher Publizist und Politiker, dass die Wiederherstellung Polens in der Napoleonischen Epoche keine nennenswerten Schwierigkeiten machen würde24. Man musste nur das bekannt geben und später einen König auswählen. Dann ist alles fertig und drei Teile des ehemaligen Königreichs Polen sind wieder vereint. Aber nach Jahrzehnten der nationalen Gefangenschaft war das nicht so einfach zu verwirklichen. Man musste viele regionale Unterschiede, Gewohnheiten und verschiedene materielle Interessen überwinden. Die von Stanislaw Tarnowski erwähnten regionalen Unterschiede nahmen nach und nach zu. Aber die größte Bedrohung für die nationale Einheit erblickte man in der Angehörigkeit der Polen zu den abweichenden rechtspolitischen Staatssystemen25. Diese langjährige Zugehörigkeit saugte, zwar langsam, unsichtbar, aber systematisch und konsequent die geteilten polnischen Gebiete im Staatsrahmen der Teilungsmächte, besonders Österreich, auf. Man muss gestehen, dass die Probleme, vor denen Tarnowski warnte, tauchten mit ganzer Stärke nach 1918, also in der Epoche des Wiederaufbaus des polnischen Staates auf. Damals konnte man einen Zusammenstoß von drei verschiedenen Mentalitäten, politischen Kulturen bemerken, die in drei politischen Systemen seine Wurzeln hatten und zwar in dem österreichischen, preußischen und russischen System. Das war die Ursache für spätere zahlreiche Auseinandersetzungen. Die Warschauer Presse schon während des Ersten Weltkriegs beklagte die Ankömmlinge aus Galizien, die nach Kongresspolen als Beamte zugewandert sind, um den Wiederaufbau der entstehenden polnischen Staatstrukturen zu unterstützen, dass sie der nächsten ägyptischen Plage ähnlich sind. Unter den galizischen Beamten sollten nur die Streber sein, die durch den österreichisch-bürokratischen Geist ganz besessen sind. Zum einzigen Wegweiser für ihre amtliche Tätigkeit und ihr Benehmen war ausschließlich die Beförderungsgier.26 Es fehlte an schwersten Worten auch nicht. 24  Stanisław Tarnowski, Z doświadczeń i rozmyślań (Aus Erfahrungen und Überlegungen), Kraków 2002, S. 306–307. 25  Roman Rybarski, Podział na dzielnice (Die regionalen Unterschiede), „Rok Polski“ Nr. 4 von V 1916, S. 17. 26  Królewiacy i Galicjanie (Die Kongresspolen und Galizianer), „Czas“ Nr. 332 von 1 VIII 1918, S. 1.



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Während des Ersten Weltkriegs schrieb Zygmunt Balicki, einer der führenden Ideologen der nationalistischen demokratischen Partei, dass Galizien leider keine reine nationale Politik entwickeln und treiben konnte. Es ging um die Politik, die für alle polnischen Teilungsgebiete gemeinsame sein konnte. Aber es war im Gegenteil, weil die politische Tätigkeit der Polen aus Galizien vor allem von inneren Problemen der Österreichischen Monarchie beherrscht war. Umso mehr, für Galizianer soll und war ihre Politik eng und untrennbar mit der österreichischen Staatspolitik verbunden.27 Das war ein scharfer Vorwurf, gegen Polen aus Galizien, die sich mehr Habsburgermonarchie-Bürger als Angehörige der polnischen Nation fühlten. Nach Balickis Ansicht sollte es umgekehrt sein. Diese Anklagen waren teilweise nicht unbegründet. Der aus Galizien stammende Beamte und Politiker Alfred Wysocki bekannte sich offenbar in seinen Erinnerungen dazu. Nach seiner Meinung zwischen den jungen Leuten, die in der Autonomieära reiften, verschwand langsam das Bewusstsein (was noch für ihre Vorfahren selbstverständlich war), dass man zu einem fremden Staatsorganismus angehört. Dagegen bildete es sich ein Gefühl, dass man nicht dem reinen Abstraktionsbegriff „Polen“, sondern diesem „fremden“ Staat treu dienen muss.28 Einer von anderen Publizisten fasste diese Vorwürfe zusammen und ging zur Schlussfolgerung. Die Administration in Galizien ist zwar polnisch das heißt, die Mehrheit von Beamten bilden in der Wirklichkeit die Polen. Doch die Konstruktion und die Art des Verwaltungsapparats ist rein österreichisches Erzeugnis, nämlich nach dem Muster, das für alle österreichischen Länder identisch aufgebaut worden ist. Also tatsächlich hat Galizien keine rein polnische Administration, Gerichtsbarkeit oder sogar Schulwesen, sondern eine einfach österreichische, die nur mit polnischen Beamter, die teilweise in polnischer Sprache sein Amt ausüben können, besitzt. Aus diesem Sichtpunkt haben die Polen in der Habsburgermonarchie keine nennenswerte nationale Autonomie. Umgekehrt, das ist allenfalls nur eine Autonomie zum Schein.29 27  Zygmunt Balicki, Czystość polityki narodowej (Die Reinheit der nationalen Politik), „Sprawa Polska“ Nr. 19 von 8 (21) V 1916, S. 293. 28  Alfred Wysocki, Sprzed pół wieku (Aus der Zeit vor einem Halben Jahrhundert), Kraków, 1974, S. 31. 29  Teresa Kulak, Między austriacką lojalnością a polską narodowością. Narodowa demokracja przeciw mitologizowaniu politycznych i narodowych walorów autonomicznej Galicji na przełomie XIX i XX wieku (Zwischen österreichischer Loyalität und polnischer Nationalität. Die polnische National Demokratische Partei gegen Mythologisieren der Vorzüge der galizischen Autonomie an der Wende 19. und 20. Jahrhundert). in: Galicja i jej dziedzictwo (Die Galizien und ihre Erbschaft), hrsg. v. Włodzimierz Bonusiak, Józef Buszko, Rzeszów 1994, B. I, Polityka, S. 64.

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Also das Einzige, was den Galizischen Polen vorgeworfen wurde, resultierte aus der Tatsache, dass sie sich mehr als österreichische Staatsbürger, als ein Teil polnischer Gesellschaft fühlten. Es ist charakteristisch, dass die galizischen Beamten, die nach Großpolen eingekommen sind, nach Wiedergewinnung der Unabhängigkeit, um die verschiedenen Stellen in der Lokalverwaltung überzunehmen, auf eine scharfe Kritik seitens hiesiger Bewohner trafen. Diese letzen erwarteten von Galizianern einer aktiven Haltung und verlangten nach einer breiten Einverleibung in dortiges gesellschaftliches Leben. Inzwischen benahmen sich die Ankömmlinge eher passiv und begrenzten sich nur auf die Erfüllung amtlicher Pflichten. Erstaunlicherweise galten aber die preußischen Beamten für die Bewohner von Großpolen als Muster, weil die Preußen eine solche aktive Haltung vor 1918 zeigten, was natürlich damals für Polen auf keinen Fall günstig war. Die österreichischen Behörden hatten kein Verständnis für solches Verhalten. Ein Engagement der Beamten in das gesellschaftliche Leben duldeten sie nur ungern. Einen idealen Beamten aus österreichischer Sicht stellte eine sehr gut ausgebildete Person dar, die aber außer der Amtsuniform – mit Ausnahme des Privatlebens – keine öffentliche Tätigkeit ausübt.30 In der Wirklichkeit beteiligten sich die polnischen Beamten am österreichischen Dienst schrittweise immer mehr an dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Jedoch niemals im Vordergrund. Die pessimistische Einstellung der Galizianer wegen der Zustände eigener Gesellschaft als auch die Vorwürfe seitens übriger Landesteile ehemaligen Polens, waren eher übertrieben.31 Die Bewohner von Galizien waren nicht so passiv und ohne Initiative, wie man behauptete.32 Den Beweis dafür stellt eine große Menge von Gemeinschaften und Organisationen dar, die in Galizien gegründet wurden, besonders in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Zum Beispiel die Mehrheit von den Zusammenkünften der Vertreterinnen der polnischen Frauenbewegung fand in Galizien statt und die galizischen Frauen spielten hier eine führende Rolle. Sogar in den kleinen 30  Tadeusz Spiss, Ze wspomnień c. k. urzędnika politycznego (Aus den Erinnerungen des c. k. politischen Beamten), Rzeszów 1936, S. 10. 31  Zur Frage Beurteilung der galizischen Gesellschaft siehe: Adam Galos, Nędza i blaski Galicjanina – Polacy zaboru austriackiego (Elend und Glanz der Galizianer – die Polen vom österreichischen Teilungsgebiet), in: Komunikaty MazurskoWarmińskie, Nr. 1–2 (163–164), Olsztyn 1984, S. 105–131. 32  Eine sehr positive Beurteilung von zeitgenössischen Politikern und Publizisten, der aus Kongresspolen stammenden Stanisław Thugut. Stanisław Thugut, Wartość Galicji (Der Wert von Galizien), „Myśl Polska“, B. I, Heft 1, S. 25–28. Zu dieser Frage auch in: Henryk Wereszycki, Wpływ zaboru austriackiego na świadomość społeczeństwa polskiego (Der Einfluss des österreichischen Teilungsgebiets auf das Bewusstsein der polnischen Gesellschaft), in: „Dzieje Najnowsze“, Heft 1, Warszawa 1977, S. 87–101.



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ostgalizischen Städtchen entstanden zahlreiche Vereinigungen und die Aktivität der Bevölkerung entwickelte sich langsam fort.33 Also im zahlreichen, verschiedenen Bereichen konnte man eine sichtbare Belebung der galizischen Gesellschaft beobachten. Wenn aber in Preußen und Russland die polnischen Organisationen in Opposition zum Staat entstanden sind, sah die Lage unter dem Zepter von Franz Joseph ganz anders aus. Hier konnten die polnische Gesellschaft und die polnischen Organisationen auf die Hilfe seitens Staats rechnen und sogar solche Hilfe erwarten und fordern. Die polnische Zivilgesellschaft in Preußen wurde als eine Kundgebung der Selbständigkeit, der organisatorischen Fähigkeiten und der Reife der Polen begründet. Diese Gesellschaft wurde als Selbstverteidigungsmittel ins Leben berufen und das war ein Grund für ihre spezifischen Eigentümlichkeiten wie Solidarität, das Gruppeninteresse anstatt des Inviduumsinteresses im Vordergrund, Antiindividualismus. Noch andere Umstände befanden sich unter der Herrschaft der Zaren, wo irgendwelche Tätigkeit der unabhängigen Gemeinschaften im Prinzip überhaupt verboten wurde, mindestens bis zur Einführung der Verfassung von Nikolai II. In der Praxis konnten die Polen in Russland nur auf eigene Kräfte rechnen und sie mussten seinen ganzen Unternehmungsgeist und ganze Gewandtheit entwickeln und sie benutzen, um unter dem russischen Joch zu überleben. Der Staat war kein Rechtstaat, dazu feindlich eingestellt und die verschiedenen Formen der Betrügerei, wie zum Beispiel Bestechung, nahmen in Kongresspolen einen fast patriotischen Charakter an. Auf ganz andere Art und Weise sahen die Umstände in Österreich aus, wo die Prinzipien des Rechtstaats lebendig waren. Hier gab es die Möglichkeiten für vielfältige, legale Aktivität und der Staat und seine Institutionen versicherten Bürgerrechte aller Staatsbewohner. Hier wurde die polnische Gesellschaft nicht dazu gezwungen, einen Verteidigungskrieg gegen den Staat zu führen, sondern es war umgekehrt. Man konnte Hilfe bei Auslösung der Probleme erwarten und zahlreiche Organisationen als auch die einzelnen Bürger wandten sich um die finanzielle Unterstützung oder um die Obhut. Also die polnische Zivilgesellschaft in Galizien bildete sich in der Symbiose mit dem Staat aus, nicht, wie das im Fall von Preußen und Russland war, in der Opposition gegen ihn.

33  Jadwiga Hoff, Mieszkańcy małych miast Galicji Wschodniej w okresie autonomicznym (Die Einwohner von ostgalizischen Kleinstädten in der Autonomieära), Rzeszów 2005, S. 113–136.

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Abstract This short study is concerned with an influence of law and political system on political culture and mentality of the people. The area of the former Polish state, which in XVIII century was divided between three powers, namely: the Habsburg Monarchy, Russia and Prussia, has created an excellent possibility to such a research. We can compare the differences which were formed inside Polish society during the period of more than a hundred years of national captivity. Even a strong consciousness of national community could not efface growing differences in the mentality of Poles, which were present in three conquered states. The national captivity, that lasted more than one century, made the indelible imprint on the areas of the former Republic of Poland. First of all, it had a huge influence on mentality and political culture of the Polish society. Under the regime of three different sorts of law and a political system, three kinds of Polish nations were formed: Russian, Prussian and Austrian Poles. It was the reason for developing the profound differences in the Polish society and culture. After rebuilding the Polish state in 1918, these differences became the cause of numerous political conflicts. The elements of these conflicts have existed up to this day. A gradual growth of the differences among the individual parts of the former Polish state has still been the object of an attentive observation of current journalists and thinkers. It was very important that Galicia, after the defeat of the January Insurrection, became the center of Polish culture. In comparison with the situation in Russia and Prussia, the Poles in Galicia were free and their national life could be developing without any difficulties. Many of Polish patriots found there a refuge against persecutions. But it had no consequences for the growth of the popularity of Galicia and its inhabitants in the remaining part of Polish society. A lot of people from Warsaw and Poznan believed, that such a liberal law and political system of Austria-Hungary, did for the society of Galicia more harm than good. Poles, who lived in Galicia, were very often accused of servilism by them. There were plenty of opinions that they allegedly felt more like Austrians than Poles. In reality the situation of Poles under the scepter of power of Franz Joseph was very specific. In Russia and Prussia the state was an open enemy of Poles. Meanwhile, Poles in Austria were rightful citizens. They could not only be the serfs but also the ruling ones. In Austria the state was an ally, and surely, not an enemy like in the fall of Russia and Prussia. These were the circumstances, which Poles from Russia-Poland and Grand-Poland could not understand. Only in the Habsburg Monarchy Poles had a great opportunity to build a civil society in cooperation with the state. Under the scepter of Nikolai II and William II, the Polish civil society was built as a defensive weapon against the hostile and alien state.

Das elitäre Honoratiorengremium und die Vertiefung der civil society: Das österreichische Herrenhaus und die Revision des ABGB vor dem Ersten Weltkrieg Peter Urbanitsch Vor 100 Jahren, 1911, beging man in gebührender Weise das Zentenarjubiläum des ABGB. In der aus diesem Anlass erschienenen Festschrift beschwor im Einleitungsaufsatz der eminente Zivilrechtler und ehemalige Justizminister Franz Klein die Lebenskraft des ABGB1, doch standen die Feierlichkeiten unter der Devise „Jahrhundertfeier und Revision“2, hatte sich nämlich schon längst gezeigt, dass das altehrwürdige Gesetzbuch, dem Klein attestierte, dass in ihm „eine Weltanschauung wirkt, die einen Hauch von Ewigkeit über sie breitet“3, nicht mehr in allem den Anforderungen der Zeit entsprach. Verschiedentlich sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Anläufe zu einer Bearbeitung der Materie unternommen worden, die aber allesamt ohne Ergebnis blieben. Wohl nicht ohne Blick auf das am 1. Jänner 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch für Deutschland stellte 1901 im Abgeordnetenhaus der Sozialpolitiker und Reichsratsabgeordnete Julius Ofner den Antrag auf eine Gesamtreform des ABGB, weil „seine Anpassung an die socialen und wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit unumgänglich nöthig geworden“ sei, wobei ihm eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Aufgaben im Recht vorschwebte. Zum Zweck der Ausarbeitung eines neuen Entwurfs sollte ein Redaktionskomitee bestehend aus „Professoren, Richtern, Anwälten und erfahrenen Männern des Lebens“ eingesetzt werden, die vom Justizminister zu berufen wären. Der von ihnen erarbeitete Entwurf wäre anschließend der Öffentlichkeit vorzulegen und erst dann den parlamentarischen Körperschaften zur Beratung und Be1  Franz Klein, Die Lebenskraft des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches; in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, 1. Juni 1911, Bd. I, Wien 1911, S. 1–32. 2  Josef Schey, Festrede anlässlich der Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches; in: Österreichisches Zentralblatt für die juristische Praxis 29 (1911), S. 589; siehe auch Werner Ogris, Gesetzgebung und Rechtswissenschaft um 1900; in: Peter Berner, Emil Brix, Wolfgang Mantl (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986, S. 232–241, hier S. 235. 3  Klein, Lebenskraft, S. 32.

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schlussfassung zuzuleiten4. Wie alle früheren Anträge wurde auch dieser im Parlament nicht weiter behandelt, doch das Justizministerium nahm ihn offenbar zum Anlass, sich der Sache anzunehmen. Minister Alois Frh. von Spens-Booden beauftragte seinen Sektionschef Franz Klein mit entsprechenden Vorarbeiten. Klein teilte mit Ofner dessen Ansichten von der Einbeziehung sozialpolitischer Aspekte in das Gesetzeswerk, doch anders als der Abgeordnete trat Klein nicht für eine Totalreform des ABGB ein, sondern wollte dieses Ziel auf dem Weg über verschiedene Teilnovellen erreichen.5 Ein nicht unwesentlicher Grund für diese Haltung war – neben allgemeinen rechtstheoretischen Erwägungen – die (auch von seinem engsten Mitarbeiter im Ministerium, Hugo Schauer, und vielen anderen geteilte) Befürchtung, dass bei einer Totalreform des ABGB unweigerlich die Eherechtsproblematik zur Diskussion gestellt werden würde (am selben Tag wie Ofners Antrag war im Parlament auch ein Antrag des Abg. Dr. Tschan auf Streichung einiger das Eherecht tangierenden Artikel des ABGB eingebracht worden; die damals heftig debattierte Eherechtsreform zählte zu den ideologisch am umstrittensten Fragen dieser Jahre)6, was höchstwahrscheinlich den Ausbruch eines neuerlichen Kulturkampfes zur Folge haben und das gesamte Projekt einer Reform zum Scheitern bringen würde. Deshalb wurde schon 1901 / 02 „das Konzept einer bloßen Teilnovellengesetzgebung … als einzig realisierbare Variante der ABGB-Reform angesehen“.7 4  Antrag des Abgeordneten Dr. Ofner und Genossen betreffend die Einsetzung einer Redactionscommission für ein neues allgemeines bürgerliches Gesetzbuch, Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrates, XVII. Session, 1901, 997 der Beilagen. Der Antrag wurde in der 61. Sitzung am 18. Oktober 1901 eingebracht. 5  Herbert Hofmeister, Franz Klein als Sozialpolitiker auf dem Gebiete des Privatrechts; in: ders. (Hrsg.), Forschungsband Franz Klein (1854–1926). Leben und Wirken, Wien 1988, S. 203–215, hier S. 211. Es ist wohl kein Zufall, wenn sich Ofner und Klein für kurze Zeit nach dem Ende der Habsburgermonarchie in der „Bürgerlich-Demokratischen Partei“ zusammenfanden, die allerdings bei den Wahlen 1919 keinerlei Erfolg erzielen konnte; vgl. Fritz Fellner, Franz Klein als Politiker; ibid. 183–190. 6  Antrag des Abg. Dr. Tschan und Genossen, Sten Prot. AH, XVII. Session, 1901, 1000 der Beilagen. Zur Eherechtsproblematik allgemein siehe Margarete Grandner / Ulrike Harmat, Begrenzt verliebt. Gesetzliche Ehehindernisse und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn; in: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch (Hrsg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen (L’Homme Schriften 10. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft), Wien, Köln, Weimar 2005, S. 287–304 sowie Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938 (IUS Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 121, Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Europäische Rechtsgeschichte), Frankfurt am Main 1999. 7  H. Hofmeister, Klein als Sozialpolitiker, S. 211.



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Diese Ansicht erhielt massive Unterstützung durch einen 1904 erschienenen Aufsatz aus der Feder von Josef Unger, dem „Altmeister“ der österreichischen Zivilrechtswissenschaft, der sich für „mosaikartige“ Detailkorrekturen des ABGB aussprach8, für „Einzelkorrekturen, die zur Zeit möglich sind, ohne auf technisch-juristische oder auch wirtschaftpolitische oder staatspolitische Hindernisse zu stoßen“.9 Der Aufsatz fand in der Öffentlichkeit große positive Resonanz; inwieweit er auf eine Anregung Kleins zurückging oder nur eine Parallelität der Ansichten erkennen lässt, müsste im Einzelnen erst erforscht werden10. Im Justizministerium intensivierte man die Vorarbeiten und Ende April 1904 schlug Ministerpräsident Ernest von Koerber (der nach der Demission von Justizminister Spens-Booden im Jahr 1902 diesem als Leiter des Justizministeriums gefolgt war) dem Kaiser in einem Vortrag die weitere Vorgangsweise vor: Zuerst sollte – in freier Anlehnung an Ofners Vorschlag – eine Kommission aus Theoretikern einen Entwurf der Änderungen ausarbeiten, wobei sie sich an eine im Ministerium ausgearbeitete Übersicht halten sollte; in einem zweiten Schritt sollte der Entwurf dann von einer erweiterten Kommission aus Praktikern und Vertretern politischer und wirtschaftlicher Interessenverbände beraten werden – ein neuerlicher Hinweis auf die in sozialpolitischer Hinsicht erwarteten Implikationen der Reform. Der Kaiser billigte das Programm, die sog. Revisionskommission nahm im Mai 1904 ihre Arbeit auf.11 Sie bestand aus 5 Personen, allesamt bestens ausgewiesen in Wissenschaft und Politik. Den Vorsitz führte Josef Unger, außerdem gehörten ihr an: Emil Steinbach, eh. Finanzminister, 1904 Präsident des Obersten Gerichtshofes, Mitglied des Herrenhauses; Stanisław Madeyski, eh. Minister für Kultus und Unterricht, Professor für Zivilrecht in Krakau, Mitglied des Reichsgerichts, Mitglied des Herrenhauses; Antonín Randa, Professor für Privatrecht an der tschechischen Universität in Prag, Mitglied des Reichsgerichts, Mitglied des Herrenhauses, 1905 / 06 tschechischer Landsmannminister; Franz Klein, Sektionschef im Justizministerium. Da Steinbach bald starb, rückte Josef Schey 8  Joseph Unger, Zur Revision des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs; in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (Grünhuts Zeitschrift) 31 (1904), S. 389–406. 9  Zitat in: Bericht der Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage, betreffend die Änderung und Ergänzung einiger Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches; in: Stenographische Protokolle des Herrenhauses des österreichischen Reichsrates, XXI. Session, 1912, 78 der Beilagen, S. 4. 10  H. Hofmeister, Klein als Sozialpolitiker, S. 211. 11  Für die Entwicklung seit 1904 siehe Barbara Dölemeyer, Die Revision des ABGB durch die drei Teilnovellen von 1914, 1915 und 1916; in: Ius Commune 6 (1977), S. 274–303; dies., Die Teilnovellen zum ABGB; in: Herbert Hofmeister (Hrsg.), Kodifikation als Mittel der Politik (Wiener rechtsgeschichtliche Arbeiten 16), Wien, Graz, Köln 1986, S. 49–57.

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nach, Professor für Zivilrecht an der Universität Wien (und außerdem Schwager von Josef Unger), durch dessen Einsatz die anfänglich eher wenig konstruktive Arbeit der Kommission, bedingt einerseits durch Krankheit, andererseits durch andere amtliche Verpflichtungen der Mitglieder, etwas an Schwung gewann, ohne dass jedoch ein endgültiges Ergebnis erzielt worden wäre. Unabhängig davon hatte das Justizministerium seine Arbeiten an den Entwürfen vorangetrieben und auch andere Ministerien konsultiert, durch deren Gutachten und Vorschläge der mehrfach überarbeitete Entwurf immer größere Ausmaße annahm. Offenbar um weitere externe Einflüsse hintanzuhalten, entschloss sich Franz Klein, seit der Demission Koerbers Ende 1904 zuerst Leiter des Justizministeriums, dann definitiver Minister und seit Sommer 1905 auch Mitglied des Herrenhauses, das Elaborat des Ministeriums, das zuletzt auch noch der „Revisionskommission“ mitgeteilt und von ihr beraten wurde, ohne dass dies größere Wirkungen gezeitigt hätte, im Dezember 1907 als Regierungsvorlage im Herrenhaus einzubringen und damit öffentlich zu machen. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Regierungsvorlage war sowohl von Seiten der Theoretiker als auch der Praktiker mehrheitlich negativ, auch wenn mittlerweile die Rechtswissenschaft zu einer etwas positiveren Beurteilung gelangt als seinerzeit die Zeitgenossen.12 Diese reagierten mit einer Reihe von Stellungnahmen, Gutachten, Eingaben verschiedenster Interessenverbände, die das Herrenhaus ebenfalls in seine Beratungen mit einbezog. Das Herrenhaus betraute mit dieser Aufgabe seine für diesen Anlass auf 15 Personen erweiterte Juridische Kommission, der unter dem Vorsitz von Josef Unger fast alle namhaften Juristen des Herrenhauses angehörten, zum allergrößten Teil auf Lebenszeit ernannte Mitglieder aus den Bereichen der hohen Beamtenschaft, ehemaliger Minister und der Wissenschaft. Hinsichtlich der Klubzugehörigkeit war die Kommission ziemlich paritätisch von Angehörigen aller drei Klubs (Rechte, Mittelpartei, Verfassungspartei) besetzt.13 12  Siehe die Auflistung bei Anton Randa, Beitrag zu: Stimmen zur Revision des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches; in: Österreichisches Zentralblatt für die juristische Praxis 29 (1911), S. 474 f.; zur späteren Beurteilung vgl. Hofmeister, Klein als Sozialpolitiker, S. 212 f. 13  1907 gehörten der Juridischen Kommission an: Hugo Frh. Glanz von Eicha, Minister a. D.; Heinrich Lammasch, Karl Habietinek, Minister a. D., Erster Präs. des Obersten Gerichts- und Kassationshofes a. D.; Alfred Frh. von Prandau-Hilleprand, Senatspräsident des Obersten Gerichts- und Kassationshofes; Ignaz Edler von Ruber, Erster Präs. des Obersten Gerichts- und Kassationshofes; Friedrich Graf Schönborn, Minister a. D., Erster Präs. des Verwaltungsgerichtshofes (er starb bereits Ende 1907, an seine Stelle trat Stanisław Madeyski, Minister a. D.); Karl R.



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Die Juridische Kommission bestellte eine Subkommission bestehend aus Stanisław Madeyski als Obmann, Karl Samuel Grünhut, Karl Grabmayr, Karl Czyhlarz und Josef Schey, der zum Referenten bestellt wurde und der die Hauptarbeit der Redaktionsarbeit leistete. Nach dem Tod von Madeyski 1909 gehörte auch Franz Klein der Subkommission an, die in einer gewissen personellen und damit wohl auch sachlichen Kontinuität zur Unger’schen Revisionskommission stand: nur Unger selbst – er legte Ende 1909 auch den Vorsitz der Juridischen Kommission zurück (möglicherweise hatte sich hinsichtlich der praktischen Durchführung der Reform bei ihm ein Sinneswandel ereignet, schrieb er doch 1911 in der Neuen Freien Presse: „Die Verfassung eines Gesetzbuches sollte stets in eine Hand gelegt werden, dann entsteht es in einem Geiste und aus einem Gusse“14); sein Nachfolger als Vorsitzender wurde Karl Czyhlarz – und Randa waren in der parlamentarischen Subkommission nicht mehr dabei (Randa hatte sich mit Klein wegen dessen Nichtbeachtung der Randa’schen Vorschläge überworfen), Steinbach war 1907 gestorben. In der Subkommission hatten die Vertreter der Verfassungstreuen deutlich die Oberhand. Es erstaunt daher nicht, dass man dort gleich am Beginn der Arbeiten erörterte, „ob man den gegebenen Anlaß benutzen solle, um den Versuch einer Novellierung unseres bürgerlichen Eherechtes zu unterneh­ men. Diese Frage wurde vom Subkomitee einhellig verneint“, wie Karl Grabmayr in der Generaldebatte des Jahres 1912 mitteilte, weil, wie er an anderer Stelle seiner Rede ausdrücklich sagte, es „politischer Wahnsinn“ wäre, „eine so schwierige, den erbitterten Kampf zweier Weltanschauungen von Czyhlarz, em. Professor der Universität Wien, Mitglied des Reichsgerichts; Karl Samuel Grünhut, Professor der Universität Wien; Artur Graf Enzenberg, Sektionschef a. D.; Paul Frh. Gautsch von Frankenthurn, Ministerpräsident a. D., Präs. des Obersten Rechnungshofes; Karl von Grabmayr, Stellvertreter des Präs. des Reichsgerichts; Antonín R. von Randa, Minister a. D., Mitglied des Reichsgerichts; Josef Frh. Schey von Koromla, Professor der Universität Wien; Franz Schindler, Prof. der Universität Wien, Hofkaplan. Verzeichnis der Kommissionen, der Mitglieder der Staatsschulden-Kommission, des Reichsgerichtes und des Staatsgerichts­ hofes, Sten. Prot. HH, XVIII. Session, 1907, Anhang III, 72 f. 1912 bestand die Juridische Kommission aus Glanz, Lammasch, Prandau, Ruber, Czyhlarz, Grünhut, Grabmayr, Schey (die schon seit 1907 der Kommission angehörten), außerdem Franz Klein; Friedrich Frh. von Call zu Rosenburg und Kulmbach, Oberlandesgerichtspräsident in Innsbruck, Mitglied des Reichsgerichts; Fürst Friedrich Lobko­ wicz; Leo Graf Piniński, Statthalter a. D., Mitglied des Reichsgerichtes; Friedrich Prinz Schwarzenberg; Albin Bráf, Minister a. D.; Anton Graf Pace, Sektionschef a. D. Verzeichnis der Kommissionen, der Mitglieder der Staatsschulden-Kommission, des Reichsgerichtes und des Staatsgerichtshofes, Sten. Prot. HH, XXI. Session, 1911, Anhang III, S. 114. In der Subkommission ergab sich nur eine einzige Änderung durch die Erkrankung und den Tod von Madeyski. 14  Zitiert nach Randa, Beitrag, S. 477.

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auslösenden Reform zu unternehmen“, weshalb es auch den Anhängern einer Eherechtsreform klüger schien, sich bei der anstehenden Novellierung des ABGB „mit dem vorläufig Erreichbaren zu begnügen und nicht durch weitergehende, derzeit unerfüllbare Wünsche das Ganze zu gefährden“.15 In den Detailbesprechungen der Subkommission und der Juridischen Kommission hatte die Eherechtsproblematik daher keine Rolle gespielt, erst im Rahmen der Generaldebatte im Plenum des Herrenhauses von 1912 wurde sie wieder thematisiert, dann aber ziemlich ausführlich, so dass der letzte Redner dieser Debatte mit Recht darauf hinwies, dass „wir die Debatte, die wir hier führen, in einem höheren Maße dem widmen, was in dem Reform­ werke nicht enthalten ist, als diesem Werke selbst“.16 War also die Eherechtsproblematik für die Subkommission kein Thema, so befasste sie sich umso intensiver mit den Materien, die in der Regierungsvorlage und in den diversen anderen Anregungen enthalten waren. Obwohl die Regierungsvorlage 199 Positionen enthielt, die nach Meinung des Ministeriums gegenüber dem bestehenden ABGB geändert werden sollten, wollte man die Novelle – in den Worten der von Klein’s engem Mitarbeiter Sektionschef Schauer verfassten Erläuternden Bemerkungen – nur als „Abschlagszahlung“ sehen, „als Teil des ganzen Reformwerkes, der selb­ ständig in Kraft treten kann, ohne den Fortgang und weiteren Verlauf der Restauration unseres bürgerlichen Gesetzbuches zu schädigen oder zu beir­ ren … als Versuch, dem Rechtsleben bald zu gewähren, was bald und leicht gegeben werden kann“.17 Gegen diese Beschränkung und die gleichzeitige Ankündigung weiterer Novellen in näherer oder fernerer Zukunft erhoben sich zahlreiche Bedenken in- und außerhalb der Subkommission. Außerdem wurde bemängelt, dass es der Regierungsvorlage nicht gelungen war, die neuen Bestimmungen organisch in das bestehende Gesetzbuch einzufügen. Gerade hinsichtlich des Problems, „das neue in den alten Bau hineinzuarbeiten“, sah die Subkommission den Schwachpunkt der Regierungsvorlage und es waren dann auch vor allem Josef Schey, aber auch Franz Klein, die in der Subkommission dafür sorgten, dass es hinsichtlich der Rechtstechnik und der Anpassung der Änderungen an das ursprüngliche Gesetzbuch zu einer Vereinheitlichung kam, so dass sich die Novellen schließlich doch annähernd wie aus einem Guss präsentierten.18 15  Karl Grabmayr, Sten. Prot. HH, XXI. Session, 22. Sitzung am 19. Dezember 1912, S.  456 f. 16  Leo Graf Piniński, ibid., S. 469. 17  Sten. Prot. HH, XVIII. Session, 1907, 29 der Beilagen, S. 59. 18  B. Dölemeyer, Teilnovellen, S. 50.



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Für die hier interessierende Fragestellung wichtiger als die gesetzestechnischen Modifikationen sind die materiellen, die inhaltlichen Veränderungen, die die Subkommission vorgenommen hat. Aufbauend auf Referaten der Mitglieder der Subkommission zu einzelnen Sachbereichen und unter Bedachtnahme auf mehrere moderne Zivilrechtkodifikationen verschiedener Staaten19 hat sich die Subkommission in 40 Sitzungen eingehend mit der Gesamtthematik befasst und im Juli 1909 einen ersten Entwurf vorgelegt, der auch veröffentlicht wurde.20 Da 1909 die Session des Reichsrates geschlossen wurde, brachte die Regierung – ohne auf die bisher bekannt gewordenen Vorschläge Rücksicht zu nehmen – die ursprüngliche Regierungsvorlage erneut im Herrenhaus ein, damit die wieder eingesetzte Subkommmission nahtlos dort weiterarbeiten konnte, wo sie im Frühjahr 1909 aufgehört hatte. In 15 weiteren Sitzungen nahm die Subkommission eine zweite Lesung vor, in der man einer Reihe von Kritikpunkten Rechnung trug, die mittlerweile von Theorie und Praxis (insbesondere Wirtschaftskreisen) geäußert worden waren, wie überhaupt die Subkommission durchaus bereit war, auf Vorschläge positiver wie negativer Art einzugehen und sie zu er­ örtern, die von Seiten der interessierten Öffentlichkeit, aber auch der Regierung selbst, an sie herangetragen wurden. Freilich ging sie dabei „mit Maß und Ziel“ vor, und „es ist nicht blind alles akzeptiert worden, was irgendwie angeregt wurde“, wie der Berichterstatter Schey in der Herrenhausdebatte formulierte21 – im Motivenbericht ist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das internationale Privatrecht, das Zweite Hauptstück des ABGB über den Besitz und die Frage der Enteignung verwiesen.22 Die Beratungen resultierten in einem 1911 fertiggestellten zweiten Entwurf, der der Juridischen Kommission des Herrenhauses gemeinsam mit einem vom Generalberichterstatter Schey verfassten, sehr ausführlichen Bericht vorgelegt werden sollte, doch wieder unterbrach die Schließung der parlamentarischen Session die Arbeiten der Ersten Kammer. Nach Wiedereröffnung legte die Regierung nochmals ihren unveränderten Regierungsvorschlag vor, erneut bloß aus formalen Gründen. Die wiederbestellte Subkommission nahm neuerlich gewisse Revisionen vor und erhob schließlich den Bericht in dieser Form zum Beschluss. Die Juridische Kommission ihrerseits hat anschließend einzelne Änderungen oder Ergänzungen vorgenommen, und den derart modifizierten Kommissionsbericht, der jetzt um rund 100 Posi­tionen mehr umfasste als der seinerzeitige Regierungsvorschlag von 1907 (und das, obden Quellen siehe B. Dölemeyer, Revision, S. 283 f. des Subkomitees der juridischen Kommission des Herrenhauses über die Novelle zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, Wien 1909. 21  Joseph Schey, Sten. Prot. HH, XXI. Session, 22. Sitzung am 19. Dezember 1912, S. 450. 22  Bericht 1912, S. 5 f. 19  Zu

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wohl die ursprünglich enthalten gewesene Baurechtsmaterie herausgenommen worden war, weil sie in einem eignen Gesetz geregelt wurde), zusammen mit Scheys Motivenbericht, im Juni 1912 an das Plenum des Herrenhauses weitergeleitet. Die Debatte darüber fand am 19. Dezember statt; die Bedeutung, die der Angelegenheit beigemessen wurde, geht auch daraus hervor, dass auf der Ministerbank die gesamte Regierung Platz genommen hatte, außerdem als Regierungsvertreter Sektionschef Schauer vom Justizministerium, der die Arbeit an der Novelle von Anfang an begleitet und mitgestaltet hatte. Wie erwähnt, ging es in dieser Debatte vornehmlich um die im Entwurf der Juridischen Kommission gar nicht enthaltene Eherechtsproblematik, ein einziger Redner brachte zu einem der Punkte einen Abänderungsvorschlag ein23, der auch akzeptiert wurde. Der gesamte Gesetzentwurf und zwei mit der Materie in Zusammenhang stehende Resolutionen wurden daraufhin vom Plenum angenommen. Der vom Herrenhaus am 19. Dezember 1912 verabschiedete Gesetzentwurf umfasst insgesamt 264 Paragraphen, er war in sechs Abschnitte eingeteilt: I. Personenrecht II. Familienrecht III. Sachenrecht IV. Erbrecht V. Obligationenrecht VI. Verjährung und gesetzliche Fristbestimmung Von den zahlreichen Einzel-Punkten möchte ich in der Folge nur einige wenige herausgreifen, die für die Weiterentwicklung einer civil society von Belang waren und in denen sich die „Symbiose traditionell liberalen Ideen­ guts mit sozialem Gedankengut“24, der Akzeptanz der Idee von den sozialen Aufgaben des Privatrechts, besonders deutlich zeigt. Der soziale Gedanke war in jenen Jahren durchaus schon Gemeingut des politischen Denkens geworden, wenn er auch nicht von allen vorbehaltlos geteilt wurde und bei Vorschlägen zu seiner Realisierung eine große Bandbreite bestand. Die unterschiedlichen Zugangsweisen lassen sich auch in den Beratungen der Subkommission und der Juridischen Kommission erkennen, dennoch ist es bemerkenswert, dass sozialpolitische Ideen gerade bei einigen Rechtsgelehrten auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Neben Franz Klein ist in diesem Zusammenhang auch Josef Schey zu nennen, aus gehobenen wirtschaftsbür23  Friedrich Call, Sten. Prot. HH, XXI. Session, 22. Sitzung am 19. Dezember 1912, S.  472 f. 24  H. Hofmeister, Klein als Sozialpolitiker, S. 204.



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gerlichen Kreisen stammend (sowohl sein Vater als auch sein Großonkel haben sich neben ihren wirtschaftlichen Erfolgen auch als Mäzene und Philanthropen einen Namen gemacht25), der immer wieder betonte, dass in vielen Fällen die Allgemeinheit, sprich der Staat, Aufgaben aus dem Bereich des Schutzes des Individuums und der sozialen Fürsorge übernommen habe, die früher von Anderen ausgeübt worden seien, weshalb nicht nur die rechtlichen Bestimmungen den modernen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen angepasst werden müssten, sondern das Gesetz auch die Fort- und Weiterentwicklung sozialpolitischer Ideen und deren Umsetzung ermöglichen und befördern müsse. In dieser Hinsicht wären aus dem Gesetzentwurf zu nennen: –  Die Verpflichtungsfähigkeit Minderjähriger. Die Altersgrenze der Minderjährigkeit lag bei 24 Jahren; verschiedentlich war gefordert worden, sie auf 21 Jahre herabzusetzen. Davon kam man im Lauf der Verhandlungen wieder ab, weil man Rückwirkungen auf Wahlrechtsbestimmungen voraussah, eine nach Meinung der Kritik fadenscheinige Begründung, dürften doch „formale Rücksichten … wohltätige Reformen nicht aufhalten“, wie einer der Kritiker formulierte.26 Immerhin sollte eine beschränkte Verpflichtungsfähigkeit der jugendlichen Arbeiterschaft, soferne sie außerhalb der väterlichen Gewalt oder unter Vormundschaft steht, die Möglichkeit geben, ihrem Erwerb selbstständig nachzugehen; eine Bestimmung, die von manchen als nicht weitgehend genug empfunden wurde.27 – Die Anfechtung der Ehelichkeit der Geburt. Es musste die Frage geklärt werden, ob auch ein Kind das Recht haben sollte, die Ehelichkeit seiner Geburt zu bestreiten – noch 1911 hatte der Oberste Gerichtshof in einem Judikat diese Ansicht verneint28 –, wobei es sich in der Sache in aller Regel darum handelte, Alimente für das Kind in den ersten Jahren seines Lebens zu sichern, vor allem, wenn der dem Gesetz nach rechtmäßige Vater (das war auch bei außerhalb der Ehe gezeugten Kindern der Ehegatte) unbekannten Aufenthalts war (z. B. weil er ausgewandert war), und die Mutter in „notorischem Konkubinat“ lebte, aus dem Kinder entsprungen waren. Selbst in solchen Fällen konnte der leibliche Vater nicht zu Leistungen herangezogen werden. In der Juridischen Kommission entwickelte sich über diesen Fragenkomplex eine ziemlich kontroverse Debatte, weil man im Vorschlag der Subkommission, eine solche Klagemöglich25  Zur Familie Schey von Koromla siehe Österreichische Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. X, Wien 1994, S. 100 ff. 26  Friedrich Schöndorf, Ueber den Entwurf einer Novelle zum österreichischen a. b. Gb.; in: Archiv für bürgerliches Recht 39 (1913), S. 120–241, hier S. 130. 27  Ibid., S. 133; Bericht 1912, S. 11 f. 28  A. Randa, Beitrag, S. 476.

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keit einzuräumen (und noch dazu für die Dauer von 25 Jahren – 1 Jahr nach erreichter Großjährigkeit), eine Untergrabung der Stellung des Vaters als „Haupt der Familie“ sah und es ethisch verwerflich fand, dass ein Kind (wenn auch durch einen Kurator) seine eigene Mutter des Ehebruchs bezichtigen sollte. Schließlich setzte sich aber doch der Fürsorge-Gedanke im Interesse des Kindes durch, umso mehr als durch den einzigen Abänderungsantrag im Plenum das Klagerecht des Kindes auf 5 Jahre eingeschränkt wurde. Der Antrag stammte vom Freiherrn von Call, im „Zivilberuf“ Präsident des Oberlandesgerichts Innsbruck, Mitglied des Reichsgerichtes und seit kurzem auch Mitglied der Juridischen Kommission des Herrenhauses (allerdings erst seit einem Zeitpunkt, an dem die Beratungen über die Novellierung des ABGB bereits abgeschlossen waren), der sich auch schon früher literarisch mit dem Thema auseinandergesetzt hatte.29 Es stand außer Zweifel, dass Uneheliche eines besonderen Schutzes seitens der Gesellschaft bedurften, nicht nur aus altruistischen Gründen, sondern wohl auch, um – wie mehrfach betont wurde – sich dadurch von der angeblich oder tatsächlich von diesem Personenkreis ausgehenden verstärkten Kriminalität zu schützen.30 –  Die Interessen der Kinder standen auch bei der Obsorge für die Kinder im Falle einer Scheidung oder Trennung der Eltern im Vordergrund. Unabhängig von Schuld oder Unschuld sollten sich die Richter, die über die Zuweisung zu einem der Elternteile zu entscheiden hatten, an den Bedürfnissen der Kinder orientieren können, denn – wie im Motivenbericht ausgeführt wurde – „es läßt sich nicht vorweg behaupten, daß der Elternteil, der seiner Pflicht gegen den Gatten nicht Genüge getan hat, deshalb auch kein verläßlicher Vater oder keine gute Mutter sein werde“31. –  Eine Reihe von Bestimmungen befasste sich mit der Stellung unehelicher Kinder, die kräftig verbessert wurde. Das betraf z. B. die Namensgebung im Fall der Verheiratung der Mutter eines unehelichen Kindes; die finanzielle Fürsorgeleistung des Vaters bei Entbindungs- und Wochenbettkosten der Mutter, wobei man durch eine restriktivere Formulierung den Vater vor einer möglichen Erpressung zu bewahren gedachte; auch das Erbrecht von Kindern gegenüber dem unehelichen Vater wurde zwar präzisiert, aber nicht generell gesetzlich festgeschrieben, weil – in der Diktion des Motivenberichts – das der Novelle unterliegende generelle Programm „einschneidende Änderungen ausschließt“, aber auch weil „es nicht zweifel­ 29  Friedrich Frh. von Call, Das Recht auf Unehelichkeit; in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, 1. Juni 1911, Bd. II, Wien 1911, S. 323–348. 30  B. Dölemeyer, Revision, S. 287. 31  Bericht 1912, S. 20.



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los ist, dass sie das allgemeine Rechtsbewußtsein fordert“.32 Wohl aber wurde das volle gegenseitige Erbrecht zwischen unehelichen Kindern und ihren mütterlichen Verwandten statuiert. –  Besonderes Augenmerk galt dem Vormundschaftswesen als einem Teil des umfassenden Jugendschutzes und der staatlichen Fürsorge, eine Materie, der Franz Klein schon seit langem seine Aufmerksamkeit zugewendet hatte – wie übrigens auch Julius Ofner, dessen Einfluß auf Klein noch einer genaueren Untersuchung bedürfte. Hatte Klein sich schon früher für die Etablierung von sog. Waisenräten eingesetzt, private Vereinigungen, die die Verbindung von Vormundschaft und Gericht herstellen sollten, so trat er nun vehement für die gesetzliche Schaffung von „Vormundschaftsräten“ ein, die sowohl für Justiz- als auch Verwaltungsagenden zuständig sein sollten, eine bemerkenswerte Zurückdrängung des rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltentrennung zugunsten des sozialen Gedankens des Jugendschutzes.33 Abgesehen von anderen positiven Folgen, die sich die Gesetzgeber von dieser Einrichtung erwarteten, ging man davon aus, dass „namentlich das gemein­ nützige Wirken der Frauen sich hier bewähren wird können“.34 – Was die rechtliche Stellung der Frauen betrifft, so wurde diese durch den Novellenentwurf zweifellos verbessert, aber doch nicht in jenem Ausmaß, das von manchen gewünscht wurde. So wurde die allgemeine Zulassung der Frauen zur Vormundschaft ermöglicht, allerdings mit bestimmten Einschränkungen (so wurde ihr z. B. in bestimmten Fällen ein männlicher Mitvormund beigegeben); auch bedurften Ehefrauen bei der Übernahme einer derartigen Aufgabe der Zustimmung ihres Gatten. Frauen waren generell berechtigt, als Zeugen zu fungieren. Das Ehegattenerbrecht wurde gründlich reformiert; bei „grundsätzlicher Behandlung von Mann und Frau“ sollte „das überragende Motiv die Sorge sein, dass durch den Tod des einen Gatten der andere nicht plötzlich aus seiner Stellung hinausgeworfen, nicht … im wirtschaftlichen und Familienverhältnis auf eine niedrigere Stufe herabgedrückt“ werde, wobei es sich gemäß der damals vorherrschenden Praxis in aller Regel darum handelte, das „vermögensrechtliche Schicksal der überlebenden Frau“ in einer für sie akzeptablen Weise zu regeln, auch wenn die ursprünglich von der Subkommission vorgesehene Festschreibung eines gesetzlichen Pflichtteils für den überlebenden Partner von der Juridischen Kommission wieder gestrichen wurde.35 Für eine Gesamtbeurteilung des Novellenentwurfs ganz wesentlich ist sicher der 5. Abschnitt über die obligationenrechtlichen Bestimmungen (in32  Ibid.,

S. 25. Hofmeister, Klein als Sozialpolitiker, S. 209. 34  Bericht 1912, S. 34. 35  Ibid., S.  96 f., S.  105 f. 33  H.

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klusive Dienstvertrag und Werkvertrag), die fast die Hälfte des Gesetzentwurfs ausmachen, doch liegt diese Thematik außerhalb des hier gewählten Ansatzes, handeln sie doch im wesentlichen vom Wirtschafts- und bürgerlichen Verkehrswesen. Erwähnt sollte allerdings doch werden, dass der Abschnitt über „Dienstvertrag und Werkvertrag, Verlagsvertrag“ – in den Worten eines zeitgenössischen Juristen – „der einzige im ganzen Entwurf [ist], der nicht Flickarbeit leistet, sondern seinen Gegenstand ganz neu aufbaut, mit dem entsprechenden Hauptstück des ABGB tabula rasa macht und an seine Stelle eine Reihe von Bestimmungen treten läßt, die den heu­ tigen Anforderungen an ein allgemeines Arbeitsrecht entsprechen“.36 Generell kann gesagt werden, dass der vom Herrenhaus verabschiedete Entwurf von den Zeitgenossen weitaus positiver beurteilt wurde als die Regierungsvorlage des Jahres 1907, weil in der Endfassung vielen Kritikpunkten Rechnung getragen worden war, sei es durch die Streichung von einzelnen Bestimmungen, sei es durch die Formulierung von Kompromissen. In rückschauender Betrachtung zeigt sich freilich, dass sich manche der auf die große Kompromissbereitschaft der Subkommission zurückzuführenden Einzelbestimmungen in der späteren Rechtspraxis nicht bewährten.37 Zumindest ein Redner der Herrenhausdebatte 1912 dürfte damals schon gewisse Zweifel an der Durchführbarkeit mancher Bestimmungen gehabt haben, erklärte Leo Graf Piniński doch unumwunden: „wir können keines­ falls damit rechnen, dass diese Vorlage im Abgeordnetenhause ohne irgend­ welche Änderungen erledigt werden wird“.38 Mag er dabei tatsächlich an die sachliche Notwendigkeit mancher Änderungen gedacht haben, die von mehreren Zeitgenossen geteilt wurde, oder bloß von seinen Erfahrungen ausgegangen sein, die er als langjähriges Mitglied des Abgeordnetenhauses gesammelt hatte; einer, der die Interna des Abgeordnetenhauses kannte wie wenige andere, Johann Frh. von Chlumecký, meinte in einem Zwischenruf: „sie wird liegen bleiben!“39 Er sollte recht behalten. Schon am 20. Dezember 1912 ist der Beschluss des Herrenhauses in der Zweiten Kammer eingegangen und wurde dort der „geschäftsordnungsmäßigen Behandlung“ zugeführt.40 Es dauerte allerdings bis zum 12. Juni 1913, ehe der Gesetzentwurf „ohne erste Lesung dem Justizausschuss“ zugewiesen wurde.41 Dieser hielt bis zum 10. Jänner 1914, der letzten Sitzung 36  F.

Schöndorf, Entwurf, S. 206 f. Hofmeister, Klein als Sozialpolitiker, S. 214. 38  Leo Graf Piniński, Sten. Prot. HH, XXI. Session, 22. Sitzung am 19. Dezember 1912, S. 469. 39  Johann Frh. v. Chlumecký, ibid. 40  Sten. Prot. AH, XXI. Session, 1911, 130. Sitzung am 20. Dezember 1912, S. 6443. 41  Ibid. 1912, 156. Sitzung am 12. Juni 1913, S. 7669. 37  H.



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des Ausschusses vor Ausbruch des Krieges, insgesamt 17 Sitzungen ab, hat sich in diesen aber nicht mit dem Gesetzentwurf beschäftigt.42 Als der Erste Weltkrieg ausbrach, stellte sich bald die Notwendigkeit heraus, einzelne Bestimmungen des nur vom Herrenhaus verabschiedeten Gesetzentwurfs auch geltendes Recht werden zu lassen. Schon im Oktober 1914 wurden mittels Kaiserlicher Verordnung verschiedene personen-, familien- und erbrechtliche Normen in Kraft gesetzt, die infolge des Krieges als wichtig erachtet wurden (es handelte sich um die Verbesserung der Rechtsstellung der Frau als Mutter, Vormund und Gattin, sowie die der unehelichen Kinder, der Verbesserung des Vormundschaftsrechtes und der gesellschaftlichen Jugendfürsorge43); im Juli 1915 folgte eine zweite Teilnovelle (über Grenzberichtigungen), ebenfalls mittels Kaiserlicher Verordnung in Kraft gesetzt. Im März 1916 wurde schließlich allen übrigen vom Herrenhaus beschlossenen Bestimmungen mit nur geringfügigen Änderungen seitens des Justizministeriums durch eine neuerliche Kaiserliche Verordnung Rechtskraft verliehen, obwohl mittlerweile auf eine Reihe von Ungereimtheiten aufmerksam gemacht worden war.44 Ist der Erlass der beiden Notverordnungen der Jahre 1914 und 1915 generell akzeptiert worden, weil es sich in der damaligen Situation um dringend notwendige Maßnahmen handelte, stieß die 1916 erlassene dritte Teilnovelle insofern auf herbe Kritik, weil man meinte, die dort geregelten Materien hätten im Abgeordnetenhaus diskutiert, teilweise abgeändert und ergänzt werden sollen, was nach Meinung der Kritiker schon deshalb notwendig gewesen wäre, weil das Herrenhaus aus „mittelalterlichen Herren und vornehmen Professoren“ bestehe, „das Abgeordnetenhaus dagegen aus Vertretern der arbeitenden Stände und, soweit die Jurisprudenz mitarbeitet … aus Praktikern“.45 Zu einer Befassung des Abgeordnetenhauses bestand 1916 aber keine Möglichkeit, da der Reichsrat bereits am 16. März 1914 vertagt worden war und erst im Mai 1917 wieder einberufen wurde. Gleich in der ersten Sitzung am 30. Mai 1917 wurden die drei Teilnovellen – eben42  Julius Ofner, Zur Novelle des a. b. G. B.; in: Juristische Blätter 45 / 3 (1916), S. 25. 43  Vgl. die Begründung der Regierung bei der Vorlage im Abgeordnetenhaus im Jahr 1917, Sten. Prot. AH, XXII. Session, 1917, 57 der Beilagen, S. 20. 44  Kaiserliche Verordnung vom 12. Oktober 1914 über eine Teilnovelle zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, RGBl. Nr. 276 / 1914, S. 1115–1124; Kaiserliche Verordnung vom 22. Juli 1915 über die Erneuerung und Berichtigung der Grenzen (zweite Teilnovelle zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche), RGBl. Nr. 208 / 1915, S. 443 f.; Kaiserliche Verordnung vom 19. März 1916 über die dritte Teilnovelle zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche), RGBl. Nr. 69 / 1916, S. 135–161. 45  J. Ofner, Zur Novelle; in: Juristische Blätter 45 / 16 (1916), S. 181 f.; Dölemey­ er, Revision, S. 300.

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so wie alle anderen seit März 1914 erlassenen Kaiserlichen Verordnungen nach § 14 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141, – gemäß der gesetzlichen Vorschrift46 dem Abgeordnetenhaus zur Genehmigung vorgelegt47 und am 15. Juni 1917 vom Plenum dem Justizausschuss zugewiesen. Dort blieben sie liegen, zu einer parlamentarischen Behandlung der Teilnovellen sollte es nicht mehr kommen. Da ihnen das Parlament die Genehmigung aber auch nicht ausdrücklich versagte, blieben sie daher weiterhin – und zumindest in der Republik Österreich bis weit über das Ende der Monarchie hinaus – in Kraft. Dass dies trotz der politischen Umwälzungen möglich war, ist nicht zuletzt der Leistung des Herrenhauses zu verdanken, das das, was ihm „an politischem Gewicht fehlte, … häufig durch die Autorität der Sachlichkeit, der fachlichen Kompetenz“ gewann.48 Auch am Beispiel der Novellierung des ABGB erweist sich – trotz mancher nicht unberechtigter Einzelkritik – die Gültigkeit des Urteils von Ernst Plener über das Herrenhaus als eine parlamentarische Körperschaft, in der – auch wenn sie „mittelalterliche Herren und vornehme Professoren“ waren – „her­ vorragende Mitglieder, unbeeinflusst durch Seitenströmungen, an der Hand ihrer großen Erfahrung und juristischen Bildung, Dauerhaftes geschaffen haben“.49 Abstract The élite body of notabilities and the consolidation of civil society: the Austrian Upper House and the ABGB revision before World War I Although the General Civil Code that after decades of preliminary work came into force in 1811 is considered a milestone in codification history, in the 20th century a need of its up-to-date revision was increasingly felt. A committee consisting of several legal experts and the Ministry of Justice started work on it in 1904; it became soon clear that no total reform but a partial revision was required (in order to avoid an ideological trench war 46  Gernot D. Hasiba, Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848–1917). Notwendigkeit und Missbrauch eines „Staatserhaltenden Instrumentes“ (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 22), Wien 1985, S. 42  ff., S. 155. 47  Sten. Prot. AH, XXII. Session, 1917, 57 der Beilagen, 58 der Beilagen, 59 der Beilagen. 48  Gerald Stourzh, Die Mitgliedschaft auf Lebensdauer im österreichischen Herrenhause 1861–1918; in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 73 (1965), S. 63–117, hier S. 101. 49  Ernst von Plener, Erinnerungen III: Abgeordnetenhaus und Ministerium bis 1895; Herrenhaus 1900 bis 1918, Stuttgart, Leipzig 1921, S. 319 f.



Das elitäre Honoratiorengremium und die Vertiefung der civil society309

over the marriage law reform). In 1907, the first draft amendment was submitted by the Ministry to the Upper House; however, it was criticized from different positions. An Upper House subcommittee consisting of 5 eminent lawyers was set up that then thoroughly reworked the government draft text, incorporated a number of suggestions, and in June 1912 submitted to the plenary Upper House session a bill containing 264 paragraphs (while only one fifth of the old ABGB was amended) that was then passed in the Upper House in December 1912. In the present paper mostly those of the many changes are discussed that prove to have been of importance for the further development of civil society and that demonstrate the incorporation of social ideas in the civil law. First of all, this applies to the improved legal situation of children (both legitimate and illegitimate), minors, and women. To become a law, the bill had to be passed also by the other House of Deputies and sanctioned by the sovereign. Though, the Lower House failed to discuss the bill before Parliament had been adjourned a few months before the outbreak of World War I. Therefore, the matter was put into effect during the war by means of three Imperial decrees. When Parliament was resummoned late in May 1917, the three partial amendments again failed to be passed in the Lower Haus. It was argued that mostly “medieval lords and outstanding professors” had prepared the text while “representatives of the working estates” as well as legal practitioners could hardly say a word. In spite of that, the work done by the Upper House survived long after the end of the First World War.

Der Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie Lukáš Fasora Fragen zur Problematik des Funktionierens der Justiz gehören zu einem wichtigen Segment der historischen Forschung über den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Die Suche nach Wegen zu einer allgemein akzeptierten Rechts- und Gerechtigkeitsfindung stellt eine wichtige Grundlage für das Bestehen gemeinsamer Werte aller Zugehörigen der Gesellschaft dar, quer durch alle Gesellschaftsschichten, sprich Gender-, Glaubens- oder Volksgruppen. Das ziemlich breit definierte und interdisziplinär bearbeitete Thema wird im Folgenden kurzen Beitrag eingeengt, sowie unter dem Kontext von zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft und auf der Grundlage der Vision eines Rechtstaates geknüpften Beziehungen behandelt.1 Im Grunde genommen schränkt sich die heutige Diskussion auf die Frage der sog. Verbürgerlichung ein, also auf das Thema des Werte- und Meinungstransfers. Ältere Interpretationen gingen von der Voraussetzung aus, dass der erwähnte Transfer im Grunde genommen einseitig verläuft, dass demnach die Arbeiterschaft das Wertesystem des Bürgertums übernimmt, sich ihm anpasst und von ihm lernt. Von diesem „einseitigen“ Konzept der Problemdarlegung wird heute Abstand genommen und das Phänomen der Verbürgerlichung wird vielmehr als ein gegenseitiger Austausch von Impulsen zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterschaft, als ein gegenseitiges Beeinflussen verstanden. Der Arbeitersubkultur wird somit keineswegs die Rolle des Objektes zugemessen, sondern die Rolle eines gleichgestellten „Partners“ und einer relevanten Quelle an Innovationen im weitesten Sinne.2 Ein methodischer Ansatz für die Analyse von gegenseitigen Beziehungen zwischen Sozialgruppen in der Geschichte ist im Konzept von Max Weber 1  Vgl. Lukáš Fasora, Dělník a měšťan. Vývoj jejich vzájemných vztahů na příkladu šesti moravských měst 1870–1914 (Arbeiter und Bürger. Entwicklung gemeinsamer Beziehungen auf dem Beispiel der mährischen Städte 1870–1914), Brno 2010. 2  Birgit Mahnkopf, Verbürgerlichung. Die Legende vom Ende des Proletariats. Frankfurt, New York 1985.

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zu finden. Als ein Vorteil dieses Konzeptes wird insbesondere die große Betonung des Bereiches von Kulturphänomenen und von dem Faktor soziale Mobilität angesehen. Webers Vorstellung von der sozialen Schicht (Summe aller sozialen Stellungen zu denen eine Veränderung im Leben einer Person oder in der Abfolge der folgenden Generationen „möglich ist und gewöhnlich passiert“) führt zu der Konstruktion des Begriffes Kontakt und seiner Fixierung auf eine konkrete Zeit und einen konkreten Ort, insbesondere auf die Gemeinde.3 Im sozialdemokratischen Umfeld wurde eine ungerechte Justiz in Bezug auf den Klassenkampf als Klassenjustiz definiert, also als Teil eines ungerechten Systems, der zur Unterdrückung von unteren Gesellschaftklassen dient. Der Begriff der Klassenjustiz als Interpretationsquelle von Ungerechtigkeit, die sich laut Sozialdemokraten in den Gerichtssälen abspielte, hatte zwei Stützen: erstens natürlich eine theoretische, also das Werk von Karl Marx, zweitens das von Pierre Bordieu angesprochene Klassenethos der meisten Zugehörigen der unteren Gesellschaftsgruppen, die aufgrund von eigenen Erfahrungen glaubten, dass Gerechtigkeit „nur für Herren“ da sei. I. Klassenkampf und Klassenjustiz Josef Boleslav Pecka, Pionier der sozialistischen Theorie in Böhmen, definierte im Jahre 1884 den Staat typischerweise aus der Sicht der Klasse folgendermaßen: „Der Staat ist eine künstlich entstandene Vereinigung von Menschen, die sich zu dem Zweck vereinigt hatten, um trotz eines gewissen Freiheitsentzugs gemeinsam die Interessen entweder von allen, oder nur von gewissen ihrer Klassen zu schützen. Ein bestimmtes festgelegtes Ausmaß an Freiheitsentzug wird als Gesetz bezeichnet, das Verhältnis und die Art, mit welcher dieses Gesetz umgesetzt und verfügt wird, ist die Regierungsform. Die Richtlinie, laut deren das passiert, ist das Staatsprinzip; das Ganze vereinigt sich im weiteren Sinne in dem Begriff Verfassung.“4

Das Blatt der Sozialdemokraten aus Prostějov Die Volksstimme konstatierte im Jahre 1910: „Klagen über die Klassenjustiz häufen sich mit der Verschärfung der Klassenkämpfe, Gerichtsbeschlüsse ecken immer öfter an die juristische Überzeugung der meisten Einwohner an, und dienen als taugliche Waffe gegen die Bemühungen der 3  Vgl. Heinz-Gerhard Haupt, Kleine und große Bürger in Deutschland und Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3. Bd, Jürgen Kocka, Ute Frevert (Hrsg.), München 1988, S. 252–272, 252–254. 4  Zdeněk Šolle, Josef Boleslav Pecka, Praha 1987, S. 118.



Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie313 Arbeiterschaft. Im Falle, dass die Klassenjustiz bereits heute eingeschränkt werden soll, dann müssen Gerichtsbeschlüsse von Männern ausgetragen werden, die aus dem Volk kommen und die Lebensbedingungen des Volkes kennen.“

In diesem Falle wurde insbesondere die Tatsache angegriffen, dass Mitglieder des Geschworenengerichts bei Bezirksgerichten nur Personen werden konnten, die den Steuerzensus erfüllten (d. h. 20, bzw. 40 K Direktsteuer jährlich nach der Größe der Stadt), und Richter werden konnten selbstverständlich nur Personen mit Hochschulausbildung, was selbst für einen fähigen und zielbewussten Zugehörigen einer unteren Bevölkerungsgruppe als unerreichbares Ziel betrachtet wurde.5 Daraus resultierte das Bemühen der Sozialisten um eine vage Anpassung des geschriebenen Rechts an das praktische „Leben und die Bedürfnisse des Volkes“, wie wir aus der Zeitschrift Volksfreund in der Rubrik mit der Bezeichnung „Aus dem Gerichtssaal“ erfahren: „Das geschriebene Recht widerspricht des Öfteren den An­ forderungen und Bedürfnissen derjenigen Klassen, die an dessen Entstehung nicht beteiligt gewesen waren und die dem Schoß der alten Gesellschaft entstammen“.6 Laut Volksfreund ging die Justiz mit einer beispielslosen Strenge gegen alle vor, die in Konflikt mit „der toten Schrift längst verstor­ bener Gesetze“ gerieten.7 Die plebejische Meinung von der Klassenjustiz verhärtete sich infolge hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gemachter Erfahrungen, wo politisch motivierte Prozesse wie Pilze aus dem Boden schossen. Obgleich nicht zu übersehen war, dass die Polizei oder die Staatsanwaltschaft mit politisch motivierten Aufträgen vertraut waren, so war die Situation bei den Gerichten doch anders. Insbesondere Schöffengerichtsverfahren widerstrebte es, Schuldsprüche zu fällen über Leute, die sich nur durch banale politisch motivierte Vergehen gegen rechtskräftige Gesetze schuldig gemacht hatten, wofür ihnen unangemessen strenge langjährige Gefängnisstrafen drohten. Auch mährischer Statthalter Friedrich Graf Schönborn beklagte sich in Wien darüber, dass sich Geschworene bei ihrer Entscheidungsfällung z. B. vom erbärmlichen Zustand einiger Arbeiter oder deren Familiensituation beeinflussen ließen und es ihnen widerstrebte unglückliche Ernährer von mehrköpfigen Familien zu einer langjährigen Gefängnisstrafe zu verurteilen, womit sie so die Arbeit der Polizei vereitelten. Auch wenn der bedeutendste mährische Sozialist Josef Hybeš vielen Geschworenen zugestand, dass sie das Moralprinzip über problematische Prin5  Michael Schäffer, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig von 1890 bis 1930, Göttingen 2003, S. 400. 6  Třídní společnost a právo (Klassengesellschaft und Recht), Hlas lidu 9.2. 1910, 25, No. 11, S. 2–3. 7  Justizexzesse in Mähren, Volksfreund 2.1.1906, 26, No. 1, S. 1.

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zipien des positiven Rechtes stellen, und dabei das Beispiel eines Wiener Sozialisten anführte, der für die Verteilung von revolutionären Flugblättern angeklagt worden war: „Er war schon fast verurteiltt. Einer der Schöffen, ein bekannter Wiener Konditor und freiheitsliebender Bürger, weigerte sich jedoch mit den Schöffen in den Gerichtssaal zurückzukehren, mit der Erklärung, sie mögen handeln wie sie wollten, er aber werde sich ihnen nicht anschließen. „Einen Menschen wegen einem Papierfetzen, den noch dazu noch keiner gelesen hatte, für zehn oder zwölf Jahre in den Kerker zu schicken, das ertrage ich nicht“, eiferte er die Geschworenen an.“ Mit so einem Verdikt gehe ich, meine Herren, nicht mit euch in den Gerichtssaal zurück. Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Macht, was ihr wollt, ich gehe nicht mit euch.“ Nach solchem längeren Kampf, während dem er sich nicht vom Platz fortbewegen wollte, nahm endlich einer von denen, die mit „ja“ gestimmt hatten, seine Stimme zurück und stimmte mit „nein“. Dank dieses außergewöhnlichen Ereignisses war dem Genossen Christoph eine langjährige grausame Gefängnisstrafe erspart geblieben.“8

Auf der Seite der Angeklagten standen des Öfteren auch ohne Anspruch auf Entgelt elitäre „bürgerliche“ Anwälte (Adolf Stránský, Václav Šílený, Kornelius Hože)9, trotzdem kann gesagt werden, dass sämtliche Gerichtstätigkeiten vielen Arbeitern als klassenmotiviert und deshalb nicht vertrauenswürdig erschienen. Als Durchbruch in der systematischen Ungerechtigkeit in der Justiz wurde allein und einzig das System zur Rechtsauffindung beim Gericht mit spezieller Bestimmung, dem sog. Gewerbegerichtswesen angesehen. II. Die Genese des Gewerbegerichtswesens Als ein Weg zur Entschärfung der Spannungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern entstand es in Europa schon lange Zeit vorher, einige seiner Prinzipien waren auch der Zunft-Justiz eigen, in ihrer modernen Form entstanden die Gewerbegerichte aber erst im Jahre 1806, als Kaiser Napoleon I. das Gewerbegericht (Conseil de prud’homme) in Lyon gründete. Im Habsburgerreich gab es das Prinzip des Gewerbegerichtswesens 8  Josef Hybeš, Průkopníci socialismu u nás, (Vorkämpfer des Sozialismus), Praha 1954, S. 246. 9  Jiří Pernes, Česká buržoazie a dělnické hnutí na Moravě v 80. letech 19. století (Tschechische Bourgeoisie und Arbeiterbewegung in Mähren), Časopis Matice moravské 99, 1980, S. 19–47, hier S. 28–29; Jan Čurda, Český politický spolek v Brně 1872–1911 (Tschechischer politischer Verein in Brünn 1872–1911), Časopis Matice Moravské 126, 1, 2007, S. 101–140, insbesondere S. 122 ff.; Jiří Malíř, Die soziale Frage in den Ansichten und in der Tätigkeit des mährischen Jungtschechen Václav Šílený, in: Sozial-reformatorisches Denken in den böhmischen Ländern 1848–1914, Lukáš Fasora, Jiří Hanuš, Jiří Malíř (Hrsg.), München 2009, S. 175–214.



Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie315

lange Zeit unter dem Deckmantel der Zunft-Justiz und zu einer Wiederbelebung des öffentlichen Interesses kam es erst unter dem Einfluss von Veränderungen, die im Bereich des Gewerbegerichtswesens im Zusammenhang mit dem sog. Neuen Kurs des jungen Kaisers Wilhelms II. in Deutschland einsetzten, also einhergehend mit dem Bemühen, nach Bismarcks Abgang aus dem Amt des Reichskanzlers im Jahre 1890 neue Wege zur Lösung von sozialen Problemen aufzufinden.10 Die mit dem Gesetz aus dem Jahre 1890 eingesetzte Modernisierung der Gewerbegerichte in Deutschland hatte nicht mehr nur das Bemühen um eine Erhöhung der Effektivität beim Lösen von Zwistigkeiten auf dem Arbeitsmarkt im Sinne, sondern es ging um vieles mehr – um die Vertrauenswürdigkeit der Justiz in den Augen der breiten und zum Kampf gegen die „Klassenjustiz“ der Sozialisten ermutigten Bevölkerungsschichten. Das Gesetz aus dem Jahre 1890 stärkte unter anderem im großen Maße die Position mittelloser Arbeiter vor dem Gericht, denn es verbot bei Rechtsstreit vor dem Gewerbegericht die Verwendung der Dienste von Rechtsvertretern.11 In der breiten Öffentlichkeit wurde sogar ein gewisser Entwurf diskutiert, der breite Unterstützung fand, eigentlich jedoch aus den Reihen der Linksliberalen hervorgegangen ist und auch von Sozialisten oft thematisiert wurde, nämlich dass an der Spitze des Gerichts kein Gerichtsbeamter stehen sollte, sondern ein „von der Allgemeinheit geachteter Laie“, der helfen sollte, Konflikte nicht nach der Gesetzeslitera, sondern nach den „Lebenserfahrun­ gen“ zu schlichten. Letztendlich wurde die Stellung des Gerichtsvorsitzenden zurückhaltend im Gesetz definiert, d. h. ohne eine explizite Ausbildungsanforderung, trotzdem wurden vom Minister freilich fast ausschließlich Beamte mit einer juristischen Ausbildung in die vorsitzenden Funktionen nominiert.12 Der Vorsitzende des Gewerbegerichts stand an der Spitze eines Senats, der zum gleichen Anteil aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammengesetzt war, das Gericht entschied mit der qualifizierten Mehrheit, jedoch nur bei Fällen mit geringem Schaden – die übrigen wurden von normalen Bezirksgerichten behandelt. Deutsche Gewerbegerichte hatten auf Gesetzesanordnung die schnelle Beilegung von Rechtsstreiten zum Ziel (im Jahre 1900 wurden z. B. 57 % der Fälle innerhalb einer Woche erledigt), die 10  Živnostenské soudy, smírčí úřady a dělnické výbory (Gewerbegerichte, Schiedsgerichte und Arbeiterausschüsse), Rovnost 9.11.1894, 10, No. 45, S. 1–3. 11  Adelheid von Saldern, Gewerbegerichte im wilhelminischen Deutchland, in: Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte. Wilhlem Treue zum 60. Geburtstag, Karl-Heinz Manegold (Hrsg.), München 1969, S. 190–203, hier S. 196. 12  Ibid, S. 197.

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zweite wichtige Verpflichtung hatte ein Einvernehmen zwischen den Parteien zur Priorität. In den Jahren 1896–1906 wurden beim Berliner Gewerbegericht 50,5% der Fälle einvernehmlich beigelegt, was von Seiten des Staates als ein Zeichen für ein hohes Renommee des Gerichts in der Gesellschaft interpretiert wurde.13 Noch im Jahre 1901 machten die deutschen Gewerbegerichte eine grundsätzliche Veränderung durch, als deren obligatorische Einrichtung in Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern gesetzlich angeordnet wurde. Die Reformen wurden vom deutschen Historiker H.-U. Wehler als bedeutender Bestandteil einer vom Staat verwirklichten Sozialpolitik interpretiert, die den Vorstellungen sozial orientierter bürgerlicher Reformatoren-Theoretiker aus dem Umkreis des Vereins für Sozialpolitik und einiger anderer entsprach.14 Gleichzeitig konstatierte er, dass zur Zeit der Machtverschiebungen in der reichsdeutschen Politik, also zu einer Zeit, in der Meinungen, die soziale Reformen und eine limitierte Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie sowie ein strengeres Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung und gegen die Sozialdemokratie als ihr wichtigster Repräsentant als notwendig ansahen, nur mit Mühe überwiegten, die Gewerbegerichte einen Stabilitätsfaktor von unbestrittenem Vorteil darstellten.15 Der Optimismus der Historiker wird leicht von der realistischeren Stimme von Jack Balkin gemindert, eines amerikanischen Rechtstheoretikers, der sich mit der Beziehung der Sozialbewegung in der modernen Geschichte zur Justiz und dem Rechtsstaat befasst. Laut Balkin können Gewerbegerichte überhaupt nicht zum Gerichtssystem gezählt werden, denn ein richtiges Gericht sollte Rechtsurteile fällen und nicht zu einer Versöhnung der Seiten beitragen, was Gewerbegerichte jedoch primär zur Aufgabe hatten und in der Praxis auch machten. Auf der anderen Seite darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es der Sozialdemokratie mithilfe der Gewerbegerichte gelungen ist, das sensible Gleichgewicht zwischen Moral und der von der juristischen Elite verwendeten Gesetzesauslegung anzugreifen und so führende Gesetzesausleger in delikate Situationen zu bringen, die potentiell zu einer Demokratisierung des österreichischen Rechtsstaates führen konnten.16 13  Ibid,

S. 198. Karl von Berlepsch, „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Frh. v. Berlepsch 1890–1896, Bonn 1987. 15  Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III. Band, 1849–1914, München 1995, S. 1088, und besonders Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, S. 90–105, 178–246. 16  Jack Balkin, Brown, Social Movements, and Social Change, New Haven (Conn. / USA) 2004, insbesondere 6 f. (http. / www.yale.edu / lawweb / jbalkin / articles /  brownsocialmovementsandsocialchange1.pdf). (15.4.2010). 14  Vgl.



Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie317

Das österreichische Gesetz kannte die Institution des Gewerbegerichtes seit dem Jahr 1859 im Zusammenhang mit der liberalen Novelle des Gewerbegesetzes. Auch trotz der Konkretisierung ihrer Positionen durch das Gesetz Nr. 63 vom 14. Mai 1863 RG. blieben Gewerbegerichte im Rahmen der österreichischen Justiz lange Zeit eine im Grunde genommen einflusslose Randinstitution. Auch wenn in Brünn das überhaupt erste Gewerbegericht in Österreich errichtet worden war, ein breiteres Bewusstsein über dieses Gericht und seine Kompetenzen war kaum vorhanden, und wir sind nicht weit von der Wahrheit entfernt, wenn wir mit den Sozialisten darin übereinstimmen, dass Gewerbegerichte in solch einer Form als „totes Kind der österreichischen Sozialpolitik“ angesehen werden können. Im Jahre 1896 ist es in Österreich zu einer Reform der Gewerbegerichte nach deutschem Vorbild gekommen. Abweichungen im Bereich der Verfahrensregeln gab es nur wenige, den größten Unterschied können wir in der Anzahl der Gerichte feststellen: in den böhmischen Ländern wurden nur in Brünn, Bielitz / Bialsko, Mährisch Ostrau, Reichenberg, Mährisch Schönberg, Sternberg, Pilsen, Teplitz, Außig, Proßnitz, Jägerndorf / Krnov und zwei in Prag eingerichtet. Ihr Wirkungskreis beschränkte sich meistens auf die Stadt, selten war der gesamte Bezirk eingeschlossen. Die Gerichte wurden nicht für alle Arbeitnehmer eingerichtet, sondern nur für manche, insbesondere für in dem Gebiet zahlreich vertretene Produktionsbranchen. Über die Einrichtung des Gerichts entschied das Justizministerium in Kooperation mit weiteren Ministerien und zwar nach einem Schlüsselcode, nach dem Gerichte eingerichtet wurden. Es handelte sich hauptsächlich darum, Kontroversen in Branchen mit den explosivsten arbeits-rechtlichen Beziehungen, also vor allem in der Textil- und Bekleidungsindustrie, zu glätten. Die Grenzen zur Auffindung von Recht und Gerechtigkeit machten sich nicht nur in der Absenz von Gerichten in einigen bevölkerungsstarken Städten und in einem allgemeinen Gerichtsmangel bemerkbar, sondern vor allem in der Tatsache, dass sich an den Wahlen zur Angestelltengerichtkammer nur Männer beteiligen durften, die älter als 20 Jahre alt waren und einen zumindest 1 Jahr gültigen Arbeitsvertrag besaßen. Diese Bedingung zu erfüllen war – insbesondere in der Textil- und Bekleidungsindustrie mit einem hohen Anteil an Frauen und Jugendlichen und mit einer hohen Fluktuation – nur den wenigsten Angestellten vergönnt.17 Trotz alldem wurden Gewerbegerichte zu Beginn ihrer modernen konzipierten Tätigkeit in den Augen der Sozialisten als auch vieler Arbeiter nicht nur zu einem Mittel zum Glätten von Beziehungen zwischen Arbeitnehmern 17  Vgl. Josef Lischka, Živnostenské soudy v  Rakousku. Jich podstata, účel a důležitost (Gewerbegerichte in Österreich. Ihr Wesen, Zweck und ihre Wichtigkeit), Praha 1894.

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und Arbeitgebern, sondern auch zu einem Weg Richtung Gerechtigkeit in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext, eigentlich zu einem neuen Typ des Gerichtswesens also. In der Überschwemmung an Beschwerden über die Praxis der Klassenjustiz treffen wir im Falle der Gewerbegerichte auf den Seiten der sozialdemokratischen Presse auf eine relativ andere Rhetorik: „Es geht nicht nur um weise Urteilsfälle, für die es sonst Jahre lang vor verschiedenen Bezirksgerichten zu kämpfen gälte und welche den Arbeitern zum Sieg verhelfen, aber im Falle des Gewerbegerichtes hat sich ein Sinn für Gerechtigkeit entwickelt, dafür, dass Interessen von Arbeitern eine Berücksichtigung finden und Urteile gefällt werden ohne Rücksicht auf Klasseninteressen“.18

Unter den Sozialisten fanden sich jedoch auch kritische Stimmen zu den Gewerbegerichten. Es handelte sich allerdings nicht um ein pauschales Verurteilen der „Klassenjustiz“ so wie im Falle der übrigen Gerichte, sondern vielmehr um ein sachliches Bemühen, Probleme, die aus der täglichen Gerichtsagenda und vor allem aus den Angestelltengremium-Wahlen hervorgegangen sind, zu analysieren. Die Kritik an den Senatswahlen zu den Gewerbegerichten war im Großen und Ganzen gerecht zwischen den Angestellten der Gewerbegewerkschaften des Magistrats und zwischen laxe Wähler aufgeteilt. Den Magistratsbeamten wurde weniger böse Absicht vorgeworfen, sondern vielmehr Faulheit, die sich darin ausdrückte, dass ein Großteil der mit der Ausstellung von Wahlscheinen für Wähler des Angestelltengremiums verbundenen Agenda administrativ an Gewerbegenossenschaften übergeben wurde. Diese hatten zur Aufgabe, die Wahlscheine weiter zu distribuieren und die Wähler über Zeit und Ort der Wahlen zu belehren. Das fluktuierende und nicht allzu hohe Niveau der Administrative solcher Genossenschaften hatte zur Folge, dass ein Wahlschein nur demjenigen übergeben wurde, der sich die Mühe gemacht und auch persönlich um ihn angesucht hatte. Gelegentlich wurden die Wahlscheine auch von dem Arbeitgeber für seine Angestellten abgeholt, der es freilich des Öfteren mit deren Distribution nicht gerade eilig hatte und seinen Arbeitern noch dazu von einer Wahlbeteiligung diskret abriet. Zur Verwirrung trug ferner bei, dass nicht ganz klar war, wer gemäß Branche und Betriebsgröße in welchem Wahlgremium wählt. Diese ganzen Verwirrungen hatten eine relativ niedrige Wahlbeteiligung, die selten mehr als 10% der Wahlberechtigten ausmachte, zum Ergebnis. Nicht einmal die sozialdemokratische Presse schrieb die niedrige Wahlbeteiligung rein ausschließlich dem eben erwähnten Chaos zu, sondern rügte ihre Anhänger für deren Laxheit.19 18  Aus dem Gerichtsaale: Zwei Urteile des Brünner Gewerbegerichtes, Volksfreund 5.1.1905, 25, No. 1, S. 5. 19  K volbám do živnostenského soudu (Zu den Wahlen in die Gewerbegerichte), Rovnost 12.6. 1904, r. 20, č. 71, S. 2; Různé zprávy, tamtéž 15.6. 1904, r. 20, č. 72, S. 2.



Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie319

Als systemproblematische Seite der Tätigkeit von Gewerbegerichten wurde von der demokratischen Presse der hohe Anteil an im Einvernehmen endenden Fällen angesehen. Dem Ermessen der Sozialdemokraten nach handelte es sich meistens um eine erzwungene und für den Arbeitnehmer unvorteilhafte Einigung – der Arbeitnehmer war ihrer Meinung nach oft voll im Recht mit seiner Klage, und das Erzielen einer Einigung für den Preis gewisser Abstriche auf seiner Seite wurde als ungerecht gewertet. Zweifellos gehen hier die Meinungen zwischen dem von politischen Interessen beeinflussten Sprecher des politischen Kerns im sozialdemokratischen Lager und dem konkreten Arbeiter in einem konkreten Fall auseinander, denn der Arbeiter hatte sicherlich kein Interesse daran, den Konflikt mit seinem Arbeitgeber um jeden Preis bis auf des Messers Schneide zu treiben und war im Interesse um das Bewahren der eigenen Glaubwürdigkeit als Arbeitskraft verständlicherweise bereitwilliger, größere oder kleinere Abstriche zu machen. Es zeigte sich auch, dass einer der Gründe für die nicht überzeugenden Ergebnisse der Arbeit von sozialistischen Arbeitnehmeranwälten auf dem Boden der Gewerbegerichte deren Unerfahrenheit und vor allem unzureichende Ausbildung gewesen ist. Aus diesem Grunde entstanden Vereine der Gewerberichter, in Brünn z. B. im Jahre 1901, wobei die deutsche Zweigstelle dieses Vereins als auch seine örtliche Gruppe organisatorisch bald der Wiener Zentrale zugeteilt wurde.20 Die Zahl der Einreichungen bei den einzelnen Gewerbegerichte 1898–1906 Wien

Brno

Bialsko

Liberec

1898

  1 934

   667

161

182

1899

  9 404

1 198

386

401

1900

10 413

1 080

285

405

1901

11 590

1 155

506

374

1902

10 906

1 102

382

415

1903

10 684

1 292

304

414

1904

11 359

1 434

220

492

1905

11 822

1 398

264

502

1906

11 027

1 584

232

486

1907

10 659

1 195

245

413

20  Moravský zemský archiv (Mährisches Landesarchiv, weiterhin nur MZA), B26 k. 2506B, i.č. 2554, sg. 428; SOkA Prostějov, Fond Město Prostějov, k. 92, čj. 2859 (1911); Tamtéž k. 92, čj. 14644 (1910).

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Informationen über das tägliche Wirkungsfeld des Gewerbegerichtes in Brünn und Proßnitz / Prostejov sind nur wenige überliefert. Relativ gut erhalten ist das Aktenmaterial des Gewerbegerichtes in Brünn, des ältesten in den böhmischen Ländern: es gibt Aufzeichnungen aus den Jahren 1898–1899 und dann eine Reihe von Presseerwähnungen, vor allem auf den Seiten der Zeitschrift Volksfreund, die dem Gerichtswesen große Aufmerksamkeit widmete. Aus den überlieferten Aufzeichnungen ist sehr gut ersichtlich, wie die Meinungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber darüber, was die Gewerbegerichte eigentlich verrichten sollten, auseinandergingen. Für die Arbeitgeberseite kandidierten mit Erfolg führende Brünner Unternehmer, wie z.  B. Friedrich Redlich, Viktor Hecht, und auch im Nicht-Textil-Bereich handelte es sich um führende Unternehmer aus der Branche. Es waren jedenfalls erfahrene und öffentlich aktive Männer und nicht selten Personen mit Hochschulausbildung, wenn nicht sogar einer juristischen Ausbildung. Im Gegenteil dazu waren die Kandidaten auf der Seite der Arbeitnehmer oft und zum Teil in schockierendem Maße mit fehlendem juristischem Grundbewusstsein und mit einem allgemein niedrigen Kulturniveau ausgestattet und desorientiert. Sogar die sozialistische Presse der Gewerkschaft klagte darüber, dass ein Großteil der Arbeitnehmer sich und ihre Kollegen vor dem Gericht mit erfundenen und unwahrscheinlichen Versionen ihrer Geschichten und überhaupt durch Lügen ohne jede Skrupel diskreditiere.21 Die Schulung der Arbeitnehmer über ihre Rechte war ein langwieriges Unterfangen, nicht einmal die Gewerberichter in der Angestelltenkammer zeigten eine allzu große Bereitschaft dafür, sich zu bilden, vielmehr vertrauten sie auf ihr „Gefühl“.22 Über alle Probleme hinaus waren die Gewerbegerichte in der Praxis sehr positiv für die Interessen der Arbeitnehmer zu werten. Die Überzahl der in Wirklichkeit gewonnenen Fälle auf Arbeitnehmerseite war eindeutig: aber nur eine geringere Anzahl von ihnen wurde durch ein Gerichtsurteil erreicht, vielmehr durch Einvernehmen, zu dem das Gericht verhalf. Ob es zu dem Einvernehmen infolge von Druckausübung gekommen war, so wie die sozialistische Presse oft behauptete, oder einfach deshalb, weil beide Parteien bemüht waren, das Problem in Hinblick auf ihre zukünftigen Interessen nicht allzu ausufern zu lassen, das werden wir wohl nie mehr erfahren. Auf alle Fälle geht aus der überlieferten Agenda hervor, dass insbesondere bei Konflikten, bei denen es um kleine Abfertigungssummen usw. ging, es sehr schnell und praktisch ohne ein längeres Gerichtsverfahren zu einem Er­ 21  Organisace živnostenských soudů (Organisation der Gewerbegerichte), Textilník 16.1.1908, 9, No. 3, S. 1. 22  Ibid.



Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie321 Der Anteil der beiseitegelegenen Einreichungen (%) Jahr

Wien

1898

Praha

Graz

Bialsko

Brno

27

50

30

1899

40

47

31

1900

43

45

56

45

41

1901

43

47

48

31

26

1902

46

51

40

52

38

1903

44

47

44

43

39

1904

44

55

42

28

41

1905

43

56

41

37

32

1906

47

56

34

41

41

1907

50

58

35

45

38

gebnis gekommen ist. Längere Verfahren mit einer größeren Anzahl an Zeugen gab es vor allem bei Fällen, bei denen eine Arbeitsvertragskündigung drohte oder wenn der Arbeitnehmer klagte, der Arbeitgeber jedoch als Sieger hervorging. III. Beispiele für Rechtssprüche des Gewerbegerichtes in Brünn Zur Veranschaulichung der Vorgänge auf dem Gewerbegericht seien zumindest drei Beispiele angeführt. Es handelt sich nicht um Fälle, die in irgendeinem Sinne typisch wären, vielmehr fallen sie aufgrund der Länge und Kompliziertheit des Verfahrens auf, trotzdem veranschaulichen sie sehr gut die Gesamtsituation des Verhältnisses zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der untersuchten Zeitperiode:23 Im Jahre 1899 beschäftigte sich das Gewerbegericht mit dem Fall des Webers Václav Česálka, der Vertrauensperson der Arbeiter in der Firma Schönfeld. Dieser hatte sich einen Tag nach Beendigung eines siebenwöchigen Streiks und nach Wiedereinstieg in die Arbeit in der Werkstatt sehr arrogant benommen, seinen Meister „Kirchenweib“ genannt und auf die 23  Vgl. Václav Šolle, Pracovní spory dělnictva v  agendě živnostenského soudu v Praze (Rechtsstreitigkeiten der Arbeiter in der Agenda des Gewerbegerichtes Prag), in: K  vývoji právního postavení dělnické třídy za kapitalismu (Zu der Entwicklug der Rechtstellung der Arbeiterklasse während des Kapitalismus), Praha 1984, S. 88–112.

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Ermahnung zur Ruhe seitens des Eigentümers selbst hin, gejohlt: „Und was glauben Sie, dass ein Arbeiter dem Herrn folgen muss?“. Auch wenn die Fabrikleitung darum bemüht war, den Konflikt nicht ausarten zu lassen, war Česálek nicht mehr zu bremsen. Er wanderte in der Werkstatt umher, klatschte in die Hände und rief die anderen zur Niederlegung der Arbeit auf. Seine Kollegen schienen jedoch des Streikens überdrüssig gewesen zu sein, denn sie schlossen sich Česálek nicht an, und jener bekam eine sofortige Kündigung – mit einer soliden Abfertigung freilich. Trotz all dem klagte Česálek seinen Arbeitgeber vor Gericht, das Arbeitsgewerbegericht jedoch gab voll und ganz dem Arbeitgeber recht.24 Der Weber Jan Rybnička fand nach Rückkehr aus dem Militärübung im Jahre 1899 seine Position besetzt auf, und der Meister teilte ihm mit, dass er die Maschine aus dem einfachen Grund jemandem anderen zugeteilt hätte, weil er keine Sicherheit gehabt hätte, dass Rybnička seine Arbeit wieder aufnimmt. Rybnička hatte sich zwar vor dem Abgang zum Militärübung mit einem Einberufungsbefehl ausgewiesen und war so im Glauben gewesen, dass er somit ordnungsgemäß entschuldigt sei, der Meister ignorierte jedoch seine Forderungen, und der Fall endete vor Gericht. Hier zeigte sich, dass die Unternehmensführung fest auf der Seite des Meisters stand, und dass die Chefs voraussichtlich mögliche Zeugen aus den Reihen der Arbeitnehmer eingeschüchtert hatten, denn diese bezeugten höchstens, dass ihr Kollege mit irgendeinem Militärschein dahergekommen war. Trotz all dem gewann letztendlich Rybnička: das Gewerbegericht konstatierte, es sei allgemein bekannt, dass der Militärübung 13 Tage dauere und falls sich Rybnička nach dieser Frist unverzüglich in der Arbeit gemeldet hätte, so wäre das Recht auf seiner Seite.25 Antonín Horakovský, Preser bei der Firma Daberger, erhielt am Samstag eine Kündigung mit dreitägiger Kündigungsfrist, der Montag war also sein letzter Arbeitstag in der Firma. Horakovský traf am Montagmorgen mit Verspätung und betrunken in der Arbeit ein, nach einem kurzen Verweilen verschwand er ins Gasthaus um nach drei Stunden erneut aufzutauchen. Bereits im Gasthaus grölte er herum, dass er den „Herrn in die Presse schmeißen werde“, und als ihn ein Kollege nach seinem Wiedererscheinen in der Arbeit ermahnt hatte, soll er ihm gedroht haben, dass er ihm das Auge mit einem Messer ausstechen werde. Als selbst der Firmenbesitzer gekommen war, um ihn zurecht zu weisen und ihn laut Zeugen schlicht nach dem Grund seiner Betrunkenheit gefragt hatte, erhielt er von Horakovský die Antwort, dass man „Arbeiter nicht anschreien dürfe“. Die Folge war eine unverzügliche Entlassung, d. h. Horakovský verlor einen halben 24  MZA

Brno, Fond Živnostenský a pracovní soud Brno C56, k. 18, fol. 712–714. Fond Živnostenský a pracovní soud Brno, C56, k. 18, fol. 847.

25  MZA,



Begriff Klassenjustiz in Theorie und Praxis der Sozialdemokratie323

Arbeitstag, und danach eine Klage des Arbeitnehmers vor dem Gewerbegericht, das nichtsdestoweniger dem Arbeitgeber das Recht zusprach.26 IV. Schlusswort Gewerbegerichte waren nichts weiter als Vorboten von Veränderungen, die mit der Demokratisierung der Justiz und mit der Beseitigung von zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten bei der Arbeitsrechtsprechung in der Spätphase der Habsburger Monarchie zusammenhängten. Sowohl ihre Existenz als auch ihre Tätigkeit waren von markanten Anzeichen eines Provisoriums gekennzeichnet, einerseits angesichts der nicht systemhaften Eingliederung der Gewerbegerichte in die Struktur der österreichischen Justiz, andererseits vor allem angesichts der Tatsache, dass in der Praxis der Gewerbegerichte eigentlich mehr Fragen auftauchten als gelöst wurden. Es ging um das Bildungsproblem der unteren Gesellschaftsschichten, um das Durchlässigkeitsproblem des Schulsystems und die soziale Mobilität und insbesondere um die Frage nach Integrationsmöglichkeiten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in die Gesellschaft. Demnach ging es um die Frage der Resignation der Sozialdemokraten auf die eigene Exklusivität in der Gesellschaft und in der historischen Entwicklung, gegeben falls auch um ihre Resignation darauf, die Klassenkampfideologie und die Ideologie des revolutionären Kampfes des Proletariats bei der Interpretation der Welt nach der marxistischen Dogmatik als Grundpostulate anzusehen. Marx’ Klassenkampf wurde natürlich als Grundstein für die Identität der Sozialdemokraten angesehen, und die Abnabelung der Sozialdemokratie bei uns als auch in den westlichen Ländern von dieser Kampfideologie zog sich über viele Jahre. Die Gewerbegerichte waren nur ein Meilenstein von vielen auf dem Weg zur Integration der Sozialdemokratie und der Arbeiterschaft zurück in die Gesellschaft, deren Integrität unter anderem von einer mehr oder weniger konformen Auslegung des Gerechtigkeitsbegriffes abgeleitet ist.27

26  Ibid.,

fol. 440. Beitrag entstand im Rahmen des Projektes GAČR Nr. P410 / 11 / 0225.

27  Dieser

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Abstract The concept of class justice in the theory and practice of Social Democrats Trade courts were nothing else than harbingers of changes that were connected with the democratization of justice and with the elimination of flagrant injustice in labour law cases during the final phase of Habsburg Monarchy. Both their existence and their activity showed strong features of provisional arrangement, namely, on the one hand, due to the unsystematic incorporation of these courts into the structure of Austrian justice and, on the other hand, due to the fact that in the practical work of these courts more questions were raised than resolved. These included such problems as education of lower classes, permeability of the education system, social mobility and, in particular, potential integration of the social democratic labour movement in society. As a result, the Social Democrats were required to give up their allegedly exclusive role in society and in history, and to stop considering the class struggle ideology and the idea of revolutionary struggle of the proletariat as the basic postulates in the interpretation of the world as prescribed by the Marxist dogma. Marxist class struggle constituted naturally the foundation-stone of the identity of Social Democrats in our country and it took many years for them to abandon this belligerent ideology both in this country and in the West. The trade courts were but one of many milestones on the way toward the reintegration of Social Democrats and labour in the society whose integrity is based, among others, on a more or less concurring interpretation of the concept of justice.

V. Verwandlung der Auffassung des Strafrechts

Diskurse um die Todesstrafe Vom Theresianischen über das Josephinische zum Franziszäischen Strafgesetzbuch (1768 / 69 – 1787 – 1803)* Gerhard Ammerer I. Einleitend: Todesstrafedelikte Zwei Jahrzehnte, nachdem Montesquieu in seinem 1748 erschienenen und weithin rezipierten Hauptwerk „De Esprit des lois“ als erster die Todesstrafe problematisiert hatte, wurde am 31. Dezember 1768, nach einer Vorlaufzeit von 16 Jahren, die Constitutio Criminalis Theresiana publiziert.1 Führte sie einige wesentliche Neuerungen wie das Inquisitionsverbot, die freie richterliche Beweiswürdigung, eine fixe Tatbestandsbeschreibung etc. ein,2 so zielte sie dennoch vornehmlich – wie der Kompilationshofkommission aufgetragen worden war – auf eine Rechtsvereinheitlichung (… damit das Malefizwesen … in all-Unseren deutschen Erblanden durchgehends, so viel möglich, nach einerley rechtlichen Grundsätzen, und mit einer gleichen Verfahrungsart ge­ bührend abgehandlet werde).3 Die Zusammenführung der 50 Artikel zum materiellen Recht, die zum Teil wörtlich aus der Landgerichtsordnung Ferdinands III. für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns vom 30. Dezem*  Die folgenden Ausführungen basieren auf der Habilitationsschrift des Autors: Gerhard Ammerer, Das Ende für Schwert und Galgen? Legislativer Prozess und öffentlicher Diskurs zur Reduzierung der Todesstrafe im Ordentlichen Verfahren unter Joseph II. (1781–1787), (MÖSTA-Sonderband 11, Wien 2010). 1  „Die Constitutio Criminalis Theresiana wurde durch Entschließungen der Kaiserin vom 1. Oktober 1767 und vom 7. April 1768 genehmigt“ (Ernst C(arl) Hell­ bling, Grundlegende Strafrechtsquellen der österreichischen Erbländer vom Beginn der Neuzeit bis zur Theresiana. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts in Österreich, bearb. und hrsg. v. Ilse Reiter, Wien, Köln, Weimar 1996, S. 22). 2  Vgl. Hermann Baltl / Gernot Kocher, Österreichische Rechtsgeschichte. Unter Einschluß sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Grundzüge. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 10. Aufl., Graz 2004, S. 186. 3  Constitutio Criminalis Theresiana oder der Römisch-Kaiserl. zu Hungarn und Böheim ec. ec. Königl. Apost. Majestät Mariä Theresiä Erzherzogin zu Oesterreich ec. ec. peinliche Gerichtsordnung. Mit einem Nachwort von Egmont Foregger, Vollständiger Nachdruck der Trattnerschen Erstausgabe Wien 1769, Graz 1993, Vorrede.

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ber 1656 übernommen wurden, sowie der 54 Artikel zum formellen Recht, die maßgeblich auf der Peinlichen Halsgerichtsordnung Josephs I. für Böhmen, Mähren und Schlesien vom 16. Juli 1707 basierten, ergab zwar ein einheitliches normatives Regelsystem, doch präsentierte es sich, da es zu einer maßgebliche Veränderung des alten Strafensystems nicht gekommen war, bereits zum Zeitpunkt seiner Publikation als anachronistisch.4 Die aufgeklärten Reformjuristen aus Lehre und Praxis beanstandeten vor allem die Grausamkeit der Strafen und Zusatzstrafen, die Ineffizienz und mögliche Willkür bei der Urteilsgestaltung, aber auch die fehlende Akzeptanz durch die Bevölkerung. Die Kritik hielt auch in den folgenden Jahren an. Noch im fünften Heft seiner „Skizze von Wien“ wies der radikale Aufklärer und Literat J­ ohann Pezzl 1788 rückblickend mit äußerst scharfen Worten darauf hin, dass die Halsgerichtsordnung von Schriftstellern manche Jahre lang in ganz Deutsch­ land genug verschrieen worden [sei], der Henker müsse bei der Ausarbeitung desselben ein wesentlicher Gehilfe gewesen sein.5 In der Tat spielte die Todesstrafe in der CCTh eine beherrschende Rolle. Als Hinrichtungsarten vorgesehen waren Verbrennen, Rädern und Vierteilen, zudem gab es nach wie vor Zusatzstrafen am lebenden und toten Körper wie das Zwicken mit glühenden Zangen oder das Abtrennen und Ausstellen von Körperteilen am Ort des Richtplatzes – und das zu einem Zeitpunkt, als in der juristischen Literatur über die Unzulässigkeit verschärfter Todesstrafen bereits eine nahezu einheitliche ablehnende Meinung herrschte.6 Für 42 Delikte drohte die „Nemesis Theresiana“ die Todesstrafe an, die öffentlich zu vollziehen war. Die Delikte, die in der Constitutio Criminalis Theresiana mit der Todesstrafe bedroht waren7 Verbrechen gegen Gott: 56. Artikel: von der Gotteslästerung. 57. Artikel: Abfall von christlichen Glauben. 58. Artikel: von der Zauberey, Hexerey, Wahrsagerey, und dergleichen. 59. Artikel: von falschen Schwören, und Meineyd. 60. Artikel: von dem Urphedbruch. 4  Vgl. Friedrich Hartl, Das Wiener Kriminalgericht. Strafrechtspflege vom Zeitalter der Aufklärung bis zur österreichischen Revolution (Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten Bd. 10), Wien, Köln, Graz 1973, S. 20. 5  Johann Pezzl, Skizze von Wien, 5. Heft, Wien 1788, S. 853 f. 6  Vgl. Ignatz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740– 1848, 1. Bd. (1740–1792), Innsbruck 1896, S. 152. 7  Die Bezeichnungen der Delikte sind nach den Überschriften der Constitutio Criminalis Theresiana zitiert.



Diskurse um die Todesstrafe329

Verbrechen gegen den Staat: 61. Artikel: von dem Laster der beleidigt-weltlichen Majestät, und Landes­ verrätherey. 62. Artikel: von Aufruhren, und Tumulten. 63. Artikel: von Münzfälschung, und was dahin einschlaget. 65. Artikel: von Bestechung der Richtern, und Amtspersonen. 66. Artikel: von Verrathung der Raths= und Amtsgeheimnissen. 67. Artikel: von Richtern, und Beamten, so sich ihres Amts zur Rach, oder Gelderpressung missbrauchen. 68. Artikel: von Privat-Personen, so um Jemanden was abzunöthigen, sich fälschlich für eine Amtsperson ausgeben, oder zu solchem En­ de sonst was falsches vorwenden. 69. Artikel: von Untreue der Rechtsfreunden, und Sachwaltern, so zu Scha­ den ihrer Parthey handeln. 70. Artikel: von jenen, die Privat, oder eigenmächtige Gefängnissen halten. 71. Artikel: von denen, so aus der [sic!] Gefängniß brechen, nebst ihren Hülffleistern. 72. Artikel: von denen, die allerhand Falsch begehen. 73. Artikel: von dem [sic!] öffentlichen Gewalt, und jenen gewaltsamen Thathandlungen, so der gemeinen Sicherheit entgegen stehen. Sexualdelikte: 74. Artikel: von Unkeuschheit wider die Natur. 75. Artikel: von der Blutschand. 76. Artikel: von der Nothzucht. 77. Artikel: von dem Ehebruch. 78. Artikel: von zweyfacher Ehe. 79. Artikel: von gewaltthätiger Entführung der Weibspersonen. 80. Artikel: von der Kupplerey. 82. Artikel: von fleischlicher Vermischung mit Unglaubigen, dann anderen schweren Unzuchtsfällen.

330

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Verbrechen gegen das Leben: 83. Artikel: von dem Todschlag, Verwundungen, und anderen tödtlichen Handlungen. 85. Artikel: von dem Todschlag, so in Getümmel, und Schlägerey unter vielen Leuten begangen wird. 86. Artikel: von dem Vatter= Kinder= und Eheleutmord. 87. Artikel: von dem Kinderverthun, oder Mordthat, so an neugebohrenen Kindern beschiehet. 88. Artikel: von vorsetzlicher Abtreibung der Leibsfrucht, wie auch von Unfruchtbarmachung einer Manns= oder Weibsperson. 89. Artikel: von gefährlicher Hinweglegung der Kinder. 90. Artikel: von dem Strassen= und Meuchelmord. 91. Artikel: von der bestellten Mordthat. 92. Artikel: von dem Laster der Giftmisch- oder Vergiftung. Eigentumsdelikte: 94. Artikel: von dem Diebstahl. 95. Artikel: von dem Kirchendiebstahl. 96. Artikel: von dem Strassenraub. 97. Artikel: von untreuen Beamten. 98. Artikel: von Leutauffangern, und Menschenraub. 99. Artikel: von Feuerlegern, und Mordbrennern. Verbrechen gegen die Ehre: 101. Artikel: von Schmachkarten, und Schandbriefen. 102. Artikel: von Verheelern, und Aufhaltgebern lasterhafter, und verdäch­ tiger Leuten. Den Richtern gewährte die Theresiana bei der Urteilsschöpfung einen nahezu unbeschränkten Ermessensspielraum, der auch weidlich ausgenutzt wurde. Die Tatsache, dass von allen in den Erblanden während der 1770erJahre verhängten Todesstrafen jährlich durchschnittlich nur etwa 30 tatsächlich vollzogen wurden,8 beweist, dass sich die Juristen der Todesstrafe keineswegs in einem exzessiven Ausmaß bedienten, wenngleich sowohl das 8  Ernest von Kwiatkowski, Die Constitutio Criminalis Theresiana. Ein Beitrag zur theresianischen Reichs- und Rechtsgeschichte, Innsbruck 1903, S. 40 f.



Diskurse um die Todesstrafe331

Rädern als auch die Zusatzstrafen während der Hinrichtung und post mor­ tem nach wie vor zum Einsatz kamen.9 Die Mehrzahl der Todesurteile wurde nicht vollstreckt, da Maria Theresia vom Gnadenrecht reichlich Gebrauch machte.10 Ähnlich wie in den habsburgischen Ländern war die Sanktion in der Mehrzahl der Territorien des Heiligen Römischen Reiches nach der Mitte des 18. Jahrhunderts stark rückläufig. Der Freiheitsstrafe kam in der CCTh eine untergeordnete Bedeutung zu.11 Zwar wurde im Art. 5 § 7 der Todesstrafe die Verurteilung zur ewigem Gefängnis gleichgestellt, doch konnte die Sanktion nicht von einem Ordentlichen Gericht, sondern nur durch unsere [Maria Theresias] höchste Verord­ nung im Weg der Gnaden an statt einer verdienten Todesstraff verhänget werden und war daher die seltene Ausnahme.12 II. Wirkmächtige Diskurse Ausschlaggebend für den zur gleichen Zeit stattfindenden strafrechtspolitischen Diskurs waren mehrere Reformschriften, die eine überregionale Rezeption erfuhren. Montesquieus Problematisierung der Legitimität des Gewaltmonopols, die Erklärung der Schutzbedürftigkeit der individuellen Freiheit und die Forderung nach einer dem Verbrechen angemessenen Vergeltung des Unrechts13 leitete einen bald auf breiter Front geführten Diskussionsprozess ein. Im Habsburgerreich scheint es erst kurz vor dem Inkrafttreten der Theresiana auf Grund mehrerer nahezu synchron erschienener Reformschriften, allen voran durch das Traktat des italienischen Grafen 9  Vgl. dazu diverse Zeitungsberichte im Bestand: Wienbibliothek im Rathaus, Portheim-Katalog, Justiz 5.–7. 10  Vgl. Friedrich Hartl, Grundlinien der österreichischen Strafrechtsgeschichte bis zur Revolution von 1848, in: Die Entwicklung der österreichisch-ungarischen Strafrechtskodifikation im XIX.–XX. Jahrhundert, hrsg. v. Gábor Máthè, Werner Ogris, Budapest o. D. (1996), S. 20. 11  Wilhelm Emil Wahlberg, Die Revision der Theresiana und die Genesis des Josephinischen Strafgesetzbuches, in: Derselbe, Gesammelte kleinere Schriften und Bruchstücke über Strafrecht, Strafprocess, Gefängnisskunde (sic!), Literatur und Dogmengeschichte der Rechtslehre in Oesterreich, 3. Bd., Wien 1882, S. 1–17. 12  Art. 6 § 7 Zi 2 der Constitutio Criminalis Theresiana (fortan auch: Theresiana oder CCTh) bestimmte, dass „die öffentlichen Straffarbeiten allemal in Band, und Eisen zu verrichten seyen“, Zi 4 legte die „Länge der Straffzeit“ mit einem Jahr bis zehn Jahren bzw. lebenslänglich fest. Für letztere wies der in Klammer beigefügte Hinweis („als welch-letztere der Todesstraffe nächst beykommet“) auf den SubstitutCharakter der Sanktion hin. 13  Vgl. Regula Ludi, Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750–1850 (Frühneuzeitforschungen Bd. 5), Tübingen 1999, S. 55.

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Cesare Beccaria „Dei delitti e delle pene“14 (erste deutschsprachige Ausgabe: „Von Verbrechen und Strafe“, Prag 1765) sowie durch Joseph von Sonnenfels’ „Grundsätze der Polizey Handlung und Finanzwissenschaft“ (3 Teile, 1. Teil: Wien 1765) zu einem intensiven Diskussionsprozess gekommen zu sein. Beccaria sprach in seinem anonym erschienenen Bändchen der staatlichen Gewalt nicht grundsätzlich das Recht ab, ein Mitglied der Rechtsgemeinschaft zu vernichten, was allerdings bald in Vergessenheit geriet und zur in der Literatur mitunter bis heute vertretenen Vorstellung führte, der Mailänder Jurist sei mit aller Konsequenz für die vollständige gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe eingetreten. War der Mailänder Jurist in der zeitgenössischen Literatur der meistzitierte Reformdenker, so war sein Text doch keineswegs die einzige Schrift, die in die Zukunft wirkte. Auch andere Autoren formulierten zeitgleich ähnliche Überlegungen und Forderungen.15 In Österreich war es neben Karl Anton von Martini insbesondere Joseph von Sonnenfels, der gleichartige Ideen verfolgte. Der zweite „Vater des ABGB“, Franz von Zeiller, wies Sonnenfels in einem Rückblick 1806 das erste Verdienst [zu], die Nothwendigkeit der [häufigen] Todesstrafen mit den wichtigsten und einleuchtendsten Gründen bestritten zu haben, noch bevor Beccaria deren Rechtmäßigkeit in Zweifel16 zog. Was den Zeitpunkt des Erscheinens der Schriften betrifft, hatte er recht, da Sonnenfels, dem 1763 die Lehrkanzel für Polizey- und Kameralwissenschaft in Wien übertragen worden war,17 erstmals bereits 1764 den Lehrsatz öffentlich verteidigte: Die Todesstrafen sind dem Endzwecke der Strafen entgegen: schwere, anhalten­ de, öffentliche Arbeiten sagen demselben mehr zu, und machen die Bestra­ fung des Verbrechers für den Staat nutzbar.18 Auch in dem ein Jahr danach erschienenen ersten Band der „Grundsätze der Polizey= Handlung= und 14  Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene, Monaco 1764. Zum Inhalt der Schrift und zur Rezeption vgl. z. B. mehrere Artikel im Sammelband: Gerhard Deimling (Hrsg.), Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa (Kriminologische Schriftenreihe Bd. 100), Heidelberg 1989. 15  Vgl. Jürgen Martschukat, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 59. 16  Franz Edler von Zeiller, Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten, 1. Bd., Wien 1806, S. 105. 17  Vgl. Joseph Feil, Sonnenfels und Maria Theresia, Wien 1858, S. 8. Zu Sonnenfels vgl. die jüngst publizierte Dissertation von Simon Karstens, Lehrer – Schriftsteller – Staatsreformer. Die Karriere des Joseph von Sonnenfels (1733–1817), Wien u. a. 2011. 18  Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey- Handlung- und Finanzwissenschaft, 1. Teil, Wien 1765, Nachdruck: Werner Ogris (Hrsg.), Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens Bd. 12), München 2003, S. 231 (§ 376).



Diskurse um die Todesstrafe333

Finanzwissenschaft“19 sowie in einem 1767 publizierten Heft, das 65 Lehrsätze zu einer Einführung in die Staatswissenschaften und die Polizei enthielt,20 setzte er konsequent seinen Appell an die Effektivität und Nützlichkeit der Sanktionen für den Staat fort: Die Strafe muß so groß seyn, als nöthig ist, die gesetzmässige Handlung, oder Unterlassung zu bewirken, soll aber nicht grösser seyn, als zur Bewirkung der gesetzmässigen Handlung nöthig ist.21 Diesen Leitgedanken begründete er ausführlich und trug damit maßgeblich dazu bei, die neuen strafrechtspolitischen Ideen diskursiv zu verfestigen. Ähnlich wie sein Mailänder Mitstreiter und sich ebenfalls vornehmlich auf Montesquieu berufend – dessen Porträt zierte auch als Frontispiz die „Grundsätze der Policey- Handlung- und Finanzwissenschaft“ –, warnte auch er vor allzu großer Härte bei der Strafbemessung.22 Nach Beschwerden des Wiener Kardinals Christoph Anton Migazzi und der Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei, dass sich der akademische Lehrer nicht scheue, gegen die bestehende Kriminalordnung und die Todesstrafe anzueifern, wo doch Gott selbst in seinen alten Gesetzen die Todesstrafe auf den Todtschlag ausgesetzt und kein gesittetes Volk in der Welt zu finden seyn wird, welches nicht einen vorsätzlichen Todtschläger mit dem Todt bestrafete,23 wurde Sonnenfels am 26. Juli 1767 die allerhöchste Entschließung mitgeteilt, dass er seine allzu große Freiheit im Schreiben behörig mässige und beschränke, in seinen Lehrsätzen und Streitfragen aber jener Bescheidenheit und reifen Ueberlegung sich bediene, welche von ihm und seinem begleitenden Lehr-Amt billig gefo[r]dert werden könne.24 Knapp vier Monate später, am 17. November 1767, erfolgte das mit der Bedingung versehene Placet Maria Theresias für die weitere Publikation seines Lehrbuchs, wie eingeraten worden, und könne die Lehrsätze unter denen von der 19  Erschienen in drei Bänden. Der erste Band unter dem Titel „Sätze aus der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft“, Wien 1765, erfuhr bereits 1768, noch bevor die Teile 2 (1769) und 3 (1772) erschienen, eine zweite Auflage (vgl. ibid., S. 20, Anm. 32). 20  Vgl. J. Feil, Sonnenfels, S. 11–13: Der 64. Satz enthielt die Aussage, dass die Todesstrafe bei keinem einzigen Verbrechen eine schickliche Strafe sei. 21  J. v. Sonnenfels, Grundsätze, S. 223 (§ 359; ähnlich: § 360). 22  „Ueberhaupt ist zu grosse Strenge in Bestrafen aus verschiedenen Betrachtun­ gen nachtheilig. Sie vereiteln den Endzweck der Strafe. Der Bestrafte, statt der Menge ein warnendes Beyspiel zu werden, wird hier ein Gegenstand des Mitleidens und die Gesetzgebung nothwendig ein Gegenstand des Abscheues. Bald auch wird man des wiederholten Schauspiels gewohnt, der Eindruck ist verloren, der Karakter der Nation verhärtet, und bey Auswärtigen herabgewürdiget“ (ibid., S. 224 f., § 362). 23  Zit. nach Franz Kopetzky, Josef und Franz von Sonnenfels. Das Leben und Wirken eines edlen Brüderpaares nach den besten Quellen dargestellt, Wien 1882, S. 76. 24  Zit. nach J. Feil, Sonnenfels, S. 14.

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Kanzley, und von der Censurs-Commission an Hand gelassenen Abänderun­ gen gedrucket werden.25 Unmittelbar danach überreichte ihr Sonnenfels eine „Vorstellung“, worin er die Veröffentlichung seiner Meinung zur Todesstrafe mit dem Argument und dem Anspruch verteidigte, dass es ihm als Lehrstuhlinhaber Aufgabe und Pflicht sei, das Recht kritisch zu reflektieren. Auch auf einen Vortrag der Hofkanzlei vom 22. August 1772 hin wies Maria Theresia ihn abermals an […] die peinliche Frage und Todesstraffe nicht mehr [zu] berühren.26 Abermals wehrte sich Sonnenfels gegen die Vorwürfe, und verfasste eine zweite direkt an Maria Theresia gerichtete ausführliche „Verteidigungsschrift“,27 die er drei Jahre später auch als Anhang in der Aufsehen erregenden anonymen Broschüre „Ueber die Abschaffung der Tortur“ (Zürich 1775)28 veröffentlichte: Die Grundsätze seines Lehramts und seines Herzens würden ihm die Pflicht zur Aufrichtigkeit auferlegten. Zur Unterstützung seiner Angriffe gegen Folter und Todesstrafe bediente er sich der „Autoritäten“ Montesquieu und Beccaria und bekannte sich dazu, dass seine Meinung nicht mit den „höchsten Gesetzen“ übereinstimme. Aus seiner Sicht sei die Todesstrafe einzig und allein dann vertretbar, wenn dem Wohl des gemeinen Wesens durch andere Mittel nicht berat­ hen ist.29 Entgegen der Meinung Beccarias – wobei auch er sich schon 25  Zit.

nach ibid., S. 16. schriftliche Entgegnung auf dieses Verbot, in dem sich auch dieses Zitat findet, ist abgedruckt im Anhang von: Joseph von Sonnenfels, Ueber die Abschaffung der Tortur, Zürich 1775, S. 91–117, hier: S. 91. 27  „Es sey vorgekommen, daß noch immerfort einige Sätze aus den politischen Wissenschaften, welche den publicierten höchsten Gesetzen schnurstracks zuwider­ lauffen, und in sich selbst anstössig sind, als z. B. Sätze, […] worinnen alle Todes­ straffen gegen alle göttliche und menschliche Gesetze gemißbilliget werden, unge­ achtet solche schon vor einigen Jahren geahndet und abgeändert worden, dennoch gelehrt und gedruckt werden“ (ibid., S. 92). 28  Auszugsweise ediert von: Hildegard Kremers (Hrsg.), Joseph von Sonnenfels. Aufklärung als Sozialpolitik. Ausgewählte Schriften aus den Jahren 1764–1798, (Klassische Studien zur Sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung Bd. 10), Wien, Köln, Weimar 1994, S. 131–143. Während die Literatur dieses Werk bis dato als zentral für die Abschaffung der Folter hervorgehoben hat, werden die Verdienste des Professors der Chirurgie Ferdinand Joseph Leber, der seit 1757 die Aufgabe hatte, die Folterkandidaten ärztlich zu untersuchen, kaum gewürdigt. In schriftlichen und mündlichen Vorstellungen wies auch dieser Maria Theresia wiederholt auf die Wiedersinnigkeit und Grausamkeit dieses Rechtsinstruments hin (vgl. Dieter Baldauf, Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 165). Sonnenfels war nur mittelbar an der Abschaffung der Folter beteiligt, da ihn Maria Theresia trotz seiner Bitten nicht zu den diesbezüglichen Beratungen hinzuzog (vgl. Mario A. Cattaneo, Aufklärung und Strafrecht. Beiträge zur deutschen Strafrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, Baden-Baden 1998, S. 49–63). 29  Zit. nach F. Kopetzky, Sonnenfels, S. 208. 26  Die



Diskurse um die Todesstrafe335

irrte – habe er das grundsätzliche Recht des Regenten, Verbrecher hinrichten zu lassen, nie bestritten, ja sogar verteidigt. Darauf, dass die Todesstrafe nicht generell aufgehoben werden solle, habe er bereits in seinen „Grundsätzen der Polizey= Handlung= und Finanzwissenschaft“ hingewiesen: Wo immer die Vertheidigung der öffentlichen Sicherheit den Tod des Missethä­ ters unumgänglich macht, da kann die Gerechtigkeit gegen ihn das Schwert zücken.30 Es sei ihm allerdings vornehmlich nie um die Frage gegangen, ob der Regent berechtigt sei, den Tod auf das Verbrechen zu verhängen? Sondern: Welche Straffe dürfte bey dem Verbrecher abhaltender seyn? Die Todesstraffe, oder eine langwierige und verschärfte öffentliche Arbeit? … Die Arbeit ist daher in den Augen des Verbrechers ein grösseres Uebel als der Tod selbst: Sie wird also als ein vorhergehender Beweggrund zur Unterlassung einer gegen die Gesetze lauffenden Handlung auch von grösserer Wirkung seyn; das Beyspiel einer lebenslangen schweren Arbeit, die Verlängerung eines mühsamen qualvollen Lebens wird mächtiger und die Art der Straffe für das gesamte Wohl der Gesellschaft nützlicher seyn.31

Unter Maria Theresia noch heftig angefeindet, teilten seine Meinung sechs Jahre später sein Schüler Karl Anton von Martini wie auch der Kaiser. Durch sein konsequentes, unbequemes und für seine berufliche Stellung keineswegs gefahrloses kritisches Bekenntnis trug Joseph von Sonnenfels zur Problematisierung der Todesstrafe und zu einer neuen Bewusstseinsbildung bei und beeinflusste damit auch Joseph II. Nicht zuletzt die breite universitäre Rezeption der in seinen obligatorischen Lehrbüchern vertretenen und einprägsam formulierten Ansichten trug zur raschen Verbreitung derselben bei der neuen Juristengeneration bei.32 III. Der Gesellschaftsvertrag und die Frage der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe Im Rampenlicht der Diskussion um ein neues Strafrecht, ja sogar als Initialzündung für ein solches stand die Todesstrafe, die ihre dogmatische Begründung eingebüßt hatte und nach dem Wunsch der Kritiker zumindest zum Großteil abgeschafft und durch öffentliche Strafen ersetzt werden soll30  J.

v. Sonnenfels, Grundsätze, S. 349. Ueber die Abschaffung, S. 107 f. 32  Vgl. H. Kremers, Joseph von Sonnenfels, S. 30. Den Einfluss von Sonnenfels durch seine Thesen und Lehrbücher auf die Reformpläne Josephs II. betont auch Ernst Wangermann, Radikales Denken in der österreichischen Aufklärung, in: Birgitta Bader-Zaar, Margarete Grandner, Edith Saurer (Hrsg.), Auf dem Weg in die Moderne. Radikales Denken, Aufklärung und Konservatismus (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit Bd. 5), Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 16. 31  Ders.,

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te.33 Da die souveräne Macht zu töten nicht mehr als gottgegeben akzeptiert wurde, war nunmehr allerdings zu begründen, warum diese gerade dem „Staatskörper“ bzw. dem Regenten zustehen sollte. Ausgehend von dem von Thomas Hobbes entwickelten und von Jean-Jacques Rousseau populär gemachten Denkmodell des Gesellschafts- oder Vereinigungsvertrages als dem Zusammenschluss zunächst freier Individuen zu einem Staat und dem anschließenden Unterwerfungsvertrag wurde in der Theorie die oberste Gewalt auf einen Herrscher übertragen, was der Legitimierung der bestehenden Situation diente.34 Für das Strafrecht, ja die gesamte Rechtsordnung bedeutete dies, dass als Ziel das Gemeinwohl, das größtmögliche Glück der größten Zahl, anzustreben war. Über die Verhältnismäßigkeit der Strafe sowie die Beförderung des allgemeinen Nutzens, der utilitas rei publicae, als vorrangige Strafzwecke herrschte in der Literatur ein weit reichender Konsens, mit welchen Mitteln dies am besten erreicht werden könnte, wurde hingegen heftig diskutiert. Besonderes Aufsehen erregten Reformjuristen mit ihrer Behauptung der Unzulässigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit der Todesstrafe. Diese – aber auch ihre „Gegner“ – argumentierten überwiegend auf der Basis des Gesellschaftsvertrages. Sich darauf beziehend, bejahte, wie erwähnt, auch Sonnenfels grundsätzlich die Frage, ob der Gesetzgebung ein Recht, mit dem Tode zu bestrafen zukomme, da die Natur, welche dem Menschen seine Selbster­ haltung zur Pflicht gemacht […] ihn zur Erfüllung dieser Pflicht mit dem Rechte der Selbstvertheidigung bewaffnet hat.35 Dieses individuelle Recht wurde durch den Gesellschaftsvertrag übertragen: Der Mensch […] ist berechtiget, seine Sicherheit auf jede Art zu schützen, und wenn die Gewalt des Angriffs nicht anders abgewendet werden kann, seine Ver­ theidigung, bis auf den Tod des Angreifers auszudehnen. Dieses Vertheidigungsrecht hat in der bürgerlichen Gesellschaft jedes einzelne Glid dem Ganzen, das ist, der das Ganze vorstellenden obersten Gewalt auszuüben, übertragen […] Die oberste Gewalt kann also Todesstrafen verhängen, wo immer die Vertheidigung der gemeinschaftlichen Sicherheit die Hinrichtung des Uebelthäters nothwendig machet.36

Allerdings, so das weitere Argument: Sobald der Verbrecher in den Hän­ den der Gerechtigkeit ist, verschwindet alle Furcht vor dem ferneren Angrif­ fe: die gegenwärtige Vertheidigung der öffentlichen Sicherheit macht also seine Hinrichtung nicht mehr nothwendig. Und eben so wenig die Vertheidi­ W. Ogris, Sonnenfels, S. 77. Hinrich Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. München 2002, S. 57. 35  J. v. Sonnenfels, Grundsätze, S. 232 (§ 376). 36  Ibid., S. 232 f. (§ 377 u. 378). 33  Vgl. 34  Vgl.



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gung für die Zukunft. Der verwahrte, gefesselte Bösewicht ist ausser Stand gesetzt, eine der gemeinschaftlichen Sicherheit nachtheilige Handlung in Vollzug zu bringen.37 In diesem Fall würde, so Sonnenfels im Widerspruch zu zahlreichen anderen Juristen, die Nothwendigkeit der Todesstrafe bey dem ordentlichen Verfahren der Kriminalgerichte durchaus hin­weg[fallen].38 Durch seinen Rechtslehrer Christian August Beck wurde Joseph II. mit dem Ideengut der bedeutendsten aufgeklärten Reformjuristen (Pufendorf, Montesquieu, Beccaria u. a.) sowie den naturrechtlichen Staatslehren eines Hugo Grotius, Thomas Hobbes oder Christian Wolff konfrontiert und machte sich deren Reformgedanken – zumindest partiell – zu Eigen.39 Neben der Lektüre trugen auch Beamte und Rechtsberater dazu bei, dass der Kaiser mit dem zeitgenössischen Schrifttum und der Auseinandersetzung um die Legitimität der Todesstrafe wohlvertraut war. Bereits die frühen Überlegungen der 1770er-Jahre über Sanktionsziele und -arten bzw. notwendige Veränderungen in der Strafpolitik und -ökonomie wurden nicht von Maria Theresia, sondern von ihrem Sohn und Mitregenten Joseph II. initiiert, dem sie als „Rechtskundigen“ diesen Aufgabenbereich der Regierungsgeschäfte übertragen hatte.40 In seiner schriftlichen Stellungnahme zur Abschaffung der Folter vom 12. August 1775 sprach er erstmals auch die Absicht einer Einschränkung der Todesstrafe an: Es sei notwendig, dass diese viel mehr restringiert werde und hinfüro ausgenommen an in flagrante delicto Einge­ zogenen oder ga[r]tenten und eingestandenen Verbrechern nicht zu vollzie­ hen sey.41 Nur knapp sieben Jahre nach dem Inkrafttreten der CCTh stimmte auch Maria Theresia selbst der Aufnahme von Beratungen über die teilweise Aufhebung der Todesstrafe zu und erteilte am 2. Januar 1776 der Obersten Justizstelle den Auftrag, Überlegungen anzustellen, ob nicht auch die Todesstrafe gänzlich, [wenigstens je]doch zum großen Teile, aufzuheben und nur auf die delicta atrocissima [die schrecklichsten Verbrechen] zu beschränken wäre.42 Zwei Jahre lang wurden die Möglichkeiten für eine Änderung des Strafensystems behördlich geprüft, und schon in der ersten Phase der Diskussion um mögliche Ersatzstrafen widmete man als kosten37  Ibid.,

S. 233 (§ 379). S. 234 (§ 380). 39  Vgl. Friedrich Hartl, Die Wurzeln des modernen Strafrechts in Österreich, in: historicum 9 (1988), S. 17. 40  „Ich ersuche den Kayser, der die jura studiert hat, doch mehr auf dessen bil­ ligkeit, einsicht und menschenlieb trauend, er möge dieses Werk decidirn ohne mei­ ne consilia, da ich es gar nicht verstehe“ (zit. nach Karl Gutkas, Kaiser Joseph II. Eine Biographie, Wien, Darmstadt 1989, S. 148). 41  Zit. nach ibid., S. 148. 42  Zit. nach Hugo Hoegel, Freiheitsstrafe und Gefängniswesen in Österreich von der Theresiana bis zur Gegenwart, Graz 1916, S. 7. 38  Ibid.,

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günstige Variante den Zucht- und Arbeitshäusern als Verwahranstalten ein besonderes Augenmerk.43 Schlussendlich waren es jedoch vornehmlich die hohen Finanzierungs- und Adaptierungserfordernisse, die das Projekt scheitern ließen.44 IV. Die Wiederaufnahme der Diskussion um die Todesstrafe Der zweite Reformanlauf zur Reduktion der Todesstrafe und zu einer Revision der CCTh erfolgte 1781, kurz nach dem Ableben Maria Theresias. Im Staatsrat war bereits über den augenscheinlichen Rückgang der vollzogenen Todesurteile diskutiert worden. Die Statistik ergab, dass in den letzten Jahren die große Mehrzahl der Verurteilungen im Gnadenweg abgeändert worden war, so dass de anno 1774 also in 6 Jahren in allen deutschen und böhmischen Erblanden, Gallicien ausgenommen, 190 Köpfe hingerichtet worden, dass also auf ein Jahr 30 Köpfe für alle diese Erblande ausfallen.45 Im Vergleich zu den geltenden Strafandrohungen wurden die Zahlen für das riesige Habsburgerreich als verschwindend betrachtet. Die Justizpraxis entsprach also – wohl vom Tag der Publizierung der Theresiana an – nicht der gesetzlichen Grundlage. Joseph II. beauftragte schließlich mit Handschreiben vom 2. Februar 1781 die Oberste Justizstelle,46 sich dahingehend zu 43  Die von Maria Theresia beauftragten Behörden waren bemüht, einen detaillierten Länder-Überblick über die baulichen Einrichtungen, Abläufe und Kapazitäten der vorhandenen Institutionen vorzulegen. Einen Überblick über die Genese der Zucht- und Arbeitshäuser im heutigen Österreich bieten die Beiträge im Sammelband: Gerhard Ammerer / Alfred Stefan Weiss (Hrsg.), Strafe, Disziplin und Besserung. Die Österreichischen Zucht- und Arbeitshäuser von 1750 bis 1850, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2006; vgl. auch Gerhard Ammerer / Falk Bretschneider / Alfred Stefan Weiss (Hrsg.), Gefängnis und Gesellschaft. Zur (Vor-)Geschichte der strafenden Einsperrung (Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung Jg. 13 / Heft 5 / 6), 2003. 44  Maria Theresia entschied am 6. April 1777: „Bey den dermaligen Umständen, und dem ohnehin allgemein bestehenden Verbot können diese ausserordentliche Aus­ laagen nicht statt finden, und wird also die Ausführung dieses Gegenstandes bis auf gelegenere Zeiten verschoben werden müssen“ (Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv [fortan: AVA], Oberste Justizstelle, Hofkommission, Kompilationshofkommission, Karton 103, zitiert im Gutachten von Joseph Holger über die Ursachen, warum in der Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe keine Fortschritte zu verzeichnen seien, 31. Aug. 1781). 45  Zit. nach E. v. Kwietkowski, Constitutio Criminalis Theresiana, S. 40 f. Keine Begnadigungen sprach Maria Theresia bei Aufrührern, untreuen Beamten und Kindsmörderinnen aus (ibid., S. 44). 46  Haus-, Hof- und Staatsarchiv (fortan: HHStA), Protokolle und Indices der Kabinettskanzlei, Handbillettenprotokoll Bd. 19 („in internis bey der staats RathsKanzley kommenden Gegenständen 1781“), S. 90.



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äußern, ob und in welchen Fällen die Todesstrafe allenfalls noch beibehalten werden sollte und welche kostengünstigen Möglichkeiten des Ersatzes in Frage kämen.47 Ähnlich wie wenige Jahre zuvor, wurde auch diesmal sogleich in der Eingangsphase darauf gedrungen, Lösungen zu erarbeiten, die den Staatshaushalt möglichst wenig belasteten. Nach einem geheimen Zirkular an alle Strafgerichtsbehörden, dass zukünftig im Fall der Verhängung der Todesstrafe dem Delinquenten das Urteil zu verkünden, dieses jedoch nicht zu vollziehen sei,48 erteilte Joseph II. am 13. April 1781 der Kompilationshofkommission den weitgefassten Auftrag, den Criminal Codicem auf eine der dermaligen Criminal Justiz-Pflege, und einem Gesetzbuch angemessenen Art einzurichten.49 Neben der Notwendigkeit, die bereits 1776 verfügte Aufhebung der Tortur in den Gesetzestext einfließen zu lassen, gab Joseph II. abermals Anweisung, die Todesstrafen zu reduzieren – allerdings nicht mehr als das – und als Vorfrage die Möglichkeiten von Ersatzstrafen zu klären. Allerdings gab der Kaiser selbst bei den Begnadigungsakten vor, welche Sanktionen und welche Strafausmaße er sich in etwa erwartete. In der Causa des im Landgericht Hartberg / Untersteiermark im Februar 1781 wegen mehrfachen Raubes und Diebstahls zum Tod durch den Strang verurteilten Mathias Schellauf führte er aus: Die Todesstrafe ist in eine lebenslängliche mit schwerer Arbeit verbundene harte Gefangenschaft in Eisen zu verwandeln; die Aufbewahrung muß an einem Ort, wo Delinquent gut bewachet und angeschmiedet werden kann, geschehen, und das Urtheil wird unter gewöhnlich öffentlicher Kundmachung in Vollzuch zu setzen seyn.50

Ähnlich entschied er wenig später nach einem in Galizien aufgedeckten Mord an einer Frau: Ich begenehmige die Vota minora, und sind diese le­ benslänglich zur härtesten Arbeit in Eisen zu verdammen mit Wasser und Brod, und Brandmarkung auf den Wangen, und dann sind die Karbatsch­ streichen nach Maaß ihres mehr= oder wenigern Verbrechens anzuschaf­ fen.51 Diese Strafbestandteile schienen kurz darauf auch in den Juristengut47  Referiert im „Votum Welches der Hofrath Martini erstens bei der Kommission, dann auch bei der obersten Justizstelle abgegeben hat“ vom 26. März 1781 (AVA, Oberste Justizstelle, Hofkommission, Kompilationshofkommission, Karton 103). 48  Vgl. Paul von Mitrofanov, Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit, 2. Teil, Wien, Leipzig 1910, S. 521. 49  AVA, Oberste Justizstelle, Hofkommission, Kompilationshofkommission, Karton 103 (Schreiben des Kaisers an die Kompilationshofkommission v. 13. April 1781). 50  HHStA, Protokolle und Indices der Kabinettskanzlei, Handbillettenprotokoll Bd. 19 (Resolution Josephs II. vom 20. Febr. auf einen Vortrag der Obersten Justizstelle vom 12. Febr. 1781), S. 146, Nr. 164. 51  Ibid., S. 548, Nr. 99.

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achten (s. u.) auf und fanden schließlich 1787 Aufnahme ins Josephinische Strafgesetz (des Weiteren auch: JStG). Die kaiserlichen Vorgaben und Anweisungen an seine Beamten bildeten den Auftakt zu einem sich über Jahre erstreckenden Arbeits- und Diskussionsprozess, in dem es gleichermaßen um das Generalthema des neuen Strafrechts wie auch um die gewichtige Spezialfrage der Todesstrafe ging. Die Meinungen der verschiedenen Juristengremien, des Kaisers und der politischen Öffentlichkeit differierten dabei in zahlreichen Punkten und wurden auf verschiedenen Foren und unter wechselnden theoretischen Bezügen diskutiert. Am 26. Februar 1781 kam es zur höchsten Entschliessung und zum Auftrag des Kaisers: Es ist also eigends eine Commission von 3: Räthen der Obersten-Justiz-Stelle, welcher Hofrath Martini als ältester vorsitzen solle [– ein Irrtum –], zusammenzusetzen: Diese wird nach Vorschrift Meiner erklärten Willensmeynung den Gegenstand wohl überlegen, und eine vollständige Ausarbeitung zu dem Entwurf der künftigen Einrichtung fassen, nämlich, ob und in welchen wenigen ganz besonderen Fällen die Todesstrafe allenfalls annoch beybehalten bleiben solle, was für Strafarbeiten für die übrigen Delinquenten nach dem Verhältniß ihrer Verbrechen, ihres Geschlechts zu bestimmen, wie das Unterkommen, und die Verwahrung derselben allenthalben zu veranstalten wäre, um dem Staat keine beträchtliche Kosten aufzulegen, und gleichwohlen gegen die Entweichung die genügliche sichere Vorsichten zu nehmen?

Neben den vorgegebenen inhaltlichen Aspekten und der Empfehlung, sich an der toskanischen Strafpraxis zu orientierten, sowie Hinweisen zum Ablauf des Gesetzgebungsprozesses ist besonders die Bildung eines kleinen Expertengremiums beachtenswert: Ein Kollegium von drei Juristen wurde beauftragt, im Vorfeld grundlegende theoretische und rechtspolitische Überlegungen und Konzeptionen anzustellen. Die Tatsache, dass nicht, wie etwa im Zuge der Erarbeitung der „Allgemeinen Gerichtsordnung“ eine kleine Kommission eingesetzt wurde, welche die bereits durchgeführte Ausformulierung des Gesetzestextes überprüfen sollte,52 sondern dem eigentlichen Normfindungsprozess drei ausführliche und voneinander unabhängig erstellte Grundsatzgutachten als Diskussionsgrundlage vorgeschaltet wurden, stellte ein Novum in der habsburgischen Legislative dar und blieb auch singulär. Die aus drei Mitgliedern der Obersten Justizstelle bestehende Kommission existierte nur während der kurzen Zeitspanne der ersten Zielüberlegungen. Warum der Kaiser dieses kleine Gremium einsetzte, wurde 52  Vgl. Gernot Kocher, Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation. Die Oberste Justizstelle und das allgemeine Privatrecht in Österreich von 1749–1811 (Forschungen zur Europäischen und Vergleichenden Rechtsgeschichte Bd. 2), Wien, Köln, Graz 1979, S. 81.



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nicht begründet, wahrscheinlich aber deshalb, weil er der Angelegenheit eine besondere Bedeutung zuerkannte und die Vorbereitungsarbeiten nicht, wie sonst üblich, einem einzigen Referenten überlassen wollte. Möglicherweise war er sich jedoch auch selbst über die Zielrichtung der neuen Normen noch nicht im Klaren. Diese hochrangigen Strafrechtsspezialisten erstellten auf die kaiserlichen Vorgaben hin umfangreiche Gutachten und eröffneten durch ihre unterschiedlichen, theoretisch wie praktisch ausgerichteten Überlegungen zum Strafrecht ein gedankliches Experimentierfeld, aus dessen reichem Fundus in der folgenden legislativen Arbeit geschöpft werden konnte. V. Politische Öffentlichkeit und Medien Einblicke in zeitgenössische Vorstellungen, Denkweisen, Disziplinierungsabsichten und Machtstrategien vermag die Analyse von Diskursen zu geben. Der Austausch von Meinungen, Einsichten und Erkenntnissen, der vor, während und nach den Gesetzgebungsprozessen stattfand, war nicht nur eine Angelegenheit von Juristen und Expertengremien, sondern wurde auch und in besonders intensiver Weise im herrschaftsfreien Raum kommuniziert. Dieser im josephinischen Jahrzehnt besonders begünstigte öffentliche Diskurs trug wesentlich zur allgemeinen Wissensvermittlung und Meinungsbildung bei und verfestigte Denk- und Wahrnehmungsschemata. Die Literatur zur Frage der Abschaffung bzw. Beibehaltung der Todesstrafe zeichnete sich durch eine literarische Genrevielfalt und ein breit angelegtes Kritikpotential aus.53 53  Publikationen zum Thema Todesstrafe 1781–1788 (in Auswahl): R –l –r., „Etwas an Herrn Karl Häß. Als eine kleine Beantwortung seiner Antisonnenfelsianischen Brochüre: „Worauf gründet sich das Recht des Monarchen mit dem Tode zu strafen“ ec., Wien 1781; Uiber die Justizpflege, eine Abhandlung zum Wohle der Menschheit, von J. B. W., Wien 1781; Karl Häss, Gründet sich das Recht der Monarchen mit dem Tode zu straffen in der Uebertragung der Menschen. von einem Freunde der Wahrheit beantwortet, Wien o. D. (1781); Karl Häss, Worauf gründet sich das Recht des Monarchen mit dem Tode zu strafen? Undt Sind die Strafen allzeit die wirksamsten, die aus dem Geiste des Verbrechens genommen sind? Von Karl Häß wider Herrn Hofrath v. Sonnenfels, Wien 1781; Johann Gottfried Rösslers von dem Strafrechte im Stande der Natur, und seinen Folgen im Staate, Wien 1784; Faustin (Pseudonym), Die Todesstrafe, o. O. (Wien) 1785; Freymüthige Gedanken über die Schärfe mancher Strafen, Wien 1786; Rechtfertigung des Kaisers in seinem Kriminalverfahren, Wien 1786; Ueber die Wiedereinführung der Todesstrafe, o. O. 1786; Franz Xaver Huber, Der Richter über den Herrn Schlendrian. Ein eben so komischer Roman, als Herr Schlendrian selbst, Frankfurt, Leipzig (Wien?) 1787; Franz Xaver Huber, Herr Schlendrian oder der Richter nach den neuen Kriminalgesezen. Ein komischer Roman, Berlin (Wien) 1787; Franz Xaver Huber, Herr Schlendrian oder der Richter nach den neuen Kriminalgesezen und der allgemeinen Ge-

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Durch die Broschüren, Romane, Gedichte etc. kam es ab 1781 zu einer in dieser Form und in diesem Ausmaß nie zuvor ausgetragenen öffentlichen Konfrontation zu strafrechtlichen Fragen. Analysiert man die zahlreichen Plädoyers zur Todesstrafe, so erweist sich rasch, dass es den Autoren um grundsätzliche Fragen nach Sinn, Zweck und Berechtigung des staatlichen Strafens sowie speziell und hauptsächlich um die (Legitimität der) Verurteilung zum Tod ging. Die Neubestimmung der Strafzwecke, welche die Träger der Diskussion, Beamte, Juristen, Philosophen, Theologen und Belletristen, vorschlugen, bot keinen einheitlichen Ansatz zu einer generellen Humanisierung,54 vielmehr waren die Meinungen geteilt und die naturrechtlich-rechtsphilosophischen Argumentationsstränge mit ihren Bezügen auf die universitäre Lehre oder den bereits verfestigten aufgeklärten Diskurs uneinheitlich und stark verästelt. Das von etlichen Autoren mitgetragene obrigkeitliche Argument bei der Frage nach dem Zweck der (Todes-)Strafe zielte hauptsächlich auf die Abschreckung des Einzelnen und / oder der Allgemeinheit und drängte damit das individuelle Verschulden des Verbrechers sowie etwaige gesellschaftliche Defizite zurück. Basierend auf der Theorie des psychologischen Zwanges55 von Samuel Freiherr von Pufendorf (1632– 1694) stand die Generalprävention für einen kurzen Zeitraum bei den staatlichen strafrechtlich-reformerischen Bemühungen an oberster Stelle. In den kritischen literarischen Texten wurde dieses Strafziel hingegen häufig als reine Mutmaßung in Frage gestellt und behauptet, Todesstrafen würden im Gegenteil jeglichen praktischen Nutzen entbehren, da sie nicht zur Verhinrichtsordnung. Ein komischer Roman, Drittes Bändchen, Berlin (Wien) 1787; Franz Xaver Huber, Sonnenklarer Kommentar des sonnenklaresten Buchstaben der neuen Geseze. Von Herrn Schlendrian Obersten Richter zu Tropos, Wien 1788; Katechismus über Kaiser Josephs II. Gesetz von Verbrechen und derselben Bestrafung, Wien 1787; Franz Sonnleithner, Anmerkungen zum neuen Josephinischen Kriminalgesetz, Wien 1787; Paul Rudolph Gottschling, Unterthänigstes Flehen an Kayser Joseph den Andern, die so schwere Strafe der Schiffziehenden in Ungarn in etwas allergnädigst zu mildern; entworfen von einem im Auslande lebenden siebenbürgischen treuen Unterthan, o. O. 1787; D. (eigentlich Carl Ignaz) Geiger, Sind die kaiserl. Königl. Peinlichen Strafgesetze der Politik und dem Staats- und Naturrechte gemäß. Eine Patriotenfrage, o. O. 1788; Peinliche Strafgesetze dem Staats- und Naturrecht gemäß, o. O. 1788; Ueber die Todesstrafen, in: F(ranz) X(aver) Huber, Der oberdeutsche Freund der Wahrheit und Sittlichkeit. Eine periodische Schrift, 1. Bd., Salzburg 1788, S. 228–248; Zufällige Bemerkungen bei Gelegenheit der allgemeinen Kriminalgerichtsordnung, in beiläufiger Verbindung mit dem allgemeinen Gesetze über Verbrechen und deren Bestrafung, in: Patriotisches Blatt 8 (1788), S. 347–370. 54  Vgl. Gerd Kleinheyer, Wandlungen des Delinquentenbildes in den Strafrechtsordnungen des 18. Jahrhunderts, in: Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen (Studien zum achtzehnten Jahrhundert Bd. 2  /  3), München 1980 S.  233 f. 55  Vgl. ibid., S. 235.



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derung von Kapitalverbrechen beitragen, sondern vielmehr sogar zu solchen verleiten würden. Die Diskussion führte rasch zu zwei hauptsächlich vertretenen Positionen, wobei in den Argumentationsstrategien beider „Gruppen“ mitunter ein gewisses Gefährdungsbewusstsein in Hinsicht auf den Missbrauch staatlicher Herrschaft und Appelle zur Begrenzung der Regentenmacht deutlich zum Tragen kamen.56 Manche Wiener Autoren standen den Ideen Beccarias und Sonnenfels’ höchst kritisch gegenüber und forderten als primäres Strafziel die bestmögliche Gewährleistung des leiblichen und materiellen Wohles des Einzelnen. Für Autoren wie beispielsweise Johann Gottfried Rößler war die künftige Sicherheit der Personen, Güter und Ehre der Bürger … der End­ zweck des Strafrechts57, wobei seiner Meinung nach eine Ersatzstrafe nie eine der Todesstrafe gleichkommende Präventivwirkung entfalten könne: […] so fordert unsere künftige Sicherheit doch noch oft seinen Tod, um andere seines Gelichters, welche er durch seine That zu ähnlichen Verbre­ chen ermuntert, durch das schreckende Beispiel einer strengen Strafe davon abzuhalten.58 Der Kaiser müsse daher harte Sanktionen vor allem im Hinblick auf die Interessenwahrung seiner Untertanen normieren. Auch die schwersten körperlichen Strafen, so stimmte diesem Johann Rautenstrauch zwei Jahre später zu, würden Verbrechern nicht sonderlich imponieren: […] die traurigsten Beyspiele unserer Tage beweisen, daß Brandmarken, Prü­ geln und die härtesten Arbeiten eben so wenig, ja beynahe noch weniger Eindruck machen, obgleich diese Züchtigung und Strafe im Grunde noch schrecklicher ist, als der Tod selbst.59 Daraus zieht der Autor den Schluss, dass es zu einer Neubewertung der Todesstrafe kommen müsse: Denkende Beobachter glauben aus beiden das Resultat ziehen zu können, daß es ei­ nerseits Verbrechen giebt, die vermöge den Naturgesezen unumgänglich mit dem Tode bestraft werden sollten, und daß andererseits die jetzt üblichen Züchtigungsarten ihrer Absicht nicht entsprechen.60 Öffentliche Hinrichtungen sollten zwar weiterhin einem Zeremoniell folgen, negativ wirkende Begleiterscheinungen jedoch vermieden werden. In Übereinstimmung mit den Ideen von Beccaria und Sonnenfels existierte für zahlreiche Strafrechtskritiker nur ein einziger Fall, bei dem diese Sanktion zwingend beibehalten werden sollte, nämlich ein Verbrechen, das 56  Vgl. Petra Overath, Tod und Gnade. Die Todesstrafe in Bayern im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 23. 57  J. G. Rössler, Von dem Strafrechte, S. 44; ähnlich S. 35. 58  Ibid., S. 22, ähnlich S. 31 f. 59  Johann Rautenstrauch, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in Österreich, 2. Teil, Leipzig 1786, S. 13 f. 60  Ibid., S. 13.

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dem Staate unmittelbar schädlich ist, Gefahr ob dem Verzuge, so fern es nicht einen Augenblick vor der Ausübung durch die Tötung des im Begriffe stehenden Verbrechers gehindert würde, dergestalt dass die Tödtung alsdann inner den Schranken der Mässigung einer unverfänglichen Schutzwehre zur unbedingten Nothwendigkeit wird. Auch hier ist es die Sache der Gesetzgebung, die besondern Fälle einer solchen Nothwehre zu bestimmen, die gewiss nicht anders als sehr selten seyn können.61 Bei den sachlichen Einwendungen gegen die Todesstrafe lag das Hauptgewicht zunehmend auf dem kriminalpolitischen Argument der Unzweckmäßigkeit, also im Bereich der relativen Straftheorien. Die Beobachtung fremden Leids löse keine wirkliche Sorge um das eigene Wohl aus und häufig stattfindende Exekutionen steigerten bei den Rechtsgenossen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Strafvollzug und damit auch die Kriminalitätsraten.62 Bei primitiven und triebhaften Naturen würden – so das „philanthropische Paradigma“63 – die Hemmungen vor der Vernichtung von Leben gemindert und diese dadurch zusätzlich zu Straftaten verlockt werden. Grausamkeit rufe wiederum Grausamkeit hervor. Drakonische Strafen seien unmoralisch, weil sie die Summe des Leids in der Welt vergrößerten und kein Mittel darstellten, um Menschen zu sensibilisieren und zu einem verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen. Zudem wurde daran erinnert, dass die kollektive Stimmungslage bei Hinrichtungen unberechenbar sei und von den positiven Faktoren der Furchteinflößung und der Abschreckung auch in eine Heroisierung des Verbrechers umschlagen könne. Das von der Obrigkeit inszenierte „Theater des Schreckens“ wurde für die Reformschriftsteller nicht selten überhaupt zum Sinnbild der ungerechten staatlichen Gewalt.64 Die Abolitionisten gingen bei der Erklärung von Gemeinschaft, Recht und Herrschaft von anderen Prämissen aus als die Befürworter der Todesstrafe. Sie verwarfen vor allem die Idee, dass die Menschen ihr natürliches Verteidigungsrecht gebündelt auf einen Regenten übertragen hätten, denn, so wurde argumentiert, beim Eintritt in die Gesellschaft hätten sie wohl kaum Strafgesetzen zugestimmt, welche die Todesstrafe vorsahen, was ei61  J.

B. W., Uiber die Justizpflege, S. 163 f. S. 141. 63  J. Martschukat, Inszeniertes Töten, S. 75. 64  Selbst der Schriftsteller und Anhänger der josephinischen Reformen Johann Rautenstrauch fand äußerst kritische Worte und klagte staatliche Defizite ein: „Wenn man bedenkt, daß […] alle die strafenden mit Henkern begleitenden Gesetze, alle die Blutgerüste, die Ketten-, und Züchtigungsarten das Uebel selten bessern, dem man nicht vorzubeugen wußte; daß die gleichen Verbrechen immer aufs neue began­ gen werden, weil man ihre Quelle nicht verstopft hat.“ (J. Rautenstrauch, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, 1. Teil, S. 81 f.). 62  Ibid.,



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nem Selbstmord nahe gekommen wäre. Zudem dürfe kein Mensch sich selbst das Leben nehmen und ebenso wenig könne er es abtreten – das würde zudem eine Beleidigung Gottes bedeuten.65 Diese Argumente stützten die Todesstrafengegner noch mit dem Hinweis, dass die Sanktion mit dem Zeitgeist, insbesondere mit den Idealen des „philosophischen Jahrhunderts“ sowie dem Geist der Humanität und Menschlichkeit nicht mehr vereinbar sei.66 Die Situation im Habsburgerreich wurde mit anderen, als zivilisiert bewerteten Staaten verglichen und damit auf die nationale Schan­ de hingewiesen.67 Einwände gegen die wirkungsanalytische Argumentationsfigur der Abschreckung gab es etliche und auf verschiedenen Erklärungsebenen. Sie sei ethisch bedenklich, da der Täter als Mittel zum Zweck missbraucht und für die Öffentlichkeit als Zeichen eingesetzt würde.68 Zudem basiere sie auf einer Fiktion und baue auf einer falschen Psychologie auf, da sich die Men­ schen weder durch Todesfurcht, noch durch Furcht der Hölle vom Laster­ wege abschrecken lassen.69 Viele Broschüristen wiesen darauf hin, dass die Straftäter für sich immer mildernde Umstände erwarteten.70 Auch nahmen etliche Reformschriftsteller an, dass der Täter als triebgesteuertes Wesens beim Begehen des Verbrechens gar nicht an die Strafe denke und nur kurzfristig plane: Die Zukunft gehört in den Denkkreis des Bösewichts nicht. Wie könnte ihn also etwas abhalten, an das er gar nicht denkt.71 Zum Sinnbild par excellence für das Scheitern der Abschreckungskonzeption avancierte in

dazu: P. Overath, Tod und Gnade, S. 33 f. Horst-Harald Lewandowski, Die Todesstrafe in der Aufklärung, juristische Dissertation an der Rheinischen Friedrich-Wilhlems Univesität, Bonn 1961, S. 120. 67  Bereits Joseph von Sonnenfels hatte in seinen „Grundsätzen der Polizey-Handlung. und Finanzwissenschaft“ auf das Zarenreich hingewiesen, wo „[…] die Nicht­ vollstreckung der Todesstrafen, wenigstens die Uebelthäter nicht vermehrt“ habe. Dort hatte Zarin Elisabeth 1741, noch vor ihrem Regierungsantritt, versprochen, kein Todesurteil ausführen zu lassen und zwölf Jahre später die Sanktion durch Erlass abgeschafft (vgl. P. Overath, Tod und Gnade, S. 36). Als Negativbeispiele dienten hingegen England, Frankreich und Italien – noch vor den Veränderungen durch Peter Leopold in der Toskana –, wo es trotz der im Vergleich zum Habs­ burgerreich um ein Mehrfaches höheren Hinrichtungszahlen keineswegs gelungen war, die Kriminalität maßgeblich einzudämmen (vgl. H.-H. Lewandowski, Die ­Todesstrafe, S.  101). 68  Vgl. Wolfgang Schild, Der gequälte und entehrte Leib. Spekulative Vorbemerkungen zu einer noch zu schreibenden Geschichte des Strafrechts, in: Klaus Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 149. 69  Ueber die Wiedereinführung, S. 11. 70  Kritik über das willkührige Verfahren, S. 25. 71  Wiener Realzeitung, 47. Stück, 22. Nov. 1785, S. 739 f. 65  Vgl. 66  Vgl.

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der Literatur der direkt unter dem Galgen seinem „Handwerk“ nachgehende Dieb: Es ist wahr, ein öffentlicher, gewaltsamer und mit einem schauderhaften Gepränge begleiteter Tod ist an sich ein erstaunliches Schauspiel; aber nicht für ruchlose Menschen: denn diese schrecken sich so wenig daran, dass sie zum Beispiele, wenn ein Dieb gehenket wird, in demselben Augenblicke auf dem Richtplatze selbst Diebstähle begehen […] Und ist nicht selbst der beständige Fortgang solcher Exekuzionen der sicherste Beweis, dass die lebenden Ruchlosen dadurch nicht gebessert werden?72

VI. Der Gesetzfindungsprozess Auf der Basis der teilweise übereinstimmenden, in vielen Fragen jedoch stark divergierenden Überlegungen in den drei umfangreichen Grundsatzgutachten sowie der Meinungsäußerungen anderer Behörden kam es zu langwierigen Beratungen um das neue Strafrecht.73 Die Mitglieder der Kompilationskommission waren geschlossen der Überzeugung, daß in dem dermaligen Geseze die Todesstrafe wirklichen zu ungemain übertrieben worden, da beinahe jedes Verbrechen zum Tod geeignet erkennet werde. Keeß, Sinzendorf und Martini ausgenommen, äußerten die Juristen jedoch ihre Überzeugung, dass die gänzliche Übergehung der Todesstrafen unmög­ lich an[zu]rathen sei.74 Begründet wurde diese Einstellung zunächst durch den Endzweck aller Strafen, Abscheu und Erspiegelung75, welcher durch keine andere Sanktion besser zu erreichen sei. Dem Einwand, dass die Gedanken an eine in der Vergangenheit miterlebte Hinrichtung keinen ähnlich bleibenden Eindruck hervorrufen würden, als die Erinnerung eines mühe­ seeligen qualvollen Lebensweege[s], wurde der Hinweis entgegengesetzt, dass das kostbarste Geschenk der Menschheit doch das Leben und dessen Verlust schwerwiegender sei als alle anderen Strafen. Die Mehrheit des Gesetzgebungsgremiums (sechs gegen drei Stimmen) sah die Todesstrafe somit als das einzige verläßliche Mittel zur Vertilgung des Verbrechers an, um selben alle Gelegenheit ferners zu schaden für immer zu benehmen.76 Dieser Strafzweck betonte die Gefährlichkeit und das antisoziale Handeln 72  J.

B. W., Uiber die Justizpflege, S. 141. H. Hoegel, Freiheitsstrafe, S. 9. 74  HHStA, Nachlaß Keeß, Karton 1 (1781. Concept eines Vortrages der Compilations Commission bet. die Grundsätze des künftigen Criminal-Gesetzes), § 1. 75  Als „erspiegelnde Strafen“ wurden im eigentlichen Wortsinn diejenigen bezeichnet, welche das Verbrechen anzeigten. Im übertragenen Sinn wird das Wort in den Quellen auch dazu gebraucht, um eine schwerwiegende Strafe als Folge eines Verbrechens zu kennzeichnen und damit generalpräventiv zu wirken. 76  HHStA, Nachlaß Keeß, Karton 1 (Concept, § 1, Tertio). 73  Vgl.



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des Täters und legte das Hauptaugenmerk auf die Sicherheit der Gesellschaft vor weiteren kriminellen Taten. Als Resümee der ersten, noch stark der Tradition verhafteten Meinungsfindung wurde festgehalten, dass die eminenter majora der Kommission es für angeraten hält, daß die Todesstrafen in dem künftigen Kriminalsystem nicht ganz aufgehoben, sondern in den überschweren Verbrechen […] aller­ dings beybehalten, und da, wo sie beybehalten sind auch vollzogen werden sollen.77 Protokolliert wurden jedoch auch die von der Minorität, dem Referenten sowie Martini und Sinzendorf, vertretene gegenteilige Meinung: […] in den künftigen Kriminalsystem könne die Todesstrafe ganz übergan­ gen werden. Ihre Argumente orientierten sich an der im Gutachten Martinis vorgebrachten Ansicht eines nicht vernunftmäßig ausgerichteten, inneren Triebes des Verbrechers: Die Erfahrung beweiset, daß sich ganze Nationen geirret haben, wann sie die Todesstrafen als das sicherste Mittel zu Abhal­ tung der Verbrechen angesehen haben […] und doch zeigt die Geschichte nicht, daß die Missethaten andurch im geringsten ersticket worden wären. Eine dauerhafte Wirkung entfalte die Hinrichtung lediglich bei kleinen Verbrechern, nicht jedoch bei Schwerkriminellen. Daher sei sie, so die Schlussfolgerung der drei Sanktionsgegner, keineswegs in einem Umfang wirkungsvoll, um als ein verläßliches Mittel der Abschreckung angesehen zu werden und hinsichtlich der Strafziele sowohl hinsichtlich der Spezial- als auch der Generalprävention ganz entbehrlich. Die Sicherheit des Gemeinwesens könne auch durch eine strenge Verwahrung garantiert werden. Es würde daher ein allgemeines Ärgerniß seyn, behaupten zu wollen, daß es nicht möglich seye, eine so geringe Zahl der Delinquenten in jener Art zu verwahren, daß sie eben so wenig zu schaden vermögen, als wann selbe wären vertilget worden; Wahr ist, daß diese Verwahrung einige Kosten fordern [wird], weil kein Endzweck ohne Mitteln erreichet werden kann.

Der für die Unterbringung der Delinquenten notwendig erachteten „Bürde des Staates“ stellten Sinzendorf, Martini und Keeß die Millionen Gulden gegenüber, die selbst in Friedenszeiten Jahr für Jahr für den militärischen Schutz gegen äußere Feinde ausgegeben würden. Als einziger der drei Todesstrafengegner wies Keeß nicht nur auf die Möglichkeit hin, die Sanktion im neuen Strafgesetzbuch zu tilgen, sondern betonte die zwingende Notwendigkeit dieser Maßnahme, da das Recht zu tödten als eine Strafe nie­ malens, als ein Sicherstellungsmittel aber nur dann statt haben könne, wann kein anderes zureichendes Mittel ausgefunden werden könnte. Nach einer eingehenden Diskussion der Principiis in Rücksicht der To­ desstrafen wandte sich die Kompilationshofkommission zunächst den Straf77  HHStA, Nachlaß Keeß, Karton 1, 1781. Concept; auch die folgenden Zitate danach.

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arten sowie deren Ausdifferenzierung zu, dann erarbeitete sie einen ersten grundlegenden Katalog des zukünftigen Strafensystems. Sie ging dafür systematisch den zweiten Teil der maria-theresianischen Kriminalrechtsnormen durch, die Artikel 56 bis 102.78 Die Mitglieder der Kompilationshofkommission votierten bei der Besprechung der einzelnen Delikte zum überwiegenden Teil einstimmig für die Streichung der Todesstrafe, nur zu einem geringeren Teil mehrstimmig. Überwiegend vertraten sie die Ansicht, dass für die Verbrechen des Mordes, des Verwandtenmordes und des Feuerlegens die Todesstrafe beibehalten werden sollte, eine Minderheit des Gremiums war auch bei Kindsmord und Straßenraub dafür. Das war auch der Fall für Anstiftung und Rädelsführerschaft bei einem Aufruhr oder Tumult. Am 21. August 1781 erfolgte ein erstes Resümee79 und Joseph II. erhielt die von Keeß verfassten beyläufige[n] Grundrisse des künftigen Gesezes.80 Zur detaillierten Ausarbeitung der neuen Normen bedurfte es in der Folge langwieriger Diskussionen. Im April 1784 verfasste Hofrat Keeß sodann einen Allerunterthenigste[n] Vortrag der Treugehorsamsten Compilations Hof Commission. Die beeden ersten Theile des Kriminal Sistems = nemlich des Kriminalgesez, und der Kriminalgerichtsbarkeit betr.81 Es handelte sich dabei erneut um einen ausführlichen Kommentar zu grundsätzlichen Fragen, bei denen es wiederum hauptsächlich um die Todesstrafe ging. Darauf jedoch folgte im Vortrag von Keeß ein Satz, der die Gesetzgebungsarbeiten in eine völlig neue Richtung lenkte. Das Protokoll vermerkte als Auftrag Josephs II.: Und dennoch haben die von Euer May[estät] ausgezeichnete[n] grundsä­ ze nur den strang zur alleinigen Todesstrafe bestimmet, alle Verschärfungen der Todesstrafe am lebendigen, oder toden Körper eingestellet, und auch diese Todesstrafe ist nur auf die falle des standrechts beschräncket. Die Kommission stand damit vor der Situation, der kaiserlichen Anweisung nachzukommen und die Todesstrafe im Ordentlichen Verfahren aufzuheben. Diese Instruktion ist nicht erhalten, muss jedoch zwischen der zweiten Augusthälfte 1783 und Anfang April 1784 erfolgt sein. Auch nach 78  AVA, Oberste Justizstelle (Protocoll Der Compilations Hof Commission Vom Jahre 1781, Bd. 33, 25. Juli 1781), S. 689–693; ibid., 7. Aug. 1781, S. 703–708: Art. 56–65 CCTh; ibid., 8. Aug. 1781, S. 713–718: Art. CCTh 66–76. 79  Ibid. In dieser Sitzung wurden darüber hinaus die Artikel 77 bis 89 behandelt (S. 736–744); in der nächsten Sitzung vom 22. August 1781 erfolgte die Diskussion der restlichen Artikel der CCTh bis 102. 80  Ibid., vorletzte Seite. 81  HHStA, Nachlaß Keeß, Karton 2a (Schreiben an Joseph II. nach den Sitzungen der Kompilationshofkommission vom 7. u. 14. Apr. 1784). – Auch das folgende Zitat danach.



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einer Begründung für diese Entscheidung sucht man in den Quellen vergeblich. Daher ist zu vermuten, dass dieser revolutionäre Schritt auf der persönlichen Einflussnahme seines Bruders Peter Leopold basierte, mit dem Joseph II. anlässlich seines Italienbesuches vom Dezember 1783 bis März 178482 zusammentraf. Dieser könnte ihn von seiner Auffassung der mangelnden Notwendigkeit der Todesstrafe überzeugt haben, die er seiner zeitgleich durchgeführten Erarbeitung des neuen Strafrechts für die Toskana zugrunde gelegt gelegt hatte. VII. Das „Allgemeine Gesetz über Verbrechen, und derselben Bestrafung“ Nach sechs Jahren und mehreren „Wellen“ intensiver und weniger intensiver Beratungs- und Diskussionstätigkeit lag schließlich nach Dutzenden Kommissionssitzungen, zahlreichen Umlaufverfahren und Korrekturrunden sowie vielfältigen Eingriffen Josephs II. das neue materielle Strafgesetz vor. Es wurde am 13. Januar 1787 sanktioniert und mit Patent vom 2. April 1787 öffentlich bekannt gemacht. Der Kodex bestand aus zwei Teilen, wobei der erste Teil („Von Kriminalverbrechen und Kriminalstrafen“) 184 Paragraphen aufwies, der zweite, gesondert nummerierte Teil („Von politischen Verbrechen und politischen Strafen“) 82 Paragraphen umfasste. Unter diesen fanden sich nunmehr einer Reihe von Tatbeständen, die in der CCTh noch mit schweren Sanktionen, vielfach sogar mit der Todesstrafe bedroht gewesen waren, wie Holz- und Wilddiebstähle, Ehebruch, gewerbsmäßiger Handel mit dem Körper und Kuppelei, Meineid, Gotteslästerung oder die Verleitung von Christen zum Glaubensabfall. Die Tatbestandsgestaltung hatte sich nicht zuletzt mit dem Abgehen von theologischen Begründungen und der neuen Einstellung zu den „Religionsdelikten“83 inklusive der Zauberei und Hexerei somit wesentlich verändert. Die Normen des ersten Teils schufen ein ausdifferenziertes System von harten und langen Freiheitsstrafen. Die Todesstrafe wurde dem Wortlaut des JStG nach – mit Ausnahme des standrechtlichen Verfahrens bei Aufruhr und Tumult (§ 20) – abgeschafft und auf eine Durchführungsart, das Hängen, re82  Die Reise galt vor allem einem – nach dem Wienaufenthalt des Papstes – weiteren Zusammentreffen mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche in Rom zu abermaligen „Verhandlungen“ über Josephs II. Kirchenpolitik (vgl. Hans Magenschab, Joseph II. Revolutionär von Gottes Gnaden, Graz, Wien, Köln 1979, S. 219). 83  Bereits 1782 waren die Justizstellen angewiesen worden, sich nur noch mit solchen Religionsvorfallenheiten zu befassen, die ihnen von den politischen Stellen übertragen worden waren (vgl. Inge Gampel, Staat – Kirche – Individuum in der Rechtsgeschichte Österreichs zwischen Reformation und Revolution (Wiener rechtsgeschichtliche Arbeiten Bd. 15), Wien, Köln, Graz 1984, S. 75.

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duziert. Die schweren Strafen legten die anschließenden Normen fest: § 21 JStG bestimmte: Die weitern Kriminalstrafen, sind Anschmiedung, Gefängniß mit öffentlicher Arbeit, weiters Gefängniß allein, Stock= Karbatsch= und Ruthenstreiche, und Ausstellung auf der Schandbühne. Die drey ersten [sic!] Strafen können nach Beschaffenheit des Verbrechers verschärfet werden, entweder durch die längere Dauer, oder daß damit etwas vereiniget wird, daß sie empfindlicher macht.

Neben diesen Sanktionen, die z. T. als Ersatzstrafen für die Todesstrafe gedacht waren, wurde als dieser am Nächsten stehendes Äquivalent durch § 25 die Strafe der Anschmiedung vorgesehen: Der Verbrecher wird in schwerem Gefängnisse gehalten, und dermaßen enge angekettet, daß ihm nur zur unentbehrlichsten Bewegung des Körpers Raum gelassen wird. Der zur Anschmiedung vernrtheilte [sic!] Verbrecher wird zum öffentlichen Beyspiele alle Jahre mit Streichen gezüchtiget.

Die mit diesem Gesetz in Kraft getretenen Änderungen gegenüber der CCTh basierten auf einer äußersten Rationalisierung des Strafrechts und einer mitleidlosen Abschreckung84, zielten also keineswegs auf die Verminderung oder gar Beseitigung von Strafgrausamkeit und -intensität. Der Körper des Täters blieb weiterhin das vornehmliche Ziel der Sanktionen. Im Rückblick wies Franz von Zeiller – bereits nach der Fertigstellung des neugestalteten Strafgesetzes von 1803 – lakonisch darauf hin, dass die kaiserliche Absicht dadurch zur Gänze realisiert worden war: An die Stelle der Todesstrafe gegen die schwersten Verbrechen trat die (schaudervolle) le­ benslange Anschmiedung.85 Den Juristen wie der Bevölkerung wurde wohl rasch bewusst, dass beim Vollzug der schweren Kerker-Ersatzstrafen sowie der von Joseph II. trotz einiger Widerstände eingeführten Sanktion des Schiffzuges in kurzer Zeit um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben kamen, als zuvor unter der Regierung Maria Theresias hingerichtet worden waren. Zudem wurde die Todesstrafe zwar 1787 durch § 20 des (zivilen) Strafrechts getilgt, doch ein Jahr später durch die „Allgemeine Kriminal= Gerichtsordnung“ (= KGO) auf dem Umweg der Übernahme des Standrechts für Zivilpersonen de facto wieder eingeführt. Im § 239 sah ein Sonderverfahren für die Verbrechen 84  Werner Ogris, Aufklärung, Naturrecht und Rechtsreform in der Habsburgermonarchie, in: Peter Krause (Hrsg.), Vernunftrecht und Rechtsreform (Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte), Hamburg 1988, S. 47. 85  F. E. v. Zeiller, Gesetzkunde, S. 105; vgl. zum naturrechtlichen Gedankengut: Heinz Mohnhaupt, Zeillers Rechtsquellenverständnis, in: Walter Selb, Herbert Hofmeister (Hrsg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751–1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte (Wiener rechtsgeschichtliche Arbeiten Bd. XIII), Wien, Graz, Köln 1980, S. 167–174.



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Raub, Mord und Brandlegung aus Präventionsgründen vor, wenn diese Delikte in einem Bezirke dermassen um sich greifen, daß um dem eingerisse­ nen Uibel Einhalt zu thun nöthig wird, durch standrechtliches Verfahren Schrecken zu verbreiten. Aus den eben angeführten Gründen erscheint die von der Literatur bisweilen als besonders bedeutsam gewürdigte Abschaffung der Todesstrafe durch Joseph II. doch als einigermaßen fragwürdig. VIII. Reaktion und reaktionär – Leopold II. und Franz II. Vieles wurde am neuen JStG bemängelt,86 insbesondere gerieten der schwere Kerker inklusive der Brandmarkung im Gesicht sowie das Schiffziehen ins Kreuzfeuer der Kritik. Selbst der Staatsrat vertrat zu den harten Sanktionen 1790 die Meinung: Wenn man den Sträfling einmal das Leben nicht nehmen will, dann soll es so sein, dass es hart ist aber nicht, dass er zu einem Gerippe wird und in langsamen Martern langsam getötet wird.87 Unter Peter Leopold von Toskana bzw. Kaiser Leopold II., der sich am 25. Februar 1790, einen Tag nach dem Erhalt der Nachricht vom Tod seines Bruders, den Familienmitgliedern gegenüber in Briefen von dessen Politik distanzierte,88 kam es zunächst zu einer Neuorientierung in der habsburgischen Strafrechtspflege. Noch als Großherzog der Toskana hatte er 1787 eine Kommission zur Erarbeitung einer revidierten Version der Leopoldina eingesetzt, die eine Art Synopse aus dem bestehenden toskanischen Kriminalrecht sowie der JStG ausarbeiten und nach ihrem Erscheinen 1788 auch die KGO miteinbeziehen sollte.89 Unmittelbar nach seinem Regierungsan86  Vgl. z. B. Ilse Reiter, Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert (Wiener Studien zu Geschichte, Recht und Gesellschaft Bd. 2), Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2000, S. 96. 87  Zit. Martha Hämmerle, Der Staatsrat unter Kaiser Leopold II., philosophische Dissertation an der Wiener Universität, Wien 1939, S. 124. 88  Vgl. Helga Peham, Leopold II. Herrscher mit weiser Hand, Graz 1987, S. 194. 89  „Nei verbali delle sessioni della Giunta Criminale leopoldina si legge che la commissione ha inteso procedere senza essere necessariamente vincolata al rispetto della normativa preesistente e in modo da ‚profittare di quelle sole materie‘‚ che siano ‚coerenti alli suoi pricipi e di farle proprie adattandole alle sue viste‘. In particolare, i commissari dichiarano di avere utilizzato come principali modelli di riferimento il codice penale austriaco del 1787 (l’Allgemeines Gesetz über Verbre­ chen und derselben Bestrafung) e la raccolta normativa promulgata in Toscana dal granduca Pietro Leopoldo (la cosiddetta Leopoldina del 1786), e aggiungono poi di avere acquisito fra i materiali utili alla stesura del loro progetto alcune copie dell’‚ adattamento […] sul Codice Austriaco de’ delitti e delle pene’ approntato nel 1788 – con il titolo di Piano del codice penale adattato agli usi della monarchia austri­ aca – da una precedente Giunta Criminale istituita da Giuseppe II.“ (Paolo Rondi­ ni, Il progetto di codice penale per la Lombardia austriaca di Luigi Villa (1787).

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tritt setzte Leopold II. eine neue Gesetzgebungskommission zur Prüfung der erlassenen Reformgesetze ein und stellte Martini an dessen Spitze. Die Arbeiten am materiellen und formellen Strafrecht übertrug er Hofrat Matthias Wilhelm von Haan als Referenten.90 Rasch beseitigte er auch die allergrößten Härten des Josephinischen Strafgesetzes durch Einzelmandate: Im April 1790 ließ er die Transporte der Sträflinge zum Schiffziehen einstellen und am 19. Juli 1790 die Strafe formell aufheben,91 im Mai verfügte er zudem die Abschaffung der Brandmarkung, der öffentlichen Züchtigung mit Schlägen und der Anschmiedung, selbst bei den schwersten Kerkerstrafen.92 Sein überraschendes Ableben ließ jedoch die Gesamtreform des Strafrechts an seinen Sohn und Nachfolger Franz II. übergehen, der indes eine Zeit der politischen und rechtspolitischen Restauration einleitete. Eine erste gedruckte Kompilation aus den josephinischen Strafgesetzen und den leopoldinischen Gesetzen stellte der noch sehr unfertige „Entwurf des neuen Strafgesetzbuches“ vom 12. Januar 1793 dar. Den Hinweis in der älteren Literatur, dass zu dieser Zeit von einer Wiedereinführung der Todesstrafe noch keine Rede gewesen sei,93 widerlegt § 22: Die Strafe der Ver­ brechen ist der Tod des Verbrechers, oder dessen Anhaltung im Kerker. Die Paragraphen 43 und 44 behandeln das Criminaldelikt des Hochverraths, dessen sich schuldig macht, wer sich in geheime Gesellschaften einlässt, die auf die Zerrüttung bürgerlicher Ordnung abzielen (§ 43 Zi 3). Die Sanktion legte § 44 fest: Die Strafe dieses Criminalverbrechens, wenn wirklicher Schade erfolget, ist der Tod.94 Auch die Androhung der standrechtlichen Verurteilung, wie sie das JStG geschaffen hatte, wurde in den Gesetzentwurf aufgenommen (§§ 47–50 und §§ 512–525). Die Ergebnisse der folgenden Beratungen stellte Haan am 4. Januar 1794 in einem weiteren vollständigen Entwurf vor. Auch in den danach erfolgten Sitzungen nahm die Frage der Todesstrafe – ganz offensichtlich unter dem Eindruck der politischen Wirren – einen breiten Diskussionsraum ein.95 Die Pietra scarata o testata d ’angolo? (Casi, fonti e studi per il diritto penale, 3 / 29), Padua 2006, S. 6. 90  Vgl. Michael Hebeis, Karl Anton von Martini (1728–1800). Leben und Werk (Rechtshistorische Reihe Bd. 153), Frankfurt / Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996, S. 107. 91  Vgl. Hermann Conrad (Hrsg.), Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II., Karlsruhe 1966, S. 450. 92  Vgl. Alphons von Domin-Petrusheveczh, Neuere österreichische Rechtsgeschichte, Wien 1869, S. 207. 93  Vgl. H. Hoegel, Strafrecht, S. 85. 94  HHStA, Nachlaß Keeß, Karton 3 (Entwurf des neuen Strafgesetzes, undatiert, nach dem 14. Nov. 1792). 95  Vgl. H. Hoegel, Strafrecht, S. 85.



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Mehrzahl der Mitglieder der Hofkommission in Gesetzessachen schlug zu diesem Zeitpunkt die Wiedereinführung der Todesstrafe für drei Delikte vor: neben Hochverrat auch für gedungenen Mord und für Raubmord.96 Dass wenig später kein Gesamtgesetz, sondern mit einer Einzelbestimmung, dem Hofdekret vom 2. Januar 1795, lediglich die Paragraphen 41 bis 48 des JStG abgeändert und damit die auf den Tatbestand des Hochverrats beschränkte Todesstrafe wieder eingeführt wurde, war allerdings nicht das Ergebnis der laufenden Diskussion um die große Strafrechtsreform, sondern eine Folge der 1794 / 95 stattgefundenen Jakobinerprozesse. Die von Franz II. unter dem Eindruck der Französischen Revolution 1793 eingerichtete geheime Polizei, die 1794 eine angebliche Verschwörung von so genannten „Jakobinern“ in Wien und in der Steiermark aufgedeckt hatte, führte gegen den geheimen Zirkel ausgedehnte Ermittlungen durch.97 Anfang Oktober 1794 war die Voruntersuchung beinahe abgeschlossen und den Prozess sollte nach dem Willen des Kaisers zunächst eine Hofkommission unter dem Vorsitz des Präsidenten der Obersten Justizstelle, Leopold Graf von Clary und Aldringen, führen. Der Absicht des Kaisers, die vermeintlichen Staatsverbrecher durch Urteile eines – gesetzlich nicht vorgesehenen – Sonder­ gerichtshofes, eines außerordentlichen Tribunals für politische Prozesse, (mit dem Tod) bestrafen zu lassen, stand allerdings die schwergewichtige Meinung von Hofrat Martini und das von ihm formulierte „Machtanspruchs­ verbot“98 entgegen. Dieser brachte in einem Vortrag vom 15. Oktober 1794 eine Reihe von Argumenten vor, die in der Feststellung gipfelten, dass ein solches Vorgehen klar gesetzwidrig sei.99 Martini widerlegte die Rechtsgültigkeit des geplanten Verfahrens überzeugend, sodass der Kaiser nach der einhelligen Zustimmung des zum Gutachten befragten Staatsrates die Einrichtung eines Sondergerichts widerrief und den Ordentlichen Rechtsweg einschlagen ließ. M. Hebeis, Martini, S. 114. zu den Wiener Jakobinern vgl. z. B.: Ernst Wangermann, Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, Wien, Frankfurt, Zürich 1969. 98  Vgl. dazu Heinz Barta, Karl Anton von Martinis bleibende Bedeutung für die österreichische und europäische Rechtswissenschaft, in: derselbe, Günther Pallaver (Hrsg.), Karl Anton von Martini. Ein österreichischer Jurist, Rechtslehrer, Justizund Bildungsreformer im Dienste des Naturrechts (Recht und Kultur Bd. 4), Wien, Berlin 2007, S. 103: Martini vertrat die Ansicht, dass ein gerichtlicher „Rechtsanspruch“ nicht durch einen „Machtanspruch“ aufgehoben werden könne bzw. dass ein solcher auch während eines laufenden Verfahrens nicht gefällt werden dürfe. Das bedeutete nicht zuletzt die Ablehnung des Grundsatzes, dass der Regent über den Gesetzen stehe. 99  Edition dieses „Allerunterthänigsten Vortrags“ bei: E. Wangermann, Jakobinerprozesse, S. 217–223. 96  Vgl. 97  Vgl.

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War damit die drohende Kabinettsjustiz und gesetzwidrige Verhängung der Todesstrafe zumindest für die Zivilisten des Zirkels verhindert worden, so kam es dennoch nach den Prozessen dazu, dass Graf Clary Kaiser Franz II. auf die Notwendigkeit hinwies, die Todesstrafe für Hochverrat zum Schutz der Monarchie vor revolutionären Strömungen möglichst rasch gesetzlich zu verankern.100 Dieser setzte hierauf ein behördenübergreifendes Gremium bestehend aus Mitgliedern der Obersten Justizstelle, des Direktoriums und der Gesetzgebungskommission ein, das die entsprechenden Bestimmungen ausarbeitete. Bereits im Januar 1795 trat die neue Regelung in Kraft, die in der Präambel dezidiert auf die Zeitereignisse als Ursache für diese Norm hinwies: […] so sehen Wir [Franz II.] Uns doch durch die gegenwärtigen Zeitum­ stände in die Nothwendigkeit versetzet, dieser Neigung [gelinde Strafen zu verhängen] Einhalt zu thun, und von der ganzen Strenge wider das Verbre­ chen Gebrauch zu machen, welches die Bande des Staates, und in demsel­ ben die gemeinschaftliche Ruhe und Sicherheit unmittelbar angreift, sogleich die bürgerliche Vereinigung in ihrem Hauptzwecke störet.101 Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der sechs Paragraphen des neuen Einzelgesetztes wurden die §§ 41–48 des JStG aufgehoben. Die beiden entscheidenden Normen schützten den Regenten wie den Staat in gleicher Weise, wobei nunmehr – entgegen den Entwürfen – auch der Versuch als todeswürdig erachtet wurde: […] erklären Wir hiermit: §. 1. Daß derjenige das Kriminalverbrechen des Hochverrathes begehe: a) der die persönliche Sicherheit des Oberhauptes des Staates verletzet; b) der etwas unternimmt, was auf eine gewaltsame Umgestaltung der Staatsverfassung, oder auf Zuziehung oder Vergrößerung einer Gefahr von außen gegen den Staat angelegt wäre … §. 2. Auf dieses Kriminalverbrechen, wäre es auch ohne erfolgten Schaden, nur allein bei dem Versuche geblieben, wird hiermit die Todesstrafe verhänget, welche mit Hinrichtung des Verbrechers durch den Strang vollzogen werden soll.102

100  Vgl. dazu E. Wangermann, Jakobinerprozesse, S. 193; Elgin Drda, Die Entwicklung der Majestätsbeleidigung in der Österreichischen Rechtsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Ära Kaiser Franz Josephs (Dissertationen der Johannes Kepler-Universität Linz 100), Wien 1992, S. 76. 101  Ueber Hochverrath und dessen Bestrafung, Wien 2. Jan. 1795 (zit. nach: Sr. K. k. Majestät Franz des Zweyten politische Gesetze und Verordnungen für die Oesterreichischen, Böhmischen und Galizischen Erbländer, 4. Bd., Wien 1817, S. 1). 102  Ibid., S.  2 f.



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IX. Die Fortsetzung des neuen Dis-Kurses Wie erwähnt, war die Mehrzahl der Mitglieder der Hofkommission für Gesetzessachen aus überwiegenden Gründen der Notwendigkeit für die erweiterte Wiedereinführung der Todessstrafe. Neben dem Hochverrat sollte sie auch für gedungenen Mord und Raubmord angedroht werden, also auf diejenigen Verbrechen eingeschränkt, welche nur mit voller Überlegung ausgeführt werden können und bei ihrem höchst gefährlichen Einflusse auf die öffentliche und Privatsicherheit der öffentlichen Verwaltung diese Stren­ ge abnötigen.103 Der 1794 verfasste Entwurf für das neue Strafgesetzbuch wurde nach einer Überarbeitung durch die neu eingesetzte Strafrechtskommission durch das Patent vom 17. Juni 1796 (nach der dritte Teilung Polen und der Eingliederung in das Habsburgerreich) für Westgalizien in Kraft gesetzt,104 sah allerdings die Todesstrafe auch bereits für Mord und Raub vor.105 Das ab 1. Januar 1797 geltende Gesetzeswerk wurde allerdings rasch als zu wenig ausgereift und fehlerhaft angesehen und eine weitere Überarbeitung beschlossen.106 Nicht nur die Anregungen Franz II., sondern auch viele der Änderungsvorschläge der untergeordneten (Länder-)Stellen fanden – durchaus in beachtenswertem Umfang – Aufnahme in die Entwürfe der folgenden Jahre.107 Nach den April- und Maisitzungen des Jahres 1802 und der Zustimmung durch das Staatsministerium war das neue Strafrecht bis zur Beschlussfassung gediehen,108 wobei die veränderte politische Lage einer Publikation zunächst entgegenzustehen schien. Allerdings wurde nunmehr – im Widerspruch zu den bisherigen Diskussionen – kaiserlicherseits der Auftrag erteilt, die Todesstrafe noch für weitere Verbrechen, insbesondere für Kreditpapierfälschung, vorzusehen. Hatte dieses Delikt bereits in das JStG Eingang gefunden, so betraf es nun ein aktuelles, gravierend gewordenes finanzpolitisches Problem. Nach der Einführung der Wiener Banco-Obligationen 1762, die zunächst in der Endphase des Siebenjährigen Krieges nur als vorübergehende Kriegsfinanzierungsmaßnahme gedacht gewesen war,109 wurde auch in den 1770er- und 1780er-Jahren wiederholt zu diesem Finanzierungsmittel gegriffen. Dabei nach Fr. Hartl, Grundlinien, S. 39. I. Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung, 2. Bd. (1792–1848), Innsbruck 1898, S. 201 f. 105  Vgl. E. Drda, Majestätsbeleidigung, S. 75. 106  Vgl. I. Reiter, Ausgewiesen, S. 97. 107  Vgl. Fr. Hartl, Grundlinien, S. 37. 108  Vgl. H. Hoegel, Strafrecht, S. 88. 109  Vgl. Josef Raudnitz, Das österreichische Staatspapiergeld und die Privilegierte Nationalbank 1762–1820, Wien 1917, S. 1 f. 103  Zit.

104  Vgl.

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kam es wegen der Höhe der schließlich gar nicht mehr offen gelegten Emissionsbeträge – 1794 waren es noch 44 Millionen Gulden, zu Jahresende 1801, nachdem der Geldbedarf durch die Kriege gegen Frankreich weiter gestiegen war, bereits 519 Millionen Gulden –110 spätestens ab den 1790erJahren zu einem markanten und sich weiter verstärkenden Vertrauensschwund in die Währung sowie zu Inflationserscheinungen. Die Fälschungen von Bankozetteln ab dem Ende des 18. Jahrhunderts führten zu einer zusätzlichen „Kreditschädigung“ des Papiergeldes bzw. zu einer ernsten Gefährdung des staatlichen Währungssystems,111 was zur Folge hatte, dass das Verbrechen nach dem JStG (§§ 63–67)112 1796 bereits ins Westgalizische Strafgesetz (§ 81) aufgenommen wurde. Die Frage, ob eine strengere Bestrafung dieses Delikts überhaupt Wirkung entfalten konnte, verband Franz II. in einem Schreiben vom 12. Januar 1802 mit der Überlegung, ob betont strenge gesetzliche Bestimmungen gegen die Bankozettel-Fälschungen nicht möglichweise einen unvorteilhaften Einfluss auf das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung haben könnten.113 In ihren Anmerkungen stellte die zur Stellungnahme aufgeforderte Böhmisch-Österreichische Hofkanzlei fest: Vorzüglich kommt es auf die Frage an, ob ein dergleichen neues Patent zu erlassen sey? Denn a.) gibt die Regierung mit jedem wie immer abgefaßten Gesetze, wodurch die Strafe verschärfet wird, öffentlich zu erkennen, daß viele falsche Zetteln gemacht wurden. Eben durch diesen in das Publicum übergehenden ­Begriff wird das Mißtrauen gegen die Bancozettel erwecket, und, wo es sich schon äussert, sehr gesteifet [sic!] worden. Es fordert also genaue Abwägung, ob man nicht die Vermeidung dieses gewissen Nachtheils der ungewissen Hoffnung des Vortheils den ein verschärftes Strafgesetz hervorbringen soll, vorziehen wolle […]114 110  Ibid.,

S. 9 u. 29. Elke Hammer-Luza, „Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“ Faschmünzerei und Geldfälschung in steirischen Gerichtsakten des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Markus Steppan / Helmut Gebhart (Hrsg.), Zur Geschichte des Rechts. Festschrift für Gernot Kocher zum 65. Geburtstag (Grazer Rechtswissenschaftliche Studien Bd. 61), Graz 2006, S. 147; vgl. auch Josef Raudnitz, Italienisch-französische Bankozettelfälschungen, I. Teil: Die Bankozettelfälschungen im Gebiet der zisalpinischen Republik, in: Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 108 (1920), S. 69–125. 112  Das JStG unterschied in den §§ 63–67 und §§ 68–75 das Verbrechen der Verfälschung öffentlicher Staatspapiere sowie die Münzfälschung, wobei das erstere Verbrechen als gefährlicher eingestuft und mit einem wesentlich höheren Strafausmaß belegt wurde. 113  AVA, Oberste Justizstelle, Hofkommission, Fasz. 193 / 4 (Schreiben von Kaiser Franz II. v. 12. Jan. 1802). – Sämtliche folgende Quellenhinweise stammen aus diesem Bestand. Da es sich um stark geschädigte Brandakten handelt, lassen sich bei den meisten Schriftstücken Name und Datum der Abfassung nicht mehr entziffern. 114  Restliches Schreiben durch Brand stark beschädigt, Datum nicht lesbar. 111  Vgl.



Diskurse um die Todesstrafe357

Trotz der begründeten Bedenken der Behörde befahl der Kaiser schließlich, nicht nur für die vollendete Tat, sondern bereits für den Versuch im Gesetz den Tod durch den Strang anzudrohen: Da die gemeine Wohlfahrt es erfordert, daß die Wiener Stadtbancozettel so wie sie baares Geld vorstellen, also auch in diesem Credit auf das Kräftigste geschetzet, folglich jede auf eine Betrüglichkeit gerichtete Unternehmung mit den schärfsten Strafen beleget werde; so geben Wir darüber folgendes Gesetz: I. Wer einen Wiener Stadtbancozettel nachzumachen unternimmt, das Vorhaben mag zu Stande kommen oder nicht, es mag daraus die Beschädigung einer Kasse oder eines Dritten erfolgen oder nicht, der soll mit dem Strang hingerichtet werden. II.  Die gleiche Todesstrafe wird gegen denjenigen verhänget, welcher die bey den Bancozetteln gewöhnlichen Wappen nachsticht, Papier, Stempel, Matritzen, Buchstaben, Pressen, oder was immer zur Hervorbringung derley falschen Zettel dienen kann, obgleich nur in einem einzelnen Stücke, verfertiget und dem Verfälscher zum Vorschub der Verfälschung wissentlich überliefert, oder zu verfertigen und zu überliefern unternimmt, oder auf was immer Art zur Verfälschung mitwirket, wenn gleich seine Mitwirkung ohne Erfolg geblieben wäre.115

In einer kaiserlichen Note an das Gesetzgebungsgremium deponierte Franz II. seine Überzeugung, dass die gegenwärtig bestehende auch schwerste Kerkerstrafe auf Bösegesinnte [… keineswegs] so kräftig, als die vormahls bestandene Todesstrafe wirke116 und es daher geboten sei, diese Sanktion wiederum für eine erweiterte Anzahl von Delikten einzuführen. Bei der kaiserlichen Definition der Strafziele wurde – ähnlich wie von den Todesstrafen-Befürwortern der 1780er-Jahre – der von den Reformschriftstellern seit Jahrzehnten eingeforderte Besserungsaspekt zugunsten der Abschreckung hintangestellt und dessen Sinnhaftigkeit angezweifelt. Der Zweck der Kriminal Strafen, so ist im Votum von Hofrat Josef Hyacinth Ritter von Froidevo, der im Juli 1802 mit der Endredaktion des Gesetzentwurfs beauftragt wurde, klar präventivorientiert zu lesen, ist nicht die Bes­ serung des Verbrechers, denn es gibt mehrere die schon zwey, drey und mehrmale gestraft worden sind, und mit allen Grund für unverbesserlich zu halten sind […] Kriminalstrafen, wenn sie taugliche Mittel zum Zwecke sein sollen, müssen dem Volke den deutlichsten Begriff von der Strafe in ihrem ganzen Umfange geben.117 Als geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sah Froidevo die öffentliche Publikation an: 115  Schreiben von Kaiser Franz II. (ein Großteil des Schriftstücks inklusive des Datums ist zerstört). 116  Note von Kaiser Franz II. o. D. (wahrscheinlich v. 9. März 1802, da in einem späteren Schreiben auf einen Brief dieses Datums hingewiesen wurde). 117  Votum von Hofrat Froidevo (Datum unleserlich).

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Gerhard Ammerer

… so ist es Pflicht, sie [die Strafurteile] so viel möglich bekannt zu machen, und sie zu diesem Ende mit den nöthigen Erklärungen in Kupfer stechen zu lassen […] Entgegen gibt das einzige Wort: Strang den deutlichsten Begriff von der Strafe; der Eindruck, den sie zurückläßt, ist unauslöschlich, […] endlich kann es nicht unverhältnismäßig seyn, einem Bösewicht das Leben zu nehmen, um es mehreren Guten zu retten.118

Froidevos Meinung nach bedurfte es zur Erzielung der abschreckenden Wirkung also gar nicht mehr der Anwesenheit des Publikums bei der Exekution der Todesstrafe, sondern der Publizität, woraus der erwünschte psychologisch-prohibitive Zwang resultieren sollte. Im Gesetzentwurf des Jahres 1802 fanden sich diese Zielvorstellungen sowie der kaiserliche Entschluss, die Todesstrafe für diejenigen Fälle wieder einzuführen, die in Hinsicht sowohl auf das allgemeine als auf privat Per­ sonen, von äußerster Wichtigkeit sind, nämlich auf Mord, Brandlegung, Nachahmung der Bankozettel und Raub.119 Den Entwurf versah Franz II. allerdings mit der einschränkenden Bemerkung: Es hat aber hiebei die Hofkommission zugleich sich gegenwärtig zu halten, daß auf keine Todesstrafarten, oder Strafzusätze, welche die Menschheit beleidigen, oder bei dem Publikum, anstatt des Beispiels, Abscheu erregen, angetragen, und daß in dieser Hinsicht auch z. B. die Strafe des Rädern von unten herauf weggelassen werde.

Dieser Hinweis musste erstaunen, denn in Gesetzgebungsgremien war die Einführung verschärfter Todes Strafen bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht diskutiert worden. Den Anstoß zu diesen Debatten lieferte der vom Kaiser zur Durchsicht und Bearbeitung des Strafrechtsentwurfs beauftragte Hofrat Pitrich, welcher, wenn es zur Handhabung der öffentlichen Sicher­ heit nothwendig erscheinen sollte, für die Rückkehr zu den Zusatzstrafen am lebenden und toten Körper eintrat, wie sie noch die CCTh normiert hatte. Wenn die Sanktionen im Stande seien, diesen abschrökenden Beweg­ grund zu vermehren, so liegt in der selben Einführung eben so wenig Ver­ letzung der Gerechtigkeit, als in den verschiedenen Graden der bestehenden Leibes Strafen. Und ich halte dafür, Sie würden den abschrökenden Beweg­ grund vermehren.120 Diese reaktionären Vorschläge wurden auf Anweisung des Kaisers sämtlichen Kommissionsmitgliedern zugestellt und im Umlaufverfahren behandelt. Zwei Monate später waren zwei weitere Gutachten zum Gesetzentwurf fertig gestellt: Ein Votum vom 2. August 1802, das wahrscheinlich aus der 118  Ibid.

119  Brandakt

120  Schreiben

o. D. (wahrscheinlich 2. Juni 1802). zum Patent-Entwurf von Hofrat Pitrich v. 2. Juli 1802.



Diskurse um die Todesstrafe359

Feder von Franz von Zeiller stammte, fasste die Hauptergebnisse der aktuellen Diskussion zusammen und nahm dazu kritisch Stellung.121 Vor allem gab er seiner Entrüstung Ausdruck, dass die Wiedereinführung verschärfter Todesstrafen innerhalb der Hofkommission in Gesetzessachen niemals zur Sprache gekommen war und äußerte starke humanitäre Bedenken, die argumentativ stark an die josephinische Zeit erinnern: Allerdings muß die Gerechtigkeit sich in Strafen ernsthaft, streng zeigen. Aber jeder Schein der Härte, der Marterung ist unter ihrer Würde. Sie muß sich in den Schranken der Menschlichkeit halten, und daher auch den Schein der Neigung vermeiden, als ob sie dem Verbrecher noch mehr Übel anthun möchte, als in ihrer Macht steht. Verschärfte Todesstrafe ist eine Erklärung der Unzufriedenheit mit dem Anthun des Todes; und doch ist der Tod das höchste Übel. Das Höchste kann man nicht noch höher treiben wollen […] Das Abhauen der Hand, welches nur für Weibspersonen vorbehalten seyn soll, ist für die Unglückliche, deren Kopf zugleich fallen muß, unbedeutend. Alle übrigen Vorgänge, das Flechten auf das Rad, Verbrennen an einem Scheiderhaufen, Aufstecken des Kopfes und der Hand auf einem Pfahl, halten sich nur an den todten Körper, und geben nur ein Schauspiel für den zulaufenden höheren und niedereren Pöbel ab, der seinen Vorwitz daran weidet, und wovon ein Theil weil der Hartherzigkeit daraus anziehet, ein Theil Eckel und Abscheu dawider fasset, ein Theil den geschafften Eindruck schon auf der Stelle durch neue Diebstähle wiederleget […] Nachdem uns aber ein Zeitalter zu theil geworden, in welchem so viele Vorurtheile der finsteren Vorzeit verbannet, so viele Cultur in die Verfeinerung der Sittlichkeit geleget, so heilsame Vorsichten zur Vorbeugung der Übelthathen angekehret, und die Humanität allgemein so sehr empor gehoben worden ist,

so Zeiller in Anspielung auf die gängige Licht-Schatten-Metaphorik der Aufklärung, sei die Wiedereinführung von Schaugeprängen und postmorta­ len Strafzeremonien zutiefst anachronistisch. Die gleiche Meinung vertrat Joseph von Sonnenfels in seiner Erinnerung zur vorgeschlagenen Verschärfung der Todesstrafe. Ein solches Gesetz sei des Kaisers nicht würdig und schade ihm in den Augen Deutschlands, ja ganz Europas.122 In seinen Änderungsvorschlägen äußerte er sich – unter mehrheitlicher Zustimmung der 121  Votum v. 2. Aug. 1802 zur höchsten Resolution v. 2. Juni 1802 (Unterschrift verbrannt): „Diese Resolution enthält zwey Haupt-Sätze: Erstens: Es soll die Todes­ strafe auf die darin benannten Verbrechen, nämlich den Mord nach allen seinen Gattungen  / : mit alleiniger Ausnahme der von einer Weibsperson an ihrem uneheli­ chen Kinde in der Geburt ausgeübten Mordes : /  die Brandlegung, wenn ein Mensch dabey umgekommen ist, die Bancozettel-Nachahmung, und wissentliche Verbreitung derselben, verhänget, und schon jetzt ein besonderes Patent darüber erlassen wer­ den. Zweytens: Es sollen in diesem Patente auch wieder verschärfte Todesstrafen nach dem Grade der Imputation aufgestellet werden.“ Auch die folgenden Zitate aus diesem Schreiben. 122  „Erinnerung“ von Joseph von Sonnenfels zur Frage der Verschärfung der Todesstrafen v. 3. Aug. 1802 (Konzept).

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Mitglieder der Hofkommission in Gesetzessachen – noch einmal ablehnend gegenüber den Vorschlägen für eine Verschärfung der Todesstrafe.123 Zeiller legte den redigierten Strafrechtsentwurf am 12. Februar 1803 vor,124 der nach einer letzten Redaktionssitzung im engsten Kreis am 14. Februar mit nur noch geringfügigen Änderungen die kaiserliche Zustimmung erhielt. Am 3. September 1803 wurde das Patent unter dem Titel „Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey= Uebertretungen“ vulgo Franciscana publiziert und trat mit 1. Januar 1804 in allen Ländern der Habsburgermonarchie in Kraft.125 Den Normen voran ging ein Promulgationspatent, das die vor allem von Franz von Zeiller vertretene Meinung darlegte, dass sich die Gesetzgebung nach den sich verändernden Verhältnissen zu richten und auch die erworbenen praktischen Erfahrungen, die Fortschritte in der Wissenschaft und die Entwicklung der Kultur zu berücksichtigen habe.126 Die wesentliche Ausweitung der Todesstrafe, die sich in sieben Paragraphen fand,127 wurde damit begründet, dass es sich um Verbrechen handle, die eine schwerwiegende Gefährdung der privaten oder öffentlichen Sicherheit darstellten und nur für diejenigen Verbrechen angedroht werde, welche nur mit voller Ueberle­ gung ausgeführet werden können, und bey ihrem höchst gefährlichen Ein­ flusse auf die öffentliche und die Privat=Sicherheit der öffentlichen Verwal­ tung diese Strenge abnöthigen128, nämlich für Hochverrat (§ 53)129, die Herstellung und Ausgabe gefälschter Kreditpapiere / Bankozettel (§§ 94 und 95), Mord und räuberischen Todschlag (§§ 119 und 124), schwere Brandstiftung (§ 148a) und, wie schon im JStG, für das Verbrechen des Aufruhrs im Rahmen des Standrechts (§ 67). Die Todesstrafe war damit im Sanktionskanon 123  Schreiben

an den Kaiser o. D. (unvollständiger Brandakt, ohne Datum 1803). H. Hoegel, Strafrecht, S. 89. 125  Vgl. Fr. Hartl, Grundlinien, S. 37. Das Gesetz regelte materielles Strafrecht und Verfahrensrecht, wobei zwischen dem Verfahren bei Verbrechen (1. Teil, 2. Abschnitt) und bei schweren Polizei-Übertretungen (2. Teil, 2. Abschnitt) unterschieden wurde (vgl. H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 450 f.). 126  Vgl. Lesław Pauli, Die Bedeutung Zeillers für die Kodifikation des Strafrechtes unter besonderer Berücksichtigung der polnischen Strafrechtsgeschichte, in: W. Sel / H. Hofmeister, Forschungsband Franz von Zeiller, S. 183. 127  Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen, §§ 53, 67, 94 f., 119, 124, 148a. 128  Ibid., Präambel. 129  Ibid., § 52: „Das Verbrechen des Hochverrathes begeht: a) Der die persönli­ che Sicherheit des Oberhaupts des Staates verletzet. B) Der etwas unternimmt, was auf eine gewaltsame Veränderung der Staatsverfassung, auf Zuziehung oder Vergrö­ ßerung einer Gefahr von Außen gegen den Staat angelegt wäre; § 53: Auf dieses Verbrechen, wäre es auch ohne allen Erfolg nur bey dem Versuche geblieben, wird die Todesstrafe verhängt.“ 124  Vgl.



Diskurse um die Todesstrafe361

des Ordentlichen Verfahrens wieder fest etabliert, wenngleich es noch keinerlei Ausführungsbestimmungen gab. Am 3. November 1803 wurde zusätzlich ein Zirkulare In Ansehung der durch das mit 1ten Jänner 1804 in Ausübung kommenden neuen Strafge­ setz auf mehrere Verbrechen bestimmte Todesstrafe130 gedruckt und bis zum Dezember verschickt. Als erstes, signifikantes Schlagwort findet sich in der fünften Textzeile das Substantiv Beruhigung. Das Schreiben sollte die Information vermitteln, dass seit der Abschaffung der Todesstrafe durch das josephinische Strafgesetz die Anzahl der Verbrechen sich nicht ver­ mehrt [und] dass also diese Erweiterung, keineswegs auf den allgemeinen Karakter der Nazion Beziehung habe. Die Anwendung der Todesstrafe werde zukünftig die Ausnahme darstellen, doch befinde es der Gesetzgeber für nötig, diese Strafe für Verbrecher wieder einzuführen, deren zum Bösen verhärtete Gemüthsart unverkennbar aus der Gräßlichkeit der Handlungen, die sie auszuüben fähig sind, hervorleuchtet, und der öffentlichen Verwal­ tung diese Strenge abnöthiget. In der Gerichtspraxis angewandt solle die Sanktion nur bei hartnäckigen Bösewichte[n] werden, bei denen auf keine Besserung mehr zu hoffen sei; dem gemeinen Wesen [könne] nur ihr Tod Sicherheit gewähren. Damit hatte sich als Strafzweck die Sicherung der staatlich organisierten Gesellschaft gegen Bedrohungen und Störungen durchgesetzt, die nicht mehr (nur) auf die Straftat, sondern auf die Gefährlichkeit des Täters und dessen antisoziales Handeln ausgerichtet war. Damit war auch der „Erziehungsenthusiasmus“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts endgültig vorüber. Von der Auffassung, dass jeder Verbrecher, auch der Schwerverbrecher, als moralisch Kranker (Heinrich Balthasar Wagnitz)131 anzusehen und daher besserungswürdig und -fähig sei, war wenig übrig geblieben. Die Richter handhabten in der Folge in ihren Urteilen die Todesstrafe vorsichtig. Auch griff wiederum häufig das Gnadenrecht. Untermauert durch die Statistik der strafrechtlichen Verurteilungen der Jahre 1809 bis 1813 130  Wienbibliothek im Rathaus, Circulare und Kreisschreiben / k. k. Landesregierung im Erzherzogthume Oesterreich unter der Enns C 227.203 (Zirkulare, Wien 3. Nov. 1803), o. S.; die folgenden Zitate danach. 131  H(einrich) B(althasar) Wagnitz, Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Nebst einem Anhange über die zweckmässigste Einrichtung der Gefängnisse und Irrenanstalten, Bd. 1. Halle 1791, S. 305; vgl. auch: Gerhard Ammerer / Alfred Stefan Weiss, Von der strafenden Arbeit zur moralischen Gesundung. Der Gedanke der „Besserung“ im Alltag der Zuchthäuser und Gefängnisse am Beispiel Österreichs in der Zeit um 1800, in: Silke Klewin, Herbert Reinke, Gerhard Sälter (Hrsg.), Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Zeitfenster. Beiträge der Stiftung sächsischer Gedenkstätten zur Zeitgeschichte, Heft 3), Leipzig 2010, S. 99–113.

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Gerhard Ammerer

kam der spätere Rektor der Wiener Universität und Vizepräsident des Niederösterreichischen Appellationsgerichts Carl Joseph Pratobevera 1815 zum Schluss, daß man in der Anwendung dieser Strafe mit einer preiswürdigen Schüchternheit verfährt.132 Mit 28 vollzogenen Hinrichtungen in sämtlichen Erbländern in diesen vier Jahren lagen die Zahlen weit unter denen der maria-theresianischen und – bewertet man die Verurteilungen zum Schiffzug und den schweren Kerker in Ketten als „Todesstrafe auf Raten“ – erst recht zur josephinischen Zeit. Abstract The discourse on capital punishment: the Criminal Code evolution from Maria Theresa through Joseph II to Franz II A brief review of the penal codes issued under Maria Theresa, Joseph II and Franz II (1768 / 69, 1787 and 1803, respectively) during the period of just one generation of lawyers has shown that these codes were quite different from each other as to their content. This was due to the diverging imperial concepts and instructions to the groups of experts, and also to the overall social conditions and to the specific work done by the leading lawyers. Although the pure compilation of articles on material law from the Provincial Law issued by Ferdinand III in 1656 and that of the formal law standards from Joseph I’s Penal Code of 1707 constituted the very first penal code codification for the entire Habsburg territory, these legal standards were already at the time of their appearance fully anachronistic. For instance, the „Constitutio Criminalis Theresiana“ required capital punishment for 42 crimes whose legitimacy was already discussed all over Europe. The following rapid change of paradigms under Joseph II was based on the „classics“ of natural law: Charles-Louis de Montesquieu, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Wolff, etc., and of particular importance proved to be the works by Cesare Beccaria, Joseph von Sonenfels, and Karl Anton von Martini. An important model was the Italian practice in Tuscany. Probably inspired by his brother Leopold holding there the 132  Carl Joseph Pratobevera, Nachrichten. Ueber die neueste Criminal- und Civil-Justizpflege in den Deutschen Oest. Erbstaaten nebst dazu gehörigen Tabellen (I. Criminal-Justizpflege mit der dazu gehörigen Tabelle Nr. I.), in: ders. (Hrsg.), Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege, in den Oesterreichischen Erbstaaten, Wien 1815, S. 254, Tabelle der geschöpften Urteile: S. 253.



Diskurse um die Todesstrafe363

secondo genitur office Joseph II made an unexpected turn amidst the work on a new code, abolished the capital punishment in the Civil Penal Code (formally) and limited the sanctions in Military Penal Code to the gallows. When the General Code of Crimes and Their Punishment was published on 2 April 1787, it revealed strong features of its initiator, Joseph II, and brought a new legal assessment of a number of crimes. Under his successors, Joseph’s brother Leopold II and Leopold’s son Franz II, many of his new features were abolished in several stages, ranging from the removal of the most severe stipulations from the 1787 Penal Code by respective mandates of Leopold II, through the reintroduction of capital punishment in regular trial for high treason after the Jacobin processes of 1795, to its extension to several crimes (issue and distribution of faked credit documents / Bankozettel, murder and killing in the course of robbery, felonious arson, and rebellion under martial law) incorporated in the „Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen“ issued in 1803.

Die Abschaffung der Tortur und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Strafprozessrechts in den böhmischen Ländern und in Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert Petr Kreuz Die Anfänge der Tortur1 als Prozessmittel sind im Recht der antiken Staaten zu suchen.2 Im antiken Griechenland und in der Römischen Republik durften der Tortur nur Sklaven unterworfen werden, falls sie selbst ein Verbrechen begangen hatten. Die Tortur von römischen Bürgern wurde erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts u.Z. zugelassen, zunächst nur für den Verrat, später auch für andere belangvolle Verbrechen (wie Giftmord, Zauberei und Ehebruch).3 In der Kaiserära war die Tortur auch Objekt des Interesses der klassischen römischen Jurisprudenz. Die römische Auffassung der Tortur wurde dann in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts in den justinianischen Kodifikationen, insbesondere in den Digesta zusammengefasst.4 Die Tortur als Prozessmittel setzt sich im mittelalterlichen Europa während der Rezeption des römischen Rechts im 13. und 14. Jahrhundert durch. Die Einführung, bzw. Wiedereinführung der Tortur ist mit der Herausbildung und weiteren Gestaltung des Inquisitionsprozesses eng verbunden.5 Dieser Prozess begann an der Wende des 12. Jahrhunderts unter dem Pontifikat des Papstes Innozenz III. (1198–1216) mit einer Änderung des in der Kirche bislang üblichen Infamationsprozesses. Mit dem Inquisitionsprozess kam es zu einer wesentlichen Rationalisierung der Rechtspflege, denn ge1  Zur Geschichte der Tortur in Europa siehe, neben der inzwischen teilweise veralteten Arbeit von R. Quanter (Rudolf Quanter, Die Folter in der deutschen Rechtspflege sonst und jetzt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Strafrechts, Dresden 1900, reprint Aalen 1970) und der ein wenig oberflächlichen Standardarbeit von E. Peters (Edward Peters, Torture, 1. Aufgabe, New York 1985; deutsche Übersetzung ders., Folter. Geschichte der peinlichen Befragung, Hamburg 1991), letztlich insbesondere die Monographie von R. Zagolla (Robert Zagolla, Im Namen der Wahrheit. Folter in Deutschland vom Mittelalter bis heute, Berlin 2006). 2  E. Peters, Folter, S. 33–48; R. Zagolla, Im Namen, S. 21–22. 3  Edward Peters, Folter, S. 42–63; R. Zagolla, Im Namen, S. 22–24. 4  Edward Peters, Folter, S. 47–60; R. Zagolla, Im Namen, S. 23–24. 5  Dazu im Allgemeinen Robert Zagolla, Im Namen, S. 34–38.

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Petr Kreuz

genüber den früheren Verfahrensformen wurden die irrationalen Beweismittel völlig abgelehnt. Ihm zugrunde lagen die Ermittlung (inquisitio) als Tool zur Feststellung der materiellen Wahrheit und der Einsatz von rationalen Beweismitteln.6 Ab Anfang der 30er Jahre des 13. Jahrhunderts wurde der Inquisitionsprozess als Verfahrensform gegen die der Ketzerei verdächtigen Personen angewendet. Die Tortur selbst, obwohl sie als wesentlicher Bestandteil und charakteristischer Zug des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inquisitionsprozesses gilt, wurde als Beweismittel in Verfahren gegen die der Ketzerei verdächtigen Personen erst vom Papst Innozenz IV. durch dessen Bulla Ad exstirpanda aus dem Jahr 1252 zugelassen.7 Im Verlauf der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzt sich der Inquisitionsprozess und mit ihm auch die Tortur in dem Verfahren vor weltlichen Gerichten durch.8 Die ersten direkten Nachweise der Tortur bei weltlichen 6  Zu den Anfängen des Inquisitionsprozesses in Europa siehe insbesondere Win­ fried Trusen, Strafprozess und Rezeption. Zu den Entwicklung im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina, in: Peter Landau / Friedrich-Christian Schröder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozess und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, Frankfurt am Main 1984, S. 29–118; ders., Der Inquisitionsprozeß. Seine historische Grundlagen und frühen Formen, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Kanonistische Abteilung 74, 1988, S. 168–230; ders., Vom Inquisitionsverfahren zum Ketzer- und Hexenprozeß. Fragen der Abgrenzung und Beeinflussung, in: Dieter Schwab et al. (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 435–450; Günter Jerouschek, Die Herausbildung des peinlichen Inquisitionsprozesses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 104, 1992, S. 328–360; und ders., Geburt und Wiedergeburt des peinlichen Strafrechts im Mittelalter, in: Gerhard Köbler, Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtsgeschichte. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 497–509. Vgl. auch R. Zagolla, Im Namen, S. 34–36; Petr Kreuz, K charakteristice procesního projednávání trestních případů v českých městech doby předbělohorské (Zur Charakteristik der Prozessverhandlung von Straffällen in böhmischen Städten vor dem Jahr 1620), in: Jindřich Francek (red.), Hrdelní soudnictví českých zemí v 16.-18. století (Halsgerichtsbarkeit in den böhmischen Ländern im 16.-18. Jahrhundert), Sborník příspěvků z  konference, konané v  Pardubicích 21.–22.9.1995 (Sammelband von Vorträgen aus der 1995 in Pardubitz gehaltenen Konferenz), Pardubice 1996, S. 63– 100, insbesondere S. 83–84; und ders., Několik poznámek k  otázce odrazu kriminality v  písemnostech soudů předbělohorských Čech. Příspěvek k metodice studia sociálních dějin kriminality v českých zemích v raném novověku (Einige Anmerkungen über den Kriminalitätsreflex in Dokumenten der böhmischen Gerichte vor dem Jahr 1620. Ein Beitrag zur Forschungsmethodik der der Sozialgeschichte der Kriminalität in den böhmischen Ländern in der frühen Neuzeit), in: P. Kreuz / Vojtěch Šustek (Hrsg.), Seminář a jeho hosté  II. Sborník příspěvků k  nedožitým 70. narozeninám Doc. PhDr. Rostislava Nového Documenta Pragensia 23, Praha 2004, S. 123–161, insbesondere S. 124. 7  W. Trusen, Vom Inquisitionsverfahren, S. 437. Vgl. auch R. Zagolla, Im Namen, S. 36; und P. Kreuz, K charakteristice, S. 84.



Abschaffung der Tortur367

Gerichten in Mitteleuropa liegen jedoch erst aus den 20er Jahren des 14. Jahrhunderts vor.9 8

Die älteste Quelle, die zwar indirekt, doch eindeutig den Einsatz von Tortur in den böhmischen Ländern bezeugt,10 stellt das Brünner Rechtsbuch vom Schreiber Jan / Johann aus den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts dar.11 Der erste direkte Nachweis über die Anwendung von Tortur bei einem weltlichen (namentlich städtischen) Gericht ist uns aus den 70er Jahren des 14. Jahrhunderts bekannt.12 Während der Inquisitionsprozess einschließlich Tortur in böhmischen Städten bereits an der Neige der vorhussitischen Ära Wurzel fasst und ab Mitte des 15. Jahrhunderts allmählich auch die Nachweise über die Anwendung von Tortur bei Stadtgerichten zunehmen, wurde dieser Prozess bei den Gerichten, die sich nach dem Landesrecht richteten, auch nach den Hussitenkriegen nie angewendet, und dieser Stand der Dinge dauerte fast zweihundert Jahre lang.13 Angesichts dieser Tatsache sowie angesichts dessen, dass die Stadtgerichte bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Grundlage des Halsgerichtsnetzes im Königreich Böhmen bildeten und diese Lage bis 1765 dauerte, wurde die Tortur in Böhmen an der Neige des Mittelalters und während der frühen Neuzeit meistens bei den städtischen Halsgerichten angewendet.14 Eine ähnliche, doch in Details mehr differenzierte Lage ist auch im frühneuzeitlichen Mähren zu beobachten.15 8  Hinrich Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 3., völlig überarb. Auflage, München 1998, S. 29. 9  Ibid.; Winfried Trusen, Strafprozess und Rezeption, S. 57; Robert Zagolla, Im Namen, S. 38–40. 10  Die Tortur wurde wahrscheinlich bereits von den kirchlichen Inquisitionsgerichten in Böhmen unter dem Episkopat von Jan / Johann IV. z  Dražic (1301–1343) seit dem zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts angewendet. Siehe dazu näher mit Literaturhinweisen P. Kreuz, Několik poznámek, S. 127, Anm. 19. 11  Miroslav Flodr (Hrsg.), Právní kniha města Brna z  poloviny 14. století. I. Úvod a edice (Das Rechtsbuch der Stadt Brünn aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. I. Einleitung und Edition), Brno / Brünn 1990, S. 386–387; II. Komentář (Kommentar), Brno 1992, S. 168 (Art. 703). Vgl. auch W. Trusen, Strafprozess und Rezeption, S. 59–63. Ungenau R. Zagolla, Im Namen, S. 41. 12  P. Kreuz, Zur Charakteristik, S. 86, Anm. 170; und ders., Několik poznámek, S. 127, Anm. 20. 13  P. Kreuz, Einige Anmerkungen, S. 127–128. 14  P. Kreuz, Proměny organizace trestního soudnictví v Čechách od tereziánských reforem do roku 1848 (Verwandlungen der Organisation von Strafrechtspflege in Böhmen von den theresianischen Reformen bis 1848), in: Zločin a  trest v  české kultuře 19. století. Sborník příspěvků z 30. ročníku sympozia k problematice 19. století. Plzeň, 25.–27. Februar 2010, Praha 2011, S. 19–28, insbesondere S. 22, Anm. 26, wo weitere Literaturhinweise angeführt sind. 15  P. Kreuz, Proměny, insbesondere S. 27, samt Anm. 36.

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Systematische Bemühungen um die Abschaffung der Tortur in Mitteleuropa sind erst ab Anfang des 18. Jahrhunderts zu verzeichnen. Der überhaupt erste Herrscher in Europa, welcher die Tortur als legales Beweismittel beseitigte, war kurz nach seiner Thronbesteigung 1740 (mit mehreren Ausnahmen, völlig ab 175416) der preußische König Friedrich der Große.17 Weitere mitteleuropäische und reichsterritoriale Staaten folgten dem preußischen Vorbild erst ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts.18 Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist in den in böhmischen Ländern gültigen Strafrechtskodifikationen überhaupt keine Versuche zu verzeichnen, die Tortur einzuschränken bzw. abzuschaffen.19 Die Peinliche Gerichtsordnung Mariä Theresiä aus dem Jahre 1768 (Constitutio Criminalis Theresia­ na) ist eher als ein Versuch, die Tortur normativ möglichst genau abzugrenzen,20 doch es ist nicht zu leugnen, dass die Theresiana den Kreis 16  Sabine Dannat  / Martin Gottschalk, Die Abschaffung der Folter im Aufklärungsdiskurs, in: G. Jerouschek / H. Rüping (Hrsg.), „Auss liebe der gerechtigkeit vnd umb gemeines nutz willenn“, Historische Beiträge zur Strafverfolgung, Tübingen 2000, S. 135–163, insbesondere S. 147–150; R. Zagolla, Im Namen, S. 85–89; Wolfgang Ebner, Christian Thomasius und die Abschaffung der Folter, Ius Commune 4, 1973, S. 73–80, insbesondere S. 73, Anm. 2. 17  R. Zagolla, Im Namen, S. 85–89. Der erwähnte Herrscher wurde in seiner Entscheidung von der 1705 an der Universität Halle verteidigten Dissertation „De tortura ex foris Christianorum proscribenda“ grundsätzlich beeinflusst. Der offizielle Verfasser der Dissertation war Thomas Bernhardi, faktisch wurde jedoch die Autorschaft dem dortigen berühmten Juristen und frühaufgeklärten Gelehrten Christian Thomasius zugeschrieben (1655–1728). Später wurde jedoch die Ansicht geäußert, Thomasius’ Meinung über die Abschaffung der Tortur sei mehr reserviert gewesen (W. Ebner, Christian Thomasius, insbesondere S. 80). Über Thomasius als Torturgegner siehe auch S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 142–147. 18  R. Zagolla, Im Namen, S. 95. 19  Der entsprechende Artikel von Koldíns Gesetzbuch, der die Konstatierung enthält, das peinliche Recht sei „eine unsichere, gefährliche Sache“ (Josef Jireček (Hrsg.), Codex juris bohemici, Tomi IV. pars III.: Monumenta juris municipalis. Sectio II., exhibens Mag. Pauli Christiani und Koldín Jus municipale regni Bohemiae una cum compendio ejusdem juris, Pragae 1876, S. 387–388 (Art. S.XX, Abschnitt II.)), und der deshalb manchmal als Ausdruck der zurückhaltenden Einstellung des Altstädter Kanzlers zur Tortur interpretiert wird, ist tatsächlich eine sehr genaue Übersetzung des in Digesta eingeschlossenen Ausspruchs von Ulpianus (48.18.1.23). Vgl. auch R. Zagolla, Im Namen, S. 23–24. 20  Constitutio Criminalis Theresiana oder der Römisch-Kaiserl. Zu Hungarn und Böheim etc etc. Königl. Apost. Majestät Mariä Theresiä, Erzherzogin zu Oesterreich etc. Etc. Peinliche Gerichtsordnung, Wien 1769 [weiter nur die Theresiana], Art. 38. (S. 105–115) und Beilage III. (S. XV–XLVIII); Tschechische Übersetzung: Constitutio Criminalis Theresiana aneb Římské Císařské v  Uhřích a Čechách et cetera et cetera Královské Apoštolské Milosti Marie Terezie, Arci-Kněžny Rakouské et cetera et cetera hrdelní Právní Řád, Wien 1769 [weiter nur Theresiana – tschechische Übersetzung], Art. 38. (S. 106–116) und Anlage III. (S. XV-XLVIII).



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von Personen, welche der Tortur nicht unterworfen werden durften, gewissermaßen erweiterte und genauer definierte.21 Die Abschaffung der Tortur als Beweismittel (genauer gesagt: Mittel zur Bestätigung eines begründeten Verdachts22) im Straf / Inquisitionsverfahren stellt im Allgemeinen eine der zahlreichen grundsätzlichen Änderungen im Strafverfahren dar, welche mit den strafrechtlichen Kodifikationen (bzw. mit den ergänzenden Kodifikationen und normativen Akten des Strafprozessrechts) der Aufklärungsära eingeführt wurden.23 Im Falle der Torturabschaffung handelt es sich darüber hinaus um eine nicht nur bedeutende, sondern auch allgemein aufgezeichnete Änderung. Zur Abschaffung der Tortur kam es in den meisten Staaten Mitteleuropas und territorialen Reichsstaaten im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.24 Eine Ausnahme ist nur Preußen einerseits und mehrere deutsche Staaten andererseits, welche die Tortur de iure erst nach 1800 abgeschafft haben.25 21  Es handelte sich um 1. unzurechnungsfähige, taube und stumme Personen, 2. Personen weniger als 14 Jahre alt (nach dem Ermessen des Richters und ausgenommen Rutenschläge), 3. Männer über 60 Jahre alt und nach dem Ermessen des Richters auch diejenigen, welche die Tortur ohne Gesundheitsschäden überstehen könnten, 4. kranke, gebrechliche, gefährlich verwundete Personen; 5. schwangere Frauen und die in den Wochen, 6. Mitglieder höherer Stände (ausgenommen derartige Verbrechen wie Blasphemie, Majestätsbeleidigung, Landesverrat, bzw. andere wichtige Verbrechen). Siehe Theresiana, Art. 38., § 11 (S. 108–109), und Theresiana – tschechische Übersetzung, Art. 38., § 11 (S. 109–110). 22  Vgl. S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 136. 23  Zur Kritik der Tortur in der aufgeklärten Rechtswissenschaft Alexander Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, S.163– 166. Aus den jüngeren Arbeiten zur Abschaffung der Tortur in Mitteleuropa siehe Lu­ kas Gschwend / Marc Winiger, Die Abschaffung der Folter in der Schweiz [Europäische Rechts- und Regionalgeschichte, Bd. 6], Zürich, St. Gallen 2008; Wolfgang Rother, Verbrechen, Folter, Todesstrafe. Philosophische Argumente der Aufklärung, Basel 2010; Jan Zopfs (Hrsg.) Quellen zur Aufhebung der Folter. Die Aufhebung der Folter in Baiern (1806) von Paul Johann Anselm Feuerbach sowie die Verordnungen Friedrichs II. aus den Jahren 1740–1756 zur Abschaffung der Folter in Preußen, Münster 2010; und Karsten Altenhain / Nicola Willenberg (Hrsg.), Die Geschichte der Folter seit ihrer Abschaffung, Göttingen 2011. 24  S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 147–153; R. Zagolla, Im Namen, S. 95. 25  R. Zagolla, Im Namen, S. 95–98. Vgl. auch S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 153, und Jan Zopfs, Die Fürsten schaffen die Folter ab. Zur Beseitugung der Folter in Preußen, Österreich und Bayern (1740–1806), in: K. Altenhain / N. Willenberg (Hrsg.), Die Geschichte der Folter, S. 25–36.

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In den habsburgischen Erbländern wurde die Tortur mit der obersten Entscheidung vom 2. Januar 1776 beseitigt,26 nachdem Joseph von Sonnenfels 1775 in Zürich seine Schrift Ueber die Abschaffung der Tortur27 veröffentlicht hatte. Die Abschaffung der Tortur verursachte paradoxal eine der ziemlich grundsätzlichen praktischen Komplikationen, mit denen sich die Strafrechtspflege, namentlich die den Strafprozess regelnden Vorschriften in den kommenden Jahrzehnten irgendwie auseinandersetzen mussten. Die erwähnte Komplikation besteht darin, dass der Inquisitionsprozess auch nach der Abschaffung der Tortur erhalten blieb, verlor jedoch damit eines dessen Hauptmittel zur Beweislieferung. Folge der Abschaffung der Tortur waren Zweifel über die bisherige gesetzliche (legale) Beweistheorie,28 welche das Prozessgewicht einzelner Beweistypen genau und bindend festlegte. Man suchte die Lösung für die erwähnte Komplikation zunächst in einer Erweiterung der Möglichkeit, arbiträre Strafen anzuwenden (poena arbitra­ ria, Verdachtsstrafen).29 Derartige Strafen waren milder als die üblichen Strafen und wurden verhängt, wenn kein voller Schuldbeweis vorgelegt wurde, es lag jedoch ein begründeter Verdacht über das begangene Verbrechen vor.30 Das grundsätzliche Problem bestand also darin, dass als VerEs handelte sich konkret um Bayern (1806), Württemberg (1809), Sachsen-Weimar (1817), Hannover (1822), Coburg-Gotha (1828) und schließlich um das Großherzogtum Baden (1831). In der Schweiz wurde die Tortur im Jahre 1798 aufgehoben. Siehe L. Gschwend / M. Winiger, Die Abschaffung, S. 32. 26  Václav Šolle, Trestní soudnictví předbřeznové v  českých zemích (Die Strafrechspflege im Vormärz in den böhmischen Ländern), Sborník archivních prací 12, 1962, Nr. 1, S. 87–142, insbesondere S. 91. Vgl. auch R. Zagolla, Im Namen, S. 95; S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 152–153; und Daniela Tinková, Hřích, zločin, šílenství v čase odkouzlování světa (Sünde, Verbrechen und Wahnsinn zur Zeit der Weltentzauberung), Praha 2004, S. 66. 27  D. Tinková, Hřích, S. 66. 28  S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, insbesondere, S. 154–156. Vgl. auch Václav Šolle, Trestní soudnictví, S. 111. 29  Zur Problematik dieser Strafen am jüngsten Elemér Balogh, Die Verdachtsstrafe in Deutschland im 19. Jahrhundert, Münster 2009. Von den älteren Arbeiten siehe insbesondere Friedrich Schaffstein, Verdachtsstrafe, außerordentliche Strafe und Sicherungsmittel im Inquisitionsprozess des 17. und 18. Jahrhunderts, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 101, 1989, S. 493–515. 30  A. [Andreas] Roth, Verdachtsstrafe, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. v. Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann und Dieter Werkmüller unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wiegand, V. Band, Berlin 1998, S. 681–684. Arbiträre Strafen, deren Wurzeln bereits im Hochmittelalter zu suchen sind, stellten im frühneuzeitlichen allgemeinen Recht (ius commune) ein Mittel dar, mit des-



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dachtsstrafe nicht die vom Gesetz vorgesehene Strafe (oft Todesstrafe), sondern eine mildere Strafe verhängt werden durfte.31 Dies war darauf zurückzuführen, dass kein voller Schuldbeweis erbracht wurde, also früher meistens das mittels Tortur erzwungene Geständnis des Täters. Die erwähnte Lösung wurde nach der Abschaffung der Tortur in Preußen angewendet, wo der Beschuldigte zur ordentlichen Strafe auch ohne Geständnis verurteilt werden konnte, falls das Gericht von seiner Schuld überzeugt war. Arbiträre Strafe, wie Festungsgefängnis oder Festungsarbeiten, wurde dann verhängt, wenn der Verbrechensverdacht als wahrscheinlich erschien.32 Die arbiträre Strafe wurde auch im toskanischen Strafgesetzbuch des Großherzogs Peter Leopold (später Kaiser Leopold II.) aus dem Jahre 1786 verankert.33 Seit den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts überwogen jedoch allmählich verschiedene Versuche, die Tortur durch andere gewaltige Zwangsmittel zu ersetzen, meistens durch verschiedene körperliche und andere Strafen wegen Aussageverweigerung und wegen falscher Anschuldigung, die als Un­ gehorsamstrafen bzw. Lügenstrafen bezeichnet wurden.34 Derartige Strafen wurden von vielen Vertretern der aufgeklärten Strafrechtswissenschaft für legitim gehalten, denn zum Unterschied von der Tortur wiesen sie den Vergeltungscharakter für absichtliche Handlung der verhörten Person auf.35 Es ist doch nicht zu übersehen, dass die Abschaffung der Tortur den Verzicht auf jede Form von Gewalt beim Verhör nicht bedeutete.36 Die sen Hilfe man die strengen Beweisregeln des Inquisitionsprozesses umgehen und gewissermaßen dadurch die fehlende richterliche Beweiswürdigung ersetzen konnte. 31  Im frühneuzeitlichen Italien wurde oft als arbiträre Strafe (anstatt der Todesstrafe) die Strafe der Galeere verhängt. Siehe z. B. Hans Schlosser, Die Strafe der Galeere als Verdachtsstrafe, in: Clausdieter Schott (Hrsg.): „Nit anders den liebs und guets.“ Petershauser Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstags Karl S. Bader, Sigmaringen 1986, S. 133–141; und ders., Die Strafe der Galeere als poena arbitraria in der mediterranen Strafpraxis, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 10, 1988, S. 19–37. 32  H. Rüping, Grundriß, S. 68. 33  Ibid., S. 67. 34  Zu diesen Strafen speziell Detlev Mauß, Die „Lügenstrafe“ nach Abschaffung der Folter ab 1740, Marburg 1974; Silvin Bruns, Zur Geschichte des Inqusitionsprozesses. Der Beschuldigte im Verhör nach Abschaffung der Folter, Bonn 1994; N. Willenberg, Lügen und Ungehorsamstrafen – Eine Fortsetzung der Folter? Psychische Gewalt im juristischen Diskurs im 18. und 19. Jahrhundert, in: K. Altenhain, N. Willenberg (Hrsg.), Die Geschichte der Folter, S. 115–146. Vgl. auch L. Gschwend / M. Winiger, Die Abschaffung, S. 38–119. 35  H. Rüping, Grundriß, S. 63; A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 252– 253. 36  Vgl. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3., völlig durchgearb. u. veränd. Aufl., Göttingen 1965, S. 328.

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Anwendung von Gewaltmitteln führte in mehreren Fällen sogar zur faktischen Umgehung des Torturverbotes.37 Die josephinische Allgemeine Kriminal-Gerichtsordnung in Österreich aus dem Jahre 1788 sah bei der Leugnung einer klaren Schuld sehr strenge körperliche Ungehorsamstrafen vor; die Prügel konnten bis 100 Schläge binnen 14 Tagen umfassen.38 Nach dem österreichischen Strafgesetz über Verbrechen und schwere Po­ lizeiübertretungen aus dem Jahre 1803 konnten die Gerichte den Verdächtigen, welche Geistesstörung simulierten, Nahrung während drei Tage nur auf Brot und Wasser reduzieren. Hatte sich auch diese Maßnahme als unwirksam erwiesen, war das Gericht berechtigt, Rutenprügel von bis 30 Schlägen in dreitägigen Intervallen zu verordnen.39 Die Befugnis, Ungehorsam- und Lügenstrafen zu verhängen, erhielten die Gerichte auch von der Preußischen Kriminalordnung aus dem Jahre 1805.40 Kurz nach der Abschaffung der Tortur in Bayern (1807) wurden von dem dortigen Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1813 verschiedene Ungehorsamstrafen eingeführt, insbesondere Nahrungseinschränkung und Prügel.41 Obwohl die Ungehorsamstrafen sowie die weiteren oben angeführten Zwangsaussagemittel in Mitteleuropa meistens während der ganzen Hälfte des 19. Jahrhunderts, bzw. auch länger in Wirksamkeit blieben (und nach der Meinung einiger Forscher auch die Tür zu der im 20. Jahrhunderts angewendeten Folterung modernen Typs öffneten, als der Einsatz von Zwangsmitteln manchmal von der Willkür der Ermittlungsorgane abhängig war42), brachte ihre Anwendung zahlreiche praktische Probleme mit und aus der langfristigen Sicht sind sie praktisch gescheitert.43 Dies führte dann zu der Notwendigkeit, die gesetzliche Beweistheorie, welche den Beweiswert einzelner Beweistypen bindend festlegte (und gewissermaßen die Bestrafung eines Verbrechens von dem Geständnis des Täters bedingte), durch das Prinzip der freien (richterlichen) Beweiswürdi37  R.

Zagolla, Im Namen, S. 98. Malý et al., Dějiny českého a československého práva do roku 1945 (Die tschechische und tschechoslowakische Rechtsgeschichte bis 1945), 2. veränderte Auflage, Praha 1999, S. 160–161. Vgl. auch S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 154. 39  R. Zagolla, Im Namen, S. 99. 40  S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 154–155. 41  R. Zagolla, Im Namen, S. 98; W. Rother, Verbrechen, passim. 42  R. Zagolla, Im Namen, S. 100. 43  S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, insbesondere s. 154–155; E. Schmidt, Einführung, S. 279–281; und A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 253–255. 38  Karel



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gung zu ersetzen44, die bislang für den Akkusations(Privatklage)prozess typisch war. Diese Änderung fand im Rahmen einer breiteren Verwandlung bzw. Reform des Strafprozessrechts statt, die im Ersetzen des bisherigen Inquisitionsprozesses durch den reformierten Strafprozess bestand und die in Mitteleuropa in der Mitte (bzw. nach der Mitte) des 19. Jahrhunderts verwirklicht wurde.45 Neben der freien Beweiswürdigung umfasst diese Änderung noch ein anderes wichtiges Element, nämlich die Einführung der öffentlichen mündlichen Gerichtsverhandlung. Auf der theoretischen Ebene stellen der Inquisitionsprozess und der reformierte Strafprozess zwei entgegengesetzte Verhandlungsformen dar: Im ersten Falle handelt es sich um ein nichtöffentliches schriftliches Ermittlungsverfahren ohne Anwesenheit von Laien, in dem der (vom Prinzip der materiellen Wahrheit gebundene) Richter gleichzeitig auch als Kläger bzw. Ermittler figuriert. In dem zweiten Falle geht es um ein öffentliches mündliches Verfahren, in dem die Klage durch den Staatsanwalt repräsentiert ist und ein Berufsrichter, bzw. Laienrichter entscheidet auf Grund seiner Überzeugung, zu der er während der Gerichtsverhandlung gekommen ist.46 Künftiges Fungieren des modernen liberalen Staates erschien also als unverträglich nicht nur mit der bisherigen Gerichtsorganisation, sondern auch mit dem veralteten Prozessrecht.47 In der zeitgenössischen Rechtswissenschaft wurde dann der Inquisitionsprozess als Bestandteil bzw. Ergänzung der absoluten Monarchie angesehen, in der nur der Herrscher den Schutz gegen Unrecht garantiert; der reformierte Strafprozess gilt dagegen als Bestandteil eines Rechtsstaats und erfordert unter Anderem die Anerkennung des Beschuldigten als verantwortliches Prozesssubjekt.48 Der erste Staat Mitteleuropas, der auf die gesetzliche Beweistheorie verzichtete, war Sachsen im Jahre 1838 (Gesetz vom 30. März 1838).49 Als Geburt einer freien Beweiswürdigung im mitteleuropäischen Strafprozessrecht gilt jedoch erst das am 17. Juli 1846 genehmigte preußische Gesetz (Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem 44  Dazu Wilfried Küper, Historische Bemerkungen zur „freien Beweiswürdigung“ im Strafprozess, in: Klaus Wassenburg / Wilhelm Haddenhorst (Hrsg.), Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren. Festschrift für Karl Peters aus Anlass seines 80. Geburtstages, Heidelberg 1984, S. 23–46. 45  Zu den Ideenwurzeln und Umständen der erwähnten Reform in Deutschland bis zu den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts detailliert und umfassend A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 209–279. 46  H. Rüping, Grundriß, S. 84. 47  E. Schmidt, Einführung, S. 324–325. 48  H. Rüping, Grundriß, S. 84–85. 49  E. Schmidt, Einführung, S. 329. Vgl. auch S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 156 und 163.

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Criminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen).50 Der Grundsatz einer freien (richterlichen) Beweiswürdigung wurde dort insoweit eindeutig formuliert, dass sie auch in die bis heute bestehende deutsche Strafordnung aus dem Jahre 1877 buchstäblich übernommen wurde (§ 261).51 Die Abschaffung der Tortur ist also mit Recht auch als erster Schritt auf dem Weg zur freien Beweiswürdigung52 und eigentlich auch zum modernen Strafprozess anzusehen. Mit gewisser Übertreibung kann man auch sagen, dass die Tortur im reformierten Strafprozess durch indirekte Beweise ersetzt wurde.53 In der Habsburgermonarchie wurde der reformierte Strafprozess und damit auch der Grundsatz einer freien (richterlichen) Beweiswürdigung erst nach 1848 eingeführt, und zwar zuerst mit der provisorischen Strafordnung, die mit dem kaiserlichen Patent vom 17. Januar 1850 verkündet wurde (Nr.  25 / 1850 RGBl.)54 und die auf Grund des kaiserlichen Patentes vom 17. Juni desselben Jahres (Nr. 236 / 1850 RGBl.) am 1. Juli 1850 in Kraft trat.55 Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist im § 287 der Provisorischen Strafordnung treffend formuliert.56 Die durch das kaiserliche Patent vom 29. Juli 1853 (Nr. 151 / 1853 RGBl.) erlassene Strafordnung bedeutete eine Rückkehr zum vorherigen Inquisitionsprozess.57 Der reformierte Straf50  Die Genese des preußischen Gesetzes aus dem Jahre 1846 wurde detailliert bearbeitet von A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 263–279. Zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung in diesem Gesetz siehe ibid., S. 252. Vgl. auch E. Schmidt, Einführung, S. 330; und S. Dannat / M. Gottschalk, Die Abschaffung, S. 156 und 163. 51  A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 252. 52  Vgl. ibid., S. 252–253. 53  Vgl. ibid., S. 254. 54  Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Oesterreich, Jg. 1850, Nr. 25, S. 287–395. 55  Ibid., Nr. 236, S. 949–954. 56  Ibid., Nr. 25, S. 345, § 287: „Das Gericht hat bei der Urtheilsfällung nur auf dasjenige Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist. Es hat die in dieser Verhandlung vorgeführten Beweismittel in Ansehung ihrer Glaubwürdigkeit und Beweiskraft sowohl einzeln, als auch in ihrem inneren Zusammenhange sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen. Ueber die Frage, ob eine Thatsache als erwiesen anzunehmen sei, entscheiden die Richter nicht nach gesetzlichen Beweisregeln, sondern nur nach ihrer freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnenen Ueberzeugung.“ 57  Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich, Jg. 1853, Nr.  151, S. 833–953. In Bezug auf die richterliche Beweiswürdigung kehrte die Strafordnung aus dem Jahre 1853 völlig zu der gesetzlichen Beweistheorie zurück. Im Paragraph 258 heißt es: „Der Richter hat die vorhandenen Beweise genau zu erwägen. Nur dasjenige kann in der Beurtheilung für wahr gehalten werden, was rechtlich bewiesen ist.“ (ibid., S. 905). Paragraph 260 verfügte dann eindeutig: „Die rechtliche



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prozess setzte sich in dem westlichen Teil der Monarchie für folgende 20 Jahre nach dem Erlass der (zisleithanischen) Strafordnung vom 23. Mai 1873 (Nr. 119  /  1873 RGBl.) endgültig durch.58 Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung liegt dort im § 258 vor.59 Die österreichische Strafordnung aus dem Jahre 1873 stellte bereits eine moderne Kodifikation des Strafprozessrechts dar und blieb ziemlich lange in Kraft (in der Fassung nachträglicher Novellen und Ergänzungen) auch in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie, wie in der Tschechoslowakei bis 31. Juli 1950 (als sie von der Strafordnung Nr. 87 / 1950 Slg. ersetzt wurde) und in Österreich bis 31. Dezember 1975 (als die Strafordnung Nr.  631 / 1975 BGBl. in Kraft trat). Zwischen der Abschaffung der Tortur als Beweismittel und der Einführung der freien (richterlichen) Beweiswürdigung im Rahmen der Reform von Strafprozessrecht im 19. Jahrhundert, welche die auf die Absenz der Tortur im Strafverfahren zurückzuführenden Probleme endgültig gelöst hatte, sind in Mitteleuropa viele Jahrzehnte verflossen. In den beiden wichtigsten Staaten Mitteleuropas, Österreich und Preußen, dauerte diese „Übergangsperiode“ sogar ein ganzes Jahrhundert.60 Kraft der Beweise ist nach den in den folgenden §§. 261–282 vorkommenden Bestimmungen zu Beurtheilen; …“ (ibid., S. 906). Die Paragraphen 261–282 legen dann genaue Regeln und Würdigung der Rechtskraft von Beweisen (ibid., S. 906– 912). 58  Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Lände, Jg. 1873, Nr. 119, S. 397–501. 59  Ibid., S. 449, § 258. 60  Diese Studie präsentiert die traditionelle, überwiegende Auffassung der Strafprozessentwicklung in Mitteleuropa in den Jahrzehnten nach der Abschaffung der Tortur. Mit einer ziemlich unterschiedlichen, doch inspirierenden und gut durchdachten Auffassung dieser Problematik trat vor kurzer Zeit der bedeutende deutsche Rechtshistoriker K. Härter auf (Karl Härter, Die Folter als Instrument policeylicher Ermittlung im inquisitorischen Untersuchungs- und Strafverfahren des 18. und 19. Jahrhunderts, in: K. Altenhain / N. Willenberg (Hrsg.), Die Geschichte der Folter, S. 83–114). Nach Härters Meinung erfüllte die Folter (bzw. der psychische Druck) drei Funktionen, und zwar zum Ersten als Mittel zur Geständniserzwingung und dadurch zur Gewinnung eines vollwertigen Beweises (Geständnisfolter); zum Zweiten als Mittel zur Aussageerzwingung, Anzeige von Mittätern, Ermittlung von Umständen und Verlauf der Straftat, Sicherung von corporis delicti usw. (Ermittlungsfolter); zum Dritten als Sanktions- und Abschreckungsmittel bei permanenter Aussageverweigerung der verhörten Person und bei absolutio ab instantia (Straf- und Abschreckungsfolter) (ibid., S. 91). Mit der Abschaffung der Tortur kam es, so Härter, zur Beseitigung der Folter als Beweismittel, was jedoch nicht bedeutet, dass die Tortur als Mittel zur Aussageerzwingung beseitigt worden wäre. In dieser Funktion als polizeiliches Ermittlungsmittel blieb hingegen die Tortur (als Ungehorsamsbzw. Lügenstrafen) in Mitteleuropa meistens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten (ibid., S. 84–85). Die erwähnten Strafen wurden nach Härter als polizeiliche

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Abstract The abolition of torture and its impact on the law of criminal procedure in the Bohemian Lands and in Central Europe in the latter half of the 18th century and during the 19th century The paper deals with the impact of the abolition of torture on the law of criminal procedure in the Bohemian Lands and in Central Europe in the latter half of the 18th century and during the 19th century. Torture was abolished in most of the Central European and the Imperial territorial states during the second half of the 18th century, the only exceptions being some German states where torture was abolished de iure after 1800. The abolition of torture as item of evidence in the criminal (inquisition) procedure constituted one of the fundamental changes in penal proceedings that were introduced with the criminal law of the Era of Enlightenment. In the Habsburg hereditary countries, torture was abolished in January 1776. After the abolition of torture, however, the inquisition process remained, though it was deprived of one of its main tools of furnishing evidence. A solution to this problem was first sought in the increased use of so-called arbitrary punishments (poena arbitraria, Verdachtsstrafen). The arbitrary punishment could not be equal to, but lower than the punishment prescribed by law (often capital punishment). From the 1780s, however, the endeavor prevailed to substitute other violent coercive means for torture. These were mostly physical and other punishments for refusing to confess or for untrue accusation, and were usually referred to as contumaciousness punishments (Ungehorsamstrafen, or Lügenstrafen). The abolition of torture die not mean refraining from any form of violence during investigation. In some cases the prohibition of torture was in practice evaded. Although the punishments for contumaciousness as well other means of extorting confession survived in Central Europe until the 19th century, these tools as long-term practice eventually failed. Consequently, the legal theory of evidence where the particular types of evidence were assigned a binding probative value was replaced by the principle of free assessment of evidence (by the judge). This change took place within a broader reform of the law of criminal procedure that consisted in replacing the existing inquisition process by a reErmittlungsformen in verschiedenem Maße mindestens mehrere Jahrzehnte vor der Abschaffung der Tortur angewendet. Härter spricht deshalb über die „… Abschaffung der Geständnisfolter und die Transformation der Ermittlungs- und Prügelfolter in die ,Ungehorsams- oder Lügenstrafe‘“ (ibid., S. 99.). Die zitierte Studie K. Härters konnte nicht in vollem Maße berücksichtigt werden, denn sie ist erst Ende August 2011 erschienen.



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formed criminal procedure. In Central Europe, this change took mostly place about the mid-19th century. In the western part of the Habsburg Monarchy it was finally incorporated in the Austrian Rules of Criminal Procedure of 1873 (No. 119 / 1873).

„Das Recht, die Beleidigung Gottes zu rächen“ Verwandelte Auffassung der „Religionsverbrechen“ an der Wende des 18. Jahrhunderts Daniela Tinková I. Einführung „Welches Insekt wagt es, Gottes Gerechtigkeit zu vertreten, und möchte ein Wesen rächen, das sich selbst genügt?“1 Dieser berühmte Satz, mit dem der junge Aufklärer Cesare Beccaria im Jahre 1764 die zeitgenössischen Disproportionen in Strafen kommentierte, wurde bald von vielen anderen Aufklärern wiederholt. Die elegante schlagartige Formulierung visierte zugleich vor allem ein konkretes Ziel: die unproportionierten Strafen für das Vergehen gegen Gott und Religion. Dieser Beitrag soll gerade die Auffassung der „Religionsverbrechen“ in den aufgeklärten Strafgesetzbüchern an der Wende des 18. Jahrhunderts näher erklären. Ich werde insbesondere auf die Gesetzbücher und deren Entwürfe eingehen, die in der Habsburgermonarchie, einschließlich der Lombardei und Toskana, entstanden. Um die damalige (nicht nur rechtsbezogene) Denkweise besser zu verstehen, werde ich auch die zeitgenössischen Gesetzbücher im revolutionären Frankreich und in Preußen berücksichtigen. Ich glaube, dass gerade an der heiklen Frage der „Religionsverbrechen“, die in jener Zeit radikale Verwandlungen erfuhr, nicht nur die Entwicklung des (Straf)rechts, sondern auch die Transformation der gesellschaftlichen Werte in dem untersuchten Zeitabschnitt demonstriert werden können. Die Jahrhundertwende kann ja in dem größten Teil Europas als ein vorbildlicher „Bruch“ zwischen der „traditionellen“ und der „modernen“ Gesellschaft, gekennzeichnet durch Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse sowie durch allmähliche Ansätze der bürgerlichen Gesellschaft, betrachtet werden. 1  „qual sarà l’insetto che oserà supplire alla divina giustizia, che vorrà vendicare l’Essere che basta a se stesso,” Cesare Beccaria, Dei Delitti e delle pene, Fabbri Editori, 1981, 1986 Milano, capitolo VII. (Errori nella misura delle pene), S. 69–70.

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II. „Die Beccarianische Revolution“ Einleitend ist es vielleicht gut zu betonen, dass die überhaupt ersten – und einzigen – Rechtskodexe, deren Entstehung noch der Aufklärungsära im 18. Jahrhundert zu verdanken ist, die Strafgesetzbücher darstellen. Das ist nicht überraschend, denn gerade die Strafjustiz als Verkörperung der Unbill, Willkür, Grausamkeit und Barbarei des Ancien Régimes und dessen „Justiz“, Blitze nicht nur der juridischen, sondern auch der sozialen Kritik anzog. Die Ansätze dieser ziemlich radikalen Kritik des traditionellen Strafrechts, welche die Atmosphäre im ganzen aufgeklärten Europa in den 60er bis 80er Jahren des 18. Jahrhunderts stark gekennzeichnet hat, sind mit dem Namen des jungen Mailänder Ökonomen Cesare Beccaria (1738–1794) verbunden. Sein kleines Werk mit dem einfachen Titel Dei delitti e delle pene, „Über Verbrechen und Strafen“, das 1764 zum ersten Mal in der toskanischen Stadt Livorno erschien, ist bald klassisch geworden und es folgten zahlreiche Übersetzungen und Nachbildungen.2 Das Werk fand einen lebhaften Widerhall vor allem im vorrevolutionären Frankreich, wo viele führende Gelehrte, einschließlich der späteren Revolutionäre wie J. P. Marat und J. P. Brissot, an der Diskussion über die „Beccarianischen“ Postulate bezüglich Tortur und Todesstrafe, Sinn und Zweck der Strafe im Allgemeinen und über die bestehende Disproportionalität zwischen Verbrechen und Strafe teilnahmen. Die Reaktion auf die Vorwürfe und die nachfolgenden Diskussionen waren reformierte Strafgesetzbücher, die manchmal für „die ersten modernen“ Strafkodexe gehalten werden. Das tatsächlich „erste“ Gesetzbuch dieser Art war die am 30. November 1786 verkündete Legge di riforma della legisla­ zione criminale3 im habsburgischen Teil Toskanas. Nur sechs Wochen darauf erblickte das Licht der Welt das Allgemeine Gesetz über Verbrechen für die Habsburger Erbländer (Januar 1787).4 Und mehrere Jahre später entstand auch der revolutionäre Code pénal, der im September 1791 von der französischen Verfassungsgebenden Versammlung angenommen wurde.5 Nicht zu vergessen ist jedoch auch der unvollendete Strafgesetzentwurf für die Habsburger Lombardei aus dem Jahre 1792, der das österreichische Vorbild nachahmte. Es wurde von Joseph II. und Leopold initiiert, aber ihr Tod und die veränderte internationale Lage verhinderten die Verkündung Beccaria], Dei Delitti e delle pene, Monaco [Livorno] 1764. di Riforma della legislazione criminale Toscana del dí 30 novembre 1786. 4  Allgemeines Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung, Wien 1787. 5  Code pénal de 25.IX.–6.X.1791. (Décret général sur les délits et les peines, vulgairement appelé Code Pénal, du 25. septembre 1791, in. Code universel et méthodique des nouvelles lois françaises, ordre judiciaire, Paris 1791). 2  [Cesare 3  Legge



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eines tatsächlichen Gesetzbuchs.6 Vergleichsweise interessant ist auch das Landrecht im nichtkatholischen Preußen aus dem Jahre 1794, aber in diesem Falle handelt es sich nicht um ein selbständiges Strafgesetzbuch wie in den obigen Fällen. Diese auf einem neuen Paradigma und einer neuen Rationalität beruhenden Kodexe manifestieren das voluntaristische Bemühen nach maximaler Rationalisierung (und auch gewissermaßen „Technisierung“) der Strafjustiz, welche eine unvoreingenommene und unbefangene, technisch fungierende und auf dem höchst objektiven Buchstaben des Gesetzes basierende Maschinerie sein sollte, die jedoch in der ersten Instanz Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre zu Exzessen führte. Es handelte sich vor allem um eine Justiz in der Form des strengen josephinischen Systems, oder um eine rationalisierte Revolutionsjustiz, Machttool im Dienste des absoluten bzw. revolutionären Staates, bestimmt zur strengen Sequestration, bzw. auch Liquidierung der (politisch) unerwünschten Elemente. Gerade die Realisierung (und Instrumentalisierung) der strafrechtlichen Postulate im Dienste des Staates zur Zeit der Revolution bzw. des Krieges stellt einen Gipfelpunkt, aber auch eine Krise der Aufklärungsphilosophie dar, die sich so gegen sich selbst wendet. Die Spannung zwischen den zwei Polen der strafrechtlichen Reform, den Beccarianischen Postulaten, der Déclaration des droits und den ersten Gesetzbüchern einerseits und dem Revolutionsterror bzw. Polizeistaat andererseits stellt jedenfalls einen interessanten Widerhall der Spannung zwischen den zwei Janusschen Antlitzen der „Modernität“ dar, welche Locks Akzent auf individuelle Rechte und Rousseaus Holismus des „allgemeinen Willens“ verkörpert7. Die aufgeklärten Reformkodexe hatten nur ein kurzes Leben. Dies ist in erster Linie auf die Erfahrungen mit der Französischen Revolution und den Koalitionskriegen, aber auch auf die Erfahrungen mit diesen Gesetzbüchern zurückzuführen, die sich teils als zu optimistisch, teils als zu drakonisch erwiesen. Diese Umstände erforderten etwa zwei Jahrzehnte später gewisse Änderungen in den alten Kodexen und auch die Ausarbeitung neuer Gesetzbücher. Es handelt sich um das Österreichische Gesetzbuch aus dem Jahre 18038 (mit dem vorhergehenden „Probestrafgesetz“ für das österreichische Galizien aus dem Jahre 1796), das toskanische Gesetzbuch aus dem Jahre 1807 und um Napoleons Französisches Gesetzbuch aus dem Jahr 6  Vgl. z. B. Adriano Cavanna, La Codificazione penale in Italia; Le origini lombarde, Milano 1975. 7  Alain Touraine, La crise de la modernité, Paris 1995, S. 71. 8  Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen (1803), Wien 1815, tschechisch Kniha práw nad přečiněnjmi hrdelnjmi a těžkými řádu Městského, (totiž Policye) přestupky (Wjdeň, J. T. Grozný z Trattnerůw,  1804).

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1810. (Ein wenig später, im Jahre 1813, entstand unter dem französischen Einfluss auch das bayerische Strafgesetzbuch). Die resultierenden Gesetzbücher auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie und Frankreichs weisen einen paradigmatischen Wert im Rahmen der Etablierung des modernen Strafrechts Europas im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Frankreich sowie die italienischen, deutsch-böhmischen und niederländischen Habsburger Regionen bilden so das „Zentrum“ eines neuen strafrechtlichen Systems, das sich dann nach den Peripherien ausdehnt (Spanien, Ungarn, Polen, Skandinavien, Balkan …) Die strafrechtliche Aufklärungsreform kann jedoch bei weitem nicht auf die markantesten Ereignisse reduziert werden, wie die „Humanisierung“ des Strafrechts (insbesondere in Form einer Einschränkung, oder sogar Abschaffung der Todesstrafe, der Tortur und der Verkrüppelungsstrafen). Zu den wichtigen Aspekten dieser Reform zählt auch eine veränderte Strafhandlungsauffassung, eine neue Hierarchie von Strafhandlungen, und auch die Dekriminalisierung vieler Handlungsformen, die bislang zu schweren Delikten, ja sogar zu Halsdelikten gehörten. Da es sich um Erscheinungen handelt, welche gerade die Auffassung von „Religionsverbrechen“ stark beeinflusst haben, werden wir uns jetzt auf diese Problematik konzentrieren. III. Definition der Strafhandlung Zunächst ist zu betonen, dass erst die Strafgesetzbücher der Aufklärungsära die erste „moderne“ Definition der Strafhandlung enthalten. Das tatsächliche „Verbrechen“ an sich wird mit nachstehenden wichtigen Aspekten definiert: 1. Gesetzwidrigkeit; 2. Handlungsfreiheit (freier Wille) 3. böser Vorsatz; 4. gesellschaftliche Schädlichkeit. Die so aufgefasste rechtliche und formale, bis heute gültige Definition des Verbrechens erscheint zum ersten Mal im josephinischen Strafgesetzbuch aus dem Jahre 17879; die französischen Kodexe strebten weniger eifrig nach ei9  Allgemeines Gesetz über Verbrechen, Erster Theil, Von Criminal-Verbrechen und Criminal-Strafen. Erstes Kapitel: Von Criminal-Verbrechen überhaupt, § 1: „Nicht jede gesetzwidrige Handlung ist ein Criminal-Verbrechen, oder sogenanntes Halsverbrechen; und sind als Criminal-Verbrechen nur diejenigen gesetzwidrigen Handlungen anzusehen und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz als solche erkläret werden.“ §2: „Zu einem Criminal-Verbrechen gehört böser Vorsatz, und freyer Wille. Böser Vorsatz ist vorhanden, wenn vor, oder bey der gesetzwidrigen Unternehmung oder Unterlassung das Uebel, so daraus folgt, überdacht, und beschlossen worden, folglich die gesetzwidrige Handlung eigens in der Absicht verübet worden, damit das Uebel erfolge“. §3: „Böser Vorsatz fällt auch dann zur Schuld, wann zwar das wirklich erfolgte Uebel nicht eigens die Absicht der Handlung war, immer aber aus einer andern bösen Absicht eine Handlung unternommen



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ner Definition. Man kann zwar einwenden, dass eine ähnliche Definition bereits in der Constitutio Criminalis Theresiana aus dem Jahre 1769 vorhanden ist10; dort ist jedoch einer der Grundsätze, das Legalitätsprinzip negiert, und zwar vom Paragraphen 2 des Artikels 55 negiert, in dem näher undefinierte Verbrechen angeführt sind, welche wegen deren besonderer Bösheit eine öffentliche Strafe verdienen („Sind es so geartete Frevel-Schand- und Uebelthaten, welche zwar hier namentlich nicht ausgedrucket sind, jedoch denen ausgedruckten ungefehrlichkeit kommen, und wegen ihrer besonderen Bosheit, und Aergerlichkeit-Halsgerichtsmässig untersuchet, und mit öffentlicher Straffe beleget zu werden gar wohl verdienen“),11 sowie vom abschließenden Artikel Nr. 104, der die Bestrafung derartiger schrecklicher, jedoch gesetzlich nicht definierter Taten per analogiam zulässt.12 Erst in dem josephinischen Kodex aus dem Jahre 1787 ist die Strafhandlung auf die im Gesetzbuch expressis verbis genannten Handlungen eindeutig eingeschränkt und jede Form von Analogie bzw. retrograder Wirkung wird abgelehnt. (In Frankreich wurde die Legalität von Verbrechen und Strafen zum ersten Mal bereits 1789 in der Déclaration des droits eindeutig erklärt (Art. 5 und 7)).13 Ohne gesetzliche Norm solle es künftighin kein worden, woraus das Uebel gemeiniglich zu folgen pflegt, oder doch leicht folgen kann.“ § 4: „Wer ohne bösen Vorsatz eine Uebelthat begeht, obgleich von seiner Seite eine Schuld vorhanden, ist kein Criminal-Verbrecher. Noch minder kann eine That als ein Criminal-Verbrechen angesehen werden, wo das Uebel aus blossem Zufalle erfolgt ist.“ § 5: „Der Abgang des freyen Willens spricht von der Anchuldigung eines Criminal-Verbrechens in folgenden Fällen los (Unsinnigkeit, Sinnenverrückung; Zufälligkeit; Kindesalter vor dem zwölften Jahre; unwiderstehliche Gewalt; …); § 6: Das Verbrechen ist stets aus der Bosheit des Thäters zu entnehmen, nicht aus der Beschaffenheit und den Umständen desjenigen, an dem es verübt wird. Also werden Verbrechen auch an Uebelthätern, an Unsinnigen, an Kindern, an Schlafenden, sogar an denjenigen begangen, die ihren Schaden und Untergang selbst verlangen; §7: Nicht die unmittelbare That allein macht eines Verbrechens schuldig, sondern auch jede aus bösem Vorsatze und freyen Willen entspringende Mitwirkung durch Befehl, Anrathen, Belobung, Unterricht, durch Vorschub, oder was sonst zu der erfolgten Missethat Veranlassung und Ursache gegeben, oder zur Zeit der verübten Missethat auf was immer für eine Art dazu Hülfe geleistet, oder auch nur zu ihrer sicheren Vollstreckung beygetragen hat.“ etc. 10  Constitutio Criminalis Theresiana, oder der Römisch-Kaiserlichen zu Hungarn und Böheim etc. Etc. Kgl. Apost. Majestät Mariä Theresiä, Erzherzogin zu Österreich etc. Peinliche Gerichtsordnung, Wien 1769 (tschechische Übersetzung Římské Císařské v Uhřích a Čechách, etc. etc; královské apoštolské Milosti Marie Terezie Arcikněžny rakouské (…) hrdelní právní řád, Wídeň 1769). 11  Constitutio Criminalis Theresiana, Art. 55, §2. 12  Constitutio Criminalis Theresiana, Schlußartikel (104). 13  Art. 5. „Tout ce qui n’est pas défendu par la Loi ne peut être empêché“, Art. 7: „Nul homme ne peut être accusé, arrêté ni détenu que dans les cas déterminés par la Loi.“

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Verbrechen geben, abgesehen davon, wie moralisch verwerflich die gegebene Handlung sei. Infolge der Tatsache, dass die Gesetzgeber der Aufklärungsära die Existenz des „Verbrechens“ durch das Vorhandensein einer (historisch entstandenen und dem konkreten soziokulturellen Rahmen entsprechenden) Rechtsnorm bedingt haben, wird das Verbrechen seinen absoluten und transzendenten Wert mit universaler Geltung aus der Voraufklärungszeit los. Das Legalitätskriterium ist im josephinischen Gesetzbuch ausdrücklich mit dem Kriterium der Intentionalität, des bösen Vorsatzes ergänzt.14 Es gibt jedoch ein zusätzliches Kriterium: die gesellschaftliche Schädlich­ keit: Das Verbrechen stelle eine bedeutsame Verletzung des Staatsmachtinteresses oder der Sicherheit des Bürgers in dessen körperlicher Identität, Vermögen, Ehre und Freiheit dar. Es handelt sich um eine Definition, die auf der kontraktualistischen Denkweise basiert: Der Verbrecher sei in erster Linie Feind seiner Gesellschaft und Störer des „Gesellschaftsvertrags“, zu dessen Einhaltung er sich verpflichtet habe.15 In der Auffassung von Montesquieu, Beccaria und ihren Nachfolgern verletze der „Verbrecher“ vor allem das geschriebene und eindeutig formulierte Gesetz, und verübe diese Verletzung absichtlich (freien Willens) und mit bösem Vorsatz. Die so definierten Bedingungen stellen erforderliche Voraussetzungen für die Verübung eines Verbrechens dar und zählen zu den Kennzeichen für klassische Rechtsschulen der Aufklärungsära, insbesondere im französisch-italienischen Milieu.16 Von großer Bedeutung ist jedoch auch die Forderung der „öffentlichen Schädlichkeit“ als unerlässliche Inkriminationsbedingung. Beccaria (inspiriert durch die Idee von „greatest happiness for the greatest number,“ die seit den 50er Jahren 14  Allgemeines Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung, Wien 1787, Abteilung I, §§ 1–3, §1, „Nicht jede gesetzwidrige Handlung ist ein Kriminalverbrechen oder sogennantes Halsverbrechen, und sind als Kriminalverbrechen nur diejenigen gesetzwidrigen Handlungen anzusehen, und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz ales solche erklärt werden“; § 2 „Zu einem Kriminalverbrechen gehöret Böser Vorsatz und freyer Wille. Böser Vorsatz ist vorhanden, wenn vor oder bei der gesetzwidrigen Unternehmung, oder Unterlassung das Übel, so daraus folgt, überdacht, und beschlossen worden, folglich die gesetzwidrige Handlung eigens in der Absicht verübet worden, damit das Übel erfolge.“ 15  Dieser Gedanke erscheint ganz eindeutig bei Rousseau: „D’ailleurs, tout malfaiteur, attaquant le droit social, devient par ses forfaits rebelle et traître à la patrie; il cesse d’en être membre en violant ses lois, et même il lui fait la guerre.“ Jean J. Rousseau, Du contrat social, Livre II, chapitre V (édition Pierre Burgelin; Flammarion, Paris 1966, S. 72). 16  Vgl. z. B. Alessandro Barratta, Sociologie trestního práva (Soziologie des Strafrechts), Brünn 1992; Jean Pradel, Histoire des doctrines pénales, Paris 1987.



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des 18. Jahrhunderts von Hutcheson propagiert wurde)17 charakterisierte die Strafhandlung als den der Gesellschaft verursachten Schaden. Er geht dabei von der Idee aus, die Handlung sei moralisch, wenn sie der größtmöglichen Zahl von (Mit)bürgern nützlich ist, und werde amoralisch, sobald sie sich als nutzlos, ja sogar schädlich gegenüber den anderen erweist.18 Nach der Beccarianisch aufgefassten „sozialisierten Ethik“ ist eine konkrete Bürgerhandlung amoralisch ausschließlich im Falle, dass sie sich als nutzlos, oder sogar schädlich für andere Bürger erweist. Das Verbrechen selbst ist notwendigerweise als der Gesellschaft verursachter Schade definiert. Diese Definition basiert auf der Idee, jede Handlung sei moralisch, solange sie das Kriterium der Nützlichkeit für die möglichst große Bürgerzahl erfüllt. Konsequente Trennung der Sünde und des „bürgerlichen Deliktes“ sollte künftighin selbstverständlich sein.19 Die so gefasste Definition kann offensichtlich nicht vorbehaltslos weniger gefährliche oder unabsichtlich verursachte Handlungen ohne bösen Willen umfassen, wie gesetzwidrig sie auch sind und gewisse Form von Strafe verdienen. In erster Linie ist hier die Frage der „Absicht“ und des „bösen Vorsatzes“. Der Unterschied zwischen dol-bewusstes Verschulden und culpa-Fehler ist selbstverständlich alt und ziemlich traditionell. Dabei wird grundsätzlich das Prinzip respektiert, nach dem nur der böse Vorsatz ein Verbrechen konstituiert, während dort, wo die Strafhandlung auf einen unvorsätzlichen Fehler zurückzuführen ist, oder wenn der Täter eine geistesgestörte Person ist, im Grunde genommen nur eine leichtere Strafe und Entschädigung, nicht aber eine Halsstrafe bzw. öffentliche Strafe zu verhängen ist. Noch in dem frühneuzeitlichen Zeitabschnitt gab es keine klare semantische Grenze zwischen dem (schwereren) Verbrechen und der (leichteren) Übertretung. Die meisten Kodexe und Rechtsautoritäten verwendeten den Begriff „Delikt“ (delictum, délit) für generische Bezeichnung einer Strafhandlung und zugleich als Ausdruck für eine leichtere Übertretungsform gegenüber dem gefährlicheren „Verbrechen“; manchmal wurden jedoch beide Ausdrücke als Synonyme benutzt.20 Nach 17  Ernest

Albee, A History of English Utilitarianism, London 1957, S. 62. inferto à la società“, Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene (1764), Art. VIII. (Ausgabe Fabbri, Milano 1986: S. 71–73). 19  Giuseppe Zarone, Etica e politica nell’utilitarismo di Cesare Beccaria, Istituto italiano per gli studi storici, Napoli 1971, S. 57; C. Beccaria, Dei delitti e delle pene (1764), art. XXXVI. (Ausgabe Fabbri, Milano 1986, S. 138–139). 20  In der römisch-rechtlichen Tradition überdauerte weiter die Unterscheidung von delicta publica und delicta privata (es handelt sich eigentlich um ein semantisches Relikt aus der Zeit, wo sich die Regierung für private Angelegenheiten nicht interessierte); je nach der Gewichtigkeit wurde unterschieden zwischen delicta graviora und delicta leviora, zwischen delicta ordinaria und extarordinaria. Diese Gren18  „Danno

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der Josephina (1707)21 gehören zu einer Strafhandlung der böse Vorsatz und der freie Wille; die unvorsätzlich begangene Strafhandlung kann nicht als Verbrechen betrachtet werden und auch die Abwesenheit des freien Willens schließt jede Schuld aus.22 Die Theresiana (1769) übernimmt fast buchstäblich diese Einteilung, wobei eine gewisse, jedoch immer noch relativ vage Grenze zwischen Verbrechen und Vergehen gezogen wird. Der Gedanke über unentbehrliche Unterscheidung einer Gruppe derartiger, weniger gefährlicher oder unvorsätzlicher Delikte ist auch bei Beccaria und dessen Nachfolgern zu finden. Wahrscheinlich der erste Kammeralist, der Administration und Justiz voneinander klar getrennt hat, ist Justi, der erklärte, „die tatsächlichen, der Polizei zur Wiedergutmachung überlassenen Verbrechen sind nie gefährlich. Sie stellen nur Vergehen, Fehler (…) in den Beziehungen zwischen Bürgern dar und verdienen nie eine strenge Strafe“.23 Auch in dem toskanischen Kodex (1786) besteht expressis verbis die Einteilung von Strafhandlungen zwischen „delitti“ und „trasgressioni“; diese sind jedoch nirgendwo definiert und keine Grenze zwischen ihnen ist gezogen.24 Ein tatsächlicher Wendepunkt kommt erst mit dem josephinischen Gesetzbuch (1787), in dem die Strafhandlungen eindeutig in zwei Kategorien geteilt sind: schwere „Kriminal- bzw. Halsverbrechen“ einerseits und bloße ze war jedoch nicht fest und wurde gewissermaßen von der Gerichtspraxis festgelegt. Dazu siehe z. B. Stanislaw Salmonowicz, Prawo karne oswieconnego absolutyzmu, Toruń 1966, Teil III, Anmerkungen 27–30. 21  Der Römischen Kayser auch zu Hungarn und Böhaimb … Königl. Majestät Josephi deß Ersten, Ertz-Hertzogens zu Oesterreich … Neue peinliche Hals-Gerichtsordnung, vor das Königreich Böheim, Marggrafthumb Mähren und Hertzogthumb Schlesien, Prag 1708 (tschechische Übersetzung Jeho Milosti Římského Císaře, etc. Josefa prvního, … Nové právo Útrpné a Hrdelní pro Království České, Prag 1708); §§ 2 et 3, „Zu einem Kriminalverbrechen gehört Böser Vorsatz und freye Wille. Böser Vorsatz ist vorhanden, wenn vor oder beider gesetzwüdrigne Unternehmung, oder Unterlassung das Übel, so daraus folgt, überdacht, und Beschlossen worden, folglich die gesetzwidrige Handlung eigens in der Absicht verübet worden, damit das Übel erfolge.“ 22  Ibid., § 4, „Wer ohne bösen Vorsatz eine Übelthat begeht, obgleich von seiner Seite eine Schuld vorhanden, ist kein Kriminalverbrecher. Noch minder kann eine That als ein Kriminalverbrechen angesehen werden, wo das Übel aus blossem Zufalle erfolgt ist“. 23  Isabelle Hull, Sex, Marriage and Civil Society in Germany, 1750–1815, Oxford 1995, S. 190. 24  Art. LVI, CIX. Zeitgenössische französische Übersetzung – „délit“ entspricht dem „delitto“, und die Delikte werden auf „délits graves“ bzw. „capitaux“ (buchstäblich „Halsverbrechen“) und „transgressions“ unterteilt. Nouveau code criminel pour le Grand Duché de Toscane, publié par ordre de S. A. R. Msgr. le Grand Duc, Lausanne, Grasset, 1787.



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„politische Verbrechen“ bzw. „Zivilverbrechen“,25 später Schwere Polizey­ übertretungen (1796, 1803) bzw. (Polizeyverbrechen) andererseits.26 Beide Kategorien sind expressis verbis definiert und es folgt eine genaue und erschöpfende Aufzählung der in die jeweilige Kategorie fallenden Handlungen. Diese Aufteilung ist jedoch nicht mehr nur terminologisch oder inhaltlich, sondern auch organisatorisch bedingt: die Polizeidelikte sind nämlich aus der Kompetenz der eigentlichen Strafjustiz ausgeschlossen und in die Kompetenz der Polizeiorgane und der Staatsverwaltung eingeschlossen. Derartige Delikte sind in zusätzliche zwei Gruppen unterteilt: Delikte gegen öffentliche Sicherheit und die gegen die Sicherheit individueller Personen.27 Interessant ist dabei die semantische Bemühung der jungen tschechischen Sprache um eine entsprechende Übersetzung dieser Begriffe. So wird zum Beispiel für das Verbrechen der Ausdruck „přečinění hrdelní“, d. h. „Halsvergehen“ benutzt, was eigentlich ein semantisch-etymologischer Anachronismus, ja sogar ein Oxymoron ist. Jedoch die Neubildung für „schwere Polizeyübertretungen,„těžké řádu městského policije přestupky“, spiegelt den imaginären Übergang von der Halsjustiz zur Polizeiordnung wider, wobei in diesem Falle der Begriff „bürgerlich-zivil“ mit „städtisch“ verflochten ist, wie es in anderen Übersetzungen in jener Zeit ziemlich oft der Fall war. Inhaltlich betrachtet stellt das Polizeidelikt eine weniger gefährliche Handlung dar, welche nur die öffentliche Ordnung oder Sitten verletzt, oder eine unabsichtliche Tat aus Fahrlässigkeit, also eine Handlung, die dem Kriterium des „bösen Vorsatzes“, bzw. des „freien Willens“ nicht entspricht und deshalb ist aus der Kompetenz der Kriminaljustiz ausgeschlossen.28 So ist es zum Beispiel bereits im josephinischen Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1787 definiert.29 Ziel ihrer Repression ist künftighin nicht eine ex25  Dieser Begriff erscheint in Haans Reformentwurf für das josephinische Gesetzbuch (1793). 26  In der zeitgenössischen französischen Übersetzung unterscheidet man zwischen délits criminels bzw. crimes capitaux und délits civils, Nouveau code criminel de l’Empereur, publié à Vienne le 25 janvier 1787. A Amsterdam, et se trouve à Paris, 1787, S. 1 et seq. eta S. 75 et seq. 27  In der französischen Übersetzung aus dem Jahre 1833 werden die Ausdrücke délits (nicht crimes! ) und graves infractions de police angewendet. Collection des Lois civiles et criminelles des Etats modernes. Code pénal général de l’Empire de l’Autriche, traduit par Victor Foucher, avocat général, Paris, 1833, S. 1 et seq. und S. 229–318. 28  Yves Cartuyvels, D’où vient le code pénal? Une approche généalogique des premiers codes pénaux absolutistes au XVIIIe siècle, Montréal-Ottawa-Paris-Bruxelles 1999, S. 265. 29  Allgemeines Gesetz über Verbrechen, II Theil, § 2: „Die Anschuldigung eines politischen Verbrechens fließt aus der mit freyem Willen begangenen That: wenn

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emplarische Strafe, sondern bloße Wiedergutmachung von Schäden oder Verbesserung des Täters (die Verbesserung ist hier wichtiger als das Exempel; so wird diese Einteilung später von Beccaria kommentiert). Es ist wichtig in diesem Zusammenhang zu betonen, dass auch einige ehemalige schwere und sogar Halsverbrechen religiöser Natur, wie Gotteslästerung und Magie, aber auch Sittenvergehen wie Adulterium und Sodomie in diese Kategorie eingeschlossen waren.30 Die Bildung eines abstrakten Konzeptes von „Strafhandlung“ wäre nicht vollendet worden, wenn gerade in der späten Aufklärungszeit eine zusätzliche Schlüsselinnovation nicht erschienen wäre, nämlich der „allgemeine Teil“, der die Modalitäten (irgend)einer strafbaren Handlung verallgemeinert, wie Verjährungsfrist, Versuch, Rezidive, Mittäterschaft usw. Auf diese werden wir hier jedoch nicht näher eingehen.31 IV. Dekriminalisierung In dem Aufklärungsrecht wird angenommen, dass der Verbrecher nur ein Individuum sein kann, das über kritische Vernunft verfügt und das fähig ist, das Legale von dem Illegalen frei und mit voller Verantwortung zu unterscheiden. In dieser Auffassung ist das Verbrechen vom Gesetz definiert und ist irgendwelchen Hinweis auf transzendentale Werte los: Es ist ein „bürgerliches“ bzw. „soziales“ Verbrechen, welches – so Foucault – das mit Sünde verwechselte „moralische Verbrechen“ ersetzt hat). Dieser an die nachtridentinische Theologie anknüpfende Glaube an den freien Willen des Menschen ist untrennbarer Bestandteil der Aufklärungsanthropologie, die erst von den positivistischen Schulen des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt wird, auch im Zusammenhang mit dem psychiatrischen Diskurs, der die Auffassung der (un)freien Handlung und (Un)verantwortlichkeit teilweise problematisiert hat. Die neue Auffassung von Strafhandlung löst eine unumgängliche Diskussion darüber aus, welche menschliche Handlung laut dieser Definition tatdaher eine solnst zum politischen Verbrechen geeignete Handlung unter den im §5 des ersten Theiles angezeigten Umständen begangen worden, kann sie dem Thäter als ein politisches Verbrechen nicht angeschuldiget werden. §6: Dem entdeckten und bewiesenen politischen Verbrechen folgt die politische Strafe, welche nur von der politischen Behörde zu verhängen ist“. 30  Antonio Cavanna, La Codificazione penale in Italia; Le origini lombarde, Università degli studi di Milano, Giuffrè, Milano 1975, S. 48. 31  Über Modalitäten der Strafhandlung siehe z.  B. Daniela Tinková, Hřích, zločin, šílenství v čase odkouzlování světa (Sünde, Verbrechen und Wahnsinn zur Zeit der Entzauberung der Welt), Praha 2004, S. 126–128.



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sächlich für ein „Verbrechen“ zu halten und welche nicht mehr zu halten ist. Auch die „Beccarianische“ Forderung von Proportionalität und Angemessenheit der Strafe in Bezug auf das Verbrechen hängt auch mit der Frage zusammen, welche Handlungsformen die Gesellschaft überhaupt bestrafen und welche sie künftighin nicht mehr bestrafen soll, und warum. Oder welche Handlung verdient nur eine polizeiliche (beziehungsweise disziplinäre) Bestrafung und bei welcher jede Straffälligkeit völlig in Frage zu stellen ist. Darüber hinaus löste die aufklärerische Besessenheit vom „Beweis“ auch eine Diskussion über die Handlungsformen aus, die schwer nachweisbar sind und die deshalb einen Gerichtsfehler zur Folge haben können. Diese Forderung von „Dekriminalisierung“ (im Sinne der Requalifizierung auf bloße Polizeiübertretungen) oder sogar von „Depönalisierung“ (volle Regressabschaffung)32 taucht natürlich auch bei Beccaria auf und bezieht sich insbesondere auf Sittlichkeitsdelikte und Selbstmord. Nach Beccaria wurde diese Forderung auch von weiteren Aufklärern erhoben und die Dekriminalisierung einiger Handlungsformen wurde so implizit zum Bestandteil des „Beccarianischen“ Diskurs in den 60er bis 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Meist diskutiert wurden die schwer nachweisbaren Delikte oder diejenigen, deren gesellschaftliche Schädlichkeit diskutabel ist, einschließlich derjenigen, die mit Einwilligung der beteiligten Parteien stattfinden, wie Unzucht oder Wucher. Die Forderung von „Dekriminalisierung de iure“ war danach fast expressis verbis Aufgabe einiger Gesetzgeber der Aufklärungsära. Übrigens, die zeitgenössische Gerichtspraxis selbst33 32  Dekriminalisierung kann also definiert werden als: 1. Prozess entgegengesetzt der Kriminalisierung, der die bislang für „Verbrechen“ legal gehaltene Handlungsformen umfasst. (Eine Art Anfangsphase der Dekriminalisierung, typisch für die Aufklärungsära, stellt bereits die geschwächte Repression eines Verbrechens dar (wie Aufhebung der Todesstrafe, oder „Reduktion“ des Verbrechens auf nur ein Delikt) oder Polizeiübertretung, wobei die Strafsanktion durch eine polizeiliche bzw. administrative Sanktion ersetzt wird (Korrektionierung). Depönalisation kann ein Antonym der „Inkriminierung“ sein und bezeichnet eine Operation, die in der vollen Aufhebung der Strafsanktion, d. h. in der Abschaffung des Deliktes sui generis besteht. Mit diesem Ausdruck kann auch gewisse allgemeine Tendenz der Kriminal­ politik in bestimmten Gebieten bezeichnet werden. Siehe z. B. Dermot Walsh / Adrian Poole (eds.)., A Dictionary of Criminology, Routledge, London, Boston, Melbourne 1983, S. 56, beziehungsweise Gérard CORNU et al., Vocabulaire juridique, VIIe édition, PUF, Paris 1998, 2000, V° Décriminalisation, Jean Larguier, Criminologie et science pénitentiaire, Paris 1994, S. 7, Gérard Cornu (Hrsg.), Vocabulaire juridique, PUF, Paris 1998, 2000, Correctionnalisation und Dépénalisation. 33  Auch hier muss man sich der notwendigen Diskrepanz bewusst werden zwischen Dekriminalisierung de iure (die bereits rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung eines legitimen Rechtes auf gewisse, bislang gesetzwidrige Lebensweise (Dekriminalisierung der homosexuellen Beziehung zwischen volljährigen und einwilligenden Personen) und Dekriminalisierung de facto – d. h. Verzicht auf Regress, faktische Aufhebung des Strafgesetzbuchs. Als Dekriminalisierungsmotive gelten

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weist gerade in den Sachen wie Sexualmoral, religiöse Einstellungen und Selbstmord ziemlich nachsichtige Stellungnahmen auf, mindestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts, wie von der Forschung in verschiedenen Ländern Europas belegt worden ist.34 Die Aufklärerrufe blieben in den Strafkodexen der Aufklärungszeit nicht unerhört: Die in den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts stattfindenden Reformen ermöglichten eine verhältnismäßig breite Dekriminalisierung de iure. Peter Leopold von Toskana verkündete die Dekriminalisierung zahlreicher ehemaliger Verbrechen, welche „obwohl sie Reue erwecken, strafrechtlich nicht zu verfolgen sind“. Während einige völlig depönalisiert waren, wurden andere auf bloße Polizeisachen dekriminalisiert.35 Zur Dekriminalisierung de iure kam es auch in der Sache Crimen laese Maiestatis divine et humanae, wobei jedoch die Straffälligkeit sowohl der Religions- als auch der Staatsverbrechen erhalten blieb; von jetzt an handelte es sich jedoch nicht mehr um Verbrechen wider die „Majestät“, weder Gottes noch des Herrschers. Ähnlich war es auch im „zisleithanischen“ Teil der Habsburgermonarchie.36 Die „Formen“ und „Stufen“ von Dekriminalisierung, welche die zeitgenössische Spannung zwischen der gültigen legislativen Norm, deren realer Applikation und der (intellektuellen) „öffentlichen“ Meinung manifestieren, verraten jedenfalls viel über den Legitimitätsstand des jeweiligen „Verbrechens“ in dem jeweiligen Soziokultursystem.

vor allem: 1. Sittenentwicklung, allmähliche Degradation gewisser soziokultureller Werte (Verbrechen wider Religion, Abortus, Ehebruch); 2. schwere Nachweisbarkeit gewisser Verschuldensformen; 3. Tendenz zur Anwendung neu entwickelter außerrepressiver, präventiver Verfahren. Vgl. z. B. auch Mireille Delmas-Marty, Les grands systèmes de politique criminelle, Paris 1992 und Jean Larguier, Criminologie, S. 7. 34  Vgl. z. B. Tinková, Hřích, zločin, šílenství, S. 155–290. 35  Es wurden also dekriminalisiert: Schmähschriften gegen Regierung (mit Rücksicht auf die Redefreiheit), Flucht aus Gefängnis (als natürliche Reaktion des Häftlings), Unzucht von Christen mit Juden, Geheimehe und andere kleinere Delikte. 36  Diskussion in der Habsburgermonarchie wurde auch von der Straffälligkeit des Wuchers: Für Kammeralisten und Freihandelsanhänger galt die Kreditanleihe als ein frei geschlossener Vertrag zwischen zwei Subjekten. Auch in dieser Auffassung spiegelte sich die Säkularisierung, denn das christliche Argument gegen Wucher, der praktisch den Juden vorbehalten war, wurde nicht berücksichtigt. Es ist anzunehmen, dass die Bedeutung, die dieser Frage zum Beispiel von Sonnenfels zugeschrieben wurde, auch auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass er selbst einer jüdischen Handelsfamilie entstammte.



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V. System und Hierarchie der Strafhandlungen Die neue Definition und Auffassung des Verbrechens (sowie die neue Skala adäquater Strafen in den meisten Gesetzbüchern unmittelbar unter der Überschrift) erforderte auch die Aufstellung einer neuen Hierarchie, eines neuen Systems der inkriminierten Handlungen. Das bedeutete das Ende des alten, auf Kompilationen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert basierenden Paradigmas, in dem die Delikte gegen die Gottesmajestät dominieren, wie ersichtlich zum Beispiel noch im Text der Constitutio Criminalis Theresiana aus dem Jahre 1769, wo im Artikel 55 die nachstehende Hierarchie von Verbrechen zu finden ist: 1. Wider Gott, wider die Heilige Gottes, wider die Religion (Contra Deum); 2. Wider den Landfürsten, und gesammten Staat (Contra Principem); 3. (oder) sie gereichen zu Abbruch der Landesherrlichen Hoheiten, und der Landesgefällen (Ejuve Regalia) 4. oder sie widerstreben dem guten Regiment, und gemeiner Landesverfassung (Vel adversantur regimini, et statui publico); 5. wider gute Sitten und Ehrbarkeit (vel honestati, et bonis moribus); 6. sie verletzen den Nebenmenschen am Leib oder Leben (verguat ad laesionem proximi in vita, aut corpore); 7. an seinem Vermögen oder Rechten (in bonis, aut juribus); 8. an der Ehre, und guten Leumuth (in fama, et existimatione).

Interessant definiert ist jedoch die neunte Kategorie von besonders ekelhaften Handlungen, die zwar nicht spezifiziert sind, die aber trotzdem öffentliche Bestrafung verdienen (siehe oben).37 Um die Ausarbeitung einer „neuen“, „rationalen“ Hierarchie bemühten sich inzwischen auch die Aufklärungsphilosophen. Die erste Inspirationsquelle war natürlich Montesquieu, der vier Kategorien von Strafhandlungen unterscheidet: 1. wider Gott (Montesquieu beharrt auf der moralischen und gesellschaftlichen Rolle der Religion, obwohl er für derartige Delikte nur geistliche Strafen vorsieht, und zwar wegen der klaren Arithmetik und Proportionalität zwischen Verbrechen und Bestrafung; die Strafe solle von „der Natur“ des Verbrechens ausgehen; 2. wider Staat, 3. wider Personen, 4. wider öffentliche Ordnung und Ruhe.38 Diese Klassifikation wurde auch von Ritter de Jaucourt im Stichwort „Verbrechen“ in Diderots Enzyklopädie übernommen.39 Von derselben Quelle lässt sich auch Beccaria inspirieren, 37  Constitutio

Criminalis Theresiana, Art. 55, § 2. y a quatre sortes de crimes: ceux de la première espèce choquent la religion; ceux de la seconde, les mœurs; ceux de la troisième, la tranquillité; ceux de la quatrième, la sûreté des citoyens. Les peines que l’on inflige doivent dériver de la nature de chacune de ces espèces.“ Ch. Montesquieu, Esprit des Lois, Livre XII, chapitre VI (Que la liberté est favorisée par la nature des peines et leur proportion). 39  Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Stuttgart 1966, V° Crime. 38  „Il

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der jedoch die erste Klasse Montesquieus, „geistliche“ Verbrechen mit „rein geistlichen“ Strafen“, völlig eliminiert und nur die übrigen drei beibehalten hat:40 1. Verbrechen, welche auf Destruktion der Gesellschaft oder deren Vertreter zielen, 2. diejenigen, welche die Sicherheit der Bürger dadurch stören, dass sie deren Leben gefährden, und 3. diejenigen, welche von dem die öffentliche Wohlfahrt schützenden Gesetz verboten sind. Diese Aufklärungspostulate wurden von den Reformkodexen wieder reflektiert, aber dabei selbstverständlich zweckgemäß modifiziert. In der toskanischen Leopoldina (1786) figurieren 6 Kategorien von Strafhandlung, und zwar: 1. wider Religion; 2. wider Staat; 3. wider Personen (ihr Leben, Ehre und Vermögen); 4. wider öffentliche Wohlfahrt; 5. wider Sitten; 6. wider Polizeivorschriften. Josef II. schuf in demselben Zeitabschnitt (1787) vier Gruppen im Rahmen der Kategorie von „Kriminalverbrechen“: 1. wider Staat; 2. wider Personen; 3. wider Ehre und Freiheit; 4. wider Vermögen und Rechte. Die separate Kategorie von „Polizeyverbrechen“ umfasste drei Klassen: 1. wider Leben und Gesundheit; 2. wider Vermögen und Rechte; 3. wider Religion und Sitten. In dem lombardischen Projekt aus den Jahren 1791–1792 wurden schließlich drei Verbrechenkategorien (delitti) entworfen: 1. wider öffentliche Sache und Staat (an erster Stelle steht hier die Religion, gefolgt von der Staatssicherheit); 2. wider Personen (Leben, Ehre, Keuschheit, und expressis verbis Verbrechen gegen Familie und Ehe); 3. wider Vermögen (privat und öffentlich). Vergleichsweise ist zu erwähnen, dass auch in dem französischen Revolutionskodex Code pénal (1791) die Verbrechen bzw. Delikte gegen öffentliche und die gegen private Sachen voneinander getrennt sind, wobei, wie bekannt, die Polizeiübertretungen eine besondere Kategorie bilden (diese Hierarchie bleibt auch im napoleonischen Kodex aus dem Jahre 1810 respektiert). Das preußische Landesgesetzbuch (1794) unterscheidet ähnlich zwei Verbrechentypen: 1. öffentliche (Staatsverbrechen) und 2. private Verbrechen, gegen Personen. In dem nachfolgenden „Postaufklärungskodex“ Österreichs aus dem Jahre 1803 wurden derartige „Überklassen“ abgeschafft und erhalten blieb nur ein „linearer“, tiefer unstrukturierter Katalog (Verzeichnis) von einundzwanzig Verbrechen sowie ein anderer, ähnlich geordneter Katalog von Polizeidelikten, ähnlich wie es in den älteren Kodexen der Fall ist. An der Spitze stehen, 40  C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, Art. XXV (Ausgabe Fabbri, Milano: S. 104–105).



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wie in anderen Reformgesetzbüchern, die Verbrechen gegen den Staat (7 Teile (Hauptstücke)), gefolgt von einem Hauptstück über Religionsverbrechen (Religionsstörung), das auch den Schutz der nichtkatholischen, vom Staat tolerierten Kulte umfasst; die entsprechenden Strafen liegen jedoch zwischen 6 und 12 Monaten Gefängnis.41 In Feuerbachs Gesetzbuch in Bayern (1813) erscheint hingegen zum ersten Mal eine verkehrte Ordnung und die Verbrechen gegen private Personen sind an erster Stelle vor der Kategorie der öffentlichen und Staatsverbrechen, analogisch wie es in den Kriminalkodexen in Westeuropa, und später auch in Mittel- und Osteuropa üblich ist, meistens nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach 1990. VI. Ordnung und Klassifizierung der „Religionsverbrechen“ Das System von Religionsdelikten entwickelte sich in der Habsburgermonarchie vom 16. bis 18. Jahrhundert ungefähr wie folgt: Trotz gewisser Dispersion in der Aufzählung von Strafhandlungen in der Constitutio Criminalis Carolina (1532) figuriert Blasphemie (Gotteslästerung) eindeutig an der Spitze, gefolgt von der Kriminalisierung käuflicher Richter und dem Meineid; Magie liegt an vierter Stelle und Kirchendiebstahl erst in der zweiten Hälfte des Inkriminationskodexes, womit die Aufzählung der Verbrechen religiösen Charakters erschöpft ist.42 Auch in dem Werk Městská práva česká (Die Stadtrechte in Böhmen) von Pavel Kristián z Koldína (1579) wurde ein ähnlicher Approach verwendet. Die spätere Constitutio Criminalis Josephina (1707–1708) bemüht sich jedoch um gewisse hierarchische Klassifikation. Die Religionsdelikte sind Thema der ersten Paragraphen in der Aufzählung von Inkriminationen, und zwar in der folgenden Reihenfolge: Gotteslästerung, Ketzerei, Zauberei, Meineid und Renegatentum. In der Theresiana ist die Reihenfolge ähnlich: der Blasphemie (Gotteslästerung) folgt Abfall von 41  Gesetzbuch über Verbrechen, I Theil, XIV Hauptstück, §107, Religionsstörung: „Das Verbrechen der Religionsstörung begeht, a) wer durch Reden, Schriften, oder Handlungen Gott lästert; b) wer eine im Staate bestehende Religionsübung störet, oder durch entehrende Mißhandlung an den zum Gottesdienste gewidmeten Geräthschaften, oder sonst durch Handlungen, Reden, Schriften öffentlich der Religion Verachtung bezeiget; c) wer einen Christen zum Abfalle vom Christenthume zur verleiten, sich anmaßet; d) wer Unglauben zu verbreiten, oder eine der christlichen Religion widerstrebende Irrlehre auszustreuen, wer Sectirung zu stiften, sich bestrebet; (…) §109: … so ist die Religionsstörung mit Kerker von sechs Monathen bis auf ein Jahr zu bestrafen.“ 42  Erwähnenswert ist die Tatsache, dass der Hauptverfasser des Kodexes Luthers Anhänger und Sympathisant, Johann von Schwarzenberg war. J. Kohler, Die Carolina und ihre Vorgängerinnen, Halle 1900, Teil 1, S. 56–129; Code criminel de l’Empereur Charles V vulgairement appelé la Caroline, éd. Vogel, Paris 1775.

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christlichem Glauben, weiter Zauberey, Hexerey, Wahrsagerey u. ä.; Ketzerei unterliegt seit Karl VI. besonderen Patenten. Diese ganze Kategorie ist unter dem eindeutig definierten Hauptstück von „Verbrechen wider Gott“ zusammengefasst, womit sie die notwendige Kohärenz erhält und ein tatsächlich logisches und hierarchisches „System“ bildet.43 Zur allmählichen Dekriminalisierung (zunächst jedoch zur Einschränkung der Todesstrafe) der Religionsdelikte kommt es verständlicherweise zunächst in nichtkatholischen Ländern, vor allem in den Niederlanden und in Großbritannien. Auch katholische Länder folgten und allmählich verzichteten auf die Halsstrafen, selbstverständlich zunächst in der Praxis. Wie bereits gesagt, wurde die Dekriminalisierung von Religionsdelikten von den Aufklärungsreformatoren ziemlich eindeutig erfordert. Übrigens schlug bereits Locke im ausgehenden 17. Jahrhundert vor, die Religionsdissidenten der Privilegien zu entrechten, die ihnen die Kirche bzw. Religion bot;44 dieser Gedanke erscheint später auch bei Montesquieu, der nur die „Ausweisung aus dem Tempel“, Exkommunikation empfiehlt und die „falsche Idee“, Gottheit zu rächen verurteilt.45 Dieser Gedanke wurde von Beccaria übernommen und in radikaler Form entwickelt. Neue Rationalität taucht jedoch erst in der toskanischen Leopoldina (1786), im österreichischen Gesetzbuch Josephs II. (1787), im lombardischen „Progetto“ (1791–92) und selbstverständlich auch in dem revolutionären Code pénal (1791) in Frankreich, sowie im neuen Landrecht (1794) im protestantischen Preußen auf. Die gesetzliche Norm wird hier in einer ganz neuen Weise präsentiert, in welcher der Schutz religiöser Werte und Interessen artikuliert ist. Bereits im Laufe der Vorbereitungsarbeiten auf dem neuen Strafkodex für Toskana bemerkte Erzherzog Leopold ausdrücklich, „es bestehen praktisch keine Beleidigungsverbrechen der Majestät Gottes“, und bemühte sich um deren Dekriminalisierung.46 Auf vorsichtiges Anraten seiner Mitarbeiter aus dem höchsten florentinischen Tribunal und dank seiner eingeborenen sozialen Empathie und seinem Sinn für „eine Reform im Rahmen des Möglichen“ hat er schließlich die religiösen „Delikte“ in seinem Strafgesetzbuch behalten, jedoch ohne ihrer alten privilegierten Rolle. Leopolds Bruder Joseph II. reduzierte ungefähr in demselben Zeitabschnitt radikal den Raum, den seine Mutter den Religionsverbrechen gewährt hatte, und in seinem 43  Constitutio 44  Epistola

Criminalis Theresiana, Art. 56, 57, 58. de Tolerantia, Gouda 1689; Lettera sulla tolleranza, Firenze 1970,

S. 19–20. 45  Ch. Montesquieu, Esprit des Lois, XII, 4. 46  Archivo di Stato di Firenze, Supremo Tribunale di Giustizia, Segretteria di Gabinetto, Filza 61, inserto 24.



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Strafgesetzbuch für die Habsburger Erbländer aus dem Jahre 1787 fasste er alle derartigen Handlungsformen in einem Artikel „Religionsstörung“ zusammen (also nicht mehr „Beleidigung Gottes“ – diese semantische Verschiebung ist nicht bedeutungslos), der darüber hinaus (von Sonnenfels) in die neu gebildete Kategorie von Polizeyverbrechen eingegliedert wurde, womit derartige Delikte nicht nur desakralisiert, sondern auch dekriminalisiert waren, denn sie stellten bloße administrative / polizeiliche Übertretungen dar und befanden sich unter den der Verderbnis der Sitten gewidmeten Paragraphen. Für Religionsdelikte, einschließlich der absichtlichen Störung von Gottesdiensten (irgendwelcher der vom Staat anerkannten und auch tolerierten Kulte), Anstiftung zur Konfessionslosigkeit oder Verbreitung „phantasierender“, christentums- und evangeliumswidriger Lehren, drohte strenges Gefängnis entsprechend dem Verschuldensgrad, kurz- bzw. langzeitig (eventuell verschärft mit Fasten und Züchtigung mit Streichen), und der Übertreter wurde vor dem Gefängnis an den Pranger gestellt. Es ist jedoch zu erwähnen, dass die Beleidigung Gottes an sich ausschließlich als Tat eines Menschen mit ungesunder Vernunft betrachtet wurde und als solche war sie ausschließlich mit Internierung im Narrenhaus zu bestrafen.47 Das lombardische „Progetto“ von Strafgesetzbuch, entstanden bereits unter der Regierung seines Bruders, des neuen Kaisers Leopold, enthält schließlich drei Kategorien von Strafhandlung: 1. wider öffentliche Ordnung; 2. wider Personen; 3. wider Vermögen. Die erste Kategorie umfasst selbstverständlich Verbrechen gegen den Staat, die öffentliche Verwaltung 47  Allgemeines Gesetz ueber Verbrechen und derselben Bestrafung, Wien 1787, 2. Teil, § 61: „Wer die Vernunft auf den Grat verläugnet, um den Allmächtigen in öffentlichen Oertern, oder in Gegenwart anderer Menschen, durch Reden, Schriften, oder Handlungen freventlich zu lästern, ist als ein Wahnwitziger zu behandeln, und in dem Tollhause in so lange gefänglich anzuhalten, vis man seiner Besserung bergewisset ist. § 62: Jede Handlung, durch die eine öffentliche gottesdienstliche Uebung der herrschenden, oder einer geduldeten Religion geflissentlich gestöret, in Gotteshäusern Ausgelassenheit, oder öffentliche Verachtung bezeiget, zum Gottesdienste gewidmete Geräthschaften gemißhandelt werden, ist ein politisches Verbrechen. § 63: Die Strafe dieses Verbrechens ist zeitliches strengeres Gefängniß, so mit Fasten und Züchtigung mit Streichen zu verschärfen ist, wenn aus der Handlung großes Aergerniß entstanden ist. § 64: Ein politisches Verbrechen begehet auch derjenige, der sich anmaßet, einen christlichen Religionsverwandten durch falschen Unterricht oder Ränke zum Abfall vom christlichen Glauben zu bestimmen und ihn zur Verläugnung aller Religion, oder zur Annahme einer, die das Evangelium läugnet, zu verleiten. § 65: Eben ist derjenige ein politischer Verbrecher, welcher einer der herrschenden Religion zugethanen Gemeinde offenbare Irrlehre, oder Unglauben einzuflöen, und sie von der herschenden Religion abzuwenden sich bestrebt. § 66: Im ersteren Falle soll ein solcher Verbrecher auf der Schandbühne ausgestellt, und mit zeitlichem strengeren Gefängnisse belegt werden. Im zweyten Falle ist zur Strafe anhaltendes strengeres Gefängniß bestimmet.“

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und Justiz, und überraschenderweise findet man an der Spitze der ersten Kategorie auch Verbrechen gegen „sentimento religioso“. Nähere Untersuchung dieser ersten Artikel bietet eine weitere Überraschung: trotz der privilegierten Stelle im Rahmen der Inkriminationshierarchie überschreitet nämlich die Strafe für derartige Delikte nicht einen Monat Gefängnis. Obwohl die Religionsdelikte in der Lombardei nicht dekriminalisiert waren, deutet bereits die Benennung der Kategorie von „Delikten wider Religionsgefühl“ auf gewisse Änderung, denn aus dieser Kategorie ist das Heiligtumskonzept (sogar das von Gott selbst) praktisch ausgeschlossen und als Kriminaldelikte gelten nicht diejenigen gegen den transzendenten Wert, „wider Gott“, sondern jene gegen den rein bürgerlichen Wert, nämlich das „Religionsgefühl“. Vergleichsweise sei noch das protestantische Preußen erwähnt. Der Landeskodex aus dem Jahre 1794 (begonnen noch unter Friedrich II.) widmete den Religionsdelikten die sechste der insgesamt siebzehn Kategorien (Sektionen) von Strafhandlung (unmittelbar nach den Verbrechen politischer Natur), jedoch unter der Benennung „Beleidigungen der Religionsgemeinschaften“. Die Störung eines der vom Staat anerkannten bzw. tolerierten Kulte, öffentliche Beleidigung, ja sogar „grobe Blasphemie“ sollte mit keiner schwereren Strafe als mit sechs Monaten Gefängnis bestraft werden.48 Auch hier, wie in den Habsburger Dominien, ist eine markante Begriffs- und Bedeutungsabweichung von dem transzendenten Konzept der klassischen Gesellschaft des Ancien Regimes zu beobachten. Die resultierenden legislativen und normativen Formulierungen der Gesetzgeber im Reich sind also ganz vergleichbar mit dem Diskurs der revolutionären Verfassungsgebenden Versammlung in Frankreich, die im Mai 1791 beschloss, aus der Aufzählung der Strafhandlungen derartige „imaginäre Delikte“ wie „Beleidigung der Gottesmajestät“ vollkommen zu „streichen“ und so den 10. und 11. Artikel der Déclaration des droits über die Konfessionsfreiheit aus dem Jahr 1789 zu bestätigen. In dem neuen Strafgesetzbuch vom Herbst 1791 erscheinen so als geschützte Werte vor allem die Kultusfreiheit und der Schutz von Bethäusern aller Konfessionen.49 Die aufgeklärte Denkweise stellte die „Religionsdelinquenz“ in einen neuen Sichtwinkel. Kriminalisierung der Delikte gegen Religion wird nicht mehr als Schutz des Heiligtums bzw. Achtung vor einem unverletzlichen 48  Code général pour les Etats prussiens, traduit par les membres du bureau de législation étrangère, et publié par l’ordre du Ministre de la Justice, Teil 2, Teil 3; Paris Jahr X (1802), Sektion VI, Art. 214–228. 49  Décret général sur les délits et les peines, vulgairement appelé Code Pénal, du 25. septembre 1791, in. Code universel et méthodique des nouvelles lois françaises, ordre judiciaire, Paris 1791, Teil 2, Partie 2.



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Tabu, sondern als Ausdruck des Respektes vor bürgerlichen Rechten und Freiheiten, einschließlich der Konfessionsfreiheit oder mindestens Toleranz der vom Staat anerkannten Kulte angesehen. Jedoch die Französische Revolution, die Spaltung des katholischen Klerus und die nachfolgende Wiederherstellung der konservativen Regimes im Rahmen der Heiligen Allianz führten unvermeidlich zu einer neuen Ansicht der Straffälligkeit  /  Straflosigkeit der Übeltäter gegen Gott, Religion und Kirche. So entstand Nährboden für eine Rekriminalisierung der „Religionsdelikte“ im restaurierten Europa im Namen des Kampfes für Wiederherstellung des Ancien Régimes. In den Erbländern der Habsburgermonarchie fand die Rekriminalisierung von Religionsdelikten bereits im Jahre 1803 statt. In dem neuen Strafgesetzbuch figuriert die „Religionsstörung“ wieder unter Verbrechen, und sogar gleich nach den sieben Paragraphen, welche die staatsfeindliche und andere politisch gefährliche Tätigkeit inkriminierten. Im Vergleich zu den vorjosephinischen „traditionellen“ Gesetzbüchern gibt es jedoch wichtige Unterschiede: 1. die religionsfeindliche Handlung wird auf einen einzigen, den achten Paragraphen reduziert; 2. es wird der generische Begriff Religions­ störung und nicht mehr Gotteslästerung verwendet; und 3. die Strafe beträgt höchstens mehrere Jahre Gefängnis.50 Die Rekriminalisierung de iure hat jedoch die Repression von Religionsdelinquenten offensichtlich nicht verstärkt; ihr Erscheinen vor Tribunalen war an der Schwelle des 19. Jahrhunderts ganz marginal. Die „diskursiven Praktiken“ der Aufklärungsära haben so die „Religionsdelinquenz“ in einen neuen Sichtwinkel gestellt. Die Kriminalisierung religionsfeindlicher Delikte wird nicht mehr als Schutz des Heiligtums bzw. Achtung vor dem Tabu, sondern als Ausdruck des Respektes vor bürgerlichen Rechten und Freiheiten angesehen, einschließlich der Konfessionsfreiheit bzw. mindestens Toleranz der vom Staat anerkannten Kulte. Zur Instrumentierung der Religionsinkriminierungen kommt es in erster Linie aus politischen Gründen; es hat sonst den Anschein, dass diese Rekriminalisierung eher eine „diskursive“ als praktische, d. h. gerichtliche Waffe darstellt. Als interessantes Illustrationsbeispiel kann die Bestrafung von Blasphemie und Kirchendiebstahl dienen, wo sich das Verhältnis zum Heiligtum und dessen Schutz, bzw. umgekehrt zu dessen „Profanation“, und selbstver50  Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen (1803), Wien 1815, Partie 8. In den Jahren 1808–1820 wurden zum Beispiel vor dem Appellationsgericht in Prag für dieses Delikt 20 Personen, bis 1831 dann weitere 19, davon die meisten in den Jahren 1811 (4) und 1820 (7). Vgl. Nationalarchiv Prag, Zweigstelle, Prager Ober- und Appellationsgericht (PAS), elench PU 18; die Prozessprotokolle waren unerreichbar.

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ständlich auch die Aufklärungstendenz zur utilitarischen, funktionalen Auffassung sakraler, kultischer Objekte und Worte sehr intensiv konzentrieren. VII. Blasphemie und Kirchendiebstahl als Beispiel Blasphemie (Gotteslästerung, Crimen laesae Maiestatis Divinae sui generis), von einigen Rechtsexperten des 18. Jahrhunderts sogar als „Gottesmord“ bezeichnet, stand in der imaginären Verbrechenpyramide der traditionellen Gesellschaften an erster Stelle. Es geht um eine Handlungsform, welche an der Spitze der Skala neuzeitlicher kriminalisierter Handlungsformen steht. Es ist Verbrechen Nummer eins in dem Reichskodex Constitutio Criminalis Carolina (1532), in Koldíns Gesetzbuch für böhmische Städte (1579) und in der Theresiana (1769), sowie bei französischen oder italienischen Juriskonsulten oder in den frühneuzeitlichen Polizeiordnungen Österreichs.51 Die Constitutio Criminalis Theresiana unterscheidet drei Kategorien von Blasphemie nach deren Gewichtigkeit, denen auch die Strafe entspricht: „Unter den Lastern ist das erste, undärgste die Gotteslästerung. Die beschiehet entweder: Im erst-und höchsten Grad, da Jemand Gott den allmächtigen, folglich die allerheiligste Dreyfaltigkeit, oder eine deren drey göttlichen Personen unmittelbar mit Worten, oder Thaten schmählich lästert, und Gott etwas zumesset, so sich nicht gebühret, oder etwas benimmt, so ihme zustehet; oder Im andert- und mitleren Grad, da wer auf die allerreineste Jungfrau, oder andere Heilige Gottes schmähet, ihnen was ungebührliches zueignet, oder, was denenselben gebührt, freventlich abspricht; ingleichen, da wer das Crucifix, oder andere heilige Bildnissen wissent- und vorsetzlich zerbricht, zerschlaget, oder in anderweg boshaft verunehret, und solchergestalten sich mittelbar an Gott vergreiffet. Im dritt- oder minderen Grad, da (…) was ungebürhliches wohlbedächtlich, und boshafter Weise begangen wird, so einigermassen zur Schmäh- Schimpf- und Verunehrung Gottes, oder seiner Heiligen gereichet: als da Jemand bey den H. Sacramenten, Wunden, Kreutz, und Leiden Unsers Erlösers fürsetzlich fluchet (…)“52

Gotteslästerung ersten Grades sollte mit Herausreißen der Zunge bzw. Abhauen der Hand bestraft werden, je nachdem, ob der Übeltäter mit Wort oder Tat gegen Gesetz verstoßen hatte. In besonders abscheulichen Fällen war die Strafe noch mit Zwacken mit glühender Zange zu verschärfen; in jedem Falle folgte immer der Feuertod. Für die Gotteslästerung II. Grades drohte eine weniger strenge Strafe – Enthauptung durch Schwert (in schwe51  Siehe z. B. Karl Vocelka, „Public Opinion and the Phenomenon of „Sozialdisziplinierung“ in the Habsbourg Monarchy“, in: State and Society in Early Modern Austria, Memoriam Volker Press, University Press Indiana 1994, Charles W. Ingrao (Hrsg.), S. 121 et seq. 52  Constitutio Criminalis Theresiana, Art. 56, § 1.



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ren Fällen war jedoch Abschneiden der Zunge oder Abhauen der Hand nicht ausgeschlossen). Beim III. Grad konnte man mit „üblicher“ Leibesstrafe nach Richters Ermessen ausgehen (geläufiges oder unabsichtliches Fluchen sollte jedoch nachsichtig beurteilt werden).53 Ähnlich wurde auch beim Kirchendiebstahl vorgegangen. Unter diesem Begriff verstand man den Diebstahl von „heiligen Gegenständen“ (insbesondere von Kelchen oder Hostiengefäßen), aber auch deren Profanierung. Lästerer und Kirchendiebe (zum Unterschied von Zauberern und Ketzern) unterlagen der Todesstrafe bis tief ins 18. Jahrhundert (und in einigen Ländern noch an der Schwelle des folgenden Jahrhunderts), verschärft zusätzlich mit Handabhauen (Kirchendiebe) oder Herausreißen der Zunge (Lästerer). Gerade die Verbrechen von Gotteslästerung und Kirchendiebstahl illustrieren ganz essentiell den sakralen Charakter nicht nur der vorjosephinischen Strafjustiz und der strafrechtlichen Denkweise, sondern auch der ganzen traditionellen, vorindustriellen Gesellschaft von Gottes Gnaden, die spezifische Sensibilität der magischen, unentzauberten Welt54, beruhend auf binären Oppositionen wie heilig-profan, rein-unrein, auf tiefem Respekt vor Tabu und Interdikt, auf der Fusion von Verbrechen und Sünde. Luzifer, das vornehmste aller Wesen, wurde doch gerade wegen Gotteslästerung vom Himmel herabgestürzt; und Kirchendiebstahl, direkte Beleidigung des Hei­ ligtums, ist allen traditionellen Kulturen bekannt. Gotteslästerung und Kirchendiebstahl beziehen sich nicht auf eine spezifische Bevölkerungsgruppe, die von gemeinsamen, zu liquidierenden Doktrinen oder Praktiken, wie Ketzerei oder Zauberei zusammengebunden sind, sondern auf konkrete „delinquente“ Handlung oder mündliche Äußerung, mit der jedoch der Übeltäter aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, denn auf ihm lastet eine Verletzung nicht nur des menschlichen, sondern vor allem des göttlichen Gesetzes. Es lastet auf ihm unvermeidlich auch gewisse „Verschmutzung“. Auch Ketzerei und Zauberei umfassen explizit Gotteslästerung oder Kirchendiebstahl, welche eine Antithese des Respektes vor dem Heiligtum darstellen; der Lästerer / Kirchendieb ist ein Antibild des frommen Christen, ein Wesen, das die Grenze überschritten und das Tabu gestört hat.55 In den reformierten Aufklärungskodexen war dieses Verbrechen selbstverständlich von seiner Position des privilegierten, schwersten Halsverbrechens destituiert. Nach dem neuen Strafgesetzbuch für die Toskana (1786), in dem 53  Constitutio

Criminalis Theresiana, Art. 56, § 9. Mangel an Begriffsapparat verwende ich diese Benennungen insbesondere für die Vorrevolutionsgesellschaft Frankreichs und für die vorjosephinische Gesellschaft in der Habsburgermonarchie. 55  Vgl. z. B. Emile Durkheim, Formes élémentaires de la vie religieuse (1912), PUF 1960, 1979, S. 586. 54  Wegen

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jede Todesstrafe abgeschafft war, sollten sogar die Lästerer nicht mehr der Todesstrafe unterliegen, und darüber hinaus ist die „Gotteslästerung“ in der neuen Definition in einem ganz neuen Licht präsentiert. Es heißt hier ausdrücklich, Gotteslästerung sei eher Produkt von Unkenntnis, Geistesstörung, Zornausbruch oder Trunkenheit als von einer „Absicht, Göttlichkeit oder Religion zu beleidigen“. Falls derartige Blasphemie nicht ausgerechnet „ketzerisch“ sei, was jedoch nicht definiert ist, solle die einzige adäquate Bestrafung eine „ökonomische“ Strafe, Gefängnis oder andere Maßnahme innerhalb der Polizeikompetenz sein.56 Der toskanische Kodex legte zwar weiter das Verbrechen von „Profanation der Gottesmysterien“ fest, zusammen mit „öffentlicher Gottesleugnung“, für die eine öffentliche Arbeitsstrafe bis auf Lebensdauer drohte,57 jedoch derartiges Verbrechen – und dessen mussten sich die toskanischen Richter bewusst sein – war fast unbeweisbar und bei jeweiligem „Prozess“ konnte von den Richtern selbst und mit Hilfe des Verteidigers leicht „defabriziert“ und die Strafe aufs Minimum reduziert werden, was übrigens auch manchmal geschah, wie von Verlauf und Ergebnis verschiedener Prozesse aus den 90er Jahren und Anfang des 19. Jahrhunderts belegt worden ist. Die Abwesenheit des „Willens, den Lästerer zu bestrafen“ ist hier ganz offensichtig. In dem für die Lombardei entworfenen Strafgesetzbuch figuriert zwar Gotteslästerung an der führenden Stelle, den Lästerern droht jedoch paradoxal nur ein Monat Gefängnis. Gotteslästerung (§§ 23–24) ist hier darüber hinaus in Zusammenhang mit einer Geistesstörung oder Zornanfall gestellt. Die formale Hierarchierung an der Spitze des „Inkriminierungskodexes“ ist eher als eine Art Zugeständnis der Tradition oder der öffentlichen Meinung zu verstehen und steht in krassem Widerspruch zu dem Verschuldungsgrad und zu der Bedeutung, die dem neuen Konzept von „Gotteslästerung“ von den lombardischen Gesetzgebern zugeschrieben wurde. Auch Kirchendiebstahl (Sacrilegium, Kirchendiebsta(h)l) kann als ein weiteres Dekriminalisierungsbeispiel von „Religionsdelikten“ dienen; hier jedoch verschwindet nicht die Inkriminierung der eigentlichen Übeltat von „Diebstahl kirchlicher Gegenstände“, denn diese unterliegt der Kriminalisierung eigentlich noch heute. Es ändert sich jedoch die Form ihrer Bezeich­ nung, ihrer Benennung und Auffassung („Diebstahl heiliger Gegenstände“, „Entweihung“, „Profanation“). Die Dekriminalisierung von „Kirchendiebstahl“ ist jedenfalls auch als Ausdruck der Desakralisierung von Gegenständen und der Spiritualisierung des Glaubens zu interpretieren. Zum Unterschied von der Gotteslästerung stellt Kirchendiebstahl, insbesondere der Diebstahl heiliger Gegenstände, einschließlich der heiligen Hostien, in den 56  Vgl.

57  Ibid.,

Riforma della legislazione criminale del 30 novembre del 1786, § LXI. § LX, Profanatio.



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ersten modernen Strafgesetzbüchern eine bedeutsamere Handlung dar, vielleicht auch deswegen, weil sie „materiell“ nachweisbar und besser beweisbar ist. In der leopoldischen Toskana sollte jedoch derartige Handlung ausschließlich als eine Form von qualifiziertem und erschwertem Diebstahl beurteilt und mit Galeerenstrafe bestraft werden.58 In der Lombardei wurde der Diebstahl heiliger Gegenstände an einer profanen Stelle dem „qualifiziertem“ Diebstahl gleichgestellt, ähnlich wie der Diebstahl profaner Gegenstände an einer heiligen Stätte. Der Diebstahl heiliger Gegenstände an einer heiligen Stätte sollte jedoch mit schwerem Gefängnis von 7 bis 20 Jahren bestraft werden.59 Es ist sicherlich kein Zufall, dass in dem Landrecht des nichtkatholischen Preußen das Wort „Kirchendiebstahl“ überhaupt nicht zu finden ist und dass nur der Missbrauch gottesdienlicher Gegenstände zwecks Magie oder sonstigen „Aberglauben“ mit einem „längeren“ Gefängnis bis auf zwei Jahre bestraft werden konnte.60 Auch in Frankreich war vor der Revolution der ehemalige „Kirchendiebstahl“ auf Beleidigung bzw. Störung der Gottesdienste eines Kultes, beziehungsweise auf physischen Angriff gegen Priester degradiert und sollte mit einer Geldstrafe und im Falle einer Rezidive mit bis zwei Jahren Gefängnis bestraft werden.61 Jede Reminiszenz des „Heiligtums“ verschwindet aus dem strafrechtlichen Diskurs und die kriminalisierte Handlung stellt nur eine „bürgerliche“, soziale Übertretung dar. Es ist noch zu erwähnen, dass der Ausdruck „Kirchendiebstahl“ an sich aus der Rechtssprache selbstverständlich ausgeschlossen ist. Das Bemühen, den Kirchendiebstahl nur als eine (zwar wichtigere, denn begangen an einer „qualifizierten“ Stelle) Art Raub zu beurteilen, spiegelt die Aufklärungstendenz (protestantischer Herkunft, wie von Troeltsch bemerkt62) zur Interiorisierung und Spiritualisierung von Glauben und Religion wider, eine Tendenz, welche durch zunehmendes Misstrauen gegen die Bemühungen gekennzeichnet war, Geistesentitäten mit sinnlich wahrnehmbaren Objekten zu verbinden. Interessant ist die Entwicklung in Frankreich: Kirchendiebstahl wurde von dem revolutionären Strafkodex gestrichen; während der Restauration 58  Riforma della legislazione criminale Toscana del di 30 novembre 1786, Art. LXXVIII (Il furto propriamente sacro), soll nach dem Art. LXXV (qualifizierter Diebstahl) bestraft werden. 59  §§ 134–135. 60  Code général pour les Etats prussiens, traduit par les membres du bureau de législation étrangère, et publié par l’ordre du Ministre de la Justice, T. II, 3. Partie; Paris, An X, Sektion VI, Art. 214–228. 61  Loi du 22 juillet 1791, Art. 11, Tit. 2. 62  Ernst Troeltsch, Z dějin evropského ducha (Aus der Geschichte des Europageistes), Prag 1934, S. 170.

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der Bourbonen kam es jedoch zu seiner Rekriminalisierung. Nach stürmischen Debatten in den beiden Parlamentshäusern wurde ein Kirchendiebstahlgesetz genehmigt, das nicht nur mit der Todesstrafe, sondern auch mit dem Handabhauen drohte, ähnlich wie unter dem Ancien Régime; es wurde jedoch betont, derartiges Verbrechen müsse „mit Hass im Herzen“ begangen worden sein. Das Gesetz, das nicht anders als bewusstes Bekenntnis des wiederhergestellten Bourbon-Regimes zur Tradition des Ancien Régimes anzusehen ist, kam bereits den Zeitgenossen in manchen Aspekten kontrovers vor, und zwar nicht nur wegen der drastischen Strafe, sondern auch wegen der juristisch problematischen Phrase über den „Hass im Herzen“, oder wegen der Tatsache, dass in dem veränderten Religionsregime, in dem auch andere Konfessionen als Katholizismus toleriert wurden, selbst der Begriff „heilige Gegenstände“, wie Kelche, Hostien oder Statuen, problematisch war: wie sollte man zum Beispiel bei Hugenotten oder Juden vorgehen, wenn für sie diese Gegenstände keinerlei heiligen Wert haben? Auch derartige Fragen wurden während der Parlamentsdebatten erhoben.63 VIII. Schlusswort Die Eliminierung der mit dem Konzept von „Heiligtum“ verbundenen Begriffe (einschließlich der in den Voraufklärungsvorschriften üblichen bewertenden Ausdrücke wie „schändlich“ oder „schrecklich“) aus dem Vokabular des kritischen Diskurses bezeugt sowohl die inhaltliche Entleerung und Legitimitätskrise des theokratischen Systems als auch die Tendenz zum Verzicht auf den „erzieherischen“ Aspekt der Gesetze, deren Formulierung dem Leser die Internationalisierung gewisser wertbezogenen Stellungnahmen und Interdikte vermitteln soll. Diese die Religionsdelikte rekriminalisierenden „Nachrevolutions- bzw. Nachaufklärungsgesetze“ aus dem Anfang des 19. Jahrhundert gehen jedoch von einer unterschiedlichen Rationalität aus als diejenigen, welche die „Heteroreferenzgesellschaft“ des Ancien Régimes beherrschten. Die teilweise Rekriminalisierung von Religionsdelikten an der Schwelle des 19. Jahrhunderts (in Franzens Gesetzbuch aus dem Jahre 1803) spielte eine Legitimierungsrolle im Dienste der altneuen Restaurationsregierungen: Ihre Definitionen selbst deuten eher auf den Schutz von rein menschlichen Entitäten (Schutz von Kultus, Glaube und Ordnung) und ihr Ziel ist deshalb offensichtlich in erster Linie Respekt von dem anerkannten Kultus einerseits und Erhaltung der bürgerlichen Ordnung andererseits. Sie dient also nicht mehr zum Schutz der Gottesmajestät selbst oder zu einer symbolischen Erneuerung des profanierten Heiligtums oder gestörten Tabus. 63  D.

Tinková, Hřích, zločin, šílenství, S. 221–225.



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Das aus den Reformkodexen an der Wende des 18. Jahrhunderts resultierende Strafhandlungssystem kann als eine „Antithese“ der Hierarchie neu artikulierter gesellschaftlicher Werte und Interessen betrachtet werden (beginnend mit dem Staat, der auf dieser höchsten Stufe meistens Gott und Religion ersetzt hat, über den Schutz von Leben, Vermögen und Rechte des Bürgers bis zur öffentlichen Ordnung und Ruhe). Die neue Klassifizierungsart von „Religionsverbrechen“ stellt so gewissermaßen eine symbolische Schwelle dar zwischen der alten traditionellen „Heteroreferenzgesellschaft“ (welche in Selbstinterpretationen auf außergesellschaftliches, transzendentes Dasein hinweist) und einer neuen, bürgerlichen „Autoreferenzgesellschaft“, deren „Inkriminierungssystem“ sich nicht mehr auf den transzendenten „Sicherheitsmittelpunkt“ unmittelbar beruft. Die Dominanz des „Staates“ an der Spitze der von der öffentlichen und repressiven Macht von Innen und Außen geschützten Werte ist dadurch mehr offensichtlich, dass die neuen Kodexe während Revolutionen, Kriege und des Ansatzes von „Völkerfrühling“ entstehen und wirken. Der Schutz einer überindividuellen Staatsgemeinschaft hat so den früheren Nachdruck auf den Schutz der Kommunität treuer Gläubiger (vor allem Katholiken) ersetzt. Es ist also anzunehmen, dass die durch Kodifikationen an der Wende des 18. Jahrhunderts verankerte bürgerliche Gesellschaft den Grundsatz angenommen hat, die „Versündigungen“ in Sache Konfession seien künftighin dem Tribunal individuellen Gewissens vorzubehalten, falls sie natürlich Ordnung und geistige Ruhe der Gesellschaft nicht stören. Es wurden so gewissermaßen Montesquieus Worte umgesetzt: „Alles spielt sich hier zwi­ schen Mensch und Gott ab – Wer kennt Maß und Zeit seiner Rache? (…) Alles Üble ist aus der Idee entstanden, es sei notwendig Göttlichkeit zu rächen …“64

64  „Mais dans celles qui blessent la divinité, là où il n’y a point d’action publique, il n’y a point de matière de crime: tout s’y passe entre l’homme et Dieu, qui sait la mesure et le temps de ses vengeances. (…) Le mal est venu de cette idée, qu’il faut venger la divinité. Mais il faut faire honorer la divinité, et ne la venger jamais. En effet, si l’on se conduisait par cette dernière idée, quelle serait la fin des supplices? Si les lois des hommes ont à venger un être infini, elles se régleront sur son infinité, et non pas sur les faiblesses, sur les ignorances, sur les caprices de la nature humaine.“ Ch. Montesquieu, Esprit des Lois, XII, 4. (Que la liberté est favorisée par la nature des peines et leur proportion).

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Abstract „The Right to Revenge the Offence of God“. Changes in the view of „religious crimes“ at the turn of the 18th century The present paper is intended to explain the position of „religious crimes“ in the enlightened penal codes at the turn of the 18th century. It shall primarily focus on the codes and their drafts prepared in the Habsburg Monarchy, including Lombardy and Tuscany. To help better understand the then way of (not only legal) thinking the codes available in the Revolutionary France and in Prussia will also be considered. The sensitive question of viewing the „crimes against religion“, which saw dramatic changes at that time, reflects the evolution of the (criminal) law as well as the transformation of general social values. It is the turn of the 18th century that can be regarded as an exemplary „break“ between the „traditional“ society and the „modern“ society in the major part of Europe, marked by the processes of modernization and secularization and by the gradual birth of civil society. The very first, and also the only legal codes produced in the enlightened 18th century were penal codes. The beginnings of radical criticism of the traditional criminal law (its „arbitrariness“, „cruelty“ and „barbarism“) are linked with the young economist of Milan named Cesare Beccaria (1738 / 1794) and his small book entitled Dei delitti e delle pene (On Crimes and Punishments, first published anonymously in Livorno, Tuscany, in 1764). In response to the critical appeals and discussions reformed penal codes were issued that are sometimes considered the „first modern“ ones. The very „first“ was the Legge di riforma della legislazione criminale in the Habsburg Tuscany (1786), then the „Austrian“ Allgemeines Gesetz über Verbrechen (1787) was issued, and in 1791, the revolutionary Code pénal­ was approved by the French Constituent Assembly. First of all it must be stressed that the very first „modern“ definition of crime appeared in the enlightened penal codes. The true „crime“ is defined as exhibiting the following basic aspects: 1. unlawfulness; 2. freedom of action (free will – Freier Wille); 3. willful action (literally Böser Vorsatz); 4. injury to the public. The new definition and conception of crime required also a new hierarchy, a new system of incriminated acts. This put an end to the old paradigm based on compilations from the 16th to 18th century where crimes against the Divine Majesty had dominated. An interesting example illustrating the above may be the prosecution of such crimes as blasphemy and sacrilege, which intensely concentrate the idea of relation to the sacred and its protection or, on the contrary, its „profanation“, and naturally also the enlightened utilitarian, functional view of the sacral, religious objects and



„Das Recht, die Beleidigung Gottes zu rächen“405

also words. We can suppose anyway that the civil society based on codifications of the turn of the 18th century adopted the principle that the confession-related torts should be reserved from that time on for the tribunal of individual conscience, unless they breach the order and spiritual peace of society.

Prostitution und Gesetz: vom Strafgesetzbuch zum Gesetz über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Milena Lenderová Die Prostitution als unumgängliche Zivilisationserscheinung sah sich spätestens seit dem Mittelalter mit der Staatsmacht konfrontiert. Die letztgenannte bemühte sich, diesem „Gewerbe“ gewisse Regeln aufzudrängen. Es gab drei Möglichkeiten: die Prostitution völlig verbieten, unter gewissen Bedingungen tolerieren, kontrollieren und kasernieren, und drittens konnte die Staatsmacht auf regulative Maßnahmen verzichten und hoffen, dass mit zunehmender Sittlichkeit, Volksaufklärung und mit der den Frauen zu gewährenden Gleichberechtigung die Prostitution verschwindet. Die erwähnten Konzepte kamen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts auch in Österreich, bzw. in den Böhmischen Ländern zur Geltung. In der Denkweise des frühneuzeitlichen Rechtssystems war die Unzucht strafbar, wobei jedoch kein Unterschied zwischen Prostitution und Untreue gemacht wurde. Achtbucheinträge belegen gleiche Strafen für verführte Frauen, außerehelich schwanger gewordene Frauen, Frauen, die „sich mit einem Gesellen vergessen haben“, oder die „unter der Zusage der Ehe verführten“ Frauen; kurz gesagt, das frühneuzeitliche Strafrecht machte keinen Unterschied zwischen tatsächlichen Freudenmädchen und untreuen Frauen, und sogar zwischen Prostituierten und denjenigen, die wegen Eheversprechen dem männlichen Gelüst erlagen.1 Die Unzuchtbestrafung (übliche Strafen: Pranger, Verbannung bzw. Hinauspeitschen aus der Stadt, Brandzeichen, Abschneiden von Ohren, …) war also von der Entscheidung der 1  Vgl. J[?]. Fiala, Tresty lehkých žen v XVII. a XVIII. století (Strafen für leichte Frauen im 17. und 18. Jahrhundert). Kutnohorské příspěvky k dějinám vzdělanosti české 7, 1932, S. 57, 59. Der Autor hat mit dem Stadtarchiv Kuttenberg zusammengearbeitet, die angeführten Ausführungen haben jedoch allgemeine Geltung. Vgl. Jindřich Francek, Zločin a bezpráví (Verbrechen und Unrecht). Velké dějiny zemí koruny české. Tematická řada, Praha-Litomyšl 2011, vor allem S. 222–228; auch Diplomarbeit von Dana Kelnerová, „Panoptikum hříšných osob, jež před právem útrpným stanuly“ (Panoptikum der Sünder, die vor peinlichem Recht standen. Ein Beitrag zur Geschichte der Sexualität im 16. bis 18. Jahrhundert). Diplomarbeit, Pädagogische Fakultät der Südböhmischen Universität, České Budějovice 1998, vor allem S. 84.

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Ratsherren abhängig. Die meisten Stadtordnungen eiferten zwar gegen die Prostitution, aber praktisch tolerierten sie sie; manchmal wurde sie sogar versteuert. Nur selten wurden Sanktionen getroffen.2 Das Theresianische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1769, Constitutio Cri­ minalis Theresiana, war noch ein Gesetzbuch alten Typs.3 Laut ihm war es möglich, für Ehebruch die Todesstrafe zu verhängen bzw., gegen das Ende der theresianischen Periode, den / die Übertreter / in nach einer Tracht Prügel aus der Herrschaft zu verbannen. Die Unzucht, bzw. „unerlaubte Schwangerschaft“ wurde bei beiden Geschlechtern mit Vertreibung aus der Herrschaft, mit Kerker bzw. mit öffentlicher Zwangsarbeit bestraft.4 Die Theresiana führte eine Stände- und Geschlechtsgleichheit ein und bemühte sich, gleiche moralische Grundsätze bei Mann und Frau durchzusetzen. In der Praxis wurden jedoch Frauen öfter und strenger bestraft.5 Was die Prostitution anbelangt, bemühte sich Maria Theresia – ohne Erfolg – diese zu verbieten: Das Constitutio criminalis Theresiana verfolgte strafrechtlich sämtliche Sexualdelikte, einschließlich Ehebruch; der geschlechtliche Verkehr mit Prostituierten war doch nichts Anderes. Als Mittel zur Ausrottung des Liebeshandels sollte eine bei der Sittenpolizei errichtete Keuschheitskommission dienen. Trotz den verhältnismäßig harten Maßnahmen sowohl gegen die Prostituierten als auch gegen deren Klienten (!) nahm die Effektivität der Kommissionsarbeit wegen Korruption bald ab und die getroffenen Maßnahmen verfehlten völlig ihre Wirkung.6 Die nächsten Jahrzehnte sind die Geburtszeit einer modernen Gesetzgebung. Die Rechtshistoriker halten das josephinische Strafgesetzbuch, genannt Allgemeines Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung, aus dem Jahre 1787 für den Anfang einer neuen Strafrechtsrichtung,7 stark beeinflusst insbesondere durch die Ideen des italienischen Philosophen und 2  Zikmund Winter, Kulturní obraz českých měst. Život veřejný v XV. a XVI. věku (Kulturabbild der böhmischen Städte. Öffentliches Leben im 15. und 16. Jahrhundert). Zweiter Teil, Praha 1892, S. 97–98. 3  Daniela Tinková, Hřích, zločin, šílenství v čase odkouzlování světa (Sünde, Verbrechen, Wahnsinn zur Zeit der Weltentzauberung), Praha 2004, S. 90. 4  Ibid., S. 171. 5  Ibid., S. 172. 6  František Xaver Veselý, Všeobecný slovník právní. Příruční slovník práva soukromého i veřejného zemí na říšské radě zastoupených (Allgemeines Rechtswörterbuch. Handwörterbuch von privatem und öffentlichem Recht), III. Teil, Praha 1898, S. 825. 7  Näheres siehe Lucie Bednářová, Postavení ženy v  trestním právu v  19. století v habsburské monarchii (Stellung der Frau im Strafrecht der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert) Bakkalaureatsarbeit. Palacký-Universität in Olomouc, Philosophische Fakultät, Olomouc 2007, passim.



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Politikers Cesare Beccaria, Autor der berühmten Schrift Dei delitti e delle pene (deren überhaupt erste Übersetzung, ins Deutsche, erschien 1765 in Prag),8 und des „einheimischen“ Juristen, Politikers und getauften Juden Josef Sonnenfels aus Mikulov / Nikolsburg. Das Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung war technisch perfekt, bündig und vollständig. Es hielt verschiedene Begriffe auseinander: Verbrechen, das eine grobe Verletzung der Staatsmachtinteressen bzw. der Bürgersicherheit darstellte; Polizeivergehen, das die öffentliche Ordnung bzw. die Sitten gefährdete; und unvorsätzliche, auf Fahrlässigkeit zurückzuführende Tat, die aus der Kompetenz der Kriminaljustiz herausgenommen ist.9 Das Gesetzbuch bedeutet Ansatz der Humanisierung von Strafrecht; die Todesstrafe war nur für Standesrechtsfälle vorgesehen und in den anderen Fällen wurde aufgehoben (allerdings nur vorübergehend);10 aufgehoben wurden auch die früheren feudalen Strafformen und grausamen Strafen. Zum ersten Mal wurden Grundsätze des materiellen Strafrechts festgelegt. Es wurde offiziell auf verschiedene konkrete Straftaten verzichtet, wie die freiwillige außereheliche „Unzucht“ zwischen Erwachsenen; auch der Ehebruch wurde nicht mehr strafrechtlich verfolgt und wurde zu einem privat klagbaren Vergehen. Derartige frühere Straftaten wie Unzucht (ausgenommen „Notzucht“, d. h. Vergewaltigung), „Schändung“ (außerehelicher Geschlechtsverkehr mit Jungfrau), naturwidrige Unzucht (Verkehr mit Tieren und gleichgeschlechtlicher Verkehr), einschließlich Päderastie11 und Blutschande, Missbrauch einer anvertrauten Person und Kuppelei (diese konnte jedoch auch als Übertretung angesehen werden) hörten auf Verbrechen zu sein und wurden zu Übertretungen; ein heißes Problem war jedoch die zunehmende Zahl von Geschlechtserkrankungen und gerade diese Tatsache rief moderne Reglementierungsmaßnahmen ins Leben, welche vor allem das Heer, d. h. den männlichen Teil der Gesellschaft schützen sollten. Die moderne Reglementierungsidee, das sog. French system, entstand in Frankreich und beruhte auf drei Pfeilern: 1. Schaffung eines geschlossenen, für Kinder, Jugendliche und „ehrsame“ Frauen unzugänglichen Milieus, in siehe D. Tinková, Hřích, zločin, šílenství, S. 47. S. 122. 10  Mit dem Patent vom Januar 1795 wurde die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren für Hochverrat, mit dem Strafgesetzbuch 1803 für Geldfälschung, Mord, räuberischen Todschlag und schwerste Brandstiftungsfälle erneuert. František Xaver Veselý, Všeobecný slovník právní. Příruční slovník práva soukromého i veřejného zemí na říšské radě zastoupených (Allgemeines Rechtsbuch. Handwörterbuch von privatem und öffentlichem Recht der im Reichsrat vertretenen Länder). V. Teil, Praha 1900, S. 100. 11  Als Opfer wurde vom Gesetz nur minderjähriger Junge vorausgesetzt, kein Mädchen (das Mädchen fiel in die Kategorie „Schändung“). 8  Näheres 9  Ibid.,

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dem sich die Prostituierten bewegen durften (dieses Milieu war nicht nur das öffentliche Haus oder das zugewiesene Viertel, sondern auch das Krankenhaus, Gefängnis oder die Besserungsanstalt für „gefallene“ Mädchen); 2. amtliche Kontrolle dieses Milieus, das für einen Teil der Gesellschaft unsichtbar, jedoch für die Kontrollierenden völlig durchsichtig sein sollte; 3. Hierarchierung dieses Milieus, in dem – wie allerdings in der ganzen Gesellschaft – die Konfusion von Sozialschichten zu vermeiden war.12 Die aufgeklärten Anordnungen zur Verhinderung der Geschlechtsansteckung sind in beträchtlichem Maße dem Josephinisten Johann Peter Frank (1745–1821), Verfasser des sechsbändigen Werks System einer vollstaedigen medizinischen Polizey, zu verdanken. Der vierte Teil ist der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewidmet und der Autor befasst sich dort also auch mit der Prostitution und verlangt die Errichtung von öffentlichen Häusern unter direkter Staatsaufsicht und die harte Unterdrückung von geheimer Prostitution.13 In den Jahren 1792–1827 wurden in der Habsburgermonarchie tatsächlich mehrere Dekrete von der Hofkanzlei und den Landesämtern erlassen, nach denen die Prostituierten der Polizeiaufsicht und ärztlicher Kontrolle unterliegen sollten; nach den Festlegungen dieser Anordnungen konnten die Prostituierten, welche die entsprechenden Regeln nicht respektierten, in Besserungsanstalt bzw. Zuchthaus geliefert werden. Gemäß der böhmischen Gubernialverordnung vom 14. November 1807 gerieten vor allem die venerisch angesteckten Prostituierten ins Krankenhaus. Diese Forderung wurde auch in der Gubernialverordnung Nr. 31302 vom 12. Juli 1819 betont: die Prostitution sollte von den lokalen Sicherheitsorganen kontrolliert werden und diese sollten jede prostitutionsverdächtige Frau verhaften und von Arzt untersuchen lassen; falls sie geschlechtskrank war, sollte sie ins Krankenhaus gebracht werden.14 Vorbeugung war das Ziel der Hofkanzleiverordnung vom 4. Mai 1834, mit der die Ortsvertretungen angewiesen wurden, Nachtbummeleien zu verhindern, getrennte Unterbringung von weiblichem und männlichem Gesinde zu überwachen und strenge Aufsicht über die Gasthäuser, Cafés, Bäder usw. zu führen.15 12  Alexandre Parent-Duchâtelet, La prostitution à Paris. Nouvelle édition, Paris b. d., I, S. 8–9; auch Alain Corbin, Les filles de la noce. Misère sexuelle et prostitution, Paris 1982, S. 25. 13  Oldřich Rožánek, Pud pohlavní a prostituce (Geschlechtstrieb und Prostitution). II.: Vývoj, dějiny, zřízení prostituce a její vliv na choroby pohlavní a ženské, Praha 1903, S. 71. 14  F. X. Veselý, Všeobecný slovník právní III. Teil, Praha 1898, S. 826. Vgl. auch H[?]. Stein, Prostituce a zákon. Zákon o potírání pohlavních nemocí (Prostitution und Gesetz. Das Gesetz über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten). Praha 1922, S. 19. 15  F. X. Veselý, Všeobecný slovník právní, III., S. 826.



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Die Unzucht als eine Art Übertretung blieb auch in dem Strafgesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen aus dem Jahr 1803 erhalten. Dieses war zweiteilig, nach § 115 des ersten Teils (Hauptstück fünfzehn) wurde die Kuppelei mit schwerem Kerker von einem bis fünf Jahren bestraft, „wofern dadurch eine unschuldige Person verführt worden“;16 es bezieht sich also auf die Kuppelei im Falle, dass ein minderjähriges bzw. bisher unberührtes Mädchen zur Prostitution verführt wurde. Hauptstück dreizehn des zweiten Teils widmet sich der Prostitution und Kuppelei gründlich: Die Unzucht, ähnlich wie die „verbotenen Spiele“ und Trunksucht, zählen laut § 245zu den „schweren Polizey-Übertretungen gegen öffentliche Sittlichkeit“. Und § 254 verweist wieder das „unzüchtige Gewerbe“ in die Kompetenz der Stadtordnungen. Die Strafen für illegale Sexualität blieben in Kraft bis Mai 1848, wo einige drastische, teilweise noch mittelalterliche Bestimmungen durch Kaiserbeschluss aufgehoben wurden, wie „öffentliche Ausstellung auf der Schandbühne“, Pranger, Stock- oder Rutenstreiche, und Brandmarkung. Jedoch die Tatsache, dass in einigen Fällen die „Unzucht“ im Strafgesetzbuch nicht toleriert wurde, ist im weiteren Teil des § 254 nachgewiesen: „Wenn jedoch die Schanddirne durch die Öffentlichkeit auffallendes Aergerniß veranlasset, junge Leute verführet, oder, da sie wußte, daß sie mit einer venerischen Krankheit behaftet war, dennoch ihr unzüchtiges Gewerbe fortgesetzt hat, ist sie mit strengem Arreste von einem bis drey Monaten zu bestrafen.“17 Konsequent genommen heißt das, dass es in anderen Fällen nicht nötig war, die Prostituierte zu bestrafen … Da das Gesetzbuch aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr den in der Monarchie während eines Halbjahrhunderts stattfindenden Änderungen entsprach, wurde es durch das mit dem kaiserlichen Patent vom 27. Mai 1852 Nr. 117 eingeführte Strafgesetzbuch ersetzt. Sein Kapitel dreizehn bezieht sich auf Sittlichkeitsübertretungen und -vergehen; der Inhalt dieser Bestimmungen hat sich gegenüber dem Jahr 1803 nicht wesentlich geändert. Die Unzucht ist Thema der Paragraphen 509–511, wobei der Paragraph 509 des neuen Gesetzbuchs die Gesetzwidrigkeit der Prostitution nicht aufhebt und die eventuellen Sanktionen bleiben wieder in der Kompetenz der Gemeinde: „Die Bestrafung derjenigen, die mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe treiben, ist der Ortspolizei zu überlassen. Wenn jedoch die Schanddirne durch die Oeffentlichkeit auffallendes Aergerniß veranlaßt, oder da sie wußte, daß sie mit einer venerischen Krankheit behaftet war, dennoch ihr unzüchtiges Gewerbe fortgesetzt hat, soll dieselbe für diese 16  Kniha práv nad přečiněními hrdelními a těžkými řádu městského (Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizei-Uebertretungen), Wien 1803, S. 65. 17  Ibid., S. 120, 124.

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Uebertretung mit strengem Arreste von einem bis zu drei Monaten bestraft werden.“18 Gegen die Prostitution konnten auch die Paragraphen 502 und 510 des oben erwähnten Gesetzes verwendet werden, in denen für den Ehebruch die Strafe von einem bis drei Monaten Gefängnis vorgesehen war, oder der Paragraph 512, der sich auf Kuppelei bezieht. Verfolgt wurde auch die in Gasthäusern und Kneipen ausgeübte Prostitution.19 Die entsprechenden Paragraphen wurden mit der kaiserlichen Verordnung Nr. 96 vom 20. April 1854 ergänzt, nach der die Freudenhausbesitzer an der Polizeidirektion ein Protokoll zu unterzeichnen hatten, das sie verpflichtete, ärztliche Aufsicht über ihre Betriebe sicherzustellen und verschiedene Verbote zu respektieren, wie: das Freudenhaus nicht verlegen, „unschuldige Dienstmädchen“ zur Prostitution nicht verleiten, Personalfreiheit der „Freudenhauszöglinge“ nicht einschränken, diese nicht erpressen, Minderjährigen den Eintritt ins Freudenhaus verweigern, usw.20 Bestandteil der Verordnung ist auch ein Protokollmuster, in dem die Freudenmädchen als „Dienstmädchen“ bezeichnet sind, worüber ein Teil der fachlichen Öffentlichkeit empört war.21 Von der Tatsache, dass die Verordnung über ärztliche Kontrolle der „Freudenhausinsassinnen“ nicht eingehalten wurde, zeugt die Ministerialverordnung Nr. 198 vom 30. September 1857: unter Androhung einer Strafe mussten sich die Freudenmädchen regelmäßig der ärztlichen Untersuchung unterziehen. Für mittellose Frauen war die Untersuchung kostenlos. Um ihre Evidenz zu erleichtern, wurden die Liebespriesterinnen von dem Prager Magistrat mit Gesundheitsbüchern ausgestattet,22 deren Einführung durch die Gewerbeordnung ab 1. Januar 1860 möglich war. Dieses Dokument war eine Art Arbeitsbuch und wurde auch von dem zuständigen politischen Amt, in Prag von dem Stadtmagistrat ausgestellt. Es galt „als Legitimations- und Reiseausweis, und zwar zu Reisen ins Ausland“;23 und erleichterte so die Mobilität von Prostituierten. 18  Obecní zákon trestní daný dne 27. května 1852 (Allgemeines Strafgesetz, gegeben am 27. Mai 1852), 2. Aufl., Praha 1875, S. 253–254. Dem neuen Gesetzbuch ging am 9. Februar 1851 eine Verordnung der kaiserlichen Regierung für Niederösterreich vor, (Landes-Gesetz und Regierung-Blatt Nr. 39). 19  Ibid., S. 254–255. § 509, 510, 511 wurden durch § 9 des Gesetzes vom 24. Mai 1885 ersetzt, RGBl. Nr. 89; vgl. Antonín Wiesner, Dějiny prostituce a příjice v  Československu (Geschichte der Prostitution und Syphilis in der Tschechoslowakei), Praha 1925, S. 61–62. 20  O. Rožánek, Pud pohlavní, II., S. 117–120. 21  Ibid., II., S. 121. 22  F. X. Veselý, Všeobecný slovník právní (Allgemeines Rechtswörterbuch), III, S. 827. 23  Archiv hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag weiter nur AHMP), Verordnungsbuch, Verord. Nr. 4172 pr., 29.4.1860.



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In dem am 1. Juni 1811 kundgemachten Allgemeinen Bürgerlichen Ge­ setzbuch wurde die Prostitutionsfrage verständlicherweise nicht behandelt. War die Prostituierte großjährig, keine Fremde und keine Militärperson, bezogen sich auf sie sämtliche Bestimmungen sowie Rechte, die in dem Gesetzbuch definiert waren. Ehe und Familie waren Thema von 92 (§ 44– 136) aus der Gesamtzahl von 1502 Paragraphen. Laut § 44 basierte die Ehe auf einem Ehevertrag, mit deren Unterzeichnung zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts ihren Willen erklärten, zusammen zu leben, Kinder zu zeugen, diese zu erziehen und einander zu unterstützen. War also die Prostituierte geheiratet, bezogen sich auf sie theoretisch diese Bestimmungen. Der Mann war das Haupt der Familie und hatte Gewalt über seine Frau.24 Sie sollte ihm nach ihren Kräften in Haushalt und Gewerbe helfen und er sollte dafür alle ihre Bedürfnisse befriedigen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie eine oder keine Mitgift in die Ehe gebracht hatte. Die geheiratete Prostituierte, die ihr Gewerbe oft mit Wissen ihres Ehemannes oder sogar auf dessen Befehl ausübte, verstieß jedoch gegen die Bestimmung des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1803: „Der Umstand, daß die das Schandgewerbe treibende Person verheirathet ißt, muß als ein beschwerender Umstand die Strafe verschärfen …“ Dasselbe wiederholte praktisch fünfzig Jahre später der Paragraph 511 des Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1852. Auch dem Ehemann, der „zu dem Schandgewerbe des Weibes eingewilliget und an dem Erwerbe Antheil genommen oder sonst offenbar Vortheil daraus gezogen hat“, sollte mit „strengerem Arreste von drei bis zu sechs Monaten, nach Umständen auch mit Verschärfung desselben bestraft werden.25 Die Realität der „Bordell- und Straßenprostitution“ verstieß auch gegen die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über minderjährige Personen, welche der Vaters- bzw. Vormundsgewalt unterlagen. Auf eine schräge Ebene gerieten auch Mädchen, die aus keinem ausgesprochen gefahrengeneigten sozialen Milieu oder Gruppe stammten. Die Eltern bemühten sich offensichtlich – meistens erfolglos – während des ganzen 19. Jahrhunderts und unzweifelhaft auch früher oder später, ihre Töchter zum ordentlichen Leben zurückzubringen26. Ein weiterer legislativer Eingriff in die immer noch eher spontanen Prostitutionspraktiken war das Gesundheitsgesetz Nr. 68 vom 30. April 1870. Dieses beschäftigte sich zwar nicht ausdrücklich mit dem Prostitutionspro24  F.

X. Veselý, Všeobecný slovník právní, II., Praha 1897, S. 295. práv nad přečiněními hrdelními, S. 253–254; auch Veselý, Všeobecný slovník právní, III., S. 827. 26  Nationalarchiv Prag, Polizeiliches Präsidium 1853–1857, sg. P 19, Schachtel Nr. 279; auch Budivoj 46, Nr. 80; 13.10.1910, nicht num. 25  Kniha

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blem und sämtliche Gesundheitsprobleme stellte unter Aufsicht der Staatsverwaltung, jedoch nach § 4 wurde auf die Gemeinden die Pflicht übertragen „Ortsmassnahmen zu treffen, damit ansteckende Krankheiten vorgebeugt werden und sich nicht ausbreiten …“27 Es wurde so mit Gesetz das Gemeinderecht bestätigt, jede Person zu bestrafen, welche Geschlechtskrankheit verbreitet. Es liegt nahe anzunehmen, dass die entsprechenden Passagen vor allem auf Prostituierte gerichtet sind. Ihr Leben wurde auch von dem Gesetz Nr. 108 „gegen Faulenzer und Landstreicher“ vom 10. Mai 1873 kompliziert, nach dem die Personen ohne ständigen Wohnort und Beschäftigung mit Gefängnis, Zwangsarbeit oder Besserungsanstalt zu bestrafen waren.28 Klarere Grundsätze der Reglementierung wurden erst im § 509 des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1852 festgelegt und von den Städten selbst weiter konkretisiert. Klassisches Reglementierungsbeispiel ist die Publikation La prostitution à Paris, verfasst von Dr. Alexandre Jean-Baptiste ParentDuchâtelet, Oberarzt des Pariser Frauengefängnisses Saint-Lazare und ab 1823 außerordentlicher Professor an der Pariser Universität. Das Werk basiert auf langjähriger detaillierter Forschung, während welcher der Arzt 12707 Pariser Prostituierte befragte,29 und auf Sammlung, Klassierung und Auswertung von Daten. Das Werk, das als eine Art Reglementierungsbibel galt, verbreitete sich schnell. Zu der Apotheose der Reglementierung entstanden – insbesondere in Frankreich und Deutschland (in den Böhmischen Ländern erwiesen sich eher die Arbeiten deutscher Herkunft als maßgebend) – zahlreiche Schriften, klein und groß, deren Verfasser, meistens Ärzte, Soziologen, Gesetzgeber und Polizeibeamte, sich zu dem heißen Prostitutionsproblem äußerten. Gemeinsamer Nenner dieser Werke ist die Bemühung, das Problem möglichst objektiv und gründlich zu erfassen. Alle Autoren halten die Prostitution für eine soziale Gegebenheit, die zu rationalisieren ist. Diesen Ton weist auch die 1863 erschienene anonyme Schrift eines Wiener Arztes Die Prostitution und deren Regulirung in Wien auf. Der Verfasser zeigt darin gute Kenntnisse der Lage in Berlin, wo die reglementierte Prostitution in Freudenhäusern und in bestimmten Vierteln konzentriert war. Er hielt jedoch diese Politik für ungeeignet für die Hauptstadt der Habsburgermonarchie und sieht eher die Form von Straßenprostitution, Stundenhotels und das in Wohnungen der Dirnen betriebene „Gewerbe“ vor und setzte sich für deren Polizei- und Gesundheitskontrolle ein, die er für ein 27  Gesetz vom 30. April 1870, Nr. 68, Zákonník říšský pro království a země v říšské radě zastoupené (Reichsgesetzbuch für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder), Stück XXV, 1870. 28  Gesetz vom 10. Mai 1873, Nr. 108, Zákonník říšský pro království a země v říšské radě zastoupené, Teil XXXVIII, 1873. 29  A. Parent-Duchâtelet, La prostitution à Paris, S. 10.



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genügendes Mittel gegen die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten hält.30 Die Reglementierungsmaßnahmen basierten auf der Teilung der Prostitution in gesetzgemäße (selbst die Autoren waren sich der Widersinnigkeit dieser Bezeichnung bewusst, denn kein Gesetz hatte die Prostitution legalisiert und deshalb wurde oft die Bezeichnung toleriert verwendet) und ge­ heime. Die geheime Prostitution wurde von Sicherheitsorganen der jeweiligen Stadt verfolgt, die tolerierte sollte klare Regeln haben und der Polizeiaufsicht und medizinischen Kontrolle unterliegen. Neben den Fürsprechern gab es von Anfang an auch Gegner der Reglementierung, die zahlreiche Einwände vorbrachten: von inkompletter Registration, die nur einen Teil der Prostituierten erfasste, über nachlässige ärztliche Kontrolle und die Behauptung, die Registration leichter Mädchen hindere diese Frauen bei deren Reintegration in der Gesellschaft, bis zu der Meinung, es handle sich eigentlich um einen Verstoß gegen das Gesetz. Der / die Besitzer / in eines Freudenhauses betrieben doch Kuppelei, die gesetzwidrig war. Über die Freudenhäuser wurde selbstverständlich auch in der lokalen Presse berichtet. Die zwischen Strafgesetzbuch und Realität bestehenden Widersprüche konnten weder von einer Novelle des Gewerbegesetzes vom 8. März 1885, noch von dem Gesetz Nr. 89 vom 24. Mai 1885 beseitigt werden. Das letztgenannte erschien in der Gesetzsammlung unter einem irreführenden Titel als ein Gesetz, „mit dem Strafbestimmungen darüber erlassen werden, wer in Zwangsarbeits- bzw. Besserungsanstalten gehalten werden kann“; derartige Anstalten sollten einzelne Länder errichten und der Staat sollte teilweise deren Betrieb unterstützen. Paragraph 9 dieses Gesetzes hob die Paragraphen 509–511 des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1852 auf; nichtsdestoweniger, deren Bestimmungen wurden praktisch wiederholt: „Unzucht als Gewerbe“ wurde nicht mehr vom Strafgericht verfolgt und „die Bestrafung der Schanddirnen, welche mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe treiben, ist dem Sicherheitsamt zu überlassen. Wenn jedoch derartige Schanddirnen 1. die polizeiliche Strafe nicht beachtend, ihr unzüchtiges Gewerbe dennoch fortsetzen, oder 2. wenn polizeiliche Verordnungen bestehen, trotzdem dagegen verstoßen, oder 3. da sie wissen, dass sie mit einer venerischen Krankheit behaftet sind, dennoch ihr unzüchtiges Gewerbe treiben, oder 4. durch die Öffentlichkeit auffallendes Ärgernis veranlassen, oder 5. junge Leute verführen, sollen für diese Übertretung mit strengem Arrest bestraft werden, und zwar in den Fällen unter Nummer 1. und 2. von acht Wochen bis zu drei Monaten, jedoch in den unter Nummer 3., 4. und 5. angeführten Fällen von einem bis zu sechs Monaten. Personen beider Geschlechter, welche – ausgenommen die Fälle im § 512 des Strafgesetzbuchs vom 30  Die

Prostitution und deren Regulirung in Wien, Wien 1863, S. 48–49.

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27. Mai 1852 – ihren Unterhalt durch unzüchtiges Gewerbe anderer erwerben, sollen mit strengem Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten bestraft werden.“31 Es kommt also weiterhin darauf an, welche Stellung das „Sicherheitsamt“, d. h. die Stadtpolizei einnimmt und wie schöpferisch es über das gegebene Gesetz verfügt. Auch das Kontrollsystem blieb bis zu der Zeit des Ersten Weltkriegs völlig in der Kompetenz des städtischen Polizeiamtes und die ärztlichen Untersuchungen in der Kompetenz des städtischen Arztes, bzw. ausnahmsweise des Bezirkskrankenhauses. 1916, während des Ersten Weltkriegs, veranlasste der Aufschwung von Prostitution und die damit verbundene Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten die böhmische Statthalterei dazu, strenge Regeln zur Prostitutionsbehandlung, kurz Prostitutionsregulativ zu erlassen. Das Regulativ stellt das bislang umfangreichste und gründlichste Dokument in Bezug auf Prostitution dar. Es handelte sich um die erste Reglementierungsverordnung, deren Wirksamkeit – und es ist zu betonen, dass die Reglementierung bereits lange hinter dem Zenith ihrer Blütezeit war – sich auf das ganze Land erstreckte. Es ist nicht auszuschließen, dass sie unter normalen Umständen im Reichsrat durchgegangen und zum Gesetz geworden wäre. Durch das Regulativ wurden die Gemeindekompetenzen bei der Regulierung von Prostitution und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten verstärkt; die Aufsicht über Freudenhäuser sollte sehr gründlich sein. Es war die erste Verordnung zentralen Charakters, die ausdrücklich erklärte, die Registration der Prostituierten erfolge „durch Ausstellung des Gesundheitsbuchs“;32 der Erlass verallgemeinerte so die bereits ganz übliche Praxis der Stadtämter. In seiner Anlage befand sich eine Musterdokumentation, die künftighin als einzige zur Polizei- und Gesundheitskontrolle von Prostituierten verwendet werden sollte. Auf die in Folge der Kriegsereignisse gelockerten Sitten, die zu einem erhöhten Toleranzmaß gegenüber den illegitimen Partnerschaften führten, reagierte § 1, wo es heißt: „Für Schanddirnen sollen nicht die sogenannten Maitressen gehalten werden. Zum Begriff Prostitution zählen auch nicht die sogenannten Liebesverhältnisse und Konkubinate.“33 Diese Tatsache ist wichtig, denn das Prostitutionsregulativ negierte so § 500, 502 und 510 des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1852, nach denen die „Unzucht“ an 31  Gesetz vom 24. Mai Nr. 89 RGBl.; auch F. X. Veselý, Všeobecný slovník právní), IV., S. 496. 32  Základní pravidla k úpravě prostituce vydaná výnosem c. k. místodržitelství pro Království české (Grundsätze für Prostitutionsregelung erlassen durch die Verordnung der k. k. Statthalterei für Königreich Böhmen) vom 26. November 1916, Nr. 8-D 864 / 11, Raum Nr. 268.293. 33  Ibid.



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sich als Übertretung zu bestrafen war. Ganz neu waren auch die Gedanken über Krankenversicherung von Prostituierten, die von Besitzern der Freudenhäuser, bzw. von Städten und Bezirken eingeführt werden sollte (§15).34 Die Polizeipraktiken, die manchmal unangemessenen Eingriffe gegen Prostituierte sowie die Brutalität und Missbrauch der Amtsgewalt erweckten Widerstand gegen die Reglementierung. Bald kamen dazu auch Vorwürfe ethischen Typs: Die Polizei als Verkörperung der öffentlichen Gewalt, welche die Sittlichkeit der Gesellschaft fördern sollte, sorge „mütterlich“ für die Prostitution, welche buchstäblich allen moralischen Grundsätzen ins Gesicht schlage …35 Die staatskonzessierte Prostitution, materialisiert vor allem in öffentlichen Häusern, sei also zu verbieten. Reaktion auf die Reglementierung war der Abolitionismus, eine Bewegung, die hauptsächlich gegen die Organisationsformen von Prostitution orientiert war und die von einer falschen Prämisse ausging, die Prostitution sei Ausdruck einer moralischen und materiellen Not und mit deren Beseitigung verschwinde auch der Sexhandel. Die wichtigste Waffe zur Bekämpfung der käuflichen Liebe sei also die Aufklärung, Bildung (vor allem von Frauen), moralische Erziehung, Beseitigung der schlimmsten Sozialunterschiede und Schaffung erforderlicher Bedingungen für Eheschließung. Die Bewegung entstand in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in dem protestantischen Milieu Englands und in der Schweiz zusammen mit dem Feminismus und mit der verstärkten Frauenemanzipation. Abolitionisten verheimlichten nicht ihre Empörung über die Staatsregulierung von Prostitution, forderten deren Aufhebung, und setzten die Meinung durch, die Prostitution beruhe auf der Existenz von zweierlei Moral: eine für Männer, andere für Frauen … Sie betrachteten die Reglementierung als eine Art Staatsunterstützung von Prostitution, verlangten die Schließung von öffentlichen Häusern und Aufhebung der Polizeiregistration von Prostituierten. Dem Kampf gegen Reglementierung schlossen sich viele europäische und nordamerikanische Philosophen, Schriftsteller, ja sogar einige Ärzte an. Weniger Sympathie konnte die Bewegung unter den Gesetzgebern finden, und die abolitionistischen „Rühransichten“ wurden dann von Polizei- und Verwaltungsbeamten, einschließlich Amtsärzten resolut abgelehnt.36 34  Ibid.

35  Hynek Záruba  / Jiří Votoček, Dějiny lásky. Populární obrazy z dějin snubnosti, manželství a prostituce od pravěku až po dobu nejnovější (Geschichte der Liebe. Populäre Bilder aus der Geschichte von Verlobung, Ehe und Prostitution von der Urzeit bis zu der jüngsten Zeit). Nach modernen Forschungsergebnissen und aus zuverlässigsten Wissenschaftswerken zusammengestellt und bearbeitet von … Teil V. Liebe in der Neuzeit, Praha 1926, S. 528. 36  Olga Stránská-Absolonová, K otázce prostituce (Zu der Prostitutionsfrage), Ženský svět. List paní a dívek českých, 10 (1906), S. 146.

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Man kann sagen, dass die Böhmischen Länder – was den Abolitionismus anbelangt – zu den meist erweckten zählten. Einer dessen Propagatoren war bereits während seiner Universitätskarriere Professor Tomáš Garrigue Masaryk. Wir sind sicherlich nicht weit von der Wahrheit, wenn wir erklären, dass Masaryks Humanismus (neben skandinavischen und nordamerikanischen Einflüssen) eine theoretische Grundlage der tschechischen abolitionistischen Bewegung darstellte. Zu seinen führenden Mitarbeitern, gruppiert um die Zeitschrift Athenaeum, zählte Vítězslav Janovský (1847–1925), Professor an der medizinischen Fakultät und einer der Begründer der tschechischen Dermatologie, ab 1882 Primararzt der Abteilung für Haut- und Syphiliskrankheiten im Allgemeinen Krankenhaus in Prag. Gerade er, zusammen mit seinen Schülern und Mitarbeitern, war später einer der Initiatoren des Abolitionsgesetzes. Seine Beiträge in Athenaea rezensierten meistens europäische Abolitionsschriften. An der Wende des 19. Jahrhunderts waren immer mehr gebildete Menschen, Männer und Frauen, überzeugt, die Prostituierte sei eine Frau, welche für die Verdorbenheit der Gesellschaft leidet, sie sei Ausdruck deren moralischen Elends und eine Art kapitalistische Ware. Aufhebung der kasernierten Prostitution forderten die Sozialisten.37 Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erodierten die Abolitionsbemühungen den bislang festen „Reglementierungsblock“ des Prager Magistrats. Der Abolition schlossen sich nämlich Mitglieder des Humanitätsreferats des Prager Rathauses an, geführt von František Krejčí (1858–1934), Begründer der modernen tschechischen Psychologie und später Abgeordneter und Senator. Die Polizeidirektion Prag antwortete jedoch auf die zunehmenden Abolitionsvorschläge ziemlich realistisch mit dem Argument, es sei unmöglich, „an die volle Schließung der Bordelle und vollkommene Abschaffung der Straßenprostitution zu denken“. Verhandlungen und zeitweilige Plänkeleien zwischen den Befürwortern der Reglementierung einerseits und den Verfechtern der Abolition andererseits fuhren also fort …38 Von dem ethischen Gesichtspunkt wurde die Reglementierung abgelehnt mittels Kategorien, die heute vielleicht mit dem Modewort gender bezeichnet werden könnten. Die Abolitionisten hielten sie für eine Verkörperung der männlichen Dominanz und eindeutige Präferenz der männlichen Begierden. Sie wiesen dabei darauf, die Reglementierung sei auf die bürgerliche 37  Blanka Svobodová, „Portrét“ nekoncesovaných pouličních prostitutek v Praze a jejích předměstích v sedmdesátých a osmdesátých letech 19. století („Porträt“ unkonzessionierter Straßenprostituierter in Prag und dessen Vorstädten), in: Documenta Pragensia XVI. Ponížení a odstrčení. Města versus katastrofy, Praha 1998, S. 119– 127, hier S. 127. 38  AHMP, Pres. magistrátu, Inv. Nr. 2353, sg. 87, Kart. Nr. 899, Prostituce (Prostitution) 1913–1936.



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Heuchelei zurückzuführen, die Zwangseintragung der bei Prostitution ertappten Frauen „trage direkt der künstlichen Prostituiertenzucht bei …“39 Die Reglementierung bestrafe also eigentlich nur die Frau, der Mann bleibe unbetroffen, obwohl auch er an diesem Übel teilnehme … Darüber hinaus könne die bereits registrierte Prostituierte nur schwer ins „normale“ Leben zurückkehren. Die Bordellprostituierte sei dann nach den Abolitionisten eine ausgebeutete Sklavin, die sich jedem hingeben müsse … Man konnte oft das Argument hören, der reglementierende Staat erkenne „das ekelhafteste Gewerbe: Kuppelei und Prostitution“ an.40 Eine nicht ganz begründete Einwendung war die Behauptung, dass die Freudenhäuser den Kontakt Minderjähriger mit der Prostitution erleichterten … Mehr Erfolg hatte die Abolitionsbewegung erst nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik. Am 30. September 1919 fand eine Sitzung des Abgeordnetenhauses statt. Die national-sozialistische Abgeordnete Františka Zemínová (1882–1962), ihre Parteikollegen Luisa LandováŠtychová (1885–1969), der Jurist und Volkswirtschaftler Gustav Heidler (1883–1930), der Arzt Bohuslav Vrbenský (1882–1944) und Professor František Krejčí (1858–1934), zusammen mit neun weiteren Abgeordneten brachten einen Vorschlag ein, „die öffentlichen Prostitutionshäuser zu schließen, die geheime Prostitution beiderseitig [sic!] streng zu verfolgen und Geschlechtskrankheiten pflichtgemäß anzumelden und ärztlich zu be­ handeln“. Die Kuppelei sollte „als einer der schwersten Verbrechen“ bestraft und bei der Polizei „Inspektorinnen für Sitten- und Gesundheitsaufsicht“ angestellt werden. Diese Abgeordneten setzten sich für die Errichtung von Heimen für Prostituierte ein, „welche in geeigneter Weise deren moralische und körperliche Genesung bewirken sollten. Denjenigen, die zum ordentli­ chen Leben bereit sind, soll die Rückkehr dazu völlig erleichtert werden“. In dem Entwurf war auch pflichtgemäße Behandlung von Geschlechtskrankheiten auf Staatskosten vorgesehen. Das Dokument samt Argumenten, die sowohl dem damaligen naiven Optimismus als auch der zeitgenössischen Linksrhetorik Ausdruck gaben, wurde dem sozial-politischen Ausschuss des Abgeordnetenhauses übergeben.41 Mitte Dezember 1919 wurde der Entwurf vom Ausschuss an das Gesundheitsministerium weitergeleitet. Zur Ausarbeitung des Gesetzes wurden Ju39  H. Záruba  / J. Votoček, Dějiny lásky, V., S. 524; Peter Becker, Weak Bodies? Prostitutes and the Role of Gender in the Criminological Writings of 19th century. German Detectives and Magistrates. Crime, Histoire et Société (Crime, History and Societies), 1999, Vol. 3, No 1, S. 45–69, hier S. 50. 40  H. Stein, Prostituce, S. 5, 6. 41  Tagungen der Tschechoslowakischen Nationalversammlung im Jahr 1919, Druck 1638, AHMP, PM, Inv. Nr. 2353.

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risten beigezogen, namentlich Professor Antonín Miřička (1863–1946), damals Vorsitzender der Kommission für die ČSR- Strafgesetzvorlage, Professor Karl Kreibich (1869–1953), Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Bekämpfung venerischer Krankheiten und Pädiater (!), und andere. Während der sicherlich komplizierten Verhandlungen wurde auf einige Vorschläge der Entwurfsautoren verzichtet, wie z. B. auf die völlig utopische Bestrafung der Besitzer von Räumen, in denen sich der Liebeshandel abspielte. Der endgültige Wortlaut des Gesetzes wurde von dem Redaktionskomitee der Abteilung für Bekämpfung venerischer Krankheiten bei dem Staatlichen Gesundheitsrat formuliert. Am 25. Mai 1921 wurde der Entwurf von der Regierung erörtert. Am 11. Juli 1922 wurde das Gesetz Nr. 241 Über Bekämpfung der vene­ rischen Krankheiten, das erste Abolitionsgesetz in Mitteleuropa, genehmigt. Sechs Wochen später, am 22. August 1922, erschien es in der Gesetzsammlung. Es wurden zwei Regierungsverordnungen zu diesem Gesetz erlassen: die Ausführungshinweise vom 23. Oktober 1923 und der Begleiterlass vom 21. Januar 1924 (Erlass des Ministeriums für öffentliches Gesundheitswesen Nr. 9031 pres. ai 1923). Im Abschnitt II. des Gesetzes wurde die Reglementierung der Prostitution aufgehoben und das Betreiben von Freudenhäusern verboten; die Zahl dieser Häuser war inzwischen sowieso wesentlich gesunken. Besitz des öffentlichen Hauses sollte weiterhin als Kuppelei (§ 14) bestraft werden. Besondere Aufmerksamkeit galt den „Personen beides Geschlechts bis achtzehn Jahre alt, die ein unmoralisches sexuelles Leben führen …“ (§16). Die Straßenprostitution wurde jedoch von dem Gesetz gar nicht eingeschränkt und sie geriet sogar außer Kontrolle. Die Staatsverwaltung sollte nötigenfalls für die Errichtung von „Anstalten, in denen Berufsprostituierten ein zeitbeschränktes Asyl und eine Besserungsmöglichkeit geboten wird“ sorgen (§ 15).42 Dieser angesichts der schlechten ökonomischen Lage unrealistischer Plan wurde dann durch eine Regierungsverordnung vom Januar 1924 aufs richtige Maß geführt: Von der Vision von Asyl und Besserung wurde nur eine Zusage von Fachberatung und von moralischer und materieller Unterstützung. Weiter strafbar blieb bewusste Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten; die entsprechenden Bestimmungen befanden sich im Abschnitt III. des Gesetzes. Die Paragraphen 20 und 21 behandelten die „Anführung zur Unzucht“, die nur in dem Falle strafbar war, wenn sie öffentliches Ärgernis erregte, in anstößiger Weise durchgeführt wurde oder Personen unter 16 Jahren umfasste. 42  Gesetz vom 11. Juli 1922 über Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, in: Abraham Flexner, Prostituce v Evropě (Prostitution in Europa), Praha 1925, S. 346– 351.



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Mit seinem Inhalt, seiner Ausführung und seinen Auswirkungen entsprach das Abolitionsgesetz dem grundsätzlich demokratischen Geist der neuen tschechoslowakischen Gesellschaft: „Unser Gesetz hat diesen Standpunkt eingenommen“, schrieb einer der tschechoslowakischen Abolitionisten Ladislav Prokop Procházka (1872–1955), Arzt und Komponist und in den Jahren 1920–1921 Gesundheitsminister, „die Prostitution an sich ist nicht strafbar. Jeder Staatsbürger kann über seinen Körper frei verfügen. Strafbar wird sie erst dann, wenn sie entweder gegen die öffentliche Sittlichkeit oder öffentliche Gesundheit verstößt.“43 Das Gesetz reflektierte auch einen markanten Fortschritt in der Emanzipation von Frauen, zu der sich die neue Republik bekannte: von der Anerkennung des Wahlrechts von Frauen bis zur Aufhebung des Zölibats von Lehrerinnen … Die soziale und politische Gleichberechtigung der Frau sollte das Handeln mit ihrem Körper verhindern und das Bestehen von „zweierlei Moral, […] als absolut unmöglich in der demokratischen Ord­ nung …“44 abschaffen. Die Mängel des Gesetzes machten sich bald nach seinem Inkrafttreten bemerkbar. Die Funktion von Freudenhäusern übernahmen die Bars, Weinstuben und Kaffeehäuser trotz der Regierungsverordnung über Bekämpfung der Prostitution, die auf die politischen Behördenappellierte, „bei der Konzessi­ onserteilung an Gewerbe, wo eventueller Missbrauch in der angedeuteten Richtung möglich ist (Weinstuben, Nachtcafés, Bars, Kabaretts und andere Unterhaltungsbetriebe, insbesondere wenn sie mit dem Ausschank von Spiri­ tuosen verbunden sind), auf diesen Moment Rücksicht zu nehmen …“45 Die Prostitution hat deshalb nicht an Umfang, sondern an Sicherheit verloren. Es fehlte die ehemalige, wenn auch mangelhafte und unvollkommene Polizei- und Gesundheitskontrolle. Auch das eigentliche, proklamierte Ziel des Gesetzes konnte nicht erreicht werden: Nach seiner Genehmigung hat die Anzahl von Geschlechtskranken nicht abgenommen; in den folgenden Jahren kam es sogar zu einem Anstieg von venerischen Krankheiten. Die Abolitionsverfechter erklärten diese Tatsache als Folge der „Zerrüttung des Familienlebens nach dem Kriege“.46 43  Ladislav Prokop Procházka, Prostituce a zákon (Prostitution und Gesetz), Přítomnost 1, 1924, S. 88–89, hier S. 89. 44  Eleonora Paulová, Za pravou a zdravou demokracii (Für eine wahre und gesunde Demokratie), Praha 1927, S. 22. 45  Karel Ladislav Kukla, Pražské bahno (Der Stadtsumpf Prags), Von den ursprünglichen Ausgaben Konec bahna (V. Švec, 1927) und Ze všech koutů Prahy (J. R. Vilímek, 1899) ausgewählt und sprachlich bearbeitet von Helena Podaná und Dana Chodilová, Praha1992, S. 97. 46  E. Paulová, Za pravou a zdravou demokracii (Für eine wahre und gesunde Demokratie), S. 31.

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Abstract Prostitution and the Law: Criminal Code of the Law on Combating Venereal Diseases The state’s approach to prostitution could exhibit three forms in the past: absolute prohibition of prostitution; its toleration, surveillance and confinement (regulation); or freedom and exemption from punishment provided some rules were observed (abolitionism). Prostitution was regulated in the Austrian Monarchy during the whole 19th century; the towns and cities were setting their rules while generally supporting themselves on the 1803 and / or 1852 Criminal Code whose respective paragraphs referred to illicit sexual relations. The Civil Code did not deal explicitly with prostitution; its paragraphs, however, were protecting family and minors, who tended to succumb to the temptation and practice of prostitution. Another legal measure applicable to prostitution was the Act No. 89 of 24 May. 1885 as well as the landwide General Prostitution Regulations, usually referred to as Pros­ titution Regulative, issued on 26 November, 1916. The police methods as well as the objections of ethical nature provoked resistance to the regulation. In response to the regulation an abolitionist movement developed protesting mainly against the organized forms of prostitution. The movement was based on a false premise that prostitution was an expression of moral and material misery. The leading representative of abolitionism in Bohemia was T. G. Masaryk together with some of his colleagues from Athenea group. The abolitionist efforts culminated on 11 July, 1922 with the adoption of the Venereal Disease Combating Act No. 241, the very first abolition act in Central Europe. The Act repealed the regulation of prostitution and prohibited the creation and operation of brothels. Street prostitution, however, remained unrestricted, and even went out of control. Liable to prosecution remained conscious transmission of venereal diseases as well as „inviting to sexual intercourse“ if it created a public nuisance, if done in an offensive way, or if a person under 16 was involved. Soon, however, the Act proved insufficient.

Die Strafhandlungen gegen den Staat in dem ungarischen Strafgesetzbuch von 1878 István Szabó I. Die wichtigen Strafhandlungen gegen den Staat und deren Abgrenzungen Das Strafgesetzbuch von 1878 hat im verhandelten Themenbereich eine bedeutende Begriffsreinigung mitgebracht. Károly Csemegi hat die eindeutige Bestimmung der Strafhandlungen gegen den Staat und deren genaue Abgrenzungen als seine wichtigste Aufgabe bezeichnet. In unserem früheren Strafrecht wurde der Landesverrat ein Sammelbegriff, darunter viele Tätigkeiten ohne prinzipielle Gründe gereiht wurden, und diese Probleme wurden von rechtskräftigem Strafgesetz noch nicht gelöst. Deren Anzahl musste reduziert werden, und ein wichtiger Aspekt war die genaue Abgrenzung des Sachverhaltes des Hochverrates und des Landesverrates.1 Zum Hochverrat hat Csemegi diejenigen Handlungen gezählt, die sich auf die Vernichtung der wesentlichen Bestandteile des Staates ausrichten.2 Bei der Abgrenzung des Landesverrates vom Hochverrat lag der Schwerpunkt auf der Loyalitätsverpflichtung, die der Staatsbürger seiner Heimat schuldig ist. Das Gesetzbuch hat – unter dem Landesverrat – den Verstoß gegen diese Verpflichtung sanktioniert.3 Den Sachverhalt dieser Handlung kann im Allgemeinen nur ein ungarischer Staatsangehöriger erschöpfen, der seiner Heimat Loyalität schuldig ist. Der Hochverrat hat die innere, der Landesverrat die äußere Sicherheit des Staates gefährdet. Das Ziel des Hochverrates war die Vernichtung der einzelnen Organe der Staatsmacht, aber beim Landesverrat die Gefährdung deren internationaler Position.4 In diesem Zusammenhang müssen wir auch eine dritte Handlung, den Landfriedens1  Begründung zum Besonderen, Teil I. Abschnitt (Hochverrat) Absatz (2)–(4) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 2  Begründung zum Besonderen, Teil I. Abschnitt (Hochverrat) Absatz (10) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 3  Begründung zum Besonderen, Teil III. Abschnitt (Landesverrat) Absatz (7) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 4  Pál Angyal, Hochverrat. Beleidigung des Königs. Landesverrat. Landfriedensbruch. Der strafrechtliche Schutz der Behörden, Budapest 1930. S. 57.

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bruch behandeln, der auch vom Hochverrat abgegrenzt werden muss. Hier sind aber die innere und äußere Sicherheit kein Abgrenzungskriterium, denn der Landfriedensbruch gefährdet ebenso die innere Sicherheit wie der Hochverrat. Der wichtige Unterschied ist, dass das Ziel des Landfriedensbruchs nicht die Vernichtung der einzelnen Organe der Staatsmacht, sondern deren Zwang zu irgendeiner Handlung war.5 Die Täter des Landfriedensbruchs haben also die in Kraft stehende Verfassungsordnung nicht in Frage gestellt, so wurde diese Handlung nicht so streng verurteilt wie der auf die Vernichtung ausgerichtete Hochverrat. II. Die Besonderheiten, die auf die österreichisch-ungarische ­staatsrechtliche Beziehung zurückzuführend sind Vor der detaillierten Verhandlung müssen wir erwähnen, welche besonderen Auswirkungen die österreichisch-ungarische staatsrechtliche Beziehung auf die Strafhandlungen gegen den Staat hatte. Denn es gab keine gemeinsame Gesetzgebung, wurde der strafrechtliche Schutz des gemeinsamen Staatsoberhauptes durch zwei getrennte Strafgesetzbücher kontrolliert. Wie wir später sehen werden, waren sie unterschiedlich. Einige Handlungen gegen denselben Herrscher wurden anders beurteilt, abhängig davon, ob sie im Rahmen des österreichischen oder des ungarischen Strafgesetzbuches gemacht wurden. Eine eigenartige Rechtslage ergab sich auch im Artikel über den Hochverrat, im Betreff des Schutzes des Staatsgebietes. Der Schutz des Staatsgebietes von Österreich und Ungarn (von Cisleithanien und Transleithanien) wurde von zwei getrennten Strafgesetzbücher versichert, gleichzeitig hat die aus der Pragmatica Sanctio stammende Verteidigungsgesellschaft beide Parteien darauf gezwungen, im Falle einer territorialen Verletzung dem Anderen gleich zu helfen. Das hatte auch eine Auswirkung auf den Sachverhalt des Landesverrates, weil gegen einen Staat begangener Landesverrat aufgrund der Verteidigungsgemeinschaft der zwei Staaten einen gleichen Nachteil für den anderen bedeutete. III. Die Formen des Hochverrates Der Hochverrat fasst also die Handlungen zusammen, die sich auf die Vernichtung der wesentlichen Bestandteile des Staates beziehen. In den monarchischen Staaten wurden drei wesentliche Bestandteile unterschieden:6 der 5  Begründung zum Besonderen, Teil IV. Abschnitt (Landfriedensbruch) Absatz (25)–(29) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 6  Später werden wir sehen, dass dieser dreifache Schutz auch von den Republiken nicht ausgeschlossen wird.



Strafhandlungen gegen den Staat in dem ungarischen Strafgesetzbuch425

Herrscher, das Staatsgebiet und die Verfassung.7 Wir müssen aber unterstreichen, dass in Hinsicht der Verfassung unter Vernichtung nicht die Vernichtung des Staates verstanden wird, sondern die der Organe der Staatsmacht, die verfassungsmäßig funktionieren. Jemand wollte zum Beispiel mit der gewaltsamen Aufhebung des Parlaments oder der königlichen Institution das Land zu einer absoluten Monarchie oder einer Republik machen. IV. Der Hochverrat gegen den Herrscher Im Zusammenhang mit dem Sachverhalt des Hochverrates gegen der Herrscher müssen wir schon am Anfang hervorheben, dass die Handlungen gegen den König wurden von Csemegi sehr schön abgegrenzt und ausreichend verengt8 und in Hinsicht der Strafen geteilt. Die Handlungen gegen das Leben des Königs haben eine Gruppe gebildet und eine andere Gruppe die Handlungen, die die Ausübung der Regierungsrechte unmöglich machten oder verhinderten. Die Todesstrafe wurde nur bei der ersten Gruppe, also bei der Tötung des Königs ermöglicht. Aber der Schutz des Lebens des Herrschers war nach zwei Aspekten größer, als der der einfachen Staatsbürger. Vor allem hat der Kodex bei der Tötung des Königs die Arten nicht unterschieden, ob es bewusst (Totschlag) oder mit vorbedachter Absicht (Mord) begangen wurde, obwohl die Todesstrafe normalerweise nur im letzen Fall (beim Mord) durch den Kodex ermöglicht wurde. Der nächste Unterschied war die Beurteilung des Versuches. Der Kodex hat normalerweise den Versuch verbindlich weniger bestraft, als die ausgeführten Versuche.9 Im Falle des Tötungsversuchs des Königs wurde der Versuch als sui generis betrachtet und ähnlich wie der ausgeführte Versuch bestraft. Man hat aber einen Eindruck, dass das auch für Csemegi eine schwere Frage war. Im fast zwei Drittel der Begründung, die dem Hochverrat beigefügt wurde, versucht er nur dieses Problem entsprechend zu begründen, aber dogmatische Argumenten werden von ihm nicht vorgeführt. Im vollen Umfang wird es durch 7  Begründung zum Besonderen, Teil I. Abschnitt (Hochverrat) Absatz (9) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878; Heinrich Lammasch, Grundriß des Strafrechts (Grundriß des Österreichischen Rechts), Leipzig 1911, S. 123.; Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Berlin 1909. S. 412. 8  In der Begründung des Gesetzes bemerkt Csemegi ein wenig humorvoll: „Die Schöpfer des Vorschlages von 1843 haben die engen Grenzen der Straftat des Hochverrates mit klugem Vorsicht abgegraben, und wird sicherlich dieser Gesetzvorschlag nicht als Fehler betrachten, dass diese Grenze in einem gewissen Sinne enger gezogen wurde.“ [Siehe: Begründung zum Besonderen, Teil I. Abschnitt (Hochverrat) letzter Absatz des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878]. 9  § 65 Abs. (1) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878.

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mehrere ausländische Beispiele bewiesen, dass es überall so ist, deswegen wurde das auch ins ungarische Strafgesetzbuch aufgenommen. Daraus folgt auch, dass die fahrlässige Tötung des Herrschers fiel nicht unter privilegierten Schutz, sondern war nach den allgemeinen Regeln des Strafgesetzbuches straffällig. Danach müssen wir zu der anderen, der Ausübung der Regierungsrechte unmöglich machenden oder verhindernden Handlungsgruppe der Hochverratsfälle übergehen, die zur Beleidigung des Königs begangen wurden: die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Königs, ihn unfähig machen zu regieren, dem Feind ausliefern, die Verhinderung des Ausübung der Herrscherrechte und die gewaltige Freiheitsberaubung.10 In diesen Fällen sieht der Kodex keine Todesstrafe mehr, sondern eine lebenslange Freiheitsstrafe vor, und macht auch den Versuch nicht zur sui generis Handlung, sondern wird sie weniger bestrafen, als die ausgeführte.11 Damit, dass diese Handlungen aus dem Geltungsbereich der Todesstrafe weggenommen wurden, gab es schon bedeutende Unterschiede zwischen dem anderen Teil der Monarchie (Cisleithanien) im Betreff der strafrechtlichen Beurteilung des Hochverrates. Das österreichische Strafgesetzbuch von 1852 bedrohte die Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit, der Gesundheit, die Verletzung der persönlichen Freiheit und die Verhinderung der Ausübung der Regierungsaufgaben des Kaisers eben mit Todesstrafe.12 Aber im Vergleich zu der früheren österreichischen Regelung bedeutete das schon eine nähere Umschreibung, denn nach dem Strafgesetzbuch von 1803 hat die Person den Sachverhalt des Hochverrates ausgeführt, die die persönliche Sicherheit des Staatsoberhauptes gefährdete.13 Im Csemegi Kodex müssen wir bei den Handlungen, die zur Beleidigung des Königs begangen wurden kurz den Sachverhalt außer dem Hochverrat behandeln. Dieser ist „die Misshandlung des Königs und der Mitglieder des Könighauses und die Beleidigung des Königs“ ist. Wenn eine Person den König misshandelte – wenn sie keine körperliche Beschädigung ausführte – gehörte es nicht zum Bereich des Hochverrates. In diesem Fall war natürlich die Beurteilung der Absicht ein wichtiges Element. Die Misshand10  § 126

Punkt 2. 3. des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 12  Kaiserliches Patent vom 27. Mai 1852, (Strafgesetz; RGBl 117  /  1852, a, b Punkt des Absatzes 59. Hat gleichzeitig das deutsche Strafgesetzbuch von 1871 nur die Mord gegen einen Landesherren in dieser Gruppe eingereiht, also nur der Töten mit Vorsatz war so zu bestrafend. Siehe: Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, 80.§. 13  Das Strafgesetz über Verbrechen stammt aus den dazu gehörigen Verordnungen, Wien 1839. S. 76, 52.§. 11  § 128



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lung des Königs gehörte nur in dem Fall nicht zum Hochverrat, wenn auch die Absicht die Misshandlung ohne körperliche Beschädigung war. Wenn die Absicht körperliche Beschädigung beinhaltete, konnte sie aber nicht erreicht werden konnte, können wir über den Versuch des Hochverrates sprechen. Interessanterweise waren die Strafen gleich, die Misshandlung des Königs und der Versuch der körperlichen Beschädigung waren ebenso bei 10 bis 15 Jahren Haft zu bestrafend. Die Strafe ist noch immer streng, aber sie wurde stark im Vergleich zur früheren Todesstrafe reduziert, was im Kodex veröffentlicht wurde. Wir haben schon mit einer Straftatgruppe getroffen, die früher zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und die später „nur“ bei 10 bis 15 Jahren Haft bestraft wurde. Wenn wir zum österreichischen Strafgesetzbuch zurückkehren, können wir sehen, dass es nicht nur die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, Gesundheit und persönlichen Freiheit des Kaisers mit dem Tode bestraft wurde, sondern auch dessen Gefährdung. Das Strafgesetzbuch hat bei der Bestimmung der Strafen besagt, dass all diese mit dem Tode zu bestrafend sind, wenn die Handlung kein Ergebnis hatte.14 Diese letzte Regelung bedeutet, dass all die Versuche des in diesem breiten Kreis bestimmten Handlungskreises zu sui generis Handlungen wurden, also sie waren mit dem Tode zu bestrafend. All das bedeutet auch, dass die Beleidigung des Königs außer Hochverrat nach dem Csemegi Kodex, die nur mit befristeter Freiheitsstrafe zu bestrafend war, das österreichische Strafgesetzbuch noch immer mit dem Tode bestraft hat. Die österreichische Fachliteratur hat lange aufgezählt, welche die Fälle des Hochverrates gegen der Herrscher sind, aber konnte sie nicht nach deren Ernsthaftigkeit gruppieren.15 V. Der Täter und der Opfer des Hochverrates gegen den Herrscher Nach der Übersicht der Sachverhalte, der nächste Schritt ist das abzuklären, dass nach dem ungarischen Strafrecht wer das aktive und passive Subjekt, also der Täter und der Opfer dieser Handlungen sein kann. Wie schon früher erwähnt, das eine der wichtigsten Elemente für die Grenzziehung zwischen dem Landesverrat und Hochverrat war, dass der Täter des zweiten jeder sein konnte, also war das nicht zur bürgerlichen Beziehung gebunden. Die Bestimmung des möglichen Täterkreises bedeutete kein größeres Problem. 14  Kaiserliche Patent vom 27. Mai 1852, (Strafgesetz; RGBl 117  / 1852), 59.§ a. Punkt. 15  H. Lammasch, Grundriß, S. 122–123.

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Die Definition des passiven Subjektes ist aber komplizierter. Der Opfer konnte der König, aber nur der reale König sein, also der Thronfolger und der resignierte König nicht.16 Gleichzeitig hat die erhöhte Strafverteidigung von der Krönung nicht abgehängt.17 Dieser Akt hatte eine große Bedeutung in der verfassungsrechtlichen Position des Königs, hat aber das Strafrecht in der Zwischenzeit des Gewinnes des Thrones und der Krönung den besonderen Schutz gegeben. Zwischen den zwei Weltkriegen gab es mehrere Probleme mit Karl den IV. und später mit seinem Sohn, Otto von Habsburg. Pál Angyal konnte – meiner Meinung nach – seine legitimistische18 Gefühle nicht begraben, und hat das eindeutig abgeleitet, dass sie den Anspruch auf die Strafverteidigung haben. Das hängt aber offensichtlich von der Entscheidung eines verfassungsrechtlichen Präjudizes ab. Csemegi hat im Zusammenhang mit den Strafhandlungen gegen den Staat getrennt bemerkt, dass das Strafrecht die Aufgabe nicht an sich nehmen kann, die Verfassungsordnung festzulegen. Das ist die Kompetenz des Verfassungsrechtes, und die des Strafrechtes ist die so bestimmte Staatsordnung kräftig zu schützen. Die Frage, ob Karl der IV. auch nach 1918 unter dem Schutz des ungarischen Strafrechtes stand, wurde dadurch entschieden, ob er mit dem Zerfall der Österreich-Ungarischen Monarchie das Recht auf den Thron verloren hat, beziehungsweise welche Auswirkungen das Entthronungsgesetz von 192119 auf seine öffentlich-rechtliche Position. Diese Frage konnte aber beruhigend nicht entschieden werden. Es kann aber festgestellt werden, wenn Karl IV. auch nach 1918 einen Anspruch auf die erhöhte Strafvertei16  P.

Angyal, Hochverrat, S. 13. S. 13. 18  Nach 1920 war der Staatsform Ungarns wieder Königreich. In dieser Lage war eine offene Frage, ob nach der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie Karl der IV. zum ungarischen Thron noch Recht hat? Die führenden politischen Kräfte und die Staatsrechtswissenschaft sind in zwei gegensätzliche Lager gespalten. Die eine Seite (die sog. freien Königswähler) vertrat die Ansicht, dass das zwischen Österreich und Ungarn bestehende Verteidigungsbündnis die Grundlage der Thronfolgeordnung bildete, und diese war mit Außerkrafttreten der Pragmatischen Sank­ tion gleichfalls außer Kraft getreten. Infolge dessen war der königliche Thron leer, den ein neues Herrscherhaus hätte besetzen können. Das andere Lager (die sog. Legitimisten) vertrat die Meinung, dass es sich bei der Pragmatischen Sanktion um ein selbständiges ungarisches Gesetz gehandelt hat, dessen Gültigkeit vom Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht berührt wurde. Karl I. (IV.) und seine Nachfolger waren daher die rechtmäßigen Könige Ungarns. 19  Karl IV. hat trotz des durch die Entente ausgesprochenen Verbots zweimal (März und Oktober 1921) den Versuch einer Rückkehr nach Ungarn unternommen. Der durch die Siegermächte ausgeübte Druck wurde daraufhin so stark, dass die ungarische Nationalversammlung zur Annahme eines Entthronungsgesetzes gezwungen wurde. Siehe: Gesetzesartikel Nr. XLVII aus dem Jahre 1921 zur Ausserkraftsetzung der Herrscher- und Thronfolgerechte seiner königlichen Hoheit Karl IV. und des Hauses Habsburg. 17  Ibid.,



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digung hatte, dann wurde sie nach seinem Tod auch auf Otto von Habsburg ausgebreitet, weil sie nicht an die Krönung gebunden war. VI. Der strafrechtliche Schutz des Reichsverwesers20 Das andere interessante Element des Opferkreises war der Reichsverweser. Normalerweise gehörte er auch nicht zu den Personen, die durch den Sachverhalt des Hochverrates geschützt wurden. Csemegi – als vorübergehender Zustand – hat sich gar nicht mit der Frage beschäftigt, also wenn das durch die Gesetzgebung im Jahre 1920 nicht zur Debatte gestanden worden wäre, wäre ein Rechtsvakuum entstanden. Die einigen Handlungen gegen den Reichsverweser mussten entweder in die Gruppe des Hochverrates oder des Landfriedensbruches eingereiht werden. Wir konnten sehen, dass der Schutz des Hochverrates auf viel mehreren Handlungen ausgedehnt war. Im Falle der Organe der Staatsmacht, die durch den Landfriedensbruch geschützt wurden (Parlament, Regierung, Delegation der gemeinsamen Angelegenheiten) schützt der Zwang zur irgendeinen Entscheidung nur den sanktionierten Sachverhalt und nicht die Personen, die in den einzelnen Organisationen tätig sind, sondern der Druck auf das Organ erschöpft den verbotenen Sachverhalt. Wenn jemand persönlich versucht hat, ein Mitglied der Regierung oder des Parlaments dazu zu zwingen, eine Entscheidung zu treffen, hat der den Sachverhalt „die Gewalt gegen die Behörden, Parlamentsmitglieder oder behördlichen Organe“ erschöpft,21 der weniger beurteilt wurde, als der Landfriedensbruch. Wenn jemand aber den König zur Entscheidung gezwungen hat, war das ein strenger bestrafter Hochverrat, als der Landfriedensbruch. Falls es im Jahre 1920 keine Entscheidung getroffen worden wäre, hätte die Strafverteidigung des Reichsverwesers nur aus der mildesten Variante der oben aufgezählten, aus dem Sachverhalt der Gewalt gegen die behördlichen Organe bestanden. Wenn wir das zur Zeit gültige ungarische Strafgesetzbuch aufblättern, können wir sehen, dass der Präsident der Republik über den gleichen Schutz verfügt wie die Regierung und das Parlament, im allgemeinen neben der Verteidigung, die die behördlichen Organe schützt, wird seine Tätigkeit durch den Sachverhalt des Landfriedensbruches verteidigt.22 Die inhaltlichen Elemente dieser Handlung stimmen mit den bestimmten, festgelegten Teilen des Csemegi Kodexes überein, was bedeutet, dass im Falle seines 20  Durch den Gesetzesartikel Nr. I aus dem Jahre 1920 war an die Stelle des Königs vorübergehenden ein Reichsverweser eingesetzt worden. 21  §§ 163–170 des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 22  Gesetz Nr. IV. aus dem Jahre 1978.

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Tötens, körperlicher Verletzung, er nicht unter dem für ihn getrennt bestimmten, ausgehobenen strafrechtlichen Sachverhalt steht. Also zurückkehrend zum Reichsverweser, deswegen habe ich erwähnt, dass im Jahre 1920 seine Person im Bereich des Landfriedensbruches oder des Hochverrates aufgenommen werden musste, sonst hätte er über sehr niedrigen strafrechtlichen Schutz verfügt. Der Reichsverweser war mit dem König als gleichwertig behandelt,23 also wurde er unter Schutz des Sachverhaltes des Hochverrates gestellt. Hat diese das Gesetz so getan, dass der nächste Absatz24 derselben Paragraphen um die Verantwortung des Reichsverwesers ging, und in der beigelegten ministerialen Begründung erwähnt wird: „Die öffentlich-rechtliche Position des Reichsverwesers ist nämlich nicht gleich mit der Position des souveränen Staatsoberhauptes, sondern stimmt mit der Rechtsstellung über­ ein, die in einer Republik von dem Präsidenten der Republik eingefüllt wird;“25 Aufgrund des Absatzes (1) unter Paragraph 14 des Gesetzartikels Nr. I. aus dem Jahre 1920 wird die Unantastbarkeit des Reichsverwesers besagt, der mit dem König gleichwertigen strafrechtlichen Schutz, aber danach der Absatz (2) die öffentlich-rechtliche Verantwortung feststellt. Das trägt in sich aber keinen Widerspruch, deswegen habe ich das länger analysiert, um einen wichtigen Schluss im Zusammenhang mit dem Sachverhalt des Hochverrates im Csemegi Kodex, und überhaupt anbetreff des Begriffes des Hochverrates ziehen zu können. Es geht um die genaue Bedeutung des Wortes „Hoheit“, der Schutz welcher Hoheitsrechte durch den Hochverrat garantiert wird. VII. Der Hochverrat, als Schützer der staatlichen Hoheitsrechte Im Falle des Reichsverwesers bedeutete die Angabe des mit dem König gleichen strafrechtlichen Schutzes gar nicht, dass die Gesetzgebung das zeitweilige Staatsoberhaupt in den Begriffsbereich der Königlichen Majestät verlegt hat. Der Hochverrat bedeutet also nicht – und das ist nicht anders auch im Csemegi Kodex – die Verletzung der Königlichen Majestät, sondern des souveränen Staates. Daraus folgt auch, dass der Sachverhalt des Hochverrates nicht von der Staatsform hängt, und darf auch in den Republiken ohne weiteres als Bezeichnung benutzt werden. So blieb zum Beispiel der „Hochverrat“ in Österreich und in Deutschland als strafrechtlicher 23  § 14

Abs. (1) des Gesetzesartikels Nr. I. aus dem Jahre 1920. Abs. (2) des Gesetzesartikels Nr. I. aus dem Jahre 1920. 25  Absatz (2) der beigefügten, ausführlichen Begründung des Paragraphs 14 des Gesetzartikels Nr. I. aus dem Jahre 1920. 24  § 14



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Sachverhalt auch nach der Ausrufung der Republik erhalten. Die Unantastbarkeit des Reichsverwesers steht auch nicht gegenüber damit, dass sie inhaltlich lieber ein republikanisches, als ein monarchisches Modell des Staatsoberhauptes ist. Die Unantastbarkeit des Staatsoberhauptes hat nämlich zwei gut trennbare inhaltliche Elemente, das erste ist die öffentlichrechtliche Verantwortungslosigkeit und das zweite ist der erhöhte strafrechtliche Schutz. In einem Königreich hat die Unantastbarkeit des Staatsoberhauptes fast ohne Ausnahme beide Elemente enthält, in den Republiken nur das letzte, aber nicht gleichermaßen. Früher habe ich schon erwähnt, dass Csemegi drei wichtigen Objekte des Hochverrates bestimmt hat: den Herrscher, das Staatsgebiet und die Verfassung. Die zwei letzen – ohne Ausnahme – gehören in der republikanischen Staatsform auch zum strengsten Schutz. Die gewaltsame Veränderung der Verfassungsordnung, oder die gewaltsame Beschneidung des Staatsgebietes bedeuten in diesem Fall auch die schwersten Beleidigungen der staatlichen Hoheitsrechte.26 Ist aber auch der erhöhte Schutz des Staatsoberhauptes mit der republikanischen Staatsordnung gar nicht unvereinbar. Es hängt nur von der freien Entscheidung des Gesetzgebers ab, ob die einigen Handlungen, die gegen den Präsident der Republik ausgeführt wurden, nur mit den anderen Organen der Staatsmacht (Gesetzgebung, Regierung) gleichermaß beurteilt werden, oder sie in den strengsten geschützten Bereich der staatlichen Hoheitsrechte eingereiht werden. Zum Beispiel haben der griechische27 Gesetzentwurf von 1924, der türkische28 von 1926 oder der deutsche29 von 1927 solche Regelungen enthalten. Im dritten Absatz haben wir die Faktoren bestimmt, die durch den Hochverrat als strafrechtlicher Sachverhalt unter Schutz gestellt werden: der Herrscher, die Verfassung und das Staatsgebiet. Von dem vierten bis zum siebten Absatz haben wir das erste Element, die Handlungen des Hochver26  Die Merkmale können im Rahmen des zurzeit gültigen ungarischen Strafrechtes gefunden werden. Der Sachverhalt der gewaltsamen Veränderung der Verfassungsordnung (Abs. 139. des Strafgesetzbuches) deckt fast völlig die bezüglichen Regelungen des Csemegi Kodexes ab. Die Strafhandlungen gegen den Staat des gültigen Strafgesetzbuches weichen aber strukturell an mehreren Stellen vom Csemegi Kodex ab, zum Beispiel daran, welche Straftäte nur von ungarischen Personen welche von allen begehen werden können. Der Sachverhalt des Hochverrates, der im geltenden Strafgesetzbuch unter dem Absatz 144. festgelegt wird, enthält gleichermaßen den Schutz des Staatsgebietes mit der Abweichung, dass der Täter nur ein ungarischer Staatsbürger sein kann, bis bei Csemegi können wir mit solcher Beschränkung nicht treffen. 27  P. Angyal, Hochverrat, S. 10. 28  Ibid., S. 10. 29  Ibid., S. 10.

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rates ausführlich durchgeschaut. Danach, einigermaßen kürzer, müssen die Fragen der Handlungen des Hochverrates gegen die Verfassung und das Staatsgebiet folgen. VIII. Der Hochverrat gegen die Verfassung Die Sachverhaltselemente des Hochverrates gegen die Verfassung sind die gewaltsame Veränderung der Thronfolgeordnung, der Verfassung Ungarns, sowie der Staatengemeinschaft Österreich-Ungarn. Ungarn hatte damals keine geschriebene Verfassung, also in vielen Fällen wurden die verfassungsrechtlichen Regeln durch Traditionen bestimmt. Deswegen wurde das im Zusammenhang mit der gewaltsamen Veränderung der Verfassung durch die Gerichtspraxis ausgebildet, welche Teile durch das Strafgesetz geschützt wurden. Zum Beispiel die Legislative und die Exekutive Machtorgane gehörten unbestritten zu diesem Bereich. Wenn jemand deren verfassungsrechtliche Stellung gewaltsam verändern wollte, hat er den Sachverhalt des Hochverrates erschöpft.30 Wahrscheinlich hat die Unbegrenzbarkeit der Verfassung Csemegi dazu gezwungen, den Sachverhalt mit solchen Elementen zu ergänzen, die im Wesentlichen der Begriff der Verfassungsordnung enthält. Es ist offenbar, dass das Erbrecht oder die österreich-ungarische öffentlich-rechtliche Beziehung ein Teil der Verfassung des ungarischen Staates ist. Beide beruhen auf der Pragmatica Santio, die eine der wichtigsten Gesetztes des ungarischen öffentlichen Rechtes war. Der die Pragmatica Sanctio gewaltsam verändern wollte, hatte unbestritten das Ziel, die Verfassung des ungarischen Staates gewaltsam zu verändern. Meiner Meinung nach waren sie keine neuen Sachverhaltselemente, lieber aufgezählte Beispiele. Der genaue Bereich der geschützten Rechtsobjekte wurden durch die Gerichtspraxis ausgestaltet, aber die davon durch das Gesetz einzeln erwähnt wurden, konnten nicht von den Richtern gewogen werden, sondern wurden sie sicher durch das Strafrecht geschützt. Der Hochverrat gegen die Verfassung musste nicht vollendet werden, weil das Strafrecht seine vollendete Form nicht behandeln konnte. Wenn die gewaltsame Veränderung vollendet wird, verliert der Staat seine Strafmacht.31 Die Revolutionäre werden sich selbst aufgrund der Gesetze der umgestürzten Staatsordnung nicht verurteilen. Daraus folgt, dass der ganze Sachverhalt eine Versuchsform ist. Bei dem Hochverrat gegen den Herrscher besagt der Kodex: „Man begeht den Straftat des Hochverrates …“,32 30  Ibid.,

S. 22. S. 23–24. 32  § 126 des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 31  Ibid.,



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bis beim Hochverrat gegen die Verfassung: „Die Handlung bildet den Straftat des Hochverrates, die direkt darauf gerichtet ist, dass:“33 Ein wichtiges Sachverhaltselement der Veränderung ist der gewaltsame Charakter der Handlung. Aufgrund ihres Charakters verlangt sie eine solche Tat, die von einer Person oder einer kleineren Gruppierung nicht verwirklicht werden kann. Dafür sind Masse, organisierte Partei, und ernste Gruppen nötig, die über Waffen verfügen.34 Der Hochverrat gegen die Verfassung wird ebenso bei 10 bis 15 Jahren bestraft, aber ist es keine Zuchthaus, sondern nur Staatsgefängnis,35 das auf jeden Fall eine privilegierte Durchführungsform ist. IX. Der Hochverrat gegen das Staatsgebiet Der Hochverrat gegen das Staatsgebiet ist das letzte Element unseres Themas, das Csemegi mit dem Hochverrat gegen die Verfassung in dem gleichen Absatz behandelt hat.36 Der Grund dafür konnte sein, dass er gleichermaßen das Versuchsstadium als zu bestrafende Form bestimmten wollte, wie bei der anderen Gruppe.37 Die Verletzung des Staatsgebietes muss nicht effektiv verwirklicht werden, in strafrechtlicher Hinsicht gilt auch die darauf gerichtete Handlung als vollendetes Stadium. Die unerlaubte Handlung ist also: das Gebiet des ungarischen Staates, oder eines Teiles in fremde Hände zu geben, oder die Abtrennung von dem ungarischen Staat, wenn diese mit Gewalt passieren. Das Geben in fremde Hände nimmt eine Angliederung an einem anderen Staat an, die Abtrennung ohne Geben in fremde Macht nimmt aber die Gründung eines eigenständigen Staates an.38 Die besondere Wirkung der österreich-ungarischen staatsrechtlichen Beziehung war, dass das Gebiet des österreichischen Staates (Cisleithanien) an ähnlichen strafrechtlichen Schutz beteiligte wie das ungarische Staatsgebiet (Transleithanien). Auf der anderen Seite war natürlich der Gleiche, das österreichische Strafgesetzbuch hat auch das Gebiet des ungarischen Staates geschützt. Das war eine logische Folge der Verteidigungsgemeinschaft, die aus der Pragmatica Sanctio stammte. Wenn die territoriale Unversehrtheit von Österreich (von Cisleithanien) gefährdet wurde, wurde in dieser Situation von Ungarn die gleiche Schutzpflicht erwartet, als ob das gegen das 33  § 127

des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. Angyal, Hochverrat, S. 23. 35  §§ 129 Abs. (1) des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 36  § 127 des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1878. 37  P. Angyal, Hochverrat, S. 24–25. 38  Ibid., S. 25. 34  P.

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Gebiet von Ungarn gerichtet hätte. Im Zusammenhang mit dieser Theorie stellt sich die merkwürdige Frage, wenn jemand von dem einem Staat der Monarchie an dem anderen mit Gewalt Territorien angliedern wollte, war das nach dem Recht der beiden Staaten zu bestrafend? Der Staat, von dem die Territorien abgetrennt werden, wird sicher nach seinem Recht diese Handlung bestrafen, nach dem Recht des anderen Staates ist sie aber nicht zu bestrafend. Zumindest können wir uns im Falle des österreichischen Staates mit solchem Rechtsstandpunkt treffen.39 Bei dem Hochverrat gegen die Verfassung habe ich erwähnt, dass der Kodex ein anderes Rechtsgebiet schützt. Das ist also das System, das durch das Verfassungsrecht bestimmt ist. Auch bei dem Hochverrat gegen das Staatsgebiet ist die Situation ähnlich, wird nämlich die Größe des geschützten Gebietes durch das internationale Recht bestimmt, und das aktuelle Staatsgebiet wird durch das Strafrecht geschützt.40 Die Strafe für den Hochverrat gegen das Staatgebiet übereinstimmte mit dem Hochverrat gegen die Verfassung, was die Dauer anbelangt, wurde er bei 10 bis 15 Jahren Haft bestraft. Im Vergleich mit der Durchführungsform war es viel strenger, es musste statt des Staatsgefängnisses in einem Zuchthaus abbüßen. X. Der Epilog Als Zusammenfassung können wir feststellen, dass im modernen ungarischen Strafrecht die Strafhandlungen gegen den Staat zukunftsweisend kodifiziert wurden. Das gilt schon für den Strafgesetzentwurf von 1843 / 1844, aber besonders für den Csemegi Kodex. Der war ein Fortschritt nicht nur im Zusammenhang mit den früheren ungarischen Regelungen, sondern war er hervorragend auch im europäischen Sinne. Die größten Ergebnisse waren die ausführliche Abgrenzung der einigen Strafhandlungen gegen den Staat und die Differenzierung des Sanktionssystems. Das ist sehr gut durch das von Károly Csemegi bestimmte Prinzip dargestellt: „Dennoch dürfen in diesem Fall alle Straftaten, die hier gehören nicht mit derselben Strafe bestraft werden. Das wäre nicht gerecht, weil die Stufenfolge auch hier nicht abgelehnt werden kann, ohne die Beleidigung des Prinzips der Ge­ rechtigkeit: ebenso nicht, wie bei den verschiedenen Schuldgraden der an­ deren zu bestrafenden Handlungen.“

39  H. 40  P.

Lammasch, Grundriß, S. 123. Angyal, Hochverrat, S. 24.



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Abstract Crimes against the state in the Hungarian Criminal Code of 1878 In general, crimes against the state as codified in the modern criminal law of Hungary anticipated the future. This already applies to the draft Criminal Code of 1843 / 1844, but primarily to the Csemegi Code. It constituted a step forward in comparison with the previous regulations in Hungary, but was also well in line with the European practice. Its major success consisted in the detailed description of some criminal acts against the state and in the differentiation of sanction systems.

Autorenverzeichnis Gerhard Ammerer, Universität Salzburg Elizabeth Berger, Iuridicum, Universität Wien Wilhelm Brauneder, Iuridicum, Universität Wien – Universität ELTE Budapest Zuzana Čevelová, Institut für historische Wissenschaften der Universität Pardubice Horst Dippel, Universität Kassel Lukáš Fasora, Philosophische Fakultät der Masaryk Universität (Brünn / Brno) Martina Halířová, Institut für historische Wissenschaften der Universität Pardubice, Ostböhmisches Museum Pardubice Milan Hlavačka, Institut für Geschichte Tschechiens der Philosophischen Fakultät der der Karlsuniversität Praha, Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik Lothar Höbelt, Institut für Geschichte der Universität Wien Petr Kreuz, Archiv der Hauptstadt Prag / Praha Milena Lenderová, Institut für historische Wissenschaften der Universität Pardubice Stefan Malfèr, Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Christian Neschwara, Iuridicum, Universität Wien Magdaléna Pokorná, Institut für Geschichte Tschechiens der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Praha, Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik Karel Schelle, Juristische Fakultät der Philosophischen Fakultät der Masaryk Universität (Brünn / Brno) Pavla Slavíčková, Lehrstuhl für Geschichte der Palacký Universität Olomouc Anna L Staudacher, Institut für Geschichte der Fakultät der Universität Wien, Institut des Österreichischen biographischen Lexikons der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Zdeňka Stoklásková, Institut für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Masaryk Universität (Brünn / Brno) Jiří Šouša, Lehrstuhl für historische Hilfsdisziplinen und Archivwesen der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität (Prag / Praha) Jiří Štaif, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität (Prag / Praha) István Szabó, Juristische Fakultät der Petér Pázmány Universität (Budapest)

438 Autorenverzeichnis Damian Szymeczak, Institut für Geschichte der Adam Mickiewicz Universität ­(Posen / Poznan) Daniela Tinková, Institut für Geschichte Tschechiens der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität (Prag / Praha) Peter Urbanitsch, Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften