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German Pages 314 Year 2016
Gabriele Beckmann Blinde Flecken der Entwicklungszusammenarbeit
Gabriele Beckmann lehrt entwicklungsbezogene Arbeit an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie in Hermannsburg und führt Lehrveranstaltungen am Seminar für Ländliche Entwicklung (SLE) der Humboldt-Universität zu Berlin durch. Sie ist Mitglied im Forschungsteam des SLE-Forschungsvorhabens zum Strukturwandel ländlicher Räume (rural transformation) in Subsahara-Afrika und war mehrere Jahre als Fachkraft und Gutachterin in der Entwicklungszusammenarbeit tätig.
Gabriele Beckmann
Blinde Flecken der Entwicklungszusammenarbeit Zur Kooperationspraxis lokaler Non-Profit-Organisationen in Bolivien
Diese Arbeit wurde am 16. Dezember 2015 als Dissertationsschrift an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommen. Gutachter waren Prof. Dr. Dieter Neubert, Prof. Dr. Sérgio Costa und Prof. Dr. Eberhard Rothfuß.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 7 Abkürzungsverzeichnis | 9 1
Einleitung | 11
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Gegenstand der Arbeit | 13 Relevanz des Themas und Ziel der Arbeit | 15 Organisation in Entwicklungsländern | 19 Herangehensweise | 24 Gliederung der Arbeit | 27
2
Theoretische und konzeptionelle Grundlagen | 29 Annäherungen an die Organisationspraxis | 29 Handeln in Organisationen | 36 Neo-Institutionalistische Organisationstheorie | 41 Wissen als Grundlage von Institutionen | 45 Organisationsforschung in Entwicklungsländern | 47 Drei Untersuchungsperspektiven für Organisationen | 54 Die multiperspektivische Organisationsanalyse | 64
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3
3.1 3.2 3.3
Untersuchungsbereiche und Vorgehensweise | 67 Der Forschungsprozess | 68 Forschungsstrategie und Untersuchungsbereiche | 76 Arbeitsphasen, Erhebungsmethoden und Datenquellen | 81
4
Die Untersuchungsregion Velasco als sozialer Kontext | 89
4.1 4.2 4.3
Sozialgeografische Merkmale der Grenzregion Velasco | 90 Historisch tradierte Denk- und Handlungsmuster | 96 Historische Organisationsformen in der Chiquitania | 100
5
Lokale Frauenorganisationen: Zwei Fallbeispiele | 119
5.1 5.2
Amé Tauná: Eigenheimbau in San Miguel | 120 Die Töpferinnen von San Rafaelito | 139
6
MINGA – Vereinigung kollektiver Arbeitsgruppen | 155
6.1 6.2
Entwicklungsprozess und Handlungspraxis | 156 Systemperspektive | 162
6.3 6.4 6.5
Institutionelle Umwelten von MINGA | 175 Die lokale Umwelt von MINGA | 184 Institutionalisierung von Vertrauen | 189
7
Organisationen zur politischen Interessenvertretung | 191
7.1 7.2
Indígena-Organisationen | 191 Comités de Vigilancia zur Bürgerbeteiligung | 216
8
8.3 8.4 8.5
Vergleichende Auswertung der Fallbeispiele | 229 Wie Organisationsmodelle in die praxis übersetzt werden | 231 Organisationen zwischen institutioneller Umwelt und lokalem Kontext | 24 1 Die Institutionalisierung von Handlungsregeln | 256 Organisationsunternehmer als Impulsgeber der Institutionalisierung | 25 8 Die Fallbeispiele im Lichte der Organisationsforschung | 260
9
Von Trojanischen Pferden und Blinden Flecken | 275
8.1 8.2
Abbildungsverzeichnis | 283 Tabellenverzeichnis | 285 Literaturverzeichnis | 287 Liste der Interviews | 307
Danksagung
Zurückblickend glich der Arbeitsprozess über die Kooperationspraxis von Non-Profit-Organisationen einer Abenteuerreise in unbekannte Gefilde. Es war eine lange Reise, die mich in teilweise unbekannte und interessante Wissensgebiete geführt hat, auf zum Teil unerwartete Hindernisse hat stoßen lassen, manchmal auch auf zeitraubende – aber oft auch schöne – Umwege, seltener auch in Sackgassen geführt hat. Doch meine Faszination für die so unterschiedlichen Formen des Gelingens und Misslingens organisierter Kooperation und die Möglichkeiten bzw. den Einfluss externer Förderung zu verstehen, hat über all die Jahre nicht nachgelassen. Über die Jahre habe ich mir gewissermaßen eine „Organisationsbrille“ zugelegt, mittels derer ich heute Dinge sehe, die für mich vorher nicht erkennbar waren. Manchmal gab es auch längere Reiseunterbrechungen, da ich keine hauptberufliche Abenteuerreisende bin. Nun am Ziel danke ich allen, die mich auf dieser langen Forschungsreise begleitet, ermutigt und unterstützt haben. Mein erster Dank geht an Prof. Dr. Dieter Neubert, vom Lehrstuhl Entwicklungssoziologie der Universität Bayreuth, der mich mit großer Geduld und sorgfältiger wissenschaftlicher Beratung begleitet hat. Ohne seine schnellen und genauen Feedbacks auf meine Entwürfe, ohne seine vielen hilfreichen Anregungen und wegweisenden Kommentare und sein ermutigendes Interesse an meinem Vorhaben – so diffus und breit angelegt es zeitweise auch war – läge das Ergebnis dieser Arbeit heute nicht vor. Großen Dank schulde ich den vielen engagierten Menschen aus den lokalen Organisationen der Chiquitania und aus den vielen bolivianischen NRO. Sie haben in Gesprächen ihr Wissen und ihre Erfahrungen zum Teil ungewohnt offen mit mir geteilt und mir viele Türen geöffnet: Hervorheben möchte ich neben vielen anderen ungenannten Don Mariano, Don Ramon, Doña Delmira, Doña Maria und Don Guillermo und Don Jorge. Mein herzlicher Dank für ihre Unterstützung geht auch an meine Kollegin und comadre Doña Evelyn Herrera Faldin und ihre ganze Familie, besonders ihre Mutter, die mir einen längeren Aufenthalt in San Javierito ermöglicht hat. Ausserdem danke ich Don Nataniel Alvarez von der Fundación TIERRA, Bernd Fischermann und seiner Frau Ana Maira Quiroga für herzliche Aufnahme und gute Fachgespräche und vielen anderen hier nicht namentlich genannten bolivianischen
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Experten. Desweiteren danke ich meinen kenntnisreichen und engagierten Kollegen und Kolleginnen im DED, Manfred Bienert, Elisabeth Giesel und Claudia Hernandez für intensive Gespräche, bei denen ich von ihren Erlebnissen und Einsichten aus der EZ profitieren konnte. Dr. Juliane Ströbele-Gregor danke ich für Kritik und Literaturhinweise und Dr. Bettina Schorr für unsere Boliviengespräche und ihre fundierten Hinweise. Meinen Freunden danke ich dafür, dass sie nicht aufgehört haben zu fragen: „Wie steht es mit deiner Doktorarbeit?“ Stefan Rother war mit seinen Formatierungskünsten und seiner ruhigen, kooperativen (!) und systematischen Arbeitsweise DIE RETTUNG bei der Publikation des Buches. Frau Poppen vom transcript Verlag danke ich für ihre Unterstützung und Geduld. Meinem Mann Michael danke ich für alles.
Abkürzungsverzeichnis
ACISARV
Asociación de Cabildos Indígenas de San Rafael de Velasco
ACISIV
Asociación de Cabildos Indígenas de San Ignacio de Velasco
ACOVIMACh
Asociación de Comités de Vigilancia de la Mancomunidad Chiquitania
ACIVICRUZ
Asociación de Comités de Vigilancia del Departamento Santa Cruz
AOPEB
Asociación de Organizaciones de Productores Ecológicos de Bolivia
APCOB
Apoyo para el Campesino-Indígena del Oriente Boliviano
CBO
Community Based Organization
CCISM
Central de Comunidades Indígenas de San Miguel de Velasco
CEPAD
Centro Para La Participación Y El Desarrollo Sostenible (bolivianische NRO in Santa Cruz)
CEJIS
Centro de Estudios Jurídicos e Investigación Social (Bolivianische NRO in Santa Cruz)
CIBAPA
Central Indígena del Bajo Paraguá
CIDOB
Confederación de Pueblos Indígenas de Bolivia
CIPCA
Centro de Investigación e Promoción del Campesinado
CPESC
Coordinadora de los Pueblos Étnicos de Santa Cruz
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COICA
Coordinadoras de las Organizaciones Indígenas de la Cuenca Amazónica
DED
Deutscher Entwicklungsdienst (heute Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ GmbH)
GTZ
Geselltschaft für Technische Zusammenarbeit (heute GIZ)
InWEnt
Internationale Weiterbildung und Entwicklung (gemeinnützige GmbH (heute GIZ)
KfW
Kreditanstalt für Wiederaufbau
MINGA
Asociación de Grupos Mancomunados (Vereinigung von Produzentengruppen San Ignacio de Velasco)
OICH
Organización Indígena Chiquitana
Red PCCS
Red de Participación Ciudadana y Control Social (Netzwerk für Bürgerpartizipation und soziale Kontrolle)
PLADERVE
Plan de Desarrollo de Velasco (regionales Entwicklungsprogramm von Velasco)
DDPC II
Desarollo Democrático y Participación (Demokratieförderprogramm von USAID)
APOCOM
Apoyo Comunitario (Noel Kempff Mercado Climate Change Action Project)
FAN
Fundación Amigos de la Naturaleza
FCBC
Funcación Para La Conservación Del Bosque Chiquitano
TCO
Tierras Comunales de Origen (Spezielle Form eines kollektiven Landbesitztitels für indigene Völker Boliviens)
Ciudadana
1 Einleitung
„Die Praxis würde die Theorie überschätzen und die Theorie die Praxis unterschätzen, wollten sie sich auf die Scharlatanerie des guten Rates in konkreten (organisatorischen) Fragen einigen.“ (LUHMANN 1970: 616)
Die Praxis von Organisationen lässt sich theoretisch nicht leicht fassen. Das Zitat von NIKLAS LUHMANN ist überraschend, da er sich in seinem professionellen Leben – auch im Zusammenhang mit Organisationen – viel mehr mit der Theorie als mit der Praxis beschäftigt hat (vgl. LUHMANN 2000). LUHMANN warnt hier davor, aus der (jeglicher) Theorie allgemeine Beratungsansätze für die Praxis von Organisationen abzuleiten. Diese Warnung soll hier als ein Plädoyer interpretiert werden, sich mit der Praxis von Organisationen genauer auseinander zu setzen, wenn konkrete Fragen zur Organisation soziologisch beantwortet werden sollen. In der vorliegenden Arbeit wird es um die Praxis konkreter lokaler Organisationen gehen. LUHMANNs Hinweis aus dem Jahr 1970 scheint aus heutiger Sicht fast prophetisch: Deutlich vor dem Boom der Managementmoden und der Professionalisierung von Organisationsberatung spricht er von der „Scharlatanerie des guten Rates“ (vgl. KÜHL & MOLDASCHL 2010). Organisationen, auch sehr kleine, lokale Organisationen spielen in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) eine wichtige Rolle. Das oberste Ziel der deutschen EZ ist die Bekämpfung der Armut und ihrer strukturellen Ursachen (vgl. BMZ 2010a; RAUCH 2012: 23-24). Diese Zielsetzung bringt starke Veränderungen der Welt, wie wir sie kennen, mit sich. Dabei spielen lokale Organisationen eine strategische Rolle. „Die Welt und die Gesellschaft lassen sich nicht unmittelbar ändern, aber Organisationen können verändert werden. Wir ändern also die Welt nur in Form ihrer Organisationen.“ (NASSEHI 2010: 144, kursiv vom Autor)
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Der Soziologe NASSEHI beschäftigt sich normalerweise wenig mit der Entwicklungszusammenarbeit, doch seine Feststellung findet sich als Grundanahme in vielen entwicklungspolitschen Strategien wieder. Organisationen in Entwicklungsländern1 sind Zielgruppe und gleichzeitig Empfänger von Förderleistungen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Die Leistungsfähigkeit von Organisationen, zumal der kleinen, lokalen Non-Profit-Organisationen, ist aus der Sicht der Entwicklungszusammenarbeit oft unzureichend. Immer wieder wird beklagt, die lokalen Organisationen seien zu schwach, ineffizient, irgendwie schlecht organisiert und sie seien auch zu sehr von Personen abhängig. Oft wird Organisationen auch vorgeworfen, sie hätten zu wenig Legitmation bei der Bevölkerung für die sie eigentlich da sein sollten. Um diesen Mängeln abzuhelfen sind viele Förderangebote der EZ an Organisationen, z.B. Unternehmen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und auch an sogenannte Selbsthilfe- oder Basisorganisationen gerichtet. Das folgende Zitat beschreibt die Zielsetzung, lokale Organisationen durch die EZ zu stärken, am Beispiel der Indígena-Organisationen in Lateinamerika etwas näher: „Trotz steigender Artikulationsfähigkeit bestätigen Erfahrungen aus Projekten der Entwicklungszusammenarbeit, vor welchen Herausforderungen indigene Organisationen weiterhin stehen, um zu relevanten Themen konzeptionell fundierte und von ihrer Basis legitimierte Beiträge zu leisten (…). Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit baut daher ihre langjährige Zusammenarbeit mit indigenen Völkern weiter aus und verstärkt vor allem auch die direkte Zusammenarbeit mit indigenen Organisationen“ (Programmkurzbeschreibung des GIZProjektes „Stärkung indigener Organisationen in Lateinamerika“)2.
Die strategische Bedeutung der Organisationsfähigkeit der Armen für die Entwicklungspolitik vor dem Hintergrund der fortschreitenden Globalisierung hebt THEO RAUCH hervor: „Bauen doch nahezu alle bisherigen Strategiebausteine auf der Voraussetzung auf, dass die Masse der Armen, die Benachteiligten, die tendenziellen und tatsächlichen Globalisierungsverliererinnen und -verlierer in der Lage sind, sich zu organisieren. (…) Die Organisationsfähigkeit der Armen wird demnach zu dem kritischen Faktor einer armuts- und nachhaltigkeitsorientierten Entwicklungspolitik: sehr wichtig und gleichzeitig sehr schwierig.“ (RAUCH 2012: 342).
Wenn RAUCH hier betont, dass die Organisationsfähigkeit ein kritischer Faktor für Entwicklungsprozesse ist, durch die sich auch die Lage der Armen verbessern kann, 1
Mit Entwicklungsländern sind hier die Partnerländer der Entwicklungszusammenarbeit,
2
URL: http://www.giz.de/de/weltweit/12304.html (letzter Zugriff 20.08.2014)
bzw. die Gruppe der Least und Less Developed Countries gemeint.
E INLEITUNG
| 13
so hat er dabei nicht zuletzt lokale Mitgliederorganisationen im Blick, die häufig als Basisorganisationen oder Comunity Based Organisations (CBO)3 bezeichnet werden. Ihre entwicklungspolitische Bedeutung wird sowohl in ihrer zivilgesellschaftlichen Funktion, wie auch in ihrer Rolle als Leistungserbringer in Dienstleistungssystemen gesehen (RAUCH 2012: 303). Es ist verständlich, dass CBOs in der Entwicklungszusammenarbeit unter funktionalen Aspekten und als rationale Instrumente zur Erreichung von Zielen gesehen werden, die sich vor allem aus Plänen und Konzepten von Entwicklungsexperten ableiten. Auch die Fallbeispiele der vorliegenden Forschungsarbeit zeigen, dass in der entwicklungspolitischen Förderung von Organisationen oft von frei wähl- und gestaltbaren Zielen und Funktionen von Organisationen ausgegangen wird. Sie zeigen aber auch, dass Ziele und Technologien von Organisationen in ihrer Bedeutung überschätzt werden, während die Ressourcen der Mitglieder, ihre Motivation und die Handlungslogiken des lokalen Kontextes oft unterschätzt werden. Diese Fehleinschätzungen führen in der Entwicklungszusammenarbeit häufig zu einer Förderpraxis, die der eigenständigen Kooperation in Organisationen eher schadet als nützt.
1.1 G EGENSTAND
DER
A RBEIT
Gegenstand dieser Untersuchung sind Organisationen. Doch was verstehen wir unter Organisationen, die die Gesellschaft und die Welt verändern sollen? Umgangssprachlich wird unter Organisation sowohl ein formaler Zusammenschluss von Personen verstanden – z.B. ein Verein – als auch eine Art und Weise der Ordnung und Koordinierung von Handlungen und Dingen – z.B. wenn von der Organisation einer Protestaktion, einer Familienfeier, eines Textes oder einer Datensammlung die Rede ist. In einer ersten einfachen Definition kann Organisation in Bezug auf Handlungen verstanden werden als: „ (…) das planmäßig koordinierte und zielorientierte Zusammenwirken von Menschen zur Erstellung eines gemeinsamen materiellen oder immateriellen Produkts“ (MÜLLER-JENTSCH 2003:12).
Diese noch sehr allgemeine Definition bezeichnet somit eine soziale Erscheinung, die es auch schon in früheren Epochen gegeben hat, und die in mehr oder weniger differenzierter und verstetigter Form in allen Kulturen zu finden ist, sobald mehrere Personen oder Gruppen in gemeinsamer Absicht aufeinander bezogen handeln und dabei dauerhaft gegenseitige Erwartungen an das Handeln des anderen entwickeln.
3
Der Begriff der Community Based Organisation wird weiter unten noch ausführlicher erörtert.
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Beispiele sind die Jagd, die Ausrichtung und Durchführung von zeremoniellen Akten oder die Errichtung eines großen Bauwerks in einer auf Dauer kooperierenden Gruppe. Drei Aspekte sind bereits in dieser allgemeinen Bestimmung der Organisation enthalten, die für die Untersuchung der Handlungspraxis in lokalen Organisationen von Bedeutung sind: (i) der Aspekt der Zweckverfolgung, (ii) der Aspekt der Dauerhaftigkeit und (iii) der Aspekt der Ordnung bzw. Koordination von Handlungen. In einem Schweizer Lehrbuch der Organisationssoziologie wird Organisation umschrieben als das „Gestalten und Ordnen zu einer wohlgeordneten Ganzheit“ (WALTER BUSCH 1996: 5). Diesem Verständnis zufolge ist Organisation eine allgemeine Form des zielgerichteten Interagierens. In der vorliegenden Untersuchung geht es um die Kooperationspraxis von lokalen Organisationen, d.h. solchen, die in der ländlichen Provinz Velasco im ostbolivianischen Tiefland anzutreffen sind und nicht etwa im gesamten Land agieren. Da alle diese Organisationen von außen unterstützt werden, ist auch der Einfluss der Fördermaßnahmen ein Untersuchungsthema. Die untersuchten Organisationen werden entwicklungspolitisch als Basis- oder grassroots organisations, peoples- oder popular organisations oder Selbsthilfe-Organisation bezeichnet. Der Begriff der Basisorganisation oder Selbsthilfe-Organisation ist wie der englische Begriff der Comunity Based Organisation (CBO) unscharf und lässt sich von ähnlichen Begriffen nicht eindeutig abgrenzen. Die Deutsche Welthungerhilfe, eine große deutschen NRO der Entwicklungszusammenarbeit, definiert Selbsthilfegruppen in der folgenden Weise. „Selbsthilfe-Organisationensind Zusammenschlüsse von Menschen, die das gleiche Problem haben und gemeinsam etwas dagegen tun. Dies kann in Entwicklungsländern zum Beispiel ein Verband von Aids-Kranken oder Opfern von Diskriminierung, ein Dorfkomitee zur Verbesserung der Trinkwasserversorgung oder ein Kreditverein sein. In Selbsthilfe-Organisationen finden sich direkt Betroffene – im Unterschied zu nichtstaatlichen Organisationen in Entwicklungsländern, die in der Regel als gesellschaftspolitisch engagierte Gruppen eine Mittlerstellung zwischen der Basis sowie Behörden oder Gebern einnehmen oder soziale Dienstleistungen für Dritte bzw. Nichtmitglieder erbringen.“ [Quelle: URL: http://www.welthungerhilfe.de/selbsthilfe-organisationen.html (erster Zugriff 22.08.2011. im August 2014 war die URL nicht mehr aufrufbar)]
Das entscheidende Attribut der Selbsthilfeorganisationen ist in dieser Definition, dass ihre Mitglieder direkt über die Zwecksetzung mitentscheiden und von dieser betroffen sind; sie sind in der Regel an der Zielerreichung interessiert, d.h. sie sind unmittelbare Nutznießer der Leistungen dieser Organisation. Die in dieser Forschungsarbeit untersuchten Organisationen sind sowohl lokale Selbsthilfe-, als auch lokale Interessenorganisationen der indigenen Bevölkerung. Solche Organisationen werden
E INLEITUNG
| 15
entwicklungspolitisch nicht als Dienstleistungserbringer, sondern als Teil der Zivilgesellschaft4 gesehen, die in dieser Sichtweise nicht wirtschaftliche, sondern soziale oder politische Ziele verfolgt. Einige der Fallbeispiele sind typischerweise Hybride zwischen wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Organisation. Basis- und Selbsthilfeorganisationen sind Mitgliederorganisationen. Sie unterscheiden sich von privatwirtschaftlichen Arbeitsorganisationen darin, dass die Mitglieder nicht einfach als beliebig einsetzbarer und veränderbarer Input für die Erbringung von Leistungen fungieren (MÜLLER-JENTSCH 2003: 27). Mitglieder leisten in der Regel freiwillige Beiträge für die Kooperation. Die Leistungen von Mitgliederorganisationen hängen von der Bereitschaft und den Möglichkeiten zur Kooperation zwischen den Mitgliedern ab.
1.2 R ELEVANZ
DES
T HEMAS
UND
Z IEL
DER
A RBEIT
Die Autorin arbeitete zwei Jahre als Fachkraft der Entwicklungszusammenarbeit in der Provinz Velasco mit verschiedenen lokalen Non-Profit-Organisationen. In ihrer Rolle als Organisationsberaterin erlebte sie, dass auch Organisationen, die jahrelang umfangreiche Förderung und Beratung erhalten hatten, keine regelmäßige eigenständige Praxis entwickelten, bzw. in vielen Bereichen dauerhaft auf Förderung angewiesen blieben. Überraschenderweise waren gerade die Organisationen, die nur sporadisch Beratung erhalten hatten und die geringfügige Fördermittel erhielten, in der Lage, diese Mittel so zu verwenden, dass sie den Organisationszielen und ihren Mitgliedern dienlich waren. Diese Organisationen konnten im Verlauf ihrer Aktivitäten ihre Mitgliederbindung und die Unterstützung durch die Mitglieder stabilisieren. Wie ist diese den allgemeinen Erwartungen eher widersprechende Beobachtung zu erklären? Sind externe Förderung und Beratung also irrelevant oder sogar kontraproduktiv für die Kooperation in lokalen Non-Profit Organisationen? Wie und warum war es in einigen Organisationen möglich, eine regelmäßige Kooperationspraxis zu etablieren? Bei näherer Betrachtung taten sich für die externe Beobachterin immer neue Fragen auf: Wie ist zu erklären, dass z. B. die Mitglieder einer Vereinigung von Kaffeeproduzenten trotz umfangreicher finanzieller Unterstützung und Beratung von Fachleuten kaum Kaffee produzieren und verkaufen, obwohl die Familien der Mitglieder an zusätzlichen Einkommen durchaus interessiert sind? Wie kommt es, dass eine Gruppe von Töpferinnen kaum gemeinsam Töpferwaren herstellt, obwohl die Mitglieder wiederholt großen Einsatz bei der Errichtung einer gemeinsamen Werkstatt und anderer Einrichtungen zeigen und mit neuen Werkzeugen und Fortbildungsmöglichkeiten versorgt wurden? Wie schafft es eine Frauengruppe, die mehrheitlich aus
4
Vgl. BMZ (Strategiepapier 01) 2010: 7 und DED Handbuch Nr. 1.1.5 von 2006: 4 sowie DED Handbuch Nr. 2.1.14 von 2007
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funktionalen Analphabetinnen besteht, ohne Sparkonto eine Summe von mehreren tausend Dollar über einen mehrjährigen Zeitraum sachgerecht zu verwalten, obwohl im lokalen Umfeld der Organisation Missbrauch öffentlicher Mittel, Hinterziehungen und Korruption zur alltäglichen Praxis gehören und in der Regel straflos bleiben? Warum richten die Vertreter der einen Indígena-Organisation ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Aktivitäten ihres Dachverbandes und kümmern sich kaum um die Belange ihrer eigenen Mitgliedsgemeinden? Warum bekommt eine andere geförderte Indígena-Organisation auch nach vielen Jahren noch immer wenig Unterstützung von ihren potenziellen Mitgliedern? Warum kann eine dritte Indígena-Organisation aus dem angrenzenden Landkreis auf die Unterstützung ihrer Mitglieder-Gemeinden bauen und sich auf einen riskanten Konflikt mit den lokalen Machtträgern und der Landkreisregierung einlassen? Wie ist es möglich, dass ein kommunales Bürgeraufsichtskomitee in der Provinz eine Revolte gegen die Landkreisregierung unterstützt, während ein anderes Bürgeraufsichtskomitee im benachbarten Landkreis die Anträge der Landgemeinden mit einem vollkommen anderen Selbstverständnis ausschließlich bürokratisch verwaltet? Und wie kommt es schließlich dazu, dass noch ein anderes Bürgeraufsichtskomitee eines weiteren benachbarten Landkreises sich darauf konzentriert, seine Mitglieder zu technisch versierten Planungsfachleuten heranzubilden? Da all diese Beobachtungen nahezu zeitgleich und in der gleichen Provinz gemacht wurden, ist klar, dass einfache Erklärungen, die den lokalen Kontext oder etwaige „Mentalitäten“ der Bevölkerung anführen, zu kurz greifen. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Entstehung und Stabilisierung kooperativer Praxis anhand von Fallbeispielen lokaler Non-Profit-Organisationen im Kontext einer Region nachvollziehbar zu machen und dabei die Auswirkungen von Förderung und Organisationsberatung zu analysieren. Unter Organisationspraxis werden typische und regelmäßige Handlungsweisen von Mitgliedern und Beteiligten in der Organisation verstanden, die einen Bezug zur Organisation mit ihren Zielen und Regeln aufweisen. Die Organisationspraxis zeichnet sich z. B. dadurch aus, wie regelmäßig die Mitglieder an Versammlungen teilnehmen oder welchen Regeln der Organisation die Mitglieder in ihrem Handeln in der Organisation folgen und welchen nicht. Organisationspraxis wird dabei als eine besondere Form der freiwilligen Kooperation verstanden, welche auf selbstgesetzte Ziele und explizite Regeln Bezug nimmt. Dabei geht es nicht um die Leistungsfähigkeit bestimmter Praxismodelle oder Verfahrensweisen. Die untersuchten Organisationen sollen also keiner Evaluierung unterzogen werden, auch wenn einige der in den Organisationen beobachteten Verfahren und Strategien dem externen Betrachter wahrscheinlich mehr oder weniger effektiv erscheinen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, warum sich eine bestimmte Praxis in einer bestimmten Organisation etablieren kann, sodass die Mitglieder in ihrem Handeln davon ausgehen, dass auch die übrigen Mitglieder entsprechend handeln werden.
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Organisationen werden also in dieser Arbeit nicht als Akteure zweiter Ordnung (Meta-Akteure) untersucht, denen vor allem als Meta-Akteur eine bestimmte Handlungslogik unterstellt wird. Vielmehr geht es in der Analyse darum, Organisationen als einen gesellschaftlich bestimmten, institutionellen Handlungsrahmen zu betrachten. In diesem gewinnen die Akteure besondere Möglichkeiten für kooperatives und kollektives Handeln. Andererseits bedeutet organisiertes Handeln auch Restriktionen und Zwänge für individuelles Handeln und es können Spannungen zwischen den Handlungslogiken der Organisation und anderen Formen der Kooperation im lokalen Kontext entstehen. Forderungen an die Erweiterung des Blicks auf Organisationen Die vorliegende Arbeit akzeptiert und orientiert sich an zwei unterschiedlichen Forderungen an die Organisationsforschung, die in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen. Während die eine die gesellschaftliche Bedingtheit von Organisationen hervorhebt, plädiert die andere Forderung dafür, Organisationen vor allem als Kooperationszusammenhänge mit ihren operativen Bedingungen zu analysieren. In der vorliegenden Arbeit sollen die untersuchten Organisationen also weder unter- noch übersozialisiert betrachtet werden. Die Forderung des „Bringing society back in“ (ORTMANN, SYDOW & TÜRK 1997: 15-35) kritisiert eine Organisationsforschung, die sich ausschließlich auf die soziotechnisch definierte Leistungsfähigkeit von Organisaitonen beschränkt und somit ein untersozialisiertes Konzept von Organisation verfolgt. Gesellschaftliche Bedingungen oder Normvorstellungen, und Wechselwirkungen zwischen Organisation und Gesellschaft, werden von diesen Studien übersehen oder unterschätzt (vgl. FRIEDLAND & ALFORD 1991). Die Forderung auch gesellschaftliche Einflüsse auf Organisationen bei der Analyse zu berücksichtigen wird von vielen Beispielen der Organisationsforschung in Entwicklungsländern bereits erfüllt. Die dort häufig eingenommene sozialanthropologische Perspektive richtet den Blick auf den relevanten gesellschaftlichen Kontext in dem Organisationen sich entwickeln. Darüberhinaus stellt sie Fragen nach der Funktion, die Organisationen für Staat und Gesellschaft haben (vgl. Kapitel 2.5). Für die vorliegende Arbeit haben sozialanthropologische Organisationsstudien wegen ihres Interesses für den sozialen Kontext Modellcharakter. Die zweite Forderung an die Organisationsforschung bezieht sich scheinbar auf etwas Gegenteiliges, nämlich auf die Berücksichtigung der operativen Ebene bei soziologischen Untersuchungen von Organisationen. STEVEN BARLEY wendet sich unter dem Titel „Bringing work back in“ (vgl. BARLEY 2011) gegen ein übersozialisiertes Konzept der Organisation, das die formale Gestalt von Organisationen allein mit Diskursen bzw. den geltenden sozialen Konstruktionen der gesellschaftlichen Um-
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welt erklärt, und die interne Wirklichkeit der Organisation und ihre Kommunikations- und Arbeitsprozesse ignoriert. Hinter der Forderung von STEVEN BARLEY steht die Kritik am aktuellen Mainstream der Organisationsforschung, der sich seiner Meinung nach zu sehr auf Diskurse und Metaphern der Organisation (vgl. MORGAN 1986) beschränkt. Er betont die Notwendigkeit der Analyse empirischer Daten über konkrete Arbeitsprozesse in Organisationen. Ohne diese kann die Organisation und ihrer sozialen Ordnung kaum erfasst werden. Autoren wie BARLEY & TOLBERT (1997) und FRIEDLAND & ALFORD (1991) haben darauf hingewiesen, dass in Arbeitsprozessen nicht nur eine Transformation von Ressourcen stattfindet, sondern dass über die Art und Weise wie die Arbeit ausgeführt wird, auch die geltende symbolische und soziale Ordnung reproduziert bzw. modifiziert wird. Auch dieser Forderung soll in der vorliegenden Arbeit Genüge getan werden. Für die hier untersuchten Organisationen, die sich mit großen Erwartungen der Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit und anderen externen Einflüssen konfrontiert sehen, sollen also sowohl die symbolischen, wie auch die operativen Zusammenhänge und Zwänge berücksichtigt werden, die für die Entstehung und den Fortbestand einer auf Regeln gestützten Kooperationspraxis in Organisaitonen von Bedeutung sind. Feministische und Genderforschung Innerhalb der feministischen Organisationsforschung widmen sich viele Forschungsarbeiten der systematischen Benachteiligung, Diskriminierung oder Ausschließungsmechanismen von Frauen in Organisationen5. Kein Konsens besteht in der feministischen Forschung darüber, ob Geschlechterdiskriminierung ein konstitutives Merkmal von Organisationen ist, oder ob die gesellschaftliche Geschlechterordnung sich in Organisationen nur fortsetzt bzw. widerspiegelt (vgl. RIEGRAF 2013). Die Forschungen unterscheiden sich in ihrem grundlegenden Verständnis von Organisation und Geschlecht. ROSABETH M. KANTER, die sich an das Konzept der bürokratischen Organisation von MAX Weber anlehnt, sieht formale Organisation als eine an sich geschlechtsneutrale Formation und untersucht dann die Wirklichkeit der Organisationen (ihre Praxis) aus dem Blickwinkel der Geschlechterforschung. JOAN ACKER betrachtet dagegen Organisation als solche als eine „gendered substructure“ (vgl. ACKER 1991; RIECKGRAF 2013: 21). Mit Organisationen in Entwicklungsländern hat sich die feministische Organisationsforschung bisher insgesamt wenig befasst. Sie konzentriert sich im Wesentlichen auf Arbeitsorganisationen und bürokratische Organisationen in Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften. Zur Klärung der Kontroverse der feministischen Grundpositionen zur Organisation kann die vorliegende
5
Einen deutschsprachigen Überblick über die feministische Organisationsforschung gibt der Sammelband von MÜLLER, RIEGRAF & WILZ 2013.
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Untersuchung keinen Beitrag leisten, da dies eine gesonderte Untersuchung erforderlich machen würde. Einige der Fallbeispiele in dieser Arbeit zeigen aber, dass die Geschlechternormen und -rollen des lokalen Kontextes für die Organisationen und ihre Handlungspraxis von Bedeutung sind. Andererseits sehen sich die Organisationen mit normativen Vorgaben, wie z. B. der Idee der Geschlechtergerechtigkeit, die durch EZ-Organisationen gefördert wird, konfrontiert. Viele Förderorganisationen versuchen die Idee der Gendergerechtigkeit oft durch gezielte Interventionen zu verbreiten und in die Organisationen hineinzutragen. Gerade in den untersuchten kleinen lokalen Frauenorganisationen wird deutlich, dass die lokal tradierten Rollen für weibliche Autoritäten der Gemeinde und ihre Habitusmerkmale kaum mit den Anforderungen vereinbar sind, die an die Führungsrolle in formalen Organisationen gestellt werden, insbesondere wenn sie häufigen Kontakt mit der Entwicklungszusammenarbeit haben (vgl. Kapitel 4.3.).
1.3 O RGANISATION IN E NTWICKLUNGSLÄNDERN Entwicklungsländerforschung und Organisationsforschung treten relativ selten miteinander verbunden auf, d.h. Organisationen in Entwicklungsländern sind nur selten Gegenstand klassischer Organisationsforschung. Untersuchungen, die sich mit Organisationen in Entwicklungsländern beschäftigen, knüpfen nur in Ausnahmefällen an die Erkenntnisse und Theorien der Organisationsforschung an6. Solche Ausnahmen bilden einige Arbeiten von RICHARD ROTTENBURG (ROTTENBURG 1995, 1996 und 2002) und der Sammelband Translating Organisational Change von BARBARA CZARNIAWSKA und GUJE SEVÓN aus dem Jahr 1996. Der im Folgenden präsentierte Überblick zu verschiedenen Perspektiven auf das Thema Organisationen in Entwicklungsländern ist bewusst breit angelegt. Er kann weder Vollständigkeit noch eine vertiefte Analyse einzelner Forschungsarbeiten bieten. Vielmehr sollen hier wichtige Arbeiten exemplarisch für ein Thema oder eine Herangehensweise vorgestellt werden. Organisationen als Instrumente staatlicher Kontrolle In der Entwicklungsländerforschung geht es häufig um Fragen der Funktion von Organisationen. JAMES SCOTT untersucht die bürokratische Logik formaler Organisa-
6
So greift z. B. der als Lehrbuch angelegte Band „Organisationen“ über Organisationsfragen in der internationalen Zusammenarbeit vorwiegend auf allgemeine Grundpositionen der soziologischen Theorie und auf Ansätze der betriebswirtschaftlichen Managementlehre zurück. Er übergeht aber die wesentlichen Strömungen und Erkenntnisse der Organisationswissenschaften (vgl. SÜLZER & ZIMMERMANN 1996).
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tion und betont, wie sich über formale Organisation vor allem das Interesse des Staates daran durchsetzt, seine Bürger zu kontrollieren. Er beleuchtet den Aspekt staatlicher Kontrollansprüche, die zum Beispiel durch staatlich gelenkte Dorfentwicklung in Tanzania und Äthiopien verwirklicht werden sollten (SCOTT, J. 1998: 223-261). FERGUSON formuliert eine ähnliche Kritik in Bezug auf die Bildung von Organisationen im Rahmen von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit. Er sieht in der Bildung solcher Organisationen eine mehr oder weniger intendierte Verhinderung von politischer Auseinandersetzung auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene (vgl. FERGUSON 1990). Beide Arbeiten berühren jedoch kaum die konkrete Kooperationsoder Handlungspraxis in Organisationen. Die Fallbeispiele der vorliegenden Arbeit zeigen, dass die von FERGUSON als Mechanismus betrachtete Depolitisierung durch Entwicklungsprojekte nicht zwangsläufig ist. Unter den von der EZ geförderten Organisationen und speziellen „Projektorganisationen“ waren solche, wie z. B. die einer Genossenschaft ähnliche Organisation MINGA Acociación de Grupos Mancomunados de Trabajo (MINGA ist keine Abkürzung, auf deutsch bedeutet der Name „Gegenseitige Hilfe“) und die Central de Comunidades Indígenas de San Miguel CCISM, die direkt oder indirekt zur Politisierung einzelner oder aller ihrer Mitglieder beitrugen (vgl. Kapitel 6 und 7.1). Organisationen als soziale Unternehmen In der Lateinamerikaforschung überwiegen – insbesondere in den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts – Untersuchungen, die mit der Idee der formalen Organisation weniger kritisch als vielmehr sympathisierend umgehen. So widmen sich zahlreiche Arbeiten sozialen Unternehmen, zum Beispiel den Genossenschaften (vgl. TENDLER 1986, SEIBEL 1992) oder den grassroots organizations (vgl. HIRSCHMAN 1984). TENDLER geht es aus einer institutionenökonomischen Perspektive darum, wie Anreize, Motivationen und Ressourcen in der Gestaltung von Organisationsstrukturen und Regeln auf intelligente Weise und an den Kontext angepasst, eingesetzt werden. Diese Arbeiten bieten interessante Einsichten und bereichern die Theorie der sozialen Unternehmung. Sie widmen sich jedoch weniger der hier aufgeworfenen Problematik, ob oder wie das richtige Organisationsmodell vor Ort sinnvoll in die Praxis umgesetzt werden kann. Organisationen als politische Akteure und Teil sozialer Bewegungen Eine weitere Gruppe von Untersuchungen beschäftigt sich mit gesellschaftspolitischen Prozessen, die eng mit lokalen formalen Organisationen verknüpft sind, wie zum Beispiel der Entwicklung sozialer Bewegungen in Lateinamerika. Viele dieser Arbeiten fassen Organisationen als kollektive Akteure in einer politischen Arena auf.
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Für Bolivien wurden hier vor allem Organisationen der politischen Interessenvertretung und der Selbstorganisation untersucht. Für den Bereich der Indígena-Organisationen in Bolivien sind die Arbeiten von JAVIER ALBÓ (z. B. ALBÓ 2002) und JULIANA STRÖBELE-GREGOR (1992, 1994, 2006, 2007) zu nennen. ANTHONY BEBBINGTON hat den Sektor der NRO im bolivianischen Hochland untersucht (vgl. BEBBINGTON 1993). Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Bauernorganisationen bis in die 1970er Jahre wurde von MICHAEL KREMPIN untersucht (vgl KREMPIN 1986). BETTINA SCHORR (2012) hat die Rolle von politischen Organisationen in den sozialen Bewegungen Boliviens der Jahre nach der Jahrtausendwende analysiert. ANTJE DANIEL hat in einer vergleichenden Untersuchung den Zusammenhang zwischen Organisation, Vernetzung und Frauenbewegung in Brasilien und Kenia untersucht (vgl. DANIEL 2015). In den genannten Arbeiten werden spezifische Organisationsaspekte, wie z.B. Führungsstrukturen, Mitgliederbasis, Legitimationsgrundlagen, Unterstützung und Ressourcen, teilweise auch institutionelle Aspekte im Hinblick auf ihre Bedeutung für sozio-politische Prozesse thematisiert. Die interne Handlungspraxis der Organisationen bleibt in diesen Untersuchungen größtenteils eine Blackbox. Organisationen als Meta-Akteure oder kollektive Akteure zu sehen, wäre für die hier verfolgte Fragestellung nach der Handlungspraxis in Organisationen jedoch nicht hilfreich. Vielmehr werden Organisationen in dieser Arbeit als ein besonderes soziales Gefüge freiwilliger Mitglieder verstanden, das besondere Formen der Kooperation ermöglichen kann. Nur so können auch interne Faktoren wie z.B. Motivationen der Mitglieder, widersprüchliche Interessenlagen und Erwartungen, Handlungslogiken und Aushandlungsprozesse verstanden werden, die dem äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungsbild der Organisation immer schon vorausgehen. Sozialanthropologische Organisationsforschung in Entwicklungsländern Die sozialanthropologische Afrikaforschung hat darauf hingewiesen, dass es nicht bedeutungslos ist, in welchem sozio-kulturellen Kontext Organisationen stehen oder entstehen. Diese Untersuchungen stützen sich zumeist auf detaillierte qualitative Beschreibungen konkreter Organisationen, ihrer Protagonisten und ihrer Handlungsweisen. In den Analysen werden die hinter den Handlungen stehenden sozio-kulturellen Deutungsmuster, Handlungslogiken und Machtverhältnisse herausgearbeitet. Die formale Organisation als ein besonderer institutioneller Handlungsrahmen bleibt hier jedoch analytisch unscharf. Zwei deutschsprachige Sammelbände können als Referenz für diese Forschungsrichtung genannt werden: Zunächst ist hier der Sammelband „Organisationswandel in Afrika: Kollektive Praxis und kulturelle Aneignung“ (OPPEN & ROTTENBURG 1995) zu nennen. Die Autoren beschäftigen sich beispiels-
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weise mit Fragestellungen wie der Existenz und der Bedeutung von informellen Beziehungen in formalen Organisationen (ROTTENBURG 1995), der Bedeutung von Zweckrationalität von Organisationen in Afrika (WILD 1995) und der Erfindung bzw. der gesellschaftlichen Konstruktion von Dorfgemeinden in Tansania als harmonische und ursprüngliche Gemeinschaften (OPPEN 1995). Weitere Arbeiten widmen sich der Frage nach dem spezifischen Charakter des Organisationstyps der NRO (NEUBERT 1995 und GROFFEBERT 1995; vgl. auch NEUBERT 1997). Gemeinsam ist den Autoren ein skeptisch-kritisches und differenziertes Organisationsverständnis. Sie analysieren die normativen bzw. ideologischen Annahmen, die mit formaler Organisation verbunden sind. Die Kritik bezieht sich häufig auf die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Organisationen. In der Betrachtung der Organisationspraxis wird dabei zwischen „Fassade“ und interner Praxis unterschieden. Die Bedeutung von Legitimitätsdiskursen in Organisationen wird analysiert und verschiedene Bedeutungsebenen herausarbeitet, die für Handlungs- und Interpretationsweisen in Organisationen relevant sind. Die Arbeiten unterscheiden zwischen formalem und informellem Handeln als unterschiedlichen Kategorien des Handelns, die wenig miteinander zu tun haben oder haben müssen. Ähnlich sind viele Arbeiten der Lateinamerikaforschung angelegt. MONIQUE NUIJTEN kritisiert in ihrer Untersuchung eines Ejido (Bauerorganisation, Organisationstyp der mexikanischen Revolution, ähnlich einer Genossenschaft) das Auseinanderfallen von Organisationsfassade und Organisationspraxis (NUIJTEN 2003). NUIJTEN analysiert die vorherrschenden Handlungslogiken in einer dieser großen mexikanischen Bauernorganisationen in ähnlicher Perspektive wie RICHARD ROTTENBURG dies für die Organisation großer Entwicklungsprojekte im subsaharischen Afrika unternimmt (ROTTENBURG 1997 und 2002). Im Rückgriff auf die Arbeiten von JAMES SCOTT und NORMANN LONG kritisiert NUIJTEN die unrealistischen Ansprüche an Transparenz und Kontrolle, Rationalität, Effizienz und Formalität in der formalen Organisation des Ejido, die vom Staat an die Organisationen und ihre Mitglieder gestellt würden. Ihr zentraler Befund ist, dass die formalen Regeln und Strukturen des Ejido in der Praxis kaum Relevanz für das Handeln der Mitglieder haben. Studien dieser Art betonen, dass die reale Praxis der untersuchten Organisationen nicht den WEBERschen Idealtypen der bürokratischen Herrschaft und der Zweckrationalität entspricht. Diese Beobachtung bestätigen die viel diskutierten Ergebnisse der Organisationsforschung von COHEN, MARCH und OLSEN (1990) oder WEICK (1995). Diese Arbeiten zeigten bereits in den Sechziger und Siebziger Jahren des 20 Jahrhunderts, dass auch in den klassischen westlichen Industriegesellschaften in der Organisationenpraxis nur wenig so läuft, wie es ihre formalen Strukturen und ihr offizielles Erscheinungsbild nahe legen. In allen Organisationen gibt es also neben der offiziellen auch eine inoffizielle, informelle Handlungsebene. Beide Ebenen sind nur lose
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gekoppelt. Diese lose Kopplung wird nicht als Missstand, sondern eher als eine Fähigkeit von Organisationen verstanden, mit den Tücken der Praxis umzugehen. ROTTENBURG zeigt auf, wie sich die Akteure von Organisationen mit den vor Ort herrschenden Handlungslogiken und Machtstrukturen wie z. B. bei Patronage und Klientelismus arrangieren ohne dabei ihren eigenen Interessen aus dem Blick zu verlieren. Lokale Handlungslogiken werden dem Ideal der rationalen formalen Organisation gegenübergestellt und als grundsätzlicher Widerspruch aufgefasst. Sowohl ROTTENBURG als auch NUIJTEN erklären die Praxis der von ihnen untersuchten Organisationen hauptsächlich mit strategischen und taktischen Kalkülen bzw. mikropolitischen Strategien der Beteiligten. Darüber hinaus betrachten ROTTENBURG und NUIJTEN formale Organisation als prinzipiell aufgezwungene und mit dem jeweils untersuchten sozio-kulturellen Kontext grundsätzlich nicht kompatible Form des sozialen Handelns. Die vorliegende Forschungsarbeit wird zeigen, dass die Akteure in den untersuchten Organisationen tatsächlich häufig vor dem Problem widersprüchlicher normativer Vorstellungen und Regeln und unterschiedlicher Handlungslogiken stehen, wenn sie sich auf die Kooperation in Organisationen ernsthaft einlassen. Doch anders als bei ROTTENBURG werden Organisationen hier nicht mit der normativen Idee vollkommener Zweckrationalität gleichgesetzt, sondern als ein flexibler, anpassungsfähiger und interpretierbarer Rahmen für Handlungspraxis verstanden. Es wird sich auch zeigen, dass diese Flexibilität nicht unbegrenzt ist, d.h. dass bestimmte Formen der Kooperation in Organisationen andere Logiken der Kooperation ausschließen. Die Suche nach lokal passenden Interpretationen für Organisationen kann als Prozess der Aneignung gesehen werden. Das Konzept der Aneignung wird in der Globalisierungsforschung verwendet (vgl. BECK 2001; SPITTLER 2002). Die Perspektive der Aneignung wird im Zusammenhang mit dem analytischen Rahmen dieser Arbeit und der vergleichenden Auswertung der Fallbeispiele noch einmal aufgenommen (vgl. Kapitel 8.). Historische und kulturwissenschaftliche Organisationsforschung Der Historiker DIPESH CHAKRABARTY, ein Vertreter der Subaltern Studies, betont ebenfalls die Bedeutung des lokalen Kontextes für die Praxis in Organisationen. Seine Forschung zeigt die Langlebigkeit historisch gewachsener Rollenmuster und Handlungsweisen. CHAKRABARTY hat indische Gewerkschaften von Jute-Arbeitern untersucht und herausgefunden, dass die Handlungsweisen der Gewerkschaftsmitglieder sich in bestimmten Entscheidungsbereichen der Organisation weiterhin an einer historischen sozialen Ordnung und den entsprechenden sozialen Rollenmustern orientieren, die grundsätzlich dem Gewerkschaftsgedanken widersprechen (vgl. DIPESH CHAKRABARTY 1984). Die Mitglieder unterstützen einerseits die gewerkschaftliche Idee der Verteidigung der Interessen der Arbeiter und beteiligen sich an
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gewerkschaftlichen Protesten. Doch das Selbstverständnis der Arbeiter orientiert sich andererseits noch immer an einer älteren sozialen Ordnung, derzufolge die Arbeiter gegenüber den Vertretern anderer Kasten oder Bildungsschichten eine untergeordnete Rolle einnehmen. Die Arbeiter beteiligen sich immer nur dann an Protesten, wenn ein Aufruf dazu von einem gut ausgebildeten Führer aus einer höheren Kaste kommt. CHAKRABARTY gibt mit seiner Untersuchung Hinweise auf die Bedeutung historischer Identitätskonstrukte für paradox erscheinende Handlungsorientierungen der Mitglieder einer indischen Gewerkschaft. Auch in der vorliegenden Arbeit werden die historischen Wurzeln für bestimmte lokale Rollenmuster und Handlungslogiken, die für die Praxis in lokalen Organisationen relevant sind, auf der Basis historischer Daten rekonstriert (vgl. Kapitel 4.2. und 4.3.). Eine weitere kulturwissenschaftliche Perspektive auf Organisationen eröffnet der Aufsatz-Band „Translating Organizational Change“ von BARBARA CZARNIAWSKA und GUIJE SEVÓN (1996). Die Aufsätze setzen sich mit dem Wandel von Organisationen in verschiedenen sozio-kulturellen Kontexten auseinander. Die Autoren und Autorinnen betonen die Bedeutung des sozio-kulturellen Kontextes, indem konkrete Organisationen entstehen. Dabei geht um die Frage wie externe oder global verallgemeinerte Organisationsleitbilder kulturell und symbolisch von den Akteuren der Organisationen vor Ort in eine lokale Praxis übersetzt werden. Der Band vereint dabei ganz bewusst unterschiedliche theoretische Zugänge und lehnt eine „kausal-lineare“ Erzählung zum Thema Organisationswandel ab (vgl. CZARNIAWSKA & SEVÓN 1996a). Aus dieser Diskussion soll der Hinweis aufgegriffen werden, dass lokale Interpretationsweisen und Wahrnehmungsmuster sich auch auf historische Erfahrungen und Überlieferungen stützen und diese für die konkrete Organisationspraxis eine Orientierungsfunktion haben. Organisationsleitbilder werden nicht einfach kopiert, sondern durch aktive Interpretations- und Anpassungsleistungen der Mitglieder mit den Gegebenheiten des lokalen Kontextes kompatibel gemacht.
1.4 H ERANGEHENSWEISE Um den Zusammenhang zwischen der Kooperationspraxis in lokalen Organisationen und externen Organisationsvorstellungen durch die Organisationsförderung zu untersuchen, werden in dieser Arbeit die Herangehensweise und die Instrumente der qualitativen Sozialforschung angewendet. Die Mikroperspektive kann zeigen, wie sich in den typischen Handlungsweisen der Organisationsmitglieder externe Einflüsse niederschlagen, die durch die EZ und andere Fördermaßnahmen an die Organisationen herangetragen werden. Die Handlungsperspektive nimmt die Akteure und ihre Motive in den Blick.
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Für die Analyse wird ein Rahmen gewählt, in dem sowohl interne Handlungslogiken, als auch die internen und externen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse im materiellen wie kulturellen Austausch der Organisation mit ihrer Außenwelt berücksichtigt werden können. Für einen solchen multiperspektivischen Analyserahmen wurde auf das System-Umwelt-Modell der Organisation von RICHARD SCOTT (vgl. SCOTT, R. 1986 und 2008) zurückgegriffen. Das SCOTTsche Modell ist einfach und lässt sich auf jede Art formaler Organisation anwenden. Es besteht aus vier Komponenten: Mitglieder/Beteiligte, Ziele, Technologie/Strategie und soziale Ordnung. Der Systemgedanke impliziert, dass die einzelnen Systemkomponenten aufeinander einwirken und miteinander interagieren können.7 SCOTT konzipiert Organisationen als umwelt-offene Systeme. Damit bietet das Modell auch die Möglichkeit, externe Einflussbereiche wie Staat und Entwicklungszusammenarbeit und ihre Fördermaßnahmen in die Analyse einzubeziehen. Für die Auswertung wurden die Daten zu Fallbeispielen aufbereitet um eine Art Organisationsprofil und -lebenslauf für einzelne Organisationen oder eine Gruppe ähnlicher Organisationen zu erstellen. Diese Fallbeispiele wurden aus unterschiedlichen Datenquellen rekonstruiert (vgl. Kapitel 3.3). Dass der Zeitraum der eigenen empirischen Erhebungen schon einige Jahre zurückliegt, mindert nicht den Wert der Ergebnisse. Die Fallbeispiele werden als exemplarisches Material verwendet, um in einer umfassenden Analyse das systemische Zusammenspiel lokaler und externer bzw. globaler institutioneller Faktoren bei der Entstehung von Handlungspraxis in lokalen Organisationen zu untersuchen. Die aus der Untersuchung hervorgehenden Befunde und Problembeschreibungen über Organisationspraxis und die Wirkung von Organisationsförderung sind von allgemeiner Bedeutung und wurden bisher in der Organisationsforschung wenig in den Blick genommen. Die Darstellung der Fallbeispiele folgt der Logik von drei Untersuchungsperspektiven.
7
Es ist darauf hinzuweisen, dass das Modell von Scott sich hinsichtlich der Offenheit gegenüber verschiedenen Umwelten grundlegend von der Systemtheorie Niklas Luhmanns unterscheidet. Für die Luhmannsche Systemtheorie ist die Geschlossenheit des Systems auch in der Übertragung auf eine Organisationstheorie konstitutiv (vgl. LUHMANN 2000). Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Handlungslogiken der Akteure in Organisationen, die bei der Interpretation von normativen Organisationsmodellen verwendeten lokal oder global etablierten Deutungsmuster und ihr Einfluss auf die regelmäßige Handlungspraxis und Strukturbildung in lokalen Organisationen, sind aus der Luhmannschen Perspektive für das System der Organisation irrelevant (vgl. LUHMANN 2000; vgl. KÜHL 2011; POHLMANN & MARKOVA 2011: 57). Allerdings ist von Luhmann die Unterscheidung der Bedeutung von Mitgliedschaft, Zwecken und Hierarchien in Organisationen ausgearbeitet worden (vgl. Fußnote 9, KÜHL 2010).
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Die erste Perspektive ist die einer Handlungsforschung, in der die Mitglieder und weitere direkt Beteiligte der Organisation im Zentrum stehen. Diese Perspektive ähnelt derjenigen der bereits beschriebenen sozialanthropologischen Untersuchungen von Organisationen im Kontext von Entwicklungsländern. In dieser Perspektive steht die Organisationspraxis, d. h. die typischen Handlungsweisen der Mitglieder und Beteiligten im Mittelpunkt. Es geht um die Frage, warum die Mitglieder und Beteiligten im Rahmen der jeweiligen Organisation so handeln wie sie handeln. Die zweite Untersuchungsperspektive untersucht die Organisationen als systemischen Zusammenhang zwischen sozialer Ordnung, Zielen, Mitgliedern und ihre Technologie/Strategie. Da Organisationen immer auch Teil der Gesellschaft sind, werden externe Einflüsse mit untersucht.Organisationen als Kooperationssysteme sind hier als umweltoffene Systeme konzipiert. Der Blick wird also auch auf die Beziehungen zwischen Organisation und ihrer Außenwelt, wie zum Beispiel die fördernden Institutionen der EZ, oder rechtliche und politische Vorgaben des Staates, gerichtet. Es wird sich zeigen, dass die institutionellen Quellen für Legitimation und Ressourcen für die Gestaltung konkreter Organisationspraxis sehr wichtig sind. Im von der Entwicklungszusammenarbeit oft angenommenen Idealfall, dass eine Organisation sich in erster Linie vor ihren Mitgliedern legitimieren muss und sich durch deren Beiträge finanziert, muss sich die Organisation vollkommen anders ausrichten, als im Fall umfassender Förderung von außen. Die dritte Perspektive ist die Prozessperspektive, die Veränderungen in der Zeit mit berücksichtigt. Durch die Analyse von Organisationsdokumenten aus verschiedenen Zeiträumen, durch Beobachtungen im Zeitverlauf und persönliche Organisationsbesuche u. a. mit teilnehmenden Beobachtungen, die sich über einen mehrjährigen Zeitraum erstrecken, können Veränderungen unter der ersten und zweiten Perspektive als Prozess gesehen werden. Aus dieser Prozessperspektive wird deutlich, dass die Gestaltungung einer institutionalisierten Handlungspraxis zum einen von Gelegenheiten und besonderen Konstellationen abhängt, und zum anderen auch von herausragenden oder spezifischen Beiträgen einzelner Akteure in der Organisation. Dass solche Akteure diese Funktion übernehmen, hängt allerdings seinerseits auch vom Wissen und den Erwartungen der Mitglieder und den sozialen Strukturen der Organisation ab. Das einfache System-Modell von SCOTT hat sich für heuristische Zwecke als sehr geeignet erwiesen, um die Unübersichtlichkeit in einer Organisation strukturieren zu können und die Handlungs- und Strukturperspektive sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Für die Untersuchung wurden die klassischen Methoden der qualitativen Sozialforschung und der Ethnologie verwendet (vgl. Kapitel 3). Es wurden teilnehmende Beobachtungen der Organisationspraxis in Situationen wie Sitzungen und Versammlungen durchgeführt. Darüber hinaus wurden vor allem informelle Gespräche geführt sowie narrative und leitfadengestützte Interviews mit Mitgliedern, externen Beratern
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und Experten. Ausserdem wurden Organisationsdokumente und entwicklungspolitische Gutachten ausgewertet. Das Material gibt über einen Zeitraum von mehreren Jahren, in einem Fall sogar über mehrere Jahrzehnte (MINGA, vgl. Kapitel 6), Auskünfte über die jeweilige Organisation, sodass auch weiter zurückliegende Interventionen der EZ und deren Folgen für die Handlungspraxis der Organisationen rekonstruiert werden konnten.
1.5 G LIEDERUNG
DER
A RBEIT
Die Darstellung der Forschungsarbeit gliedert sich in einen theoretischen Teil mit einer ausführlichen Erläuterung der relevanten theoretischen Positionen und der verwendeten organisationswissenschaftlichen Konzepte in Kapitel 2. Dieser Teil beschreibt auch die multiperspektivische Herangehensweise der Untersuchung. Kapitel 3 gibt einen Überblick über die praktische Vorgehensweise und den Forschungsprozess. In Kapitel 4 wird die Untersuchungsregion vorgestellt und ein Exkurs in die lokale Organisationsgeschichte untergenommen, in dem die zum Teil noch heute im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung lebendigen kultur-historischen Referenzpunkte und Erfahrungen mit historischen Formen der Organisation vorgestellt werden. In diesem Teil der Arbeit werden auch lokale Formen der Kooperation ohne formale Organisation und einige wichtige Handlungsstandards vorgestellt, die in der Untersuchungsregion allgemein gebräuchlich sind und zum aktuellen Bestand des Alltagswissens der Organisationsmitglieder gehören. Im daran anschließenden Teil der Arbeit (Kapitel 5 bis 7) erfolgt die Darstellung der untersuchten Fallbeispiele. Am Beginn jedes Fallbeispiels steht ein Portrait der Organisation, dem eine systematische Darstellung der Systemkomponenten und die Darstellung der institutionellen Umwelt und des lokalen Kontextes der jeweiligen Organisation folgen. In Kapitel 8 werden die Fallbeispiele einer vergleichenden Auswertung unterzogen, die es ermöglicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Im abscließenden Kapitel 9 werden die Ergebnisse im Hinblick auf ihre entwicklungspolitischen Implikationen und auf weitere theoretische Beiträge der Entwicklungsländerforschung, wie z. B. die Aneignungstheorie und die Debatte um die Grenzen und Möglichkeiten der partizipativen Entwicklung und die grundsätzliche Form- und Planbarkeit von Organisationen diskutiert.
2 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Um die lokalen Bedingungen und die Konsequenzen der Förderung der Entwicklungszusammenarbeit für die Kooperationspraxis lokaler Non-Profit-Organisationen zu untersuchen, sollen im Folgenden ausgewählte Konzepte und Ergebnisse der Organisationsforschung vorstellt und ihre Eignung für einen analytischen Rahmen geprüft werden. Da die untersuchten Organisationen ihren Sitz in einer randständigen ländlichen Region im bolivianischen Tiefland haben, sollen darüber hinaus theoretische Zugänge zur Untersuchung von Organisationen vorgestellt werden, die sich in Kontexten außerhalb der westlichen Industriegesellschaften befinden. Hierzu werden ausgewählte Forschungsarbeiten der Organisationsforschung, der Ethnologie und der Development Studies vorgestellt. Dieser Überblick ist selektiv. Er muss sich auf ausgewählte Arbeiten beschränken, die für die Fragestellung der Arbeit und den Kontext der Fallbeispiele relevant sind. Es soll daher kein vollständiges Panorama neuester Forschungen abgebildet werden. Teilweise wird auf ältere Arbeiten mit Bezug zur Fragestellung zurückgegriffen, sofern sie Anregungen und Anknüpfungspunkte für den hier gewählten analytischen Rahmen darstellen. Zunächst soll aber eine Annäherung an das Phänomen der formalen Organisation über ein allgemeines sozialwissenschaftliches Verständnis von Organisationen gefunden werden. Dazu werden in diesem Kapitel zunächst Definitionen und wichtige Aspekte wie Handlung und Institution erläutert und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf das Phänomen der formalen Organisation vorgestellt. Abschließend wird den vorgestellten Konzepten und Herangehensweisen ein multidimensionales Analysekonzept entwickelt, das in dieser Arbeit verwendet wird.
2.1 A NNÄHERUNGEN
AN DIE
O RGANISATIONSPRAXIS
Szene 1 aus der Organisationspraxis Unter den Anwesenden einer nationalen Versammlung von ökologizsch orientierten Bauernorganisationen erhebt sich Don Francisco Charupá Surubí (Name geändert) und spricht mit großem Pathos die folgenden Worte: „Geschätzte Anwesende, Genossinnen und Genossen!
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Compañeros und Compañeras! Geschätzter und hoch verehrter Vorstand unserer Vereinigung…! Geschätzter und ehrenvoller Präsident! Mein Name ist Don Francisco Charupá Surubí und ich komme aus dem Dorf San Antoñito in der Chiquitania – (längere Pause) – und wie ich bereits sagte, heiße ich Francisco Charupá Surubí … Das wollte ich euch mitteilen.“ (nacherzählte Anekdote aus der Vereinigung von Kaffeeproduzenten MINGA, in San Ignacio de Velasco, Personen- und spezifische Ortsnamen geändert, Quelle: Informelle Gespräche). Szene 2 aus der Organisationspraxis „In der Gruppe Amé Tauná haben wir es geschafft, nach und nach in gemeinsamer Arbeit für jede der uns angehörenden Frauen ein eigenes Haus zu bauen, je nachdem wie unsere Kräfte gereicht haben, ging´s mal schnell und mal langsam. Wenn wir kein Geld für die Handwerker hatten, oder es viel geregnet hat, gab es lange Pausen … manchmal auch wegen Unglücksfällen in den Familien ... Es war viel Arbeit und es hat viele Jahre gedauert. Ich glaube vier oder fünf … aber wir haben immer zusammengehalten und uns weiter getroffen. Nur eine Familie ist abgesprungen, die wollte nachher wieder in die Gruppe kommen, aber das ging nicht. Wir haben das ausführlich im Plenum besprochen und schließlich entschieden, dass wir dem Antrag nicht zustimmen, weil es gegen unsere Statuten gewesen wäre. Als wir damals dann auch noch das Geld (…) bekommen sollten, haben wir ein Konto eröffnet, obwohl das sehr schwierig für uns war. Es können ja nur wenige von uns richtig schreiben oder rechnen. Aber am Ende, nach vielem Hin und Her … hat es geklappt und dadurch sind die Häuser nun noch viel besser geworden (…). Jetzt haben wir alle unser eigenes Haus – insgesamt sind es 21 – und überlegen uns, was wir als nächstes machen wollen … wir haben große Lust weiter etwas zusammen zu machen.“ (Doña Delmira Montero, Präsidentin der Gruppe Amé Tauná, aus San Miguel de Velasco, Ausschnitt aus einem Gruppeninterview mit der gesamten Gruppe, vom April 2010, vgl. III Besondere Anlässe (Workshops) und Organisationsbesuche) Die Szenen – samt der ihnen innewohnenden Tragikkomik, dem ausgedrückten Pathos, oder dem Stolz auf die erreichten gemeinsamen Leistungen – erschließen sich vermutlich vielen Lesern und Leserinnen spontan1, auch wenn sie sich in einem fremden und schwer erreichbaren Landstrich abgespielt haben, der in vielen Bereichen durch besondere, uns fremde kulturelle und soziale Strukturen und zeremoniale Handlungsweisen gekennzeichnet ist. Einer der Gründe für die unmittelbare Verständlichkeit dieser Szenen ist vermutlich, dass sie sich im Rahmen von Organisationen abgespielt haben, und wir alle mit Organisationen irgendwie vertraut sind. Denn 1
Selbstverständlich wären für eine akkurate Interpretation genauere und umfangreiche Kenntnis des Kontextes notwendig.
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Organisationen sind fast überall anzutreffen. Insofern erzeugen die beiden Beispiele auf den ersten Blick ein déjà-vu-Gefühl. In den beiden Szenen geht es um den Organisationstypus der Selbsthilfe- oder Basisorganisationen: Die Idee, dass benachteiligte Kleinbauern, Frauen, Indígene, usw. in Organisationen selbstbestimmt ihre Lebensbedingungen gestalten oder verändern können und ihre Interessen gegenüber Politik und Öffentlichkeit mittels dieser Organisationen vertreten, mobilisiert entwicklungspolitische Hoffnungen ebenso wie sympathisierende sozialwissenschaftliche Neugier (vgl. HIRSCHMAN 1984). Aus der großen Bandbreite von theoretischen Konzeptionen und in den Sozialwissenschaften verwendeten Analogien zum Gegenstand der Organisation (vgl. MORGAN 1986) sollen hier einige herausgegriffen werden um drei Aspekte zu beleuchten, die für solche Organisationen von Bedeutung sind, die in der Entwicklungszusammenarbeit als lokale Basis- oder Selbsthilfeorganisationen gelten, und an die sich Förderangebote in erheblichem Ausmaß richten. Damit sind sie den untersuchten Fallbeispielen (siehe Kapitel 5 – 7) ähnlich. Diese drei Aspekte betreffen die Funktionalität und Rationalität der Organisation, die Historizität der formalen Organisation und die implizite Werthaltung, die verschiedene Forschungsrichtungen zu Organisationen prägt. Organisation als zweckrationale soziale Gebilde zur Koordinierung von Handlungen RENATE MAYNTZ muss als Pionierin der deutschen soziologischen Organisationsforschung an dieser Stelle erwähnt werden, auch wenn ihre theoretischen Beiträge zur Organisationstheorie später von Vorschlägen zum theoretischen Zugang zu Organisationen abgelöst wurden, die für die Fragen dieser Untersuchung geeigneter sind. MAYNTZ stützt in ihrem Überblick zur Organisationssoziologie ihre Definition von Organisation ganz auf die Zweckorientierung. „Alle diese zweckorientierten sozialen Gebilde sollen hier als Organisationen bezeichnet werden. (…) Unter der Bezeichnung Organisation soll eine für die moderne Gesellschaft höchst bedeutsame Kategorie struktureller Einheiten aus allen sozialen Erscheinungsformen ausgesondert und soziologisch analysiert werden.“ (MAYNTZ 1963: 7)
MAYNTZ stellt drei Kerneigenschaften von „modernen Organisationen“ heraus (vgl. MAYNTZ 1963): • freiwillige Mitgliedschaft • Zwecksetzung • Hierarchie- bzw. Kompetenzstrukturen.
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Mit diesen drei Eigenschaften sind moderne Organisationen jedoch nicht hinreichend beschrieben. Organisationen von der italienischen Mafia (vgl. POHLMANN & MARKOVA 2011) bis hin zu westafrikanischen Geheimgesellschaften sind Organisationsformen, die diesen Kriterien entsprechen. Sie sind aber keine typisch modernen Organisationen im historischen Sinne, da sie z. B. im Widerspruch zur Idee des staatlichen Gewaltmonopols stehen (vgl. GIDDENS 1996: 75-92). Die Reduzierung auf Freiwilligkeit, Zwecke und Hierarchie ist insbesondere für ein Verständnis des Spannungsfeldes, in dem lokale Organisationen stehen, nicht ausreichend. Die Orientierung auf Funktionalität und Zweckorientierung der Organisation in modernen Gesellschaften bildet für MAYNTZ den einzigen analytischen Zugang zu bürokratischer Organisationen in Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung und Politik. Die Unterscheidung zwischen formalen und informellen Aspekten wird als Erweiterung der Perspektive nur lapidar erwähnt: „Seit einiger Zeit setzt sich dagegen ein neuer Begriffsinhalt des Wortes Organisation als soziologischer Fachterminus durch. Man versteht darunter zweckvoll gestaltete soziale Gebilde einschließlich deren `informeller´ Aspekte. Gleichzeitig wird der Begriff so ausgedehnt, daß er nunmehr neben den freiwilligen Vereinigungen auch alle größeren, zweckvoll und oft bürokratisch strukturierten Institutionen vom Betrieb bis zum Krankenhaus und Militär umfasst. In diesem Sinne, als soziale Gebilde, die auf einen bestimmten Zweck orientiert und planmäßig gestaltet sind, versteht die Soziologie der Organisation ihren Gegenstand.“ (ibd. 147)
Der Hinweis auf formale und informelle Aspekte der Organisation ist gerade für die Untersuchung der alltäglichen Handlungspraxis in Organisationen interessant, da hiermit die Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung von Handeln mit den offiziellen Strukturen (Aufbau, Rollenbeschreibungen, Reglements, Anweisungen, Geschäftsordnungen, etc.) thematisiert wird. Die Angemessenheit einer auf Rationalität und Funktionalität reduzierten Organisationsanalyse in der Soziologie, wurde von vielen Seiten ausführlich kritisiert (vgl. MEYER & ROWAN 1991; MEYER 2005; TÜRK 1995; TÜRK & BRUCH 2002). Die normative Verknüpfung formaler Organisation mit Rationalität wird häufig auf MAX WEBER zurückgeführt. Dieser hatte in einer historischen und kultur- und ideengeschichtlichen Herangehensweise die zunehmende Rationalisierung mit dem Idealtypus der bürokratischen Herrschaft in Zusammenhang gesetzt, den er im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie entwickelte (vgl. WEBER 1922: 160-166). WEBER hat die bürokratische Herrschaftsform, die sich vor allem in formalen Organisationen entfalten kann, jedoch keineswegs ahistorisch und normativ gesehen, sondern sie als ein spezifisches Ergebnis der kulturellen Entwicklung und religiösen Ideengeschichte „westlicher Gesellschaften“ analysiert. Dabei hat WEBER die vom Prinzip der bürokratischen Organisation ausgehende besondere „Unentrinnbarkeit“ des Zugriffs auf das Individuum und seine Freiheit erkannt und problematisiert (WEBER 1922: 1056).
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Er hat also eine differenzierte Sicht auf formale Organisation im modernen Sinne und sieht ihre Nachteile wie auch ihre Vorteile für Gesellschaft und Individuen. NIKLAS LUHMANNs erklärt Organisationen als sich selbst erschaffende Systeme (vgl. LUHMANN 2000). Er interessiert sich dabei wenig für deren historische Entstehungsbedingungen. Diese Perspektive wird in der vorliegenden Arbeit nicht eingenommen, da sie für die hier gestellten Fragen zur Handlungspraxis in konkreten Organisationen keine Ansatzpunkte bietet. Von der Zweckrationalität zu verschiedenen Rationalitäten: Organisationen als offene natürliche Systeme Funktionalität und Zweckrationalität sind für die Wirklichkeit der meisten der im empirischen Teil untersuchten lokalen Organisationen durchaus von Bedeutung. Da der Frage nachgegangen wird, warum die Mitglieder in lokalen Organisationen so handeln wie sie handeln, können Fragen der Funktionalität und die operative Ebene der Organisationen, d. h. wie und mit welchen Ressourcen sie ihre Zwecke verfolgen, nicht vollkommen ausgeblendet werden. Der Forderung von BARLEY, dass Organisationsforschung auch der Tatsache gerecht werden müsse, dass in Organisationen eben Arbeit geleistet werde (vgl. BARLEY 2011), kann hier auf der Grundlage eigener mehrjähriger Beobachtungen zugestimmt werden. Organisationen ausschließlich als symbolische Konstruktionen zu verstehen (vgl. CZARNIAWSKA-JÖERGES 1997; KNORR-CETINA 1997) wäre daher ebensowenig angemessen, wie das oben beschriebene Gegenteil, sie ausschließlich in Bezug auf ihre Funktionalität und Zweckrationalität zu betrachten. Daher wird in dieser Arbeit ein theoretischer Ansatz gewählt, der Organisationen als offene (d.h. mit ihrer sozialen Umwelt im Austausch befindliche) und natürliche (d.h. nicht in eine einzige Rationalität subsummierbare) Systeme begreift (vgl. SCOTT, R. 1986: 182). Es wird die Annahme getroffen, dass auch die Frage, was Zweckrationalität im Einzelnen bedeutet, nicht unabhängig vom Wissen und den institutionalisierten Vorstellungen der Akteure ist. Das Systemmodell von SCOTT lässt diese Annahme zu und bildet einen grundlegenden Bestandteil der analytischen Herangehensweise dieser Arbeit, der weiter unten dargestellt wird. Historische Ursprünge formaler Organisation in der Gesellschaft Die Organisationssoziologen ORTMANN, SYDOW und TÜRK sehen formale Organisation als spezifisch moderne Form der Assoziation in Gesellschaften (vgl. TÜRK 1995, 1997, 2002 und ORTMANN, SYDOW & TÜRK 1997). Sie fordern eine stärkere Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Umgebung und der gesellschaftlichen Zusammenhänge in der Organisationsforschung: „Organisationen aber sind in der Gesellschaft, sind Teil der Gesellschaft, sind eine besondere Form der Koordination und Zurichtung gesellschaftlicher Aktivitäten, implizieren spezifische
34 | B LINDE F LECKEN DER E NTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT gesellschaftliche Zusammenhänge und Schnitte zwischen diesen Aktivitäten, werden von ihrer gesellschaftlichen Umgebung gefördert und beeinträchtigt, üben ihrerseits einen enormen Einfluß auf den Zustand und die Entwicklung der Gesellschaft aus, und dies alles keineswegs seit altersher, sondern, jedenfalls mit jener Dominanz, die in diesem Jahrhundert [gemeint ist hier das 20. Jhd., G.B.] die Rede von der Organisationsgesellschaft (…) aufgebracht hat, offenbar erst im Zuge der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus.“ (Ortmann, Sydow & Türk 1997: 16 f)
TÜRK analysiert vor allem die historischen Ursprünge der formalen Organisation als genuines Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung wie sie in Europa ihren Lauf nahm. Er untersucht die wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge des Aufkommens formaler Organisationen in Europa im 19. Jahrhundert und verknüpft dies mit einer kapitalismuskritischen Gesellschaftstheorie. Für TÜRK ist formale Organisation mit den zunehmenden Kontroll- und Überwachungsansprüchen des bürgerlichen Staates und den ersten kapitalistischen Arbeitsorganisationen der frühen Industrialisierung verknüpft (vgl. TÜRK 1995). Er betont, dass Organisationen sui generis Hierarchien ausbilden und nach außen exklusiv seien. Als eines der frühesten Beispiele einer modernen Organisation führen TÜRK et al. die policey an, die die Aufgabe hatte, die Bürger im Dienste der staatlichen Obrigkeit zu überwachen und zu disziplinieren (vgl. TÜRK & LEMKE & BRUCH 2002). Wenn TÜRK von Organisationen spricht, bezieht er sich dabei auf staatliche Organe und private Arbeitsorganisationen (Unternehmen). Gewerkschaften, Vereine mit gemeinnützigem oder gemeinwirtschaftlichem Charakter scheint er dabei nicht in den Blick zu nehmen. Man kann TÜRK entgegenhalten, dass das Phänomen der Organisation historisch ebenso stark mit dem Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse verbunden ist. So verweist z. B. EMIL WALTER-BUSCH in seinem Lehrbuch über die Geschichte der Organisationstheorie darauf, dass bereits von Politikern in der französischen Revolution die Hoffnung auf die gesellschaftsverändernde Kraft der Organisationen gesetzt wurde. „Revolutionäre Politiker verfolgten nun auf einmal das Ziel, die Einrichtungen des ancien régime, das versagt hatte, gründlich zu `reorganisieren´, und eine vernünftige „Reorganisation“ der Gesellschaft in Gang zu setzen. (…) Ein anonymes `Wörterbuch der französischen Revolutions-Sprache´erklärte im Jahre 1799 das französische Verb `organiser´, von dem sich das nun auch in Deutschland rasch modisch gewordene Fremdwort `organisieren´ herleitete, sehr bezeichnend wie folgt: `Organiser´, d. h. `ein Land auf französische Art einrichten´. (WALTERBUSCH 1996: 6-7).
Die Frage, ob Organisationen per se eher eine emanzipatorisch-egalitäre oder eine autoritär-hierarchische soziale Ordnung befördern, ob das Wesen der Organisation
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also eher durch das deutsche Beispiel der policey oder den – fast zeitgleichen - französischen Sprachgebrauch der Revolutionszeit repräsentiert ist, ist empirisch wohl kaum beantwortbar. Die historisch bedingte Verknüpfung formaler Organisation mit modernen Gesellschaften soll hier jedoch festgehalten werden Eine Analyse von Organisationen, die sich allein auf deren Zwecke, Leistungen und formale Strukturen beschränkt, bleibt dennoch ahistorisch. Sie übersieht die Bedeutung der allgemeinen Entstehungsbedingungen der formalen Organisation und die Bedingungen des gesellschaftlichen, soziokulturellen Kontextes in dem jede konkrete Organisation steht (vgl. FRIEDLAND & ALFORD 1991; ORTMANN, SYDOW & TÜRK 1997a). Schon die lebensweltliche Erfahrung lehrt, dass es naiv wäre, zu erwarten, dass sich die Gestalt von Organisationen und ihre Handlungspraxis ausschließlich nach ihrer Funktion richten. Dies wird offensichtlich, wenn folgender Vergleich angestellt wird: Auch Organisationen mit ganz unterschiedlichen Zwecksetzungen ähneln sich heute in bestimmten und wesentlichen Aspekten mehr, als sie solchen mit ähnlichen Zwecken ähneln, die aus anderen Epochen bzw. historischkulturellen Kontexten stammen: So ähneln z. B. der strukturelle Aufbau, die Verteilung der Befugnisse des Leitungspersonals und die rechtliche Stellung der Führungskräfte und Angestellten einer großen Baufirma von heute mehr der eines Krankenhauses von heute oder der einer großen Gewerkschaft oder einem Sportverband von heute, als z. B. der entsprechenden Organisationspraxis im antiken Pyramidenbau2. Der historische und gesellschaftliche Kontext scheinen also hier eine stärkere Rolle zu spielen, als der eigentliche „technische“ Zweck oder die Funktion der Organisation. Ideologische Grundhaltungen zu Organisation In der kapitalismuskritischen Argumentation TÜRKS, der die Hierarchie in Organisationen besonders hervorhebt, scheint auch eine ideologische und normative Haltung durch, die eine egalitäre Gesellschaft anstrebt. Auf einer ganz anderen ideologischen Grundeinstellung fußen liberale Theorien, die sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung bürgerschaftlicher Organisationen auseinandersetzen. Sie sehen Mitgliederorganisationen als soziales Kapital, als gesellschaftlich produktive Ressource, oder als kollektives Mittel zu gesellschaftlichem Fortschritt (vgl. PUTNAM 2000; HIRSCHMAN
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Leider gibt es wenig wissenschaftliches Wissen zum rechtlichen Status der Arbeiter beim antiken Pyramidenbau in Ägypten. Sicher scheint aber, dass sie keine Sklaven waren. Vermutlich hatten diese Arbeiter keine vertraglichen Beziehungen und Bedingungen (Rechte und Pflichten) wie heutige Facharbeiter der Bauindustrie. (Vgl. HERMAN ALEXANDER SCHLÖGL 2006: Das Alte Ägypten. Geschichte und Kultur von der Frühzeit bis zu Kleopatra. München: Beck 94ff).
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1984). Bereits ALEXIS DE TOCQUEVILLE als klassischer liberaler Denker sah in freiwilligen gemeinnützigen Organisationen, wie z. B. Vereinen und Kirchengemeinden auf der Gemeindeebene, wichtige Sozialisationsinstanzen zurEinübung staatsbürgerlicher und republikanischer Tugenden (vgl. TOQUEVILLE 1987). Die Vorstellung von Organisationen als sozialer Ressource bildet auch die Grundlage für das entwicklungspolitische Interesse an lokalen Organisationen (vgl. WELTBANK 2005). Die vorliegende Studie geht von der Annahme aus, dass es für die soziologische Analyse von formalen Organisationen weniger interessant ist, auf einer allgemeinen oder aggregierten Ebene nach den wünschenswerten oder kritikwürdigen sozialen Wirkungen formaler Organisation zu suchen, und diese dann in den Vordergrund zu stellen. Auch können sich die Kriterien und normativen Vorstellungen darüber, was eigentlich im Rahmen organisierter Verbände wünschenwerte Ziele für gesellschaftliche Entwicklungen ist, innerhalb kurzer Zeit verändern. Dies lässt sich beispielhaft an der kritischen Debatte zur Bedeutung und Umsetzung von Partizipationsansprüchen in der Entwicklungszusammenarbeit belegen (vgl. CLEAVER 2001; MOSSE 2003).
2.2 H ANDELN
IN
O RGANISATIONEN
Von der allgemeinen Frage, um was es sich bei Organisationen eigentlich handelt, kommen wir nun zu der Frage, was die Handlungspraxis in Organisationen so besonders macht. Typisch für Organisationen sind formalisierte und oft auch ritualhafte Handlungsweisen. Das auffallend formale und zeremonielle Sprechen des Redners Don Francisco Charupá Surubí in der ersten Szene, die am Beginn des Kapitels beschrieben wurde, erscheint wie eine Überzeichnung dessen, was in der Praxis von Organisationen als normal gilt. Organisationen zeichnen sich durch je eigene wie auch allgemein für sie typische Regeln und Rollen aus. Um die Bedeutung von Regeln und Rollen Organisationen zu veranschaulichen, werden nun ein paar Details aus den später genauer dargestellten Fallbeispielen vorgestellt. Die Mitglieder der Frauengruppe Amé Tauná, von denen in der zweiten Szene erzählt wird, treffen sich monatlich an einem bestimmten Tag zur Mitgliederversammlung. Es gibt typische Organisationsrollen wie die der Vorstandsmitglieder. Für den Schriftführer von Amé Tauná steht ein kleiner Holztisch bereit, an dem er Einträge aus dem Protokollbuch vorliest und neue hinzufügt. Organisationsrollen und -regeln haben nicht nur einen zeremonialen Charakter. Sie können als konkrete Handlungsvorschriften auch kooperative Arbeitsvorgänge in der Organisation regeln. Operative Regeln stützen sich auf konkrete normative Vorstellungen über bestimmte Gegenstände. In Amé Tauná bestand zum Beispiel eine genaue Definition darüber, wie ein Haus beschaffen sein musste, das in gemeinsamer Arbeit für jedes Mitglieder erbaut wurde, und welchen Beitrag jedes Mitglied dazu leisten musste. Institutionalisierte Vorstellungen und
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Festlegungen ein und derselben Organisation sind nicht unbedingt kohärent oder rational. So waren die eingeschriebenen Mitglieder von Amé Tauná ausschließlich Frauen. Die Rolle des Schriftführers wurde von einem Mann ausgeführt. Niemand in der Gruppe zweifelte an, dass Amé Tauná eine Frauenorganisation war. Und niemand stellte den Schriftführer („Sekretär“) in Frage. Beide Umstände waren fest etablierte und für die Mitglieder selbstverständliche Gegebenheiten in der Organisation. Das Selbstverständnis als Frauenorganisation und die Besetzung der Rolle des Sekretärs waren – im sprichwörtlichen wie im soziologischen Sinne – Institutionen dieser Organisation. Institutionen und Organisationen Die Ehe, ein Krankenhaus, Märkte oder der Staat werden häufig als Institutionen bezeichnet. Nicht alle Institutionen haben die Form von Organisationen, wie schon diese Reihe von Beispielen zeigt. Im Folgenden soll erläutert werden, warum Institutionen für Organisationen und ihre regelmäßige Handlungspraxis von großer Bedeutung sind. Der Begriff der Institution ist eine Schlüsselkategorie der Soziologie seit Durckheim. Er ist jedoch nicht einheitlich definiert. Die Übersetzung des lateinischen Fremdwortes Institution bedeutet „Einrichtung“ oder „Einsetzung“. In diesen Bedeutungen zeichnet sich das Element der Festigkeit und Dauerhaftigkeit ab, die von Institutionen für die Gestaltung von sozialen Beziehungen und Handlungen ausgeht. Sie sind mit allgemein geteilten, relativ stabilen Vorstellungen und Erwartungen verbunden. Für die Soziologen BERGER und LUCKMANN entstehen Institutionen vor allem durch Interaktionen in Vis-a-vis-Situationen. Da Organisationen und ihre Praxis sich auch durch besondere, formalisierte Handlungsregeln (Reglements, Handbücher) und verstetigte Handlungsabläufe (Routinen) auszeichnen, ist die Interaktionsperspektive im Institutionenverständnis von BERGER und LUCKMANN im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Organisationspraxis interessant. Mit dieser Perspektive kann die typische Differenz zwischen formalen Regeln und dem regelmäßigem Handeln (jenseits der Regeln) in Organisationen untersucht werden. Der Institutionenbegriff von BERGER und LUCKMANN wird deshalb nun etwas ausführlicher erläutert. Durch Wiederholung bzw. Habitualisierung und Bestätigungen des Gegenübers in Interaktionen können Vorstellungen, aber auch konkrete Handlungsweisen und ihre entsprechende Einordnung in eine bestimmte Kategorie (Typus) den Charakter von Institutionen gewinnen und aufrecht erhalten. „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für das Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und
38 | B LINDE F LECKEN DER E NTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure. Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für die einzelnen Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe erreichbar.“ (BERGER & LUCKMANN 1977: 58, kursiv im Org.)
Die von BERGER und LUCKMANN angesprochene Erreichbarkeit von Institutionen bezieht sich auf ihre direkte Zugänglichkeit für jeden Einzelnen und ist von hoher Bedeutung für ihre Funktion als Handlungsorientierung. Diese Qualität lässt sich für Organisationen am Beispiel ihrer Statuten zeigen. Organisationen besitzen normalerweise Statuten. Dies entspricht einer Erwartung an die Institution der Organisation. Was in den Statuten inhaltlich genau vorgeschrieben ist, entzieht sich oft schon der Kenntnis, aber auch dem Interesse der Mitglieder. Sofern die Inhalte der Statuten nicht in Vis-a-Vis-Situationen in entsprechenden Handlungen fortlaufend durch Befolgung bestätigt oder ihre Geltung durch Bestrafung oder Stigmatisierung zuwiderlaufender Handlungen unterstrichen werden, ist ihr Inhalt, z.B. ihre Beschreibung von Kompetenzen, Rollen und Regeln unter den Mitgliedern nicht institutionalisiert. Handlung und Akteur bilden für BERGER & LUCKMANN in Institutionen eine Einheit. Eine Handlung, die im Rahmen einer Institution in bestimmter Art typisiert oder kategorisiert ist, typisiert gleichzeitig auch den Handelnden in einer bestimmten zur Institution gehörenden Rolle (z. B. als „Organisationsmitglied“, „Vorsitzende“, „Schriftführer/Sekretär“, etc.). Institutionen entstehen nach diesem Verständnis erst durch entsprechende Handlungsweisen in wiederholten sozialen Interaktionssituationen. Bereits institutionalisierte Vorstellungen dienen als Deutungsmuster, die den Akteuren helfen, die Wirklichkeit in Handlungssituationen zu deuten und einzuordnen und entsprechend dieser Definitionen zu handeln bzw. entsprechende Erwartungen an das Handeln der anderen zu stellen. Allgemein gültige, d.h. gemeinsam geteilte Regeln und Rollenbeschreibungen enthalten Kategorisierungen3, die festlegen, welches Handeln in welcher Situation von welchem Akteur zu erwarten ist und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren definieren (BERGER & LUCKMANN 1977: 58 f). In Organisationen sind bestimmte Situationen, Verfahren oder Akteurskategorien institutionalisiert. Zum Beispiel ist die Akteurskategorie „Mitglied“ mit bestimmten organisationsspezifischen Verpflichtungen, Rechten und Regeln verbunden, wie einem Mitgliedsbeitrag, Nutzungsrechten des Organisationseigentums usw. Durch Institutionen werden in der Organisation Handlungsmöglichkeiten eröffnet, aber auch Handlungsfreiheit begrenzt. Institutionen steuern die Erwartungen an das Handeln anderer
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Synonym können Kategorisierungen auch Typifizierungen oder Klassifizierungen genannt werden.
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im Rahmen der Organisation4. Gleichzeitig antizipieren die anderen, dass von ihnen ein reziprokes, ihrer Organisationsrolle entsprechendes Handeln erwartet wird. Institutionen ermöglichen so in Organisationen unter bestimmten Umständen eine langfristig stabile Kooperation zwischen den Akteuren. BERGER und LUCKMANN haben den Begriff der Institution wissenssoziologisch ausgearbeitet. Allgemeiner ausgedrückt sind Institutionen ihnen zufolge reziproke, d.h. durch Interaktionen geteilte Vorstellungen, Denkweisen und Gewissheiten, die es ermöglichen, die unendlich vielen Eindrücke aus der Wirklichkeit auszuwählen, einzuordnen und sinnvoll in Beziehung zu setzen. Sie strukturieren nicht nur die Deutung des Wahrgenommenen, sondern schon die Wahrnehmung der Welt, indem sie bereits grundlegende Kategorien und Schemata, Typologien oder Klassifizierungen, aber auch komplexe normative Vorstellungen, sinnstiftende Grundannahmen enthalten, auf deren Grundlage kognitive Prozesse stattfinden. Institutionen oder institutionalisierte Vorstellungen bilden für die Menschen Interpretationsmuster, die es ermöglichen, die unendliche Vielzahl von Sinneseindrücken zu verarbeiten und Sinnzusammenhänge zu konstruieren. Das Handeln in der Organisationspraxis findet in einem spezifischen Rahmen von Kategorisierungen und Handlungserwartungen statt. Die Fundierung des Begriffes Institution nach Richard Scott RICHARD SCOTT interessiert sich für die Rolle von Institutionen in Organisationen. Wie entstehen und stabilisieren sich solche Institutionen? Auf welchen Grundlagen werden Institutionen errichtet? Für SCOTT können Institutionen auf drei sehr unterschiedlichen Grundlagen aufbauen: “Institutions are comprised of regulative, normative and cultural-cognitive elements that, together with associated activities and resources, provide stability and meaning to social life.“ (SCOTT 2008: 48)
Das von SCOTT entwickelte Konzept der drei verschiedene „Säulen“, auf die Institutionen aufgebaut sein können, ist für die Frage, warum und vor allem wie bestimmte Praxisformen in lokalen Organisationen institutionalisiert sind, interessant. Er unterscheidet Institutionen nach ihrer kognitiven Fundierung, d.h. danach ob sie auf der regulativen, der normativen und der kulturell-kognitiven Ebene im Bewusstsein der Akteure verankert sind. Die regulative Grundlage für die diese Art der Institution bilden Vorstellungen von Zweckmäßigkeit. Dieser Form der Institution liegt eine in-
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Diese Überlegung von BERGER und LUCKMANN erinnert an das Konzept des generalisierten Anderen und verweist auf eine ihrer theoretischen Wurzeln im symbolischen Interaktionismus (MEAD).
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strumentelle Logik zugrunde. Organisationsregeln sind häufig regulative Institutionen. Sie werden formuliert und anerkannt, weil die verantwortlichen Akteure davon ausgehen, dass sie zweckmäßig sind. Die normativ verankterte Institution beruht auf der sozialen Verpflichtungen. Die ihr entsprechende Logik ist die der Angemessenheit. Wenn Akteure eine soziale Verpflichtung zu bestimmten Handlungsweisen empfinden, finden sie davon abwechendes Handeln illegitim. Die kulturell-kognitive Institution beruht auf Normalitätskonstruktionen. Sie folgt einer Logik der Wahrheit und der prinzipiellen Sicht der Akteure auf die Welt und wie sie sich in der Welt einordnen. SCOTT betont, dass im Falle einer konkreten Institution nicht alle drei „Säulen“ kohärent sein müssen. Als Beispiel kann hier die Institution des „freien Marktes“ herangezogen werden: Zu den institutionalisierten Vorstellungen über den „freien Markt“ gehören normative Vorstellungen, nämlich dass individuelles Gewinnstreben die Marktteilnehmer antreiben muss; gleichzeitig schreiben Regeln aus Gründen der Zweckmäßigkeit ein auf Fairness ausgerichtetes Handeln der Marktteilnehmer vor. RICHARD SCOTT knüpft an den sozialkonstruktivistischen Institutionenbegriff von BERGER und LUCKMANN an. Er differenziert Institutionen je nach ihrer sozialen Verankerung in drei Formen. Demnach sind kulturell-kognitiv verankerte Institutionen sehr tief im Bewusstsein der Handelnden verankert sind. Wenn solche Institutionen in Frage gestellt werden, die als unzweifelhat, wahr und normal gelten, so führt dies zu Verunsicherung oder starker Ablehnung bei denen die ihnen folgen. Weit verbreitete und tief verankerte kulturell-kognitive Institutionen sind z. B. Normalitätsvorstellungen über Ehe und Sexualität. Solche Institutionen verändern sich nur in langen Zeiträumen und unter der Bedingung umfassender sozialer Wandlungsprozesse, wie es sich dem Beispiel folgend an der Entwicklung von Akzeptant der Homosexualität zeigen lässt. Wenn eine institutionalisierte Regel oder eine Kategorisierung akzeptiert wird, nicht weil sie als normal oder gottgegeben gelten, sondern weil sie für zweckmäßig gehalten werden, sind Veränderungen möglich, sobald ihre Zweckmässigkeit einleuchtend in Frage gestellt wird und pragmatische Überlegungen zu ihrer Veränderung erlaubt sind. Ob eine institutionalisierte Handlungsweise vor allem auf regulativen, normativen oder kulturell-kognitiven Grundlagen steht, hat Implikationen dafür, ob und wie diese Institutionen veränderbar sind. Die Fundierung von institutionalisierten Vorstellungen spielt besonders dann eine Rolle, wenn Organisationen wie in dieser Untersuchung, sich in Ländern ausserhalb der westlichen Industriegesellschaften befinden, in denen Institutionen des lokalen Kontextes die Vorstellungen der Menschen prägen. Diese können durchaus auch im Widerspruch zu den Institutionen innnerhalb der Organisation stehen.
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2.3 N EO -I NSTITUTIONALISTISCHE O RGANISATIONSTHEORIE Viele der externen wie lokalen Akteure in den Fallbeispielen, haben die Vorstellung, dass eine ernst zu nehmende Organisation verschriftlichte Statuten haben muss, die ggf. von einem staatlich geprüften Notar beglaubigt wurden. Der Neo-Institutionalismus in der soziologischen Organisationsforschung interessiert sich für die Verbreitung bestimmter formaler Gestaltungselemente wie z.B. Statuten, die zu einem Indiz für die Seriosität von Organisationen geworden sind. Bei den meisten der hier untersuchten Organisationen spielen die Statuten für die Praxis eine untergeordnete Rolle. Für die alltägliche Kooperationspraxis dieser Organisation haben viele formale Elemente nicht automatisch handlungsleitende Geltung. Warum sind diese formalen Elemente für Organisationen trotzdem so bedeutungsvoll? Die neo-institutionalistische Organisationstheorie geht davon aus, dass Organisationen als solche, wie auch bestimmte Organisationsmodelle, sich in der Welt vor allem deshalb so ausbreiten, weil sie einem allgemeinen Rationalitätsglauben entsprechen. Derselbe Glaube an die Rationalität bestimmter Formen führt auch dazu, dass es vor dem Hintergrund des Phönomens der Globalisierung eine generelle Tendenz zum Isomorphismus von Organisationen gibt, d.h. eine gesellschaftlich bedingte, zunehmende Homogenisierung von Organisationen5. Die radikale Version der neo-institutionalistische Theorie erklärt diese Tendenz damit, dass Organisationen sich – unabhängig von ihren konkreten Zielsetzungen – um Legitimation aus der Umwelt zu erlangen, an allgemeine Normen und generalisierte Modellvorstellungen anpassen. Die Tendenz zur Anpassung überwiegt nach MEYER & ROWAN jegliche Erwägung von Effizienz. „Institutionalized products, services, techniques, policies, and programs function as powerful myths, and many organizations adopt them ceremonially. But conformity to institutionalized rules often conflicts with efficiency.“ (MEYER & ROWAN 1991: 41)
Die in funktionalen Theorien der Organisation hervorgehobene besondere Rationalität von Organisationen ist für MEYER & ROWAN nicht mehr als ein gesellschaftlich konstruierter „Rationalitätsmythos“. Damit meinen sie, dass Rationalität zu einem unhinterfragten Wert an sich geworden ist, und dass bestimmten Organisationsformen per se Rationalität zugeschrieben wird. Die praktische technische Effizienz der gewählten Organisationsform hat deshalb, so MEYER & ROWAN, im Vergleich zu den zu erwartetenden Legitimationsgewinnen keine oder kaum Bedeutung. Die Anpassung an solche als rational und effizient geltenden Organisationsformen findet auf
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Sie stützt sich dabei allerdings vorwiegend auf makrosoziologische Untersuchungen und Daten aus den USA, die sich auf formale Strukturen von Organisationen beziehen und kaum etwas über die Organisationspraxis aussagen.
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der zeremonialen Ebene statt, d. h. der nach außen gerichteten Fassade, weil mit diesen nach außen gerichteten zeremoniellen Formen ihre Legitimation in der Öffentlichkeit auf die Organisationen übergeht. Der konkreten Organisationspraxis – d. h. der Verknüpfung von Regel- und Ordnungsstruktur und Handeln – schenken Neo-Institutionalisten wie MEYER & ROWAN ausdrücklich wenig Aufmerksamkeit. Daher kann das reale Handeln und Verhalten der Mitglieder in Organisationen mit der neo-institutionalistischen Organisationstheorie nur bedingt erklärt werden, nämlich nur insofern, als Handeln nur als zeremonielles Agieren und somit symbolische Unterstützung der Fassade von Organisationen verstanden wird. Die alltägliche Handlungspraxis steht – abweichend von dem hier verfolgten Untersuchungsansatz – außerhalb des neo-institutionalistischen Interesses. „A sharp distinction should be made between the formal structure of an organization and its actual day-to-day work activities. Formal structure is a blueprint for activities which includes, first of all, the table of organization: a listing of offices, departments, positions and programs. (MEYER & ROWAN 1991:42)
DIMAGGIO & POWELL haben die radikalen Annahmen von MEYER & ROWAN später relativiert, indem sie auf die Bedeutung technischer Effizienz für bestimmte Organisationstypen, z.B. solchen die an Märkten konkurrieren, hinweisen. Die Vereinheitlichung großer Organisationen (Unternehmen) erklären DIMAGGIO & POWELL mit dem Wettbewerbsdruck zur Rationalisierung durch bürokratische Strukturen auch im Sinne technischer Effizienzgewinne. DIMAGGIO & POWELL gehen davon aus, dass heute kaum noch eine weitere Rationalisierung z.B. durch Bürokratisierung möglich ist, und dennoch die Tendenz zur globalen Isomorphisierung von Organisationen bestehen bleibt. Der Druck zur Vereinheitlichung geht weniger von Wettbewerbssituationen aus, als von der institutionellen Umwelt der jeweiligen Organisationen, die DIMAGGIO & POWELL als organisationale Felder bezeichnen. „… we suggest that the engine of organizational change has shifted. (…) We argue that the causes of bureaucratization and rationalization have changed. The bureaucratization of the corporation and the state have been achieved. Organizations are still becoming more homogeneous, and bureaucratization remains the common organizational form. Today, however, structural change in organizations seems less and less driven by competition or by the need for efficiency. Instead, we contend, bureaucratization and other forms of organizational change occur as the result of processes that make organizations more similar without necessarily making them more efficient. Bureaucratization and other forms of homogenization emerge, we argue, out of the structuration (GIDDENS, 1979) of organizational fields.“ (DIMAGGIO & POWELL 1991a: 64)
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Organisationsfelder Mit Organisationsfeldern, auch organisationale Felder genannt, sind Gruppen von Organisationen gemeint, die auf unterschiedlichste Art miteinander in Beziehung stehen können, z. B. durch Verknüpfung zu einem Dachverband, zu einem Netzwerk; durch politische oder finanzielle Abhängigkeit, durch Konkurrenz am selben Markt, oder durch übergeordnete Regelungskompetenzen staatlicher Behörden6. Im Organisationsfeld der entwicklungspolitischen Förderorganisationen und geförderten Organisationen breiten sich nicht nur Vorstellungen technischer Rationalität aus (z.B. über die Einführung von Informationstechnologie oder einer geordneten Rechnungslegung in Organisationen), sondern auch universelle normative Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Gendergerechtigkeit (vgl. MEYER 2005). DIMAGGIO & POWELL unterscheiden drei Modalitäten, unter denen die Vorstellungen aus den organisationalen Felder an Organisationen vermittelt werden: Zwang, normativer Druck und Imitation (vgl. DIMAGGIO & POWELL 1991a: 67-74). Zwang besteht für Organisationen besonders dann, wenn ihr Überleben von externer finanzieller Förderung oder von zentraler staatlicher Anerkennung abhängt. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sie für ihre Anerkennung gesetzlich festgelegte Kriterien oder bestimmte Voraussetzungen für den Erhalt von Fördermitteln erfüllen müssen. Normativer Druck geht besonders von ihrem institutionellen Umfeld aus, d.h. den organisationalen Feldern, in die Organisationen eingebunden sind. Wenn z. B. in Organisationen ähnlichen Typs, die in Netzwerken oder Dachverbänden organisiert sind, einer bestimmten Praxis- oder Strukturform besondere Rationalität als best practice zugeschrieben wird, wird diese Praxisform als Modell wahrscheinlich von vielen Organisationen übernommen, die diesem Dachverband angehören. Diese Praxisform kann so zu einer allgemeinen Norm werden. Normativer Druck auf die Gestaltung von Organisationen wird DIMAGGIO & POWELL zufolge vor allem durch professionelle Berater ausgeübt, bzw. leiten sich normative Vorstellungen über Organisationen stark aus dem professionellen Beraterwissen ab. Eine Anpassung an erfolgversprechende Organisationsvorbilder ist vor allem bei Organisationen zu erwarten, die eher diffuse Ziele und Zwecke verfolgen und/oder in denen eine hohe Unsicherheit besteht. Sie versuchen daher bekannte Organisationsformen erfolgreicher Organisationen als Modelle zu imitieren und zu übernehmen.
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DiMaggio & Powell verstehen unter Organisationsfeldern einen Bereich von „… organizations that in the aggregate constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, resource and product consumers, regulatory agencies and other organizations that produce similar services and products” (DIMAGGIO & POWELL 1991a: 64).
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Die drei Modalitäten unter denen Vorstellungen aus den organisationalen Felder an Organisationen vermittelt werden lassen sich auch für die Untersuchung der Fallbeispiele nutzen, wenn es darum geht, die Ursprünge für Praxismodelle zu suchen, oder die Gründe und Mechanismen für die Übernahme externer Organisationsvorstellungen zu verstehen. DIMAGGIO & POWELL leiten aus den beschriebenen drei Mechanismen der Vereinheitlichung von Organisationen Prognosekriterien dafür ab, wie stark die Tendenz zum Isomorphismus in einer Organisation und zu deren relevanten organisationalen Feldern ist. Die Prognosekriterien können für unsere Untersuchung in der folgenden vereinfachten Form angewendet werden: Die Tendenz zur Isomorphie steigt in Organisationen (vgl. DIMAGGIO & POWELL 1991a: 76 ff) • je mehr eine Organisation von Entscheidungen anderer Organisationen oder von • •
• •
äußerlichen Zuwendungen von Ressourcen abhängt, je mehrdeutiger und ungewisser die Ziele oder Zwecke einer Organisation sind, je größer das Vertrauen auf akademische Zeugnisse in Organisationen und den relevanten organisationalen Feldern ist (professionelles Wissen) und die leitenden Personen in andere Organisationsfelder eingebunden sind, je stärker die relevanten organisationalen Felder zentralistisch durchstrukturiert sind oder zu staatlichen Strukturen gehören oder je weniger alternative Organisationsformen zur Verfügung stehen.
DIMAGGIO & POWELL beziehen sich mit ihrer Prognose zur der Tendenz zum Isomorphismus auf die formale Ausgestaltung der Organisationen. Sie verstehen normative Vorstellungen, die sich in Organisationsvorlagen (blueprints) oder bestimmten Modellen zeigen, ähnlich wie MEYER & ROWAN aus analytischen Gründen bewusst als kontextfreie Prototypen. Dabei räumen sie ein, dass diese Prototypen nicht vollständig imitiert, sondern im Prozess der Anwendung verändert werden: „…institutional models are unlikely to be imitated whole cloth into systems that are very different from the ones in which they originate“ (DIMAGGIO & POWELL 1991a: 29)
Die Organisationen, die in dieser Studie untersucht werden, operieren in einer ländlichen Region Boliviens und damit in soziokulturellen Kontexten, die sich von den Kontextbedingungen der Ursprungsorte ihrer Organisationsvorbilder in vieler Hinsicht stark unterscheiden. Aus diesem Grund ist es interessant, die besonderen Ansätze und Ergebnisse der Organisationsforschung in Entwicklungsländern darauf hin zu untersuchen, wie sie für die Analyse konzeptionell nutzbar gemacht werden können. Doch zunächst wird die grundlegende Bedeutung von Wissen für die Organisationspraxis erläutert.
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2.4 W ISSEN
ALS
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VON I NSTITUTIONEN
Wie bereits dargelegt wurde, sind Organisationen auf mehrfache Weise mit institutionalisierten Vorstellungen verbunden. Die formale Organisation ist selbst zu einer Institution geworden, die sich wiederum an institutionalisierten Normvorstellungen orientiert. Institutionalisierte Rollen, Strukturen der Kompetenzverteilung, Verfahrensweisen, etc. können in Organisationen eine auf Regeln gestützte Kooperationspraxis ermöglichen. Wenn in einer Organisation formale Regeln, z. B. in einer Geschäftsordnung kodifiziert vorliegen, so haben diese nicht automatisch Geltung für die in den Organisationen handelnden Mitglieder. Erst wenn die Mitglieder die Regeln der Organisation für zweckmäßig, legitim oder selbstverständlich halten, haben diese Regeln auch in der Organisationspraxis eine handlungsleitende Geltung. Wie die Mitglieder zu den formalen Regeln ihrer Organisation stehen, ist nicht zuletzt von ihrem Wissen abhängig. Jeder von ihnen hat z.B. ein bestimmtes Wissen darüber, welche Regeln des Zusammenlebenes gegeben, normal, vernünftig, zweckmäßig oder geboten sind. ALFORD und FRIEDLAND kritisieren die Verengung des Institutionenbegriffs in der neo-institutionalistischen Organisationsforschung auf formale Normen und Regeln und verweisen auf die symbolischen und materiellen Funktionen von Institution zur gesellschaftlichen Reproduktion. Sie betonen die Bedeutung organisationsübergreifender Institutionen: „Institutions are supraorganizational patterns of human activity by which individuals and organizations produce and reproduce their material subsistence and organize time and space. They are also symbolic systems, ways of ordering reality, and thereby rendering experience of time and space meaningful.“ (ALFORD & FRIEDLAND 1991: 243)
Institutionen sind demnach sowohl für die Ebene kulturell verankerter Symbolsysteme und Ordnungsschemata wichtig, als auch für die materielle Produktion und Reproduktion. Die Analyse sollte dennoch nicht – so die Autoren – auf die Funktionalität von Institutionen verengt werden. Institutionen können nicht ausschließlich von ihren Wirkungen und Funktionen her verstanden werden. Sie spiegeln kolletive Erfahrungen und allgemein gültige Ordnungsmuster wider, die auch zufällig entstanden sein können.7 Eine wissenssoziologische Herangegensweise löst das Problem der Rationalität von Organisationen so, dass Rationalität nicht als ein kontextfreies Prinzip
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Auch Mary Douglas hat darauf hingewiesen, dass Institutionen bei ihrem Auf-, Um- und Abbau eher einer kognitiven, als einer funktionalen Logik folgen und dass sich vor allem nach dem Prinzip der Kohärenz zu anderen bereits bestehenden Institutionen entscheidet, ob eine Ordnungsvorstellung institutionalisiert wird (vgl. DOUGLAS 1986: 92).
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konzipiert wird. Rationalität ergibt sich nicht aus per se geltenden Zwecken und Mitteln, sondern aus dem jeweiligen Wissen von Personen, das erst die Definition von Zwecken und Mitteln ermöglicht. Für M. COHEN, J. MARCH und J. OLSEN ergeben sich konkrete Organisationen und deren Problem- und Zieldefinitionen erst aus den bereits bekannten Problemdefinitionen und Lösungswegen, d.h. aus dem jeweils vorhandenen, sozial konstuierten Wissen. In ihrem berühmten Garbage Can Model der Organisation beschreiben sie die Entstehung von Organisationspraxis in umgekehrter Richtung zur funktionalen Perspektive: „Eine Organisation ist eine Sammlung von Entscheidungen, die nach Problemen suchen, von Themen und Gefühlen, die nach Entscheidungssituationen suchen, in denen sie Ausdruck finden können, von Lösungen, die nach Fragen suchen, auf die sie die Antwort sein könnten, und von Personen in Entscheidungspositionen, die nach Arbeit suchen“ (COHEN, MARCH & OLSEN 1990: 390).
Die provokanten Thesen von COHEN, MARCH & OLSEN werden in dieser Arbeit nicht weiter vertieft, weil sie der konkreten Handlungspraxis und dem Thema der Kooperation wenig Beachtung schenken. Dennoch bieten die Fallbeispiele in dieser Arbeit Belege dafür, dass ihre Annahmen zutreffend sind. COHEN, MARCH & OLSEN folgend, können sich Organisationen entlang einer den Mitgliedern bekannten Lösungsstrategie entwickeln, die aus dem Repertoire des lokalen Wissens der Handelnden schöpft. Solche Lösungsstrategien haben gute Chancen Zustimmung unter den Mitgliedern zu finden. Die zu Beginn des Kapitels geschilderte Szene 2 zur Organisation Amé Tauná ist ein Beispiel dafür, wie die Mitglieder nach einer längeren Kooperationsphase, die für sie sehr zufriedenstellend abgeschlossen wurde, in der Organisation nach neuen Zielen suchen, um in diesem erfahrungsgemäß bewährten Kooperationszusammenhang weiter zu arbeiten. DIMAGGIO und POWELL sehen in professionellem Wissen die relevanteste und einflussreichste Wissensart in Organisationen bzw. Organisationsfeldern (vgl. DIMAGGIO & POWELL 1991a: 70 f, 74 f). Professionelles Wissen beansprucht eine vorrangige Geltung durch seine Nähe zu wissenschaftlichem Wissen. Diesem Wissen steht in den untersuchten Organisationen das Wissen gegenüber, das die Akteure aus allen möglichen lebensweltlichen Erfahrungen ableiten, z. B. aus den Erfahrungen mit tradierten Formen der Kooperation außerhalb von Organisationen, wie auch aus individuellen Erfahrungen in anderen formalen Organisation. NEUBERT & MACAMO stellen in einer Typologie der Wissensarten wissenschaftlich generiertes Wissen als Spezialwissen dem lokalen Alltagswissen gegenüber, weil dieses Wissen sich aus anderen Quellen speist (vgl. NEUBERT & MACAMO 2005). In den hier untersuchten Fallbeispielen geht es um Spezialwissen über Organisationen. Dieses Organisationswissen kann sowohl aus wissenschaftlichem Wissen der
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professionellen Organisationsberater kommen, wie auch aus den lebensweltlichen Erfahrungen der Mitglieder abgeleitet sein, die diese in anderen Organisationen gemacht haben. Es wird sich zeigen, dass beide Wissensarten, also das professionelle Organisationswissens ebenso wie das Kooperationswissen, aus dem lokalen Alltag auf die Gestaltung der Organisation und ihre Praxis Einfluss hatte (vgl. Kapitel 8).
2.5 O RGANISATIONSFORSCHUNG E NTWICKLUNGSLÄNDERN
IN
Wie muss Organisation konzeptionell erfasst werden, damit die Praxis lokaler Selbsthilfeorganisation oder eine Genossenschaft im lokalen Kontext einer randständigen, ländlichen Region in Bolivien verstehbar wird. Die vorausgegangenen wissenssoziologischen Grundlagen der Organisation (vgl. Kapitel 2.4) legen nahe, dass der soziokulturelle Kontext wichtige Voraussetzungen für Handlungspraxis und Kooperation in Organisationen schafft. Darüber hinaus schafft die Organisationsförderung durch die Entwicklungszusammenarbeit, die in den untersuchten Fallbeispielen oft eine Rolle spielte, besondere Bedingungenfür lokale Organisationen in Enwicklungsländern. Es gibt eine ganze Reihe an sozialwissenschaftlichen Studien, die sich mit Organisationen in den Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas beschäftigen. Nur wenige davon nutzen allerdings organisationssoziologische Kategorien (vgl. CZARNIAWSKA & SEVÓN 1996, vgl. ROTTENBURG 1996). Die Organisationsforschung in Entwicklungsländern bietet interessante Ansatzpunkte der Kritik und der Reflektion im Zusammenhang mit Organisationen für die vorliegende Untersuchung der Handlungspraxis und dem Einfluss der Organisationsförderung auf lokale Organisationen in einer ländlichen Region Boliviens. Zu diesen Ansatzpunkten zählt die Kritik an wirklichkeitsfremden Konzepten der Entwicklungszusammenarbeit, die der sozialen Realität von sozialen Zusammenschlüssen vor Ort (in den „Partnerländern“) nicht gerecht werden und die Reflektion von Organisationspraxis als einer kulturellen Aneignung. Myths of community – Organisation als Folien für Machbarkeitsträume Untersuchungen, die sich mit formalen Organisationen auseinandersetzen, haben häufig eine anthropologische Ausrichtung und stützen sich auf detaillierte qualitative Langzeitbeobachtungen konkreter Organisationen, ihrer Protagonisten und ihrer Handlungsweisen. Die Analysen haben häufig einen akteurstheoretischen Hintergrund. Es werden die hinter den Handlungen stehenden sozio-kulturellen Deutungsmuster, Handlungslogiken und Machtverhältnisse herausgearbeitet. Auf formale Organisation als einem besonderen institutionellen Handlungsrahmen gehen diese Stu-
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dien jedoch nicht explizit ein. Hier ist zunächst der Sammelband „Organisationswandel in Afrika: Kollektive Praxis und kulturelle Aneignung“ (VON OPPEN & ROTTENBURG 1995) zu nennen. Die Autoren beschäftigen sich beispielsweise mit Fragestellungen wie der Existenz und Bedeutung von informellen Beziehungen in formalen Organisationen (ROTTENBURG 1995), der Bedeutung der Zweckrationalität von Organisationen in Afrika (vgl. WILD 1995) oder der Erfindung bzw. der gesellschaftlichen Konstruktion von Dorfgemeinden in Tansania als harmonische und ursprüngliche Gemeinschaften (VON OPPEN 1995). Darüber hinaus wird der spezifische Charakter des Organisationstyps der NRO beleuchtet (NEUBERT 1995 und GROFFEBERT 1995). VON OPPEN setzt sich am Beispiel tansanischer Landgemeinden mit dem sprichwörtlich gewordenen „Myth of community“ auseinander (vgl. GUIJT & KAUL SHAH 1998). Gemeinsam ist den Autoren ein kritisches und differenziertes Organisationsverständnis, das normative bzw. ideologische Annahmen über formale Organisation herausarbeitet und der untersuchten Realität gegenüberstellt. Die Herangehensweise und Ergebnisse der anthropologischen Organisationsforschung in Entwicklungsländer zeigt überraschend viele Übereinstimmungen mit neo-institutionalistischen Organisationsforschung, obwohl erstere eher qualitativ und an Fallbeispiele arbeitet. Es wird z.B. auch auf die Unterschiede zwischen der „Fassade“ der Organisationen und der Wirklichkeit der tatsächlichen internen Interaktion in der Organisation hingewiesen. Auch wird die Bedeutung von Legitimitätsdiskursen in Organisationen analysiert. Dabei werden allerdings – anders als in der üblichen neoinstitutionalistischen Forschung – verschiedene Bedeutungsebenen detailliert herausarbeitet, die für Handlungs- und Interpretationsweisen in Organisationen relevant sind. MONIQUE NUIJTEN kritisiert in ihrer Untersuchung eines Ejido, einem Organisationstyp mit historischen Ursprüngen in der „institutionalisierten“ mexikanischen Revolution, die mangelnde Eignung dieser Organisationsform für die soziale Realität der Bauern (vgl. NUIJTEN 2003). Sie rekonsturiert die Handlungslogiken verschiedener Akteursgruppen des ejido. NUIJTEN diskutiert ihre Befunde auf der Grundlage postmoderner und poststrukturalistischer Theorieansätze (z. B. FOUCAULT) und der Metapher der Schnittstelle von NORMAN LONG. Sie hebt hervor, dass die Mitglieder eines Ejidos oft nicht formalisierte Formen der Kooperation bevorzugen um ihre partikularen materiellen Interessen und Ziele, wie zum Beispiel Zugang zu Landbesitz, zu erreichen und sich der Kontrolle des Staates zu entziehen. Im Rückgriff auf die Arbeiten von JAMES SCOTT und NORMAN LONG kritisiert NUIJTEN die ihrer Meinung nach unrealistischen Ansprüche an Transparenz bzw. Kontrolle, Rationalität, Effizienz und Formalität in der formalen Organisationen des Ejido, die vom Staat an die Organisationen und ihre Mitglieder gestellt würden. Ihr Befund, dass die reale Praxis
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der untersuchten Organisationen nicht den Weberschen Idealtypen der bürokratischen Herrschaft und der Zweckrationalität8 entspricht, entspricht den viel diskutierten Organisationsforschungen von COHEN, MARCH und OLSEN (1990) oder KARL WEICK (1995), die in Industrieländern seit den 1960er Jahren darauf hinweisen, dass in der Praxis von Organisationen nur wenig so läuft, wie es von den formalen Strukturen und dem offiziellen Erscheinungsbild dieser Organisationen vorgeschrieben wird. In so gut wie allen Organisationen lassen sich Unterschiede zwischen offiziellen Handlungsstandards und informellem Handeln beobachten. RICHARD ROTTENBURG thematisiert, wie sich die Akteure der Projektorganisation mit den vor Ort herrschenden Machtstrukturen und Umgangsformen wie z.B. Patronage und Klientelismus ihren eigenen Interessen folgend arrangieren (vgl. ROTTENBURG 1995; 1996). Das Ideal der rationalen formalen Organisation wird vom Autor als Maßstab und Referenzmodell aufgefasst, das seinen Beobachtungen entsprechend der lokalen Kultur fremd bleibt bzw. in einem grundsätzlichen Widerspruch zu den lokalen Handlungslogiken steht. Sowohl ROTTENBURG als auch NUIJTEN erklären die Praxis der von ihnen untersuchten Organisationen hauptsächlich mit den Eigeninteressen, die die Beteiligten vorrangig verfolgen. Darüber hinaus erscheint die formale Organisation von ROTTENBURG und NUIJTEN als eine aufgezwungene, d.h. vor Ort ungewollte und kulturell nicht kompatible soziale Form. Das Argument, dass Organisationsformen auf lokaler Ebene „nicht funktionieren“, weil sie den Menschen und der lokalen Kultur „fremd“ seien, ist sowohl unter Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit, wie auch in wissenschaftlichen Arbeiten zu finden. In der Empirie lassen sich Gegenbeispiele finden von Kooperativen, Betrieben und Gewerkschaften heranziehen, die in „anderen“ lokalen Kontexten ihre Ziele relativ erfolgreich verfolgen (vgl. HIRSCHMAN 1989). Die Fremdheit einer Organisationsform in ihrem gesellschaftlichen Kontext ist meiner Ansicht nach eine unbefriedigende Erklärung dafür, dass sie nicht angeeignet werden kann. Formale Organisation als fremde kulturelle Praxis Der mexikanische Anthropologe GUILLERMO BONFIL BATALLA entwickelte im Hinblick auf postkoloniale Gesellschaften ein Analyseschema für kulturelle Elemente und versteht Kultur in einer systemischen Perspektive (vgl. BONFIL BATALLA 1987). Für ihn können kulturelle Elemente sowohl Materialien (natürliche oder produzierte Güter), als auch immaterielle Organisationsformen (von ihm eher allgemein verstan-
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Die oben genannten Arbeiten beziehen sich in kritischer Absicht auf ein stark vereinfachtes Konzept von Zweckrationalität von MAX WEBER. Dabei wird WEBERS eigene kritische und differenzierte Haltung zu Zweckrationalität und bürokratischer Herrschaft allerdings übersehen.
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den als systematische soziale Partizipationsbeziehungen), Wissen, symbolische Ordnungen oder emotionale Werte und Motive sein, die im lokalen Kontext als Ressourcen potenziell nutzbar sind. BONFIL BATALLA untersucht eine Kategorie, die er „Volkskultur“ nannte und meint damit die kulturelle Praxis der „clases subalternas“. Damit legt er seiner Analyse ein klassentheoretisches Modell zugrunde, ähnlich wie CHAKRABARTY und andere Vertreterinnen der Subaltern Studies. Die Volkskultur entsteht komplementär zur Kultur anderer „Klassen“ in einer Gesamtgesellschaft. BONFIL BATALLA entwickelt eine Theorie der kulturellen Kontrolle, die darüber entscheidet, ob ein fremdes Kulturelement fremd und im Ergebnis „aufgezwungen“ oder aufoktroyiert (impuesto) bleibt, oder im positiven Fall angeeignet (apropiado), im negativen Fall abgelehnt werden kann (rechazado). Den entscheidenden Unterschied zwischen Aneignung und Aufgezwungenheit fremder kultureller Praxis sieht BONFIL BATALLA in der kollektiven Entscheidungsmöglichkeit über die Anwendung einer von außen kommenden Praxis. Auch wenn es keine kulturelle Kontrolle gibt, d.h. für eine Gemeinde eine kollektive Entscheidungsmöglichkeit besteht, kann durch Aneignung auch die „eigene“ Kultur verdrängt, entfremdet oder entwertet werden, beispielsweise durch kommerzielle Instrumentalisierung kultureller Artefakte (Folklore)9. Es wird deutlich, dass nicht nur die clase subalterna, sondern auch andere Klassen bzw. Macht- und Interessengruppen dazu beitragen, ob und wie kulturelle Kontrolle ausgeübt werden kann. BATALLAS Konzept der Aneignung und der kulturellen Kontrolle bleibt zu abstrakt, um für eine empirische Untersuchung von Organisationspraxis direkt nutzbar zu sein. Doch richtet BATTALA seinen Blick bereits auf die konkreten Akteure in konkreten historischen Situationen. Die kann auch über das Konzept der products of modernity von MACAMO und NEUBERT geschehen, das im nächsten Abschnitt eingehender erläutert wird. Das Konzept der products of modernity enthält sich normativer und klassentheoretischer Begrifflichkeiten und hat dennoch einen gesellschaftstheoretisch fundierten Blick auf die Akteure in Organisationen.
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Für die Untersuchungsregion untersucht die Studie von Peter Strack wie die Vertreter der lokalen Machtgruppe (Militär und Regierungspartei) in San José de Chiquitos versuchen, über Ablaufveränderungen die symbolische Ordnung bei den religiösen Osterfeierlichkeiten umzudefinieren, die eigentlich gemäß der lokalen Tradition unter der Kontrolle der indigenen Chiquitanos im cabildo der Gemeinde steht. Diese protestieren und wehren sich vehement gegen diesen Versuch der Instrumentalisierung und Entfremdung kultureller Praxis, bei dem ihnen ihre symbolische Macht streitig gemacht werden sollte. (vgl. STRACK 1991).
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Die kulturelle Aneignung der Organisation: Von products of modernity, travelling ideas und anderen Metaphern In der neueren Globalisierungsforschung in Afrika das von BATTALLA verwendete Konzept der kulturellen Aneignung aufgenommen, wenn es um die Untersuchung von Prozessen der lokalen Integration fremder Güter als kultureller Elemente geht (vgl. SPITTLER 2002 und BECK 2001). SPITTLER weist darauf hin, dass im Zuge der lokalen Aneignung häufig eine Umdeutung des fremden Gutes vorgenommen wird und es an lokale Verhältnisse angepasst wird. Beispiele für die Aneignung kultureller Elemente sind beispielsweise Kleidung, aber auch die symbolische Kleiderordnung, die durch Missionare eingebracht wurden. BECK analysiert Prozesse der kulturellen Aneignung am Beispiel der Nutzung und Verwaltung einer technisch relativ komplexen Maschine für die landwirtschaftlich wichtige Bewässerung. Es wird deutlich, dass symbolische Ordnung und soziale Positionen im Zuge der Aneignung in Frage gestellt werden können. Auf der gesellschaftstheoretischen Makroebene vollziehen sich Prozesse der kulturellen Aneignung nicht in machtneutralen Räumen. Insbesondere in Lateinamerika haben sich seit den Arbeiten von BATALLA inzwischen eine vielfältige Forschung und Theoriedebatte zur Eingebundenheit von kulturellen Aneignungsprozessen in globale Machthierarchien enwickelt, die z. B. WALTER MIGNOLO als geopolitics of knowledge bezeichnet hat (vgl. MIGNOLO 2000 und 2010). Die in der vorliegenden Arbeit gestellte Frage nach dem Zustandekommen und der Förderbarkeit von institutionalisierter Praxis in einzelnen Organisationen, interessiert sich hingegen zunächst für die Mikropraxis und kann durch den Vergleich einer größeren Anzahl von unterschiedlichen Fallbeispielen auch auf theoretische Angebote der Mesoebene reagieren, bzw. diese nutzen, wie zum Beispiel das folgende Konzept. ELISIO MACAMO und DIETER NEUBERT ordnen den Aneignungsprozess von Ideen und Waren, deren Ursprünge in der westlichen Industriegesellschaft liegen, mit dem Konzept des products of modernity in einen weitergehenden gesellschaftstheoretischen Rahmen ein. Sie betonen, dass der Gebrauch bzw. die Aneignung oder die Zurückweisung von Produkten der Moderne außerhalb westlicher Industriegesellschaften nicht nur aus ihrem unmittelbaren Nutzen, sondern erst unter Berücksichtigung der weitergehenden Konsequenzen für ihre Nutzer zu verstehen ist (MACAMO & NEUBERT 2008: 283). Der Begriff der Moderne bezeichnet in diesem Zusammenhang eine besondere historische Konstellation sozialer Strukturen und Institutionen im Sinne GIDDENS10, die sich auf die Merkmale der kapitalistischen und industriellen 10 Giddens charakterisiert vier institutionelle Dimensionen, in denen sie die Moderne entfaltet hat: Kapitalistische Produktionsverhältnisse, industrielle Produktionsweise, die durch technische Möglicheiten stark erweiterten Überwachungsmöglichkeiten des Staates, und das staatliche Gewaltmonopol (vgl. GIDDENS 1996: 75-92).
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Produktion, der Überwachungs- und Kontrollkapazität, sowie des Gewaltmonopols des Staates beschränkt (MACAMO & NEUBERT 2008: 274). Der Begriff der Moderne dient hier als analytische Kategorie und ist nicht mit normativen Erwartungen oder deterministischen Annahmen verknüpft. „… democracy, human rights or the rule of law (…) are explicitly not incluced in Giddens´concept of modernity. He makes clear that modernity is not a normative goal, but a process that creates typical institutions and structures. As such, it is full of ambiguities in its outcomes.“ (MACAMO & NEUBERT 2008: 278)
Anders als in vielen Modernisierungstheorien lässt ein solches Verständnis der Moderne die Möglichkeit der ständigen (Weiter-)Entwicklung vielfältiger, widersprüchlicher und wenig vorhersehbarer Modernen zu (vgl. EISENSTADT 2002). MACAMO und NEUBERT weisen darauf hin, dass der Gebrauch von Produkten der Moderne nicht unproblematisch ist und dass er Konsquenzen hat. Zu den von ihnen prognostizierten Konsequenzen und Implikationen des Gebrauchs von Produkten der Moderne zählen (1) der Anstieg an Komplexität bei der Entscheidungsfindung und die Notwendigkeit von Expertensystemen, d.h. eine bestimmte Infrastruktur für Informationen und Spezialwissen, (2) die ideelle und ideologische Ladung, (3) das steigende Risiko der Abhängigkeit, und (4) die Herausforderung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Ob und wie sich die Akteure formale Organisation als ein product of modernity aneignen, kann damit von Fall zu Fall sehr unterschiedlich ausfallen. MACAMO & NEUBERT schlagen vor, den lokalen Umgang mit global verbreiteten Dingen und Ideen, d.h. ihre Aneignung oder Zurückweisung vor dem Hintergrund ihrer Auswirkungen auf die lokalen sozialen Verhältnisse zu sehen. In der vergleichenden Auswertung der Fallbeispiele bietet das Konzept der products of modernity einen Erklärungsansatz für die stark variierende Praxis der untersuchten lokalen Organisation (vgl. Kapitel 8). Dazu ist an dieser Stelle anzumerken, dass der sozio-historische Kontext der Region, in der die Fallbeispiele dieser Arbeit sich abspielen, das ostbolivianische Tiefland, nicht als ein „nicht-moderner“, sondern eher als transmoderner Raum charakterisiert werden muss (vgl. DUSSEL 2000).11 Aufgrund des langen Kontaktes mit Missionaren und der spanischen Kolonialmacht haben sich in Velasco und der Chiquitania über die Jahrhunderte spezifische Formen des Umgangs mit fremden normativen Institutionen entwickelt (vgl. die historische Analyse in Kapitel 4) ohne die die Aneignungsprozesse von heute nicht erklärt werden können. Anknüpfungspunkte für das in dieser Untersuchung verfolgte Interesse an der konkreten Handlungspraxis lokaler Organisationen, die durch Förderung und andere Einflüsse von außen mit globalisierten Modellvorstellungen konfrontiert sind, bietet 11 Vgl. hierzu auch die Rezeption der Modernitätsdiskussion in Bolivien bei FARAH & GIL 2015.
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eine besondere Richtung der neo-institutionalistischen Organisationsforschung. Der Umgang mit Organisationsmodellen wird im „skandinavischen Neo-Institutionalismus“ unter der Metapher der travelling ideas untersucht (vgl. CZARNIAWSKA & SEVÓN 1996a; CZARNIAWSKA & JOERGES 1996; SAHLIN-ANDERSSON 1996; ROTTENBURG 1996). Die Verbreitung von Organisationsvorbildern wird als ein Wechselspiel aus Ideen, die zu Objekten geworden, aus ihrem ursprünglichen raumzeitlichen Kontext herausgelöst wurden, und in ganz anderen Kontexten wieder in Handlungen übersetzt werden und danach wieder als Ideen verdinglicht werden. „We began our story in local time/space – an idea is objectified at a given place and moment – and then followed it through different moments and places into a global time/space, speculating about the means by which it travels.“ (vgl. CZARNIAWSKA & JOERGES 1996: 39)
Die Autoren des Konzeptes zeigen anhand verschiedener Beispiele, wie die travelling ideas an verschiedenen Orten in Handlungen übersetzt werden und dass dabei kulturelle Interpretationen notwendig sind (vgl. CZARNIAWSKA & JOERGES: 46). Die Autoren dieser Gruppe verwenden verschiedene weitere Metaphern. SAHLINANDERSSON spricht von einem editing erfolgreicher Organisationsvorbilder, wenn es um die kulturelle Interpretation und Übersetzung von Ideen geht. Vom editing hängt z.B. auch die Formulierung von Problemen ab, denen sich Organisationen widmen. Die Autorin weist darauf hin, dass verschiedene Editierungsregeln verwendet werden, u.a. auch Editierungsregeln des lokalen Kontextes (vgl. SAHLIN-ANDERSSON 1996). ROTTENBURG untersucht travelling modells anhand der Entwicklung eines Transportunternehmens im Sudan. Er betont, dass dabei das Bürokratiemodell und das Modell formaler Organisation die soziale Ordnung des Unternehmens bestimmen. Andererseits relativiert sich diese Eindeutigkeit, wenn er analysiert, wie in der von ihm untersuchten Organisation Legitimationsdiskurse und Praxis scharf auseinander fallen (vgl. ROTTENBURG 1996: 197). Bei der Umformung von Ideen in Handlungen, verwendet ROTTENBURG die Metapher der intercultural translation. Konkrete lokale Organisationen sieht er als zones of permeation, in denen immer nur zeitlich begrenzte Kompromisse geschlossen werden ((ROTTENBURG 1996: 212). Die Übersetzungsprozesse werden seiner Analyse zufolge, stark von mikropolitischen Strategien (politica-cultural strategies) der beteiligten Akteure dominiert, die sich dabei verschiedene, sich teilweise widersprechende Legitimitätsdiskurse zunutze machen. Der Erklärungsansatz ROTTENBURGS argumentiert eher implizit als explizit sehr stark mit den Eigeninteressen der Akteure. In den Fallbeispielen dieser Arbeit sind dem gegenüber Handlungsweisen zu beobachten, die – aus der Perspektive des externen Beobachters – den „ureigensten“ Interessen der Akteure geradezu entgegenlaufen, wenn die Mitglieder z.B. Missmanagement und Missbrauch von Ressourcen
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in Organisationen scheinbar bewusst tolerieren und auf Kontrollmöglichkeiten verzichten.12 Im Untersuchungskontext ist es zudem problematisch, empirisch zu rekonstruieren, wie die beteiligten Akteure im Einzelfall ihre Interessen definieren würden (vgl. Kapitel 2). Die Vorstellung von travelling ideas und deren lokaler Übersetzung in die Praxis lokaler Organisationen wird auf etwas andere Weise weitergeführt, indem nach den für die Übersetzung relevanten Wissensarten und Wissensbestände gesucht wird. Dabei wird dem lokalen Alltagswissen über Formen der Kooperation und dem spezifischen Organisationswissen einzelner Akteure besondere Beachtung geschenkt. Es muss hier eingeräumt werden, dass an einigen Punkten auch Motive und Interessen der Akteure rekonstruiert werden, wenn es z.B. darum geht, das Verhältnis der Mitglieder zu den Zielen der Organisation zu analysieren oder die Motive für die Bereitschaft der Mitglieder zu ergründen, an die Organisation Beiträge zu leisten.
2.6 D REI U NTERSUCHUNGSPERSPEKTIVEN FÜR O RGANISATIONEN Der im Folgenden vorgestellte Analyserahmen soll die Untersuchung der Faktoren ermöglichen, die für das Verständnis der regelmäßigen Handlungspraxis lokaler Organisationen von Bedeutung sind. Dieses Verständnis zu befördern steht im Mittelpunkt des Interesses dieser Arbeit. Mit diesem Analyseraster werden später in den Kapiteln 5 – 7, und vergleichend in Kapitel 8, die Fallbeispiele lokaler Organisation genauer in den Blick genommen. Der Analyserahmen verknüpft dabei dreierlei Perspektiven: (1) Organisationen werden als System verstanden, deren fünf Kernelemente nach RICHARD SCOTT ein erste Annäherung ermöglichen; diese fünf Kernelemente moderner Organisation werden später für die untersuchten Fallbeispiele im Detail analysiert. Die Systemperpektive wird dann ergänzt durch (2) eine Rekonstruktion der verschiedenen Wissensarten und Handlungslogiken, die ihrerseits mit der systemischen Logik der Or-
12 Aus neo-institutionalistischer Perspektive kann man an dieser Stelle auch auf das Argument von Meyer und Jepperson verweisen, die „Akteure“ und agency für kulturelle Konstruktionen der modernen Gesellschaft erklären (vgl. MEYER & JEPPERSON 2005: 47-84). Friedland und Alford haben zur Rekonstruktion von Nutzen darauf hingewiesen, dass die Organisationsforschung diese nicht objektiv voraussetzen kann, sondern dass sich Nutzen nur von gesellschaftlichen Institutionen ableiten (vgl. Kapitel 8.5). Auch die vorliegende Untersuchung nutzt ein Akteurskonzept; sie versucht jedoch bei ihrer Analyse eine stärkere Verknüpfung der Handlungsebene mit den strukturellen Bedingungen zu verfolgen (vgl. FRIEDLAND & ALFORD 1991: 234).
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ganisation in Beziehung gesetzt werden. Dies ermöglicht es z.B. die sozialen Konsequenzen einzuschätzen, die eine aktive Mitgliedschaft in formalen Organisationen mit sich bringt, oder die Haltung der Mitglieder zu ihrer Organisation zu verstehen. Schließlich werden (3) die Veränderungen der Organisation und die Entwicklung der Organisationspraxis nach Möglichkeit auch im zeitlichen Verlauf beobachtet. Im Folgenden werden diese drei Perspektiven einzeln dargestellt. Der aus drei Perspektiven gespeiste Analyserahmen dieser Arbeit mag zunächst sehr kompliziert erscheinen. Ich hoffe aber am Ende der Arbeit meine Leser davon überzeugt zu haben, dass diese Komplexität für das Verständnis lokaler Organisationspraxis – zumindest in Kontexten, in denen formale Organisation noch nicht selbstverständlich sind13 – fruchtbar und notwendig ist, um das Geflecht von Faktoren erhellen zu können, die auf und in Organisationen wirken und ihre Mitglieder antreiben. Dafür wird in diesem Abschnitt zunächst das Systemmodell der Organisation von RICHARD SCOTT eingeführt. Anschließend werden die zwei weiteren Untersuchungsperspektiven der Handlungs- und der Prozessebene erläutert und schließlich in ein Gesamtmodell integriert. 2.6.1 Die Systemperspektive nach SCOTT Systemmodelle ermöglichen es, jede konkrete formale Organisation in einzelne Komponenten zu zerlegen und die sozialen Wirkungen in zwei Richtungen zu untersuchen. Zum einen können die Wirkungen, die Veränderungen einer Komponente auf die jeweils anderen haben, untersucht werden. Zum anderen können die Einflüsse der der Umwelt auf die Systemkomponenten betrachtet werden. Diese Sichtweise ist gerade dann geeignet, wenn die Rolle von Fördermaßnahmen und die Bedeutung des lokalen Kontextes von Organisationen untersucht werden soll, wie in der vorliegenden Untersuchung. Die durch die Einbeziehung dieser Umwelten erreichte Komplexität des Gegenstandes Organisation kann mit Hilfe eines Systemmodells systematisch analysiert werden. RICHARD SCOTT konzipiert Organisationen als natürliche, d.h. nicht vollständig rationale und als offene Systeme, d.h. als Systeme, die in Wechselwirkungsbeziehungen mit ihrer Umwelt stehen. Das System der Organisation besteht aus vier Komponenten, die jeweils mit ihrer Umwelt in Beziehung stehen (SCOTT 1986): • • • •
Soziale Ordnung Beteiligte und Mitglieder Ziele Technologie
13 Dies gilt m.E. auch für Kontexte und Gruppen mit sehr niedrigem Organisationsgrad in Ländern der OECD.
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Diesen vier Komponenten der Organisation stehen auf unterschiedliche Art mit ihrer Umwelt bzw. verschiedenen Umwelten in Verbindung. Vor dem Hintergrund der Frage nach lokalem Kontext und externer Förderung wird in dieser Arbeit zwischen der von der Organisationstheorie herausgearbeiteten institutionellen Umwelt von Organisationen, z. B. den Organisationsfeldern, zu denen Organisaitonen in Beziehung stehen und der lokalen Umwelt unterschieden. Der Zuschnitt der Komponenten hat sich für die vorliegende Untersuchung der kooperativen Organisationspraxis bewährt. Das Modell ist pragmatisch, es beansprucht keine tiefergehende theoretische Geltung. Für die hier verfolgten Fragen, ist das Modell geeignet, weil m. E. alle wesentlichen und wirksamen Faktoren durch die Betrachtung der Komponenten jeweils in ihren operativen, materiellen und symbolischen Zusammenhängen betrachtet werden können. Nach meinem Verständnis, wäre es durchaus möglich und zulässig, die Grenzen zwischen einzelnen Komponenten auch anders zu ziehen oder das Modell aus heuristischen Gründen zu verändern. Soziale Ordnung Zur sozialen Ordnung bzw. Sozialstruktur zählt Scott sowohl die gesamte normativen Elemente einer Organisation, die ein mehr oder weniger kohärentes System organisationsspezifischer Überzeugungen, Regeln und Vorschriften als auch durch „generalisierte Regeln der Verhaltenssteuerung“, d.h. nicht spezifischer, sondern allgemein geltender Regeln, gebildet wird (SCOTT 1986: 36). Er unterscheidet zwischen einer vertikalen Ordnung mit Macht-, Rang- oder Statuspositionen und einer horizontalen Ordnung, in der funktionale Positionen verteilt sind. Zur sozialen Ordnung gehören für Scott nicht nur die offiziellen und explizit gemachten Positionen, Regeln, Rollen und Rollenvorschriften einer Organisation, sondern auch die impliziten und unbewusst befolgten pragmatischen, gewohnheitsmäßigen und normativen Orientierungen der Handelnden, die ebenfalls Kompetenzen, Status und Rangpositionen zuordnen. Die offizielle normative Struktur einer Organisation kann sich also von der „faktische Verhaltensordnung“ 14 der Organisationspraxis deutlich unterscheiden. Während sich die offiziellen Positionen normalerweise
14 SCOTT benutzt hier den Begriff Verhalten (behaviour), der sich allgemein auf jegliche Aktivität eines Organismus bezieht und im soziologischen Zusammenhang stärker die soziale Steuerung von Aktivitäten betont, z.B. im Sinne von erlerntem Verhalten. In dieser Arbeit wird der Begriff Handeln (agency) bevorzugt, der die Seite der subjektiven Sinngebung von Aktivitäten betont. Dennoch soll auch die soziale Bedingtheit der Handelnden berücksichtigt werden, z. B. in der Bezugnahme auf institutionalisierte Vorstellungen. Handlungen, die als typisch bezeichnet werden können, lassen eine starke Orientierung an
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aus Plänen, Regeln, Rollenvorschriften der Organisationen ableiten, ist das soziale Handeln der Organisationsmitglieder in der alltäglichen Praxis der Organisation oft durch ein komplexeres Geflecht von Handlungsorientierungen und Interessen bestimmt, wie z. B. kollektiven moralischen Standards, aber auch pragmatischen Erwägungen, partikularen Interessen von Einzelpersonen oder Interessengruppen in der Organisation. Daraus folgt, dass die faktischen Macht- und Statuspositionen in der Organisation sich nicht allein aus den offiziellen Kompetenzverteilungsplänen ergeben oder statisch an diese gebunden wären. Chancen der Einflussnahme und Machtausübung in der Organisation sind dynamisch. Sie können auf unterschiedlichen Referenzrahmen der sozialen Ordnung beruhen und sich in bestimmten Situationen und Konstellationen ergeben. Auf die soziale Ordnung der Organisation haben nicht nur die organisationsspezifischen Strukturen einen Einfluss, sondern auch allgemeine Regeln und Normen und die faktische soziale Ordnung des lokalen Kontextes, die Teil der Normalitätsdefinitionen und normativen Überzeugungen der handelnden Organisationsmitglieder sind. Auf die faktische Verhaltensordnung der Organisation wirken nach SCOTT sowohl offizielle bzw. explizite und bewusst gestaltbare Ordnungsfaktoren, wie auch alltägliche bzw. implizite Faktoren, die Rang- und Statuspositionen und Machtchancen verleihen. Die in der Organisationsforschung oft so stark betonte Unterscheidung zwischen formellem und informellem Handeln verliert im Systemmodell an Bedeutung. Die faktische Verhaltensordnung ist immer ein Ergebnis des Abwägens der Akteure zwischen expliziten und impliziten Strukturelementen. Aus einer systemischen Perspektive ist die Differenz zwischen offizieller formaler „Fassade“ (MEYER) und informeller Handlungs-„Wirklichkeit“ bzw. deren oft nur loser Kopplung (WEICK) keine besonders überraschende Entdeckung. Im systemischen Verständnis nach SCOTT bildet sich die spezifische Sozialstruktur einer konkreten Organisation aus dem Spannungsverhältnis zwischen beiden heraus. Mitglieder und Beteiligte Diese Komponente umfasst die Personen, die in Organisationen agieren und diese mitgestalten. SCOTT unterscheidet zwischen „Mitgliedern“ und „Beteiligten“. Beteiligte sind alle, die einen Beitrag für den Fortbestand der Organisation leisten (z.B. Kunden einer produzierenden Organisation; Spender, Unterstützer und Berater von gemeinnützigen Organisationen) von eingeschriebenen „Mitgliedern“, die ebenfalls Beiträge leisten können, die aber über ihre formale Zugehörigkeit, die Organisation
verallgemeinerten Ideen und Vorstellungen vermuten. Sie werden dann hier als Handlungsweisen bezeichnet. Im Gegensatz zum Begriff Verhaltensmuster, soll mit diesem Begriff auf die Dimension der Motivation und subjektiven Sinngebung bei sozialem Handeln (vgl. JOAS 1984: 210 f) hindeuten.
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ausmachen und ihr bereits darüber Bedeutung verleien. Diese Unterscheidung ist allerdings nicht sehr trennscharf. In den Fallbeispielen der zwei Selbsthilfeorganisationen (vgl. Kapitel 5) sind mithelfende bzw. mit der Organisation regelmäßig kooperierende Familienangehörige wichtige Beteiligte, die von der Mitarbeit der formalen Mitglieder in vielen Aspekten kaum zu unterscheiden sind. Ziele Organisationen zeichnen sich durch dauerhafte und explizit formulierte Ziele oder Zwecke aus. Bezüglich der Ziele und Erwartungen an eine Organisation verweist SCOTT auf Gesellschaft, Organisation und interessierte Akteure, die jeweils unterschiedliche Vorstellungen und Interessen haben können. So kann es auf gesellschaftlicher Ebene formulierte Ziele und Erwartungen geben. Die Organisation selbst kann primäre Zielen und nur mittelbar relevante Sekundär oder auch Teilziele verfolgen. Untergruppen oder einzelne Akteure in der Organisation können partikulare Ziele verfolgen. So kann zum Beispiel die gesellschaftliche wichtigste Funktion einer Produktionsgenossenschaft wie im Fallbeispiel der Organisation MINGA (vgl. Kapitel 6) kann in der Erhöhung und Diversifizierung der regionalen agrarwirtschaftlichen Produktion oder in der Schaffung von Einkommensmöglichkeiten für ärmere Bevölkerungsschichten liegen. Das primäre Ziel der Gesamtorganisation kann die Selbsterhaltung, die Mehrung von Mitgliedern oder die Erbringung bestimmter Leistungen für die Mitgliedsfamilien durch Produktion und Vermarktung von landwirtschaftlichen Gütern sein. Ein Teilziel dieser Organisation ist beispielsweise die Vermarktung von zertifiziertem Biokaffee. Ein Sekundärziel von MINGA ist die Vermehrung der agrarökologischen Kenntnisse ihrer Mitglieder, die für die ökologisch nachhaltige Produktion sowie für die Reputation der Organisation wichtig ist. Diese Auffächerung unterschiedlicher Zielformulierungen und -interessenebenen ist für das Verständnig der faktischen Organisationspraxis wichtig. Da in der Praxis alle diese Ziele einen Einfluss auf die Etablierung von regelmäßigen Handlungsweisen und Handlungserwartungen haben können. So ist die aufwendige Produktion von Biokaffee nicht unbedingt ein Ziel, das im direkten Interesse der Mitgliedsgruppen der genossenschaftsähnlichen Vereinigung MINGA liegt. Für die Anerkennung als entwicklungspolitisch relevante Organisation und für die Chancen auf Förderung kann das Ziel dennoch sehr wichtig sein, und die daraus folgenden Restriktionen können von den Mitgliedern mehr oder weniger pragmatisch in Kauf genommen werden ohne für sie eine normative Bedeutung zu haben. SCOTT misst den unterschiedlichen Zielen, die für Organisationen relevant sind, große Bedeutung bei. Die Frage, wie sehr Organisationen sich über ihre offiziellen Ziele definieren, bleibt in seinem Systemmodell offen. Da unter den Systemkomponenten keine Rangfolge oder einseitige Kausalitätsbeziehungen angenommen wer-
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den, kann auch offen gelassen werden, ob Ziele oder Problembewältigung der Ausgangspunkt für die Entstehung von Organisationen sind, oder eher im Nachhinein gefunden bzw. formuliert werden. Für die hier zu untersuchenden Fallbeispiele hat sich diese Eigenschaft des Systemmodells als besonders realitätstauglich erwiesen. Die offiziellen Ziele mancher Organisationen sind nur vordergründig von Bedeutung und für ein externes Publikum klar definiert. Selbst für die aktiven Mitglieder sind sie in manchen Fällen überraschend wenig relevant. In einigen Organisationen wurden an den offiziellen Zieldefinitionen erhebliche Änderungen vorgenommen. Technologie (Strategie) Mit dem Hinweis auf Technologie als einem weiteren Kernelement formaler Organisation unterstreicht SCOTT die Vorstellung, dass jede Organisation eine Art Transformation („Arbeit“) leistet. Unter Technologie versteht SCOTT die für die Organisation zugänglichen und nutzbaren bzw. real genutzten Kenntnisse und Fähigkeiten ihrer Mitglieder, Werkzeuge/Instrumente, Einrichtungen der Infrastruktur. Technologie hat für SCOTT materielle wie immaterielle bzw. symbolische Qualitäten. Im Begriff der Technologie wird die starke Bedeutung der Verfügbar von Know How, speziellem Wissen und instrumentellen Fähigkeiten innerhalb der Organisation deutlich. Da bestimmte Technologien in der Regel mit bestimmten Strategie verbunden sind, werden in der Untersuchung beide Begriffe verwendet, je nachdem, ob es stärker um die Ausstattung und Verfügbarkeit von materiellen Ressourcen, vorgefertigten Instrumenten und Wissen geht oder um das mehr oder weniger geplante längerfristig Anstreben bestimmter Ziele geht. Beide Bereiche sind kaum von einander zu trennen. Umwelt Als Umwelt einer Organisation versteht SCOTT alle Einflussfaktoren und Beziehungen, die außerhalb der Organisation existieren und auf diese einwirken. Er betont die grundsätzlich starke Umweltabhängigkeit von Organisationen und zeigt damit seine Übereinstimmung mit der neo-institutionalistischen Position in der Organisationssoziologie: „Keine Organisation ist autark, d.h. aus sich heraus lebensfähig. Allesamt sind sie in ihrem Überleben von den Beziehungen abhängig, die sie zu den größeren Systemen, deren Teil sie sind, herstellen.“ (SCOTT 1986: 41)
Dem Systemmodell folgend kann der Einfluss der Umwelt auf die lokalen Organisationen über die vier zuvor genannten Kernelemente – soziale Ordnung (Sozialstruktur), Mitglieder, Ziele und Technologie – systematisch untersucht werden. Im Bereich der sozialen Ordnung wirken kulturelle Werte der lokalen Umwelt wie auch der
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institutionellen Umwelt der Organisationen, soziale Regeln und Normen und allgemeine Vorstellungen und Erwartungen sowie bestimmte soziale Rollendefinitionen in die Organisation hinein. Die Mitglieder sind vor allem durch ihre Sozialisation in der lokalen sozio-kulturellen Umwelt geprägt und machen diese Werte und Orientierungen auch in der Organisationspraxis geltend.15 Auch die Ziele der Organisation stehen in Beziehung zu den allgemeinen Tendenzen in der lokalen sozio-kulturellen oder der institutionellen Organisationsumwelt. Je nachdem, ob eine Organisation lokale oder gesamtgesellschaftliche oder im institutionellen Umfeld besonders anerkannte oder eher gegenläufige Ziele verfolgt, wird sie wahrscheinlich mit Bereitschaft zur Untersützung oder eher mit Abgrenzung konfrontiert sein. Ebenso ist auch die Technologie in einer Organisation nicht unabhängig von den Veränderungen und Innovationen in ihren jeweiligen Umwelten. In der folgenden Abbildung 1 sind die fünf Kernelemente nach SCOTT nochmals in einem Bild zusammengefasst. Die hinzugefügten gestrichelten Pfeile verweisen auf die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen Organisation und Umwelt über ihre einzelnen Kernelemente.
15 Eine Ausnahme bilden die von Goffmann beschriebenen „totalen Institutionen“, die Organisationsformen wie Gefängnisse, geschlossene Abteilungen in psychiatrischen Kliniken oder in jüngerer Zeit auch Flüchtlingsunterkünfte umfassen, die einen weitgehenden Zugriff und Restriktionsrechte auf nahezu alles Handeln der in ihnen hospitalisierten Personen haben. Dieser besondere Organisationstyp ist jedoch für die vorliegende Untersuchung nicht von Bedeutung.
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Abbildung 1: Die Kernelemente moderner Organisationen nach SCOTT
Quelle: SCOTT 1986: 36, gestrichelte Pfeile hinzugefügt
Das systemische Verständnis von Organisation ermöglicht eine Sichtweise, die Organisationen als symbolische wie funktionelle Handlungszusammenhänge sieht, ohne sie als Meta-Akteure zu konzipieren, die einer bestimmten Rationalität folgen. 2.6.2 Die Handlungsperspektive Die Organisationspraxis setzt sich aus vielen einzelnen Handlungen und sozialen Interaktionen von Mitgliedern und Beteiligten zusammen. In der Handlungsperspektive werden die einzelnen und kollektiven Akteure und ihre besonderen Vorstellungen, Ziele, Motive und Interessen genauer betrachtet. Akteure können strategisch in Organisation handeln, um in ihnen ihre eigenen Ziele zu verfolgen oder eine besondere Agenda durchzusetzen. Andererseits können sie auch in Organisationen einfach unreflektierten Gewohnheiten oder den impliziten Regeln des lokalen Kontextes folgen. Handlungsmotive sind nicht ausschließlich in der Verfolgung persönlicher Interessen und Zielen der Handelnden zu finden. Auch unreflektierte Routinen, oder Vorstellungen und Überzeugungen des lokalen oder des übergeordneten sozio-kulturellen Kontextes können dabei eine Rolle spielen. Dabei hat das Wissen der Akteure in Organisationen eine Schlüsselstellung. Die Handlungsperspektive öffnet den Blick für Handlungsorientierungen jenseits des Systems der Organisation.
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Organisationen können als Akteure zweiter Ordnung (ALLMENDINGER) aufgefasst werden, die als korporative oder kollektive Akteure16 strategisch agieren und interagieren. Als kollektiven Akteuren wird Organisationen eine kollektive Handlungsrationalität unterstellt, die erst aus der Handlungsperspektive empirisch nachweisbar ist. Für die Untersuchung sozialer und politischer Prozesse kann es sinnvoll sein, Organisationen als kollektive oder korporative Akteure aufzufassen. In dieser Arbeit geht es weniger um korporatives Handeln gegenüber anderen Akteuren als viel mehr um das Zustandekommen kooperativer Handlungspraxis unter den Mitgliedern und Beteiligten. Organisationen werden häufig leichtfertig als korporative oder kollektive Akteure aufgefasst und metaphorisch als Akteure konzipiert. Häufig ist es für Organisationsanalysen unangemessen, diese zu Metasubjekten oder Personen zu stilisieren, die z. B. „auswählen“, „lernen“, „wahrnehmen“, „suchen“, „wollen“, etc. Diese Konstruktion verwischt leicht die Tatsache, dass zum einen konkrete einzelne Akteure oder Akteursgruppen in der Organisation für solche Prozesse verantwortlich sind; und/oder dass sich Entscheidungen und Veränderungsprozesse in Organisationen zum anderen auf der Grundlage „unpersönlicher“ struktureller Referenzrahmen abspielen. In falscher Analogie zu Personen oder Gruppen kann die „Personifizierung“ von Organisationen zu psychologisierenden Fehlschlüssen verleiten. So können z. B. in Organisationen Entscheidungsverfahren und formale Kriterien zu einer besonderen Selektivität17 führen. Aber die Selektivität von Organisationen ist nicht mit kognitiven Prozessen von Personen gleichzugesetzen. Die schon angesprochene Frage, ob oder inwiefern Organisationen besonders zweckrationale Formen der Kooperation sind18, lässt sich nicht allgemein, d.h. unabhängig vom jeweiligen Organisationsverständnis beantworten, weil die unterschiedlichen theoretischen Positionen dazu – von der Human-Relations-Bewegung über Rational Choice und Varianten der System-Theorie bis zum Neo-Institutionalismus – keinen einheitlichen Organisationsbegriff haben. Während sich die einen z.B. auf psychologische Aspekte der Mitglieder oder ausschließlich auf formale Struktur-
16 Organisationen sind als korporative Akteuren zu sehen, wenn sie eine eigene Identität ausbilden und die eigenen Ziele unabhängig von den Präferenzen ihrer Mitglieder verfolgen. Kollektive Akteure sind solche die „bei ihren Entscheidungen und Zielen den Interessen und Präferenzen der Mitglieder eng verpflichtet sind (wie z.B. Interessenverbände)“ (MÜLLER-JENTSCH 2003: 19). 17 Lachenmann hat diese Selektivität auf einer wissenssoziologischen Basis als „Systeme des Nicht-Wissens“ bezeichnet (vgl. LACHENMANN 1994); er bleibt damit aber auf der Ebene von Akteuren. Eine solche Selektivität kann sich aber in Organisationen systemisch niederschlagen. 18 Vgl. WEBER; WEICK; MEYER & ROWAN; Kapellhof und die Erwiderung von Esser, in: ORTMANN, SYDOW & TÜRK: 218-263
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merkmale und offizielle Ziele konzentrieren, untersuchen die anderen z.B. die Unterschiede zwischen formaler Struktur und realer Praxis, oder die offiziellen Zielsysteme und hidden agendas in Organisationen. Die unterschiedlichen Aussagen und Einschätzungen zur Rationalität von Organisationen ergeben sich aus den unterschiedlichen Perspektiven der Forschungsansätze. Die vorliegende Untersuchung stellt nicht die Frage, ob formale Organisationen als soziale Form per se eine besondere oder übergeordnete Rationalität haben. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass innerhalb von formalen Organisationen verschiedene Handlungslogiken (Rationalitäten) möglich und wahrscheinlich sind. Die Frage richtet sich eher darauf, wie angesichts bzw. trotz unterschiedlicher Handlungslogiken der Akteure eine gemeinsame Kooperationspraxis in Organisationen zustande kommen kann. 2.6.3 Die Prozessperspektive Die Prozessperspektive wird selten in der Organisationsforschung thematisiert. In dieser Untersuchung konnte die Organisationspraxis lokaler Organisationen über einen zeitlichen Verlauf von mehreren Jahren teils kontinuierlich, teils sporadisch begleitet werden (vgl. Kapitel 3.3). In der Prozessperspektive können Veränderungen in der Handlungspraxis in Beziehung zu Veränderungen der fünf Kernelemente der Organisation nach SCOTT und zu Veränderungen im lokalem Kontext und der weiteren Umwelt gesetzt werden. Dabei können die Organisationen im Hinblick auf ihren Wandel oder in Bezug auf ihre Resistenz und Stabilität gegenüber ihrer Umwelt beobachtet werden (vgl. SAHLIN-ANDERSON 1996). BARLEY konnte in seiner Organisationsforschung darlegen, was passiert, wenn eine neue Technologie, in seinem Beispiel ist es die Computertomografie als Diagnoseinstrument, in einem Krankenhaus implementiert wird. Die neue Technologie stattete das medizinische Assistenzpersonal faktisch mit mehr Kompetenzen in der Diagnosestellung aus. Das professionelle ärztliche Wissen als spezielles Expertenwissen wurde dabei relativ entwertet. Um die etablierte hierarchische soziale Ordnung zwischen ärztlichem und Assistenzpersonal des Krankenhauspersonals zu erhalten wurden symbolische Änderungen in Verfahren und Aufgabenbeschreibungen im operativen Ablauf vorgenommen (vgl. BARLEY & TOLBERT 1997). Die konzeptionelle Verknüpfung von Handlungspraxis und strukturellen bzw. institutionellen Merkmalen von Organisationen mit Prozessbeobachtungen ermöglicht, wie BARLEY & TOLBERT argumentieren, ein Verständnis für die Wechselwirkungen zu entwickeln, die zwischen Veränderungen, die aus der Umwelt angestoßen wurden, deren Folgen für die Organisationspraxis und den Rückwirkungen auf die übrigen Elemente des Systems der Organisation bestehen. Dabei müssen die von der Umwelt angestoßenen Veränderungen nicht immer technologische sein wie im Beispiel des Krankenhauses. Den lokalen Organisationen in den hier untersuchten Fallbeispielen
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wurde im Zuge von Fördermaßnahmen durch Beratung nahegelegt, z. B. den Zuschnitt und die Aufgaben ihrer Leitungsstrukturen oder den Kreis der Mitglieder zu verändern. Bei der Umsetzung in die Praxis zeigt sich erst im Prozess welche Rückwirkungen bzw. Implikationen dies auf Mitglieder, Technologie oder Ziele haben kann. RICHARD SCOTT hat in seinem Konzept der Institution mit der dritten Säule den Blick auf Institutionen um die kulturell-kognitiven Grundlagen von Institutionen erweitert und bezieht Institutionen damit auch auf allgemeine Bewusstseinsgrundlagen. Im Beispiel der Krankenhausstudie wurde die kulturell-kongnitiv verankerte Hierarchie zwischen ärtzlichem und Assistenzpersonal über symbolische Mittel schnell wieder hergestellt, die durch die technologische Veränderung in Frage gestellt worden war. Mit dem Blick auf Institutionen wird die Grenze zwischen formellen und informellen Regeln und Praktiken in Organisationen durchlässig. Beide werden nicht als getrennte Kategorien behandelt. Entscheidend ist vielmehr die Wirkungsmacht von informellem und formellem Handeln über Habitualisierungsprozesse, die Handlungen und Erwartungen an die Handelnden verstetigen. Die Prozessbetrachtung stellt für die Analyse der Organisationspraxis eine wichtige Ergänzung dar.
2.7 D IE
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Die hier vorgeschlagene Verknüpfung der drei Analyseperpektiven System – Handlung – Prozess ermöglicht es zum einen, ein differenzierteres Verständnis für die Kooperationspraxis der untersuchten lokalen Organisationen zu entwickeln. Zum anderen wird es so möglich, die Implikationen der Förderung lokaler Organisationen durch die Entwicklungszusammenarbeit auf der Ebene von Einzelfallstudien zu untersuchen (vgl. Kapitel 5-7) und vergleichend zu analysieren (vgl. Kapitel 8), um daraus Schlussfolgerungen für Förderstrategien zu ziehen (vgl. Kapitel 9). Die untersuchten lokalen Organisationen werden als umweltoffene Systeme (SCOTT) konzipiert. So können zum einen die Kernelemente soziale Ordnung, Ziele, Mitglieder und Technologie zueinander in (Wirkungs-) Beziehungen gesetzt werden. Zum anderen kann die Organisation mit ihrer Handlungspraxis als ein systemischer Zusammenhang in Abhängigkeit von Umweltbedingungen und im Kontakt mit Umwelteinflüssen analysiert werden. Durch die Perspektive der Handlungsebene werden Motive und Interpretationsmuster der Mitglieder berücksichtigt. Die Beobachtung der Entwicklung der Handlungspraxis über eine längere Zeitdauer ermöglicht es, Veränderungen in der etablierten Organisationspraxis mit zeitlich korrespondierenden Veränderungen der Umwelt oder den Kernelementen des Systems der Organisation in Beziehung zu setzen. Die folgende Abbildung 2 zeigt schematisch die drei Untersuchungsperspektiven, die in dieser Arbeit zur Analyse der Fallbeispiele angewendet werden.
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Abbildung 2: Die drei Untersuchungsperspektiven zur Analyse lokaler Organisationspraxis
Quelle: eigene Darstellung
In allen drei Perspektiven ist besondere Aufmerksamkeit auf verschiedene Wissensarten gerichtet, die für das Zustandekommen und die Gestaltung von geregelter Organisationspraxis von Bedeutung sind. Es wird davon ausgegangen, dass die Möglichkeiten und Grenzen lokaler Organisationspraxis durch verschiedene Wissensbestände geformt werden. Zu diesen Wissensbeständen bzw. Wissensarten zählen professionelles, wissenschaftlich fundiertes und lokal bzw. lebensweltlich fundiertes Wissen. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, wer über dieses Wissen verfügt, ob es sich um Allgemein- oder Spezialwissen handelt, ob das Spezialwissen, z. B. das erforderliche Organisationswissen, nur als professionelles Wissen vorhanden ist, oder sich als biografisch erworbenes Wissen durch die Mitgliedschaft in Organisationen popularisiert hat. Die folgende Abbildung 3 zeigt die zum Verständnis der Organisationspraxis relevanten Arten und Referenzrahmen des Wissens.
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Abbildung 3:Organisationspraxis und Wissensbereiche
Quelle: eigene Darstellung
Für die Organisationspraxis ist also nicht nur spezifisches Organisationswissen relevant, sondern auch das lokale Alltagswissen der Akteure in Organisationen und globales, kontextfernes Expertenwissen. In der systemischen Perspektive wird deutlich, dass die Bedeutung von Spezialwissen vor allem von den Zielen und der Technologie bzw. Strategie der Organisation abhängt, und dass der Grad der Abhängigkeit von besonderem Wissen Rückwirkungen auf die soziale Ordnung der Organisation hat. In der Handlungs- und Prozessperspektive zeigt sich, dass sich das Wissen und die Handlungsorientierungen der Akteure durch die Mitgliedschaft in lokalen Organisationen verändern können. Kooperations- und Organisationswissen, bestimmte Denkweisen, z. B. die Formulierung von Interessen und Ansprüchen, sind nicht nur Bedingungen für die Gestaltung lokaler Organisationen, sondern auch das Ergebnis von Organisationserfahrungen. Die in Abbildung 3 aufgeführten Wissensbereiche können in allen drei Perspektiven von Handlung, System und Prozess, die in Abbildung 2 dargestellt sind, eine wichtige Rolle spielen.
3 Untersuchungsbereiche und Vorgehensweise
Die in Kapitel 2 vorgestellten theoretischen Grundpositionen und Herangehensweisen zur Erforschung lokaler Organisationen im Allgemeinen und im besonderen von Organisationen ausserhalb westlicher Industriegesellschaften und der daraus für diese Arbeit entwickelte Analyserahmen (vgl. Überblick Kapitel 2.7) ergeben ein vielschichtiges und komplexes Bild von Organisationen. Es mag dem Leser zunächst wie ein Kaleidoskop erscheinen. Doch im Gegensatz zum Kaleidoskop, bei dem es um zufällig – durch Spiegel oder bunte Glasscherben – entstandene, optisch erzeugte Muster geht, soll es in der empirischen Analyse mehrerer Fallbeispiele lokaler Organisationen ab Kapitel 5 darum gehen, die Fallbeispiele systematisch aus mehreren Untersuchungsperspektiven zu betrachten und die Befunde mit einander in Beziehung zu setzen, um die Entwicklung kooperativer Organisationspraxis genauer zu verstehen. Wie bereits dargelegt wurde, sollen Organisationen in dieser Untersuchung sowohl als systemische operative Zusammenhänge als auch als lokale Handlungsräume verstanden werden, in denen die Akteure aus verschiedenen Arten von Wissen Handlungsmotive und Handlungsorientierungen ableiten. Gleichzeitig wird besondere Aufmerksamkeit darauf gerichtet wie normative Ansprüchen von außen auf Organisationen und ihre Protagonisten einwirken (z.B. von Vertretern staatlicher Organisationen und solchen der Entwicklungszusammenarbeit). In Abgrenzung zu Autoren, die den Symbolcharakter und das Fassadenhaften von Organisationen überbetonen (vgl. Kapitel 2.3), sollen Organisationen in dieser Untersuchung sowohl von ihrer symbolischen Seite betrachtet als auch als materielle Arbeitszusammenhänge gesehen werden, deren Praxis von den Fähigkeiten, Beiträgen und der Unterstützung ihrer Mitglieder abhängt. Für die Anwendung des Analysemodells auf die empirischen Fallbeispiele werden nun Untersuchungsbereiche und -fragen formuliert, die sowohl die Erhebung und Materialsuche, wie auch die Auswertung der Daten anleitet. Anschließend wird die Vorgehensweise bei der Erhebung und der Auswertung empirischer Daten vorgestellt. Da die hier gewählte Vorgehensweise eng mit der Entstehungsgeschichte des
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Vorhabens zusammenhängt, wird zunächst erzählt wie es zu dieser Forschung kam und welche Rollen die Autorin in dieser Geschichte hatte.
3.1 D ER F ORSCHUNGSPROZESS 3.1.1 Persönlicher Bezug zum Thema und Forschungsinteresse Praktische berufliche Erfahrungen in sehr unterschiedlichen Organisationskontexten (Hochschulreform in Deutschland, Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung auf lokaler Ebene in Sambia und Basisorganisationen in Bolivien) haben meine Neugier geweckt, besser verstehen zu wollen, welchen Einfluss Organisationsförderung (Förderprojekte) auf die faktische Kooperationspraxis in Organisationen hat. Durch ein studentisches Lehrforschungsprojekt in der Genossenschaft El Ceibo in den bolivianischen Yungas hatte ich sowohl begeisternde, wie auch ernüchternde Erfahrungen in einer „Basisorganisation“ gemacht. Die vielen engagierten, klugen, oft auch etwas frustrierten, listigen, hartnäckigen, teilweise durchaus auch indivualistischen „organization man“ (WILLIAM WHYTE) – selbstverständlich auch die Frauen – die ich in lokalen Non-Profit-Organisationen wie Amé Tauná, CCISM, MINGA und El Ceibo kennenlernte, weckten mein Interesse an der Frage, wie Kooperation in lokalen Organisationen zustande kommt. Bereits im Lehrforschungsprojekt wie auch später, als sogenannte Fachkraft der Entwicklungszusammenarbeit, führte ich mit Kollegen und Kolleginnen, Fachkräften des DED wie auch Kollegen aus bolivianischen NROs viele Debatten über Sinn und Unsinn verschiedener Formen der Organisationsförderung. El Ceibo war in den 1970er Jahren mit einem riesigen Fuhrpark und anderen materiellen Gütern ausgestattet worden und auch durch jahrzehntelange Beratung und Mitarbeit von DED-Entwicklungshelfern gefördert und geprägt worden. Ich verfolgte das Auf und Ab der Entwicklung dieser Genossenschaft mit Interesse aus der Distanz. Durch wirklichkeitsnahe Studien wie z.B. die der amerikanischen Ökonomin JUDITH TENDLERS Studie „Thinking about Cooperatives“, oder die sympathiegetragene Studie „Getting ahead collectivly“ von ALBERT O. HIRSCHMAN wurde auch mein theoretisches Interesse geweckt. Eine 2-jährige Rolle als Mitarbeiterin in einem Universitätsreformprojekt brachte mich in Kontakt mit der Leitungsebene einer großen Organisation. Dort konnte ich beobachten, wie schwierig es sein kann Organisationen gezielt zu verändern. Schon in diesem Projekt wurde mir der starke Einfluss von Management-Moden und Organisationsmodellen, wie dem damals, in den 1990er Jahren euphorisch begrüßten Leit-
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bild des „New-Public-Managements“ deutlich. Um den Staub universitärer Amtsstuben wieder abzuschütteln arbeitete ich anschließend von 2001 bis 2003 als Fachkraft1 für den Deutschen Entwicklungsdienst bei der Partnerorganisation Fundación TIERRA. Ich war damals bereits mit dem Wunsch nach Boliven gegangen, die Handlungspraxis in lokalen Organisationen auch wissenschaftlich zu erforschen. Meine Hauptaufgabe als Fachkraft bestand darin, die Produzentenvereinigung MINGA beim Aufbau eines Landrechtprojektes zu unterstützen. In MINGA war ich weniger in der Rolle einer Beraterin tätig, als vielmehr ein Teammitglied im Sekretariat für Landrechte, das sich in den Räumlichkeiten von MINGA befand. Hier war ich weniger Expertin als vielmehr diejenige, die zunächst viel über die Landbesitzverhältnisse und die Landrechte in Bolivien zu lernen hatte. Ausserdem konnte ich bei meiner täglichen Arbeit die Lebenswelt und die sozialen Verhältnisse in den ländlichen Gemeinden kennenlernen. Daneben hatte ich im Projekt eine Funktion als Mittlerin zu Geberorganisationen, z. B. einer deutschen Stiftung, die das Landrechtprojekt finanzierte. Darüber hinaus hatte ich in der damaligen Regionalgruppe „Chiquitania“ des DED die Aufgabe erhalten, in der Provinz Velasco verschiedene kleinere lokale Organisationen zu beraten. In meiner Funktion als Fachkraft hatte ich also häufige und vielseitige Kontakte zu verschiedenen kleinen Landgemeinden, zu lokalen Organisationen, zu zivilgesellschaftlichen Dachverbänden und NRO und verschiedenen Durchführungsorganisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Meine Arbeit führte mich viele Male von San Ignacio nach San Miguel und San Rafael in der Provinz Velasco und wieder zurück, in die Großstädte Santa Cruz und La Paz sowie zu vielen kleinen Landgemeinden, die teilweise eine Tagesreise von meinem Wohnort San Ignacio entfernt lagen. An der Lebenswelt der Landgemeinden konnte ich z. B. teilnehmen, wenn ich mich dort im Rahmen meiner beruflichen Rolle für jeweils einen oder manchmal auch mehrere Tage aufhielt.
1
Ich hatte die Position einer Entwicklungshelferin (EH). EHs sind deutsche Fachkräfte, die nach dem Entwicklungshelfergesetz (EhfG, erste Fassung von 1969) in Partnerländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit entsendet werden. Anders als die Fachkräfte der damaligen GTZ (heute GIZ) oder privater Consultings, sind EHs nicht auf der Basis des deutschen Arbeitsrechtes beschäftigt. Sie bekommen gesetztlich festgelegte Unterhaltsleistungen. Irgendwann in den 1990er Jahren geriet die Bezeichnung „Entwicklungshelfer“ in Verruf und man sprach fortan nur noch von Fachkräften; zeugte der Ausdruck EH doch von der reichlich antiquierten und naiven Vorstellung, dass gut ausgebildete Deutsche den Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu „Entwicklung“ verhelfen sollten. Die EZ hatte sich mit den Jahren professionalisiert und „managerialisiert“. Der Ausdruck EH wurde mit lässig gekleideten, aber etwas naiven Volunteers assoziiert ähnlich den Peace Corps. Davon wollte man sich beim DED explizit distanzieren.
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Während der zwei Jahre als EZ-Fachkraft und in den Jahren danach, erlebte ich, wie in Bolivien (etwa von 2000-2010) im Zuge der staatlichen Reformen der Volksbeteiligung und der Dezentralisierungspolitik sehr große Erwartungen an lokale Organisationsformen geknüpft wurden – insbesondere an solche, die als indigene Organisationsformen galten. Nicht nur die Erwartungen der Entwicklungszusammenarbeit waren also hoch2. In den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Konflikten im ganzen Land, sind die Organisationen der sozialen und indigenen Bewegungen Boliviens Akteure, die die politische Agenda prägen. Sie hatten bei den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen wichtige Funktionen u. a. die Mobilisierung und Organisation von Protestpotenzial (vgl. SCHOTT 2012; vgl. Kapitel 4). In meinem Arbeitsgebiet, der ländlichen und randständigen Provinz Velasco in der Chiquitania, sah ich, dass lokale Organisationen, neben einem katholischen Radiosender, oft die entscheidenden Schnittstellen und Diskussionsplattformen für gesellschaftlich-politische und technologische Informationen und neue Ideen sind. Während meiner Tätigkeit als Beraterin schwankte ich zwischen professionellen Erwartungen an plan- und förderbare Veränderungsprozesse in Organisationen, und der in der Praxis gewonnen Einsicht, dass solche Veränderungsprozesse tiefergreifende Veränderungen von Einstellungen und Handlungsorientierungen der Menschen implizierten, die in diesen Organisationen handeln. Solche Veränderungsprozesse lassen sich kaum in das übliche Planungs- und Zeitregime der Entwicklungszusammenarbeit pressen. In der Realität der Projekte war es z. B. oft kaum möglich, den eigenen Ansprüchen einer „partizipative Organisationsentwicklung“ zu genügen. Die Widersprüchlichkeit oder Ambivalenz der Situation vor Augen, versuchte ich dennoch weiterhin, auch mit Seitenblicken auf die Arbeit und die Leistungen meiner Kollegen (vgl. HÜSKEN 2006), mehr Effizienz und Effektivität in der Arbeit der Organisationen zu erreichen und dabei auch ein paar offensichtlich notwendige und sinnvolle Aktivitäten mit den Organisationsmitgliedern durchzuführen. Vom DED kamen zu dieser Zeit immer neue Aufträge, weitere Projekte und Fördermöglichkeiten zu prüfen. Allmählich verstärkte sich in mir der Eindruck, dass gerade die kleineren, noch neueren lokalen Organisationen – jenseits der Förderprogramme - ihren eigenen Rhythmus finden mussten, und dass dieser Rhythmus und der richtige Zeitpunkt für Veränderung – oder geplante Projektinterventionen – auch stark von den personellen, politischen und sozialen Konstellationen vor Ort abhingen. Ebenso wie die Aufforderung „Nun seid mal spontan!“ oder „Nun partizipiert mal schön!“3, war
2
Später sollte sich dies in den intensiven politischen und stark ideologisierten Auseinandersetzungen und Diskussionen im Rahmen der Verfassungsreform der Jahre 2008 und 2009 mit etwas anderer Begrifflichkeit weiter fortsetzten.
3
THEO RAUCH: „Nun partizipiert mal schön – Modediskurse in den Niederungen entwicklungspolitischer Praxis. In: Blätter des IZ3W, 1996, Nr. 213, 20-22
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es oft sehr schwierig die Aufforderung „Nun organisiert euch und kooperiert miteinander!“ umzusetzen. Manche Gründungsinitiativen oder Fördermaßnahmen der EZ schienen schlicht ins Leere zu laufen, andere kamen einfach zum falschen Zeitpunkt oder waren überhastet. Durch meine Rolle als Fachkraft der Entwicklungszusammenarbeit hatte ich viele Möglichkeiten die Organisationspraxis zu beobachten. Als Fachkraft gehörte es zum Berufsalltag, Informations- und Fortbildungsveranstaltungen vor Ort durchzuführen. Ich nahm an Mitgliederversammlungen und Vorstandssitzungen teil, und erlebte den Alltag in in der Geschäftsstelle von MINGA, in der sich mein Büro befand. Durch lang andauernde und häufige Aufenthalte in San Ignacio und den Gemeinden, boten zahlreiche Gelegenheiten zu informellen Gesprächen mit Mitgliedern und dirigentes (Vorstandsmitglieder und Vorsitzende von Organisationen) von lokalen Organisationen und mit lokalen Autoritäten der Landgemeinden. Diese zufälligen Gespräche mit Mitgliedern und besonderen Protagonisten lokaler Organisationen, die ich während meiner Zeit als EZ-Fachkraft führen konnte, bilden eine wertvolle und reichhaltige Informationsgrundlage. Für eine wissenschaftliche Auswertung erfordern sie jedoch in jedem Einzelfall eine kritische Reflexion über das jeweilige Verhältnis zwischen mir, in meiner Rolle als Beraterin, und meinen Gesprächspartnern. Oft herrschte eine freundliche, von Vertrauen geprägte Atmosphäre. Aber es gab auch Spannungen, gegenseitige Vorbehalte und enttäuschte Erwartungen auf beiden Seiten4. Da ich in dieser Zeit den DED repräsentierte und mit verschiedenen Projekten in Zusammenhang gebracht wurde, war das Antwortverhalten der Gesprächspartner nicht immer ganz frei von strategischen Überlegungen und dem Wunsch bei mir einen postiven Eindruck über die jeweilige Organisation zu hinterlassen. Im Rahmen von Diskussionen in kleineren Gruppen, in „natürlichen“, d.h. nicht aus Forschungsinteressen initiierten Sitzungen und Seminarsituationen, war es möglich, die Eindrücke und Einschätzungen einzelner Organisationsmitglieder aus Interviews mit denen, die andere Mitglieder äußerten oder durch Beobachtungen von Interaktionen, die sich ohne mein Zutun abspielten, einzuordnen. Der eigene Wunsch und das Interesse zu Veränderungen der Organisationspraxis der Organisationen in bestimmter Richtung beizutragen beeinflusst ohne Zweifel meine Sicht auf den Gegenstand und die Fragestellung. Einerseits besteht eine besondere Sensibilität für die internen Zwänge und Widersprüche zwischen Anspruch
4
Dies gilt in meiner Arbeitserfahrung vor allem für einige der lokalen wie auch übergeordnete Indígena-Organisationen und ihre Protagonisten. Das an sich spannende Thema, des Verhältnnisses zwischen organization men und Beraterin soll hier nicht weiter ausgeführt werden, da es nicht Gegenstand der Untersuchung ist. Wichtig ist, dass ich mir als Forscherin über diese persönliche und oft auch emotionale Dimension klar werden musste um mich davon distanzieren zu können.
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und Wirklichkeit sowohl in der Beratungswelt wie auch im Verhältnis zwischen Organisation und Förderorganisation. Andererseits erzeugen die dabei erlebten Frustrationen auch eine emotional und normativ gefärbte Haltung sowohl zu den beratenen Organisationen der Fallbeispiele wie auch zu den Förderorganisationen, zu denen ich im zeitlichen Verlauf eine immer distanziertere Haltung einnahm. Meine Doppelrolle entspricht nicht ganz dem Konzept der insider action research (vgl. COGHLAN & BRANNICK 2005), denn ich war als Beraterin mehrer unterschiedlicher Organisationen zur gleichen Zeit keine wirkliche Insiderin, eher war ich zwischen 2000 und 2003 eine Art Satellit der entwicklungspolitischen Organisation DED, die aber nicht im Mittelpunkt dieser Organisationsforschung steht. Außerdem ist die Aktionsforschung auch nur ein Teilbereich meiner Forschung. Dennoch: Ich habe meine Situation als ein „sitzen zwischen allen Stühlen“5, mit allen hier beschriebenen Vor- und Nachteilen für eine Organisationsforschung, empfunden (vgl. NEEF, FRIEDRICHSEN & NEUBERT 2008). 3.1.2 Perspektiven- und Rollenwechsel Nach 2003 reiste ich mehrmals in die Untersuchungsregion um die weitere Entwicklung der Organisationen verfolgen zu können. Bei meinen Besuchen bei den Organisationen stellte ich mich nun mit meinem Forschungsvorhaben vor. Während bei dem ersten Nachbesuch – in Verwechslung mit meiner früheren Rolle – noch Fragen nach neuen Fördermöglichkeiten gestellt wurden, wurde meinen Interviewpartnern mit der Zeit klar, dass ich in meiner neuen Rolle keine besonderen institutionellen Kontakte mehr hatte und es mir nun darum ging, mehr über ihre Organisation zu erfahren. Dennoch stellt der Wunsch der Interviewpartner, aus ihrer Sicht bei mir „erwartete Erwartungen“ zu erfüllen, d.h. so zu antworten, dass ich mit der Antwort zufrieden bin, in einer solchen Konstellation der Forschung eine methodische Schwierigkeit dar. Gerade weil viele der von mir interviewten Personen, häufig mit Fachkräften der EZ zu tun hatten oder weil ich zu ihnen ein kollgegiales oder freundschaftliches Verhältnis hatte, glaubten sie oft zu wissen, was ich von ihnen hören wollte (gut möglich, dass sie es wirklich ziemlich genau wussten). Diese Schwierigkeit lässt sich durch genaues Beobachten und die Nutzung verschiedener Informationsquellen sowie durch eine kritisch-distanzierte Haltung bei der Durchsicht und Auswertung der Interviews meistern. Andererseits bildet die persönliche Beziehung zu meinen Interviewpartnern und -partnerinnen oft auch eine Vertrauensgrundlage und das Interesse 5
Es sind mindestens vier Stühle auszumachen: (1) die lokalen Organisationen (im Grunde auch wieder sehr unterschiedliche Stühle), (2) die Geberorganisationen (viele Organisationen, die letztlich aber ähnlich bzw. isomorph sind), (3) die professionell und ideell geprägte persönliche Beraterrolle und -identität und (4) die Forschungsrolle bzw. die Ansprüche von Forschungsinstitutionen.
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an längeren Gesprächen. Gespräche über Organisationen geraten leicht zu normativ stilisierten Auslassungen über Themen wie Korruption und Leadership im Allgemeinen, die an allgemein akzeptierte Diskurse anknüpfen (vgl. ROTTENBURG 1996) und wenig über die persönliche Sicht und die konkreten Erfahrungen der Akteure aussagen. Für den Perspektivenwechsel musste ich mich zunächst von meiner gewohnten Rolle und inneren Haltung als Beraterin lösen. Die Vorgehensweise im gesamten Forschungsprozess übernimmt Herangehensweisen der Organisationsethnologie, geht aber darin nicht auf. „Organisationsfolklore“ und kulturwissenschaftliche Aspekte der Organisation (vgl. ROSENSTIEL 2008; GÖTZE & MOOSMÜLLER 1992) können den Rahmen der Untersuchung nicht ausfüllen. Der analytische Rahmen stellt die Organisationspraxis in einen Zusammenhang mit kontextfernen institutionellen Grundlagen, z. B. dem übergeordetem bzw. globalen, professionellen Organisationswissen und der jeweils erfolgten Förderung und daraus entstehender Abhängigkeit. Dabei sollen weder die symbolische noch die operative Seite der Organisation ausgeblendet werden. Dies erfordert eine organisatiossoziologische Herangehensweise. 3.1.3 Verortung in der qualitativen soziologischen Organisationsforschung Die in dieser Arbeit verfolgte Fragestellung lässt sich dem Feld der qualitativen soziologischen Organisationsforschung zuordnen, wie sie z. B. in der skandinavischen Variante des Neo-Institutionalismus zu finden ist. BARBARA CZARNIAWSKA hat auf die zunehmende Bedeutung anthropologischer Forschung für die Organisationstheorie hingewiesen (vgl. CZARNIAWSKA 2012). Die Rekonstruktion der (emischen) Sicht, der Beweggründe der Akteure und ihrer Interpretation externer Modellvorstellungen ist nicht selten Bestandteil sozialanthropologischer Ansätze. Anthropologische Ansätze können somit die soziologische Perspektive der Fragestellung sinnvoll ergänzen. Die hierzu notwendige Rekonstruktion von Vorstellungen und Handlungslogiken, unterscheidet sich deutlich von einer rekonstruktiven Organisationsforschung, wie sie z.B. WERNER VOGD vertritt (vgl. VOGD 2009). VOGD orientiert sich in seiner Analyseperspektive an der LUHMANNSCHE Systemtheorie. In der vorliegenden Arbeit werden Organisationen hingegen als umweltoffene, natürliche Systeme betrachtet, die sich durch verschiedene, widersprüchliche und bisweilen konkurrierende Handlungslogiken auszeichnen (vgl. CZARNIAWKSA & JOERGES 1996). Die von Personen und Kulturen losgelöste und abstrakte Systemrationalität von Organisationen ist nicht Gegenstand des Forschungsinteresses der vorliegenden Arbeit. Der Veränderungsprozess von Organisationspraxis wird grundsätzlich als Ergebnis des Interagierens von Akteuren und Strukturen gesehen, wie es durch GIDDENS Begriff der Strukturation auf den Punkt gebracht wird (GIDDENS 1992: 67-81).
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Das klassische ethnologische Erhebungsinstrument der teilnehmenden Beobachtung bildet die Basis und den Impulsgeber für weitere Erhebungen und Datenanalysen im Fortgang der vorliegenden Untersuchung. Die für die Auswertung der Daten und ihre Analyse notwendige Rekonstruktion der Ziele, Wünsche, Interessen und Strategien der Akteure, findet ihr Vorbild in der skeptischen Sozialanthropologie der Berliner Schule (HÜSKEN 2006: 174). Allerdings wird hier nicht die pessimistische Position einiger ihrer Vertreter geteilt, dass in vielen kulturellen Kontexten von Entwicklungsländern Handlungslogiken vorherrschen, die grundsätzliche mit der Organisationslogik bzw. ihrer Rationalität unvereinbar sind (vgl. ROTTENBURG 1995, 1996, 2002). Vielmehr wird hier grundsätzlich davon ausgegangen, dass jede Organisation – sei es in Kontexten klassischer Industriegesellschaften oder sogenannter Entwicklungsländer – in ihrer Praxis die Existenz unterschiedlicher und auch widersprüchlicher kollektiver Handlungslogiken bewältigen muss. Die folgende Tabelle 1 zeigt die verschiedenen Forschungsaufenthalte in der Untersuchungsregion, Haupttätigkeiten in Bezug auf die Forschung und meine jeweilige Rolle.
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Tabelle 1: Forschungsphasen (eigene Darstellung) Zeitraum
Aktivität
3/2001 – Teilnehmende Beobachtun4/2003 gen und zufällige unstrukturierte Gespräche mit Organisationsmitgliedern und Kollegen
Ort (Rolle der Autorin im Untersuchungsgebiet) Provinz Velasco (Fachkraft des Deutschen Entwicklungsdienstes: Landrechtsprojekt, Förderung lokaler Organisationen)
20032005
Literaturrecherchen, Lektüre (in der Untersuchungsregion von Organisationsfor- nicht anwesend) schungsabeiten, Auswertung eigener Erfahrungen
2-4/2005
Mehrtägige Feldbesuche in Provinz Velasco ländlichen Gemeinschaften (Forscherin, z.T. noch in der (comunidades) und Besuche Rolle als Beraterin gesehen) und Interviews bei den Organisationen
9-12/2005 Literatur und Dokumenten- Santa Cruz, Provinz Velasco (Forscherin, berufsbegleitend Recherche während eines Einsatzes als Experteninterviews Gutachterin ausserhalb der Untersuchungsregion) 4-5/2010
Besuche bei den Organisatio- Provinz Velasco nen (Forscherin)
20082014
Literaturrecherche u. -lektüre Erarbeitung der Fallbeispiele Auswertung Niederschrift
(berufsbegleitend)
Dass der Zeitraum der eigenen empirischen Erhebungen schon einige Jahre zurückliegt, mindert nicht die Relevanz und Aktualität der Ergebnisse. Zum einen wurde ein relativ langer Zeitraum beobachtet und zum anderen wurden die Fallbeispiele als Material ausgewertet um das allgemeine systemische Zusammenspiel lokaler und ex-
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terner bzw. globaler institutioneller Faktoren bei der Entstehung von Handlungspraxis in lokalen Organisationen exemplarisch zu untersuchen. Die aus der Untersuchung hervorgehenden Befunde und Problembeschreibungen zur Organisationspraxis und die Wirkung von Organisationsförderung sind von aktueller Bedeutung. Sie wurden bisher in der Organisationsforschung wenig in den Blick genommen. Die Organisationsförderung der Entwicklungszusammenarbeit hat sich nicht grundlegend verändert.
3.2 F ORSCHUNGSSTRATEGIE UND U NTERSUCHUNGSBEREICHE Ausgangs- und Mittelpunkt der empirischen Beobachtungen bilden zehn lokale Organisationen, die sich nach ihren Zwecken und ihrem Typ in drei Gruppen einteilen lassen: Die erste Gruppe bilden die zwei kleinen Selbsthilfeorganisationen Amé Tauná (Hausbau) und die Gruppe der Ceramistas (Töpferinnen). Zur zweiten Gruppe gemeinnütziger mittelgroßer Organisationen gehört nur die Organisation MINGA, eine landwirtschaftliche Produzentengemeinschaft (ähnlich einer Genossenschaft). Die dritte Gruppe bilden sieben Organisationen, drei kommunale Bürgeraufsichtskomittees und vier Indígena-Organisationen, deren offizielle Aufgabenstellung im Bereich der Vertretung von politischen und sozialen Interessen bzw. Bedürfnissen liegt. Untersuchungsbereiche und -fragen Als heuristische Strategie wurden vier Untersuchungsbereiche gebildet und jeweils an diese gerichtete Leitfragen formuliert (vgl. FIEGE 2012), um die unübersichtliche Fülle an Datenquellen und Beobachtungsmöglichkeiten sowie die Vielfalt der analytischen Perspektiven zu bewältigen. 6 Die vier Untersuchungsbereiche entsprechen den drei analytischen Perspektiven: • • • •
6
Organisation als System Organisationspraxis Kooperations- und Organisationsvorstellungen aus dem lokaler Kontext Externe Organisationsvorstellungen aus dem Organisationsumfeld
Diese Vorgehensweise habe ich im Seminar für Ländliche Entwicklungs der Humboldt Universität zu Berlin (SLE) kennengelernt. Sie wurde im SLE für Auftragsforschungen entwickelt. Für die vorliegende Untersuchung, die keine Auftragsforschung ist, hat sie sich ebenfalls als sehr hilfreich erwiesen, denn sie ermöglicht eine schrittweise Annäherung und Bearbeitung komplexer Forschungsthemen in unübersichtlichen Kontexten durch die Formulierung von Untersuchungsbereichen und -fragen (vgl. FIEGE 2012).
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Die Untersuchungsbereiche und Leitfragen haben nicht nur die Datenerhebung, sondern auch die Rekonstruktion der Fallbeispiele angeleitet. 3.2.1 Untersuchungsbereich Organisation als System Im Rahmen der Darstellung der Fallbeispiele werden die ausgewählten Organisationen als offene soziale Systeme nach SCOTT charakterisiert werden (vgl. Kapitel 2.6). Die Leitfragen zu den systemischen Kernelementen lauten: Ziele • Welche offiziellen Ziele verfolgt die Organisation? • Welche Bedeutung und Relevanz haben diese Ziele für die Mitglieder und Betei-
ligten in der Organisation? Mitglieder/Beteiligte • • • •
Wieviele Mitglieder hat die Organisation? Welche sozialen Merkmale haben die Mitglieder? Wie beteiligen sich die Mitglieder an Kooperationen in der Organisation? Aus welchen Gründen beteiligen sich welche Mitglieder in dieser Organisation?
Soziale Ordnung • Welche soziale Position und Lage haben die Mitglieder in der sozialen Ordnung
des lokalen Kontextes • Wie ist die Struktur der sozialen Positionen der Mitglieder innerhalb der Organi• •
• •
sation? Welche Regeln, Rollevorschriften und Verfahren sind in Statuten und Reglements formuliert? (Formale Ordnung) Welche Regeln, Rollenvorschriften und Verfahren lassen sich aus den typischen Handlungsweisen der Mitglieder und der besonderen Protagonisten und Leitungspersonen ableiten? (Faktische Verhaltensordnung) Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie sind Kompetenzen verteilt? Welche Leitungsstrukturen hat die Organisation? Was steigert oder mindert den sozialen Status bzw. das Ansehen der Mitglieder innerhalb der Organisation?
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Technologie/Strategie • Wie sollen Ziele und Leistungen der Organisation erreicht werden? • Welchen materiellen und immateriellen Ressourcen werden in der Organisation
genutzt? • Welche Technologie wird angewendet? (Arbeitsinstrumente, Medien, Techniken) • Welche besonderen Anforderungen, z. B. besonderes Wissen und Zugang zu In-
formationen oder Ressourcen, und welche Abhängigkeiten bringen Strategie und Technologie mit sich? Umwelt • In welchem Kontext wurde die Organisation von wem gegründet? • Wie wird sie dargestellt oder stellt sich selbst dar? (Profile, Entstehungsmythen) • Mit welchen Organisationen oder institutionellen Akteuren hat die Organisation
regelmäßigen Kontakt? (z. B. Positionierung und Beziehungen in der lokalen und kommunalen Organisationslandschaft; Beziehungen zu Organisationen mit ähnlichen Zielsetzungen und Strategien und ihren Dachverbänden oder Netzwerken; Beziehungen zu staatlichen oder entwicklungspolitischen Förderorganisationen) • Wie stark ist die Organisation von Organisationen ihrer Umwelt abhängig? Aus systematischen Gründen werden weitere Fragen zur Umwelt im Zusammenhang mit dem Kontext der Organisationen formuliert. 3.2.2 Untersuchungsbereich Organisationspraxis Die Praxis von Organisationen setzt sich aus einer unendlichen Menge von Handlungen zusammen. Um nicht den Überblick zu verlieren und durch Vergleiche von ähnlichen Handlungen typische Handlungsweisen herauszufiltern, wurden die Beobachtungen auf die oben genannten Systembereiche der Organisation fokussiert. Im Fokus der Beobachtungen stehen also Handlungen im Bezug auf Organisationsziele, auf die Mitgliedschaft (Zugehörigkeitsfragen, Eintritt, Austritt), auf Strategie und Technologie der Organisationen sowie auf den Organisationsaufbau und die internen Normen und Verfahrensregeln und Rollen- bzw. Positionsbeschreibungen der Organisation. Der Fokus der Beobachtungen liegt in den folgenden Fragen: • Welche Handlungsweisen sind typisch für die Organisationspraxis der jeweiligen
Organisation und wie stehen sie zur normativen Struktur und zu den offiziellen Zielsetzungen der Organisation (konform, nicht konform)? • Welche Orientierung und Verbindlichkeit haben die normativen Strukturen der Organisation in den beobachteten Handlungen?
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• Wie reagieren Mitglieder auf die Handlungen anderer Mitglieder, z. B. wenn diese
in Leitunspositionen der Organisation sind? Sind Reaktionen bzw. Konsequenzen zu beobachten? Welches Handeln erzeugt Kritik, Stigmatisierung oder Respekt und Achtung bei den Mitgliedern? Welches Handeln wird sichtbar mit Sanktionen belegt? 3.2.3 Untersuchungsbereich lokaler Kontext Der lokale Kontext wird in den Kapiteln 5-7 für jedes Fallbeispiel spezifisch untersucht, da sich die Organisationen in drei zum Teil unterschiedlichen Landkreisen befinden. Die Leitfragen zu diesem Untersuchungsbereich lauten: • Welche Formen sozialer Praxis, insbesondere alltägliche Formen der Kooperation,
•
•
•
•
•
und welche Merkmale der sozialen Ordnung des lokalen Kontextest spiegeln sich in der Organisation und ihrer Praxis wider? An welchen Punkten unterscheidet sich die Kooperationspraxis der Organisation von der alltäglichen Kooperation und den allgemeinen Regeln des lokalen Kontextes? Welche soziale Position haben die Mitglieder der Organisation im lokalen Kontext (z. B. innerhalb des Landkreises, des Siedlungsviertels, der Landgemeinde, der Kirchengemeinde)? Wie ordnen sich die offiziellen Ziele der Organisation in den lokalen Kontext ein und wie werden sie in der lokalen Öffentlichkeit gesehen? Wie werden die Ziele und die Arbeit der Organisation in der lokalen Öffentlichkeit interpretiert? Unter Bezugnahme auf die Begrifflichkeiten der neo-institutionalistischen Organisationstheorie wurden die institutionelle Umwelt der lokalen Organisationen und hier besonders das Feld von Organisationen untersucht, in das sie integriert sind (vgl. Kapitel 2.3.). Hier wird danach gefragt: Zu welchen anderen lokalen Organisationen oder Personen(gruppen) unterhalten die Organisation – oder wichtige Akteure in ihr – regelmäßige Kontakte? Welche Machtverhältnisse und Abhängigkeiten zwischen den Organisationen und/oder einzelnen Akteuren sind erkennbar?
Da der analytische Rahmen dieser Arbeit dem Wissen über Organisationen besondere Bedeutung beimisst (vgl. Kapitel 2.4.), müssen auch für die Organisationspraxis handlungsrelevante Vorstellungen, Denkstile und Ideen rekonstruiert werden, die im lokalen Kontext allgemein Geltung haben und die möglicherweise für die Organisation relevant sind. Aus diesem Grund werden lokal übliche Formen der Selbstverwaltung in den Landgemeinden, lokale Formen der Arbeitskooperation und der Organisation kommunaler Arbeiten untersucht. Hier wird gefragt:
80 | B LINDE F LECKEN DER E NTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT • Welche Ideen, Modellvorstellungen oder Erfahrungen mit Organisationen haben
die Akteure in den Organisationen? • Welche Handlungs- und Denkweisen der Organisation sind typisch für den lokalen
Kontext? • Welche prägenden Erfahrungen haben die Akteure in anderen lokalen Organisati-
onen gemacht? • Welche allgemein geltenden Normen und Vorstellungen des lokalen Kontextes
sind für die Organisationspraxis relevant? In Rahmen der ersten teilnehmenden Beobachtungen zeigte sich bereits, dass Organisationen in der Chiquitania teilweise, symbolisch wie praktisch, auf lokalspezifische historische Formen der Organisation Bezug nehmen. Deshalb werden in Kapitel 4 ausgewählte Organisationsmodelle aus der Regionalgeschichte dargestellt, die für die heutige Organisationsgestaltung eine Rolle spielen. 3.2.4 Untersuchungsbereich externe Organisationsbilder im Organisationsumfeld Das Organisationsfeld der untersuchten Organisationen ist ein wichtiger Teil ihrer institutionellen Umwelt und markiert einen besonderen Untersuchungsbereich, da es häufig überlokale, aus anderen Kontexten stammende Organisationsmodelle als normativen Vorstellungen und Erwartungen an die lokalen Organisationen heran trägt (Vgl. DIMAGGIO & POWELL 1991a und BECKER-RITTERSPACH & BECKERRITTERSPACH 2006). Zu diesem Umfeld zählen sowohl befreundete als auch konkurrierende Organisationen, Dachverbände und Netzwerke oder Förderorganisationen (z. B. Agenturen der Entwicklungszusammenarbeit) an die lokalen Organisationen. Die Leitfragen für diesen Untersuchungsbereich sind: • Welche Organisationen stehen im Kontakt mit der lokalen Organisation des Fall-
beispiels? • Was kennzeichnet oder begründet die Beziehung (z. B. Abhängigkeit von zentralen
Entscheidungen, Empfang/Vergabe von Fördermitteln, juristische Abhängigkeit, gleiche Ziele, Freundschaft, Konkurrenz, Dachverband oder Zugehörigkeit zu demselben Dachverband, Aufsichts- oder Kontrollfunktionen, Kooperation in besonderen Bereichen, etc.)? • Welche Erwartungen stellen Organisationen des Umfeldes an die Organisation? Welche normativen Vorstellungen liegen diesen Erwartungen zugrunde? • Wie gelangen externe Modelle, Erwartungen und normative Vorstellungen von anderen Organisationen in die lokale Organisation?
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3.3 A RBEITSPHASEN , E RHEBUNGSMETHODEN UND D ATENQUELLEN Für die Untersuchung wurden die klassischen Methoden der qualitativen Sozialforschung eingesetzt. Die Erforschung der Relevanz unterschiedlicher Wissensarten für die Handlungspraxis in lokalen Organisationen stellt eine methodische Schwierigkeit dar, weil die für die Akteure bedeutungsvollen Kategorien und Typisierungen den Akteuren in der Organisation selbst oft nicht bewusst waren. Solche Kategorien gehören oft zum impliziten Wissen der Akteure. Wenn Befragte in Interviews oder informellen Gesprächen auf solche impliziten Kategorien explizit angesprochen werden, können die sie dazu oft keine hilfreichen Antworten geben. GUDRUN LACHENMANN hat mit Recht auf die Notwendigkeit einer offenen Vorgehensweise bei der Erforschung lokalem Wissen in der Entwicklungsländerforschung hingewiesen: „Die Bedeutung allgemeinen Wissens kann nur bei offenen Methoden zum Ausdruck kommen. Anderenfalls befragen Leute, die die Gesellschaftsstruktur nicht kennen bzw. nicht als relvant ansehen, Leute zu Dingen, die diese nicht wissen können.“ (LACHENMANN 1997: 101)
In der vorliegenden Forschungsarbeit wurde dementsprechend zunächst zwischen relativ offenen Erhebungsmethoden (teilnehmende Beobachtungen, informelle Gespräche, narrative Interviews) und der Sichtung von wissenschaftlicher Literatur der Organisationsforschung sowie einer durch Kontextualisierung und Reflexion fortschreitenden Analyse gewechselt. Später wurden Daten auch systematisch gesammelt (z. B. bestimmte Organisationsdokumente und gutachterliche Berichte recherchiert sowie Leitfadeninterviews, Experten-Interviews und biografische Interviews durchgeführt). In der Auswertung in den Kapiteln 5-7 wurden die Daten dann in einer qualitativen und systematischen Analyse entlang der Struktur der Untersuchungsbereiche und der entwickelten Leitfragen ausgewertet (MAYRING 2002: 67 und FLICK 2009: 210). Die Auswertung beruht im Wesentlichen auf mehrfachem Durchlesen, Vergleichen einzelner Beobachtungen und Interviewaussagen und Reflektion. In Kapitel 8 werden die Einzelergebnisse aus den Fallstudien einer vergleichenden Analyse und Reflektion unterzogen. Der gesamte Forschungsprozess gliedert sich logisch in folgende Arbeitsphasen: • Exploration: Teilnehmende Beobachtungen und explorierende Interviews zur Or-
ganisationsgeschichte, zu lokalem Kooperationswissen sowie allgemeine Recherchen zum lokalen Kontext im Untersuchungsgebiet während meiner beruflichen Tätigkeit für die Entwicklungszusammenarbeit • Erarbeitung eines theoretischen Rahmens
82 | B LINDE F LECKEN DER E NTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT • Sichtung von Forschungsergebnissen zum Thema Organisation in der Entwick-
•
• • •
lungsländerforschung, regionalbezogenen historischen, ethnografischen und sozialwissenschaftlichen Studien und Skizzierung von Untersuchungsbereichen und -fragen Feldbesuche bei denen theoretisch angeleitete bzw. fokussierte Beobachtungen, informelle Gespräche und Leitfadeninterviews durchgeführt wurden und Organisationsdokumente gezielt eingeholt wurden (Statuten, Geschäftsordungen, Berichte) Verfeinerung des Analyserasters für die Auswertung der Fallbeispiele Auswertungsschritt 1: Zusammenstellung, Rekonstruktion und Analyse der einzelnen Fallbeispiele unter Rückbezug auf den analytischen Rahmen Auswertungsschritt 2: Vergleichend Analyse aller Fallbeispiele unter Rückbezug auf den analytischen Rahmen
Auswahl der Organisationen für die Fallbeispiele Die Auswahl der Organisationen für die Fallbeispiele erfolgte zum einen pragmatisch, d.h. nach dem Kriterium zu welchen Personen und Organisationen bereits in der Phase als Organisationsberaterin gute Kontakte entstanden waren, sodass ein Zugang gewährleistet war. Eine Ausnahme bildet die Organisation CIBAPA, die ich nur aus der Distanz, über sporadische Kontakte zu ihren dirigentes beobachten konnte. Meine Eindrücke habe ich mit Analysen und Einschätzungen Dritter verglichen und überprüft. Die Auswahl der Organisationen erhebt nicht den Anspruch repräsentativ zu sein. Sie entspricht einem qualitativen Sampling in dem die Fälle eine Reihe typischer Charaktieristika aufweisen. Die Auswahl der Organisationen ermöglicht einen Vergleich zwischen kleineren und größeren, sowie geförderten und weniger stark geförderten Organisationen sowie zwischen unterschiedlichen Organisationszielen und -typen. Darüber hinaus ermöglichte die Auswahl auch den Vergleich der teilweise unterschiedlichen lokalen Kontextbedingungen der lokalen politischen Arena, die in den drei Landkreisen herrschten. Zum dritten befinden sich in der Auswahl der Fallbeispiele solche, die in unterschiedlicher Weise lokalen Eigensinn in ihrer Praxis zeigten, der – aus meiner persönlichen Sicht – teilweise problematisch und in anderen Fällen hilfreich für die Organisationen war. Damit sollte verhindert werden, dass im Voraus getroffene Werturteile über die Bedeutung von lokalen eigensinnigen, dem Ideal der formalen Organisation zuwider laufenden Praktiken das Ergebnis verzerren. Die Tatsache, dass zwei der Organisationen im Wesentlichen von Frauen geführt und genutzt werden, ist ebenso wenig repräsentativ für die Untersuchungsregion. Sie ergibt sich aus dem Interesse der entwicklungspolitischen Förderorganisationen an Organisationen von Frauen. Zur Bedeutung der Kategorie des sozialen Geschlechtes in der Organisationspraxis können jedoch mit dieser Auswahl keine systematischen
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Ergebnisse präsentiert werden, da dies einen anderen analytischen Rahmen und Beobachtungsfokus erforderlich gemacht hätte. Dennoch können aus dem Vergleich der Fallbeispiele einige Schlussfolgerungen in Bezug auf die Genderthematik in den untersuchten Organisationen gezogen werden (vgl. Kapitel 9). Datenquellen, Erhebungs und Auswertungsinstrumente Entsprechend der Untersuchungsbereiche zeigt die folgende tabellarische Übersicht die entsprechenden Datenquellen und Instrumente der Datengewinnung nach Untersuchungsbereichen geordnet. Tabelle 2: Untersuchungsbereiche, Datenquellen und Datenerhebung (eigene Darstellung Untersuchungs- Datenquelle + Erhebungs- Dokumentation Bereiche instrumente Organisation als Jahres- und Projektberichte, System offizielle Selbstdarstellungen der Organisationen, in- Feldnotizen, Gedächtterne Dokumente wie Regle- nisprotokolle ments, Sitzungsprotokolle Ergänzend: Zufällige/spontane Gespräche, halbstrukturierte u. problemzentrierte Interviews mit Mitgliedern und Experten Organisationspraxis
Teilnehmende Beobachtungen (interne Sitzungen, Fortbildungsveranstaltungen für Mitglieder oder besondere Funktionsträger, Mitgliederversammlungen etc.); Ergänzend: Berichte; Erzählungen von Mitgliedern, lokalen Experten und EZFachkräften
Dokumentation: Fotos, Aufnahmen, Feldnotizen und Gedächtnisprotokolle
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Lokales Organi- Teilnehmende Beobachtunsationswissen gen, historische und ethnografische Darstellungen (Sekundäranalyse) Leitfaden- und biografische Interviews und Experteninterviews (lokale Beobachter und externe Berater), zufällige/informelle Gespräche mit einzelnen Personen oder Gruppendiskussionen Externe Vorstellungen des Umfeldes der Organisationen
Interviewaufnahmen (Audio), begleitende Notizen zu den Interviews, Lebenslinie (Ceramistas)
Introspektion und Dokumente der Entwicklungszusammenarbeit und sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten (Sekundäranalyse)
Die wichtigsten und reichhaltigsten Datenquellen und Erhebungsinstrumente dieser Untersuchung bilden die unstrukturierten wie auch die theoriegeleiteten teilnehmende Beobachtungen in Situationen der Organisationspraxis. In diesen Beobachtungssituationen ergaben sich viele zufällige Gespräche, in denen ich aktuelle Anlässe als Einstieg für meine Fragen verwenden konnte. So konnte ich z. B. in Gesprächen im Rahmen des Landrechtprojekts bei Kommentaren über die einzelnen caziques einsteigen und fragen, warum ein Vorsitzender des Gemeinderates von seiner Gemeinde (nicht oder besonders) anerkannt wird. Dabei nutzte ich meinen „inneren Leitfaden“ aus den Untersuchungsfragen und musste ihn situations- und themenspezifisch „ad hoc operationalisieren“. Typische Beobachtungssituationen Möglichkeiten zur teilnehmenden Beobachtung boten normale Organisationssituationen wie z. B. alltägliche Begegnungen und Treffen mit Vorstandsmitgliedern und Funktionsträgern, besondere Versammlungen und Sitzungen, offizielle Akte und Feierlichkeiten bei denen ich anwesend war. Darüber hinaus boten auch durch die Entwicklungszusammenarbeit geschaffene Situationen weitere Beobachtungsmöglichkeiten und Gelegenheiten zu zufälligen Gesprächen, wie z. B. Fortbildungsveranstaltungen, Vorbereitungs- und Nachbereitungsbesuche von Fördermaßnahmen, offizielle Besuche von Vertretern der Förderorganisation etc.
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Den lokalen und lebensweltlichen Kontext vieler Mitglieder konnte ich bei Besuchen in ca. 25 Landgemeinden kennenzulernen, die ich im Rahmen des Landrechtsprojektes und auch in der Rolle als Forscherin teilweise mehrmals besuchte. Manchmal waren diese Besuche auch mehrtägig und brachten besondere Beobachtungsmöglichkeiten, z.B. am Rande von Feierlichkeiten oder bei offiziellen Besuchen von Vertretern der Landkreisverwaltung oder von übergeordneten Indígena-Organisationen. Viele der hier gemachten teilnehmenden Beobachtungen geben Aufschluss über das Handeln und den Habitus der Beteiligten, über soziale Beziehungen und Rollen. Qualitative Interviews Die gezielt durchgeführten Interviews waren häufig Mischformen aus problemzentrierten Leitfaden-Interviews (MAYRING 2002: 67 und FLICK 2009: 210) und narrativen biografischen Interviews. Im Kontext und mit vielen Gesprächspartnern hätte ein stereotypes Frag-Antwort-Schema leicht zu Ähnlichkeiten mit der Situation in der Schule oder ähnlichen autoritär strukturierten Situationen und Rollenbeziehungen geführt. In acht narrativen biografischen Interviews mit einfachen Mitgliedern und Funktionsträgern in Organisationen erhoffte ich mir lokale Sichtweisen und Wertungen über Organisationsaspekte (vgl. im Anhang: I Kombinierte Leitfaden- und biografische Interviews). Diese Erwartung erfüllte sich nur sehr begrenzt. In allen Interviews zeigten sich bekannte methodische Probleme, wie die Gefahr des erwartungsgemäßen Antwortverhaltens der Befragten. Insbesondere in Gesprächssituationen mit normalen Mitgliedern der lokalen Organisationen bestand eine große Gefahr des dominierenden Kommunikationsstils (HOPF 2008: 359). Einige der Befragten waren unsicher und zögerlich und schienen sich selbst für inkomptetent in diesem Bereich halten. 12 Experten-Interviews führte ich mit lokalen Organisationsexperten und mit professionellen Experten (vorwiegend Ethnologen mit spezifischer Regionalerfahrung) zum Untersuchungsbereich des lokalen Wissens und zu lokalen Praktiken der Kooperation und zur Geschichte lokaler Organisationen in der Provinz Velasco (vgl. im Anhang: II Experteninterviews). Gruppendiskussionen Gruppendiskussionen erwiesen sich generell als ein brauchbareres und valideres Instrument, wenn sie in natürlichen Situationen abspielten, d.h. nicht im Kontext der Forschung stattfanden, wie z. B. bei Beratungsbesuchen mit konkreten Fragen zur Planung einer Maßnahme (vgl. Im Anhang: III Besondere Anlässe (Workshops) und Organisationsbesuche). Eigene Versuche in Workshop-Situationen mit Instrumenten des participatory rural appraisal (PRA) in Gruppenarbeiten die Sicht und das Wis-
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sen der Akteure zum Thema lokal etablierte Rollen von Autoritäten und Führungsrollen in den neuen Indígena-Organisationen zu erheben, bestätigten eher die von MOSSE geäußerte Kritik, das diese Instrumente lokales Wissen eher konstruieren als erheben (vgl. MOSSE 2001), da in der Workshopsituation die Äußerungen der Teilnehmenden stark von erwarteten Erwartungen, die einer EZ-Fachkraft zugeprochen wurden, bestimmt zu sein schienen. Dokumentenanalyse Die Dokumentenanlayse (MAYRING 2002: 46-50), z. B. von Statuten und Reglements ermöglichen die Rekonstruktion der historischen Entwicklung der formalen Strukturen der untersuchten Organisationen. Darüber hinaus lassen sich auch Vorstellungen über Ziele und den Charakter der Organisation rekonstruieren. Dokumentenanalysen waren vor allem für die Erarbeitung der Fallbeispiele von MINGA und den Indigena Organisationen hilfreich. Sie spiegelten die Entwicklungen und Veränderungen formaler Organisation und ihrer offiziellen Ziele unter dem Einfluss der Organisationsberater der EZ wider. Rekonstruktion von Fallbeispielen Die Fallbeispiele einzelner Organisationen wie Amé Tauná, Ceramistas oder MINGA sind keine naturalistischen Abbildungen der Organisationen, sondern dienen heuristischen Zwecken. Die Fallbeispiele (vgl Kapital 5 und 6) sind soziologische oder sozialanthropologische Fallrekonstruktionen dar (vgl. FLICK 2009: 96)7, bei denen unterschiedliche Daten und Datenquellen dazu genutzt wurden um die Zusammenhänge bestimmter Aspekte der Organisationsentwicklung und Institutionalisierung einer Organisationspraxis zu untersuchen. Die Rekonstruktion der Fallbeispiele als Entwicklungsgeschichten knüpft an den analytischen Rahmen, vor allem das Systemmodell von SCOTT an und ermöglicht die Berücksichtigung von Veränderungen im den zeitlichen Verlauf. So kann auch die Prozessperspektive dargestellt werden. Bei den Bürgeraufssichtskomitees und den Indígena-Organisationen (vgl. Kapitel 7) wurden nicht mehr einzelne Organisationen, sondern mehrere Organisationen eines Typs gruppiert zu Fallbeispielen rekonstruiert.
7
Die Methodenliteratur zur Fallrekonstruktion ist spärlich und stammt aus dem Bereich der Sozialpsychologie, Biografieforschung und der Familiensoziologie. Die dort thematisierten Fallrekonstruktionen haben also Einzelpersonen und Dynamiken in kleinen Gruppen, Familien etc. zum Gegenstand (vgl FLICK 2009; FLICK & BAUER 2008: 603). Obwohl in der Entwicklungsländerforschung und der Sozialanthropologie häufig mit Fallrekonstruktionen gearbeitet wird, gibt es relativ wenig veröffentlichte praktische Erfahrungen und theoretische Überlegungen zu dieser Methode.
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Introspektion Die Tatsache, dass ich zunächst zwei Jahre als Organisationsberaterin mit den Organisationen gearbeitet hatte, die ich später erforschte, macht für mich die Introspektion (MAYRING 2002: 105) zu einer methodischen Notwendigkeit. Gleichzeitig stellt die Introspektion auch eine Chance dar, die emische Sicht der vor Ort arbeitenden Fachkräfte der Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen – auch wenn diese nicht im Fokus der Untersuchung stand wie beispielsweise in der Untersuchung von THOMAS HÜSKEN (vgl. HÜSKEN 2006). Da ich mich mit meinen eigenen normativen Vorstellungen von lokalen Organisationen auseinandersetzen musste, wie auch mit Gefühlen der Frustration bei Ergebnissen, die ich als Misserfolge oder Wirkungslosigkeit meiner beruflichen Anstrengungen wertete, oder mit Freude und Stolz, wenn ich den Eindruck hatte, eine Organisation erfülle ihre sozialen Zwecke und ich hatte einen konstruktiven Beitrag dazu leisten können. Diese emotionalen Reaktionen, die persönlichen Alltagstheorien, darüber warum die Leute so handeln wie sie handeln, wie auch eine genaue Rechenschaft darüber, was ich von den Organisationen, von einzelnen Personen in ihnen erwartet hatte und wie ich mit ihnen umgegangen war, geben Hinweise auf allgemein in der Entwicklungszusammenarbeit geltende Annahmen und normative Vorstellungen. Andererseits ermöglicht die Introspektion oder Selbstreflexion auch die Abgrenzung der eigenen professionellen Ansprüche von der institutionellen Logik einer großen Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. In Arbeitssituationen und Gesprächen mit Kollegen konnte ich zudem feststellen, dass sie von ähnlichen Erwartungen geleitet waren und oft ähnlich reagierten wie ich bei mir selbst erlebt hatte.
4 Die Untersuchungsregion Velasco als sozialer Kontext
Die Bildung formaler lokaler Organisationen im modernen Sinne begann in der Chiquitania im Vergleich zu anderen ländlichen Regionen Boliviens relativ spät gegen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahren. In dieser Zeitspanne wurden zahlreiche politische Organisationen zur Vertretung indigener, d.h. ethnisch definierter Interessen (der „Tieflandvölker“) gegründet sowie einige genossenschaftsähnliche Produzentenorganisationen. Zum Teil übernahm eine Organisation auch beide Funktionen. Die Gründung vieler wirtschaftlich orientierter „Bauernorganisationen“ war von staatlichen regionalen Entwicklungskorporationen initiiert, die zu dieser Zeit von der internationalen Entwicklungszusammenarbeit stark unterstützt wurden. In der Provinz Velasco, besonders in den Landgemeinden (comunidades), ist der Organisationsgrad der ärmeren Bevölkerungsgruppen, der Kleinbauern, Kleinbäuerinnen und Landarbeiter und ihren Familien bis heute niedrig. In der gesamten Region der Chiquitania gibt es im Vergleich zum bolivianischen Durchschnitt nur wenige lokale Organisationen. Ihre wirtschaftlichen oder politischen Aktivitäten sind – bis auf wenige Ausnahmen – vergleichsweise gering und wenig eigenständig. Die beobachtbaren Schwierigkeiten der externen Unterstützung und Beratung solcher Organisationen in Velasco, einer Provinz in der Chiquitania – aber auch die überraschende Eigenständigkeit einiger Organisationen – regten die zentralen Fragestellung dieser Untersuchung an: Wie entsteht eine regelmäßig-verbindliche und zielgerichtete Praxis der Kooperation zwischen Mitgliedern in diesen lokalen Organisationen bzw. was erschwert deren Zustandekommen? Die Untersuchungsregion ist nicht nur eine geografische Umwelt der Organisationen, sondern auch eine institutionelle Umwelt, insofern als die dort etablierten Wissensbestände, Vorstellungen und Interpretationsmuster Einfluss auf das Handeln der Mitglieder und die Kooperationspraxis in der Organisation nehmen. In diesem Kapitel werden verschiedene Dimensionen des regionalen, lokalen Kontextes der später analysierten Organisationsfallbeispiele beschrieben. Zunächst werden die allgemeinen Merkmale der Untersuchungsregion, der Provinz Velasco
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vorgestellt. Anschließend werden besondere historischen Entwicklungen oder Kontinuitätslinien in der Region Velasco herausgearbeitet, die zu bestimmten Orientierungen, Deutungs- und Wahrnehmungsmustern der Akteure in lokalen Organisationen geführt haben, die noch heute Geltung haben und für Organisationsprozesse relevant sein könnten. Hier werden drei Bereiche charakterisiert, in denen sich in der Region besondere Denk- und Handlungsmuster etabliert haben, die bis heute Geltung im lokalen Alltagswissen haben, und die damit die Erwartungen und Bewertungsmaßstäbe für das Handeln der Akteure in Organisationen beeinflussen. Diese historische Betrachtung, zeigt wie es in der kolonialen Grenzregion Santa Cruz und der noch heute randständigen Provinz Velasco zu der Paradoxie der Institutionalisierung von Informalität gekommen ist. Im letzten Teil des Kapitels werden historische Formen der Organisation in der Untersuchungsregion Velasco in ihrer konkreten Ausformung vorgestellt. Dabei soll nach möglichen Ursprüngen und Bezugspunkten für heute wirksames lokal geprägtes Organisationswissen der Akteure gesucht werden. Der kurze Blick in die für unser Thema relevante Regionalgeschichte wird zeigen, wie sich die Untersuchungsregion durch ein Wechselspiel zwischen „formaler Unorganisiertheit“ und besonders rigider, formaler Organisation auszeichnet.
4.1 S OZIALGEOGRAFISCHE M ERKMALE G RENZREGION V ELASCO
DER
Die Provinz Velasco befindet sich am nordöstlichen Rand des Departaments Santa Cruz (siehe Abb. 5). Ein Teil der nordöstlichen Grenze des Landkreises San Ignacio bildet die Grenze zwischen Bolivien und dem brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso. Die Provinz besteht aus drei Landkreis-Kommunen (municipios), deren Hauptorte San Ignacio, San Miguel und San Rafael, als Missionsdörfer der Jesuiten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet wurden. Über die Fernstrasse, die die drei Hauptorte der Provinz verbindet, gelangt man in östlicher Richtung in wenigen Stunden Fahrzeit zum Grenzübergang ins brasilianische Cáceres. Nach Westen ist die Reisezeit in die Departamentshauptstadt Santa Cruz mit acht bis zwölf Autostunden wesentlich länger. Zusammen mit den Provinzen Chiquitos und Ñuflo de Cavez, bildet Velasco die Region Chiquitania. Die geografisch randständige Lage und die lange politische und wirtschaftliche Isolation haben die Chiquitania als eine typische Grenzregion geprägt (vgl. RADDING 2005). Mit einer Flächenausdehnung von 65.425 km² ist Velasco die zweitgrößte Provinz des Departements. Mit insgesamt nur 56.702 Einwohnern, d.h. 0,9 Einwohnern pro Quadratkilometer, ist die Provinz Velasco eine der dünn besiedelten Provinzen des Departaments Santa Cruz. Die drei Hauptorte San Ignacio, San Miguel und San Rafael verzeichnen einen Zuzug aus den dünn besiedelten Teilen der Provinz. Der Zugug aus dem Hochland und aus dem nahen Brasilien ist in Velasco vergleichsweise
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gering und konzentriert sich ebenfalls auf die Hauptorte. San Ignacio ist der wirtschaftlich dynamischste und einwohnerstärkste Landkreis (municipio) und sein Hauptort ist das Zentrum der Provinz. Die Lebenswelt und die Einkommensverhältnisse in den „urbanen Zentren“ und den verstreuten Landgemeinden (comunidades) sind sehr unterschiedlich, auch wenn sich seit dem Inkrafttreten der Verwaltungsdezentralisierung und des Volksbeteiligungsgesetzes der Zugang zu öffentlichen Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen wie auch die Infrastruktur in vielen Landgemeinden (vor allem in San Ignacio) verbessert haben. Auch die katholische Kirche, die im Hauptort der Provinz, San Ignacio den Sitz der Diözese von Chiquitos unterhält, hat in Velasco wichtige Investitionen in Wege- und Brunnenbau und Viehzuchtprojekte für einige der Landgemeinden geleistet. Die Diözese ist einer der wichtigsten wirtschaftlichen Akteure, vor allem in der Rinderzucht, und auch einer der größten Grundbesitzer der Provinz (vgl. ÁLVAREZ ÁLVAREZ 2003). Abbildung 4 zeigt einen Auszug der Landkarte Boliviens. Zu sehen sind die vier Jesuitenmissionen der Untersuchungsregion Velasco im östlichen Teil des Landes. San Ignacio, San Miguel und San Rafael sind heute Zentren der drei gleichnamigen Landkreiskommunen, die das Untersuchungsgebiet bilden. Abbildung 4: Auszug einer Bolivienkarte mit den Orten San Ignacio, San Rafael und San Miguel
Quelle: Wikipedia
Klima und Vegetation der Provinz Velasco lassen sich in weiten Teilen dem subtropischen Trocken- und Feuchtwald zuordnen, mit (ursprünglich) ausgeprägten Regenund Trockenzeiten. Von Osten erstreckt sich die geologische Formation des brasilianischen Schildes bis weit in die Provinz hinein und begrenzt damit in weiten Gebieten
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die landwirtschaftlichen Ertragsmöglichkeiten; es erschwert und verteuert außerdem die Förderung von Grundwasser. In der Provinz sind die naturräumlichen Bedingungen mikroregional sehr unterschiedlich: Die flussreicheren und flussnahen Gebiete bieten bessere Möglichkeiten zur Landwirtschaft, Jagd und zum Subsistenz-Fischfang. Die Region erlebt in den letzten Jahrzehnten spürbare ökologische und klimatische Veränderungen, die zum Teil eine Folge der massiven Abholzung zugunsten des industriellen Soja-Anbaus sind, der sich seit den 1970er Jahre rund um die Hauptstadt des Departments Santa Cruz de la Sierra nach Osten ausdehnt. Auch heute noch geht in der Chiquitania die Abholzung zur Gewinnung von Flächen für die extensive Rinderhaltung und die oft illegale Vermarktung von Holz weiter. Die Niederschlagsmengen sind in den vergangenen 15 Jahren kontinuierlich gesunken. Da die Provinz grundsätzlich über nur mäßig geeignete Böden verfügt, haben die klimatischen Veränderungen starke Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion. Im größten der Landkreise, in San Ignacio, sind z.B. nur 5,78 % der Flächen für die landwirtschaftliche Bearbeitung geeignet. Gemäß der offiziellen Flächennutzungsplanung sind mit 65,58 % die meisten Flächen ausschließlich für die Waldwirtschaft geeignet und 21,56 % für die extensive Rinderhaltung.1 Der Verkauf von Holz und die extensive Rinderhaltung sind die wirtschaftlich lukrativsten Bereiche und befinden sich ökonomisch größtenteils in der Hand von Großgrundbesitzern und mittleren Betrieben. Abbildung 5 zeigt die Provinzen des in Boliviens Osten liegenden Departments Santa Cruz. Die Untersuchungsregion José Miguel de Velasco liegt ganz im Nordosten und ist mit einem Pfeil markiert.
1
Daten aus: ÁLVAREZ ÁLVAREZ und Landnutzungsplan (Plan de Uso del Suelo, PLUS) und Entwicklungsplanung des Landkreises (Plan de Desarrollo Municipal, PDM 2001-2005).
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Abbildung 5: Departament Santa Cruz und seine 14 Provinzen
Quelle: I. Anakin: „Bolivia department of SantaCruz“, Wikimedia Commons
Die bis vor wenigen Jahren schlechte infrastrukturelle Anbindung der Provinz hat sich in den vergangenen 10 Jahren erheblich verbessert. Die Landstraße von Santa Cruz bis nach Velasco und in Richtung brasilianischer Grenze wurde zu großen Teilen asphaltiert, wie auch die Straße nach Norden bis Trinidad im Departament Beni. Während die Reise von San Ignacio nach Santa Cruz (ca. 450 km) auf dem Landweg in den 90er Jahren in der Regenzeit auf der unbefestigten „Straße“ noch höchst beschwerlich sein konnte und 13 bis 20 Stunden dauerte, ist der Weg heute in weniger als der Hälfte der Zeit zu schaffen. An das Telekommunikationsnetz und Internet war die Region auch noch nach der Jahrtausendwende schlecht angebunden. Dies stellte ganz besonders für lokale soziale Organisationen der ärmeren ländlichen Bevölkerung der Provinz über lange Zeit ein großes Hindernis dar. Der inzwischen erfolgte Ausbau der Landstraße hat die Region wirtschaftlich integriert. Die bessere Anbindung führt aber auch dazu, dass land- und forstwirtschaftlich geeignete Flächen (Rinderhaltung und Holzreserven) im
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Wert steigen. Die kommunitären Ressourcen der kleinen Landgemeinden (comunidades) sind durch das gestiegene Nutzungsinteresse der lokalen Großgrundbesitzer und Unternehmen der brasilianischen Seite bedroht. Innerhalb der Provinz haben sich über die letzten Jahre die Wegeverhältnisse und der Transport zwischen ländlichen Gemeinden und Hauptorten in Folge der Verwaltungsdezentralisierung spürbar verbessert. Dennoch sind einige der ländlichen Gemeinden (comunidades) in der Regenzeit zeitweise von der Außenwelt abgeschnitten oder nur sehr mühsam erreichbar. Um in die urbanen Zentren des Landkreises zu gelangen, müssen viele Bewohner der comunidades kostspielige Tagesreisen auf sich nehmen. In den entlegenen Gebieten gibt es keine täglich oder regelmäßig verkehrenden Transportmittel. Bis vor kurzem konnten die Landgemeinden bestenfalls durch Radiofunkstationen mit den urbanen Zentren, dem Krankenhaus, staatlichen Einrichtungen, oder der Landkreisverwaltung kommunizieren. Die katholische Kirche betreibt ein Radioprogramm. Für die comunarios ist dieses Radioprogramm sehr wichtig, vor allem um Nachrichten und persönliche Botschaften an Verwandte oder – in seltenen Ausnahmen – an Geschäftspartner oder Organisationen zu senden bzw. von diesen zu erhalten. Erst in den letzten Jahren haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten durch Mobilfunknetze für einige Gebiete der Provinz verbessert. Im Zeitraum der Untersuchung waren Mobilfunktelefone2 für die Bevölkerung in den comunidades jedoch kaum erschwinglich. Ein bedeutsamer Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten der Region ist der Schattenwirtschaft zuzuordnen. Noch heute bilden illegale Geschäfte mit gestohlenen Autos, Drogenhandel3, Handel und Transport von illegal geschlagenem Holz4 und Schmuggelwaren aus Brasilien einen relevanten Anteil der lokalen Ökonomie. Dieser illegale Teil der Ökonomie ist mit der legalen Wirtschaft, ihren Marktakteuren und Märkten verschränkt.
2
Die im Vergleich zu vielen ländlichen Räumen Afrikas katastrophal schlechte Versorgung mit Infrastruktur und Medien der Telekommunikation in der Untersuchungsregion hängt vermutlich mit der Organisation des Telekommunikationssektors in vielen ländlichen Räumen Boliviens und so auch in Velasco zusammen. Die Versorgung wurde im Untersuchungszeitraum von zwei ineffizienten und korruptionsverdächtigen Kooperativen geleistet.
3
Der Drogenhandel blühte vor allem in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals bildet der Transport von Grundsubstanz (pasta basica) und später auch von verarbeitetem Kokain die größte Einkommensquelle der Provinz Velasco. Ab Mitte der 90er Jahre verstärkten die bolivianischen Regierungen mit Unterstützung der USA ihre Kontrollaktivitäten und verfolgten die illegalen Drogengeschäfte strafrechtlich.
4
Seit Ende der 1990er Jahre verfügt Bolivien über eine Gesetzgebung zur Regelung der Holzwirtschaft, die internationalen Standards gerecht wird, aber aufgrund der exekutiven Schwächen der zuständigen Behörden nur unzureichend vollzogen wird.
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Die gesamte Region der Chiquitania zeichnet sich durch starke sozio-ökonomische Ungleichheit und eine ausgeprägte soziale Schichtung aus. Der Anteil der Bevölkerung, der in armen bis sehr armen Verhältnissen lebt, ist in der Provinz mit durchschnittlich 77,8 % fast doppelt so hoch wie im Gesamtdurchschnitt des Departaments Santa Cruz, wo dieser Anteil 38,1 % beträgt (INSTITUTO NACIONAL DE ESTADÍSTICA 2004: 115). Die lokale Gesellschaft ist stark segregiert und gliedert sich in die folgenden sozialen Gruppen: (1) Die Armutsschicht besteht vor allem aus indigenen und mestizischen Kleinbauern und Tagelöhnern, die zum größten Teil aus den comunidades stammt, aber zunehmend in die urbanen Zentren einwandert, um dort zeitweise oder dauerhaft zu leben. Einigen von ihnen gelingt es, durch Tagelohnarbeit oder als Hausangestellte in den reicheren Haushalten ein kleines Einkommen zu erzielen und damit zum Beispiel ihren Kindern eine weiterführende Schulbildung zu ermöglichen. Ein großer Teil der ärmeren Bevölkerung wird der ethnischen Gruppe der Chiquitano5 zugerechnet. (2) Eine kleine Schicht von mittelständischen Gewerbetreibenden, die vor allem in den „urbanen Zentren“ lebt. Sie setzt sich aus mestizischen Alteingesessenen und Zuwanderern aus dem bolivianischen Hochland, zumeist den Ethnien der Aymara und Quechua angehörend, sowie Zuwanderern aus aus Brasilien zusammen. Die Einwanderer sind vorwiegend im Handel und Dienstleistungssektor in den urbanen Zentren ökonomisch aktiv. (3) Eine sehr kleine Schicht wohlhabender mestizischer Viehzüchter und Großgrundbesitzer (darunter Bolivianer, stark zunehmend aber auch Brasilianer)6, die nur zum Teil in Velasco leben. Viele halten sich hauptsächlich in der Department-Hauptstadt Santa Cruz auf. Diese drei Schichten sind scharf voneinander abgegrenzt und wenig durchlässig. Zwischen den Immigranten aus dem Hochland und den Alteingesessenen besteht wenig Kontakt; teilweise wird den Einwanderern mit Feindseligkeit begegnet. Die lokale Oberschicht der Provinz Velasco ist in verschiedenen Netzwerken über Parteien und Kirche lose organisiert und hatte bis vor wenigen Jahren alle wesentlichen politischen Funktionen inne. Die katholische Kirche bildet in der Region ein wichtiges sozioökonomisches Strukturelement und ist ein ökonomisch potenter und einflussreicher Akteur, der in der institutionellen Form der Diözese Chiquitos auftritt, die ihren Sitz in San Ignacio
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Es handelt sich bei den Chiquitanos um eine „Sammelkategorie“ verschiedener Sprachgruppen, die im Sinne einer Ethnogenese (vgl. TOMICHÁ CHARUPÁ 2002) von den Jesuiten im 17. Jahrhundert im Zuge der Missionierung geformt wurde.
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Zu den Grundbesitzverhältnissen vgl. Álvarez Álvarez 2003.
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hat. Die Konfession der Bevölkerung der Region ist mehrheitliche römisch-katholisch. Der übrige Teil gehört einer der in ganz Lateinamerika weit verbreiteten evangelikalen Kirchen an.
4.2 H ISTORISCH TRADIERTE D ENK - UND H ANDLUNGSMUSTER Die jesuitisch und kolonial geprägte Vergangenheit ist in der Provinz Velasco noch heute an vielen Stellen sichtbar. Dies gilt sowohl für die Hauptorte wie auch für viele Landgemeinden (comunidades), deren Siedlungsstruktur, beispielsweise die Lage und Gestaltung des zentralen Platzes, der kleinen Kirche und Kapellen und des Versammlungshauses des Gemeinderates (cabildo), die nach dem Vorbild der jesuitischen Missionen (reducciones) gestaltet sind, wie auch für die Hauptorte. Bis heute identifizieren sich nicht nur die Nachfahren der indigenen ehemaligen Einwohner der Missionsdörfer mit der Geschichte und Kultur der reducciones, sondern auch die spanischstämmige und mestizische Bevölkerung, die erst nach dem Rückzug der Jesuiten eingewandert ist. In den Orten San Miguel und San Rafael dominieren die großen Kirchen das Ortsbild, die im 17. und 18. Jahrhunder im lateinamerikanischen Barock erbaut wurden. Sie gehören zum UNESCO Weltkulturerbe und wurden mit Fördermitteln und Spenden aus Österreich, Deutschland und Spanien aufwendig restauriert. Die Oberschicht in den urbanen Zentren hat sich die geschichtliche Identität der Region in Form von Missionsfolklore und einem fröhlich bunt-barocken touristischen Corporate-Design der Region mit großer Begeisterung angeeignet. Regionalentwickler und Regionalpolitiker unternehmen viele Anstrengungen um diesen Teil der Geschichte der Chiquitania touristisch verwertbar zu machen. Die rasche positive Umdeutung einiger Bestandteile der „Chiquitanokultur“ ist für die von kleinbäuerlicher Subsistenz lebende Bevölkerung der Landgemeinden kaum nachvollziehbar. Innerhalb weniger Jahre wurden Elemente ihrer kulturellen Praxis, wie z.B. die traditionelle Kleidung (die heute im Alltag kaum jemand trägt) oder einige Begriffe aus dem Chiquitano7 als regionale kulturelle Identitätsmerkmale positiv herausgestellt und für den Tourismus und andere regionale Produkte in Wert gesetzt. Die indigenen Elemente der lokalen Kultur waren seit der Gründung der Republik Bolivien vor fast zwei Jahrhunderten als minderwertig und rückständig stigmatisiert und wurden teilweise mit repressiven Mitteln von Kirche und Staat bekämpft oder diskriminiert. Während die Schulkinder noch in den späten 80er Jahren
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Nach dem indigenen „Amé Tauná“ (Komm her!) sind nun auch ein Gasthof und eine Unterkunft in der Chiquitania benannt.
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dafür bestraft wurden, wenn sie Chiquitano sprachen, soll die Sprache heute im Unterricht gefördert werden8. Im Folgenden sollen drei Bereiche historisch geprägter Denk- und Handlungsmuster rekonstruiert9 werden, die für die Region Chiquitos und die Provinz Velasco kennzeichnend sind und – so die hier aufgestellte Arbeitshypothese – bis heute die kulturell-kognitiven Grundlagen vieler Akteure in lokalen Organisationen prägen: • die mikrolokale Unterschiedlichkeit und Eigensinnigkeit der Selbstverwaltungsor-
ganisation der kleinen Landgemeinen (comunidades), • die paternalistische soziale Ordnung der lokalen Gesellschaft, • das Paradoxon der institutionalisierten Informalität.
Auf diese Bereiche historischer Kontinuität wird in der späteren Analyse und der vergleichenden Betrachtung der Fallbeispiele (in Kapitel 5 bis 8) zurückgegriffen. 4.2.1 Die mikro-lokale Eigensinnigkeit der Organisation der Selbstverwaltung Die politische Organisation der verschiedenen präkolumbianischen ChiquitanoVölker war bis auf wenige Ausnahmen kleinräumig strukturiert. Es herrschte große kulturelle und sprachliche Vielfalt. Erst in der Zeit der jesuitischen Missionsdörfer, die als „reducciones“ bezeichnet werden, wurde unter der Autorität der Jesuiten Pater ein einheitlicheres und nahezu alle Lebensbereiche umfassendes System der Organisation errichtet. Die abrupte Ausweisung der Jesuiten aus dem Kolonialgebiet durch die spanische Krone bedeutete das Ende der reducciones und führte zu einer Zersplitterung der sozio-politischen Organisation in der Region. In zwei Wellen im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. FISCHERMANN 1994) wurden Landgemeinden (comunidades) unter unterschiedlichen Bedingungen und mit unterschiedlicher Zusammensetzung gegründet. Die älteren comunidades wie San Javierito (Landkreis San Ignacio) gehen oft auf eine oder wenige Gründerfamilien zurück. Bis heute entstehen im Zuge der Besiedlung freier Flächen immer wieder neue Siedlungsgemeinden. Die Siedlungsgemeinden sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegründet worden und ihre Selbstverwaltungskultur orientiert sich an unterschiedlichen Bezugsrahmen. Die Zusammensetzung, Struktur und die Aufgaben des cabildo comunal (innerhalb der comunidad) orientiert sich in vielen Gemeinden wie dem oben erwähnten San Javierito noch immer eindeutig am Modell der jesuitischen Missionsdörfer. An seiner Spitze steht 8
Dies ist zum Teil regionalpolitisch, zum Teil aber auch durch die nationale Erziehungsre-
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Bei dieser Rekonstruktion wird hauptsächlich auf historische und ethnografische For-
form bedingt. schungsergebnisse zurückgegriffen.
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der cacique general. In vielen Gemeinden weichen Ämterbezeichnungen, Leitungsstrukturen (Kompetenzzuweisungen) und Entscheidungsverfahren von diesem Modell stark ab. In den neueren Landgemeinden im Nordosten des Landkreises sind die jesuitischen Bezeichungen für lokale Autoritäten nicht gebräuchlich oder haben einen anderen, neuen Sinn bekommen10. Viele comunarios im Nordosten Velascos sprechen Portugiesisch, weil sie als Tagelöhner jenseits der Grenze arbeiten. Die Sprache des Chiquitano ist kaum bekannt. Die lokale Eigensinnigkeit in der Selbstverwaltung der ländlichen Siedlungsgemeinden beruht auf ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit und Zusammensetzung ihrer Bevölkerung. Diese Situation führt in der Untersuchungsregion dazu, dass Selbstverwaltung und Organisationskultur nur mikrolokal institutionalisiert sind. Teilweise haben sich diese lokalen Kulturen, wie im Falle San Javieritos als sehr stabil und kulturell-kognitiv stark institutionalisiert erwiesen. In vielen anderen Gemeinden wird die Frage wie und von wem im Ort welche Entscheidungen gefällt werden und welche Verbindlichkeit dies für die Bewohner hat, immer wieder in Frage gestellt bzw. kann die Praxis der Gemeindeorganisationen sich grundlegend ändern, sobald eine andere Person, mit einem anderen Temperament oder Erfahrungen, eine Autoritätsrolle besetzt. Dies erschwert in der Untersuchungsregion Velasco die Einigung auf allgemein akzeptierte und kohärent interpretierte Formen politischer Repräsentation der lokalen Indigena-Organisationen wie auch die Organisation von Entscheidungsprozessen auf einer höher aggregierten Ebene. 4.2.2 Die paternalistische Ordnung der Gesellschaft Die typischen Verhaltensweisen der Bevölkerung der Landgemeinen (comunidades) in Interaktionen mit den spanischstämmigen und mestizischen Amtspersonen und gegenüber Vertretern der Kirche zeugen davon, wie sehr die Bewohner Velascos bis heute von einem kulturell-kognitiv verankerten Paternalismus geprägt sind. Dieser Paternalismus begann mit den Missionsdörfern der Jesuiten (reducciones) im 17. und 18. Jahrhundert, in denen mehrere Tausend Bewohner, die Mitglieder unterschiedlicher indígener Sprachgruppen waren, der Autorität von ein oder zwei Priestern untergeordnet waren (vgl. Kapitel 4.3.2.). Gleichzeitig ließen die jesuitischen Padres einen klar umgrenzten Bereich der Selbstverwaltung in kulturell gleichen Gruppen (parcialidades) zu. So entwickelte sich in einigen Gemeinden eine Innenwelt, die nach außen relativ stark abgegrenzt war. Die Padres sahen und behandelten die Einwohner der reducciones eher wie Kinder (vgl. KREKELER 1993). 10 Die Beobachtung dieser mikrolokalen Unterschiede der Selbstverwaltungskultur der Landgemeinden in der Chiquitania beruht auf vielfältigen, aber unsystematischen Besuchen in solchen Gemeinden, die im Rahmen der Beratungstätigkeit der Autorin stattgefunden haben. Sie sind wissenschaftlich bis jetzt nur wenig bearbeitet worden.
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Später dehnte sich der Paternalismus der Padres auch auf säkulare soziale Beziehungen aus, deren Grundlage soziale Abhängigkeit war. Diese Abhängigkeit kulminierte in der Zeit des Kautschukbooms, als indigene Arbeiter in der Provinz Velasco über Schuldknechtschaft in totale Abhängigkeit gerieten. Die nachkommenden katholischen Priester übernahmen oft die paternalistische Rolle der Jesuiten. Bis heute verhalten sich die Bewohner der Landgemeinden gegenüber Angehörigen der mestizischen Mittel- und Oberschicht in einem Habitus der Inferiorität. Souveränität beanspruchen die comuniarios in der Regel nur für ihren engsten Lebensbereich und vor allem bei der Ausübung religiöser Zeremonien (vgl. STRACK 1991). Die von umfassender Unterlegenheit gekennzeichnete soziale Rolle der ärmeren Bevölkerung stellt für die Bildung politischer Organisationen zur Vertretung der Interessen von comuniarios und Indigenen eine ideelle bzw. ideologische Hürde dar. Ideen wie die der Gleichheit (nicht nur innerhalb der Gemeinschaft), der Fairness, der Menschenrechte oder demokratischer und indigener Sonderrechte sind mit dem paternalistischen Modell grundsätzlicher Abhängigkeit, Unterlegenheit oder Unmündigkeit der ärmeren Bevölkerung nicht vereinbar. Einige der hier untersuchten Fallbeispiele zeigen, wie das paternalistische Gesellschaftsbild die Interpretation und Typisierung bestimmter lokaler Organisationen beeinflusst. 4.2.3 Die institutionalisierte Informalität Die Kennzeichnung der „Informalität“ als „institutionalisiert“ erscheint paradox zu sein. Sie beschreibt dennoch zutreffend die Praxis der Kooperation und Organisation im Untersuchungsgebiet. In Velasco hat sich im Lauf der Geschichte eine Praxis etabliert, in der viele staatliche regulative Institutionen (Gesetze und Vorschriften) zwar symbolisch anerkannt werden, doch das soziale Handeln wird weniger durch allgemein gültige Regeln, als durch die mitunter wechselnde Macht des Stärkeren bestimmt. Die lokale Gesellschaft und ihre Akteure haben sich auf diese Art des Umgangs mit formalen Regeln langfristig einstellt und sehen dies als Normalität. Informalität ist damit kulturell-kognitiv institutionalisiert. Für die Untersuchungsregion Velasco und das bolivianische Tiefland im Allgemeinen kann man von institutionalisierter Informalität sprechen. Als Teil einer isolierten und ausgedehnten Grenzregion lebte man in der Provinz Velasco seit Beginn der spanischen Eroberung immer weit entfernt vom Machtzentrum, das formale Regeln und Normen setzte. Die zentrale Ordnung wurde zwar formal bzw. symbolisch anerkannt, hatte aber keine moralische oder regulative Verbindlichkeit für das praktische Handeln in Velasco und für die weitere Region des ostbolivianischen Tieflandes. Dieses Prinzip moralischer und regulativer Doppelstandards spiegelt sich in dem offiziell ausgegebenen Leitspruch: „Man respektiere das Gesetz formal, erfülle es aber nicht“ (vgl. Kapitel 4.3.2). Diese Haltung gegenüber staatli-
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chen Normen verfestigte sich in der Region zu einer öffentlich und allgemein akzeptierten Kultur der Informalität. Jegliche staatliche Vorschrift wurde flexibel, in der Regel den Interessen der lokalen Machtgruppen entsprechend interpretiert. Die faktische lokale Ordnung war in Velasco über Jahrhunderte durch die lokalen Machthaber bestimmt, die sich aus dem Kreis der Eroberer, der kirchlicher Autoritäten, und später auch der mestizischen Machtgruppen oder der gerade regierenden Partei oder Koalition bildeten. Die beständige Normalität der Informalität war auch im 20. Jahrhundert mitverantwortlich für die verzögerte und unvollständige Umsetzung staatlicher Reformprojekte in der Region, wie z. B. die Agrarreform von 1953.11 Das Beispiel der Bürgeraufsichtskomitees wird zeigen, wie lokale Machtgruppen bzw. lokale Politiker in Velasco auch noch in den Jahren 2001 bis 2010 relativ erfolgreich ihre Deutungen der Praxis lokaler politischer Organisationen durchsetzen konnten und die formal geltenden Normen und Regeln, zum Beispiel die des „Volksbeteiligungsgesetzes“, dabei so uminterpretierten, dass ihre politische Vormachtstellung in der lokalen Arena der Landkreiskommune San Miguel nicht gefährdet war. Allerdings zeigt das Fallbeispiel auch, dass diese Deutungsmacht ihre Grenzen fand als neue Akteure die Arena betraten und eine andere Interpretation des Gesetzes geltend machen konnten. Die institutionalisierte Informalität setzte sich in diesem Fallbeispiel dennoch in der Praxis der neuen Akteure in anderer Form weiter fort.
4.3 H ISTORISCHE O RGANISATIONSFORMEN IN DER C HIQUITANIA In der Geschichte der Provinz Velasco lassen sich historische Formen von sozialer Organisation und Kooperationspraxis finden, die bis heute fortwirken und auf die auch heute noch explizit Bezug genommen wird. So dienen in einigen der lokalen Organisationen Formen der Kooperation nach lokal tradierten Regeln als Vorbilder und Referenz für die Organisationspraxis (vgl. Kapitel 5). Auch im Diskurs der indigenen Bewegung Boliviens wird immer wieder auf die vorkolonialen Formen der Kooperation und Organisation rekurriert. Ein besonders prominentes historisches Beispiel stark geregelter Organisation stellen die in der Region Velasco im 17. und 18. Jahrhundert von den Jesuiten gegründeten Missionsdörfer dar. Bis heute werden einige der Bezeichnungen, die in den Missionsdörfern für bestimmte funktionale oder leitende Rollen und Strukturen ihrer Verwaltungsorganisation galten, in der Selbstverwaltung von vielen der kleinen Landgemeinden (comunidades) verwendet. Diese Praxis wirft die Frage auf, inwiefern diese historischen Organisationsmodelle und 11 Indirekt zeigt sich das praktische Scheitern der Agrarreformen in der Region durch die Notwendigkeit von Landrechtprojekten wie in MINGA und CCISM.
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ihre institutionellen Grundlagen bis heute weiter Geltung haben und für die Handlungspraxis in lokalen Organisationen in der Provinz Velasco eine Orientierungsgröße sind. Dazu sollen die wichtigsten dieser historischen Modelle für Kooperation und Organisation nun vorgestellt werden. Ob es sich beim Rekurs auf historische Formen der Organisation um handlungsleitendes Organisationswissen bzw. um wirkliche Überzeugungen der Akteure handelt, oder ob auf diese nur aus rhetorischen oder symbolischen Gründen Bezug genommen wird, lässt sich im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht vollständig aufklären, da hierzu qualitative Einzelanalysen über die Einstellungsmuster und Handlungsweisen der Akteure in der Organisationspraxis notwendig wären. Es ist aber sinnvoll, historische Organisationserfahrungen in der institutionalistischen Analyse der heutigen Praxis in Organisationen als möglichen Referenzrahmen für lokales Organisationswissen zu berücksichtigen. 4.3.1 Organisationsformen der indigenen Bevölkerung der Chiquitania vor und zu Beginn der Kolonialzeit Während der ersten Jahrzehnte der spanischen Kolonisation der Region Santa Cruz gab es in der Untersuchungsregion (dem heutigen Velasco) kaum dauerhafte Besiedlung. Über das soziale Leben der in der Region lebenden indigenen Bevölkerung gibt es nur die Berichte zeitgenössischer europäischer Einwanderer und Besucher. Im Folgenden sollen einige Wesenszüge der sozialen Organisation und Kooperation der indigenen Bevölkerung vorgestellt werden, wie sie in der frühen Kolonialgesellschaft im Department Santa Cruz, in dem die Provinz Velasco liegt, von externen Besuchern dokumentiert wurden. Diese sind zum Teil in der Praxis der Fallbeispiele widererkennbar.12
12 Über die Zeit vor dem Kontakt zu den Kolonisatoren können keine Aussagen gemacht werden. Die hier referierten Berichterstatter machten ihre Beobachtungen über die Indigenen und das soziale Gefüge ihrer Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als diese oder deren Vorfahren möglicherweise bereits Kontakt mit den Europäern gehabt hatten. Seit Gründung der Stadt Santa Cruz de la Sierra 1559 an ihrem ersten Standort im Südosten der heutigen Chiquitania bestand ein kontinuierlicher Kontakt zwischen autochthoner Bevölkerung und spanischen Neusiedlern. 1595 zogen sich die Europäer nach gut 35 Jahren wegen der ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit der dort lebenden autochthonen Bevölkerung aus der Chiquitania zurück. Sie gründeten Santa Cruz unter demselben Namen etwa 300 km entfernt an seinem heutigen Standort neu. Der größte Teil der autochthonen Bevölkerung blieb in der Chiquitania-Region, hatte jedoch zur Beschaffung von Metallwerkzeugen Kontakte mit den Europäern (vgl. allgemein dazu METRAUX 1943). TOMICHÁ CHARUPÁ vermutet, dass es in dieser Zeit bereits zu einer fortwirkenden Aufnahme von Elementen der Kultur der Eroberer in die kulturelle Praxis der autochthonen
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Zu Beginn der Kolonisation lebte die autochthone Bevölkerung in der Untersuchungsregion bzw. in der gesamten heutigen Chiquitania, ähnlich wie andere Völker des amazonischen Tieflandes, in dispersen und zumeist kleinen Siedlungsgruppen von etwa 15 bis 20 Familien (zur Untersuchungsregion KREKELER1993: 132). Diese Siedlungsgruppen wiesen eine geringe soziale Schichtung auf (vgl. die allgemeinen Aussagen dazu von GOLTE 2001: 53). Die kulturelle Praxis innerhalb dieser Siedlungsgruppen, einschließlich ihrer Organisationsformen, ist in der gesamten Region auffallend heterogen. Der Jesuiten Pater JOHANN KNOGLER berichtet dazu: „... lo que he observado durante mi estadia entre la gente de este pueblo no vale también para otras tribus indias; las cualidades y costumbres de la gente de esta raza son tan desiguales como las regiones donde habitan.“ (KNOGLER 1769/1979:123)13
Die kulturelle Vielfalt und die kleinräumigen Gemeinschafts- bzw. Organisationsformen zeigen sich auch in der großen Diversität der lokalen Sprachen: Die Siedlungsgemeinschaften in vorkolonialer Zeit gehörten vielen unterschiedlichen Sprachgruppen an, deren Systematisierung bis heute nicht gelungen ist.14 Auch die soziale Ordnung der verschiedenen autochthonen Siedlungsgemeinschaften variiert von Gruppe zu Gruppe und selbst innerhalb einer Gemeinschaft kann sie flexibel gehandhabt wer-
Bevölkerung gekommen sein kann, vor allem durch die Handelsbeziehungen mit den europäischen Neusiedlern in der Stadt Santa Cruz (DERS: 220). Einige Ethnologen sind dagegen der Meinung, dass die autochthonen Bewohner der Region nach der Abwanderung der Spanier in das neu gegründete Santa Cruz weitgehend zu ihrer alten Lebensweise zurückkehrten (METRAUX 1942: 118, RIESTER 1976: 123; vgl. FINOT 1939). 13 „ … was ich während meines Aufenthalts bei den Leuten beobachtete, ist keineswegs für andere indianische Stämme auch gültig; die Merkmale und Sitten der Leute dieser Rasse sind so unterschiedlich, wie die Regionen in denen sie leben.“ (Rückübersetzung in heutiges Deutsch, GB; der Originaltext war von Knogler im Deutsch des 18. Jahrhunderts verfasst) 14 TOMICHÁ CHARUPÁ (ders: 244 ff) nennt z. B. 4 Sprachgruppen (Arawak, Chaparuca, Guaraní, Otuqui, Zamuca) und 12 verschiedene “Dialekte” des „Chiquitano“ (das dem Arawak zugeordnet wird) die im Einzugsgebiet der 10 Missionen der heutigen Chiquitania gesprochen wurden. Bei den Dialekten könnte es sich aber auch um unterschiedliche Sprachen gehandelt haben.Metraux schreibt: „One of the most hopeless tasks of South American ethnology isthat of obtaining a clear picture of the linguistic affiliations or even of the exact locations of the Indian tribes of the vast region known as the Province of Chiquitos, which is bordered on the south by the Chaco deserts, on the east a the Paraguay River and by the marches of its upper course, on the west by the Rio Grande (Guapay River), and on the north by a line more or less following 15° S. lat.” (METRAUX 1942: 114)
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den. JÜRGEN GOLTE hat in Bezug auf das südamerikanische Tiefland darauf hingewiesen, dass eine lebensräumliche Situation mit leicht erreichbaren Feldern und Sammelarealen wie sie in der Untersuchungsregion vorgelegen hat, eine kleinteilige Siedlungsorganisation begünstigt, die sich auf verwandtschaftliche Gruppen beschränkt (vgl. GOLTE 2001: 54). Der Arbeitstausch ist eine der vor- bzw. frühkolonialen Grundformen der Kooperation der Indigenen (zur aktuellen Praxis vgl. ARRIEN GUTIÉRREZ 1990). Der Arbeitstausch fand in der Regel nur innerhalb von großfamiliären oder freundschaftlichen und durch symbolische Verwandtschaftsbeziehungen gefestigte Netzwerke statt. Institutionalisierte Regeln15 schrieben die Rechte und Pflichten und damit die Kriterien der Reziprozität vor, und sicherten so den Arbeitstausch in bereits etablierten Vertrauensbeziehungen noch einmal ab. Im Untersuchungsgebiet der Chiquitania wurde Arbeitstausch häufig in einer festlichen Form gestaltet und als bobikixh (Region Lomerío) oder metósh (Provinz Velasco) bezeichnet. RIESTER übersetzt die wörtliche Bedeutung von metósh mit „Falle“: Wer daran teil hatte war durch den Arbeitstausch moralisch zu weiterem Tausch verpflichtet und sozial eingebunden. Der Arbeitstausch wie auch Formen der Gemeinschaftsarbeit spielen in einigen Fallbeispielen eine wichtige Rolle in der Arbeitspraxis wie auch als Symbol für die Zugehörigheit zu den kleinen Organisationen Amé Tauná und Ceramistas (vgl. Kapitel 5). In anderen Organisationen spielte der Arbeitstausch jedoch keine Rolle, obwohl im Fall der Produzentenorganisation MINGA sogar ein weiterer Begriff für Arbeitstausch als Name der Organisation gewählt worden war (vgl. Kapitel 6). Eine der wichtigsten Praktiken des Alltags zur Festigung von Vertrauensbeziehungen war die gegenseitige Einladung zur chicha16, einem nahrhaften Getränk auf der Grundlage von fermentiertem Mais oder anderen stärkehaltigen Früchten, das je nach Fermentierungsdauer süß, oder alkoholhaltig sein konnte. Die chicha wurde täglich konsumiert und stellte einen wesentlichen Bestandteil der Ernährung dar. Darüber hinaus wurde die chicha nach genauen Regeln bei den festlichen Formen des reziproken Arbeitstausches verwendet. Sie wurde aber auch in den ausgedehnten Mußezeiten, wenn sich die Familien gegenseitig besuchten, als Gabe gereicht, um die gegenseitigen vertrauensvollen und fürsorglichen Beziehungen zu manifestieren. Ihre Herstellung, Darreichung und ihr Genuss fand – und findet teilweise bis heute – bei Festen in stark ritualisierter Form statt und hat eine symbolische Funktion 15 Heute wird allgemein für jede Form des Arbeitstausches der Begriff minga verwendet, der aus dem Quechua in die bolivianische Alltagssprache übernommen wurde (vgl. ARRIEN GUTIÉRREZ 1999: 60) Die von ARRIEN GUTIÉRREZ beobachteten und detailliert beschriebenen Formen und Regeln der Arbeitskooperation werden im Abschnitt über heutige comunidades erläutert. 16 Der entsprechende Ausdruck in der Sprache der Chiquitano ist naxixh, der Ausdruck chicha aus dem Hochland ist heute in der Chiquitania aber allgemein gebräuchlicher.
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(TOMICHÁ CHARUPÁ 2002: 305) Die Herstellung der chicha war nach Einschätzung der frühkolonialen Beobachter eine typische Aufgabe der Frauen. Die hohe, Gemeinschaft und Zugehörigkeit symbolisierende Bedeutung der Chicha hat sich bis heute beispielsweise in der Organisationspraxis in den Fallbeispielen von Amé Tauná und den Ceramistas erhalten (vgl. Kapitel 5). Bei Ankunft der Missionare hatten die indigenen Siedlungsgruppen in der Chiquitania nur sehr schwache politische Organisationsstrukturen. In den lokalen Gemeinschaften wurden Führung und Leitung im weltlichen und im spirituellen Bereich oft von verschiedenen Personen übernommen. Das profane Oberhaupt der gesamten Siedlungsgruppe nahm in der Regel eine nur wenig herausgehobene Stellung ein. Weltliche Führungsaufgaben begrenzten sich in den meisten Gemeinschaften in Situationen ohne Bedrohung und Konflikte mit äußeren Feinden, auf die Organisation von Jagd- und Fischfangaktivitäten (HOFFMANN 1979: 17f; BALZA 2000: 77; KNOGLER 1769/1979: 139). In der frühkolonialen Phase ist aus den lokalen Sprachen in der Untersuchungsregion kein Eigenwort für ihre weltlichen Anführer bekannt. Die Bezeichnung ma oynica atonie (span. „los hombres propiamentedichos“, dt. „Männer/Menschen im eigentlichen Sinne“) wurde zwar für profane Anführer benutzt. Sie konnte wahrscheinlich aber jedes männliche Mitglied17 der Gemeinschaft bezeichnen, dem Respekt und Anerkennung gezollt wurde (TOMICHÁ CHARUPÁ 2002: 315)18. Die sprachliche Praxis spiegelt damit die geringe Statusdifferenz zwischen weltlichen Anführern und den übrigen Mitgliedern der Gemeinschaften wider. Der geringe Status von Führungsrollen ist bis heute ein Merkmal vieler kleiner Landgemeinden (comunidades) in der Untersuchungsregion. Im Fallbeispiel der Praxis der Produzentenorganisation MINGA zeigt sich, dass diese kulturell-kognitive Institutionalisierung schwacher Hierarchien auch für die Organisationspraxis einer formalen Produzentenorganisation relevant ist (vgl. Kapitel 6.2.1). Über die Dorfgemeinschaften hinaus existierten in der Region keine beständigen autochthonen Strukturen sozialer Organisation oder Koordination und auch keine Führungsinstitutionen. Innerhalb der Gemeinschaften wurden Entscheidungen nach Möglichkeit weniger nach feststehenden oder gar kodifizierten Prinzipien, sondern situationsbezogen getroffen. Man könnte hier von einem vorkolonialen Subsidiaritätsprinzip sprechen, d.h. Handlungen und Problemlösungen wurden möglichst von der kleinsten Gruppe oder auf der untersten Ebene getroffen. Angelegenheiten der 17 Balza versteht jedenfalls unter „hombres“ nicht Menschen, sondern Männer, in einem Text von Knogler über die Bezeichnung ma oynica atonie („los hombres propiamente dichos“) und betont die Hervorhebung kriegerischer Tugenden in diesem Ausdruck (BALZA 2000: 74). 18 Der profane Anführer wurden im 20 Jahrhundert in der Chiquitano-Sprache teilweise als iriabórsch oder kaizikahi bezeichnet, das an das caciqui aus dem Arawak angelehnt scheint (RIESTER 1976:158; FREYER 2000: 71).
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Familie lagen soweit wie möglich in der Zuständigkeit des Familienoberhauptes, Angelegenheiten der Sippe beim Oberhaupt der Sippe, usw. (RIESTER 1976: 146 f). Bei internen Konflikten in der Siedlungsgruppe, die innerhalb der Familien und von deren Schamanen nicht gelöst werden konnten, gab es keine übergeordneten Institutionen zur Entschärfung oder Regelung von Konflikten. In nicht lösbaren Konfliktsituationen trennten sich die Konfliktparteien räumlich, indem sie weiterzogen (vgl. GOLTE 2001; BALZA 2000: 82). Die Spaltung und Verkleinerung der Siedlungsgemeinschaft brachte keine existenziellen Schwierigkeiten für beide Seiten mit sich, und so war die Schwelle zur Gruppenteilung niedrig. Der lokale Siedlungsverband war also relativ lose und veränderbar. Bis heute ist die Lebenswelt in den kleinen Landgemeinden in der Provinz Velasco durch geringe übergreifende politische Organisation gekennzeichnet. Leitungsrollen sind kaum mit einem erhöhten Status verbunden. Dieser Umstand soll hier nicht allein auf Organisationsformen aus der frühen Kolonialzeit zurückgefüht werden. Viele weitere historisch-gesellschaftliche Entwicklungen haben zur Erhaltung des niedrigen Organisationsgrades beitragen. Dennoch bleibt hier festzuhalten, dass einzelne Praxisformen aus der vor- oder frühkolonialen Zeite auch heute noch Teil des symbolischen Bezugsrahmens in der Praxis lokaler Organisationen sind. Darüber hinaus sind grundlegende Merkmale der sozialen Ordnung in der Selbstverwaltung erhalten geblieben, wie zum Beispiel der geringe Statusunterschied, den die Inhaber weltlicher Führungsrollen genießen. 4.3.2 Institutionen und Organisationsformen während der Kolonialzeit In der Kolonialzeit hat sich in der Region um Santa Cruz eine soziale Praxis im Umgang mit zentralen (staatlichen) Regeln entwickelt, die bis heute auf den Umgang mit formalen Regeln und übergeordneten Institutionen eine prägende Wirkung hat.19 Auf der formalen normativen Ebene finden sich die von der spanischen Kolonialmacht 19 Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse beruhen im Wesentlichen auf einer Sekundäranalyse von historiografischen Arbeiten und Analysen zum Thema der Etablierung institutionalisierter Ordnungen im Prozess der Kolonisierung und Missionierung der Untersuchungsregion (vgl. TOMICHÁCHARUPÁ 2002; GARCÍA RECIO 1988; RADDING 2005, 2002, 2001; FISCHERMANN 1994; FISCHERMANN & QUIROGA 1998; PAREJAS MORENO 1992; MERKL 1999, HOFFMANN 1979). Darüberhinaus werden allgemeine historische Forschungsergebnisse zur Organisation des Kolonialstaates und seiner Institutionen – insbesondere rechtsförmiger Institutionen – in Südamerika mit einbezogen (vgl. PIETSCHMANN 1980, 1980a und 1990; MÖRNER 1980; EDELMAYER 2001; KONETZKE 1965; FINOT 1978) Zusätzlich gaben rechtsgeschichtliche Analysen wichtige Aufschlüsse (DUVE 2008; GARCÍA-GALLO 1987; CUENA BOY 2006; LEVAGGI 2001).
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entworfenen Ordnungsstrukturen für die Kolonialgebiete, die verwaltungsrechtlich zum großen Teil eine Spiegelung der Institutionen des spanischen Staates im Mutterland waren (PIETSCHMANN 1980: 100), die erst kurze Zeit zuvor von den spanischen Königen im Mutterland durchgesetzt worden waren. Die Grundidee dieser Regeln war die einer rationalen zentral-staatlichen Herrschaft. Diese Idee wurde vom spanischen Königspaar, einigen zeitgenössischen Rechtsphilosophen und hohen Staatsbeamten vertreten. Im Bewusstsein der spanischen Bevölkerung, also auch der Eroberer, war die von den spanischen Regenten gewünschte weitgehende Autorität und Zuständigkeit des Staates jedoch keineswegs normativ verankert. Für die spanischen Eroberer-Unternehmer20 und Neusiedler ist davon auszugehen, dass sie sich noch an den kulturell-kognitiven und normativen Ordnungsstrukturen der reconquista und an einem feudalherrschaftlich geordneten Weltbild orientierten (PIETSCHMANN 1998: 34). In dieser Vorstellungswelt ist die soziale Ordnung vor allem nach dem Schema „Herr – Gefolgschaft“ strukturiert. Die autochthone Bevölkerung in den eroberten Gebieten wurde von ihnen nicht als neue Staatsbürger, sondern als Unterworfene gesehen. Nicht einmal die Eroberer-Unternehmer selbst sahen sich als Staatsbürger. Dies wird weiter unten im Bereich der Praxis der Selbstverwaltung noch deutlicher werden. Auch in der Untersuchungsregion des heutigen Velasco galt in Bezug auf die vom spanischen Staat gesetzten Normen und Regelungen das von PIETSCHMANN zitierte Prinzip des „Obedézcase, pero no se cumpla“21, was er mit „Man gehorche, führe aber nicht durch.“ übersetzt (PIETSCHMANN 1980: 110). Das bedeutet, dass die Herrschaft des spanischen Staates und seine Normen in den Kolonisationsgebieten offiziell und formal anerkannt wurden, um nicht in einen offenen Konflikt mit der spanischen Krone zu geraten. Die von dort ausgegebenen Normen und Regeln hatten aber kaum praktische Verbindlichkeit. Die spanische Regierung tolerierte die extralegale Praxis aus pragmatischen Gründen, weil sie den offenen Konflikt mit den Eroberern scheute, die vor Ort einen deutlichen Machtvorsprung gegenüber dem spanischen Staat hatten. Die spanische Krone wollte die langfristige Besiedelung dieses randständigen Gebietes nicht gefährden und verfügte auch nicht über die notwendigen Mittel um gesetzeswidriges Handeln zu bestrafen (vgl. GARCÍA RECIO 1988). Dies waren die Bedingungen unter denen sich die Gewohnheit des informellen Handelns 20 Ich verwende die Begriffe Eroberer, conquistador und Eroberer-Unternehmer synonym für die Anführer der kriegerischen Eroberungszüge. Mit dem etwas schwerfälligen Ausdruck Eroberer-Unternehmer möchte ich darauf hinweisen, dass es sich dabei um Akteure handelt, die in erster Linie an ihren individuellen und materiellen Eigeninteressen orientiert handelten, auch wenn sie offiziell im Auftrag der spanischen Krone agierten. 21 Mörner zitiert die Formel in etwa gleichlautend mit „Se acata pero no se cumple“ (MÖRNER 1980: 53). Freier kann man die Formel so übersetzen: „Man respektiere das Gesetz formal, erfülle es aber nicht.“
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und der äusserst freien Interpretation von Rechtsvorschriften in der Region zu einer Normalität institutionalisierten. Parallel zur offiziellen Gesetzgebung entstand bezüglich einiger Institutionen ein eigener extralegaler Referenzrahmen für eine Interpretation staatlich vorgegebener Normen und Regeln, die den Interessen der lokalen Machtgruppen entsprach. Im Folgenden werden die Handhabung der staatlichen Institution der encomienda und einige ausgewählte Aspekte der kommunalen Selberstverwaltung der Kolonialzeit erläutert, um zu zeigen, wie die Informalität in der Untersuchungsregion zu einem institutionalisierten Zustand wurde. Die Institutionalisierung von Informalität am Beispiel der encomienda Das koloniale encomienda-System22 war eine wichtige Institution zur Regelung der Beziehungen zwischen spanischem Staat, Eroberern und der autochthonen Bevölkerung in den Kolonialgebieten. Sie bildete eine Grundlage zur Errichtung des kolonialen Herrschaftssystems im Interesse des spanischen Staates, der in den ausgedehnten und schwer erreichbaren südamerikanischen Kolonialgebieten unzureichend repräsentiert war. Die Institution der encomienda wurde in der Region um Santa Cruz nicht nur entgegen ihrer eigenen Regeln in die Praxis umgesetzt, der informelle Umgang mit der encomienda wurde darüber hinaus von den lokalen Machthabern mit Bezug auf vollkommen andere Institutionen uminterpretiert und in modifizierter Form institutionalisiert. Unter der Bezeichnung encomienda ist ein Rechtstitel zu verstehen, der ursprünglich ausschließlich direkt vom Staat an die obersten Befehlshaber der Eroberungszüge ausgegeben wurde. Mit dem Dokument, der cedula, trat der spanische Staat in begrenztem Maße seine Souveränität bzw. seine Hoheitsrechte an den encomendero ab. In der Chiquitania sind große Teile der indigenen Bevölkerung, man schätzt zwischen 60.000 bis 90.000 Haushalte (KREKELER 1993: 99), in relativ kurzer Zeit in das encomienda-System gezwungen worden. Die encomienda war aus pragmatischen Gründen von der spanischen Krone eingerichtet worden, um die Loyalität der bewaffneten Eroberungs-Unternehmer zu sichern und ihnen einen Anreiz zur Sesshaftwerdung zu bieten. Das encomienda-System diente dem strategischen Ziel, die neu eroberten Gebiete langfristig zu kolonisieren. Die Eroberer waren als encomenderos einer Residenzpflicht unterworfen und
22 Das Encomienda-System (spanisch für „Anvertrauung“) schuf mit der treuhänderischen Übertragung oft sehr großer Landgüter mitsamt der darin lebenden indigenen Bevölkerung an den Encomendero bereits im 16 Jahrhundert die typischen Strukturen der Landwirtschaft und des Landbesitzes in Lateinamerika – so auch in der Provinz Velasco.
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für die Verteidigung der Grenzregion verantwortlich. Das ursprüngliche encomienda-Recht implizierte neben Nutzungsrechten auch Sorgepflichten für den spanischen encomendero und Schutzrechte für den indigenen encomendado (GARCÍA RECIO 1988: 269). In der Region Santa Cruz wurden die Schutzverpflichtungen regelmäßig von encomenderos missachtet. Auch die Tributzahlungen wurden häufig nicht an den Staat weitergeleitet, was der Staat meist stillschweigend tolerierte (GARCÍA RECIO 1988: 274 f). Ursprünglich bestand der Anspruch auf encomiendaRechte exklusiv für den Kreis der Anführer der bewaffneten Eroberungszüge. Doch dieser Kreis wurde in der kolonialen Praxis vor Ort immer mehr auf alle Einwanderer erweitert. Die geringe Institutionalität des Staates wurde damit bestätigt und weiter geschwächt. Zur Legitimation der extralegalen Praxis der encomienda im Gebiet um Santa Cruz wurde diese mit zwei inkaischen Institutionen verknüpft und legitimiert. KREKELER und GARCÍA RECIO beschreiben zwei solcher „institutionell gemischten“ Praxis-Formen der encomienda: Bei der encomienda mitayo wurden die Indigenen gezwungen, regelmäßig für bestimmte Arbeiten ein bestimmtes Zeitquantum für den encomendero zu arbeiten. Sie lebten dabei grundsätzlich weiterhin in ihren eigenen Häusern und Siedlungsgruppen. Die Bezeichnung mitayo verweist auf eine inkaische Institution der Tribut- oder Arbeitsverpflichtung. Bei der encomienda originaria arbeiteten und lebten die indios auf den Gehöften der encomenderos. Sie waren faktisch rechtlos und wurden wie Leibeigene behandelt. In dieser Form wurden besonders häufig Frauen gezwungen, Haus- und Gartenarbeiten zu leisten und auch sexuell den spanischen Hausherren zu Diensten zu stehen (GARCÍA RECIO 1986: 235; KREKELER 1993: 101). Diese Form wurde encomienda yanacona genannt. Das Yanaconazgo war eine inkaische Institution der Sklavenhaltung, die in der Kolonialzeit besonders in den Hochlandregionen in das koloniale Recht übernommen worden war. Um die Institution der encomienda umzudeuten und die lokale informelle Praxis zu legitimieren, wurden die Bezeichnungen für die Indigenen in den offiziellen Dokumenten und Rechtstiteln nicht als encomendados bezeichnet, sondern als Eroberungsbeute piezas de rescate, piezas de servicio oder eben yanacona bezeichnet, d.h. als ein etwas, das mit einem rechtlosen und entpersönlichtem Status verbunden ist (pieza = Stück, Einheit). Der Historiker GARCÍA RECIO vermutet, dass diese Vermischung bewusst angelegt war, um die Reichweite der Verfügungsrechte der spanischen encomenderos, den Rechtsstatus und die widerrechtliche Abhängigkeit der ihnen zugeordneten Indigenen zu verschleiern und die Auflagen und Verpflichtungen für die encomenderos zu relativieren (GARCÍA RECIO 1988: 232). „... la encomienda no fue, como hemos visto, si no un disfraz legal con el que ocultar formas de dependencia acusadísima de los indígenas respecto a los españoles, y el pago de la tasa en servicio personal una manera de otorgar justificación a la utilización forzada de aquéllos en toda un gama de labores ... (que iremos examinando.)“ (GARCÍA RECIO 1988: 244)
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Die Institutionalisierung der informellen Praxis der encomienda wurde auch durch die Vertreter der Kolonialmacht Spanien vor Ort weiter unterstützt. Die encomiendaTitel wurden vom Gouverneur (gobernador) in Santa Cruz ohne Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit und gegen Bezahlung ausgegeben (GARCÍA RECIO 1988: 222). Die formale Aufgabe der Gouverneure hätte darin bestanden, die Umsetzung des encomienda-Rechts im Namen des Staates zu überwachen. Da sie selbst im Besitz von encomienda-Titeln waren, also encomenderos waren und als staatliche Würdenträger nur geringfügig bezahlt wurden, hatten sie wenig Interesse an der Kontrolle der Rechtskonformität der encomienda-Praxis. Der spanische Staat konnte den Vollzug der encomienda-Praxis aufgrund der großen Entfernung, der mangelnder Präsenz staatlicher Organe und den Machtverhältnissen vor Ort also kaum kontrollieren (GARCÍA RECIO 1988: 221). Da die encomienda zu einer immer stärkeren Vormachtstellung der spanischen Oberschicht und einer Art der Feudalisierung23 im Kolonialgebiet führte, versuchte der spanische Staat diese Institution am Ende des 16. Jahrhunderts durch das System des repartimiento zu ersetzen, das die Entscheidungskompetenz über die Nutzung indigener Arbeitskraft einem Distriktbeamten übertrug (HAUSBERGER 2001: 94) und vorsah, dass die Indigenen frei und in selbstverwalteten Siedlungen lebten. Diese Norm wurde in der Region Santa Cruz nicht umgesetzt. Der Staat reagierte auf die Aushöhlung seiner Institutionalität mit immer neuen Anweisungen mehr Kontrolle auszuüben, die ebenfalls erfolglos blieben (GARCIA-RECIO 1988: 220). Die kolonialstaatliche Toleranz gegenüber einer radikal eigensinnigen lokalen Rechtspraxis in Abweichung vom formalen Recht gilt als eine der Wurzeln für die teilweise bis heute andauernde institutionelle Schwäche des Rechtsstaates in den ehemaligen spanischen Kolonien (vgl. DUVE 2010). Institutionen der Selbstverwaltung im Kolonialgebiet Bei dem Versuch in den Kolonialgebieten funktionierende Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, hatten die spanischen Kolonialherren kaum konkrete Vorstellung über die sozialen und naturräumlichen Verhältnisse vor Ort. Besonders die soziokulturellen Eigenheiten, die oft schwierigen militärischen Verhältnisse und die geografischen Ausmaße der Kolonialgebiete waren für die Europäer kaum vorstellbar (PIETSCHMANN 1980: 116). So wurde versucht, die in Spanien geltenden Strukturen der lokalen Selbstverwaltung einfach in die Kolonialgebiete zu übertragen.
23 Pietschmann zufolge ist der Begriff der Feudalisierung hier nicht angemessen. Auch andere Versuche den charakteristischen und institutionalisierten Machtgewinn der kolonialen Oberschicht im spanischen Kolonialreich als Patrimonialstaat (Max Weber) oder als historisch bürokratisches Imperium (Eisenstadt) begrifflich zu fassen, scheinen ihm nicht treffend (PIETSCHMANN 1989: 22).
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Zum Beispiel wurde das Modell des spanischen municipio mit seiner Gremienund Ämterstruktur als Modell für die städtischen Ansiedlungen in die spanischen Kolonien übertragen. Die Entscheidungen sollten demnach von einem Gremium von Ratsmännern (regidores), dem säkularen cabildo24 beraten werden, die aus dem Kreis der spanischen Einwanderer (vecinos), vorwiegend der encomenderos, stammten. In der Praxis des kolonialen municipios Santa Cruz trat zum Beispiel der cabildo so selten zusammen, dass man ihn als eine rein symbolische Struktur ohne administrative oder regierende Funktionen sehen muss (GARCÍA RECIO 1988: 266, Fußnote 204). Die relevanten Entscheidungen wurden im kolonialen Santa Cruz informell, namentlich vom gobernador bzw. alcalde mayor getroffen. Die Institutionalisierung der informellen Praxis der Selbstverwaltung im kolonialen municipio lässt sich am Beispiel des Ämterkaufs veranschaulichen. Auch wenn ein Sitz im cabildo keine Entscheidungskompetenz einbrachte, so bedeutete er doch eine Aufwertung des Status, für die man zu zahlen bereit war. Der Verkauf von öffentlichen Leitungsämtern war eine akzeptierte Normalität25, denn er brachte nicht nur den gobernadores Geld ein, sondern war zeitweise auch eine der wenigen Einkommensquellen derjenigen staatlichen Instanzen, die sich Verkauf von Ämtern beteiligten. PIETSCHMANN weist darauf hin, dass die Praxis des Ämterkaufs sich so weit institutionalisiert hatte, dass die „Preise“ für ein Amt entsprechend der daraus zu erwartenden späteren – nicht legalen – Renten, ermittelt wurden. Der Begriff der Korruption ist – institutionalistisch betrachtet – hier nicht angemessen, da es im lokalen Kontext keinen moralischen Standard zur korrekten Vergabe von Ämtern gab, der hier hätte gebrochen werden können (PIETSCHMANN 2006: 34). Die spanischen Einwanderer sahen sich generell nicht als zur Staatsraison verpflichtete Bürger (PIETSCHMANN 2006: 26). Aufgrund der starken Entwicklung lokaler Eigeninteressen wurden im Zuge des Absolutismus des 18. Jahrhunderts stärker vom Staat kontrollierte institutionelle Strukturen geschaffen, wie z.B. die Personalämter der alcaldes mayores und der corregidores, die auf der Distriktebene den lokalen Autoritäten zur Seite gestellt wurden. Die spanische Krone versuchte mit neuen Verwaltungsmodellen das strukturelle Vollzugs- und Kontrolldefizit in den Griff zu bekommen: Die gobernaciones wurden durch die Vizekönige und die audiencias26 abgelöst, die ihrerseits später durch das 24 Der cabildo secular grenzt sich ab vom cabildo eclesiastico, der ebenfalls schon in der Kolonialzeit existierte und heute als cabilo religioso in der Region weiter eine symbolische Bedeutung hat. 25 „.. no era sólo un abuso más o menos frecuente, sino más bien la norma, y esto hasta tal punto que se consideró digno de ser mencionado cuando un funcionario murió pobre.” (PIETSCHMANN 1998: 45) 26 Für die Untersuchungsregion war ab 1559 die Königliche Audiencia von Charcas zuständig.
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System der intendentes kontrolliert werden sollten. Der monolithischen Machtordnung des Staates stand in der riesigen territorialen Ausdehnung des spanischen Kolonialreiches ein kaum durchschaubares und ineffektives Gebilde sich überschneidender Zuständigkeiten und häufig in Personalunion ausgeübter Kompetenzen gegenüber. In einer randständigen Region wie der Untersuchungsregion, hatten die spanischen Einwanderer (vecinos) daher große Handlungsspielräume und konnten weitgehend unabhängig von der spanischen Rechtslage und Rechtsprechung agieren. Die wenigen staatlich eingesetzten Beamten trugen kaum zur Institutionalisierung staatlicher Normen und Regeln bei. Sie handelten, ebenso wie die gobernadores vor allem ihren eigenen Interessen entsprechend: „Das soziale Ansehen der Beamten wurde durch mißbräuchliche Praktiken und durch die Verbreitung der Korruption nicht beeinträchtigt, da die Ausnutzung eines Amtes zur persönlichen Bereicherung als legitim angesehen und in gewissen Grenzen daher gesellschaftlich toleriert war.“ (PIETSCHMANN 1980: 143)
So wurde auch in der Zeit des spanischen Absolutismus der Doppelstandard aus formaler Anerkennung der allgemeinen Rechtsordnung (obedecer) ohne Verbindlichkeit für das Handeln (cumplir) weitergeführt. Eine Zäsur dieser Entwicklung stellen die von jesuitischen Missionaren im Untersuchungsgebiet gegründeten Missionsdörfer dar, die im Gegensatz zur bis dahin praktizierten Informalität von einem hohen Grad an formalisierter Ordnung und von eindeutigen Regeln gekennzeichnet waren, die von den Missionaren durchgesetzt wurden. Die Organisation der Jesuiten Missionen (reducciones) in Velasco Die knapp 80 Jahre lange Existenz der jesuitischen Missionsdörfer (reducciones) hat in Velasco normative Vorstellungen über die soziale Rolle der indigenen Bevölkerung, über die Rolle lokaler Autoritäten und Typisierungen von Selbstverwaltungsfunktionen in Velasco hinterlassen. Die reducciones stellten mit ihrer detaillierten Struktur, ihren konsequent durchgesetzten Regeln und Typologien sowie der starken zentralen Autorität der leitenden Padres quasi ein Gegenmodell zur Willkürherrschaft der kolonialen Eroberer dar. In der oralen Tradition erscheint das Leben in den Missionsorten bis heute lebendig (vgl. TOMICHÁ CHARUPÁ 2002 und eigene Beobachtungen). Im kollektiven Bewusstsein der Chiquitano Bevölkerung hat dieses Modell seine kulturell-kognitiven Spuren hinterlassen, die am Ende dieses Abschnitts noch
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einmal zusammengefasst werden. Um die in diesen Missionsdörfern institutionalisierten Organisationsvorstellungen zu rekonstruieren wurden zahlreiche historische Arbeiten für eine Sekundäranalyse genutzt. 27 1691, fast 100 Jahre nach den ersten Begegnungen zwischen Indigenen und Erober-Unternehmern, kamen die Jesuiten in die Region Velasco und Chiquitos wo sie insgesamt zehn Missionsdörfer, reducciones genannt, gründeten. Die ehemaligen Missionsdörfer sind heute zu den Zentren der Landkreise der Provinz Velasco geworden. Ihr typisches Siedlungsmuster mit streng geometrischen, rechteckigen Wegemustern und parallel angeordneten Gebäuden ist bis heute im Wegeplan und der Lage öffentlicher Gebäude in den Zentren dieser Orte erkennbar. Neben der christlichen Symbolik strahlen sie noch heute die Idee einer gewissen Rationalität aus. Vier der zehn Missionsdörfer der Chiquitania befanden sich im Gebiet der heutigen Provinz Velasco: San Rafael wurde 1696 gegründet. San Miguel folgte 1721, San Ignacio im Jahre 1748 und Santa Ana im Jahr 1755 (vgl. TOMICHÁ CHARUPÁ 2002). Innerhalb von 76 Jahren wurde im Gebiet der Chiquitania das System der Missionen unter jesuitischer Leitung aufgebaut und geführt. Die Missionsdörfer standen ausserhalb der kolonialen Jurisdiktion (vgl. RADDING 2005; FISCHERMANN 1994: 14). Der leitende Padre der Mission war dem König direkt unterstellt (PAREJAS MORENO & SUAREZ SALAS 1992: 81). Die weisungsbefugte Instanz der Missionen war nicht mehr der gobernador von Santa Cruz, sondern eine jesuitische Provinz in Paraguay. Die Organisation der reducciones stand unter der zentralen Autorität eines Padres, der teilweise der einzige Europäer im gesamten Missionsdorf war, und zeitweise von einem Padre für geistliche Angelegenheiten und einem Padre Verwaltungsangelegenheiten (padre de lo temporal) unterstützt wurde. Die indigenen Einwohner waren, sobald sie getauft waren, Mitglieder der christlichen Gemeinde – der reducción. Das System der Organisation der Missionsdörfer gliedert sich in drei funktionale Bereiche: die Lebensbereiche der nach Sprachen eingeteilten Indigenen 27 Vgl. u. a. HOFFMANN 1979, RADDING 2001, 2002 und 2005, MERKL 1999, PAREJAS MORENO 1992 sowie die umfangreiche historische Untersuchung des Franziskanermönches Roberto Tomichá Charupá, der selbst einer Chiquitanofamilie aus San Miguel de Velasco entstammt (vgl. TOMICHÁ CHARUPÁ 2002). Aus der Perspektive der indigenen Bevölkerung liegen keine zeitgenössischen Quellen vor. Die historischen Beschreibungen und anschließenden Bewertungen der Reaktionen der Indigenen auf die „geistlichen Jagden“ (Pater SJ Johann Knogler) sind oft stark durch eine normative Haltung zum Projekt der jesuitischen Missionen gefärbt. Eine grundsätzlich missions-kritische Haltung nehmen häufig Anthropologen, aber auch einige Historiker ein (vgl. RIESTER 1976, KREKELER 1993, MÖRNER 1968). Andere Autoren vertreten eine grundsätzlich positiv-wertschätzende Haltung gegenüber der Mission (vgl. PAREJAS MORENO & SUAREZ SALAS 1992: 76, TONELLI JUSTINIANO 2004, MERKL 1999).
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(parcialidades), das Leitungsgremium des cabildo misional und ein administrativer Stab zur Unterstützung der Padres. Die Jesuitenmissionen hatten in ihrer Blütezeit jeweils etwa 2.000 bis 3.000 Einwohner. Sie waren nicht nur Missionsunternehmen, sondern auch unabhängige und effiziente Wirtschaftsbetriebe, die ihre Waren bis in weit entfernte Gebiete des Kolonialreichs ausführten. Die Ökonomie der reducciones hatte Züge einer Planwirtschaft, aber auch Elemente des Gemein- und Privateigentums (PAREJAS MORENO 2001: 203). Der größte Teil des Lebens in den Missionen, wie die Arbeitbereiche, die Gestaltung von Gottesdiensten, Festen und Aktivitäten der Erholung und des Genusses waren von einer klaren raum-zeitlichen Ordnung und vielen Regeln bestimmt. Zahlreiche Ge- und Verbote definierten welche Handlungen als gottgefällig, recht und billig galten. Die Einhaltung der Regeln wurde streng von den indigenen Mitgliedern des cabildo misional, den 8 juezes (Richter) überwacht. Verstöße gegen die Regeln der Mission wurden teilweise mit drakonischen physischen, psycho-sozialen und symbolischen Bestrafungen geahndet (TOMICHÁ CHARUPÁ 2002: 418 f; MERKL 1999: 133). Die Geschlechterrollen sind stark differenziert: Beispielsweise bekommen nur Jungen religiöse Unterweisungen und Schulunterricht. Nach Darstellung von TOMICHÁ CHARUPÁ wurden die parcialidades entweder von den indigenen Autoritäten (caciques), oder von einem corregidor geleitet, der vom Padre ausgewählt wurde. TOMICHÁ CHARUPÁ zitiert hierzu eine historische Quelle von 1745, in der berichtet wird, dass speziell die Chiquitano sprechenden Gruppen nicht durch „caciques de sangre“ geleitet wurden, d.h. nicht von traditionellen Autoritäten in ererbten Ämtern, weil diese nach Meinung der Padres zu wenig Autorität innerhalb ihrer parcialidad hatten. Die wenig herausgehobene Stellung und der Status der lokalen weltlichen Anführer reichten waren offenbar nicht ausreichend um die Regeln der reducciones durchzusetzen. In diesen Fällen bestimmten die Padres einen regidor bzw. corregidor der häufig einer der Ältesten war (TOMICHÁ CHARUPÁ 2002: 420). Der cabildo war eine zentrale, den Lebensbereichen der Indigenen übergeordnete Instanz. Die Ämter hatten eine Rangordnung und die Mitglieder waren Empfänger und Vermittler von Anweisungen und Befehlen des padres. Jedes Mitglied des cabildo hatte einen spezifischen Verantwortungsbereich und war mit einem Stab mit versilbertem Knauf (bastón) als Symbol seiner Autorität ausgestattet. Zur Vereinfachung der Regierung und Verwaltung einer so großen Anzahl von Angehörigen unterschiedlicher Sprachgruppen entwickelten die Jesuiten aus einer lokalen Sprache eine Lingua franca, die fortan Chiquitano28 genannt wurde. Ein besonderes Merkmal 28 Die von den Jesuiten vereinheitlichte und standardisierte Sprache entspricht im Wesentlichen dem tau-Dialekt, der von der zahlenmäßig größten Gruppe der ersten Mission in San Javier gesprochen wurde. Der tau wurde auch vom Großteil der Einwohnerschaft der vier Missionen in Velasco gesprochen (TOMICHÁ CHARUPÁ 2002: 243).
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dieser Sprache ist bis heute ein unterschiedlicher Sprachgebrauch, je nachdem ob Frauen oder Männer sprechen (vgl. KREKELER 1993). Die Stabilität der Ordnung in den reducciones ist angesichts der bleibenden großen sprachlichen, sozio-kulturellen Heterogenität unter ihrer Einwohnerschaft, erstaunlich. Es gelang den Jesuiten, die Rolle der Schamanen oder vorkolonialen sacerdotes zu übernehmen (MERKL 1999: 109) und gleichzeitig in einer fürsorgenden, väterlichen Rolle zu agieren. Bis heute treten Angehörige der Chiquitanobevölkerung teilweise in einem ausdrücklichen Habitus der Unterlegenheit und Abhängigkeit Vertretern kirchlicher und staatlicher Organisationen gegenüber (vgl. Kapitel 5.2). 1767 mussten die Jesuiten auf Anweisung des bourbonischen Königs Karl III sämtliche Missionen in kurzer Zeit verlassen und kehrten in ihre Herkunftsländer zurück. Die reducciones wurden der Diözese in Santa Cruz unterstellt und von einfachen Priestern weitergeführt, die in der Regel aus kreolischen Familien aus Santa Cruz stammten. Die vormals perfekt geregelte und funktionierende Organisationspraxis verfiel unter den schlecht ausgebildeten neuen Padres schnell, die zudem die Indigenen misshandelten und ihr Eigentum raubten. Viele der indigenen Einwohner fliehen (FISCHERMANN 1994: 28). Misswirtschaft und Missbrauch ruinieren schließlich die wirtschaftlichen Betriebe der Mission. Sie werden 1850 geschlossen (FISCHERMANN 1994: 32). Zu den Charakteristika der jesuitischen Missionsdörfer der Chiquitania, die bis heute ihre symbolische Präsenz und teilweise auch normative Kraft in der Provinz Velasco behalten haben, gehören die folgenden Merkmale: • Die in der Chiquitano Bevölkerung der Landgemeinden tief verinnerlichte inferi-
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ore Rolle gegenüber Vertretern von Staat und Kirche, die sich heute oft auch im Habitus gegenüber anderen Fremden und Besuchern zeigt, die Erwartung, dass Regeln ein Gegebenes sind oder von externen Autoritäten gesetzt werden, die innerhalb der Landgemeinden geltenden egalitären Strukturen, die den eigenen, indigenen Autoritäten nur wenig Entscheidungsmacht zubilligt die Rolle der eigenen Autorität ist die eines Empfängers, Vermittlers und Vollstreckers von Weisungen kirchlicher oder staatlicher Autorität; nur eng definierte Bereiche unterliegen der Selbstbestimmung bzw. Selbstverwaltung der Gemeinden, die Symbole heutiger Autoritäten in einigen Landgemeinden nehmen Bezug auf Bezeichnungen für Leitungsrollen der Organisation der jesuitischen Missionsdörfer; der Stab (baston) jedes Mitglieds des cabildo wird in der Kirche deponiert und nur in expliziter Amtsausübung und im Gottesdienst von diesem getragen, ein auf Reziprozität und Gemeinwirtschaft basierendes Produktionssystem ohne Konkurrenzprinzip hat sich teilweise in den Landgemeinden erhalten,
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• die sozio-kulturelle und organisatorische Eigensinnigkeit der Lebenswelt der
Landgemeinden, • stark sozial differenzierte Geschlechterrollen.
In der Analyse der Fallbeispiele wird an verschiedenen Stellen deutlich, dass viele der hier genannten institutionalisierten Prinzipien, die ihren Ursprung in den jesuitischen Missionsdörfer haben, bis heute für die lokale Organisationspraxis in der Provinz Velasco relevant sind. 4.3.3 Formen der Organisation und Kooperation seit der nationalen Unabhängigkeit Die nationale Unabhängigkeit und die Gründung der Republik Bolivien änderte an den Verhältnissen und der Form der organisierten Kooperation in der Region des heutigen Velasco wenig. Kurz nach der Schließung der reducciones im Jahr 1850 wanderten spanische und mestizische Bewohner von Santa Cruz in die Chiquitania und eigneten sich die übriggebliebenen Ressourcen (Rinderbestände,Zuckerrohr- und Tabakpflanzungen etc.) der „sindueños“ (der „besitzerlosen“ Indigenen) an. (FISCHERMANN 1994: 33). Die untergeordnete Rolle der Indigenen, die weitgehende Willkür der kreolischen und mestizischen Bevölkerung, und die vor den Missionen bestehende Rechtlosigkeit der indigenen Bevölkerung wurden somit erneut bekräftigt. Die nun in zwei Wellen stattfindenden Gründungen von Siedlungsgemeinschaften (comunidades) stellen den wichtigsten Bereich für Organisationsprozesse dar und sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Die erste Gründungswelle lokaler Siedlungsgemeinschaften (comunidades) im 19. Jahrhundert Nach Abschaffung des Systems der reducciones gründeten indigene Bauern kleine unabhängige ländliche Gemeinden (comunidades). Eine der ersten Gründungen in Velasco ist die comunidad San Javierito, die noch im gleichen Jahr 1850 stattfand. San Javierito besteht bis heute als comunidad und hat inzwischen mehrere hundert Mitglieder29. Viele dieser frühen comunidades wurden als indigene Gemeinwesen in der Region Velasco durch die Institution des empadronamiento wieder zerschlagen. Das Gesetz des empadronamiento schrieb vor, alle Indigenen einem jeweils zu bestimmenden Grundherren zu unterstellen. Die comunidades verloren ihre Souveränität. (FISCHERMANN 1994: 34)
29 Auch wenn comunidades nicht als formale Organisationen gegründet wurden, so spricht man dennoch hier meistens von Mitgliedern und nicht von Einwohnern.
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Der erste Kautschukboom: Rückkehr in die totale Abhängigkeit Im Zuge des Kautschukbooms (1880 bis 1920) zogen große ausländische Firmen in den Norden der Provinz Velasco. Zur Befriedigung der höheren Nachfrage entstanden schnell wachsende Betriebe (establecimientos, estancias), die Rinderzucht mit Landwirtschaft kombinierten, und sich über die legale Institution des empadronamiento forzado nun auch Land und Arbeitskraft der Indigenen aneigneten. Gleichzeitig wurde indigene Arbeitskraft für die Kautschukgewinnung häufig über Zwangsrekrutierung und das System der Schuldknechtschaft organisiert. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der indigenen Kautschukzapfer in den Lagern der KautschukUnternehmen waren derart schlecht, dass die meisten von dort nicht mehr in ihre Familien und Dörfer zurückkehrten (FISCHERMANN 1994: 34). Zweite Welle der comunidad-Gründungen im 20. Jahrhundert Nach Abebben des Kautschukbooms (1880 – 1920) blieben die Zuckerrohrproduktion und die Rinderzucht als Haupteinkommensquellen in den Händen großer privatwirtschaftlicher Betriebe (haciendas). Nun wurden die Chiquitanos zu Tausenden als Soldaten für den Chaco-Krieg (1932 – 1935) rekrutiert30. Durch die Teilnahme am Krieg gewannen die überlebenden Heimkehrer ein neues Selbstbewusstsein. Viele kehrten nach dem Krieg nicht in ihre alten establecimientos und estancias zurück, sondern gründeten in den Folgejahren des Chaco-Kriegs neue unabhängige comunidades (FISCHERMANN 1994: 36). Unter der progressiven Regierung Busch wurde das empadronamiento forzado gesetzlich abgeschafft. Auch wenn es später zu keinen weiteren Gründungswellen von comunidades kam, so wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts doch immer wieder neue Landgemeinden gegründet, ohne dass deren Landbesitz formal geregelt war. Staatlich initiierte Bauerngewerkschaften im Zuge der Agrarreform 1953 Im Zuge der nationalen Revolution 1952 und des Agrarreformgesetzes von 1953 sollten die Lebensbedingungen der Landbevölkerung verbessert werden. Die regierende Partei „Bewegung der Nationalen Revolution“ (Movimiento Nacional Revolucionario, MNR) strebte die gesellschaftliche Integration der Indigenen durch Angleichung an den Status der Bauern (campesinos) an. Die Bauern sollten dabei flächendeckend in staatlich stark kontrollierte Gewerkschaften organisiert werden. In der Chiquitania wurden erst 1962, ganze zehn Jahre nach dem Beginn der Reform, Bauerngewerkschaftsgruppen (sindicato campesino) gegründet (FISCHERMANN 1994:
30 In Velasco waren es etwa 3.500 Menschen, darunter viel Indigene (FISCHERMANN 1994: 35).
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51). Die ehemals unabhängige comunidad sollte als sindicato campesino zu einer politischen Verwaltungseinheit werden, die allerdings auch basisdemokratische Elemente hatte. Ähnlich wie die zehn Jahre zuvor im Hochland organisierten Gewerkschaften waren auch viele der gut erreichbaren comunidades in der Chiquitania nun nach einem hierarchischen Prinzip organisiert und von der MNR dominiert (vgl. KREMPIN 1986). Die lokalen Gewerkschaftssekretäre erfüllten die Rolle als Empfänger und Vermittler von Weisungen höherer Gewerkschaftsebenen (Interview mit dem dirigente Don Guillermo Ortiz). Anders als im Hochland konnte sich die gewerkschaftliche Organisationsform der sindicatos campesinos in der Chiquitania nicht langfristig etablieren und löste sich nach wenigen Jahren wieder auf. Der gescheiterte Versuch eine Genossenschaft in San Ignacio aufzubauen In den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in San Ignacio anlässlich einer Dürreperiode mit Finanzmitteln des apostolischen Vikariats eine Genossenschaft, die Cooperativa Integral gegründet (DED 2003a). Die Aktivitäten dieser Genossenschaft drehten sich hauptsächlich um die Produktion von Erdnüssen und wurden durch junge Freiwillige aus Österreich unterstützt, die eng mit der katholischen Kirchengemeinde bzw. dem Vikariat verbunden arbeiteten. Diese Kooperative wurde 1975 wegen Missmanagement und Hinterziehung von Geldern aufgelöst. Seither herrscht in San Ignacio die allgemeine Auffassung, dass die Genossenschaft als Organisationsmodell für landwirtschaftliche Produzenten in Velasco ungeeignet ist. Eine Region mit geringem Organisationsgrad bis heute Seit dem Niedergang der reducciones ist die ärmere Bevölkerung der Chiquitania sowohl im Bereich der politischen Interessenvertretung, wie auch im Bereich der wirtschaftlichen Selbsthilfe wenig organisiert. Dies gilt für die Anzahl von Organisationen und die ihrer Mitglieder wie auch für die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der existierenden Organisationen. Die als Normalitätsstandard tief verankerte Informalität und die positiv bewerteten Erfahrungen autoritärer Regime stellen für die Entwicklung lokal angeeigneter Organisationsformen und Regeln ein großes, aber nicht unüberwindbares Hemmnis dar. Dies belegen die nun beginnenden Darstellungen und Analysen der Fallbeispiele lokaler Organisationen in der Provinz Velasco.
5 Lokale Frauenorganisationen: Zwei Fallbeispiele
Um Entstehung, Stabilisierung und Wandel von institutionalisierter Kooperation in lokalen Organisationen besser zu verstehen, soll nun der bereits vorgestellte multiperspektivische Analyserahmen auf konkrete Fallbeispiele in der Region Velasco angewendet werden. Mit diesem Kapitel beginnt die Darstellung und Analyse von Fallbeispielen verschiedener lokaler Organisationen aus der Provinz Velasco zunächst mit zwei kleinen und relativ geschlossenen Organisationen, d.h. der Kreis ihrer Mitglieder erweitert sich nicht. In Abschnitt 5.1 wird die Gruppe Amé Tauná aus dem Hauptort San Miguel (Landkreis San Miguel) untersucht. Ihr Hauptzweck und zentraler Kooperationsprozess ist der Bau von kleinen einfachen Wohnhäusern für ihre Mitglieder in gegenseitiger Hilfe. In Abschnitt 5.2 wird die Asociación de Ceramistas (Zusammenschluss von Töpferinnen) aus San Rafaelito de Sutuniquiña (Landkreis San Ignacio) vorgestellt. Diese Organisation widmet sich der Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Einkommen ihrer Mitglieder. Der Begriff der Selbsthilfe und seine ideologische bzw. normative Verwendung in der Entwicklungszusammenarbeit wurden in der Einleitung bereits problematisiert. In diesen beiden Organisationen treffen die von THEO RAUCH genannten Charakteristika einer Selbsthilfeorganisation zu, insofern als beide Organisationen auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen und ihre Kooperationsprozesse primär am Eigeninteresse der Mitglieder orientiert sind (vgl. RAUCH 2012: 377). Die formalen Mitglieder beider Organisationen sind ausschließlich Frauen. Da es in der Provinz Velasco nur wenige Organisationen gibt, in denen Frauen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten organisiert sind und eine aktive Rolle spielen, lohnt es sich, diese zwei Organisationen genauer zu untersuchen, um die Umstände ihrer Gründung, ihre Kooperationspraxis und die Motive ihrer Mitglieder näher kennen zu lernen. Es wird sich zeigen, dass die zwei Organisationen sich hinsichtlich ihrer Kooperationspraxis und des Grades ihrer Institutionalisierung deutlich von einander unterscheiden.
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5.1 A MÉ T AUNÁ : E IGENHEIMBAU
IN
S AN M IGUEL
Die Organisation Amé Tauná hat ihren Sitz im Hauptort des Landkreises San Miguel. San Miguel hat den Charakter eines großen Dorfes. Die mestizische Machtgruppe im Ort erzielt ihre Einkommen vorwiegend aus dem Holzhandel und der Rinderzucht. Die Mitglieder der Organisation Amé Tauná sind ausnahmslos Zugezogene aus unterschiedlichen comunidades (Landgemeinden). Jetzt wohnen sie in verschiedenen Ortsteilen von San Miguel. Die Frauen leben von einer Mischung aus Subsistenzlandwirtschaft (in den comunidades), Arbeit in den wohlhabenderen Haushalten des Ortes und Kleinhandel (Produktion von Backwaren und ähnlichem). Die große Mehrheit wohnt im Ortsteil Nuevo Amanecer. Viele Mitglieder waren auch vor der Gründung der Organisation bereits bei gemeinnützigen Aktivitäten für ihr barrio (Viertel) Nuevo Amanecer aktiv beteiligt. Die kleine Organisation Amé Tauná mit etwa 20 Mitgliedern koordinierte über mehrere Jahre den Bau von kleinen einfachen Wohnhäusern für ihre Mitglieder, was allein in gegenseitiger Selbsthilfe im Rahmen dieser Organisation geschah. Die Organisation Amé Tauná sticht unter ähnlichen lokalen Organisationen in der Region hervor durch ihre verbindliche und regelmäßige Kooperationspraxis und durch ihre Leistungsfähigkeit. 5.1.1 Gründung und Entwicklungsgeschichte Der Club de Madre und die Gründung von Amé Tauná Die Mitglieder von Amé Tauná sehen den Club de Madre als den Vorläufer ihrer Organisation (Gruppendiskussion mit Amé Tauná). Die Mütterclubs wurden von der Caritas in den 1980er und 1990er Jahren in der Provinz Velasco, wie in vielen anderen ländlichen Regionen Boliviens, gegründet. Dieser Organisationstyp war Teil einer allgemeinen entwicklungspolitischen Strategie der katholischen Hilfsorganisation CARITAS. Ein wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten der Mütterclubs war – neben einem umfangreichen Angebot an Unterweisung und Beratung zu Themen wie Ernährung, Gesundheit oder der Anlage von Gemüsegärten – das food-for-work-Prinzip1. Die lokalen Organisationen der Clubes de Madres der CARITAS waren stark auf Steuerung durch externe Personen ausgerichtet, die von einer Mitarbeiterin oder einer vor Ort ansässigen katholischen Ordensschwester ausgeführt wurde. Die wesentliche Steuerungsaufgabe drehte sich um die Verteilung von Ressourcen, die von der CARITAS eingebracht wurden. Auch in San Miguel wurden solche Mütterclubs für verschiedene Ortsteile gegründet. Nachdem die CARITAS die Unterstützung der
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Für die Ableistung gemeinnütziger Arbeit werden Nahrungsmittel kostenlos verteilt oder zu sehr niedrigen Preisen abgegeben.
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Clubs beendete, lösten sich diese in der Regel ebenso plötzlich wieder auf, wie sie entstanden waren.2 Im Ortsteil Nuevo Amanecer von San Miguel wurde 1989 ein solcher Mütterclub mit 47 Frauen gegründet. Eingeschriebene Mitglieder (socias) der Organisationen waren wie üblich Frauen, die bereits eine eigene Familie gegründet hatten. Es war üblich, dass Ehemänner an bestimmten Aktivitäten der Mütterclubs aktiv teilnahmen. Diese aktiven Männer wurden als colaboradores (wörtlich: Mitarbeiter) bezeichnet. Der Mütterclub des Ortsteils Nuevo Amanecer wurde von einer katholischen Ordensschwester der Kirchengemeinde betreut. Die für die Gründung von Amé Tauná wichtigste Protagonistin ist Doña Maria Perogón, eine Bewohnerin des Viertels Nuevo Amanecer in San Miguel de Velasco: sie gilt als die Gründerin der Gruppe Amé Tauná. Die soziale Lage von Doña Maria Perogón ist der der meisten Mitglieder von Amé Tauná ähnlich: Sie musste als Jugendliche ihre Schulbildung früh abbrechen um zum Überleben der Familie beizutragen. Die Persönlichkeit von Doña Maria Perogón hebt sich allerdings vom Durchschnitt ab: Sie tritt besonders selbstbewusst, optimistisch und zupackend auf. Ihr Charisma hat vermutlich dazu beigetragen, dass sie immer wieder für leitende Positionen in organisierten Gruppen vorgeschlagen wurde. Sie selbst betont immer wieder, dass sie von anderen für die Ämter vorgeschlagen oder für die Leitungsposition „gefischt“ wurde („me pescaron“, Interview mit M. Perogón), um zu zeigen, dass sie kein persönliches Interesse an Leitungsfunktionen hat. Ihre ersten Erfahrungen in dieser Rolle sammelte Doña Maria Perogón als erste Vorsitzende (presidenta) eines neuen Mütterclubs (Club de Madres) in San Miguel. Das erste Bauvorhaben des Mütterclubs Nach anfänglichen Aktivitäten im Gemüseanbau regte die Leiterin des Mütterclubs, eine Ordensschwester, den Bau eines Gemeindehauses (sede social) an, das den Bewohnern von Nuevo Amanecer als Versammlungsort dienen sollte. Die Frauen bekamen für die Teilnahme an den Gruppentreffen und für die Teilnahme an den Arbeitsaktionen Lebensmittel geschenkt, die sie selbst als Kompensation oder Lohn für ihre Arbeit interpretierten (Interview mit Doña Maria Perogón). Die resolute Doña Maria Perogón verstand es, für das Bauprojekt des Gemeinschaftshauses in der Zeit vor den Regierungswahlen Unterstützung aus der lokalen politischen Machtgruppe zu mobilisieren. Diese Unterstützung, in Form der Übereignung eines Grundstücks
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Obwohl der ursprüngliche Organisationstyp im institutionellen Zusammenhang der CARITAS nicht mehr existiert, kann man die Bezeichnung Club de Madre bis heute in Bolivien, beispielsweise in Meldungen von Tageszeitungen, finden. Er hat sich in der Umgangssprache zu einer typisierenden Bezeichnung für Frauengruppen auf Gemeinde- oder Ortsteilniveau entwickelt.
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für das Bauvorhaben, kam aus dem Umfeld einer der dominierenden politischen Parteien des Ortes. In Zeiten des Wahlkampfes sind in Bolivien solche klientelistischen Angebote von Parteien oder ihnen nahe stehenden Angehörigen der lokalen Machtgruppen sehr üblich. Das Gemeinschaftshaus wurde unter der Koordination von Doña Maria Perogón zügig von den Frauen des Mütterclubs zügig gebaut. Dabei wurden sie von der Ordensschwester unterstützt. Als die Partei, die das Grundstück für das Bauvorhaben gestiftet hatte, die Wahlen verlor, fordert der Besitzer sein Grundstück zurück3. Nach einigem Hin und Her wurde der Streit beigelegt und der Bau vom Landkreis (municipalidad) übernommen. Das Gemeinschaftshaus wird bis heute als Raum für soziale Beratungsdienste genutzt. Das Gebäude ist für die Frauen ein bleibendes Symbol für das Ergebnis ihrer gemeinsamen Anstrengungen. Allerdings erinnert es die Frauen auch an eine ihrer Meinung nach schlecht bezahlte Arbeit (Interview mit Doña Maria Perogón). Die Erfahrung der erfolgreichen Zusammenarbeit der Frauen des Mütterclubs motivierte Doña Maria Perogón ein neues gemeinsames Vorhaben zu initiieren. Diesmal sollte aus der Zusammenarbeit ein direkterer Nutzen für die Frauen entstehen. Da fast alle Frauen in sehr prekären Verhältnissen wohnten und für diese Unterkünfte oft auch noch einen großen Teil ihres ohnehin geringen Geldeinkommens zahlen mussten, fassten die Frauen den Entschluss, gemeinsam kleine Wohnhäuser für den eigenen Gebrauch zu bauen. Doña Maria Perogón und die Ordensschwester setzten sich mit dem Bürgermeister und der öffentlichen Verwaltung von San Miguel in Verbindung, um Landtitel für den Baugrund für jede Frau zu erhalten. Nachdem die Grundstücksfrage geklärt werden konnte, errichtete die Gruppe zwischen 1990 und 1993 noch im institutionellen Rahmen des Club de Madres der CARITAS im Ortsteil Nuevo Amanecer in Eigenarbeit und ohne materielle Unterstützung von anderen Institutionen 13 kleine, sehr einfache Häuser aus selbst gefertigten Adobe-Lehmziegeln. Damit hatte etwa die Hälfte der socias ein Haus bekommen (vgl. Interviews mit Doña Maria Perogón und mit Delmira Montero). Der Fortbestand der Gruppe ohne formalen institutionellen Rahmen Im Jahr 1994 wurde das Unterstützungsprogramm der CARITAS plötzlich vollständig gestrichen und die Lebensmittelschenkungen wurden eingestellt. Die Frauen kamen in der Folge nicht mehr so regelmäßig zu den Treffen und die Arbeit an den Häusern geriet ins Stocken. Die Hälfte der socias hatte nun ein Haus, während die andere noch keines hatte. Es wurde verhandelt und nach verschiedenen Lösungen gesucht, diese ungerechte Verteilung der Leistungen, die im Rahmen des Mütterclubs
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Im Interview erläuterte mir Doña Maria Perogón mit verschmitztem Lächeln, dass die Parteileute nicht daran gedacht hätten, dass die meisten Frauen damals über keine Personaldokumente verfügten und somit auch nicht im Wahlregister eingetragen waren.
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erreicht wurden, zu überwinden. Die Frauen verfügten über so geringe Geldeinkommen, dass sie den Frauen die Arbeitsleistung für die gebauten Häuser auf keinen Fall hätten bezahlen können. So blieb als vorläufige Lösung nur der formale Fortbestand der Gruppe, um so die offenen Forderungen der Frauen, die kein Haus bekommen hatten, gegenüber denen, die ein Haus bekommen hatten, symbolisch zu repräsentieren und aufrecht zu erhalten. Die Mitglieder der ehemals von der CARITAS unterstützten Gruppe trafen sich mehrere Jahre lang ohne jeglichen handfesten Fortschritt im Hinblick auf die Zielstellung ein Haus für jede Frau zu bauen, die die eigentliche Motivation für die Bereitschaft zur Mitarbeit der socias gebildet hatte. Doña Maria Perogón hatte inzwischen ihre Leitungsposition abgegeben und die Gruppe verlassen. Doña Delmira Monetero war nun die neue gewählte presidenta der Gruppe. In ihrer Amtszeit wurden auf der Suche nach den fehlenden monetären Ressourcen ungewöhnliche Lösungswege beschritten wie zum Beispiel der Versuch durch die Veranstaltung von Lotterien Geld einzunehmen. Auch wenn diese Aktivitäten wenig ökonomischen Erfolg hatten, so waren sie doch eine unterhaltsame gemeinsame Aktivität, die den Zusammenhalt der Gruppe stärkte. 2001 – sechs Jahre nach der Schließung des Mütterclubs und dem Ende der Bauaktivitäten der Gruppe – wendete sich ein colaborador, ein Ehemann einer der socias des „Ex-Mütterclubs“ von Nuevo Amanecer, im Namen der Gruppe in der Zentrale von MINGA, einer genossenschaftsähnlichen Vereinigung von Kaffeeproduzentengruppen (vgl. Kapitel 6) um nach Fördermöglichkeiten für die Gruppe zu suchen. Er erschien mit einer Mappe mit Unterlagen in meinem Büro als DED-Fachkraft des Projektes, und präsentierte eine handgeschriebene, vollständige Mitgliederliste mit Namen, Adressen und den Nummern der Ausweisdokumente, dem Protokoll der offiziellen Gründungsversammlung der Gruppe Amé Tauná4 aus demselben Jahr sowie einem Dokument über die Rechtspersönlichkeit des Ortsteils Nuevo Amanecer, die im Rahmen der participación popular ausgestellt worden war. Es war eher ein Trick, der die Formalität der kleinen organisierten Gruppe belegen sollte, denn die Rechtspersönlichkeit galt nicht spezifisch für Amé Tauná, sondern der gesetzlich definierten territorialen Basisorganisation des Wohnviertels Nuevo Amanecer. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Fachkräfte der damaligen GTZ und des DED über fast 20 Jahre in verschiedenen Projekten und Programmen in der Provinz Velasco gearbeitet. Don Victor wusste als ehemals aktives Mitglied in MINGA, dass die deutschen Fachkräfte den Zugang zu Fördermitteln vermitteln konnten und dass man die Vertreter von EZOrganisationen am besten durch Vorlage offizieller Dokumente von der Seriosität einer Organisation überzeugen konnte.
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„Amé Tauná“ ist ein Ausdruck aus dem Chiquitano, das in der Provinz Velasco kaum noch gesprochen wird: es bedeutet „Komm hier her!“.
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Da es ein passendes Förderangebot der deutschen Botschaft gab, verabredete ich in meiner Rolle als EZ-Organisationsberaterin mit Don Victor einen Besuch bei einem der regulären Treffen der Gruppe Amé Tauná um den Mitgliedern der Organisation den Botschaftsfond und seine Förderbedingungen und Antragsformalitäten vorzustellen. Die Gruppe formalisiert sich als Organisation Amé Tauná In mehreren Sitzungen wurde mit der gesamten Gruppe diskutiert, wie der Projektantrag gestellt werden sollte und welche Anforderungen der Botschaftsfonds an die Empfänger stellen würde. So musste zum Beispiel am Ende des Projektes eine korrekte Abrechung mit Verwendungsnachweisen an die Botschaft geschickt werden. Ich knüpfte eine zusätzliche Bedingung an meine weitere Unterstützung für die Gruppe: Sie sollte ein Geldkonto in der örtlichen Filiale einer Sparkooperative zur Deponierung der Zuwendung einrichten, um das Risiko der Geldhinterziehung oder einer unsachgemäßen Verwendung der Mittel zu reduzieren. Nur zwei von der gesamten Gruppe gewählte Mitglieder konnten dort gemeinsam Abhebungen vornehmen. Weder die Gruppe noch eines der Mitglieder verfügte bis dahin über ein Geldkonto. Die von mir gesetzte Bedingung wurde von der Organisation nach einer Bedenkzeit akzeptiert. Der Vorstand von Amé Tauná schlug dann vor, dass ein Antrag bei der deutschen Botschaft gestellt werden sollte und die Gruppe stimmte in einer offenen Abstimmung zu. Das beantragte Geld sollte für zusätzliche Ausstattung und Verbesserung der Qualität der Häuser verwendet werden. Die Fördersumme betrug ca. 2500 Euro. Amé Tauná hatte bis dahin noch keinen Betrag in dieser Höhe verwaltet. In der Organisation wurde nun mit allen Mitgliedern direkt ein Vorschlag der Vorsitzenden diskutiert und abgestimmt, wie die für jedes Mitglied gleiche Fördersumme für Baumaterialien eingesetzt werden sollte. Es wurden alternative Leistungspakete (Türen, Boden, Wandverputzung) definiert, aus denen jede socia eines für sich auswählen konnte. Diese Vorgehensweise entsprach exakt den unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen der socias. Anschließend formulierte der Vorstand mit Unterstützung der EZ-Fachkraft einen Projektantrag. Es wurde eine Diskussion und eine Abstimmung unter allen socias darüber durchgeführt, welche Personen Zugang zum Projektkonto haben sollten. Die sala wählte die Schatzmeisterin und den Sekretär der Gruppe für diese Aufgabe aus. Die Rolle des Sekretärs wurde von einem weiteren colaborador ausgeführt. Auch er war Ehemann eines Mitgliedes von Amé Tauná. Diese etwas informelle Lösung war eine typische pragmatische Lösung der Gruppe, da neben der Schatzmeisterin niemand in der Gruppe über ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten verfügte, die zum Schreiben der Protokolle notwendig waren. Die Fördermittel mussten vollständig innerhalb des bereits laufenden Kalenderjahres ausgegeben und mit dem Fördergeber abgerechnet werden. Diese Bedingung
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erschien kaum erfüllbar. Die Frauen schätzten ihre eigenen Arbeitskapazitäten und die weiteren dazu notwendigen Materialressourcen so ein, dass sie die fehlenden 8 Häuser unmöglich in den wenigen verbleibenden Monaten bauen konnten. Um mit dieser formalen Auflage pragmatisch umgehen zu können schlug die presidenta der Gruppe die folgende Strategie vor: Sie würde als offizielle Vertreterin von Amé Tauná für die von den socias gewünschten Baumaterialien Angebote bei den örtlichen Händlern einholen und mit den günstigsten die besonderen Lieferbedingungen aushandeln. Das Material musste sofort bezahlt, ein Teil aber bei den Händlern auf unbestimmte Zeit gelagert werden, bis es in die neuen Häuser eingesetzt werden konnte. Die sala5 stimmte dieser nicht ganz risikolosen Vorgehensweise zu. Das Projekt von Amé Tauná Der an die Deutsche Botschaft gerichtete Antrag auf Fördermittel für Baumaterial wurde bewilligt. Die Gruppe musste also die Materialien kaufen und verwalten bzw. bewachen bis das letzte Haus gebaut war. Im Ergebnis hatte sich der Aufwand für die socias gelohnt: Jede socia konnten sich für ihr bereits fertiges oder noch zu bauendes Haus zwischen Innenputz für Wand und Boden, Türen oder Fensterrahmen entscheiden. Es waren effektive Verbesserungen der Wohnqualität, von denen sie vorher „kaum zu träumen gewagt“ hatten (Interview mit Delmira Montero). Der Bau der fehlenden 8 Häuser dauerte noch einmal weitere zwei Jahre. Im Jahr 2005 wurden dann alle 21 Häuser an einem Tag feierlich eingeweiht und von einem Priester gesegnet. Die Gruppe hatte nach mehr als zehn Jahren ihr Ziel erreicht. Danach trafen sich die socias wieder unregelmäßiger. Der Organisationszweck war erfüllt. Formal blieb die Organisation Amé Tauná bestehen. Wenn der Vorstand aus besonderem Anlass zu einer Versammlung aufrief, kamen alle Mitglieder zusammen. Die Verbindlichkeit der Teilnahme an Versammlungen blieb erhalten. Alle Häuser, bis auf eine Ausnahme, waren auch 2010 noch im Besitz und Nutzung der jeweiligen socia. 5.1.2 Die Institutionalisierung einer Handlungspraxis Der Entwicklungsprozess der Organisation Amé Tauná zeigt, wie der Kontakt zu einer Geberorganisation und bereits die Aussicht auf ein Förderprojekt die Bedeutung und Geltung interner Praxisregeln verändern. Zu Beginn der Kooperation stützt sich die Organisationspraxis auf die im Mütterklub erlernten Routinen der Versammlungen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe ergibt sich aus persönlichen freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen Beziehungen und der vorausgegangenden Mitgliedschaft
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Sala bedeutet wörtlich „Saal“, hier bedeutet es die Gesamtheit der Anwesenden bei der Mitgliederversammlung.
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im Mütterklub. Das Hausbauprojekt beruht auf einem nach dem Ende des Mütterklubs gegebenen gegenseitigen Versprechen der Mitglieder. Die Verpflichtung, das Versprechen des gegenseitigen Hausbaus zu erfüllen, kann sich auf einen im Alltag der Frauen geltenden moralischen Standard der gegenseitigen Hilfe stützen, der z.B. auch im nachbarschaftlich organisierten Hausbau gilt. Die Organisation der Frauen in den ehemaligen Mütterclubs kann nach dem erfolgreichen Bau mehrerer Häuser ihre operative Praxis über eine längere Zeit nicht mehr weiterführen, weil für ihre Mitglieder die dazu notwendigen Ressourcen (Arbeitskraft und Baumaterial) nicht verfügbar sind. In der Organisationspraxis wird in dieser Krise, in der die operative Kooperation ruht, vor allem symbolisch gehandelt. Die Treffen und verschiedene eher erfolglose Aktivitäten, das notwendige Geld für die Errichtung neuer Häuser einzunehmen, bestätigten auf symbolische Weise den Fortbestand und die Legitimität der Ansprüche der Mitglieder, für die noch kein Haus gebaut worden ist. Diese „Hinhaltetaktik“ kann den drohenden Konflikt zwischen den begünstigten und den (noch) nicht begünstigten Mitgliedern moderieren. Die Versammlungen sind in dieser Etappe zur Erreichung des Ziels funktional nicht besonders wichtig, da es keine Entscheidungen zum Hausbau zu treffen gibt und keine „handfeste“ Arbeit zu koordinieren ist. Doch die Aufrechterhaltung einer symbolischen Praxis erweisst sich im Nachhinein als ein Schlüssel für die institutionelle Stabilität von Amé Tauná. Andere Hausbaugruppen und ehemalige Mütterclubs aus San Miguel lösten sich in ähnlichen Situationen allmählich auf (Gruppeninterview mit Amé Tauna und informelle Gespräche am Rande eines Baugruppentreffens in San Miguel). Das Überraschende ist also, dass diese Gruppe im Viertel Nuevo Amanecer sich nicht auflöst, sondern in einer Art Latenzzustand über eine symbolische Praxis erhalten bleibt. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass es der Leitung der Gruppe immer wieder gelingt, durch sporadische Aufrufe zu unterhaltsamen gemeinsamen Aktivitäten (Bingo-Spiel zur Erzielung von Einnahmen für die Gruppe) gelang, das Zugehörigkeitsgefühl zu Gruppe zu stärken. In dieser Krisenphase wird die Abwesenheit von Versammlungen toleriert. Symbolisch werden aber auch in dieser Zeit für das Fehlen einzelner Mitglieder Bußgelder im Protokollbuch vermerkt und auch korrekt aufsummiert. Gezahlt werden die Bußgeldbeträge aber nur von wenigen Mitgliedern. Der Aufwand der Buchführung über die Bußgelder ist ein symbolischer Beleg für die prinzipielle Geltung der Organisationsregeln. Die entscheidende institutionelle Wende ereignet sich bereits im Zuge der Diskussion und Anfertigung des Antrags auf Förderung bei der Deutschen Botschaft. Die Teilnahme an den Sitzungen wird nun regelmäßiger. Diese Veränderung der Praxis hat weniger mit der Regel der Teilnahmepflicht als mit dem individuellen Interesse zu tun, das die Mitglieder an dem erhofften Förderprojekt haben. Kein Mitglied will die anstehenden Entscheidungen darüber, was mit den Mitteln anzufangen sei, verpassen oder die Chance verlieren, daran teilzuhaben. Aus diesem Interesse ent-
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steht allmählich durch Wiederholung eine Versammlungsroutine, sodaß die regelmäßige Teilnahme der Mitglieder zunächst zu einem Standard wird. Die Etablierung dieser Regel vollzieht sich durch die sprichwörtliche „normative Kraft des Faktischen“, denn sie wurde nicht beschlossen und auch nicht durch Entscheidungen der Leitung oder von außen durchgesetzt. Die Regel der Versammlungsroutine etabliert sich ausschließlich über die Handlungspraxis und die dahinter stehenden Motive der Handelnden. Das Förderprojekt belebt faktisch die bis dahin ruhende Geltung der Regel der Anwesenheitspflicht bei Versammlungen. Das Förderprojekt bietet also kollektiv wirkende Anreize und günstige Rahmenbedingungen zu einer Institutionalisierung weiterer Regeln. Diese Regeln ergeben sich nicht quasi von selbst, bzw. nicht implizit über individuelle Motive, wie die Teilnahme an Versammlungen, sondern werden in den Versammlungen zwischen Vorstand und Mitgliedern diskutiert und abgestimmt. Die Institutionalisierung der Teilnahmeregel von einer Gewohnheit zu einer regulativen Institution ist ein bemerkenswerter kollektiver Prozess in Amé Tauná. Er wird durch das kluge Handeln der presidenta ermöglicht. Sie schlägt zum offiziellen Beginn des Förderprojektes vor, hinsichtlich der bis dahin locker gehandhabten Teilnahmeregel eine explizite Zäsur zu setzen, d.h. die notierten Schulden durch Bußgelder für alle socias zu erlassen. Gleichzeitig soll von nun an die Anwesenheitspflicht nicht nur symbolische, sondern auch faktische Geltung erhalten und Verstöße gegen diese Regel sanktioniert werden. Dieser Vorschlag wird von den Mitgliedern angenommen und dann in der Praxis konsequent (regelmäßig) ausgeführt. Der Erlass der Bußgeldschulden ist indifferent, d.h. er gilt für alle gleichermaßen und stärkt damit die Organisation als Institution. Gleichzeitig ermöglicht dieser Schuldenerlass, die zuvor vernachlässigte Regel der Anwesenheitspflicht von neuem als indifferent geltende Regel zu etablieren. Obwohl es noch Monate dauern sollte, bis die Projektmittel auf dem Konto der Gruppe eingetroffen waren, und es weitere Monate dauerte, bis Haus für Haus damit besser ausgestattet werden konnte, war die Teilnahme an Versammlungen auch in dieser Zwischenzeit regelmäßig. Im weiteren Prozessverlauf, nachdem alle Häuser gebaut, das Projekt abgeschlossen und der Organisationszweck erfüllt war, wurden die Versammlungen nur zu besonderen Anlässen einberufen. Die gelungene Institutionalisierung der Verpflichtung zur Teilnahme an den Versammlungen ist für das Funktionieren der Kooperation grundlegend, da hier Informationen weitergegeben, Entscheidungen gefällt und alle verbindlichen Aktivitäten koordiniert wurden. Die monatlichen Mitgliederversammlungen zeichneten sich durch einen stark formalisierten Ablauf aus. Dieser Ablauf ist sowohl normativ wie regulativ institutionalisiert, denn er erscheint den Mitgliedern selbstverständlich und auch zweckmäßig. Sie fühlen sich darin als souveräne Protagonisten des Verfahrens. Das detaillierte Protokoll der jeweils letzten Sitzung, in dem auch der Stand der Einlagen aller socias enthalten ist, wird gut artikuliert und langsam aus dem Protokollbuch vorgelesen. Die
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Anwesenheit jeder socia wird gemeinsam überprüft. Sobald genügend Ressourcen für ein neues Haus vorhanden sind, wird durch Vorschlag, Diskussion und eine offene Abstimmung per Handzeichen bestimmt, für welche socia das nächste Haus gebaut werden soll. Für die Entscheidung, welche socia als nächste durch ein Haus begünstigt wird, werden verschiedene und situationsbezogene Kriterien herangezogen. Die flexible und unbürokratische Handhabung dieser wichtigen Entscheidung erweist sich als konfliktarm. Die Entscheidung stützte sich auf pragmatische und soziale Argumente, die an die allgemein geltenden Kriterien der Fairness des lokalen Kontextes anknüpften. Zum einen entschied sich die sala entweder für die socia, die gerade über alle notwendigen Eigenressourcen und Voraussetzungen verfügte. Oder die Entscheidung richtete sich nach dem Kriterium besonderer sozialer Bedürftigkeit wie z.B. Alter, Krankheit, Familiengröße, Verlust des Partners oder drohende Obdachlosigkeit. Da die familiäre, ökonomische und gesundheitliche Situation aller socias leicht zu überprüfen war, konnte in der Regel schnell ein Konsens erreicht werden. Diese eigentlich brisante Entscheidungspraxis verläuft reibungslos und ohne dass Konflikte oder Zweifel daran deutlich werden. Eine langfristige Planung wurde von der Gruppe nicht aufgestellt. Die rollende und relativ kurzfristige Planung sehen die Frauen als eine zweckmässige und faire Vorgehensweise an. Kooperation jenseits des eigentlichen Arbeitsprozesses Die Handlungspraxis in Amé Tauná entfaltete sich nicht nur in Arbeits- und Entscheidungsprozessen. Zu besonderen Gelegenheiten werden Empfänge und Feste ausgerichtet, die den Lebensgewohnheiten und Bräuchen in den Landgemeinden (comunidades) ähneln. Dabei wurde chicha fuerte (leicht vergorenes Maisbier) gereicht. Die Einwohner von San Miguel sind auf die lokale vergorene Chicha besonders stolz. Die älteren Frauen zündeten sich eine Zigarre aus selbst angebautem Tabak an: Im katholisch geprägten San Miguel ist eine solch selbstbewusster und genussvoller Habitus – insbesondere für Frauen – sehr ungewöhnlich. Die Feste zeigten und untermauerten die sozialen Bindungen zwischen den Mitgliedern samt ihren Familien. Sie stärkten das Gefühl der Zugehörigkeit zur Organisation. Bei der Vorbereitung dieser festlichen Zusammenkünfte zeigte sich eine ähnliche Fähigkeit zu reibungsloser Koordination unter den Familien der socias wie bei der Bauarbeit. Die Regel war hier allerdings nicht so strikt: Jede socia trägt nach ihren Möglichkeiten zum Fest bei. Hier kam es nicht auf genau definierte, indifferente Beitragspflichten an. Bei diesen quasi öffentlichen Gemeinschaftsaktivitäten war jedem Mitglied daran gelegen, sichtbar etwas Wertvolles beizusteuern.
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5.1.3 Systemperspektive Die Organisation Amé Tauná lässt sich gemäß dem von SCOTT vorgeschlagenen Modell als ein System beschreiben, das die Systemkomponenten „Soziale Ordnung“, „Mitglieder/Beteiligte“, „Ziele“ und „Technologie/Strategie“ und „Umwelt“ umfasst (vgl. Kapitel 2.6.1). In diesem ersten Fallbeispiel werden die Komponenten relativ ausführlich beschrieben und dabei Elemente herausgearbeitet, die in späteren Fallbeispielen wieder auftauchen werden. Soziale Ordnung In Amé Tauná sind kaum Status- oder Rangunterschiede erkennbar. Die Gruppe ist auch hinsichtlich der sozialen Lage ihrer Mitglieder homogen. Die socias von Amé Tauná leben in relativ ähnlichen soziokulturellen und ökonomischen Verhältnissen. Alle gehören einer permanent von Armut bedrohten oder betroffenen Schicht an. Die Mitglieder haben nur geringe Einkommen aus Subsistenzwirtschaft, Kleinhandel oder sporadischer Tagelohnarbeit. Eine Ausnahme bildet die Familie der zweiten presidenta Doña Delmira Monetero, deren Familie durch unternehmerische Aktivitäten im Holzhandel über ein leicht überdurchschnittliches Einkommen verfügte. Der sozioökonomische Unterschied zu den übrigen Familien des Viertels ist jedoch moderat. Zwischen der Familie der presidenta und den übrigen Familien der Mitglieder bestehen keine ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse.6 Die Regeln der Kooperation im Hausbau orientieren sich an der alltäglichen Praxis der gegenseitigen Hilfe im lokalen Kontext der Landgemeinden (comunidades). Den grundlegenden Bezugsrahmen für das Gerechtigkeitsverständnis bilden lokal geltende Vorstellungen von Reziprozität. In den alltäglichen Reziprozitätsbeziehungen des lokalen Kontextes besteht jedoch nur ein nicht quantifizierbarer genereller Anspruch auf gegenseitige Hilfe. Hier geht es um die grundsätzliche Verpflichtung, dass derjenige, der Hilfe empfängt, diese zu einem unbestimmten Zeitpunkt und in unbestimmter Quantität bei Bedarf auch für den Helfer leistet.7 Dieses vage Tauschverhältnis wird in den Regeln von Amé Tauná konkretisiert und genau quantifiziert.
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Die Vorsitzende Doña Delmira Monetero bemüht sich sichtlich in einer Gruppendiskussion ungefragt mir und den Mitgliedern gegenüber sichtlich, zu erklären, wie sie ihr Haus mit zusätzlichen Eigenmitteln erweitert habe und dabei keine Privilegien in Amé Tauná genossen hatte. Sie hatte offensichtlich das Bedürfnis, ihr deutlich größeres Haus mit eigenen Aufwendungen zu erklären und zu rechtfertigen, denn dieser offensichtlich höhere Wohlstand wich von der als normal empfundenen sozio-ökonomischen Lage der socias ab.
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Zur Theorie der Reziprozitätsökonomie in Bolivien hat die GTZ das dreibändige Werk „Teoría de la Reciprocidad“ herausgegeben. Die Logik der Gaben und der gegenseitigen
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Hier wird ein Gerechtigkeitsverständnis angewendet, das Parallelen zur normativen Logik des vorausgegangenen Mütterclubs mit seiner food-for-work Strategie zeigt, bei der die praktische Arbeit durch einen bestimmten Gegenwert (Nahrungsmittel) be- bzw. entlohnt wurde. Dieses Prinzip wird in Amé Tauná weiterentwickelt, indem jedes Mitglied ein genau gleiches Quantum an Arbeit und finanziellem Beitrag für die Gruppe leistet und diesen als Gegenleistung erwarten kann. Konkret waren die von jedem Mitglied zu leistenen Beiträge die folgenden: • ein Betrag von 20,- Bolivianos8 (bei jeder Sitzung wurden Teilbeträge je nach den
individuellen Möglichkeiten jeder socia eingelegt und notiert) • Materialbeiträge: 100 Adobeziegel und eine bestimmte Anzahl von Holzbalken für das Dach • ein Arbeitsbeitrag im Umfang von 2 Tagen Die Arbeit in der Bauphase war nach einem klaren und eindeutigen Schema strukturiert und geregelt: In kleinen Arbeitsteams arbeiteten jeweils 3 Frauen für jeweils zwei Tage zusammen. Im Krankheitsfall dürfen die Mitglieder Familienangehörige entsenden. Die Vorbilder für die Praxisregeln von Amé Tauná entstammen dem alltäglichen lokalen Kontext, wie dem Mütterklub, den ja alle Frauen kennen. Die genauen Formulierungen der Regeln werden jedoch pragmatisch verändert. Wenn nötig werden Regeln bzw. ihre Interpretation auch an neue Bedingungen angepasst, wie es am Beispiel der Verbindlichkeit der Teilnameregel bei Mitgliederversammlungenbereits erläutert wurde. Auch die Bußgeldregel ist eine regulative Institution, die angepasst werden kann: Die Gruppe verhandelt in einer bestimmten Situation darüber, ob der Bußgeldbetrag noch richtig bemessen sei. Auch hier waren die Kriterien für die richtige und sinnvolle Bemessung des Bußgeldes zumindest der Vorsitzenden bewusst: das Bußgeld musste schon „schmerzhaft“ sein, durfte aber niemanden ernsthaft schädigen (Interview mit Doña Delmira Monetero). Der Umgang mit eigenen Organisationsregeln war also regulativ, an Zweckmäßigkeitserwägungen orientiert. Die vertikale Ordnung ist in Amé Tauná nur schwach ausgeprägt und entspricht damit der sozialen Ordnung in den Landgemeinden. Der Vorstand und die Position der Vorsitzenden werden von den Mitgliedern in Amé Tauná weniger in einer vertikalen Ordnung (SCOTT; vgl. Kapitel 2.6.1), als vielmehr in einer horizontalen funktional oder aufgabenorientierten Verteilung von Positionen interpretiert. Die einzelnen Mitglieder des Vorstandes agieren in einem kollegialen Stil. Sie sprechen sich
Verpflichtung erklärt Temple mit Bezügen zu den Ausführungen von Marcel Mauss (vgl. TEMPLE 2003, TOMO I: 56-61). 8
Das entsprach etwas mehr als einem Tagelohn für einen Mann.
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vor Sitzungen oder bei besonderen Entscheidungen untereinander ab und agierten nach außen einmütig. Die Rollen- und Aufgabenbeschreibungen für den dreiköpfigen Vorstand entsprechen dem idealtypischen Modell eines Vereins: Der Schriftführer (secretario) führte und verlas die Protokolle und war für alle schriftlichen Angelegenheiten zuständig. Die Buchführung und Kontrolle über den Kassenstand war Aufgabe der Schatzmeisterin (tesorera), die später auch für die Einrichtung und Verwaltung des Kontos für die Projektmittel verantwortlich war. Die vocal (Ausruferin) hat ausschließlich die Aufgabe, die Mitglieder zu ausserordentlichen Sitzungen zusammen zu rufen, in dem sie von Haus zu Haus ging. Die hier beschriebenen Kompetenzen und Aufgaben der Leitungsrollen von Amé Tauná entsprechen strukturell einem weltweit üblichen Standard für kleine Organisationen. Etwas Besonderes ist aber der Habitus, mit dem diese Rollen in dieser kleinen Frauenorganisation ausgeführt werden. Er entspricht einem Ideal, das für lokale Autoritäten in der Lebenswelt einiger comunidades der Chiquitania noch heute gilt. Die Mitglieder des Vorstandes traten mit einer expliziten Bescheidenheit und Zurückhaltung auf. Auch wenn in einigen Situationen für außenstehende Beobachter erkennbar wird, dass der Vorstand eine bestimmte Entscheidung in der Organisation herbeiführen möchte, so wird der Entscheidungsinhalt vor der Abstimmung ausführlich in der Versammlung besprochen. Der Habitus der Bescheidenheit, den die Vorstandsmitglieder bei allen Handlungen innerhalb der Mitgliederversammlung zeigen, entspricht den allgemeinen Erwartungen der Mitglieder und fördert ihr Vertrauen und ihr Wohlwollen gegenüber der Organisationsleitung. Zur Zeit des Förderprojektes war Doña Delmira Montero Vorsitzende (presidenta) der Organisation Amé Tauná. Sie tritt in Mitgliederversammlungen ruhig und zurückhaltend auf und spricht mit leiser Stimme. Wie ihre Vorgängerin, ist Delmira von ihrer Persönlichkeit her besonders entschlussfreudig und tatkräftig. In den Sitzungen motivierte sie die Guppe zu Entscheidungen und Aktivitäten, machte Vorschläge, bittet daber immer wieder ausdrücklich um Meinungen und die Zustimmung der Mitgliederversammlung (sala). Ihre wichtigste Aufgabe besteht in der Moderation von Entscheidungen. Die formale, sehr zeremonial inszenierte Sitzungsleitung liegt sehr häufig bei dem Beteiligten colaborador Don Victor, dem dies sichtlich Spaß machte. Doña Delmira Montero lenkt mit ausdrücklicher Bescheidenheit allerdings die Inhalte der Versammlungen. Ohne jegliche Scham betont sie vor den socias immer wieder ihre eigenen Unfähigkeiten oder Schwächen beim Reden oder Rechnen. Die Mitglieder reagieren darauf mit Zustimmung. Sie haben nicht die Erwartung, dass ihre Vorsitzende mehr Fähigkeiten als sie selbst haben muss. Diese Handlungsweisen entsprechen dem lokal allgemein üblichen Rollenideal für lokale Autoritäten. Der bescheidene Habitus der Vorsitzenden ist keine persönliche Charaktereigenschaft der Vorsitzenden Doña Delmira Montero, sondern ein Rollenmerkmal. Wenn sie als Vorsitzende von Amé Tauná nach außen agiert, wofür sie sich jedes
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Mal vorher explizit von der Gruppe beauftragen lässt, wie z.B. das Aushandeln der Bedingungen mit den lokalen Baustoffhändlern, tritt Doña Delmira Montero nicht so vorsichtig und bescheiden, sondern entschlossen und selbstbewusster auf. Sie zeichnet sich durch eine besondere Fähigkeit aus, zwischen unterschiedlichen Rollen wechseln zu können. Interne Spannungen und Konflikte sind in den offiziellen Versammlungssituationen tabuisiert. Dies wird deutlich als der sehr präsente colaborador Don Victor versucht, besondere Privilegien für sich auszuhandeln. Don Victor kann seine Kontakte zur Genossenschaft MINGA in der Nachbarstadt San Ignacio bei der Suche nach Fördermitteln für Amé Tauná nutzbar machen und stellt damit für die Organisation eine strategische soziale Ressource dar. Er beansprucht für seine Aktivitäten die Auszahlung von Reisekosten für eine Busfahrkarte und Tagegelder. In Amé Tauná gibt es keine entsprechende Regel. Der Anspruch leitet sich aus den Regularien von MINGA ab und wird von den Mitgliedern Amé Taunás dennoch akzeptiert. Später versucht Don Victor einen generellen direkten Zugriff auf die Fördermittel zu bekommen. Die presidenta und die tesorera (Schatzmeisterin) verhindern dies ohne das Problem offen mit der Mitgliederbasis zu diskutieren. Hier war nicht die sonst so wichtige Transparenz gefragt, sondern sehr diskretes Agieren im Hintergrund um einen Gesichtsverlust für Don Victor zu vermeiden. Die Vorstandsmitglieder sind sich darüber im Klaren, dass unter den Mitgliedern Harmonie einen sehr hohen Wert darstellt. Hätte ein Vorstandsmitglied in einer der Versammlungen eine kritische und konfrontativ wirkende Äußerung über Don Victor gemacht, so hätte dies eher dem eigenen Ansehen und der Glaubwürdigkeit vor den Mitgliedern geschadet, als dass es zu einer sinnvollen Entscheidung der Gruppe in Bezug auf Don Victor geführt hätte. Sein Versuch wird in informellen Gesprächen mit dem Vorstand abgewehrt, gleichzeitig bleibt er ein anerkannter colaborador der Organisation. Insgesamt stellt die soziale Ordnung von Amé Tauná eine fein abgestimmte Mischung (1) organisationstypischer indifferenter (bzw. bürokratisch handhabbarer) Regeln und Rollen, (2) kontextspezifischer Benimmregeln und Ideale sowie (3) einer situativen Flexibilität gemäß lokaler Vorstellungen von Fairness und praktischer Solidarität dar, die den instabilen sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen der Mitglieder entspricht. Mitglieder und Beteiligte Die formalen Mitglieder von Amé Tauná, die socias, sind ausschließlich Frauen. Sie leben zum größten Teil in ein und demselben Wohnviertel San Miguels, welches eine Organización Territorial de Base (OTB), also eine organisierte Einheit nach dem Volksbeteiligungsgesetz mit dem Namen Nuevo Amanecer ist. Die übrigen socias leben in der näheren Umgebung. Die Aktivitäten der Organisation werden regelmä-
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ßig von einigen Ehemännern unterstützt. Weitere Ehemänner oder Familienangehörige helfen bei besonderen Anlässen mit. Alle Mitglieder kennen die Lebensumstände der jeweils anderen. Sie können also auch etwaige Abweichungen von den Regeln der Organisation situationsgerecht beurteilen. Zum Beispiel können sie beurteilen, ob eine Frau tatsächlich wegen einer nach ihren Maßstäben ernsthaften Notlage nicht selbst an einem Arbeitseinsatz teilnimmt und stattdessen eine Vertreterin zur Leistung von Arbeitsbeiträgen schickt. Andererseits stehen die Frauen – mit einer Ausnahme – in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis oder einer anderen engeren Beziehung. Fast alle socias sind in einer der kleinen ländlichen Siedlungen (comunidad) aufgewachsen, aber es kommen nie mehr als zwei socias aus derselben comunidad. Diese vom Ursprungsort heterogene, aber sozial homogene Zusammensetzung der Mitglieder begrenzt das Risiko ständiger Konflikte zwischen konkurrierenden Sippen oder Familien, wie sie innerhalb einer comunidad häufiger vorkommen können (vgl. Fallbeispiel der Ceramistas in Kapitel 5.2). Ziele Das zentrale Organisationsziel von Amé Tauná ist der Bau eines Hauses von genau beschriebener Qualität für jede der beteiligten Frauen der Gruppe. Es beschreibt einen konkreten, für alle Mitglieder beurteilbaren und kontrollierbaren Zustand. Die Zielerreichung konnte leicht in kleine planbare Einheiten zerlegt werden. Damit sind Ergebnisse und Fortschritt in der Arbeit der Organisation für die Mitglieder direkt erfahrbar9. Jedes Mitglied hatte ein starkes persönliches Interesse an der Zielerreichung. Die Bedingungen und Anforderungen durch die Annahme von Fördermitteln bringen Sekundärziele wie eine korrekte Buchführung und die Legitimation vor der Geberorganisation mit sich. Die Sekundärziele konkurrieren im Fallbeispiel von Amé Tauná aber nicht mit dem Primärziel, sondern ordnen sich praktisch der allgemeinen oder primären Zielsetzung unter. Technologie und Strategie Die Technologie der operativen Arbeit entspricht der alltäglichen Praxis, d.h. die Art die Häuser zu errichten unterscheidet sich innerhalb von Amé Tauná nicht stark von der Errichtung von Häusern in Eigenregie. Die kollektive Strategie unterscheidet sich allerdings vom bereits erwähnten Prinzip reziproker Hilfe wie sie im lokalen Kontext der Frauenorganisation verankert ist. In Amé Tauná werden äquivalente Leistungen zwischen den Mitgliedern ausgetauscht, die den Hausbau auch Frauen ermöglichen, die nicht über die notwenidgen Ressourcen der nachbarschaftlichen Hilfe verfügen, die zum Beispiel mit der großzügigen Verköstigung der Helfenden verbunden ist und freundschaftliche oder verwandtschaftliche Netzwerke voraussetzt. 9
In der Sprache der Entwicklungsplaner entspricht dies dem monitoring.
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Der wesentliche zusätzliche Beitrag, den die formale Organisation zur Zielerreichung erbrachte, war der langfristig angelegte und auf Vertrauen aufbauende koordinierte gegenseitige Austausch von Arbeitskraft. Dabei stellte die Organisationsform als solche eine Institution dar, d.h. sie stellte für die Mitglieder einen Rahmen für die Zusammenarbeit dar. Das Wissen, das für die Technologie der Organisation im Hausbau dieser Art notwendig ist, gehört zum lokalen Alltagswissen der Mitglieder. Zur besonderen Strategie der Organisation Amé Tauná gehört auch ihre Abgeschlossenheit. D.h. es werden keine neuen Mitglieder aufgenommen und die Hürde die Gruppe zu verlassen ist hoch, da die bereits geleistete Arbeit nicht vergütet wird. Diejenigen, für die bereits ein Haus errichtet wurde, können sich aufgrund der sozialen Kontrolle und der drohenden Stigmatisierung nicht aus der Kooperationsverpflichtung entfernen und aus der Organisation austreten. Die Organisation vollzieht hier im Gegensatz zur offen angelegten Reziprozitätslogik eine soziale Schließung. Strategie und Technologie sind auch in dieser Hinsicht für die Mitglieder von Amé Tauná durchschaubar und übersichtlich. Im Hinblick auf das Ziel leuchtet ihre Zweckmäßigkeit unmittelbar ein. Das Förderprojekt erforderte durch die Einrichtung eines Kontos eine – im Kontext der Frauen – technologische Innovation, die nicht mehr für alle Mitglieder kontrollierbar war. Das grundsätzliche Vertrauen der Mitglieder in die Vorstandsmitglieder wird dadurch nicht erschüttert. Am Ende des Förderprojektes erweisst sich dieses Vertrauen als gerechtfertigt. 5.1.4 Die institutionelle Umwelt von Amé Tauná Die institutionelle Umwelt (vgl. Kapitel 2.6) von Amé Tauná ist relativ überschaubar. Der Mütterclub stellte für die meisten Frauen von Amé Tauná die einzige biografische Erfahrung mit formaler Organisation und deren Handlungspraxis dar, abgesehen von direkt staatlich, d.h. gesetzlich geregelten Formen der Selbstorganisation wie sie in Bolivien beispielsweise im Bereich der Schule etabliert sind. Die Mütterclubs bilden im Erfahrungswissen der Frauen also eine wichtige Modellvorlage für ihre neue unabhängige Organisation Amé Tauná. Die CARITAS führte mit den Mütterclubs flächendeckend ein bestimmtes Organisationsmodell auf lokaler Ebene in ganz Bolivien ein. Ein Merkmal der Aufbaustruktur des Mütterclub-Organisationsmodells war, dass neben der formalen Leitungsrolle, die von einem gewählten Mitglied ausgeübt wurde, eine zweite faktische Leitungsposition bestand, die in San Miguel von einer Ordensschwester eingenommen wurde. Die doppelte Leitungsstruktur mit einer externen Leitung wird in Amé Tauná nicht übernommen, da sich die Gruppe ohne einen institutionellen Träger wie die Kirche entwickelt. Der Mütterclub bildete für die Organisation Amé Tauná vor allem im Hinblick auf die Versammlungspraxis ein Vorbild. Diese Praxis wird im zeitlichen Verlauf modifiert, vor allem durch die von Don
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Victor eingebrachten Elemente aus der strengeren und zeremonial stilisierten Versammlungspraxis von MINGA. Die extern von der CARITAS vorgegebenen und wechselnden Ziele des Mütterclubs werden in Amé Tauná in ein einziges und sehr konkretes Ziel umformuliert, hinter dem ein konkretes Anliegen der Mitglieder steht: der Bau von Eigenheimen für ihre Mitglieder. Der Kleinprojektfond der Deutschen Botschaft nahm durch sein Förderangebot Einfluss auf die institutionelle Gestalt von Amé Tauná. Zum einen stellte er Anforderungen an die Formalität der Gruppe, und zum anderen wirkten sich die Förderbedingungen auch auf die Strategie und die Gewohnheiten der Planungspraxis der Gruppe aus. Durch die Auflage, die Fördermittel bis zum Jahresende abzurechnen, war Amé Tauná praktisch gezwungen, das finanzierte Baumaterial im Voraus bei den lokalen Händlern zu kaufen. Die Einrichtung eines Sparkontos war keine zwingende Auflage des Förderfonds, sondern eine Forderung, die die DED-Beraterin an die Organisation stellte, um die zweckgemäße Verwaltung des Geldes abzusichern. Mit dieser Formalisierung änderten sich die soziale Ordnung, insofern als secretario und tesorera wichtige zusätzliche Verantwortungsbereiche (Zugang zum Konto) bekamen, die der unmittelbaren Kontrolle der übrigen Mitglieder entzogen waren. Die genauen Grenzen der institutionellen Umwelt lassen sich nur schwer bestimmen. So gehören im weiteren Sinne auch die örtliche Sparkasse mit ihren Geschäftsbedingungen für die Eröffnung eines Sparkontos oder die Kommunalverwaltung von San Miguel, die die Eigentumsrechte der Hausgrundstücke (lotes) formal regelt, zur institutionellen Umwelt von Amé Tauná. Diese institutionellen Einheiten haben für die formale Gestalt und die Handlungspraxis im beobachteten Zeitraum nur sporadischen aber keinen nachhaltigen Einfluss. Es ist aber prinzipiell möglich, dass diese und weitere Einrichtungen in Zukunft eine einflussreichere institutionelle Umwelt für Amé Tauná bilden. Die folgende Abbildung stellt die institutionelle Umwelt der Organisations Amé Tauná schematisch dar. Die Pfeile der Abbildung stellen die Art der Beziehungen dar: Die durchgehenden Pfeile stellen die direkten Förderbeziehungen zwischen der Amé Tauná und den fördernden Organisationen DED und Deutsche Botschaft dar, die auch mit Einflussnahme verbunden sind. Die gestrichelten Pfeile zeigen indirekte institutionelle Einflüsse, die zum Teil als mittelbare Auswirkungen der Förderauflagen, oder über gesetzliche Bestimmungen vermittelt, auf die Strukturen und die Praxis der lokalen Organisation Einfluss nehmen.
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Abbildung 6: Das System der Organisation Amé Tauná in ihrer institutionellen Umwelt
Quelle: eigene Darstellung
Das Kräfteverhältnis zwischen intern ausgehandelten strukturellen Veränderungen und dem Einfluss der institutionellen Umwelt erscheint im Fallbeispiel von Amé Tauná ausgewogen. Die Organisation ist in der Lage, externe Förderangebote reflektiert nach interner Abstimmung auszuwählen und sich auf die damit verbundenen Forderungen durch Veränderungen einzustellen, ohne dabei die etablierte soziale Ordnung und das interne Vertrauen in die Kooperationsvereinbarung in Gefahr zu bringen. Im folgenden Abschnitt wird nun das Systemmodel SCOTTS weiter differenziert indem der institutionellen Umwelt, die letztlich eine Vermittlungsebene der globalen institutionellen Umwelt ist, eine lokale Umwelt hinzugefügt wird, die im folgenden Abschnitt für Amé Tauná beschrieben wird. 5.1.5 Die Lokale Umwelt von Amé Tauná Die Mitglieder von Amé Tauná leben im Hauptort San Miguel. Die meisten von ihnen sind in den umliegenden Landgemeinden (comunidades) aufgewachsen. Sie sind Grenzgängerinnen zwischen diesen beiden Lebenswelten und sind aufgrund dieses Wissens- und Erfahrungshintergrunds in der Lage, kommunitäre Praxisformen
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der Kooperation aus den comunidades mit bürokratischen Elementen der formalen Organisation, die sie im Hauptort San Miguel kennengelernt haben, in einer funktionierenden Organisationspraxis zu kombinieren. So können z. B. Elemente der lokal üblichen kommunitären Gemeinschaftsarbeit in die Strategie aufgenommen werden, die in der Region bei Arbeiten für eine Person, Familie oder einen patrón als minga und im Bereich kommunaler Arbeiten als trabajo comunitario bezeichnet werden (vgl. ARRIEN GUTIERREZ 1999). Die konkreten Bestimmungen und Freiheitsgrade der Regeln des gemeinsamen Hausbaus in einer minga variieren in der Chiquitania von einer comunidad zu nächsten – zum Beispiel wie sich Beitragspflichten (Arbeitszeit, Material etc.) bemessen und zu welchen unmittelbaren Gegenleistungen bezüglich der Versorgung mit chicha und Essen der Empfänger der gemeinschaftlichen Arbeitsleistung verpflichtet ist. Die konkreten Bestimmungen der Regeln der Zusammenarbeit mussten daher in Amé Tauná geklärt oder ausgehandelt werden, bevor sie eine allgemeine Geltung erlangen konnten. Die in vielen comunidades noch regelmäßig praktizierte gegenseitige Hilfe beim familiären Hausbau bildet jedoch einen kulturell-kognitiv verankerten Bezugsrahmen der Kooperationsstrategie in Amé Tauná. Der potenzielle Einfluss der lokalen Umwelt auf die lokale Organisation Amé Tauná wirkt jedoch nicht nur über die dort geltenden institutionalisierten Handlungsweisen, Standards und Gewohnheiten, die Bestandteile des lokale Alltagswissens sind. Die Geschichte Amé Taunás zeigt, dass auch handfeste Macht- und klientelistische Abhängigkeitsstrukturen für die institutionelle Entwicklung lokaler Organisationen relevant sein können. In diesem Fallbeispiel behindern die lokal herrschenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse jedoch die Entstehung einer eigenständigen Organisation einer marginalisierten Gruppe von Anwohnern nicht. In ihrer Anfangsphase als Mütterclub sind die späteren Mitglieder von Amé Tauná stark auf die Autorität der Ordensschwester ausgerichtet, die in diesem Fall mit der ebenfalls starken ersten presidenta gemeinsam und einvernehmlich agiert. Durch dieses einvernehmliche Agieren wird die Herausbildung einer internen Leitungsrolle am Beispiel der ersten presidenta ermöglicht. Es kann sich ein beispielhafter Leitungsstil etablieren, der einerseits zielführend und funktional ist, und andererseits mit den lokalen Standards vereinbar ist. Als eine der lokalen politischen Machtgruppen versucht, die Gruppe durch die Schenkung eines Grundstücks für Wahlen zu instrumentalisieren und diese Schenkung später rückgängig machen will, hat die Vorsitzende ausreichend Selbstbewusstsein und Autorität in der Organisation, um sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen. Später versucht ein Bürgermeister von San Miguel die Gruppe für seine Zwecke zu instrumentalisieren, als er eine große öffentliche Veranstaltung mit allen Baugruppen des Ortes organisiert, bei der Amé Tauná als Vorbild dienen sollte. Als man in Amé Tauná erkennt, dass die lokalen politischen Akteure nicht dazu bereit sind, eine substanzielle Unterstützung zu leisten, hält die Gruppe Distanz zu diesen Aktivitäten.
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Die kleine Organisation Amé Tauná steht mit ihrer Agenda und Zielen nicht im Spannungsfeld lokaler Interessengruppen; sie kann sich daher relativ unbehelligt von paternalistischer Einflussname in der lokalen Arena entwickeln. Wie die anfängliche Unterstützung durch die Ordensschwester, so wird später auch die Unterstützung durch den Deutschen Entwicklungsdienst und den Botschaftsfond, die öffentlich bekannt ist, von den Vorsitzenden als eine Art Schutz gesehen (Interview mit Maria Perogón und informelle Gespräche mit Delmira Montero). Der Kontakt zur institutionellen Umwelt scheint auf die öffentliche Wahrnehmung der Institutionalität der Organisation Amé Tauná abzufärben. 5.1.6 Institutionalisiertes Vertrauen in Amé Tauná Das Vertrauen in formale Institutionen ist im lokalen Kontext der Provinz Velasco bis heute im Allgemeinen eher gering. Die sozialen Beziehungen zeichnen sich dort seit Jahrhunderten durch die Abwesenheit, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit staatlicher Regulation aus (institutionalisierte Informalität). Soziale Kooperation kommt vorwiegend über persönliche Beziehungen zustande und eben nicht im Rahmen formaler Organisationen. Dies spiegelt sich auch in den biografischen Erfahrungen der Mitglieder von Amé Tauná wider. In Amé Tauná konnte dennoch ein stabiles Vertrauen in eine langfristig angelegte und auf festgelegten Regeln beruhende Kooperation entstehen. Amé Tauná zeichnet sich dadurch aus, dass die Mitglieder langfristig positive Erwartungen an das auf explizite Regeln verpflichtete kooperative Handeln im Rahmen ihrer Organisation entwickeln konnten und diese auch über einen schwierigen Zeitraum erfolgloser oder ruhender Arbeit hinweg aufrechterhalten konnten. Die positiven Kooperationserwartungen wurden durch die Erreichung von Teilschritten zum Ziel (Fertigstellung der ersten Häuser) verstärkt. Die Kooperation unter den besonderen institutionellen Handlungsbedingungen formaler Organisation hat sich in der Erfahrung der Mitglieder in diesem Fall – entgegen sonstiger Erwartungen und Erfahrungen – bewährt. Amé Tauná stellt jedoch eine hybride Form der Organisation dar, die relativ viele Merkmale personengebundener Kooperation aufweist. Die Vertrauensbeziehungen entwickeln sich in einem geschlossenen Kreis von Personen, die sich persönlich kennen und kontrollieren können. Andererseits werden alle relevanten Entscheidungen und Verabredungen bezüglich des Hausbaus nicht direkt zwischen den Frauen ausgehandelt, sondern im standardisierten Rahmen der Organisationsregeln getroffen. Sie unterlagen nicht mehr allein der jeweiligen Bauherrin und ihren befreundeten Helfern bzw. Nachbarn, wie es im Kontext der Landgemeinden sonst üblich war. Die Vorteile der formalen gemeinnützigen Organisation sind aus Sicht der Mitglieder die institutionellen Anschlußmöglichkeiten an Förderung und der Schutz vor der Willkür lokaler Machtgruppen.
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Die institutionalisierten Regeln von Amé Tauná sind mit den allgemein geltenden Wertvorstellungen, Wahrnehmungsmustern und dem lokalen Alltagswissen der Organisationsmitglieder vereinbar. In der alltäglichen Organisationspraxis bestand ein gut balanciertes Verhältnis zwischen Indifferenz und situationsgerechter Anpassung, das sowohl eine den Mitgliedern selbst zweckmäßig erscheinende Handhabung von Regeln, als gegebenenfalls auch deren Modifikation zuließ. Durch die Suche nach einem Zugang zu externer Förderung begibt sich die Organisation in eine für sie neue institutionelle Umwelt. Diese Umwelt verknüpft ihre Förderleistungen mit Forderungen an die Formalität und Verbindlichkeit der Organisation. Im Fallbeispiel von Amé Tauná fallen diese Forderungen moderat aus und die Organisation hat ausreichend Souveränität und Zeit, damit verbundene Entscheidungen mit den Mitgliedern abzustimmen. Rollen- und Regelinhalte der Organisation mussten durch die externen Anforderungen nur wenig verändert werden. Die Technologie, Ziel und Handlungspraxis der Organisation bleiben unverändert. Im Prozess der Institutionalisierung einer Handlungspraxis der Organisation Amé Tauná lassen sich also alle drei von DIMAGGIO & POWELL beschriebenen Mechanismen der Homogenisierung durch die institutionelle Umwelt wieder finden (vgl. Kapitel 2.3 und DIMAGGIO & POWELL 1991a: 67-74): So wird beispielsweise das Modell eines kleinen Vorstandes aus der Erfahrung des Mütterclub mimetisch übernommen, wie auch Elemente der Sitzungspraxis von MINGA immitiert werden. Zwang zur Formalisierung und Bürokratisierung wurden durch die an die Förderung geknüpften Bedingungen des Botschaftsfonds ausgeübt. Normativer Druck wird durch Organisationsberaterin insbesondere im Hinblick auf die Einrichtung eines Kontos, die Beachtung der Prinzipien formaler Rechnungslegung, und das Vier-Augen-Prinzip beim Zugriff auf die finanziellen Ressourcen der Organisation angewendet.
5.2 D IE T ÖPFERINNEN
VON
S AN R AFAELITO
Die kleine Siedlung San Rafaelito liegt am Rande des Hauptortes San Ignacio. Formal und verwaltungstechnisch ist San Rafaelito in den „urbanisierten Bereich“ von San Ignacio eingemeindet und damit ein Ortsteil (barrio) von San Ignacio. Doch die Siedlung, die früher eine eigenständige comunidad war, entspricht bis heute eher dieser geschlosseneren Form eines Gemeinwesens. So verlaufen Verwandschafts- oder Freundschaftsnetzwerke der dort siedelnden Familien innerhalb der ehemaligen Gemeinde und sind stabiler als in einem durchschnittlichen kleinstädtischen barrio von San Ignacio. Die sozio-ökonomischen Lebensverhältnisse der einzelnen Familien sind durchgehend ärmlich. Es gibt keine nennenswerten landwirtschaftlich nutzbaren Flächen. San Rafaelito verfügt allerdings über ausserordentlich gepflegte Gemeinschaftseinrichtungen wie ein Gemeindehaus (sede social), einen sehr gut in Stand
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gehaltenen Fußballplatz sowie über zwei kleine Kapellen, die ebenfalls einen überdurchschnittlich gepflegten Eindruck machen. Die Gemeinde ist eng mit der katholischen Kirchengemeinde verbunden. Die Beteiligung der Anwohner bei Gottesdiensten und Prozessionen zu religiösen Feiertagen ist groß. Zum Fest des Schutzheiligen der Gemeinde werden nicht nur Gottesdienste und Prozessionen, sondern auch Wettkampfspiele veranstaltet. 10 Der Ort macht in dieser Hinsicht also den Eindruck starker innerer Kohäsion, Einheitlichkeit und relativ gut funktionierender Selbstorganisation. Die Organisation der Töpferinnen gestaltet sich hingegen schwierig. 5.2.1 Gründung und Entwicklungsgeschichte Die „Asociación de Ceramistas de San Rafaelito de Sutuniquiña“ ist eine freie Vereinigung von Frauen, die sich dem Töpferhandwerk widmet und die 1994 gegründet wurde. Die älteren socias der Vereinigung sehen einen historischen Schlüsselmoment ihrer Beschäftigung mit dem Töpferhandwerk im Jahr, 1977 als einer der Männer des Ortes nach längerer Arbeitstätigkeit auf einer hacienda in der Umgebung zurückkam, wo er die Herstellung von gebrannten Dachziegeln erlernt hatte (Ergebnis der Gruppenarbeit in San Rafaelito am 27.04.2010). Da die Landgemeinde nur über geringe und schlechte Ackerflächen verfügte, war die Herstellung von gebrannten Ziegelsteinen und Dachziegeln in großen Lehmöfen für die Männer eine der wenigen alternativen Einkommensquellen in Ergänzung zur Tagelohnarbeit auf größeren haciendas. Die von den Männern betriebenen, in kleinen Gruppen organisierten Ziegelbrennereien entwickelten sich zur wichtigsten monetären Einnahmequelle des Ortes. Die Ziegel werden auf Bestellung hergestellt. Die Kunden gehören der ökonomisch besser gestellten Gruppe der Viehzüchter und Unternehmer aus mestizischen oder europäischen Einwandererfamilien des Hauptortes San Ignacio an. Sie bestimmen bei diesen Geschäften weitgehend den Preis. Die Ziegelbrenner in San Rafaelito verfügen nicht über eigene Transportmittel und sind daher auf die lokale Kundschaft angewiesen. Die Frauen stellen Gegenstände für den täglichen eigenen Gebrauch in einer sehr einfachen Technik und unter prekären Arbeitsbedingungen her. Das Wissen über die Technik wurde von den Müttern auf die Töchter oder unter Freundinnen weitergegeben. Die Arbeit wird unter sehr prekären Bedingungen im Freien ausgeführt. Nur Doña Manuela, die Ehefrau des ersten Ziegelbrenners, verfügte über eine kleine überdachte Scheune, in der sie auch in der Regenzeit ihre Erzeugnisse herstellen und gleichmäßig und langsam trocknen lassen konnte. Einige befreundete Frauen und Nachbarinnen nutzten ihre kleine Scheune mit (informelle Gespräche mit Doña Manuela und Doña Ignacia). 10 Solche öffentlichen Wettkampfspiele in comunidades habe ich in der gesamten Chiquitania ansonsten nur in der abgelegeneren und traditionsbewussteren Region Lomerío beobachten können.
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Im Landkreis San Ignacio initiierte die CARITAS CHIQUITOS wie in San Miguel Mütterclubs in Ortsteilen oder comunidades. In San Rafaelito wird 1983 ein Mütterclub gegründet. Von der Gründung des Mütterclubs bis 1990 hat Doña Ignacia das Amt der presidenta inne. Sie genießt in der Gemeinde allgemein hohes Ansehen. Die eigentliche Leitung der Organisation obliegt jedoch einer Mitarbeiterin der CARITAS. Ähnlich wie in San Miguel wurden auch in diesem Mütterklub anfänglich Gemüsegärten für die Familien angelegt. Später bauten die Frauen ähnlich wie im Fallbeispiel San Miguel (vgl. Kapitel 5.1), gemeinsam und im food-for-work-Verfahren das Gemeindehaus (sede social). Der Mütterclub von San Rafaelito wurde ab 1994 von der CARITAS nicht mehr betreut und zerfiel. Anfang der 1990er Jahre nimmt die Direktorin des kommunalen Kulturhauses (casa de cultura) von San Ignacio Kontakt mit den Frauen um Doña Manuela, einer engen Freundin von Doña Ignacia, und dem Kreis der aktiven Mitglieder des Mütterclubs auf. Sie ist mit der Aufgabe betraut, die lokale Kultur zu fördern und regt die Gründung eines Vereins (asociación) der Töpferinnen von San Rafaelito an. Der Verein wird nach Angaben der heutigen socias im Jahr 1992 gegründet. Ein offizielles Gründungsdokument der Organisation gibt es nicht bzw. nicht mehr. Das ursprüngliche Ziel der Vereinigung war der Bau einer großen überdachten und halboffenen Scheune, in der die Töpferwaren gemeinsam hergestellt und vor Regen geschützt gleichmäßiger getrocknet werden können. Dieses Ziel steht im Zusammenhang mit der Erwartung, dass die Frauen in dieser Scheune ihre Töpferwaren gemeinsam herstellen und trocknen lassen können und sich dort versammeln können. Doña Manuela wird zur ersten Vorsitzenden (presidenta) des Vereins der Asociación de Ceramistas bestimmt, sie hat mit ihren Töpferwaren bereits an einer kunsthandwerklichen Ausstellung teilgenommen hat. In der Phase ihrer Gründung erhielten die socias Besuche und technische Beratung von einer ausgebildeten Keramikerin. Die Direktorin des Kulturzentrums versuchte Finanzmittel für den Bau einer Scheune zu bekommen. Die Frauen begannen in Gemeinschaftsarbeit (minga) Ziegel für die Scheune herzustellen. Die versprochene finanzielle Unterstützung durch die Kommune kommt nicht zustande. Der Verein stagniert. Nach mehreren Jahren entschließen sich die Frauen, die von ihnen hergestellten 2000 Ziegel zu verkaufen bevor sie durch die Witterung verrotten und den Erlös an jede Frau auszuzahlen (informelle Gespräche mit Doña Manuela und Doña Ignacia) . 2001 kommt es im Verein der Ceramistas von San Rafaelito wieder zu sichtbaren Aktivitäten. Der Anstoß dazu kommt wieder von außen, vom Vorsitzende des Gemeinderates des Landkreises San Ignacio, Don Erwin, der seit Jahren Kontakt zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit hat. Als Agraringenieur hatte Don Erwin in den 1980er Jahren in einem großen Entwicklungsvorhaben mit GTZ-Beteiligung in der Chiquitania als Angestellter gearbeitet und sich später dort niedergelassen um eine eigene Hacienda zu betreiben. Inzwischen hatte er eine Laufbahn als Lokalpolitiker eingeschlagen und war zum Vorsitzenden des Gemeinderats gewählt worden.
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In dieser Rolle war er auf der Suche möglichen Fördermaßnahmen. Durch das Gesetz der Participación Popular (Volksbeteiligung) hatte die Regierung des Landkreises in wachsendem Maße eine gesetzlich vorgeschriebene Verpflichtung das dezentralisierte Budget in die sozioökonomische Entwicklung der Landgemeinden zu investieren (eigene Beobachtungen und informelle Gespräche). Ende 2000 schlägt Don Erwin, den Frauen von San Rafaelito vor, das Projekt zur Errichtung einer großen Scheune für die Töpferinnen wieder aufzunehmen. Der Beitrag der Ceramistas ist die Bereitstellung und Rodung des Grundstücks sowie die erneute Herstellung von Ziegeln sowie ihre Mithilfe beim Bau der Scheune. Die restlichen notwendigen Baumaterialien sollen gekauft und aus dem Etat des Landkreises und einem Kleinprojektfond des DED11 finanziert werden. In meiner Rolle als Fachkraft des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) besuche ich Anfang 2001 mehrfach die Töpferinnen in San Rafaelito um Möglichkeiten der Förderung der Organisation zu prüfen. Die Anfrage war nicht von der Gruppe selbst gestellt worden, sondern ging über Don Erwin an den DED. An den ersten Treffen nehmen alle 20 Mitglieder teil. Die Vorsitzende des Vereins, Doña Ignacia und die übrigen Mitglieder des Vereins zeigen einerseits starkes Interesse daran, den Bau der Scheune voranzutreiben. Andererseits verhalten sie sich bei diesen Gesprächen mir gegenüber deutlich zurückhaltender und unsicherer als z. B. die Mitglieder von Amé Tauná. Don Miguel, ein Anwohner von San Rafaelito, der als Laienkatechet (líder religioso) viele Gemeinschaftsaktivitäten im Ort organisiert und auch bei den Frauen sehr angesehen ist, setzt sich für das Vorhaben ein und wird zu einem Vermittler zwischen der Gruppe und mir. Don Miguel verfügt selbst über kunsthandwerkliches Geschick und ist von der Idee des Scheunenbaus begeistert. Diesmal stellen nicht die Mitglieder, sondern der Landkreis den Antrag auf Kofinanzierung des Vorhabens. Der DED beteiligt sich mit einer finanziellen Förderung. Ich habe die Aufgabe, die Gruppe dabei beratend zu unterstützten. In den folgenden Monaten arbeiten die Mitglieder der asociación, oft mit der zusätzlichen Hilfe ihrer Familienmitglieder, mit großem Engagement und hohem Arbeitsaufwand an der Vorbereitung des Geländes und dem Bau der Scheune. Am 25. Januar 2002 wird die Scheune in einem offiziellen Festakt in Anwesenheit mehrerer Ratsmitglieder, des Subpräfekten und einiger Vertreter des DED eingeweiht. Die Frauen legen Wert darauf, einen bestimmten katholischen Priester dazu einzuladen die Scheune zu segnen. Zu diesem aufwendig vorbereiteten Segnungs- und Einweihungsfest wird ein Festessen organisiert. Vertreter des DED und anderer EZOrganisationen, Vertreter des Gemeinderates und weitere Honoratioren der Stadt werden eingeladen. Viele beim Fest anwesende Gastgeberinnen und Gäste erwarteten, dass die eigentliche Arbeit der Organisation der Ceramistas nun erst beginnt.
11 Die Förderung betrug ca. 1000,- DM.
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Doch die Arbeit im Verein scheint mit der Fertigstellung der Scheune eher auf ihr Ende zuzulaufen: Die Treffen der socias werden seltener. Bei meinen spontanen oder vorher angekündigten Besuchen arbeiten höchstens einzelne socias in der Scheune. Regelmäßig sind dort nur Doña Ignacia und Manuela anzutreffen. Die Qualität der hergestellten Töpferwaren blieb im Durchschnitt minderwertig. Nur die Frauen um Doña Ignacia und Doña Michaela produzieren bessere Qualität. Das Vorhaben bessere Preise durch vereinbarte Mindestpreise zu erzielen wurde nicht durchgesetzt. Die Frauen verkauften ihre Waren weiterhin zu sehr niedrigen Preisen. In den folgenden Jahren erhält der Verein der Ceramistas von verschiedenen Organisationen immer wieder Förderung in Form von Werkzeugen (Schenkungen). Darüber hinaus bekommt die Gruppe zahlreiche Angebote, an Ausbildungskursen und an verschiedenen Kunsthandwerksmessen in der Region und im Departement teilzunehmen. Freiwillige Helfer aus Spanien und eine weitere Fachkraft des DED (Beraterin für Kunsthandwerk und Tourismus) sowie weitere Entwicklungsdienste bemühten sich, den Verein der Ceramistas zu beraten. Doch bleiben diese Bemühungen ohne positive Wirkungen auf die institutionelle Stabilität oder die Leistungsfähigkeit der Organisation. Werkzeuge verschwinden und frei herumlaufende Tiere verwüsten die Werkstatt. Die Vorsitzende presidenta des Vereins Doña Ignacia richtet sich in der Scheune sogar einen Schlafplatz ein, um sie nachts zu bewachen und vor Dieben oder freilaufendem Vieh zu schützen. Doch sie verliert in dieser Zeit immer mehr an Autorität. Es entwickelt sich ein Konflikt innerhalb der Gruppe, bei dem es vermutlich um die Eigentümerschaft und Nutzungsrechte an den Gütern der Vereinigung der Ceramistas geht. Der Konflikt wurde in der Gruppe nicht offen angesprochen – noch weniger in meiner Gegenwart als Beraterin. Als ich mich mit Fragen zur Ursache für diese Situation an einzelne Mitglieder wende, die sonst mit ihren Anliegen zu mir gekommen waren, bekomme ich dieses Mal nur ausweichende Antworten. Schließlich tritt Doña Ignacia ab und eine neue presidenta wird gewählt. Das Amt übt nun eine Frau jüngeren Alters aus, die zuvor Jahren auch bereits presidenta des Mütterclubs gewesen war. Doña Irene kann, anders als Doña Ignacia, lesen und schreiben. Sie tritt deutlich selbstbewusster und eloquenter in der Gruppe wie auch gegenüber den Lokalpolitikern auf. Bei den Mitgliedern genießt sie dennoch wenig Autorität12: Wenn sie z.B. zu Sitzungen aufruft, kommen nur wenige socias. Bei meinem letzten Besuch bei der asociación de Ceramistas in San Rafaelito im April 2010 steht auf dem Gelände neben der Scheune noch ein weiteres Gebäude, das nach Aussagen der Mitglieder der Ceramistas als Cafetería für die Touristen dienen 12 Wenn eine lokale Autorität zu einer gemeinsamen Aktivität oder Treffen aufruft und nur wenige kommen, sagt man in der Chiquitania, dass diese Person keine ausreichende convocatoria hat (von convocar = zusammenrufen). Die convocatoria ist eine Typifizierung der faktischen Autotität einer Person im Amt einer formalen lokalen Autortät.
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sollte. Die Cafeteria war mit Mitteln der Kommune San Ignacio und einem Entwicklungsfond des Departaments Santa Cruz finanziert worden. Die Initiative zu diesem neuen Projekt ging von APRODETUR aus, einem lokalen Verein zur Tourismusförderung. Wieder hatten sich die Mitglieder tatkräftig am Bau beteiligt. Der schmucklose Bau erschien aber ungenutzt. In San Ignacio sind in der Zwischenzeit viele Aktivitäten und Projekte zur Entwicklung des lokalen Kunsthandwerks mit staatlicher Förderung und Mitteln unterschiedlicher Einrichtungen der EZ durchgeführt worden. Unter anderem wurde auch eine Vereinigung der Kunsthandwerker des Landkreises gegründet. Sie verfügt über ein kleines Verkaufszentrum in bester Lage, nahe der Kirche, die das Hauptziel der wenigen touristischen Besucher des Ortes ist. Die Ceramistas gehörten dieser Vereinigung weder als Organisation, noch als einzelne Produzentinnen an. In der lokalen Ökonomie und den sozialen und institutionellen Netzwerken von San Ignacio steht die Asociación der Ceramistas am Rande. Innerhalb der Organisation findet keine regelmäßige, sondern nur eine sporadische Kooperationspraxis statt. 5.2.2 Die Institutionalisierung einer Handlungspraxis Die Handlungspraxis des Vereins der Ceramistas beginnt mit der Imitation der Praxis des ehemaligen Mütterclubs. Sie zeichnet sich durch einen Wechsel von kurzen Phasen intensiver Aktivitäten und wesentlich längeren Phasen kaum erkennbarer Aktivität aus. Der Rhythmus der Arbeit im Zusammenhang mit den offiziellen Zielen der Organisation, nämlich der Verbesserung der Töpferei, wird weitestgehend durch Angebote und Initiativen von außen angestoßen und vorangetrieben. Eine intern eigenständig koordinierte Kooperation ist nur zu wenigen und besonderen Gelegenheiten zu beobachten: bei der Rodung des Geländes und der Produktion von Ziegeln für den Werkstattbau sowie im Zusammenhang mit dem Einweihungsfest und zuletzt beim Bau einer Cafeteria. Diese Tätigkeiten haben große Ähnlichkeit mit Aktivitäten wie sie auch bei regulären Anlässen für Gemeinschaftsarbeiten von der gesamten Gemeinde durchgeführt werden. Für die Durchführung dieser Aktivitäten sind daher keine organisationsspezifischen Regeln notwendig. Sie sind Routinen im Kontext des Ortes San Rafaelito. Im Rahmen der Vereinigung der Ceramistas entwickelt sich keine spezifische Handlungspraxis, die über die allgemein geltenden sozialen Regeln und moralischen Standards hinausgeht, die ohnehin Geltung im Kontext der Gemeinde haben. Dass die Abwesenheit organisationsspezifischer Regeln kein Zufall ist, zeigte sich, als ich in meiner Rolle als Beraterin, die Konflikte um die Nutzung der Werkstatt und der Werkzeuge in verschiedenen Gesprächen mit der gesamten Gruppe thematisiere und den Vorschlag mache, gemeinsame Regeln für die Ceramistas zu besprechen, auszuhandeln und aufzuschreiben. Die Gruppe stimmte zu, dass wir hierzu eigene Versammlungen veranstalteten. Bereits zur ersten Versammlung erscheint nur
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etwa die Hälfte der Frauen, die Mitglied bei den Ceramistas waren. Die notwendigen Regeln werden in einer Liste gesammelt und die Inhalte der Regeln diskutiert. Auf einem großen Poster wurden die Vorschläge aufgeschrieben und sollen noch einmal intern von allen Mitgliedern mit Hilfe von Don Miguel besprochen und überdacht werden. Bei meinem nächsten Besuch und der gemeinsamen Sitzung sind nur vier Mitglieder anwesend. Die übrigen Mitglieder der Organisation hatten entweder kein Interesse daran, Regeln für die Nutzung der Gegenstände oder für die gemeinsame Arbeit selbst zu formulieren oder ein solches Vorgehen lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Der von mir intendierte Prozess einer diskursiven, und expliziten bzw. bewussten organisationsöffentlichen Aushandlung von Regeln – ähnlich wie es die Mitglieder von Amé Tauná ganz ohne Beratung vollzogen hatten – liess sich weder durch mich noch durch die presidenta in Gang setzen. 5.2.3 Systemperspektive Die Systemperspektive greift die von Scott benannten vier Hauptelement soziale Ordnung, Ziele, Mitglieder und Technologie (Strategie) wieder auf (vgl. Kapitel 2.6.1). Im vorangegangenen Abschnitt wurde wenig auf die Handlungsmotive der Akteure eingegangen. Dies wird aus Gründen der besseren Verständlichkeit in den Erläuterungen zu den Systemkomponenten soziale Ordnung und Mitglieder nachgeholt. Soziale Ordnung Die allgemeinen Lebenssituation, der Wohlstand und die Statuspositionen der socias sind, von außen betrachtet, relativ ähnlich. Die Frauen, die jeweils das Amt der presidenta ausübten, waren angesehene langjährige Anwohnerinnen von San Rafaelito. Wenn die presidenta zu einer Versammlung oder einer Gemeinschaftsarbeit (minga) aufruft, verstehen die socias den Aufruf als eine soziale Verpflichtung und kommen dem Aufruf nach. Es bestand eine Verknüpfung zwischen dem guten Ansehen einer Person, dem Amt einer presidenta und der normativ institutionalisierten Verpflichtung einem Aufruf zur Gemeinschaftsarbeit nachzukommen. Darüber hinaus hatten die Frauen, die einmal presidenta gewesen waren, keinen dauerhaft höheren Status. Meistens waren sie aufgrund ihres bereits bestehenden Ansehens in das Amt der presidenta gewählt worden. Das Leitungsamt verlieh ihnen auch nicht automatisch eine bleibende Autorität. Einige der jüngeren Frauen verfügten über Lese- und Schreibkenntnisse, die für die Zusammenarbeit mit den Förderorganisationen sehr nützlich waren. Für ihr Ansehen und ihre Autorität innerhalb der Organisation schienen diese Fähigkeiten jedoch nur wenig von Bedeutung zu sein. Die Tatsache, dass einige der Frauen über mehr handwerkliches Geschick verfügten und qualitativ höherwertige Töpferwaren herstellen konnten, als die übrigen
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Töpferinnen, war immer wieder Anlass für Neid und unterschwellige Konflikte. Trotz des dringenden Bedarfs an monetärem Einkommen, war es nicht möglich, dass sich die Organisationsmitglieder auf eine gemeinsame Strategie der Preispolitik (Preisabsprachen) einigten und diese gegenüber ihren Kunden durchsetzten. Mit diesem kollektiven Handeln hätten die Mitglieder ihre persönlichen Beziehungen zu Kundinnen und patrones aufs Spiel gesetzt und damit ihre Kooperationsarrangements außerhalb der Organisation riskiert. Die Ceramistas nehmen als Organisationsmitglieder keine organisationsspezifische Identität an. Die soziale Ordnung des lokalen Kontextes wird in der Organisation nicht in Frage gestellt, sondern als Normalität übernommen. Aus der Sicht von Angestellten der Geberorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit gelten die Frauen von San Rafaelito als eine aktive Vereinigung. Bei langjährigen Begleitern gelten sie seit vielen Jahren als wenig einigungsfähig und ständig zerstritten13. Mitglieder Die Mitglieder der Vereinigung der Ceramistas sind Frauen, die bereits eigene Familien haben. Sie sind in San Rafaelito aufgewachsen und leben dort. Mit den mithelfenden Ehemännern, Töchtern und dem lider religioso hat die Organisation unterstützende Beteiligte (colaboradores). Bei der internen Diskussion der Vereinigung über einen Entwurf für die Regeln innerhalb der Organisation wurde die allgemeine Vorstellung deutlich, dass Töchter automatisch dieselben Nutzerrechte genießen sollten wie ihre Mütter und diese dafür bei Gemeinschaftsarbeiten unterstützen sollten. Die Mitgliedschaft war aus der Perspektive der socias also nicht klar auf eine Person begrenzt, sondern bezog sich eher auf die Einheit Familie. Der Kreis der Mitglieder bzw. beteiligten Familien ist konstant. Die formale Eintrittsschwelle bestand aus einem von den socias beschlossenen Beitrag, der den bereits geleisteten Beiträgen bei Gemeinschaftsarbeiten in etwa entsprach und in Form von Ziegeln oder gestückelten Geldbeträgen geleistet werden konnte. Offiziell war die Organisation offen für neue Mitglieder, weil dies von den Fördermittelgebern gewünscht wurde. Tatsächlich kamen aber keine neuen Mitglieder zur Vereinigung hinzu. Ziele Die Aktivitäten der Vereinigung der Ceramistas sind zunächst auf das konkrete Ziel der Errichtung einer Werkscheune gerichtet. Hinter diesem konkreten Anliegen stehen verschiedene Erwartungen oder Zielsetzungen auf Seiten der internen und exter-
13 Dieser Eindruck von Außenstehenden wurde auch von der bolivianischen Anthropologin Ana Maria Quiroga bestätigt, die San Rafaelito über Jahre regelmäßig besucht hatte, um kunsthandwerkliche Aktivitäten anzuregen.
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nen Gründerinnen wie der übrigen Mitglieder. Diese Erwartungen bleiben unausgesprochen bzw. unverhandelt. Aus der Sicht externer professioneller Fachkräfte und Freiwilliger aus EZ-Organisationen stand fest, dass die in sichtbarer Armut lebenden Ceramistas ein starkes Bedürfnis nach mehr Geldeinkommen hatten. Diese schien also ein angemessenes primäres Ziel für die kollektiven Aktivitäten im Rahmen einer lokalen Frauenorganisation zu sein. Für die Mitglieder der Vereinigung schien die Überwindung ihrer ökonomischen Armut und Abhängigkeit jedoch nicht als ein durch kollektives Handeln erreichbarares Ziel. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen war ein minimales Einkommen auf der Basis gewohnter klientelistische Beziehungen auf individueller Ebene eher erreichbar. Kollektives Handeln war auf den Bereich der Gemeindeöffentlichkeit beschränkt. In Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen anderer Geberorganisationen14, zeigt sich, dass sie selbst und ihre Organisationen mit ihren jeweiligen Förderangeboten verschiedenste Zielsetzung verfolgten, wie z.B. die Förderung von Frauen aus der Armutsschicht, die Pflege lokal tradierten Kunsthandwerks, die Förderung touristischer Attraktivität der Region oder der Förderung indigener Identität verfolgten. Den wenig konkreten Zielvorstellungen unter den Mitgliedern und innerhalb der Organisation der Ceramistas steht also ein „Überangebot“ externer, entwicklungspolitisch und regionalpolitisch motivierter Ziele gegenüber. Technologie und Strategie Die ursprüngliche Technologie der Töpferei der Ceramistas bestand aus sehr einfachem handwerklichem Wissen, das von Müttern an ihre Töchter, oder auch untereinander befreundeten Frauen, weitergegeben wurde (informelle Gespräche). Für den Brennvorgang nutzten die Frauen die von ihren Männern selbstgebauten Öfen zum Ziegelbrennen. Dabei ging ein großer Teil ihrer Arbeiten durch die unregelmäßige Hitze in diesen Öfen und folglichen Bruch bzw. Risse und Platzen verloren. Die gesamte Strategie baute auf individualisierten Arbeitsprozessen auf der Ebene der Haushalte und Familien auf. Nur im Ausnahmefall kooperierten persönlich befreundete Frauen beim Brennen ihrer Produkte. Durch die Gründung der Vereinigung sollte die Töpferei-Produktion zu einem kollektiv organisierten Vorgang werden. Die Entwicklung einer produktiveren Technologie und einer wirtschaftlich effektiveren Verhandlungsstrategie gegenüber potentiellen Käufern rückten nun in den Mittelpunkt eines von außen bestimmten Förderprozesses: Verschiedene Geberorganisationen machten Schenkungen im Bereich der technischen Ausstattung, die sich damit enorm vergrößerte und um neue Arbeitmittel wie zum Beispiel eine Töpferscheibe erweitert wurde. Plötzlich verfügt die Organisation über kollektives Eigentum, auf
14 Diese Gespräche konnte ich während meiner zweijährigen Tätigkeit als DED-Fachkraft für Organisationsförderung und Gemeinwesenarbeit führen.
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das ihre Mitglieder nicht vorbereitet waren. Das Förderangebot im Bereich der handwerklichen Fähigkeiten verfolgte das Ziel die individuelle Qualifikation einzelner Frauen zu verbessern. Hinter dieser Förderpolitik stand auf Seiten der Geber die unrealistische Vorstellung, dass die weitergebildeteten Frauen ihre Wissen anschließend an andere weitergeben würden und dies von den vermeintlichen Nutznießerinnen des „Multiplikatoreneffektes“ auch angenommen und geschätzt würde. Von Organisationen, wie dem DED und den spanischen Freiwilligen erhält die Organisation eine durchaus an den lokalen Fähigkeiten orientierte Beratung. Die Maßnahmen auf allen drei Ebenen laufen unkoordiniert. Die Organisation der Ceramistas nimmt jedes Förderangebot an, das an sie herangetragen wird. Dies ist jedoch nicht als eine bewusst intendierte Strategie der Organisation zu sehen, da es sich um eine gewohnheitsmäßige Reaktion auf externe Angebote handelte, die die socias als „Hilfe“ interpretierten. Aus moralischen wie strategischen Gründen konnten die Ceramistas diese von ihnen klientelistisch gedeuteten Förderangebote nicht ausschlagen. Als Vereinigung entwickeln die socias keine gemeinsame bzw. kollektive Strategie. Für die Nutzung und Erhaltung des gemeinsamen Eigentums an nützlichen Werkzeugen fehlten organisationsspezifische Regeln, weil es hierzu im Erfahrungsund Wissensrepertoire der socias keine geeigneten Vorbilder gab. Die Ausbildungsangebote fördern interne Spannungen, Missgunst und Konflikte zwischen den socias noch. Sobald eine einzelne socia dazu in der Lage war, bessere Produkte herzustellen und einen höheren Preis für ihre Produkte verlangen konnte, bestand für sie das Risiko, dass der Neid anderer socias ihre sozialen Beziehungennicht nur innerhalb der Gruppe, sondern damit auch in der Ortschaft allgemein belastet hätte, da die socias gleichzeitig auch ihre nächsten Nachbarinnen und Verwandten waren. Die fortgebildeten Mitglieder erhöhen die Preise für ihre Produkte mit sichtbar besserer Qualität nicht aus Angst vor Neidreaktionen und sozialer Isolation innerhalb der Organisation. 5.2.4 Die institutionelle Umwelt der Ceramistas Die institutionelle Umwelt (vgl. Kapitel 2.6.1) der Asociación der Ceramistas kann in drei Bereiche eingeteilt werden. Einen Bereich bilden kommunale Einrichtungen wie das Kulturzentrum (casa de cultura) und die lokale Verwaltung und Regierung des Landkreises (alcaldia und concejo municipal) und des Regierungsbezirkes (subgobernación). Verschiedene institutionelle Akteure der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (DED, SNV, AECID und mindestens eine bolivianische NRO (z. B. CEPAD) bilden einen weiteren Bereich der institutionellen Umwelt, der teilweise von anderen Organisationsvorstellungen und institutionellen Eigenlogiken geprägt ist, als der erste Bereich. Den dritten Bereich institutioneller Umwelt bilden kirchliche Einrichtungen wie die Diözese, die CARITAS und die katholische Kirchengemeinde, die ebenso mit eigenen Organisationsvorstellungen und internen Dynamiken verbunden sind.
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Schon die Gründung der Vereinigung der Ceramistas von San Rafaelito de Sutuniquiña berht vorwiegend auf Impulsen aus der institutionellen Umwelt. Die erste Initiative zur Organisationsgründung geht vom kommunalen Kulturzentrum (casa de cultura) aus, dessen institutionelles Ziel die Förderung der lokalen Kultur und des Kunsthandwerks ist. Die Frauen aus San Rafaelito hatten vor dieser Gründung wenig biografisch erworbene Erfahrungen mit formaler Organisation. Der von der CARITAS ins Leben gerufene Mütterclub des Ortes, ist weitgehend von der jeweiligen institutionellen Förderstrategie der CARITAS Chiquitos abhängig. Das Modell der Mütterclubs entspringt einer Förderstrategie, die keine wirklich eigenständige Organisationen vorsieht, sondern diese „Clubs“ in ihrer Funktion als organisierte Schnittstellen zur Kanalisierung der Förderangebote der CARITAS braucht. Handlungssteuernde Elemente wie Regeln und Rollenvorschriften waren im Mütterclub – sofern sie überhaupt etabliert wurden – von der CARITAS vorgegeben. Der größte Teil der Handlungspraxis des Mütterclubs wurde von der jeweiligen CARITAS-Mitarbeiterin vorgegeben (Orte, Termine und Inhalte von Versammlungen, food-for-work-Regeln etc.). Auch die wesentlichen Impulse für koordinierte Aktionen im Rahmen des Mütterclubs wurden extern von der CARITAS bestimmt. Die folgende Abbildung zeigt die wichtigsten Bestandteile der institutionellen Umwelt der Vereinigung der Ceramistas. Die Pfeile symbolisieren die Qualität der institutionellen Beziehungen. Die doppelten Pfeile stellen Förderbeziehungen dar, die explizit auf das System der Ceramistas Einfluss nehmen. Die einfachen Pfeile stellen einzelne Beratungsleistungen dar, deren Einfluss auf das System der Ceramistas unterschiedlich stark war. Pfeile zeigen zwischen welchen der verschiedenen Organisationen zumindest unregelmäßig Koordination und Abstimmungen über die Förderungleistungen stattgefunden haben. Eine Koordination zwischen den Förderorganisationen fand im Umfeld der Ceramistas nicht statt.
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Abbildung 7: Die institutionelle Umwelt der Vereinigung der Ceramistas
Quelle: eigene Darstellung
Es wird deutlich, dass die relativ kleine und nur wenig formalisierte Organisation der Töpferinnen im Kontakt mit einer komplexen institutionellen Umwelt aus unterschiedlichen Organisationen steht. Dies fällt besonders im Vergleich zur einfachen institutionellen Umwelt von Amé Tauná auf, die gleichzeitig über ein höheres Maß an intern institutionalisierten Regeln verfügte. Die im Fallbeispiel der Ceramistas bestehenden Kontakte zu Organisationen und Förderangeboten sind mit der entwicklungspolitischen Attraktivität, die die kleine lokale Organisation für die verschiedenen Förderorganisationen hat, zu erklären. Die Ceramistas in der Wahrnehmung institutionalisierter Geber Für die verschiedenen Geberorganisationen hatte die Organisation der Ceramistas seit ihrer Gründung aus mindesten fünf Gründen große Attraktivität denn: • In ihr waren Frauen aus der Armutsschicht organisiert; • Sie schien basisnah bzw. community based; • Die Töpferei erscheint als Ergänzung des regionalen kunsthandwerklichen Ange-
botes, dass sich vorwiegend aus männlichen Holzschnitzern und Webern aus dem
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Ort San Ignacio und aus von Frauen hergestellten textilen Handarbeiten zusammensetzt; • Sie ist von San Ignacio aus sehr leicht erreichbar; • Im Umfeld von San Ignacio gibt es insgesamt wenige solcher lokalen Selbsthilfeorganisationen im produzierenden Bereich. Damit stellen die Töpferinnen in der lokalen Konstellation für die in der Region operierenden entwicklungspolitischen und staatlichen Förderinstitutionen eine ideale und rare „Zielgruppe“ bzw. Empfängerorganisation dar. Für die drei Bereiche der institutionellen Umwelt lassen sich auf institutioneller Ebene unterschiedliche normative Vorstellungen in Bezug auf die Asociación de Ceramistas als Organisation und mögliche Förderpartner unterscheiden. Für die katholische CARITAS und die Einrichtungen der lokalen Diözese bildeten die Mütterclubs in der Vergangenheit einen strategischen Zugang zur Zielgruppe der Mütter. Die Regierungsinstitutionen des Landkreises und des Regierungsbezirkes verstehen die Vereinigung der Töpferinnen dagegen als potenziellen lokalen Wirtschaftsakteur, der das kunsthandwerkliche Angebot für die erhofften kulturtouristischen Besucher der Region ergänzen könnte. Eine ähnliche Vorstellung leitet auch die spanische EZ-Organisation AECI, die mit ihr kooperierende bolivianische NRO CEPAD und den niederländischen SNV, der ebenfalls in der Region operierte. Für den DED ist die Asociación de Ceramistas ebenfalls ein lokaler Wirtschaftsakteur, aber darüber hinaus gilt diese sehr kleine und kaum institutionalisierte lokale Organisation als Baustein des lokalen Gemeinwesens. Aus dieser Zuschreibung ihrer potenziellen Rolle beziehen die Ceramistas für den DED eine besondere Bedeutung als Förderpartner. Während für die Strategie der lokalen Wirtschaftsförderung technische Fähigkeiten und Ausstattung im Vordergrund stehen, konzentriert sich ein Teil des Förderangebotes des DED dezidiert auf die Organisationsentwicklung im Sinne ihrer eigenständigen Selbsthilfekapazität. Der DED versucht daher mit Leistungen wie der zielgruppennahen „Organisationsberatung und -entwicklung“ die Selbstständigkeit und die institutionellen Kapazitäten der Ceramistas mit einem relativ hohen Zeiteinsatz durch mehrere Fachkräfte zu fördern. Doch der reale Einfluss auf die interne Handlungspraxis der kleinen sozialen Organisation bleibt im Fallbeispiel sehr gering. Diese Beobachtung soll in der vergleichenden Analyse in Kapitel 8 noch eingehender beleuchtet werden. 5.2.5 Die lokale Umwelt der Ceramistas Der starken Anbindung der Ceramistas an verschiedene fördernde Institutionen steht eine eher marginale Position in der lokalen Wirtschaft von San Igancio gegenüber. Im lokalen Organisationsfeld der kleinen kunsthandwerklichen Produzenten sind die
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Ceramistas nicht eingebunden. Die zuständige Förderorganisation APRODETUR scheint keine Förderstrategie für die Einbindung der Ceramistas in die formale Struktur des Kunsthandwerkmarktes zu haben. Eine solche Strategie hätte vor allem intensive Beratung des Handwerkernetzwerks und der kleinen Organisation der Ceramistas erfordert. APRODETUR fördert die Ceramistas mit dem leicht abzuwickelnden Bau einer Cafeteria in San Rafaelito nach dem äußerlich erfolgreichen Muster der Scheune, die bereits gebaut worden war. Aber auch dieser Bau bringt den Mitgliedern nur wenig praktischen Nutzen. Im lokalen Kontext ist die soziale Position der männlichen wie der weiblichen Einwohner von San Rafaelito durch die ökonomische Abhängigkeit von den patrones als Arbeitgeber und als Käufer der Ziegel und Töpferwaren gekennzeichnet. Die ökonomische Abhängigkeit wird durch ein kulturell-kognitiv etabliertes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Europäern und Mestizen verstärkt. Diese Art eines generalisierten „Inferioritätskomplexes“ (vgl. Kapitel 4.2.2) ist nicht auf einen unterwürfigen Habitus beschränkt, sondern sie stellt eine kulturell-kognitiv tief institutionalisierte soziale Rollenbeziehung dar. Die tradierte inferiore Rolle der Bewohner von San Rafaelito gegenüber der mestizischen Schicht bildet die Grundlage für die (Selbst-) Wahrnehmungsmuster der Anwohner des Ortes. Eines dieser Muster ist die Selbstwahrnehmung als „arme Hilfebedürftige“ mit geringen Kenntnissen. Aus dieser Rolle leitet sich auch ab, dass die Mitglieder der Ceramistas sich selbst nur eine geringe Selbstwirksamkeit zusprechen und die Möglichkeiten kooperativer Organisation gering einschätzen. Dieses Wahrnehmungsmuster hat weitere Auswirkungen auf die Kompetenzselbstzuschreibungen im Bereich der Organisation, der Kommunalpolitik, des Töpferhandwerks und der Ökonomie aus. Dies lässt sich beispielhaft daran aufzeigen, nach welchen Kriterien die Töpferinnen ihre Waren gestalteten: Die Ceramistas stellten ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen und Markterfahrungen in den Hintergrund und versuchten jeder Anregung der vielen vermeintlichen „Experten“ nachzukommen, die oft widersprüchliche Anregungen und Ratschläge geben. So versuchen die Ceramistas sowohl den Ratschläge von Gemeinderatsmitgliedern, als auch der Mitarbeiter der Kirche oder verschiedener EZ-Fachkräfte zu folgen. Sie kopieren in ihrer Töpferware die „Souvenir-Massenware“, die ihnen Fremde als Modelle aus Santa Cruz mitbringen, ebenso wie den Stil des lateinamerikanischen Barocks der Missionen, zudem manche EZ-Fachkräfte anrieten. Einige Ceramistas starten praktische Versuche, die Pflanzen und Früchte ihrer Umgebung im Design ihrer Produkte aufzunehmen. Doch diese eigenen Ideen werden ohne erkennbaren Grund schnell wieder verworfen, bevor sie zum Verkauf angeboten werden können. 5.2.6 Institutionalisiertes Vertrauen bei den Ceramistas Die Geschichte der lokalen Organisation der Ceramistas startet mit einem eher klientelistischen Verständnis der Mitglieder zu ihrer Selbsthilfeorganisationen die sie nach
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dem Modell der in der Region bekannten Mütterclubs der CARIATAS entwerfen. Deren zeremoniale oder formale Praxiselemente werden symbolisch für die Praxis der Versammlungen der Töpferinnnen verwendet. Es bleibt aber bei einer Imitation. Die Mitglieder eignen sich die Praxiselemente der Organisation nicht wirklich an um damit bestimmte Ziele zu erreichen. Die Kooperation zwischen den Mitgliedern stützt sich auf persönliche Vertrauensbeziehungen. Darüber hinaus folgt die Kooperation schematisch den allgemeinen Regeln der Gemeinschaftsarbeit, die im lokalen Kontext der Gemeinde gelten. Im zeitlichen Verlauf ist kein Zuwachs an Vertrauen in die Organisation als Institution erkennbar. Gänzlich anders als im Fallbeispiel Amé Tauná können die Förderungmaßnahmen bei den Ceramistas nicht zur Institutionalisierung und Verbindlichkeit interner Regeln beitragen. Ganz im Gegenteil wächst auf der persönlichen Ebene das Misstrauen gegenüber Mitgliedern, die von Förderangeboten profitieren oder sich individuell die Werkzeuge der Organisation aneignen.
6 MINGA – Vereinigung kollektiver Arbeitsgruppen
Mit fast 30-jähriger Existenz und mehreren hundert Mitgliedern ist die Kleinbauernorganisation MINGA wesentlich größer und öffentlich bekannter als Amé Tauná und die Ceramistas, um die es in Kapitel 5 ging. MINGA untergliedert sich in mehrere Ebenen und Organisationseinheiten. Die Organisation ist ein legitimer und attraktiver Empfänger von Förderleistungen durch Geberorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ), denn sie gilt als basisnahe Selbsthilfeorganisation von Kleinbauern in den teilweise von indigener Kultur und Armut geprägten Landgemeinden. Der Name der Organisation soll einen Bezug zur lokalen Kultur bzw. zur Praxis der Kooperation herstellen. Minga ist urprünglich ein Lehnwort aus der Sprache Quechua und wird in der Chiquitania umgangssprachlich für verschiedene Formen der informell organisierten kummunalen Gemeinschaftsarbeit oder des privaten Arbeitstausches nach Reziprozitätsregeln verwendet. Der vollständige Name der genossenschaftsähnlichen Organisation MINGA hat den Zusatz „Asociación de Grupos Mancomunados de Trabajo“ – auf Deutsch „Vereinigung der gemeinschaftlichen Arbeitsgruppen“. Die Vermeidung der Bezeichnung cooperativa (Genossenschaft) erklärt sich aus der lebendig gebliebenen negativen Erfahrung mit einer Genossenschaftsgründung in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderst (vgl. Kapitel 4.3.3) Doch gemäß ihrer formalen Selbstverwaltungsstrukturen sowie den in den Statuten aufgeführten Zielformulierungen und allgemeinen Prinzipien entspricht MINGA einer Genossenschaft im Hinblick auf die Freiwilligkeit des Beitritts (1), die durch Mitglieder formal ausgeübte Kontrolle und demokratische Beteiligung (2), die ökonomische Teilhabe der Mitglieder (3), ihre Autonomie und Unabhängigkeit (4), die in den Aktivitäten genannten Bereiche der Erziehung und Bildung der Mitglieder (5), die Zusammenarbeit mit anderen Genossenschaften und Produzentenorganisationen (6) sowie dort genannten Prinzipien der Verantwortung und Vorsorge (7).
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6.1 E NTWICKLUNGSPROZESS
UND
H ANDLUNGSPRAXIS
Die Geschichte der Organisation und ihrer regelmäßigen Handlungspraxis untergliedert sich in drei Entwicklungsphasen, die sich vor allem durch die jeweils anderen Organisationsvorbilder sowie durch ein spezifisches Verständnis der offiziellen Organisationsziele von einander unterscheiden. Die Initiative zur Gründung von MINGA geht von der zuständigen departamentalen Entwicklungskörperschaft CORDECRUZ (Corporación de Desarrollo del Departamento Santa Cruz) und ihrem spezifischen Entwicklungsprogramm für die Provinz Velasco PLADERVE (Plan de Desarrollo Regional de la Provincia Velasco) aus. Regionale Entwicklungskörperschaften sind in den Achtziger Jahren und zu Beginn der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Bolivien in allen Departements etabliert. Die jeweils regierende bolivianische Regierung und die EZ prägen und steuern diese corporaciones de desarrollo. Für die EZ fungieren sie als Trägerinstitutionen für die damals typischen, breit angelegten und mit umfangreichen Mittel ausgestatteten regionalen Entwicklungsprogramme. In Departament Santa Cruz ist die damalige Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) der dominierende Akteur der EZ in CORDECRUZ. Die zentrale Logik des Entwicklungsprogramms in der Chiquitania entsprach dem damaligen entwicklungspolitischen Vorstellungen der nachholenden Entwicklung und konzentrierte sich – ähnlich wie in anderen Regionen und Departements Boliviens –vor allem auf die Förderung des Anbaus und der Vermarktung von Marktfrüchten für den regionalen Markt und den Export ins benachbarte Brasilien. Dazu wurden die klassischen Mittel der „Grünen Revolution“ auf dem Weg des so genannten Technologietransfers eingeführt (vgl. DED 2004). Entwicklungsphase 1: MINGA - als Organisationskanal für Entwicklungsmaßnahmen MINGA wird 1983 als Produzentenorganisation im Rahmen des Entwicklungsprogramms PLADERVE (Plan de Desarrollo Regional de la Provincia de Velasco) der staatlichen Entwicklungskörperschaft CORDECRUZ (Corporación de Desarollo del Departamento Santa Cruz) gegründet. Die Vereinigung umfasst 33 Arbeitsgruppen. Die Arbeitsgruppen ordnen sich jeweils einer Landgemeinde zu (comunidad). Die Zahl der Mitglieder erreicht in der Gründungszeit 1100 (vgl. DED 2003a). In der ersten Phase ist MINGA vollständig in das staatliche und von der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) stark geförderte Entwicklungsprogramm PLADERVE eingebettet. Gestalt, Strategie und der gewünschte Mitgliederkreis der Organisation MINGA leiten sich vollständig aus der Planungslogik von PLADERVE ab. MINGA bildet die organisatorische und institutionelle Infrastruktur für die Maßnahmen von PLADERVE, die bis in die kleinen Landgemeinden reichen sollen. Diese Aktivitäten konzentrieren sich vor allem auf den Bereich der Landwirt-
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schaft. Die Mitglieder von MINGA sollen dazu angeregt und befähigt werden, marktgängige Güter wie Bohnen oder Kaffee anzubauen. Kaffee wird allderdings in dieser Region traditionell nicht angebaut und die agroökologischen Bedingungen sind für den Kaffeeanbau ungünstig. Zunächst orientiert sich die Produktionsstrategie in MINGA bei Kaffee wie den übrigen Anbaupflanzen an der konventionellen Landwirtschaft. Für den Kaffee orientierte sich MINGA in dieser Phase am Modell des brasilianischen Kaffeeanbaus, d.h. es werden zunächst breite Schneisen zwischen den Bäumen angelegt, die den Einsatz von Landmaschinen ermöglichen (vgl. DED 2003a und DED 2004). Die Landwirtschaftsberater von MINGA reisen nach Brasilien und tragen anschließend das technologische Spezialwissen über diese Form des Anbaus bis in die Arbeitsgruppen, auf die Ebene der Produzenten in den comunidades. Das gesamte Feld der Aktivitäten in MINGA umfasst neben der Landwirtschaft aber auch Interventionen im sozialen Bereich, z.B. Kurse zur Gesundheitserziehung, Ernährung, Frauenförderung und ähnliches. In dieser Phase verfügt MINGA über eine großzügige Ausstattung mit großen Gebäuden, technischen Anlagen und einen großen Fahrzeugpark. MINGA wird in dieser Zeit von professionell ausgebildeten bolivianischen und deutschen Entwicklungsexperten, vor allem Agronomen und Betriebswirten gesteuert. Die Mitgliederbasis ist in der kleinsten Organisationseinheit, den Arbeitsgruppen, auf Ebene der Landgemeinden zusammengefasst. Die Kommunikation zwischen der Mitgliederbasis in den comunidades und dem Vorstand und Entwicklungsexperten in der Zentrale in San Ignacio läuft zum größten Teil über gewählte Vertreter der Arbeitsgruppen. Diese Delegierten nehmen an Hauptversammlungen und besonderen Informationsveranstaltungen teil. Sie sollen die Bedürfinisse und Interessen der Mitgliederbasis vertreten und die erhaltenen Informationen an diese weitergeben. Viele Arbeitsgruppen befinden sich mehr als eine Tagesreise von der MINGA Geschäftsstelle im Ort San Ignacio entfernt. In dieser Anfangsperiode werden zum Besuch von Versammlungen und Veranstaltungen reichlich bemessene Tagegelder ausgezahlt und entstandene Reisekosten erstattet. Die Klage der EZ-Fachkräfte, dass die Anwesenheit und Teilhabe der Delegierten bei den Veranstaltungen oft unzureichend ist, da die socios die weite Reise nach San Ignacio auch für persönliche Erledigungen, Amusement und Besuche bei Verwandten nutzten, zieht sich durch deren Berichte. In der Anfangsphase sind die gewählten Vorstandsmitglieder ähnlich wie die von der GTZ bestellten Berater und einheimischen Fachkräfte täglich in den Büros der Geschäftsstelle in San Ignacio anwesend. Diese Bauernführer (dirigentes) sind nur noch selten in ihren Heimatgemeinden und Arbeitsgruppen. Durch die Auszahlung hoher Tagegelder, die einem stattlichen festen Gehalt gleichkommen, befinden sich die dirigentes aus dem Vorstand in einer sehr privilegierten Lage. In MINGA etabliert sich rasch eine klientelistische Handlungslogik. Für ihre Privilegien zeigen sich die dirigentes bei den normalen Mitgliedern dankbar indem sie auf den Hauptversammlungen für die gelieferten landwirtschaftlichen Erzeugnisse sehr hohe Aufkaufpreise festlegen
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und den persönlichen Bitten von Mitgliedern nach Krediten, Vorschüssen und ähnlichem zustimmen ohne später der Rückzahlung zu verfolgen. Das aus gewählten Mitgliedern errichtete Aufsichtsgremium erfüllt seine Kontrollfunktionen kaum. An den langfristigen, strategischen und technisch-operativen Entscheidungen ist der Vorstand eher symbolisch beteiligt. Die externen professionellen Experten von PLADERVE bzw. der GTZ übernehmen das eigentliche Management. Entwicklungsphase 2: MINGA - als soziales Unternehmen indigener Produzenten Mit der Einführung des Volksbeteiligungsgesetzes im Jahr 1993 und der damit verbundenen Auflösung der staatlichen Entwicklungskörperschaften geht für MINGA die Phase der institutionellen Abhängigkeit von PLADERVE abrupt zuende. Nach langen konfliktreichen Auseinandersetzungen um das beträchtliche Betriebsvermögen, wird MINGA 1996 zu einer formal selbst verwalteten und eigenständigen Organisation erklärt (vgl. DED 2003a): Immobilien, ein beachtlicher Fuhrpark und überdimensionierte technische Anlagen werden nun der Organisation formal übereignet. Obwohl die spätere Selbstständigkeit von MINGA bereits in den Statuten der Gründung als Ziel festgelegt worden war, trifft die plötzliche institutionelle Eigenständigkeit die Mitglieder und dirigentes von MINGA unvorbereitet. Noch heute erinnern sich ältere aktive Mitglieder an diese Zeit als einen scharfen Bruch und an das Gefühl mit dieser Aufgabe vollkommen allein gelassen worden zu sein (vgl. Interview Jorge Cespedes). Mit dem Ausstieg der GTZ schliesst MINGA ein direktes Kooperationsabkommen mit dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) ab. Bereits seit 1993 arbeiten Entwicklungshelfer des DED in MINGA. Die Entwicklung von MINGA wird nun stark durch diese Fachkräfte des DED geprägt: Sie versuchen u.a. den stetigen Verlust von Betriebsvermögen zu stoppen. Die in der Handlungspraxis üblichen großzügigen Vorschüsse und die schwache Rückzahlungsmoral haben zu großen Außenständen geführt. Der Fuhrpark ist aufgrund mangelnder Wartung und Sorgfalt beim Gebrauch in einem schlechten Zustand. Die Produktionsmengen sinken. Letzteres war sowohl den schlechteren klimatischen Bedingungen als auch der nachlassenden Produktionsbereitschaft auf Seiten der socios geschuldet, die andere Einkommensquellen als die landwirtschaftliche Produktion bevorzugen. In dieser Phase stellen Lohnarbeit und der Verkauf von lokalen Edelholzreserven attraktive Einkommensalternativen zu MINGA dar (vgl. DED 1996, 2001, 2003 und 2004). Die Beratungsarbeit der DED-Fachkräfte konzentriert sich auf die Erreichung der notwendigen betrieblichen Effizienz und Managementkapazitäten bei den Mitgliedern. Ihre Vorstellung von MINGA ist die einer wirtschaftlich und sozial selbtständigen und selbstverwalteten Bauernorganisation. Doch in den alltäglichen Handlungssituationen sehen sich die Fachkräfte des DED in dieser Zeit geradezu gezwungen, die
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Aufgaben der Geschäftsführung in MINGA vollständig zu übernehmen um den Bestand der Organisation zu gewährleisten. Die Idee der Selbstverwaltung tritt angesichts der Probleme im finanziellen und technisch-operativen Bereich in den Hintergrund. Im Jahr 1994 kann die Anzahl der Mitglieder durch eine Erweiterung des Einzugsgebietes von MINGA auf zwei neue Zonen auf über 14001 gesteigert und die Erntemenge so auf einem betriebswirtschaftlich sinnvollen Niveau gehalten werden. Dieser Zuwachs an Mitgliedern steigert die Anforderungen an das Management bzw. die Geschäftsführung noch weiter. Dabei zahlt MINGA für den qualitativ eher mäßigen Kaffee an seine Mitglieder auch weiterhin betriebswirtschaftlich überzogene und höhere Preise als andere vergleichbare Produzentenorganisationen oder Genossenschaften in anderen Regionen Boliviens (vgl. DED 2003a). Die Mitglieder müssen mit solchen Anreizen ständig zur aktiven Kooperation in MINGA gebracht werden. Im Verlauf dieser Phase werden die Statuten verändert. Die Mitglieder, die zuvor einfach als Kleinbauern (campesinos) bezeichnet wurden, werden nun als zum „indigenen Sektor“ zugehörig beschrieben (MINGA Statuten 2. Generation, Capitulo 1, Artikel 2, S. 1). Diese neue Klassifizierung der Mitglieder als Indígenas folgt dem damals aktuellen Trend der EZ, sich der schnell an öffentlicher Aufmerksamkeit gewinnenden indigenen Bewegung in Bolivien und anderen Andenländern zuzuwenden und damit ein neues Arbeits- und Geschäftsfeld zu gewinnen. Sie ist ausserdem eine Folge der gesellschaftspolitischen Umbrüche in Bolivien seit den aufsehenerregenden wochenlangen öffentlichen Demonstrationsmärschen (marchas) der bolivianischen Tieflandvölker geschuldet. Die Landbevölkerung der Provinz Velasco hat sich an diesen Märschen allerding kaum beteiligt. Die Mitglieder von MINGA stehen den Ideen und Aktivitäten der indigenen Bewegung des bolivianischen Tieflands in den Neunziger Jahren bis zur Jahrtausendwende eher distanziert gegenüber.2 In MINGA laufen weiterhin verschiedene Projekte der Frauenförderung und Bildungsmaßnahmen. Für die Organisationsmitglieder müssen diese Aktivitäten eher wie Beiwerk erscheinen. Die faktische Stellung der Frauen in der Organisationspraxis von MINGA ändert sich nicht. Trotz aller erwähnten Schwierigkeiten bietet die formal gefestigte unf unabhängige Organisation MINGA nun für bolivianische NRO wie auch für Fonds und Geberorganisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit eine „organisationale“ Infrastruktur, die den Zugang zur Landbevölkerung ermöglicht und daher gerne häufig genutzt wird. 1
Die Mitgliederzahlen als solche sind kaum aussagekräftig, da sich ein erheblicher Anteil inaktiver Mitglieder darunter befindet. Die Erweiterung auf zwei neue Zonen und der Zugewinn von ca. 300 neuen Mitgliedern beruhten hauptsächlich auf den Anstrengungen der beratenden Fachkraft des DED.
2
Eine Ausnahme bildet der Landkreis San Miguel, wo sich die Indígena-Organisation CCISM deutlich früher und aus lokaler Initiative gründet als im Rest der Provinz (Vgl. Kapitel 7.1).
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In dieser Phase wird der Kaffee als Anbaupflanze in MINGA gegenüber anderen Anbaupflanzen priorisiert. Als mehrjährige Pflanze gilt Kaffee generell als ökologisch besonders nachhaltig. Da die Preise für Kaffee sinken, soll MINGA nun auf die Produktion und Vermarktung von fair gehandeltem Biokaffee für den europäischen Markt umsteigen. Die Produktionsmengen und die Einnahmen über die Produktion sind in MINGA in dieser Phase stark schwankend. Mit Hilfe der Fachkräfte des DED werden immer wieder zusätzliche Finanzierungen für Investitionen und Bildungsmaßnahmen eingeworben, sodass der chronische Mangel an Betriebsvermögen und die rapide gesunkenen Erntemengen nicht sichtbar wird. Nach langen Auseinandersetzungen mit dem Direktorium und im durchaus ernsthaften Bemühen die Schwäche des Managements auf partizipative Art den Mitgliedern und dem Leitungsgremium verständlich zu machen 3 setzten die DED-Fachkräfte schließlich die Einrichtung eines professionellen Geschäftsführers im Angestelltenverhältnis durch (vgl. DED 2004). Entwicklungsphase 3: MINGA - als Unternehmen ökologischer Produzenten Etwa seit dem Jahr 2000 beginnt eine neue Entwicklungsphase. MINGA soll nach den Vorstellungen und Bemühungen der beratenden Fachkräfte zu einem zivilgesellschaftlichen Akteur der lokalen Wirtschaftsentwicklung werden. Gleichzeitig versuchten die Fachkräfte im produktiven Bereich die Bedeutung des Kaffeeanbaus zurückzuschrauben. Sie haben in den vergangenen Jahren erkannt, dass die Produktion von Kaffee schon aufgrund der ungünstigen agrarökologischen Verhältnisse vor Ort nicht konkurrenzfähig sein kann. Also wird eine Diversifizierung von Anbaupflanzen und vermarktbaren Produkten aus ökologisch nachhaltiger Produktion angestrebt. Für die Geberorganisationen und auch für bolivianische Institutionen wie Landkreisverwaltung und Förderfonds sollte MINGA nun von einer passiven organisatorischen Empfänger externer Ressourcen und Impulse zu einer aktiven Durchführungsorganisation und Finanznehmerin für zahlreiche Projekte im Bereich der ökologischen Landwirtschaft und nachhaltigen Nutzung von Forstressourcen werden. MINGA bietet seinen Mitgliedern jetzt in Kampagnen die Möglichkeit Neupflanzungen anzulegen. Trotz erwiesener wirtschaftlicher Nachteile, werden auch neue Kaffeepflanzungen angelegt. Zusätzlich wird mit neuen Pflanzen wie Cashew experimentiert, die Vorteile hinsichtlich der Vermarktung und Wertschöpfung auf regionalen Märkten
3
Den Fachkräften des DED ist als Personen kaum vorzuwerfen, sie seien bei wichtigen strukturellen und strategisch wichtigen Entscheidungen dirigistisch vorgegangen. In zahlreichen Gremiensitzungen, Workshops und Diskussionen in Jahresversammlungen versuchen die DED Fachkräfte, manchmal über Monate und Jahre hinweg, häufig sehr engagiert und einfühlsam ihre Vorstellungen den Mitgliedern und Vorständen nahe zu bringen.
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bieten. Der Vorstand von MINGA kann mit Hilfe der DED-Fachkräfte bei ökologisch orientierten Geberorganisationen erneut Projektmittel in erheblichem Umfang einwerben, die nach professionellen Standards von den Angestellten des technischen Beratungsdienstes von MINGA und mit Hilfe der DED-Fachkraft umgesetzt wurden. Die Organisationsstruktur erfährt unter maßgeblicher Mitarbeit der DEDFachkräfte weitere Veränderungen. Zur Jahrtausendwende wird ein Paket von vier grundlegenden strukturellen Veränderungen für MINGA geschnürt. Zum ersten soll die Organisation auf Mitgliederebene stärker dezentralisiert werden indem die Teilhaberechte der Arbeitsgruppen und Zonen in Entscheidungsprozessen gestärkt werden. Zum zweiten soll die Organisation MINGA von einem Teil der vielen Funktionsbereichen und Aufgaben entlastet werden, die ihr in den ersten zwei Phasen zugeschrieben wurden. Vor allem wird MINGA von der Aufgabe der politischen Vertretung der Mitglieder befreit, die ja inzwischen in den reformulierten Statuten als Indigene klassifiziert werden. Dies soll durch die Gründung einer eigenständigen Indígena-Organisation erfolgen. Eine DED-Fachkraft kann mit Unterstützung des Vorstandes und des Sekretärs für Landrechte von MINGA zusätzliche Finanzmittel und Unterstützung einer weiteren bolivianischen NRO mobilisieren um später tatsächlich die Gründung von zwei lokalen Organisationen, ACISIV und ACISARV (vgl. Kapitel 7.1), zur Vertretung der politischen Interessen der indigenen ländlichen Bevölkerung einzuleiten. MINGA soll sich dagegen nur noch auf seine Aufgaben als wirtschaftliches Unternehmen konzentrieren. Dieser Vorstellung zufolge sollte vor allem das dringende Thema der unklaren Landbesitzverhältnisse der comunidades und ihrer Landrechte sowie das neuerlich aufgelegte Landrechtsprojekt mittelfristig an diese Organisation übergeben werden. Zum dritten wird der technische Beratungsdienst von MINGA abgespalten. Er soll sich als eigenständiges Unternehmen, in Form einer kleinen Beratungsfirma weiter professionalisieren. Unter dem neuen Namen Sociedad Guapomó soll der Beratungsdienst MINGA auch weiterhin als Beratungsdienst zur Verfügung stehen. Doch der Ex-Beratungsdienst soll nun als Consultingfirma darüber hinaus durch eigentständige Aquise bei öffentlichen und EZGeldgebern sowie privaten Kunden (vor allem größeren Agrarbetrieben) weitere Aufträge einwerben und so gewinnträchtiger und leistungsfähiger werden. Zum vierten soll im Zuge dieser Veränderungen der Organisationsstruktur auch die Mitgliederzahl von MINGA deutlich erhöht werden um die Produktionsmengen zu steigern. Die noch einmal revidierten Statuten können erlauben, dass nun auch Produzenten aus angrenzenden Provinzen und private Landbesitzer in MINGA aufgenommen werden, auch wenn sie nicht Mitglieder einer kleinen Landgemeinde (comunidad) bzw. einer MINGA-Arbeitsgruppe sind. In der Handlungspraxis ändern die neuen formalen Festlegungen kaum etwas. Auf der dezentralen Ebene von MINGA finden auch weiterhin keine nennenswerten Aktivitäten statt (vgl. DED 2004). Die Arbeitsgruppen, die von Beginn an ein reines Konstrukt der Statuten sind, treten bestenfalls bei der Wahl von Delegierten für die
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Hauptversammlung in Erscheinung. In der alltäglichen Handlungspraxis sind die Arbeitsgruppen bedeutungslos. Die produktiionsbezogene Arbeit koordinieren die einzelnen Mitglieder auf Ebene ihrer Haushalte und ihrer persönlichen sozialen Netzwerke. Auch auf der Ebene der Zonen, die sich aus mehreren, geografisch benachbarten Arbeitsgruppen zusammensetzen und die über einen eigens gewählten Vorstand verfügen, findet Kooperation weder im operativen Bereich statt, noch finden hier explizite Aktivitäten zur Willensbildung für die Selbstverwaltung statt. Die interne Qualitäts- und Verfahrenskontrolle für die Einhaltung der Anforderungen der Zertifizierungsagenturen für Biokaffee bildet eine Ausnahme: Laut Bericht der Fachkräfte nehmen die internen Kontrolleure auf der Ebene der Zonen ihre Aufgaben war (vgl. DED 2004). Der ausgegründete Beratungsdienst Sociedad Guapomó bleibt im Wesentlichen auf die Anbindung an MINGA angewiesen. Die langfristig Angestellten und der Vorstand von Guapomó blieben eng mit dem Management und dem Vorstand von MINGA verflochten. Noch 2010 ist selbst den Vorstandsmitgliedern die Beziehung zwischen MINGA und der nun eigenständigen Beratungsgesellschaft „Guapomó“, dem ehemaligen Beratungsabteilung von MINGA, nicht klar (Interview Jorge Cespedes). Der wirtschaftliche Betrieb in MINGA ist weiterhin nicht selbsttragend. MINGA bleibt auf die zahlreichen extern finanzierte Projektaktivitäten angewiesen. Die Erntemengen beim Kaffee schwanken erheblich von Jahr zu Jahr. In den folgenden Jahren steht MINGA immer wieder am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Durch weitere Fördermaßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit und der Europäischen Union, besteht MINGA bis heute als Produzentenorganisation weiter.4
6.2 S YSTEMPERSPEKTIVE 6.2.1 Soziale Ordnung Die soziale Ordnung der Organisation MINGA zeigt, wie sinnvoll die von R. SCOTT vorgeschlagene Differenzierung in eine formale und eine faktische Ordnung ist. SCOTT unterscheidet zwischen den formalen Setzungen in Statuten und daraus abgeleiteten Regeln und Positionen und den normativen Überzeugungen der Akteure. Die faktische Ordnungsstruktur, ergibt sich aus konkreten Handlungsverläufen, in geplanten und ungeplanten Situationen der alltäglichen Handlungspraxis. In diesen Situationen können prinzipiell beide Dimensionen, formale Setzungen der Organisation wie auch die normativen Überzeugungen der Akteure relevant sein (vgl. Kapitel 2.6.1 im theoretischen Teil dieser Arbeit). In diesem Abschnitt sollen die normativen Strukturen bezüglich der sozialen Ordnung von MINGA detailliert nachgezeichnet 4
Eine aktuelle Selbstdarstellung der Organisation im Internet ist unter der URL: http://minga.coffee/index.html#mas zu finden (letzter Zugriff 09.07.2015).
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werden, da sie für die Systemkomponenten Technologie, Mitglieder und Ziele bedeutsam sind und den starken Einfluss der insitutionellen Umwelt belegen. Offizielle Normen: Statuten und Geschäftsordnungen Die verschiedenen Versionen der Statuten und Geschäftsordnungen von MINGA orientieren sich am Modell einer Produzentengenossenschaft. Die zentralen Werte werden in der Beschreibung des Hauptzwecks der Organisation mit Begriffen wie dem „Wohl aller angeschlossenen Mitglieder“, „Solidarität“ und „Selbstverwaltung“ bereits in der ersten Generation der umfangreichen Statuten und Reglements in Artikel 1 festgelegt5. Die Selbstverwaltung der Organisation MINGA unterteilt sich in drei Ebenen (Beleg: Statutenversion der Gründungszeit (S1): Absatz 3, Articulo 7; S2: Capítulo III, Art. 7; S3: Cap. III, Art.9). Die dezentrale Ebene ist die der Arbeitsgruppen denen die Mitglieder (socios) angehören. Seit der Gründung und bis vor wenigen Jahren bildete die Organisation in Arbeitsgruppen eine notwendige Voraussetzung für die individuelle Mitgliedschaft in MINGA. Eine Arbeitsgruppe ist jeweils einer kleinen Landgemeinde (comunidad) zugeordnet und muss mindestens fünf Mitglieder haben. In der faktischen sozialen Ordnung sind die Arbeitsgruppen jedoch vollkommen irrelevant. Der dezentralen Ebene folgt in MINGA die intermediäre Ebene der Zonen. Mehrere Arbeitsgruppen in geografischer Nähe können eine Zone bilden. Die Bildung von Zonen ist nicht obligatorisch. Durch Zonenbildung sollen die oft großen Distanzen zwischen den Arbeitsgruppen und zur Zentrale von MINGA durch eine mittlere Organisationsebene überbrückt werden. Sie dienen eine Zeit lang auch der Organisation der Abnahme der Ernteprodukte. Eine formal anerkannte Zone hat ein eigenes Leitungsgremium, das sich aus dem Kreis der Delegierten der zusammengeschlossenen Arbeitsgruppen zusammensetzt. Aufgrund der zu hohen Kosten wurden die festen Einrichtungen einiger Zonen wieder geschlossen. Heute sind die Zonen eine Struktur ohne relevante eigene Handlungspraxis.
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Für die Analyse der normativen Struktur wurden 4 Generationen bzw. Versionen der Statuten und Reglements (jeweils ohne Jahresangabe) ausgewertet, die als Belege als S1 und R1 (Statut und Reglement der ersten Phase, ab Gründung), S2 und R2 (Statuten und Reglement der zweiten Phase, ca. 1996) und S3 und R3 (der dritten Phase, ca. 2000) sowie S3´und R3´ (Entwurf von ca. 2003) ausgeweisen sind. Die genaue Fundstelle wird jeweils anhand des Absatzes, Artikels und Kapitels angegeben.
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Die zentrale Ebene wird heute durch Hauptversammlung, Vorstand, Rat der ExPräsidenten und Geschäftsführung gebildet. Auf dieser Ebene wird das klassische Modell der Genossenschaft kopiert. An der formalen Spitze der zentralen Selbstverwaltung (S1: Abschnitte 5 - 6; S2: Cap. V- VII; S3: Cap. V – VII) steht die Hauptversammlung der gewählten und akkreditierten Delegierten der Arbeitsgruppen als höchste Autorität, die Entscheidungen über grundsätzliche, strategische Fragen trifft und den Vorstand entlastet. Das in der ordentlichen Hauptversammlung jährlich neu gewählte Vorstandsgremium soll die Beschlüsse der Hauptversammlung umsetzen. Nur Delegierte mit mehrjähriger Mitgliedschaft, guter Reputation, Leitungserfahrungen in lokalen Ämtern der comunidad oder der Zone sollen in dieses Amt gewählt werden. Ein Kontrollgremium - in Phase 1 und 2 wird es als Aufsichtsrat bezeichnet - soll die Arbeit des Vorstandes regelmäßig in der Zeit zwischen den mindestens jährlich stattfindenden Hauptversammlungen überprüfen. In der dritten Phase wird dieses Gremium durch einen Rat der Ex-Präsidenten von MINGA ersetzt. Die Abbildung 8 zeigt die drei grundlegenden Ebenen der Selbstverwaltung (SV) von MINGA. Abbildung 8: Die drei Ebenen der Selbstverwaltung in MINGA
Quelle: eigene Darstellung
Der hier beschriebene formelle Aufbau der Selbstverwaltungsstruktur ist als normative Struktur an Werten wie Gleichheit aller Mitglieder, Kollegialität und Konsensorientierung ausgerichtet. Nur im Ausnahmefall wird abgestimmt und nach dem Willen einer Mehrheit entschieden (z.B. R1: Abschnitt VI, Art. 15; R2: Cap. V, Art. 26). Nur die dritte Generation der Reglements stellt Konsens und Mehrheitsbeschluss als gleichrangige Alternativen dar (R3: Cap. IV: Art. 15).
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Der Vorstand soll den Statuten zufolge eine vermittelnde und daher zentrale Position zwischen Hauptversammlung und den verschiedenen funktionalen Organisationseinheiten einnehmen. Er soll als ein kollegiales Gremium arbeiten (R1: Abschnitt VI, Art. 27) und wie die Hauptversammlung Konsensentscheidungen anstreben. Insgesamt prägen zwei normative Prinzipien den Aufbau und die Funktionszuschreibungen der Leitungsgremien und –positionen in der Selbstverwaltung von MINGA: das Prinzip bottom-up demokratischer Entscheidungsfindung und das Prinzip, dass Leitungspositionen von bewährten und eingesessenen Mitgliedern der comunidades eingenommen werden sollen. Die Vorstandsmitglieder haben repräsentative und operative Kompetenzen bzw. Funktionen. Die Rolle des Präsidenten ist in den ersten Versionen der Statuten mit sehr anspruchsvollen operativen Aufgaben und umfangreicher Verantwortung versehen (R1: Abschnitt VI, Art. 29). Im Verlauf der drei Phasen werden in Statuten und Reglements die operativen Kompetenzen des Präsidenten reduziert: Von der ursprünglichen Ausübung von anspruchsvollen Managementfunktionen in S1/R1 werden in S2/R2 eher Kontrollfunktionen gegenüber den technischen Organisationseinheiten und schließlich gegenüber der Geschäftsführung betont. Seit Ende der Entwicklungsphase 2 wurde in den Statuten dem zentralen Vorstand eine professionelle Geschäftsführung (gerencia) zur Seite gestellt, die im Angestelltenverhältnis mit festem Monatsgehalt für MINGA arbeitet. Ab der dritten Phase wird die Funktion der Geschäftsführung auch in den Statuten immer detaillierter aufgeführt [S3 Capítulo VII, Art 48, a) – r); S3´: Geschäftsführung nicht genannt, aber im Reglement sehr ausführlich unter: R3´ Cap. XIII, Art. 56, a) bis s)]. Die Rollen von Verstand/Präsident und Geschäftsführung werden komplementär zueinander weiter entwickelt. Funktionale (horizontale) Ordnung Ein weiteres Element der formalen normativen Sozialstruktur bilden zusätzliche funktionale Einheiten der zentralen Ebene, die im Verlauf der Entwicklungsgeschichte von MINGA neben den Leitungsorganen und dem geschäftsführenden Management für spezielle technische oder soziale Aufgaben wie Frauenförderung, Landrechte gebildet wurden. Der Beratungsdienst und andere technische Einheiten (z. B. Lagerung, Röstung, Verpackung, Laden) sind langfristige Einrichtungen in MINGA, die mit angestellten lokalen Kräften besetzt sind. Daneben gibt es weitere, zeitlich begrenzte Einrichtungen in MINGA, die als secretarias oder als comisiones gestaltet sein können. In ihnen werden in der Regel die Sekundärziele verfolgt, wie z. B. der Bereich der Frauenförderung oder der Sicherung der Landrechte. Die secretarias sind in der Regel zeitlich begrenzte Strukturen, da sie von Projektmitteln für Frauenförderung oder Landrechtssicherung abhängig sind.
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Das Foto in Abbildung 9 gibt ein typisches Bild einer Delegiertenhauptversammlung von MINGA wider. Man sieht, dass unter den Delegierten der Hauptversammlung Frauen immer noch ein kleine Minderheit sind. Die Teilhabe und Repräsentation von Frauen auf der offiziellen Bühne von MINGA haben sich trotz der Existenz von Frauenförderprogrammen, Beschlüssen zur Gleichstellung der weiblichen Mitglieder und Einrichtung eines Sekretariats in der Handlungspraxis nur mäßig verändert. Abbildung 9: Typisches Bild einer Delegiertenhauptversammlung von MINGA
Quelle: Eigenes Foto
In der täglichen Handlungspraxis der secretarias zeigt sich, dass sich in MINGA faktische Ordnungsstrukturen gebildet haben, die nicht unbedingt deckungsgleich mit den normativen Strukturen gemäß der Statutuen sind. Eine eigentlich untergeordnete Einheit wie die secretaria, kann in MINGA einflussreich und faktisch sehr eigenständig arbeiten, wenn sie mit umfangreichen Mitteln ausgestattet ist, wie dies beim Landrechtsprojekt der Fall war. Bei einer längeren Projektdauer können Leitungspositionen in secretarias die Amtszeiten von mehreren Präsidenten überdauern. Gemäß den formalen Vorgaben, werden die Präsidenten an wichtigen Entscheidungen solcher MINGA-Projekte beteiligt.
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Ein Beispiel für die Spannung zwischen normativer und faktischer Ordnungsstruktur liefert der bereits erwähnte Beratungsdienst, der in der dritten Entwicklungsphase von MINGA (vgl. Kapitel 6.1) zu einer selbstständigen Organisation in Form eines gemeinnützigen Beratungsunternehmens ausgekoppelt wird. Die Sociedad Guapomó wird 2003 gegründet. Doch auch 2005 funktioniert sie faktisch noch immer wie eine integrierte Organisationseinheit von MINGA. Ohne die überregional bekannte Organisation MINGA hätte Guapomó kaum Drittmittel bei Stiftungen oder staatlichen Förderprogrammen beantragen können. Darüber hinaus agiert das Team der Techniker von Guapomó zunehmend wie eine beratende Stabsstelle der Geschäftsführung und des Vorstandes um die abgezogene DED Fachkraft zu ersetzen. Die gegenseitige Abhängigkeit und Verschränkung der Sociedad Guapomo mit MINGA nahm handlungspraktisch aus nachvollziehbaren Gründen also eher noch zu. Die entstandene soziale Ordnung in MINGA erweist sich gegenüber Organisations- oder Statutenänderungen in ihrer Grundstruktur als stabil. Organisationsleitung zwischen offizieller Norm und lokalem Rollenideal Die Rollen der Vorstandsmitglieder werden in der Handlungspraxis von MINGA zeremonial besonders sorgfältig ausgeführt. Gremien und Leitungspositionen werden genau nach dem jeweils vorgeschriebenen Verfahren gebildet. Aber die sichtbare Ausführung von Leitungsrollen beschränkt sich oft auf die zeremonialen Handlungsaspekte in bestimmten Situationen. Zu den Anlässen für eine vorwiegend zeremoniale Rollenausübung gehören die Hauptversammlungen, offizielle Besuche von Vertretern anderer Organisationen und Einrichtungen, bei Anlässen der öffentlichen Repräsentation von MINGA und bei Vor-Ort-Besuchen auf Ebene der Arbeitsgruppen. Demgegenüber können die Inhaber von Leitungspositionen in MINGA in der täglichen Ausführung von operativen Routinen und bei betrieblich relevanten Entscheidungen ihrer formalen Rolle sehr häufig nicht gerecht werden. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen fehlte den Mitgliedern in Leitungsrollen in vielen Entscheidungssituationen das notwendig Spezialwissen in den wichtigsten Arbeitsbereichen wie Betriebsführung, landwirtschaftlichen Produktion und Vermarktung. Die Bereitschaft eigenständig zu entscheiden und zu handeln ist zudem gering. Die Statuten von MINGA sehen für die Organisationsleitung vor, dass sie die Beschlüsse der Hauptversammlung in operatives Handeln umsetzt und sich für die Einhaltung der Regeln einsetzt. Dafür müssen Leitungspersonen (Vorstand und funktionale Rollen) im Organisationsalltag auch unangenehme Entscheidungen treffen und durchsetzen können. In bestimmten Situationen müssen sie den Mitgliedern bei Regelbruch Grenzen setzen. Nach außen erfordert die Leitung einer großen Organisation wie MINGA ein selbstbewusstes Auftreten. Viele Vorstandsmitglieder von MINGA tun sich schwer damit, eine solch aktive und bisweilen auch dem Handeln
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der Mitglieder Grenzen setzende Rolle auszufüllen. Die ihnen vertraute Rolle der lokalen Autorität ist auf Konsenserzieluung und Moderation ausgerichtet und orientiert sich am Habitusideal der Bescheidenheit (vgl. Kapitel 5). Die lokalen Normen unterstreichen Werte wie soziale Nähe und Gleichrangigkeit der Mitglieder von comunidades.6 Aufgrund der mangelnden Ausübung der Kontrollfunktionen in den Leitungspositionen kommt es in MINGA wiederholt zu Missbrauch und Unterschlagung von Geldern und anderen Mitteln (vor allem Fahrzeuge). Der Regelverstoß wird so allmählich zur Regel. Die formalen Regeln für den Gebrauch von Fahrzeugen und den Umgang mit Vorschüssen haben weder für die Mitglieder, noch die Leitungspersonen und Angestellten Geltung. Niemand fühlt sich an diese Regeln gebunden, obwohl es hierzu im Laufe der Jahre immer wieder ausführliche Diskussionen mit den beratenden Fachkräften des DED gibt. Der aus der Kolonialzeit bekannte lockere Umgang mit Regeln und Normen einer Leitung (Regierung), die man prinzipiell anerkennt, deren Gesetz man zwar achtet, aber nicht beachtet, wiederholt sich hier (vgl. Kapitel 4.2.3 und 4.3.2). Auf dem Foto der Abbildung 10 ist ein typisches Bild der MINGAHauptversammlungen dargestellt. Dabei wird auf symbolische Akte und Formalia goßer Wert gelegt. Die Rechenschaftslegung erfolgt auf der Hauptversammlung von MINGA zwar getreu der Regularien; sie ist aber dennoch vor allem ein symbolischer Akt, da eine echte Kontrolle kaum stattfindet.
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Bei den Landgemeinden (comunidades) verstehen sich die Anwohner gleichzeitig auch als Mitglieder.
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Abbildung 10: MINGA-Hauptversammlung: Rechenschaftslegung getreu der Regularien mittels symbolischer Akt
Quelle: eigenes Foto
Das Comité de Control Das Aufsichtsgremium bestand aus ehrenamtlichen Positionen und nahm seine Kontrollfunktion gegenüber dem Vorstand nicht wahr. Auf Anregung der beratenden Fachkräfte wurde das comité de control (Art. 6, Absatz 30) per Änderung der Statuten abgeschafft und ein Rat der ehemaligen Präsidenten (consejo de pas presidentes) eingeführt (Art. 9, Absatz f). Auch dieses Gremium tritt zwar zeremoniell in Erscheinung, d.h. es wird auf der Hauptversammlung ordnungsgemäß gewählt. Es nimmt dann in der alltäglichen Handlungspraxis seine Kontrollaufgabe aber faktisch nicht wahr. Die Rolle externer professioneller Fachkräfte Seit der Gründung sind externe professionelle Fachkräfte von PLADERVE, GTZ und später vom DED in MINGA tätig. Ihre Positionen sind in den Statuten der Organisation nicht vorgesehen. Sie finden lediglich Erwähnung unter den Funktionen bzw. Aufgaben oder Merkmalen der Organisation. So nennt z. B. S3 in Artikel 8, Absatz 5 das „Empfangen von Beratung nationaler und internationaler, öffentlicher und privater Institutionen, die im Bereich der landwirtschaftlichen Entwicklung arbeiten“
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unter der Überschrift der Funktionen von MINGA (Übersetzung GB). In der faktischen Ordnung haben diese Berater eine einflussreiche Position, die sich vor allem durch ihr technisches Spezialwissen erklärt. Die beratenden Fachkräfte verfügten über agrarökonomisches und agronomisches Spezialwissen sowie über spezifisches Organisationswissen sowie über wichtige institutionelle Kontakte. Die einflussreiche Rolle und der hohe Status der externen Berater und Helfer haben strukturelle Ursachen und institutionalisieren sich, d.h. sie sind teilweise von den faktischen Fähigkeiten und dem Fachwissen der realen Personen unabhängig. Die Ebenen der Selbstverwaltung Die funktionale Sozialstruktur (SCOTT) in MINGA wird im Verlauf der drei Entwicklungsphasen durch die Initiative der beratenden Fachkräfte auf der formalen Ebene mehrfach verändert. Wie bereits beschrieben, werden solche Strukturreformen immer wieder in neuen Statuten festgeschrieben, schlagen sich aber in vielen Fällen in der konkreten Handlungspraxis kaum nieder. Auf der Ebene der Arbeitsgruppen (comunidad-Ebene) und der Zonen findet weder im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion, noch im Bezug auf die Selbstverwaltung und die dazu gehörenden Entscheidungsfragen eine für die Gesamtorganisation nennenswerte Kooperationspraxis statt. Die sozialstrukturelle Funktionseinheit einer „Arbeitsgruppe“ für je eine comunidad war von Beginn an für den operativen Bereich ohne Relevanz. Auch die von den externen Fachkräften in der dritten Phase angestrebte Dezentralisierung ließ sich in der Handlungspraxis und der faktischen Ordnungsstruktur nicht realisieren (vgl. DED 2004). Die Arbeitsgruppen, die laut Namensgebung und Statuten, die entscheidenden organisatorische Basiseinheit von MINGA waren, hatten in der Handlungspraxis weder für die Selbstverwaltung (Entscheidungsfindung) und Organisationsentwicklung in MINGA, noch für die operativen Prozesse (Produktion) besondere Relevanz. Ihre Funktion beschränkte sich auf die Wahl der Delegierten für die Hauptversammlung. Die Arbeitsgruppen und Zonen verfügten zwar formal über presidentes, die sich aber als Vertreter ihrer Gruppe oder Zone in MINGA in der Handlungspraxis auf eine symbolische Rolle bei den Hauptversammlungen beschränkten. Die kaum funktionierenden Arbeitsgruppen hatten für die operativen Prozesse von MINGA nur wenig Bedeutung, da diese auf die einzelnen Mitglieder ausgerichtet sind. Dies bedeutet aber auch, dass von den Arbeitsgruppen keine entscheidungsrelevanten Informationen oder Meinungen aus der Welt der comunidades an die Zentrale und den Vorstand von MINGA weitergegeben werden. In den Arbeitsgruppen der Landgemeinden entstehen keine direkten Organisationserfahrungen. Nur die gewählten Vertreter und Vorstandsmitglieder (delegados und dirigentes) machen in der Zentrale solche Erfahrenungen. Die einmal zu Zeiten des PLADERVE Programms eingeführte und praktisch ausgeübte zentralistische Ordnungsstruktur der Selbstverwaltung erwies sich in MINGA als sehr stabil.
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Die Mitglieder einer Arbeitsgruppe arbeiten weitgehend individuell. Offizielle und dokumentierte Diskussionen finden nur in den Hauptversammlungen und in Sitzungen in der Zentrale von MINGA in San Ignacio statt. Die soziale Ordnung von MINGA ist ein komplexes Gewebe aus normativen und faktischen Positionen und Regeln. Die normative Ordnung der Statuten und Geschäftsordnung ist stark durch externe Berater geprägt. In der Handlungspraxis haben die allgemein im Kontext geltenden Werte und Ideale der lokalen sozialen Ordnung für die Handelnden jedoch wesentlich mehr Geltung als die formalen Normen. Dies zeigt sich auch an der kooperativen Praxis auf der Ebene der Mitglieder, die im folgenden Abschnitt dargestellt wird. 6.2.2 Mitglieder und Beteiligte Die Mitgliedschaft in MINGA setzt die formale Zugehörigkeit zu einer Arbeitsgruppe von mindestens 5 socios in seiner (comunidad) voraus, der ein socio oder eine socia angehören muss. Eine zusätzliche Voraussetzung war anfänglich die Form der landwirtschaftlichen Arbeit in einem zusammengelegten Landstück (chaco bloque). Hinter dieser Anforderung stand die Vorstellung, dass große zusammengelegte Landstücke eine rationellere und modernisierte Form der Landbearbeitung zuließen. Der chaco bloque wird seit der zweiten Entwicklungsphase von MINGA aus ökologischen und sozialen Gründen nicht mehr aufrechterhalten. Die künstlich gebildeten Arbeitsgruppen widersprechen der Praxis der Landzuteilung und auch der gewohnten Organisation der landwirtschafltichen Arbeit in den comunidades. Die MINGAMitglieder nutzen als Mitglieder der Landgemeinden (comunidades) die Agrarflächen ihrer comunidades nach internen Regeln. Die Zuteilung der Flächen und die Bearbeitung der Böden erfolgen individuell bzw. familienbezogen. Die Flächen sind also kein Privatbesitz der Mitglieder, sondern befinden sich im kollektiven Besitz der comunidad. Das Nutzungsrecht für ein bestimmtes Landstück ist daher zeitlich begrenzt. Die Mitglieder werden in der ersten Phase als campesinos verstanden [S1: 1. Art. 1; 2. Art. 5, 1)]. Doch für die Mehrheit von ihnen stellt die kleinbäuerliche Produktion nur ein Teilbereich ihrer wirtschaftlichen Existenz und Identität dar. Temporäre Lohnarbeit, Verkauf von Edelhölzern (oft illegal) und die Jagd sind ebenfalls ökonomisch wichtige wie kulturell bedeutsame Aktivitäten. Ab der zweiten Entwicklungsphase wird in den Statuten anstatt eines individuellen Produzenten die Familie als Mitgliedseinheit genannt um der Produktionslogik in den Landgemeinden im Allgemeinen gerechter zu werden und den Frauen der Familienbetriebe einen Zugang zu den Leistungen und Leitungspositionen Organisation zu verschaffen (R2: Cap. II, Art 3). Der Hintergrund zu dieser Veränderung bildet die Beobachtung der beratenden Fachkräfte und Gutachter, dass die Frauen relativ stark an der Produktion von Kaffee beteiligt sind, und dass die Männer häufig das in
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MINGA erhaltende Einkommen für persönlichen Konsum und nicht für die Familie verwendeten. In der Vergangenheit hat es immer wieder Mitglieder in MINGA gegeben, die nur pro forma als Mitglieder in einer comunidad eingeschrieben waren. Faktisch bearbeiteten sie Land, das sich in ihrem privaten Besitz befand. Seit etwa 2002/2003 werden in MINGA nun auch offiziell selbstständige Bauern (particulares) als Mitglieder aufgenommen um die Gesamtheit der Produktionsmenge von MINGA erhöhen zu können. Damit werden die comunarios und die Lebenssituation in den comunidades zu einer Teilgruppe unter den Mitgliedern von MINGA reduziert. Die Arbeitsgruppen haben damit ihre ohnehin schwache Funktion gänzlich verloren. Die Mitglieder werden seitdem als kleine landwirtschaftliche Produzenten klassifiziert [S3: Cap. I, Art. 1, a)]. Die Zahl der Mitglieder von MINGA wird 1994 mit 1400 beziffert (vgl. DED 2003). Der kleine Teil aktiver Mitglieder in MINGA zeigte in den letzten Jahren ein großes Interesse an der Erweiterung der Rinderhaltung, da diese mit einem höheren persönlichen Status und der Erwartung größerer Gewinne verbunden wird. Mit den Zielen und Idealen einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft identifizieren sich nur wenige Mitglieder. Die Gesamtheit der Mitglieder steht also den formalen Zielen der Organisation nur mäßig interessiert gegenüber. Wie stark das Interesse am Bestand der Organisation ist, lässt sich ohne eine genaue Untersuchung dieses Aspektes kaum beurteilen. Zur Kategorie der Beteiligten im System MINGA gehören die beratenden EZFachkräfte. Sie zeichnen sich durch ihre professionelle Ausbildung und ihren Zugang zu Wissen und Informationen aus, die beide für die Erhaltung des Bestandes von MINGA entscheidend sind. Das professionelle Interesse vieler Fachkräfte liegt darin, durch ihre Beratung strukturelle bzw. institutionelle Spuren ihrer Beratung in der Organisation zu hinterlassen. Sie wollen möglichst sichtbare Beiträge zur ökonomischen oder der ökologischen Nachhaltigkeit der Organisation MINGA beitragen, die man auf ihre professionelle Arbeit und ihre Person zurückführen kann (eigene Beobachtungen). Auch die angestellten Kräfte in der Verarbeitung des Kaffees, im Ladenverkauf und im Beratungsdienst sowie in der Buchhaltung und Geschäftsführung zählen zu den Beteiligten. Sie sind mehrheitlich durch eine langjährige Betriebszugehörigkeit eng mit MINGA verbunden und sind daran interessiert, weiterhin dort beschäftigt zu werden. Diese Beteiligten sind mehr am Bestand als an der Zielerreichung der Organisation MINGA interessiert.
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6.2.3 Ziele Die formalen Organisationsziele von MINGA haben sich im Verlauf der drei Entwicklungsphasen mehrmals grundlegend verändert: In der ersten Phase der vollständigen Einbettung und Abhängigkeit von PLADERVE wurden in den ersten Statuten in Artikel 5 zehn Ziele benannt, die von der „Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern der Provinz Velasco“ (1), über die „soziale Beteiligung der Bauern in MINGA, in PLADERVE sowie im Entwicklungsrat der Provinz und anderen Institutionen“ (2), über die „Verteidigung der Interessen der Mitglieder, vor allem der Verhinderung weiterer Teilungen des Landbesitzes der comunidades“ (6) bis hin zur „Verbesserung der Gesundheit der Familien“ (7), der „Verbesserung des kulturellen Niveaus“ der Bauern (8) und zu einer „Verbesserung der natürlichen und humanen Ressourcen der Region“ (9) und zur „Stärkung der Organisation der Frau“ (10) reichte, um nur eine Auswahl zu nennen, die die Bandbreite der Ziele aufzeigt. Im Artikel 6 der Statuten werden 17 Funktionen von MINGA aufgezählt, durch die die genannten Ziele erreicht werden sollen. Die Funktionen sind beispielsweise „Kaufen, verkaufen und tauschen von Waren, Inputs, Werkzeugen, Ausstattung, Maschinen, Materialen und allgemeinen Erzeugnissen jeglicher Art.“(S1: Art. 6, Absatz 8, Übersetzung G.B.) oder die „Teilnahme in allen Institutionen der Provinz, die mit der ländlichen Entwicklung zu tun haben“ (S1: Art. 6, Absatz 15, Übersetzung G.B.). Vier Aspekte fallen an den ersten Formulierungen der Ziele und Funktionen von MINGA auf: • Es wird kaum zwischen dem spezifischen Nutzen für die Mitglieder und einem
allgemeinen Nutzen für die Bevölkerung der Provinz unterschieden. • Die Mitglieder werden in der ersten Phase als campesinos, d.h. als männliche land-
wirtschaftliche Produzenten bezeichnet. Später wird in den Statuten bezüglich der Mitglieder bzw. allgemein der Nutznießer der Leistungen von MINGA die technokratische Bezeichnung des „indigenen Sektors“ gewählt. • Zum dritten fällt die breite Auffächerung der Zielstellungen auf. Diese Ziele spiegeln die Schlagworte des jeweils aktuellen entwicklungspolitischen Diskurses wieder und bilden sich im Sprachgebrauch der damaligen GTZ- und PLADERVEExperten oder später der beratenden Fachkräften des DED ab. Mit der Sprache, den Wünschen und Vorstellungen der Mitglieder haben diese Ziele wenig gemeinsam. • Die Ziele werden nicht weiter begründet oder nach Prioritäten geordnet. Ein so breites Bündel diffuser Zielstellungen macht eine Selbstverwaltung durch die Mitglieder ziemlich schwierig. Diese allgemeinen und vielfältigen Organisationsziele machen eine nahezu unbegrenzte Bandbreite an Aktivitäten und Fördermöglichkeiten durch die EZ anschlussfähig an MINGA. Für die Mitglieder von MINGA
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sind die meisten der in den Statuten formulierten Ziele von geringer Relevanz. Eine Zielformulierung wie die der Anhebung des „kulturellen Niveaus“ der Mitglieder ist gleichermaßen unbestimmt wie latent rassistisch. 7 In den späteren Versionen der Statuten von MINGA werden die Zielstellungen numerisch im neuen Artikel 7 von zehn auf zwölf bis dreizehn erweitert. Sie sind nun inhaltlich stärker auf die Bereiche Produktion, Vermarktung, Fortbildung und politische Teilhabe in den öffentlichen Institutionen konzentriert. Die Stärkung der Teilhabe von Frauen an Entscheidungen in MINGA wird zu einem allein stehenden Ziel [S2: Cap. II, Art 7, Absatz 7)]. Dabei fällt auch auf, dass nun bereits die Zielformulierungen jetzt eher konkrete Aktivitäten beschreiben, wie z. B. „Hilfe durch Vorschüsse die der Produktion und der Ernte von Markterzeugnissen dienen“ (S2: Cap. II, Art. 7, Absatz 10) oder z. B. „Koordinierung der Genehmigung und Durchführung von produktiven Projekten mit den Indigena-Organisationen der Provinz“ [ebd. Art 7, Absatz 11)]. Das Bestreben konkrete Ziele für MINGA zu formulieren mündet in Beschreibungen einer Organisationsstrategie, ohne dass dabei für die Mitglieder greifbare Vorteile deutlicher gemacht werden, wie dies in den vorausgehenden Versionen der Statuten der Fall ist. Innerhalb der Organisationsstrategie gibt vor allem unspezifische Formulierungen, wie z.B. das aus den ersten Statuten übernommene Ziel der „Verbesserung der Lebensverhältnisse“ [ebd. Art. 7, Absatz 1)]. Die Funktionen werden in den Statuten der dritten Phase auf 19 (S3) erweitert, zum Beispiel durch den Schutz und die Verteidigung der Landrechte (in S3´ sind es sogar 20 Funktionen). Die Entwicklung der Zielformulierungen in den Statuten zeigen, wie unterschiedliche Organisationsmodelle und Entwicklungskonzepte im Lauf der Zeit die Vorstellungen der Entwicklungsexperten bestimmt haben. MINGA soll in der Gründungszeit als eine Art multifunktionale gemeinützige Basisorganisation der ländlichen Entwicklung dienen. Sie soll betriebsbezogene und allgemein soziale Leistungen erbringen, die nicht nur Mitglieder begünstigen, und darüber hinaus soll MINGA auch noch als ein politisches Vertretungsorgan die Interessen der (indigenen) Kleinbauern vertreten. Die auf MINGA projizierten Modellvorstellungen wechseln im Verlauf der Jahre. In den veränderten Statuten erscheint das Modell einer wirtschaftlichen Produzentenorganisation, die allerdings weiterhin mit anspruchsvollen Sekundärzielen wie ökologisch nachhaltiger Produktion und einer strategischen Stärkung der Position von Frauen bzw. dem empowerment von Frauen versehen wird. Die Übereinstimmung der Zielformulierungen in MINGA mit den jeweiligen entwicklungspolitischen Maximen und Moden sowie gängiger Managementmoden ist nicht zu übersehen. Die aufgestellten Ziele sind so komplex, teilweise abstrakt und diffus, dass der 7
Das „nivel cultural“ bleibt neben den Kategorien technischer Ausbildung und Erziehung auch als Zielgröße in den späteren Versionen der Statuten im neuen Artikel 7 als Zielformulierung erhalten.
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Grad ihrer Erreichung für die Mitglieder schwer einschätzbar sein dürfte. Selbst wenn die Mitglieder von MINGA ein Interesse an der Erreichung oder Annäherung an diese Ziele haben, so können sie nur schwer ermitteln, ob die Organisation diese Ziele in sinnvoller Art und Weise verfolgt. 6.2.4 Technologie Auch die Technologie und Strategie von MINGA verändern sich im Verlauf der drei Entwicklungsphasen. Zunächst stehen Technologietransfer aus den Industrieländern und technische Modernisierung der Landwirtschaft nach dem Modell der grünen Revolution im Vordergrund. Die Anwendung dieser Technologie erfordert ein hohes Maß an professionellem Expertenwissen. Die Mitglieder können somit viele operative Prozesse kaum beurteilen und können sich das notwendige technische Wissen nicht ohne weiteres aneignen. Später werden die Instrumente der ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft und der Faire Handel zu zentralen Elementen der Technologie und Strategie. Auch diese Technologien sind wissensintensiv. Für die Organisation entsteht ein großer Bedarf an interner Kontrolle, um sich an die Bedingungen und Anforderungen des Fairen Handels anpassen zu können. Um die geforderten Qualitätsstandards sichern zu können, muss die Organisation die Handlungspraxis der landwirtschaftlichen Produktion auf den Äckern der Mitglieder zugreifen und diese stärker kontrollieren. Entscheidungen in der Organisation müssen sich an immer anspruchsvollere Forderungen weit entfernter Märkte und deren Institutionen orientieren (Zertifizierungsregularien, Zollbestimmungen etc.). MINGA ist von Expertenwissen und Expertensystemen stark abhängig. Die Technologie bzw. die Strategie der Organisation MINGA steht damit in einem permanenten Widerspruch zum Anspruch eine selbstverwaltete Organisation zu sein.
6.3 I NSTITUTIONELLE U MWELTEN
VON
MINGA
Schon die Gründung von MINGA vollzieht sich in einem vergleichsweise stark institutionalisierten Rahmen, nämlich in einem staatlichen Entwicklungsprogramm mit dem Namen PLADERVE, das seinerseits von der staatlichen Entwicklungskörperschaft CORDECRUZ (Corporación de Desarollo de Santa Cruz) getragen wird. Ein wichtiger weiterer institutioneller Akteur in der Gründungsphase von MINGA ist auch die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Diese institutionellen Akteure haben Einfluss genommen auf alle für das System der Organisation MINGA relevanten Definitionen von Zielen, Mitgliedern, Sozialstruktur und Technologie. Sie bilden eine unmittelbare und die früheste institutionelle Umwelt von MINGA. Später wurden diese institutionellen Akteure von anderen ergänzt und im Fall der GTZ und des DED auch abgelöst.
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In der Gesamtschau relevanter institutioneller Umwelten lassen sich für MINGA fünf Organisationsfelder (vgl. Kapitel 2.3) ausmachen: Staatliche Institutionen (1), internationale Entwicklungszusammenarbeit (2), Zertifizierungsagenturen (3) sowie nicht-staatliche Förderinstitutionen (4) und Interessenverbände (5). Diese werden in den folgenden Abschnitten charakterisiert. 6.3.1 Organisationsfeld: Staatliche Institutionen Boliviens Wie bereits erwähnt waren PLADERVE und CORDECRUZ als staatliche und regierungsnahe Einrichtungen maßgeblich an der Entstehung von MINGA beteiligt. Es fällt deutlich auf, dass die Kategorisierung der Zielgruppe respektive der gewünschten Mitglieder für MINGA als campesinos mit den ideologischen Vorstellungen der zu diesem Zeitpunkt regierenden Partei MNR übereinstimmt. Die ursprüngliche Strategie von MINGA stützte sich auf Konzepte wie technologische Modernisierung und den Anschluss an regionale und internationale Märkte. Diese Strategie fügt sich passgenau in die damalige Regierungspolitik des MNR (Movimento Nacionalista Revolucionario) ein. Die Entwicklungsstrategie des MNR richtet sich darauf, die marginalisierten Teile der ländlichen Bevölkerung und die marginalen Regionen des Landes (mit latenten bis offenen Sezessionstendenzen) in die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes einzubinden. Diese Integrationsbemühungen vollzogen sich im Zusammenhang mit international umfangreich geförderten Großprojekten zur Besiedlung und Erschließung der tropischen Regionen und des östlichen Tieflands. Die mit diesen politisch-programmatischen Strömungen verbundenen normativen Vorstellungen von Entwicklung zu einer modernen, homogenen und vollständig integrierten Gesellschaft bilden so etwas wie einen meta-institutionellen Bezugsrahmen für die von technischen Experten gesteuerte Gründung von MINGA in der Chiquitania und haben das Selbstverständnis der Mitglieder und ihr Verhältnis zur Gesellschaft etwa ein Jahrzehnt geprägt. Nach der Auflösung von CORDECRUZ und PLADERVE wird die Einbindung von MINGA in das Organisationsfeld der staatlichen Institutionen weiter ausgebaut. 1996 beginnt mit dem Volksbeteiligungsgesetz ein umfassender Prozess der staatlichen Verwaltungsdezentralisierung und der Dezentralisierung der öffentlichen Haushalte. Die drei Landkreiskommunen der Provinz Velasco – vor allem deren Hauptort San Ignacio als Sitz der Zentrale von MINGA – werden nun zu institutionellen Umwelten von MINGA, da sie eigene Regularien haben und MINGA für sie eine potenzielle und attraktive Empfängerin von öffentlichen Entwicklungsinvestitionen darstellt. Die Kommunen müssen mit einem gesetzlich festgelegten Mindestanteil ihrer Budgets Fördermaßnahmen in der ländlichen Entwicklung durchführen. Zusätzlich dazu können die Kommunen auch Mittel aus nationalen Investitionsfonds oder von internationalen Gebern für die Regionalentwicklung kanalisieren. Für MINGA sind die Kommunen somit zu einem wichtigen institutionellen Partner geworden. Und
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umgekehrt stellt MINGA für die Kommunen eine attraktive Durchführungsorganisation dar, die den erforderlichen Zugang und gute Kontakte zur Mehrheit der comunidades hat. Die Anwesenheit der externen EZ-Fachkräfte in MINGA sichert die korrekte Rechenschaftslegung. In der Zusammenarbeit mit diesen staatlichen und staatsnahen institutionellen Akteuren muss MINGA sich an bürokratische Regeln der Kommunen halten und umfangreiche Vorgaben der nationalen Gesetze für öffentliche Ausgaben beachten (z.B. Ley de Municipalidades, Ley de Participación Popular, GB: Gesetz zur Verwaltungsdezentralisierung, Finanzverwaltungsgesetzgebung). Der Vollständigkeit halber können hier noch weitere nationale Gesetzte und Richtlinien genannt werden, die für die Praxis in MINGA ebenfalls relevant sind, wie z. B. das Steuer- und Arbeitsrecht sowie Kontrollinstitutionen wie die Contraloria General de la República (in etwa ähnlich dem Bundesrechnungshof). Ihre genauen Einflüsse auf MINGA werden hier nicht weiter untersucht. 6.3.2 Organisationsfeld: Nationale Institutionen und staatliche Entwicklungszusammenarbeit MINGA ist ein Produkt der Planungen im institutionellen Rahmen von PLADERVE. In der staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden in dieser Zeit große Programme der ländlichen Regionalentwicklung bevorzugt aufgelegt. Die genaueren Bestimmungen eines regionalen Entwicklungsprogramms wie dem in der Provinz Velasco werden von der deutschen Vorfeldorganisation GTZ per zielorientierter Projektplannung (ZOPP) als Standardplanungsverfahren in einer prozedural strengen Art und Weise von Oberzielen und Problemdefinitionen abgeleitet (vgl. BECKMANN 1997: 75-90). Im ZOPP-Verfahren werden auch die Ziele, Maßnahmen und Ergebnisse der Organisation MINGA aus einer Problemanalyse abgeleitet und detailliert geplant. Diese Vorgehensweise gilt in jener Zeit als ein logisches und objektives Verfahren, das in besonderer Weise die Beteiligung der Betroffenen vor Ort ermöglichte. Bei der Erarbeitung dieser Planung sind auch im Falle von MINGA Vertreter vieler Interessen- und Akteursgruppen zugegen8. Die Planung erfolgt an einer Wandtafel mit Visualisierungstechniken und Dokumentation von Ergebnissen. Diese Praxis wird bereits in der Gründungszeit im Alltag MINGAS etabliert. Die Arbeit mit Papierpostern, Kärtchen und Tafeln gehört zu den zeremoniellen und operativen Routinen auf Mitgliederversammlungen und in Sitzungen des Vorstandes von MINGA. Gemeinsam mit dem Vorstand und technischen Mitarbeitern erarbeiten die 8
Ein schon in der ersten Phase aktives Mitglied und Vorstand in MINGA äußerte sich im Gespräch voller Bewunderung über die überzeugende Logik des ZOPP-Verfahrens, aber auch daran wie ihm nach dem ZOPP-Workshop „ganz schwindelig war und der Kopf schmerzte“ und am Ende niemand nachvollziehen konnte, wie man eigentlich zu den Ergebnissen gekommen war (Erinnerungsprotokoll Don Mariano).
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Fachkräfte immer wieder neue Projektvorschläge, Anträge und später die entsprechenden Berichte und Rechnungslegungen. Später beginnt MINGA auch mit weiteren Regierungsorganisationen wie der spanischen AECI zusammenzuarbeiten, die sich im Organisationsfeld der europäischen EZ-Geberorganisationen stark an das Praxismodell der GTZ anlehnen. Abbildung 11 zeigt ein Beispiel des Einflusses der externen Berater der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) auf die Handlungspraxis in MINGA. In den Delegiertenversammlungen wird mit Planungstafeln gearbeitet. Diese Technik der gleichzeitigen Visualisierung soll in Planungs- und Entscheidungsprozessen Transparenz und Teilhabe für die Anwesenden sicherstellen. Der Gebrauch von diesen Tafeln ist ein operativer Standard in der Organisationspraxis von MINGA. Teilweise ist die Verwendung eher zeremoniell und symbolisch, da die abgebildete Textmenge und Schriftgröße das Mitlesen für die Anwesenden unmöglich machen. Abbildung 11: Umgang mit Planungstafeln in MINGA
Quelle: eigenes Foto
Die GTZ und das Institut für Projektplanung, als Unterauftragnehmer der GTZ, sowie ab der zweiten Phase der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) hatten als institutionelle Umwelt also erheblichen Einfluss auf die Verfahrensroutinen in der Handlungspraxis von MINGA. Darüber hinaus transportiert die Förderung der großen staatlichen Agenturen der Entwicklungszusammenarbeit aber auch immer neue Schlag-
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worte wie z.B. „productor/producto ecológico“ oder „género“ (Gender) in die Handlungspraxis, genauer gesagt in die Diskussionen in Versammlungen und Antragsformulierungen. Der Umgang mit diesen Ideen ist in MINGA pragmatisch. In diesem Zusammenhang findet in der Organisation eine zweckdienliche Aneignung des entsprechenen Vokabulars statt, das die Chancen, weitere Förderung zu bekommen, verbessert. Die Erfahreneren unter den Vorstandmitgliedern von MINGA wie auch die Angestellten des technischen Beratungsdienstes bzw. der Sociedad Guapomó wissen, wie diese Schlagworte aus der Agenda und dem jeweiligen Zeitgeist der EZOrganisationen sich für MINGA in neue Unterstützung und neue Projekte ummünzen lassen, die den Bestand der Organisation immer wieder kurz- und mittelfristig sichern. 6.3.3 Organisationsfeld: Fairer Handel und Zertifizierungsagenturen Die Umstellung der Produktion von konventionellem Kaffee auf Biokaffee für Abnehmerorganisationen des fairen Handels in Europa bedeutet für MINGA den Eintritt in ein neues Organisationsfeld. Seit Anfang der Neunziger Jahre wurde die Produktion in MINGA schrittweise auf Biokaffee umgestellt, der zu günstigeren Konditionen über den fairen Handel vermarktbar ist. Dieser Markt bietet eine Nische für die begrenzten Kapazitäten von MINGA. Angesichts der geringen Erntemengen und der nur mäßigen Qualität der Ernten von MINGA erscheint der Einstieg in den fairen Handel mit Biokaffee als Vermarktungschance auf dem von starker Konkurrenz geprägten internationalen Kaffeemarkt. Die strategische Entscheidung für den Biokaffee bedeutet die Einbindung in das Organisationsfeld des fairen Handels, mit speziellen Nachfrageorganisationen, Konkurrenten und den unerlässlichen Zertifizierungsagenturen für Biokaffee. MINGA ist durch diese Entscheidung gezwungen, die Produktion des Kaffees an die Vorgaben der Verordnung 2092/91 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anzupassen, die den ökologischen Landbau regelt.9 MINGA muss sich von nun an der Überprüfung durch Zertifizierungsagenturen unterziehen. Die Anforderungen im Organisationsfeld der Zertifizierungsagenturen werden im Verlauf der Zeit immer anspruchsvoller und die Kontrollen werden strenger. Dies gilt auch für die von MINGA beauftragten Agenturen Bioland und Bolicert. Die institutionalisierten Normen erstrecken sich auch auf das Umfeld jeder der kleinen individuellen Kaffeepflanzungen und erfordern eine genaue Dokumentation der gesamten Parzellen. Diese Anforderungen sind mit der lokalen Praxis nicht leicht zu 9
Die Verordnung 2092/91 (EWG) wurde inzwischen durch die Verordnung 834/2007 (EWG) über die ökologisch/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Lebensmitteln abgelöst, die definiert, wie Erzeugnisse und Lebensmittel hergestellt werden müssen, die als Ökoprodukte gekennzeichnet sind.
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vereinbaren. So müssen die Anbauflächen langfristig frei von Pestizideinträgen und weiträumig davon abgegrenzt sein. In den traditionellen comunidades der Chiquitania werden Landnutzungsrechte für bestimmte Flächen nur auf begrenzte Zeit an die Mitglieder der Gemeinde vergeben. In einigen comunidades kommt es zu Konflikten zwischen Mitgliedern von MINGA und Nichtmitgliedern (vgl. DED 2004). Die Zertifizierung führt zur Bildung neuer funktionaler Posten und Strukturen in MINGA: Um die Kosten für die Zertifizierung zu senken wurde ein „System der internen Kontrolle“ aufgebaut, das nun von der ehemalige Agrarberatungsabteilung und heutigen Sociedad Guapomó gesteuert wird. Dieses System arbeitet auf der Ebene der comunidades mit besonders zuverlässigen und regelmäßig fortgebildeten Mitgliedern, den inspectores comunales, die ihrerseits von insgesamt sieben zu inspectores internos ausgebildeten Agrartechnikern kontrolliert werden. Mit dem System der internen Kontrolle ist ein hoher Aufwand an Kontroll- und Dokumentationsaktivitäten verbunden. Das Beispiel der Zertifizierung zeigt, wie normative Vorgaben und Anforderungen aus dem Organisationsfeld, direkt auf den Organisationsaufbau und die Handlungspraxis von MINGA einwirken. Mit neuen Vorgaben und Anforderungen an Verfahren ergeben sich auch Verschiebungen von Macht und Einfluss in der Sozialstruktur der Organisation. In diesem Fall sind dies die neuen Rollen der inspectores comunales und internos, die sich von der Ebene der comunidad bis zur zentralen Ebene erstrecken. Der ehemalige Beratungsdienst Sociedad Guapomó mit seinen institutionellen Kontakten und dem technischen Spezialwissen gewinnt in MINGA an Bedeutung und Einfluss. Der Beratungsdienst gewinnt schließlich eine Schlüsselrolle für den Bestandserhalt der Organisation. Die Position und die Beteiligungschancen der normalen Mitglieder werden weiter geschwächt. Die Werte und Ideale, die im Organisationsfeld des fairen Biohandels vertreten werden, sind für die Mitglieder von MINGA oft nur Schlagworte, deren rhetorischer Gebrauch die Chancen auf weitere Förderung verbessert.10 In wie weit diese Schlagworte langfristig auch zur Veränderung von praxisrelevanten Haltungen und Werteinstellungen der Organisationsmitglieder beitragen, ist offen. Die Praxis in MINGA hat sich im Zeitraum der Beobachtungen zwischen 2001 und 2010 nur marginal verändert.
10 Hier soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die hier angesprochenen Ideale und Werthaltungen in den Geberorganisation der EZ nicht auch häufig auf Schlagworte reduziert werden und vorwiegend aus legitimatorischen Gründen vor deren Geldgebern eingesetzt werden. Die Frage inwiefern ideelle Werthaltungen über Organisationsfelder so verbreitet werden, dass sie zu normativen Überzeugungen der Organisationsmitglieder werden, würde eine andere methodische Vorgehensweise erfordern, als die in dieser Arbeit gewählte.
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6.3.4 Organisationsfeld: Nichtstaatliche Förderinstitutionen Neben den Organisationen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit agieren in der Provinz Velasco auch eine Reihe von internationalen NRO und Stiftungen als Geldgeber. Die Geberorganisationen IBIS Dänemark, Catholic Releaf, Fundación Amigos de la Naturaleza (FAN) und die Fundación de Conservación del Bosque Chiquitano (FCBC) gehen Kooperationsbeziehungen mit MINGA ein und beauftragen MINGA mit Projekten für bestimmte Nutznießer oder gewähren Organisationsförderung für MINGA. Fundación Amigos de la Naturaleza (FAN) und die Fundación de Conservación del Bosque Chiquitano (FCBC) verfolgen Zielsetzungen im Bereich Natur- und Ressourcenschutz. Die FCBC übernimmt die Finanzierung mehrerer agrarökologischer Projekte wie z. B. für die Anpflanzung von Schattenbäumen. Die Sociedad Guapomó hat Interesse an diesen Finanzierungen, mit deren Mitteln die Einkommen der angestellten Mitglieder gesichert und zeitweise noch weitere Techniker beschäftigt werden können. Unter den Mitgliedern profitiert von dieser Zusammenarbeit nur die Teilgruppe der Kaffeebauern, die den ökologischen Anbau konsequent umsetzt und schätzen gelernt hat. Für einen anderen Teil der Mitglieder versucht Sociedad Guapomó die beliebteren Rinderzuchtprojekte zu aquirieren. 6.3.5 Zwei Organisationsfelder der Interessenvertretung: Indigene und Kleinbauern Interessenverbände bilden Organisationsfelder und sind damit besondere institutionelle Umwelten für MINGA. MINGA ist Mitgliedsorganisation in zwei Verbänden die unterschiedlichen Organisationsfeldern zuzuordnen sind. Im Verband der Organisationen ökologischen Produzenten Boliviens, der Asociación de Organizaciones de Productores Ecológicos de Bolivia (AOPEB) gehört MINGA zu den Gründungsmitgliedern. Die Mitgliedschaft ergibt sich auch aus der Verbindung zum DED, da der Verband 1991 mit starker Unterstützung des DED gegründet und aufgebaut wurde. Die Verbindung zu AOPEB vollzieht sich vor allem über Fortbildungen und Diskussionsveranstaltungen, an denen vorwiegend directivos, zum Teil aber auch normale socios teilnehmen. Funktionsträger und ein Vorstandsmitglied von MINGA sind auch in den Gremien bzw. im Vorstand von AOPEB aktiv. Sie nehmen an den Diskussionen des Verbandes teil. Darüber hinaus macht AOPEB bei seinen Mitgliedern Öffentlichkeits- und Forbildungsarbeit zu technischen und politischen Fragen rund um den ökologischen Landbau. In dieser Arbeit werden Vorstellungen, z. B. über die Problematik gentechnisch erzeugten Saatgutes an die Verbandsmitglieder weitergegeben.
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AOPEB selbst ist Mitglied im internationalen Verband der Bewegungen für eine ökologische Landwirtschaft (IFOAM) und in verschiedenen weiteren lateinamerikanischen und globalen Verbänden und Netzwerken11. Über diese Verbände werden Ideen und Vorstellungen zur ökologischen Produktion verbreitet. MINGA hat über AOPEB Anschluss an diese Strukturen. Der Einfluss dieses Organisationfeldes auf den Organisationsalltag in MINGA beschränkt sich auf rhetorische Floskeln bzw. auf die Meinungen und Einstellungen weniger Mitglieder, die in diesen Verbänden aktiv mitarbeiten. Für die durchschnittlichen Mitglieder sind diese Themen weit entfernt von ihren alltäglichen Sorgen und Wünschen. Erfolgreiche Praxismodelle aus anderen Mitgliedsorganisationen finden in der Regel nur über den Umweg der beratenden Fachkräfte Eingang in die Praxisgestaltung in MINGA. Ein weiterer Interessenverband auf regionaler Ebene, mit dem MINGA Kontakt hat, ist die Organización Indígena Chiquitana (OICH). Die OICH verfolgt als primäres offizielles Ziel die umfassende Vertretung der Interessen des indigenen Volkes der Chiquitania. In der OICH sind lokale Vertretungsorganisationen auf Ebene der Landkreise aus der gesamten Chiquitania vereinigt. Die OICH gliedert sich ihrerseits in die Verbandsstrukturen der CPESC (Coordinadora de Pueblos Étnicos de Santa Cruz) auf regionaler Ebene ein und der CIDOB (Confederación de Pueblos Indigenas de Bolivia) auf nationaler Ebene. Diese Verbände stehen im Kontakt mit verschiedenen internationalen Verbänden indigener Völker ein, wie z.B. die Coordinadora de las Organizaciones de la Cuenca Amazonica (abgekürzt COICA). In den MINGA-Statuten der zweiten Entwicklungsphase wird unter den Organisationszielen explizit die Stärkung der Interessen des „indigenen Sektors“ genannt. Demzufolge hätte MINGA eine strategische Zusammenarbeit mit OICH anzustreben. Zeitweise gilt MINGA als eine Mitgliedsorganisation der OICH. Teilweise wird sie in offiziellen Reden der OICH dirigentes sogar mit gewissem Stolz als „technischer Arm“ (brazo técnico) der Organisation bezeichnet, da auch die größeren Verbände über eine technische Abteilung verfügen (die meistens im Zusammenhang mit den Landrechtsforderungen stehen und durch externe Fördermittel finanziert werden). Ausser sporadischen Auftritten der OICH zu offiziellen Anlässen gibt jedoch keine konkrete Kooperation zwischen beiden Organisationen. In der dritten Phase wurden in MINGA alle Ziele der Interessenvertretung, die über die wirtschaftlichen Interessen der angeschlossenen „Produzenten“ hinausgehen wieder aus den Statuten entfernt. MINGA unterstützt nun die Gründung einer Indígena-Organisation um diese Aufgaben auch faktisch abgeben zu können. Die institutionelle Beziehung zwischen MINGA und OICH wird nun noch unklarer. Der Kontakt ist offiziell freundschaftlich, bleibt aber distanziert. Die Gründe dafür liegen in Interessenkonflikten und der Konkurrenz um Fördermittel. Ein besonderer Streitfall dreht sich um die institutionelle Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen MINGA und der Stiftung FCBC, 11 Siehe http://www.spgaopeb.org/index.php?mc=5 (letzter Zugriff: 16.11.2014)
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die von der OICH boykottiert wird (Abschnitt 6.3.4). Die Mittel der FCBC sind Kompensationsleistungen für den Bau einer Gasleitung durch das Territorium der Chiquitano. Die OICH erhebt den Anspruch, die offizielle Vertretung der Chiquitano zu sein und begründet damit ihren Anspruch, die Gelder selbst verwalten zu dürfen. Die FCBC lehnt diesen Anspruch ab und gewährt der OICH nur ein Mitspracherecht, das diese wiederum ablehnt. Durch Annahme der Fördermittel der FCBC untergräbt MINGA die politische Strategie der OICH. Die Einbindung in das Organisationsfeld der Indígena-Organisationen ist also lose. Die Verbreitungseffekte gehen nicht über die kritische Rhetorik zur Gentechnik und dem Gebrauch von Schlagworten wie „Biopiraterie“ (die Vereinamung indigenen Wissens durch die Industrie, z.B. durch Patente auf Nutz- und Heilpflanzen) hinaus, die ebenfalls der Verband der ökologischen Kleinproduzenten AOPEB vertritt. Die folgende Abbildung 12 zeigt in schematischer Darstellung zusammenfassend die wichtigsten in Abschnitt 6.3 beschriebenen Bestandteile der institutionellen Umwelt von MINGA [vgl. Kapitel 2.6.1, Punkt (5)]. Die Grenzlinie des Systems der Organisation MINGA ist gestrichelt um anzudeuten, dass das System, wie im Modell von RICHARD SCOTT (vgl. Abb. 1), offen für Umwelteinflüsse ist. Die institutionelle Umwelt von MINGA ist vergleichsweise komplex. Wie schon beschrieben, hat MINGA im institutionellen Umfeld mit Partnern zu tun, die teilweise zueinander im Konflikt stehen, wie der Dachverband OICH und die Stiftung FCBC, und die widersprüchliche Ansprüche und Erwartungen an MINGA richten. Die von MINGA gewählte Strategie, mit der Stiftung FCBC zu kooperieren und sich damit gegen die OICH zu stellen, wurde von einer beratenden Fachkraft des DED stark untersützt.
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Abbildung 12: Schematische Darstellung der institutionellen Umwelt in die MINGA eingebettet ist
Quelle: eigene Darstellung: Auf die Beziehungspfeile wurden aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet
DIMAGGIO & POWELL haben drei Einflussmodalitäten für institutionelle Umwelten hervorgehoben, mit denen diese Homogenisierung von Organisationen herbei führen, die durch die Übernahme von handlungsleitenden Ideen, Vorstellungen, Standards und Strategien in Organisaitonen stattfindet. Diese drei Einflussmodalitäten sind Zwang, Normierung und Imitation. In MINGA, die als eine lokale Organisationen stark von den Zuwendungen und der Förderung durch die EZ abhängig ist und unter dem Einfluss beratender EZ-Fachkräfte steht, überwiegen die Modalitäten des Zwanges (Förderbedingungen) und des normativen Drucks (Beratung und die normativen Diskurse aus den Organisationsfeldern). Dennoch ist die normative Kraft der institutionellen Umwelt auf das Denken und die Einstellungen der Mitglieder von MINGA auch nach Jahrzehnten der Förderung relativ gering geblieben.
6.4 D IE LOKALE U MWELT
VON
MINGA
Die lokale Umwelt kann im Sinne des Systemmodells von SCOTT auch als eine besondere institutionelle Umwelt betrachtet werden, da sie spezifische lokale Gewohnheiten, Normen, Wertvorstellungen und Normalitätsannahmen ausbilden kann und das lokal verfügbare Wissen prägt, das das Handeln der Akteure in Organisation prinzipiell ebenso anleiten kann wie organisationsspezifisches Wissen. Darüber hinaus
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ist der lokale Kontext durch eine allgemeine soziale Ordnung gekennzeichnet, die Einfluss auf die Praxis lokaler Organisationen nehmen kann. 6.4.1 Lokales Wissen über formale Organisation Die Mehrheit der Mitglieder von MINGA hatte beim Eintritt in diese Organisation keine oder eher negative Erfahrungen in einer lokalen Organisation gesammelt.12 Der Organisationsgrad in lokalen Organisationen ist in der gesamten Chiquitania gering (vgl. Kapitel 4.1). Eine im katholischen Umfeld gegründete Produktionsgenossenschaft war Jahre zuvor gescheitert. Diese Erfahrung zeigt sich in der weit verbreiteten, aber diffusen Vorstellung, dass Genossenschaften keine für die Chiquitanobevölkerung geeignete Organisationform sei. „Hier funktionieren Genossenschaften eben nicht. Ich kann dir nicht sagen warum das so ist.“ (Interview Jorge Cespedez, Pdte. MINGA)
Für die Selbstorganisation der Landgemeinden bilden die historischen Missionsdörfer und ihre besondere soziale Ordnung bis heute ein Modell. Über die orale Tradition haben die reducciones bis heute deutliche Spuren im kollektiven Gedächtnis der Chiquitano-Bevölkerung hinterlassen (vgl. Kapitel 4.3). Die Organisation der Selbstverwaltung in vielen Landgemeinden der Provinz Velasco folgt nominell noch heute – zumindest nominell - dem Modell der sozialen Ordnung der Missionsdörfer (eigene Beobachtungen). Die Logik der kolonialen Gemeinderäte (cabildos) und deren Führung durch die caciques , die in erster Linie die bestehende Ordnung bewahrende Funktion hatten, hat jedoch mit den heutigen Rollenanforderungen an die Organisationsleitung in MINGA wenig gemeinsam, denn letztere müssen sich auf wechselnde Bedingungen und Ereignissen schnell einstellen und ggf. operative Entscheidungen treffen. Die in den Landgemeinden teilweise noch geltenden Rollenbeschreibungen für lokale Autoritäten bieten daher wenig Orientierungshilfe für die Leitungsrolle in einer modernen Organisation wie MINGA.
12 Der erwachsene männliche Teil der Bevölkerung kommt über den Militärdienst mit einer sehr hierarchischen und rigiden Form der Organisation in Berührung, die im Sinne Goffmans eher den Charakter einer totalen Institution hat. Die Praxiserfahrungen des Militärdienstes und die dort erfahrenen normativen Vorstellungen werden von den männlichen Mitgliedern in MINGA mit einer freiwilligen lokalen Bauernorganisation wie MINGA daher kaum in Verbindung gebracht wird.
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6.4.2 Widersprüchliche Rollenideale und soziale Entfremdung in der Leitungsposition Im Abschnitt über die soziale Ordnung (vgl. Abschnitt 6.2.1) wurden die Differenzen bereits angesprochen, die zwischen dem Rollenideal in MINGA und dem Rollenideal im lokalen Kontext der Landgemeinden bestehen. Lokale Autoritäten in den Landgemeinden haben normalerweise eine bewahrende Rolle. Ihre tradierten Aufgaben bestehen darin, konsensuierte Entscheidungen herzustellen, bei internen Konflikten zwischen Gemeindemitgliedern zu vermitteln und die Geltung der tradierten lokalen Ordnung aufrecht zu erhalten (vgl. BAUMKAMP 1996). Die Aufgaben des lokalen Gemeinderates sind vorwiegend auf den Frieden der Gemeinde und damit auf die Binnenverhältnisse gerichtet. Bei Begegnungen mit Stellvertretern der Landkreisverwaltung oder staatlicher Institutionen besteht die Rolle der lokalen Autoritäten darin, deren Nachrichten oder Weisungen an die Gemeinde weiterzugeben. Dieses allgemeine Verständnis bezieht sich auf die historische Rolle des alcalde político, der als ein von den Vertretern staatlicher Macht ausgewählter Anwohner bis vor wenigen Jahrzehnten die jeweilige Regierung in den Landgemeinden repräsentierte. Diese Rolle bzw. dies Amtsbezeichnung existiert nicht mehr. Dennoch nehmen viele ältere Bewohner der Landgemeinden auf den alcalde político Bezug, wenn es um die Beschreibung von Leitungsfunktionen geht (eigene Beobachtungen und informelle Gespräche mit Gemeindemitgliedern). Die Rolle alcalde político entstammt der obrigkeitsstaatlichen Vorstellungswelt des kolonialen und nachkolonialen Bolivien. Die aus der Zeit der Missionsdörfer stammende Position des cazique general entstammt einem anderen Modell, das eine klar begrenzte Selbstverwaltung der indigenen Untereinheiten (parcialidades) innerhalb der jesuitischen misiones zuließ und gleichzeitig die zentrale Machtstellung der leitenden Priester über Tausende von indigenen Anwohnern einer Mission ermöglichte (vgl. RIESTER 1970: 343 und FREYER 2000: 51). In der Handlungspraxis der caciques generales der heutigen Gemeinden vermischen sich die beiden unterschiedlichen Rollen und die Ausführung des Amtes variiert. Das Amtsverständnis ist stark von der Persönlichkeit des jeweiligen Amtsinhabers abhängig (eigene Beobachtungen in Landgemeinden der Provinz Velasco). Diese in den Gemeinden uneinheitliche Praxis und das Habitusideal der Bescheidenheit für die Ausübung von Autoritäts- und Führungsrollen führen dazu, dass sich die Vorstandsmitglieder von MINGA in einem permanenten Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen und Anforderungen befinden. Diese Spannung wird durch die besondere soziale Situation, insbesondere die Privilegien die mit der Rolle als Vorstandsmitglied verbunden sind, verstärkt. Die besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Vorstandsmitglieder in MINGA kollidieren mit der normativen Ordnung der comunidades, in denen die soziale Gleichheit einen hohen Wert darstellt. Die kontinuierliche Anwesenheit und Arbeit der ersten Vorsitzenden in der Zentrale von MINGA bringen eine allmähliche Anpassung von Handlungsformen an
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den alltäglichen Habitus von „Städtern“ und Professionellen mit sich. Auch über Reisen, Fortbildungen und Kommunikationsmedien (Funkradio, Telefon und später auch das Internet) findet Austausch mit Institutionen der Zentren wie Santa Cruz und La Paz sowie mit nationalen und internationalen Institutionen statt. Die langen Abwesenheitszeiten von der eigenen comunidad und ihrer Familie sowie die finanzielle Privilegierung bedeuten für die dirigentes eine Entfremdung vom Kontext ihrer Heimatgemeinden. Hinsichtlich ihrer Autoritätsrolle befinden sich die Vorstandsmitglieder in einer sehr ambivalenten und komplizierten Zwischenposition die sehr widersprüchliche Anforderungen an ihren Habitus und ihr Handeln stellt: Zum ersten nehmen sie bei Anlässen, in Versammlungen oder bei offiziellen Besuchen eine zeremoniale Führungsrolle ein, die in der Wahrnehmung der übrigen Mitglieder und comunarios eher dem hierarchischen Muster des typischen dirigentes ähnelt, wie sie auch bei den politischen Parteien oder aus der Zeit der von oben eingesetzten politischen Autoritäten (aldaldes políticos) üblich waren. Zum zweiten sollen sie im Sinne der Selbstverwaltung die Entscheidungen der Basis befördern und konsequent umsetzen und dabei den lokalen Habitus der Bescheidenheit wahren. Zum dritten sollen sie in operativen (unternehmerischen und technischen) Sachfragen relativ zügig Entscheidungen treffen und sind dabei faktisch von den professionellen Beratern und deren Wissen und Kontakten zu Geberorganisationen abhängig. Hier wiederholt und bestätigt sich für viele Vorstandsmitglieder von MINGA die Erfahrung einer generellen Unterlegenheit, die diesmal über die Vorrangigkeit des professionellen Spezialwissens und die soziale Ordnung im Organisationsfeld der Entwicklungsorganisationen begründet ist. 6.4.3 Die schwankende Attraktivität von MINGA Die systemische Betrachtung der Ziele im Bezug zum Entstehungsprozess von MINGA hat bereits gezeigt, dass die Mitglieder nur wenig Interesse an den offiziellen und sehr allgemein formulierten Zielen der Organisation haben. Später werden die Funktionen und Zielsetzungen von MINGA mehr auf den Nutzen der Mitglieder ausgerichtet. Doch die Reduzierung der Ziele auf die Produktion und Vermarktung, wie auch der Schwenk zur ökologischen Produktion, werden nur in geringem Maße von den Mitgliedern mitgetragen. Diese aktuellen Ziele werden vielmehr durch die anhaltende und unermüdliche Überzeugungsarbeit der beratenden Fachkräfte durchgesetzt. Dieser Aushandlungsprozess findet unter der Beachtung aller formalen internen demokratischen Regeln und Entscheidungsverfahren statt, doch diese formalen Verfahren führen nicht autormatisch zu neuen Überzeugungen. Wie attraktiv es für die Mitglieder ist, in MINGA zielkonform zu handeln und sich z. B. durch die Produktion von Biokaffee an der Kooperation zu beteiligen, hängt im Wesentlichen von der Attraktivität und Erreichbarkeit alternativer Einkommensmöglichkeiten ab, die sich in der Region ergeben. Viele Mitglieder vernachlässigen ihre Kaffeepflanzungen sobald
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sich kurzfristig bessere Einkommenchancen durch saisonale Arbeit auf den Haciendas oder durch den Verkauf von Holz ergeben. Das Verständnis für die langfristige Bedeutung einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft ist unter den Mitgliedern von MINGA begrenzt (vgl. DED 2004). 6.4.4 Arbeitsgruppen und Landgemeinden Das Konzept von MINGA und seinen Arbeitsgruppen steht im Widerspruch zur Wirklichkeit in den comunidades. Den Arbeitsgruppen lag eine unrealistische Vorstellung über die Interessengleichheit innerhalb der comunidades zugrunde. Faktisch waren die Arbeitsgruppen äußerst selten mit einer comunidad identisch. Die Mehrheit der comunidades zeichnet sich mit konkurrierenden Sippen oder Großfamilien durch eine fraktionierte Sozialstruktur (vgl. RIESTER 1976) aus oder ist durch Patronage und Arbeitsmigration individualisiert (eigene Beobachtung). Die Anlage der Kaffeepflanzungen und regelmäßige Landbautätigkeiten finden fast ausschließlich im Rahmen der erweiterten Familien oder freundschaftlicher Netzwerke statt (vgl. DED 2004). Erfolgreiche und funktionierende Arbeitsgruppe sind nicht selten durch eine einflussreiche Familie der comunidad beherrscht. Teilweise kommt es in großen comunidades mit konkurrierenden Verwandtschaftsgruppen zu Sabotageakten von zunächst erfolgreichen produktiven Projekten von MINGA. Dies gilt ebenso für Projekte der Landkreiskommune oder der Diözese13. 6.4.5 Die Position der Fachkräfte in der sozialen Ordnung der lokalen Umwelt Die beratenden Fachkräfte der Entwicklungszusammenarbeit genießen per se hohes Ansehen und können leicht mit Vertretern der lokalen Machtgruppen in Kontakt kommen. In San Ignacio stehen diese Fachkräfte durch ihren Lebensstandard, Wohnverhältnisse, Konsum- und sonstige Lebensgewohnheiten und kulturelle Interessen in der Regel der mestizischen oder aus Europa eingewanderten höheren Mittelschicht
13 Als Beispiel für die internen Interessenkonflikte kann die als „traditionell“ und innovationsfeindlich geltende comunidad San Javierito dienen, in der es mehrfach zu Diebstählen von Vieh, Verbrennen der Kaffeepflanzungen oder Zerstörung von Zäunen kam. In der benachbarten und als besonders innovationsfreudig und „modern“ geltenden comunidad San Juancito, die bestens an das Straßennetz angeschlossen und in 18 km Nähe von San Ignacio liegt, wurde im Jahr 2000 ein „Hexer“ in einer kollektiven Aktion von den Anwohnern verbrannt. In diese comunidad bestimmt eine in MINGA sehr aktive Familie, die bereits mehrere Präsidenten gestellt hat, immer wieder neue Projekte und zog daraus individuellen Nutzen.
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näher als den Vorstandsmitgliedern von MINGA. Auch wenn häufig sehr vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehungen zwischen den beratenden EZ-Fachkräften und den „Mingueros“ (Mitglieder, Vorstände, angestellte Techniker und Arbeiter) bestehen, haben erstere dennoch einen deutlich höheren sozialen Status. Die Fachkräfte haben allein durch ihre europäische Herkunft und ihre akademische Ausbildung einen leichten Zugang zu Vertretern der Machtgruppen. Ihr hoher sozialer Status in der lokalen Gesellschaft von San Ignacio schlägt sich auch innerhalb der Organisation MINGA in hohem Ansehen und Status nieder. Die oft engen freundschaftlichen und kollegialen Beziehungen zwischen Fachkräften und Technikern wie auch zu einigen Vorstandsmitgliedern lassen die faktische soziale Distanz in den Hintergrund treten.
6.5 I NSTITUTIONALISIERUNG
VON
V ERTRAUEN
Bei der Gründung von MINGA gingen die entwicklungspolitischen Planer von PLADERVE mit großer Selbstverständlichkeit vom Modell einer auf Solidarität und Kooperation beruhenden Organisation aus. Die reale Handlungspraxis von MINGA entspricht diesen Vorstellungen nur wenig. Wie beschrieben, gibt es um 1986 es in der lokalen Umwelt weder historisch tradierte noch nennenswerte biografisch erworbene Erfahrungen mit einer selbst verwalteten Organisation, die in ihrer Kooperation auf dem Solidarprinzip beruht. Der Name MINGA soll an die positiven Erfahrungen mit tradierten Formen der nachbarschaftlichen Kooperation anknüpfen oder apellieren. Die normative Ordnung „Asociación de Grupos Mancomunados de Trabajo“ bildet jedoch institutionell einen vollkommen anderen Rahmen als die gewohnten Formen lokaler Nachbarschaftshilfe (minga), die sich auf der Basis guter persönlicher Beziehungen und Vertrauensverhältnisse vollziehen. Die Nachbarschaftshilfe erfordert wenig langfristiges Vertrauen, auch weil die geleistete Hilfe zu einem Teil sofort durch die Versorgung mit Essen und Chicha kompensiert wird. Jeder, der sich an einer minga beteiligte, kann also bereits kurzfristig gewisse Gegenleistungen erwarten und sich auf die grundsätzliche Hilfsbereitschaft des anderen verlassen. Wo die minga noch regelmäßig praktiziert wird, ist sie eine normative und teilweise sogar kognitiv-kulturelle Institution. Aber ihre Regeln gelten in einem sehr eng begrenzten sozialen Raum, in dem sich die Beteiligten persönlich kennen. Die Bezugnahme auf die minga im Namen der neuen Produzentenorganisation muss somit wohl als ein Indiz für die zwar herausgestellen, aber letztlich doch geringen Kenntnisse gesehen werden, die die Planer und Gründer von MINGA hatten. Eine tragfähige genossenschaftsähnliche Organisation wie MINGA aufzubauen, bedeutet für die Mitglieder aus den Landgemeinden der Provinz Velasco dass sie langfristig ihre familiäre Ökonomie, ihre soziale Existenz und Identität ganz von der
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Subsistenz-Landwirtschaft mit zeitweiliger Lohnarbeit auf die Existenz eines (ökologisch zertifizierten) Kaffeeproduzenten umstellen müssen. Die dadurch zu erwartenden Vorteile sind für sie schwer einschätzbar. Denn die Bedingungen auf regionalen oder Weltmärkten können sich schnell ändern. Die angewendeten Technologien bergen Risiken. Andererseits stellt die Organisation selbst schon eine starke Veränderung dar. Die Mitglieder müssen also erst ein langfristiges Vertrauen in ihre Organisation als Institution aufbauen. Vertrauen und positive Erwartungen in die Organisation als Institution fördern die Loyalität der Mitglieder in modernen, formalen Organisationen. Das kann dazu führen, dass die Mitglieder die Organisation auch entgegen kurzfristiger Opportunitäten die Organisation nicht verlassen und weiter notwendige Beiträge in der Kooperation leisten. Die Bereitschaft Mitglied in MINGA zu werden beruht weniger auf dem Vertrauen und positiven Erwartungen an die Organisation als Institution als vielmehr auf kurzfristigen Gratifikationserwartungen an die Organisation, die wenig mit dem System aus Zielen, Technologie, sozialer Ordnung und Mitgliedern zu tun hat. Sie wird gespeist aus den immer neuen Förderleistungen aus der institutionellen Umwelt der Organisation. MINGA ist in dieser Hinsicht eine typisch „erfolgreich scheiternde“ Organisation (vgl. SEIBEL 1992) des dritten Sektors. Die Tatsache, dass es in MINGA auch heute noch Mitglieder gibt, die sich an der Arbeit wie den Diskussionsprozessen in Versammlungen beteiligen, regelmäßig Mitgliedsbeiträge zahlen und für Ämter kandidieren, beruht vor allem in ihrem Vertrauen in die Zuverlässigkeit der externen Förderinstitutionen. Denn diese haben MINGA im Verlauf von 30 Jahren beständig mit Ressourcen unterstützt und den Bestand gesichert. Systemisch gesehen gibt es in einer stark extern geförderten Organisation wie MINGA nur eine schwache Kopplung zwischen Mitgliedern und Technologie (Management).
7 Organisationen zur politischen Interessenvertretung
In diesem Kapitel werden zwei institutionell unterschiedlich verankterte Arten lokaler Organisationen vorgestellt, die im Untersuchungszeitraum in unterschiedlicher Weise Aufgaben der politischen Repräsentation und Partizipation in Velasco ausgeübt haben. Als Fallbeispiele dienen insgesamt sieben Einzelorganisationen: vier zur indigenen Bewegung zählende Indígena-Organisationen (organizaciones indígenas) und drei Bürgeraufsichtskomittees (comités de vigilancia), die bis 2013 für jede Landkreis-Kommune gesetzlich vorgeschrieben waren1. In diesem Kapitel werden die Einzelorganisationen, ihre Entwicklung und Praxis vergleichsweise grob skizziert. Die Betrachtungen aus der Systemperspektive und die Darstellung der institutionellen Umwelt erfolgen nicht einzeln für jede Organisation, sondern in gesammelter Form. Davon abweichend wird auf die Beschreibung charakteristischer Merkmale und einzelne Episoden der Praxis einzelner Organisationen dann nicht verzichtet, wenn sie für die vergleichenden Untersuchung aller Organisationsbeispiele in Kapitel 8 hilfreich sind und dort ermöglicht, interessante Zusammenhänge, Kontraste oder Ähnlichkeiten der Organisationen aufzuzeigen.
7.1 I NDÍGENA -O RGANISATIONEN In der Provinz Velasco gibt es in den drei Landkreiskommunen vier Organizaciones Indígenas, die den Anspruch haben, die Interessen der indigenen Bevölkerung zu vertreten. Alle vier Organisationen sind offizielle Mitglieder der Dachorganisationen der indigenen Bewegung der Tieflandvölker Boliviens und Südamerikas. Die Entstehung des gesamten Gefüges von Organizaciones Indígenas im bolivianischen Tiefland ist mit der Entwicklung der sozialen Bewegung der Tieflandvölker Boliviens verbunden, die in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann
1
Die gesetzlichen Bestimmungen und weitere Angaben zum neuen Gesetz, das die Comités de Vigilancia ausser Kraft gesetzt hat, finden sich im Kapitel 7.2.
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(BAUMKAMP 1996: 29). Während sich die sozialen Bewegungen der Indigenen im Hochland sowohl auf historisch gewachsene, als auch moderne gewerkschaftliche Formen der politischen Organisation und Selbstverwaltung stützen konnte und in einem Prozesse der Aneignung moderne mit lokale etablierten insitutionellen Strukturen und kulturellen Elemente verflechten konnte (vgl. STRÖBELE GREGOR 1994), war die Ausgangslage im Tiefland eine vollkommen andere: Bis zur Gründung der ersten organizaciónes intercomunales2 in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der Chiquitania, wie allgemein im Tiefland, keine historisch-praktische Erfahrung mit eigenständigen übergeordneten Formen der politische Selbstorganisation und Interessenvertretung (vgl. Kapitel 4.3).3 Im Vergleich zu den übrigenen Regionen des bolivianischen Tieflands eintstanden drei der vier Organisationen in der Provinz Velasco relativ spät. Die bereits in den späten 1980er Jahren gegründet Central de Comunidades Iindígenas de San Miguel (CCISM) stellt eine Ausnahme dar. Zwei der vier Organisationen – die Asociación de Cabildos Indígenas de San Ignacio und die Asociación de Cabildos Indígenas de San Rafael4 (ACISARV) – wurden hingegen erst 2001 gegründet. Noch im Jahr 2000 stand die Bevölkerung der meisten kleinen Landgemeinden (comunidades) der Idee von unabhängigen und explizit auf die Gewinnung von politischer Macht ausgerichteten Indígena-Organisationen skeptisch oder ratlos gegenüber (eigene Beoachtungen). 7.1.1 Der Entstehungskontext lokaler Indígena-Organisationen in der Chiquitania Die zentralen Forderungen der indigenen Bewegung des bolivianischen Tieflandes richteten sich im Untersuchungszeitraum etwa von 2001 bis 2010 vor allem auf den Prozess der Flurbereinigung im Rahmen der Agrarreform und die Übereignung als indigener Territorien beanspruchter Gebiete.5 Zum anderen stellten Indigene aber
2
Mit organizaciones intercomunales sind in der Chiquitania nicht Kommunen übergrei-
3
Eine herausragende Ausnahme bildet z.B. das Volk der Guaraniés im Chaco, im Süden
fende, sondern comunidades übergreifende Organisationen gemeint (vgl. BAUKAMP 1996). Boliviens und nach Paraguay und Argentinien hineinreichend. Die Guaraniés verfügen über komplexe ortsübergreifende Organisationsstrukturen (vgl. BAUMKAMP 1996). 4
Der Landkreis und Hauptort San Rafael ist nicht zu verwechseln mit der kleinen Gemeinde
5
Im Tiefland Boliviens läuft diese Auseinandersetzung unter dem Schlagwort „territorio“
San Rafaelito (Ort der Ceramistas), die zum Landkreis San Ignacio gehört. (vgl. SCHWARZ 1994 und ÁLVAREZ 2003).
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auch Forderungen im Hinblick auf ihre Rechte als Staatsbürger und die gesellschaftliche Anerkennung ihrer kulturellen Formen und Lebensweisen6. Die indigene Bewegung des bolivianischen Tieflands wächst und entwickelt sich im Zusammenspiel mit der Entwicklung von nationalen und globalen politischen Institutionen zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt. Die Rechtsethnologin Almut SCHILLING-VACAFLOR nennt drei große Veränderungsprozesse politischer Institutionen, die sich seit Beginn der neunziger Jahre verstärkend und „bestärkend“ auf die Rechtsansprüche der indigenen Völker auswirkten: (1) Die zunehmende Anerkennung von indigenen Rechten im internationalen Recht (z. B. die Konvention 169 der ILO zur Bestätigung der Souveränität der indigenen Völker und die UN-Deklaration über Rechte indigener Völker), (2) die Gründungswelle von indigenen Organisationen und neuen Parteien, die eine spezifisch für Indigene zugeschnitten Programmatik haben sowie (3) die offizielle Anerkennung des multikulturellen und pluriethnischen Charakters der bolivianischen Gesellschaft und der Rechte indigener Völker in den neuen Verfassungen lateinamerikanischer Staaten (SCHILLING-VACAFLOR 2010: 2729, vgl. dazu auch BARIÉ 2003 und MARNISSEN 1989). 1993 proklamierte die UNO schließlich die „Internationale Dekade der indigenen Völker“. Der von JOHN MEYER beschriebene Prozess der Globalisierung bestimmter Wertvorstellungen zu einer homogenen institutionellen world polity, insbesondere was die (homogenen) Vorstellungen über den Staat betrifft, vollzieht sich bei den Organisationen der indigenen Bewegung und den von ihr vertretenen Inhalten in besonders anschaulicher Weise (vgl. MEYER 2005). Die ersten Indígena-Organisationen der Chiquitania entstanden nicht in Velasco (vgl. Tabelle 3), sondern bereits 1983 in der geographisch randständigen Region Lomerío, sowie im Hauptort des Landkreises Concepción. Beide Gebiete zeichnen sich durch scharfe soziale Konflikte zwischen Grundbesitzern und indigenen Gemeinden aus. 7 Die NRO APCOB (Apoyo para el Campesino-Indígena del Oriente Boliviano,
6
Vgl. die politischen Forderungen der CIDOB wie aufgeführt in WEBER 1994 und MARNISSEN 1989.
7
Im Lomerío drehten sich die Konflikte ganz spezifisch um das Thema des zunehmenden illegalen Holzeinschlags innerhalb der Grenzen der indigen geprägten Landgemeinden, während in Concepción ein über Generationen tradiertes Unterordnungsverhältnis zwischen Chiquitano und einer gewaltbereiten mestizischen Machtgruppe von Großgrundbesitzerfamilien herrscht. Im Zuge der aufkommenden indigenen Bewegung im Tiefland finden sich auch lokale indigene Aktivisten, die diese sozialen Verhältnisse nicht mehr hinnehmen wollen und sich an der Gründung einer Organisation beteiligen, die sowohl wirtschaftliche Projekte als auch politische Ziele und Aktivitäten verfolgt. Die im abgelegenen Lomerío lebenden Chiquitano sind Nachkommen von Familien, die aus der Gegend von Concepción vor Generationen geflohen waren, um sich von der oft brutalen Behandlung
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dt.: Hilfe für indigene Bauern Ostboliviens) arbeitet zu dieser Zeit intensiv in Concepción und Lomerío mit Landgemeinden und Angehörigen der Chiquitanobevölkerung zusammen. Die dort tätigen Mitarbeiter von APCOB und ihr Direktor, der aus Deutschland stammende Ethnologe Jürgen Riester, regten die Gründung von Indígena-Organisationen auf lokaler Ebene an und begleiteten diesen Prozess intensiv. 1988/89 wird in der Provinz Velasco, im Landkreis San Miguel die erste IndígenaOrganisation von wenigen lokalen indigenen Aktivisten mit nur minimaler institutioneller und finanzieller Unterstützung gegründet. Im nächsten Unterkapitel werde die vier Indígena-Organisationen der Provinz Velasco nun in der Reihenfolge ihrer Entstehung kurz vorgestellt. 7.1.2 Entwicklungsprozesse und Handlungspraxis der vier Indígena Organisationen der Provinz Velasco Die vier Indígena-Organisationen weisen deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Entstehungskontexte, der externen Unterstützung, die sie bekamen und der Einrichtung einer regelmäßigen Handlungspraxis auf. Daher lohnt sich ein kurzer Blick auf ihre Geschichte. Central de Comunidades Indígenas de San Miguel (CCISM) Lokale Aktivisten aus San Miguel gründeten 1988/89 die Central de Comunidades Indígenas de San Miguel (CCISM). Bei der Gründung waren 16 Landgemeinen (comunidades) in der CCISM vertreten und wurden zu Mitgliedern der Organisation. Im zweiten Jahr erweiterte sich die Zahl der Mitglieds-comunidades auf 22. Im Jahr 2010 waren alle 36 comunidades des Landkreises Mitglieder der CCISM. Die Gründung von CCISM erfolgte ohne Begleitung externer Berater aus NRO oder der EZ und ohne eine nennenswerte externe Finanzierung8. Die Gründung der CCISM beruhte weitestgehend auf der Initiative von Bewohnern der Landgemeinden San Miguels. Die Protagonisten der Gründung sind zumeist Mitglieder der Produzentenorganisation MINGA (vgl. Kapitel 6). In Fortbildungskursen der Kirche und über MINGA hatten sie von den Indígena-Organisationen in der Chiquitania erfahren. Die Gründer verfügten zwar über Organisationserfahrungen, aber nicht über politische Erfahrung. In der alltäglichen Organisationsarbeit
durch die patrones und den schwierigen Lebensverhältnissen zu befreien (vgl. BAUMKAMP 1996). 8
Es ist nicht ganz auszuschließen, dass Ramón Paz Montero Finanzmittel in sehr bescheidenem Umfang nutzen konnte, die er persönlich akquirieren konnte (s. Organisationspraxis).
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wussten sie vorhandene Ressourcen und ihre sozialen Kontakte zu nutzten, wie zum Beispiel die Räume einer ehemaligen Zweigstelle von MINGA in San Miguel. In den ersten Jahren nach der Gründung entwickelten sich im Rahmen der CCISM nur wenige Aktivitäten. Erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes der Participación Popular etwa 1993/94 entfalteten sich in CCSIM systematisch geplante Aktivitäten. Es ging zu diesem Zeitpunkt darum, den comunidades eine Rechtspersönlichkeit zu verschaffen, damit sie an den Möglichkeiten die das Volksbeteiligungsgesetz bietet, teilhaben konnten (PAZ MONTERO: 42). Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld bestand in der Legalisierung kollektiver Landtitel für die comunidades. Dieses Projekt begann – eher zufällig – nahezu zeitgleich mit einem anderen, größeren Landrechtsprojekt, das die Zentrale von MINGA erfolgreich eingeworben hatte9 und das San Miguel mit eingeschlossen hätte. Der Präsident und Mitgründer, Don Ramon Paz Montero setzte sich dafür ein, das Landrechtsprojekt der CCISM für San Miguel unabhängig von MINGA durchzuführen und von einem anderen Geber als im Falle MINGAS, von der Stiftung FCBC (Funcación Para La Conservación Del Bosque Chiquitano) finanzieren zu lassen. Die CCISM (und nicht MINGA) war damit für die Mitgliederbasis ein sichtbar agierender Akteur in der Landrechtsfrage. Don Ramon Paz war als erster Vorsitzender (presidente) der CCISM der wichtigste Aktivist in der Phase des Organisationsaufbaus10. Er hat zuvor bereits im Rahmen seiner Mitgliedschaft in MINGA immer wieder funktionale Rollen oder Leitungsrollen übernommen. Don Ramon Paz stammt aus einer kleinen Chiquitano-Gemeinde (comunidad) im Landkreis San Miguel. Zwischen 1988 und 2010 war er mit kurzen Unterbrechungen Mitglied des Vorstandes, meistens als erster Vorsitzender. Nach mehr als 25 Jahren als dirigente (Leitungsfunktion) in verschiedenen lokalen Organisationen von San Miguel genoss der selbstbewusste und durchsetzungsfähige Ramon Paz so großes Vertrauen und Ansehen, dass auch seine oft eigenwilligen Entscheidungen von den Mitgliedern mitgetragen wurden. So stand zum Beispiel die bereits erwähnte Annahme von Fördermitteln der Stiftung FCBC der politischen Strategie des regionalen Dachverbandes Indígena-Organisationen OICH entgegen, die die Stiftung FCBC aus Protest boykottierte. Später folgte auch MINGA dem Beispiel von CCISM und Don Ramon (vgl. Kapitel 6.3.4). Man kann Don Ramon als einen charismatischen Führer beschreiben; dennoch wahrt er im Auftreten immer den Habitus der Bescheidenheit, der schon in den Fallbeispielen der Selbsthilfeorganisationen erläutert wurde (vgl. Kapitel 5.1.3).
9
Dieser Erfolg verdankt sich unter anderem der intensiven Arbeit einer langjährigen Fachkraft des DED in MINGA.
10 Die persönliche Lebensgeschichte von Don Ramon ist eng verknüpft mit der Geschichte der Entstehung der Indigena-Organisationen der Chiquitano. Sie wurde mit Hilfe der Fundación TIERRA aufgeschrieben und veröffentlicht (vgl. PAZ MONTERO 2011).
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Die Organisationspraxis von CCISM zeichnet sich bei Gestaltung von offiziellen Sitzungen und Vollversammlungen, in denen Delegierte aus den 36 comunidades zusammenkommen, durch eine genaue Einhaltung formaler Regeln und Routinen aus. Die Kommunikation mit der Mitgliederbasis ist einfach, da die meisten der Mitgliedsgemeinden gut erreichbar sind. Nachrichten und Einladungen zu Versammlungen werden über das Radio oder per Funkverbindung an die comunidades geschickt. Bei den von mir teilnehmend beobachteten11 Vollversammlungen der CCISM sind fast alle comunidades durch Delegierte vertreten. Die Vorstandsmitglieder, vor allem der Präsident, präsentierten in der Regel konkrete Vorschläge und konnten die Delegierten in der Regel nach einer kurzen Aussprachezeit meisten schnell überzeugen. Gab es keine Fragen, dann fordert der Präsident die Delegierten zu Fragen auf. Fragen gehören seiner Ansicht nach zu einer demokratischen Organisation.12 Die Delegierten aus den Landgemeinden wirkten teilweise unsicher. Über Anwesenheit und Beschlüsse wird bei allen Versammlungen ein formales Protokoll geführt. Bei Wahlen und andere formale Vorgängen wurde auf die genaue Einhaltung der Regeln geachtet. Aktivitäten der Praxis von CCISM ergaben sich zu einem guten Teil aus aktuellen Gelegenheiten. Die Verfahrensweisen in der Organisation waren dem Alltag der Menschen angepasst und pragmatisch. Ein Beispiel für diese Handlungslogik ist der Umgang mit Finanzmitteln. Die CCISM verwaltete ein sehr kleines regelmäßiges Budget. Die Beiträgssätze für die Mitglieder (comunidades) waren niedrig, wurden aber regelmäßig gezahlt. Wenn sich abzeichnete, dass man Geld für Aktivitäten brauchte, dann reiste der Präsident nach San Ignacio, Santa Cruz oder sogar bis in die Hauptstadt La Paz (eine mehrtägige Busreise), um für ein Vorhaben Fördermittel zu finden. Meistens war er damit erfolgreich. Was die extern eingeworbenen Mittel betrifft, so war hier die interne Kontrolle durch die Mitglieder gering. Das grundsätzliche Vertrauen der Mitglieder in die Person Ramons und den restlichen Vorstand war hoch. Neben dem ersten Präsidenten Ramon Paz, der stets eine hervorgehobene Rolle einnahm, sind auch die übrigen Mitglieder des Vorstandes in ihrer jeweiligen Verantwortung und ihren Aufgaben für die Delegierten sichtbar. Der Vorstand tritt auf
11 Insgesamt waren die Beobachtungsgelegenheiten der Organisationspraxis der CCISM unregelmäßig und auf die Jahre 2001-2003 konzentriert. Dennoch ergibt sich aus ihnen ein relativ kohärentes Bild. In den darauf folgenden Jahren kann es von mir nicht beobachtete Veränderungen gegeben haben. 12 Bei einer Vollversammlung, an der ich als Beraterin teilnahm, argumentierte Ramon Paz in dieser Form. Prinzipiell ist vorstellbar, dass meine Anwesenheit den Erwartungsdruck für eine demokratische Vorgehensweise verstärkte. Generell scheint mir diese Haltung bei Ramon Paz aber mit seiner ungewöhnlichen Diskussionsfreude und gesamten Persönlichkeit kohärent.
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Versammlungen einig auf. Das ursprüngliche Vertrauen in die Person des Vorsitzenden wandelte sich besonders durch das langfristig angelegte Landrechtprojekt allmählich zu einem Vertrauen in die Institution der Organisation CCISM. Central Indígena del Bajo Paraguá (CIBAPA) Die Organización Indígena del Bajo Paraguá CIBAPA wurde 1997/98 im Rahmen eines großen Naturschutzprojektes gegründet, das von der bolivianischen NRO FAN (Fundación Amigos de la Naturaleza) im angrenzenden Nationalpark „Noel Kempff Mercado“ durchgeführt wurde. Das „Noel Kempff Mercado Climate Action Project“ (NK-CAP, 1996) ist eines der ersten groß angelegten Vorhaben zum Klimaschutz durch Kompensationszahlungen von CO²-Emittenten13, das 2005 als Maßnahme im Rahmen der Clean Development Mechanism als REDD Projekt (Reducing Emissions of Deforestation and Degradation) anerkannt wird. Das Projektziel besteht in der Vermindernung der Waldvernichtung durch kommerziellen Holzeinschlag und der Bekämpfung der ökologischen Degradation durch Rodungsfeldbau, der von der an der Grenze des Nationalparks lebenden Bevölkerung betrieben wird.14 Der Nationalpark Noel Kempff Mercado liegt im Norden des Landkreises San Ignacio und umfasst 832.000 ha sehr artenreichen Tropenwaldes, der zunehmend durch den Handel mit Holz bedroht ist. Die Komponente APOCOM15 (Apoyo Comunitario, dt. Gemeindehilfe) des größer angelegten Projektes soll die drei Landgemeinden an der Grenze zum Nationalpark fördern. Die Gründung der Organización Indígena im Jahr 1997/8 beruht nicht auf lokaler Initiative, sondern geschieht im Rahmen eines Waldschutzprojektes. Die lokale Naturschutzstiftung FAN (Fundación Amigos de la Naturaleza) wird mit der Durchführung beauftragt. Diese Organisation hatte zuvor ausschließlich im Bereich Naturschutz und Tourismus gearbeitet. Sie hat keine ideologische oder institutionelle Nähe zur indigenen Bewegung. Im Rahmen der Komponente APOCOM war geplant,
13 In diesem Fall handelt es sich bei den zahlenden Großemittenten um drei USamerikanische Stromkonzerne (American Electric Power, BP-Amoco und Pacificorp). 14 Vgl. GREENPEACE Bericht 2009 15 APOCOM (die Abkürzung steht für Apoyo Comunitario und bedeutet soviel wie „Gemeindehilfe“) wurde später in PRODECOM umbenannt. APOCOM hatte für die ersten 5 Jahre für die 3 kleinen Gemeinden Florida, Porvenir und Piso Firme, mit insgesamt etwa 2000 Einwohnern, bis 2002 ein stattliches Finanzvolumen von 850.000 $US zur Verfügung, das 2001 noch einmal um 500.000 $US erhöht wurde und um weitere 5 Jahre verlängert wurde (vgl. ASQUITH, VARGAS RÍOS & SMITH 2002).
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für die drei Chiquitano-Gemeinden einen großflächigen territorialen Landtitel zu erreichen, der damals ausschließlich indigenen Völkern vorbehalten war16. Darüber hinaus wird die Infrastruktur der Wege und der Schulgebäude im Rahmen von APOCOM ausgebaut und verschiedene land- und viehwirtschaftliche Projekte durchgeführt, wie z.B. eine Fabrik für die Herstellung von Konserven aus Palmherzen und für Rinderzucht. In einem Bericht über das Projekt MK-CAP von Greenpeace wird ein Fortschritt hinsichtlich des Organisationsgrades der Landgemeinden an der Grenze zum Nationalpark festgestellt: „Communities were not well organized at the start of the Noel Kempff project; but became increasingly organized as the project proceeded (with support from the project developers)…“ (vgl. GREENPEACE 2009a)
Der formale Organisationsprozess findet folgendermaßen statt: Die Mitarbeiter der Projektkomponente APOCOM unterstützten die notwendigen legalen Schritte zur Gründung von CIBAPA, also der Indigena-Organisation des Bajo Paraguá. Gleichzeitig wird CIBAPA ein Mitglied im Gefüge der gebietsübreifend tätigen politischen Organizaciones Indígenas OICH. Das Ziel des REDD-Teilprojektes APOCOM ist die Legalisierung eines ethnisch begründeten, kollektiven Territoriums für die Chiquitano des Bajo Paraguá (Tierra Comunitaria de Orígen oder TCO). Mit der Erklärung zu einem indigenen Territorium (TCO) sollten – der Projektidee zufolge – bessere Voraussetzungen für eine nachhaltige Nutzung der Naturressourcen im Grenzgebiet zum Nationalpark geschaffen werden. Die Gründung einer lokalen Indígena-Organisation CIBAPA, deren Hauptziel die Erreichung einer TCO für die Chiquitano ist, deckte sich mit der politischen Strategie des Dachverbandes der Chiquitano Organisationen OICH. Doch die formale Organisation CIBAPA erbringt kaum erkennbare Leistungen. Einer externen Studie über die Wirkungen des REDD-Projektes im Nationalpark Noel Kempff sind vorwiegend kritische Aussagen über das Wirken der Organisation CIBAPA zu entnehmen, die dem positiven Bild des Greenpeace Dokumentes widersprechen (vgl. ASQUITH, VARGAS RÍOS & SMITH 2002). Befragungen der comunidadBevölkerung im Einzugsgebiet von CIBAPA zeigen, dass nur wenige Menschen etwas über die Leistungen und Aktivitäten des Projektes APOCOM und die Organisation CIBAPA wissen. Die geplante Wege-Infrastruktur ist nicht oder nur zu einem sehr kleinen Teil gebaut worden. Die produktiven Anlagen wurden nur von wenigen Personen genutzt. Für die befragten comunarios hatte CIBAPA keine Bedeutung.
16 Die Tierra Comunitario de Orígen (TCO) ist eine Form des kollektiven, ethnisch definierten Landbesitzes, der in der bolivianischen Agrargesetzgebung vorgesehen ist.
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Die Vorstandsmitglieder der CIBAPA erfüllen ihre formalen Rollen perfekt. Sie erscheinen bei Versammlungen des Dachverbandes OICH und bei wichtigen Versammlungen in San Ignacio zum Thema der Landrechte. Ihre Redebeiträge beschränkten sich aber auf Begrüßungsformeln und Solidaritätsadressen. Die Führer der CIBAPA halten sich streng an die von der OICH vorgegebene politische Linie. Die Asociaciones de Cabildos Indígenas (ACISIV und ACISARV) Die Gründung der zwei jüngsten Indígena-Organisationen von Velasco vollzog sich 2000/2001 im Rahmen eines Projektes der Produzentenorganisation MINGA (vgl. Kapitel 6.1). Das Gründungsprojekt ging auf die Veränderungen der Strategie und der Statuen von MINGA zurück. MINGA sollte von nun an keine Interessenvertretung der Indigenen mehr sein, sondern eine rein wirtschaftlich agierende Produzentenorganisation (vgl. Kapitel 6). Dennoch hatte sich MINGA seit langem eines politischen Themas angenommen: der rechtlichen Sicherung der Landbesitzverhältnisse in den Landgemeinden. Dieses Problem wurde zum Zeitpunkt der Gründung durch ein Projekt bearbeitet, in dem MINGA als Trägerorganisation fungierte. Da San Rafael keine Indígena-Organisation besaß und die CIBAPA nur drei der 116 Landgemeinden von San Ignacio repräsentierte und im Rahmen des Waldschutzprojektes eine eigene Landrechtstrategie verfolgte, sollten nun für San Ignacio und San Rafael Indígena-Organisationen gegründet werden. Im Landrechtsprojekt von MINGA sollten sie an einem Steuerungsgremium beteiligt werden. In San Miguel existierte – wie bereits erwähnt – ein gesondertes Landrechtsprojekt, das die Indígena-Organisation CCISM in Eigenregie durchführte. Zur Unterstützung des Gründungsprozesses der beiden Organisaciones Indígenas wurde die bolivianische NRO CEPAD (Centro para la Participación y el Desarollo Humano Sostenible) aus der Stadt Santa Cruz für bestimmte Dienstleistungen im Rahmen eines kleinen Projektes eingesetzt. CEPAD hatte zuvor nicht mit Organisationen der indigenen Bewegung gearbeitet und auch keine ideologische Nähe zu ihnen.17. Die regionale Dachorganisation der Chiquitano, die OICH, steht dem Prozess eher indifferent gegenüber und beteiligte sich wenig an Informationsveranstaltungen in den comunidades. Bei der offiziellen Gründungsveranstaltung von ACICIV (für San Ignacio) und ACISARV (für San Rafael), die am 8. März 2001 in
17 Die Protagonisten von CEPAD gehören zu den Verfechtern einer starken Kommunalentwicklung in Bolivien, die in Bolivien als municipalistas bezeichnet werden. Der Gründer und Leiter von CEPAD ist Carlos Hugo Molina. Molina ist Mitglied der damaligen MNR und war ein enger Berater des ehemaligen Präsidenten Sanchez de Lozada im Bereich der Ausgestaltung der Participación Popular. Die technokratisch anmutende, bürgerliche Volksbeteiligung und Dezentralisierung wird in der Indígena Bewegung lange Zeit eher kritisch als „neoliberales Projekt“ gesehen.
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der Geschäftsstelle von MINGA stattfand, waren neben Vertretern aus mehr als 30 comunidades auch hochrangige Stellvertreter des regionalen Dachverbandes Organización Indígena Chiquitana (OICH) und der nächst höheren Dachorganisation Coordinadora de los Pueblos Étnicos de Santa Cruz (CEPSC) anwesend und begrüßten die neuen Mitgliedsorganisationen. Bei den Gründungsveranstaltungen zeigte sich, dass lokal unterschiedliche Vorstellungen und Modelle die Kriterien für die Wahl der ersten Vorstandsmitglieder und die Praxis beider Organisationen bestimmten. Auch wenn ACISIV in San Ignacio und ACISARV in San Rafael gleichzeitig und von einer und derselben institutionellen Umwelt unterstützt und beraten wurden, so entwickelte sich die Organisationspraxis dennoch von Beginn an sehr unterschiedlich. Besonders auffällig ist die unterschiedliche Arbeitsweise innerhalb der Vorstände beider Organisationen. Im flächenmäßig kleinen Landkreis San Rafael wählte die Gründungsvollversammlung von ACISARV18 einen Vorstand, dessen Mitglieder größtenteils im Hauptort San Rafael oder in sehr nahe gelegenen Landgemeinden leben. Der Vorsitzende bzw. Cacique Grande (vgl. Kapitel 4) entsprach eher dem Vorbild eines modernen Organisationsleiters. Er war Handwerker und hatte eine relativ gute Schulbildung. Unter seiner Leitung, die dem Habitus der lokal typischen Bescheidenheit entsprach, arbeitete in San Rafael der Vorstand der ACISARV regelmäßig zusammen und einigte sich auf einige überschaubare Aktivitäten in Zusammenarbeit mit den Landgemeinden. In San Ignacio waren die Treffen der Vorstände in voller Besetzung unregelmäßig und selten. Es wurden kaum konkrete Aktivitäten geplant und noch weniger umgesetzt. Während in ACISIV von 2001 bis 2010 häufig, teilweise jährlich, die meisten Positionen im Vorstand durch Wahl neu bestimmt wurden, arbeitete der Vorstand von ACISARV personell unverändert Die meisten Vorstände von ACISIV beendeten ihre Amtszeit mit internen Konflikten und gegenseitigen Vorwürfen. ACISIV war zwischen 2001 und 2003 in den Landgemeinden kaum präsent. Mit Unterstützung einer neuen Fachkraft des DED wurde 2004 versucht, die Arbeit von ACISIV in Zonen, also kleinteiligeren Gebieten, zu dezentralisieren und so zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit den Landgemeinden zu kommen. Doch auf der künstlich geschaffenen Ebene dieser Zonen kommt – ähnlich wie bei MINGA (vgl. Kapitel 6.2.1) – keine eigenständige Kooperation für die Organisation ACISIV zustande. Die Vorstandsmitglieder kooperierten je nach persönlichen Neigungen sporadisch mit MINGA, der OICH oder der Partei des MAS (Movimiento Al Socialismo), die in San Ignacio eine Randstellung hat. Andere Mitglieder des Vorstandes lehnten
18 An dieser Gründungsversammlung konnte ich nicht teilnehmen. Daher können hier nur die nachträglich beobachtbaren Merkmale mehrfach wieder gewählten cacique grande aufgeführt werden, die für die Wahl relevant zu sein scheinen.
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die Zusammenarbeit mit Parteien strikt ab. Die häufig erlebte politización von Organisationen und vorgeblich zivilen Aktivitäten wird von der Bevölkerung der Region allgemein beklagt uns skeptisch beurteilt. Die fehlende Rückbindung an die Mitgliedsgemeinden und die Unklarheit über die Strategie der Organisation verstärkten sich gegenseitig und führen immer wieder zu Konflikten innerhalb des Vorstandes. Auch Jahre nach der Gründung haben sich in ACISIV keine geplanten Aktivitäten und keine offizielle Strategie entwickelt. Die Landgemeinden San Ignacios haben weiterhin keine Erwartungen an die Indígena-Organisation als Institution und zahlen ihre Mitgliedsbeiträge nicht. Immer weniger Delegierte kommen zu den Versammlungen. Im Dachverband der OICH ist ACISIV wenig aktiv. In San Rafael dagegen wird ACISARV durch die wiederholte Präsenz in den Landgemeinden und den Bau eines Gemeinschaftshauses im Hauptort San Rafael schrittweise für die Anwohner der Landgemeinden präsenter. Die dirigentes bezogen bei kleineren Konflikten zwischen der mestizischen Machtgruppe und den Landgemeinden öffentlich eine klare Position für die Gemeinden. Durch den 2003/2004 einsetzenden Machtverfall der etablierten Parteien Boliviens und die ersten Wahlsiege des MAS verschärften sich auch die lokalen Konflikte. Die lokale mestizische Oberschicht von San Rafael sah ihre Machtstellung gefährdet und versuchte nun die Vertreter und Vertreterinnen der ACISARV unter Gewaltanwendung einzuschüchtern. Die von den Indígena-Organisationen kritisierte Diskriminierung von Indigenen wird so auch für die Landgemeinden sichtbar. Die Mitglieder des Vorstandes von ACISARV pflegen nun eine engere Verbindung zum Verband OICH. 7.1.3 Die Indígena-Organisationen Velascos in der Systemperspektive In den folgenden Abschnitten wird auf eine systematische Darstellung jeder einzelnen der vier Indígena-Organisationen aus der Systemperspektive verzichtet, denn dies würde sehr viel Raum einnehmen und vergleichsweise wenig Erträge bringen. In der gesammelten Darstellung werden ausgewählte Aspekte der verschiedenen Organisationen einander gegenübergestellt. Die Sozialen Ordnungen in den Indígena-Organisationen Velasco Die vier Indígena-Organisationen zeichnen sich durch unterschiedliche soziale Ordnungen (vgl. Kapitel 2.6.1) aus. Die soziale Ordnung der eigenständigeren CCISM San Miguels ist stark an Organisationserfahrungen, die einzelne Mitglieder bei MINGA gewinnen konnten, angelehnt. Die Vorstandsmitglieder treten im Habitus der Bescheidenheit auf. Die handelnden Personen sind in der Ausübung ihrer Rollen akzeptiert. Dagegen ist es für Mitgliedsgemeinden und Vorstandsmitglieder von
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ACISIV besonders schwierig, eine konkrete Vorstellung über die Führung der Organisation und die Rolle des dirigente zu entwickeln. Als Vorbilder bieten sich nur bekannte öffentliche Funktionen aus der Welt einzelner Landgemeinden an, da eine übergreifende Organisation der Landgemeinden zuvor nie existiert hat. Die Art und Weise wie einer der wenigen langjährigen Aktivisten von ACISIV seine Rolle in der Organisation interpretiert, wird weiter unten in einem Exkurs ausführlicher beschrieben. CCISM konnte sich mit Don Ramon Paz auf einen in MINGA in Organisationsarbeit erfahrenen und charismatischen Gründungsvorsitzenden verlassen. In ACISIV hingegen entsteht kein neues Leitbild für die Organisationsleitung. Die biografischen Erfahrungen eines langjährigen Protagonisten von ACISIV (Don Guillermo) veranschaulichen ein nicht typisches, hybrides Rollenverständnis als „lokale Autorität“. Das hybride Rollenverständnis von Don Guillermo ergibt sich aus der Erfahrung in verschiedenen Rollen als untergeordneter lokaler Vertreter von staatlichen oder politischen Parteien in seiner Gemeinde speist. In seinem Rollenverständnis verschmilzt das Rollenverständnis einer lokalen indigenen Autorität mit der Rolle staatlich-offizieller Autorität. Damit gerät er in ACISIV regelmäßig in Konflikte mit anderen Vorstandsmitgliedern, die ihn anmaßend und selbstinteressiert finden. „Una autoridad no es nada en otro lugar.“19 Don Guillermo ist ein langjährig aktives Mitglied des Vorstandes von ACISIV. Er interpretiert seine Rolle als dirigente anhand seiner persönlichen Erfahrungen, die er seit den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder in öffentlichen politischen Ämtern und Funktionen gesammelt hat, wie z. B. als cacique general (gewähltes Oberhaupt des cabildo der Gemeinde), als comisario del cantón (ernannter Beauftragter), als alcalde político (ernannter Bürgermeister), sowie als lokaler Vertreter von verschiedenen politischen Parteien oder in der Rolle als Gesundheitsbeauftragter seiner comunidad. In der Vorstellung von Don Guillermo über die Rolle des dirigente wird das autoritäre und obrigkeitsstaatliche Denken aus der Zeit der Diktaturen deutlich. Der cacique general ist eine Führungsrolle aus der Selbstverwaltungsorganisation der Landgemeinden (vgl. Kapitel 4.3.3). Er wird von von den Anwohnern gewählt und ist ausschließlich für interne Angelegenheiten zuständig. Der comisario wird zwar gewählt, er repräsentiert jedoch die staatlichen Institutionen in seiner comunidad. Zum alcalde político wird Don Guillermo später von der Subpräfektur ernannt, um Anordnungen der Regierung auf Ebene der comunidad auszuführen. Zwischen selbstgewählten und vom Staat ernannten Autoritäten wird kategorial nicht unterschieden. Gewohnheitsgemäß führte der Subpräfekt auch die caciques bzw. den
19 „Eine lokale Autoritätsperson hat außerhalb der eigenen Gemeinde keine Bedeutung.“ (aus dem Kontext übersetzt G.B.)
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cabildo in seiner comunidad in ihr Amt ein, obwohl diese Ämter eigentlich im Bereich der Selbstverwaltung lagen. So vermischten sich im allgemeinen Verständnis die Rollenfunktionen dieser Ämter20 In den Ansichten und Äußerungen von Don Guillermo lässt sich eine Mischung von traditionellen kommunitären und hierarchisch-autoritären Vorstellungen von Führungsrollen erkennen. Für ihn hängt die Eignung für Führungsrollen in der comunidad von einer starken Persönlichkeit ab. Die Autoritätsrolle ist an die Person in einer konkreten Gemeinde gebunden. Schriftliche Kommunikation und Dokumente erscheinen ihm, der nur geringe Schuldbildung hat, bedeutungslos. Er erinnert sich positiv an die Zeit der Diktaturen in den Siebziger und Achtziger Jahre, weil es keine bürokratischen Verfahrensregeln zu beachten gab: “Lo que más me gustó y me gusta en ese entonces es el valor de las personas – no se utilizaba el papel – el papel aguanta todo – Cuando se manda cartas no hay atención.“21 Die ideologischen Positionen der verschiedenen politischen Parteien, für die gearbeitete hatte, waren für Don Guillermo kaum relevant. Er genoß seinen besonderen Status in der Gemeinde. Als Mitglied im Vorstand von ACISIV mit der längsten Amtszeit, handelte Don Guillermo – entgegen der Regeln der Selbstverwaltung der meisten comunidades – oft ohne sich mit dem Vorstandskollegen und der Mitgliederbasis abzusprechen. Er war der einzige dirigente von ACISIV, der ab 2005 mit der Partei des MAS zusammenarbeitete und als Vertreter der ACISIV zusammen mit Vertretern des MAS öffentlich in San Ignacio auftrat. Die Verwischung von Grenzen zwischen Parteiarbeit und ACISIV stieß in San Ignacio bei der Mitgliederbasis und dem Rest des Vorstandes jedoch auf starke Kritik und Misstrauen. Don Guillermo war durch seine Handlungsweise im Vorstand der ACISIV stigmatisiert und sozial isoliert. (Quelle: Interview mit Don Guillermo Ortíz, eigene Beobachtungen) Die sozialen Beziehungen zwischen Organisationsleitung (Vorstand) und Mitgliedern ist ebenfalls in den vier Organisationen sehr unterschiedlich. Der Kontakt des Vorstandes von CCISM von San Miguel zu den Mitgliedsgemeinden war gut. Auch in San Rafael gab es über die Vollversammlungen hinaus Kontakte zwischen den 18 comunidades und den Vorstandsmitgliedern in ACISARV im kleinen Landkreis San Rafael. Durch kürzere Wege war die Verständigung mit den 14 comunidades in San Rafael einfacher zu realisieren, als z.B. in der IndígenaOrganisation ACISIV für San Ignacio. Der erste Vorsitzende bzw. Cacique Grande von San Rafael nutzte jede Gelegenheit, die comunidades kennenzulernen und sich ihnen vorzustellen, indem er die Angestellten oder Vorstände von MINGA begleitete. 20 Diese symbolische Aneignung eigentlich lokal autonomer Leitungsämter durch Regierungsvertreter wurde erst nach 2001 in ACISIV kritisch reflektiert. 21 “Was mir am meisten gefallen hat, ist, dass der Wert/Mut einer Person zählte. Man benutzte kein Papier. Papier ist geduldig. Durch Briefe schreiben, erreicht man keine Beachtung.“
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Für ACISIV der Landgemeinde San Ignacio ist der Kontakt mit mehr als 100 comunidades sehr viel schwieriger. Nur wenige Vorstandsmitglieder von ACISIV nutzten die Möglichkeiten der von Produzentenorganisation MINGA angebotenen Mitfahrgelegenheiten für Besuche in weiter entfernte comunidades. Der offizielle Standpunkt der dirigentes von ACISIV ist, dass man unabhängig von MINGA arbeiten will und eine eigene Ausstattung von den EZ-Geberorganisationen verlangt. Das geringe Budget aus Mitgliedsbeiträgen und die Angewiesenheit auf die örtliche DED-Fachkraft, mir deren Hilfe immer wieder kleine Förderbeträge beantragt werden müssen, frustriert die dirigentes von ACISIV zusehends. Immer wieder beklagen sie sich darüber, dass sie nicht über eigene Fahrzeuge, Büros, Angestellte und Büroausstattungen wie in MINGA verfügten. Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der meisten dirigentes von ACISIV bei Kontakten mit den comunidades und die Zurückweisung einer pragmatischen Zusammenarbeit mit MINGA liegt in der Unsicherheit bezüglich ihrer Rolle. Nur wenige der dirigentes bringen Organisationserfahrung mit. Es fällt ihnen sichtlich schwer, vor einer fremden comunidad die Idee einer Interessenorganisation wie ACISIV zu vermitteln. In der CCISM von San Miguel werden nur geringe Beiträge von den Mitgliedern eingesammelt. Es gibt einen Kassenwart, der dieses Budget verwaltet. Die Mitglieder entlasten ihren Vorstand in den Vollversammlungen. In ACISIV dagegen herrschen im Umgang mit den Mitgliedsbeiträgen und anderen Einnahmen wenig Kontrolle und Transparenz. Obwohl die Einzelbeträge gering und viele Mitgliedsgemeinden säumig waren, ist die Summe der Gesamtbeiträge aufgrund der hohen Mitgliederzahl, für die lokalen Verhältnisse beachtlich. Einige Vorstandsmitglieder waren sehr unzufrieden über den informellen Umgang des Vorsitzenden (cacique grande) mit den Beiträgen. Bei einer Vollversammlung äußerten diese Kritiker nach langem Zögern ihre Meinung auch öffentlich. Dafür werden sie von den Delegierten getadelt und mit Abwahl bestraft. Einige Delegierte argumentierten unter allgemeinem Beifall, dass der Vorstand Einigkeit zeigen solle und dass es schlecht sei, wenn jemand versuche, Zwietracht zu säen. Die Vergehen des Präsidenten, der sich wortreich und mit Witz entschuldigte, sind hingegen akzeptabel und gelten als „Anfängerfehler“ … „die jedem von uns passieren könnten“. Die comunarios des betroffenen Landkreises San Ignacio richteten ihre Möglichkeiten der sozialen Kontrolle also nicht auf die Einhaltung eines Gebotes zur korrekten und transparenten Mittelverwendung, sondern auf den Verstoß gegen das Gebot der Harmonie bzw. Einigkeit. Die Mitglieder der Indígena-Organisationen Velascos Die Mitgliedsgemeinden (comunidades) der vier Indígena-Organisationen nehmen unterschiedlich stark an den Aktivitäten ihrer Organisationen teil. Ebenso unter-
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schiedlich ist der Nutzen, den einzelne Mitglieder aus den Aktivitäten der Organisation ziehen und ihre Bereitschaft, Beiträge zu leisten. Eine starke Beteiligung in Form von Beiträgen wie auch Teilnahme an Aktivitäten entwickelte sich in CCSIM San Miguels und der ACISARV San Rafaels. Die Mitgliedsgemeinden von CCISM sahen in der Erlangung einer Rechtspersönlichkeit jeder einzelnen Gemeinde einen Vorteil, den sie ohne die Mitgliedsschaft in der Indígena-Organisation nicht erreicht hätten. Im Fall der Indígena-Organisation CIBAPA des Bajo Paraguá war die Beteiligung der Mitglieder und der Kontakt der Repäsentanten zu den drei Mitgliedsgemeinden gering. Nur eine kleine Gruppe von Personen aus dem näheren Umfeld des Vorstandes zog einen Nutzen aus der Organisation und den externen Mitteln, die ihr zukamen. Hier handelt es sich um eine informelle Aneignung der Organisation und ihrer Mittel durch eine kleine Gruppe (elite capture). Befragungen zeigten, dass die Anwohner der formalen Mitgliedsgemeinden nur wenig über die Organisation CIBAPA wussten (vgl. ASQUITH, VARGAS RÍOS & SMITH 2002). Im Falle der Indígena-Organisation San Ignacios, ACISIV, sind nicht alle Landgemeinden des Einzugsgebietes eingetragene Mitglieder. Nur wenige der eingetragenen Mitgliedsgemeinden zahlen ihre Beiträge vollständig. Die Organisation erbringt für sie keine spürbaren Leistungen. Für die Landgemeinden ist auch nach Jahren des Bestehens der Organisation ACISIV nicht sicher, was sie von der Organisation erwarten können. Die Ziele der Indígena-Organisationen Velascos Velascos Die Ziele der vier Organisationen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Entstehungsbedingungen, ihre Satzung, die Konkretheit der dort formulierten Ziele und den Nutzen, den die Zielerreichung für die Mitglieder darstellt. Die Indígena-Organisation San Miguels, CCISM, verfolgt mehrere Vorhaben mit sehr konkreten und politisch relevanten Zielen, wie zum Beispiel die Erreichung der formalen Rechtspersönlichkeiten für die Gemeinden und im Anschluss daran der Landtitel, die den Gemeindelandbesitz absichern helfen. Diese Einzelziele tragen langfristig zur Formalisierung der Gemeinden und zu ihrem Status als Rechtssubjekte bei. Über die Ziele bzw. den Sinn der Aktivitäten des Vorstandes werden mit den Mitgliedsgemeinden verhandelt. Ähnlich ist es im Fall der Indígena-Organisation San Rafaels ACISARV, die die bereits vorgegebenen Ziele des Landprojektes von MINGA übernahm, die Landgemeinden aktiv untersützte, z.B. in konkreten Konfliktfällen und auf dem Weg zur Erreichung einer Rechtspersönlichkeit (juristischer Beistand). Die Indígena-Organisation San Ignacios, ACISIV, hingegen übernahm in seiner Praxis die Ziele des Landrechtsprojektes von MINGA nicht, und entwickelte auch keine konkreten alternativen Ziele. Die Organisation ACISIV ist durch Zielunklarheit oder Ziellosigkeit gekennzeichnet.
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Indígena-Organisation des Bajo Paraguá, CIBAPA, verfolgt offiziell Ziele im Bereich der wirtschaftlichen und rechtlich-politischen Verbesserung der Lage seiner drei Mitgliedsgemeinden. Diese Ziele sind durch den Gründungskontext im Rahmen eines Waldschutzprojektes vorgegeben. Das Hauptziel, ein formaler Besitztitel für ein Terriotorium stellt für die Mitgliedsgemeinden kurzfristig keinen erwartbaren oder direkt spürbaren Vorteil dar. Die faktischen Nutznießer der Organisationsressourcen waren in CIABAPA nur eine kleine Gruppe um den Vorstand. Es bleibt festzuhalten, dass die Ziele in allen vier Indígena-Organisationen entweder von außen vorgegeben, oder durch eine kleine Gruppe von Aktivisten formuliert worden sind. Allerdings konnten die dirigentes von CCISM ihre Ziele den Mitgliedern erklären und sie von deren Sinn überzeugen. Die Technologie und Strategie der Indígena-Organisationen Velascos Technologie und Strategie der vier Organisationen beruhen im Wesentlichen auf der Nutzung von Rechtsmitteln und Rechtsberatung. Die technische Ausstattung und finanziellen Ressourcen aller Organisationen sind – mit Ausnahme von CIBAPA – relativ einfach und begrenzt. Diese einfache Ausstattung der Indígena-Organisationen spiegelt die Ressourcenkanappheit ihrer Mitgliedsgemeinden wider. Teilweise beschränkt die Mittelknappheit die Möglichkeiten zu Aktionen. Die Protagonisten von CCISM (San Miguel) und ACISARV (San Rafael) verstehen es, durch Mobilisierung ihrer sozialen Beziehungen zu MINGA und zum DED die Beschränkungen der eigenen Ausstattung und des Budgets zu kompensieren. 7.1.4 Die institutionellen Umwelten der vier lokalen Organisationen In diesem Abschnitt wird zunächst die lokale institutionelle Umwelt, mit ihren besonderen organisationsbezogenen institutionalisierten Modellvorstellungen und Typisierungen, aber auch einigen alltäglichen Denk- und Handlungsmuster vorgestellt, die für die Praxis der Indígena-Organisationen relevant sind. Danach werden die allgemeinen (überregionalen, an globale Kontexte anschließenden) institutionellen Umwelten und besondere Organisationsfelder vorgestellt, mit denen die Organisationen Kontakt haben. Der lokale Kontext als besondere institutionelle Umwelt Wichtige organisationsspezifische Typisierungen und Modellvorstellungen, die in der Provinz Velasco allgemein zu den institutionalisierten Denkweisen gehören, lassen sich anhand des kontroversen Aushandlungsprozesses um die Namensgebung der
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Indígina-Organisation San Ignacios, ACISIV, und San Rafaels, ACISARV, im Vorfeld ihrer Gründung veranschaulichen. Dieser Aushandlungsprozess zeigt, dass zum Beispiel für das Organisationselement des cabildo verschiedene lokale Referenzmodelle zur Verfügung stehen und auch genutzt werden. Die bei der Gründungskampagne der beiden Organisationen anwesenden Delegierten aus den Landgemeinden wie auch die dirigentes von MINGA wendeten sich entschieden gegen die ursprünglich vorgeschlagene Bezeichnung central indígena Diese Bezeichung hatte nicht nur die Organisation CCISM in San Miguel für sich gewählt; sie stellte außerdem praktisch eine Standardbezeichnung für Indígena-Organisationen des Tieflandes dar. Von den Vertretern der Landgemeinden in San Ignacio und San Rafael wurde der Organisationstyp der centrales mit der politischen Kultur des Hochlandes und seiner lokalen Bauerngewerkschaften (sindicatos) verknüpft. Man wollte nicht mit diesen „colla-Organisationen“ verwechselt werden (colla werden die Hochlandbewohner genannt, oft auch abschätzig).22 Dieser Wunsch nach Abgrenzung gründete auf der Vorstellung, dass die collas permanent in Konflikt mit Staat und Regierungen stünden. Die meisten Bewohner der comunidades, wie auch die dirigentes von MINGA, wollten sich explizit von der konfliktorientierten politischen Strategie der Blockaden und politischen Maximalforderungen der sozialen Bewegungen des Hochlands abgrenzen. Das Ideal politischer Interessenvertretung in Velasco implizierte ein konsens- und kooperationsorientiertes Verhalten. In der Gründungsversammlung einigten sich die Anwesenden schließlich auf die Bezeichnung der neuen Organisation als Asociación de Cabildos Indígenas San Ingnacio de Velasco (ACISIV), da der cabildo in den Landgemeinden als Bezeichnung für ein allgemeines Selbstverwaltungsorgan üblich war (vgl. Kapitel 4.3.3). Die Bezeichnung für den Vorsitzenden des Vorstandes sollte dementsprechend nicht presidente, sondern cacique grande sein. Diese Bezeichnung hatte keinen lokalhistorischen Bezug, aber sie erschien den Beteiligten traditioneller bzw. unpolitischer und somit angemessener.23 Doch gerade mit der Bezeichnung als Vereinigung der cabildos erregten die um Harmonie und Konsens bemühten dirigentes von San Ignacio und San Rafael den Widerspruch der Kirchen. Die bereits formalisierte Bezeichnung als asociación de cabildos indígenas wurde nach der Gründung von Vertretern der kirchlichen Seite von der Kanzel und im katholischen Lokalradio kritisiert, denn der Begriff des 22 Diese Schilderungen stammen aus informellen Gesprächen mit den Beteiligten aus San Ignacio, wie z.B. Mariano Viana und der DED-Fachkraft Manfred Bienert. 23 In der Chiquitania war diese Bezeichnung weder historisch noch aktuell üblich. Sie erinnert an den capitan grande der Guaranié im Süden Boliviens. Dieser führt traditionsgemäß die mehrere Gemeinden einer Region (capitania) an. Tatsächlich verfügen die Guaraniés über eine tradierte und gleichzeitig durchaus politische und konfliktbereite Selbstverwaltungsorganisation.
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cabildo sei ein genuin religiöses und kirchliches Organisationselement. Tatsächlich gibt es in der Chiquitania unterschiedliche Arten von cabildos. Zum einen bezeichnen die kleinen Landgemeinden (comunidades) ihren gewählten Rat als cabildo. Die Zuständigkeit der säkularen cabildos in den comunidades der Chiquitania ist traditionsgemäß auf die internen Angelegenheiten begrenzt, wie z.B. Konflikt- und Schadensregulation, Urteile im Rahmen des lokalen Gewohnheitsrechtes (vgl. CEJIS ET AL. 2003), Einhaltung der guten Sitten sowie Moderation und Ausführung von Entscheidungen der Dorfversammlungen. Schon von einer Landgemeinde zur Nachbargemeinde kann in Velasco aber das Verständnis darüber variieren, welche konkreten Kompetenzen ein cabildo und dessen oberstes Mitglieder, der cacique general, haben (vgl. Kapitel 4.2.1). Zum anderen gibt es auch heute noch cabildos religiosos, die in den Kirchengemeinden der Hauptorte der Chiquitania vor allem zeremonielle Aufgaben im Rahmen des Ritus hoher kirchlicher Festtage und des Gottesdienstes übernehmen (vgl. STRACK 1991). 24 Diese cabildos religiosos knüpften an die Zeit der jesuitischen Missionen (reducciones) an (vgl. Kapitel 4.3.2).25. Die beschlossene Namensgebung ACISIV (Asociacón de Cabildos Indígenas de San Ignacio de Velasco) entzündete somit einen neuen Streit um die Deutungshoheit über den cabildo. Die Bevölkerung der Landgemeinden San Ignacios stand der Idee, einer Organisation zur Vertretung ihrer Interessen im allgemeinen und ACISIV im speziellen auch nach der Gründung weiterhin skeptisch gegenüber. Etwa ein Drittel der Gemeinden entschloss sich, nicht Mitglied von ACISIV zu werden. Der in anderen Teilen Boliviens intensiv laufende Diskurs der ethnischen bzw. indigenen Identität war in Velasco auch 2001 noch nicht angekommen. Die indigene Bewegung des bolivianischen Tieflandes wurde in den comunidades von San Ignacio bis zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen. Dem Thema der ethnischen oder kulturellen Identität der Chiquitano stehen die Bewohner der comunidades unschlüssig gegenüber. Teile der Weltanschauung, der Mythen und der in einigen comunidades gelebten kulturellen 24 Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts haben die cabildos religiosos in den Hauptorten auch eine Koordinationsfunktion für die Gemeinschaftsarbeiten der Chiquitano-Bevölkerung, die zu Arbeitsleistungen zur Erhaltung der Kirchengebäude, Friedhöfe und kirchlichen Einrichtungen verpflichtet waren. Mit dieser Kompetenz für öffentliche Aufgaben des cabildo wurde bis in die achtziger Jahre des 20. Jhd. der Status und die soziale Rolle der Chiquitano Bevölkerung als jederzeit dienstbarer Untergebenen von Kirche und mestizischer Mittelschicht in seiner Geltung bestätigt. 25 Peter Strack hat in seiner Studie über den Konflikt um die Gestaltung der Osterprozessionen in San José (Provinz Chiquitos) eindrucksvoll und detailreich gezeigt, mit welcher Beharrlichkeit und Vehemenz die Chiquitano-Bevölkerung ihre zeremoniellen Rollen und Kompetenzen in dem Moment verteidigte als die lokale mestizische Elite versuchte, in einem modernisierten Verfahren der Osterprozessionen sich auch im religiösen Bereich Symbole der Macht anzueignen (vgl. STRACK 1991).
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Praxis der Chiquitano waren bis vor einigen Jahren von Staat (Schule) und Kirche verboten. Aus diesem Grund wurden diese kulturellen Elemente vor Fremden, d.h. Mestizen, Ausländern (z.B. den Fachkräften der EZ) und Kirchenvertretern nach Möglichkeit verborgen. 26 Darüber hinaus hatte sich die kulturelle Praxis in den nicht so „traditionellen“ comunidades inzwischen über Zuwanderung aus anderen Regionen und über Lohnarbeitsverhältnisse bereits stark mit Elementen der mestizischen Kultur, der Hochlandkultur, sowie der kultuellen Praxis, die durch die Wanderarbeiter aus Brasilien mitgebracht wurden, vermischt.27 Die institutionelle Umwelt und ihre Organisationsfelder Alle Indígena-Organisationen befinden sich im Einflussfeld einer zum größten Teil identischen institutionellen Umwelt (vgl. Abbildung 13). Allerdings sind Abhängigkeit und Einfluss von einzelnen Organisationsfeldern oder einzelnen Organisationen bei den vier Organisationen unterschiedlich. Dies zeigt sich bereits am Gründungsprozess, der im Fallbeispiel der CCISM San Miguels nahezu autonom, bei der CIBAPA des Bajo Paraguá durch eine Naturschutz-NRO und ein Waldschutzprogramm initiiert und durchgeführt wurde, und in den Fallbeispielen der ACISIV San Ignacios und der ACISARV San Rafaels durch das Organisationsfeld der deutschen Entwicklungszusammenarbeit initiiert und unterstützt wurde. Die tabellarische Übersicht in Tabelle 3 fasst stichwortartig die unterschiedlichen Entstehungskontexte der vier Organizaciones Indígenas von Velasco zusammen:
26 Eine erwähnenswerte Ausnahme bildet die große und gut erreichbare comunidad San Javierito, die bereits im 19. Jahrhundert gegründet wurde und deren Bewohner mit außergewöhnlichem Selbstbewusstsein ihre lokale kulturelle Praxis ausüben und vertreten. Möglicherweise liegt einer der Gründe dafür im intensiven Kontakt zu dem deutschen Ethnologen Jürgen Riester, der hier in den sechziger und siebziger Jahren intensive Feldforschung betrieb, und später die NRO APCOB gründete, die die Gründung vieler Indígena Organisationen anregte. Aber auch in San Javierito sind seit Inkrafttreten der Gesetze der Dezentralisierung und der Participación Popular in den vergangenen 15 Jahren starke Veränderungen der politischen Selbstorganisation zu beobachten. 27 Insgesamt nimmt die Sprachkompetenz im Chiquitano bzw. bésiro ab. Im Nordosten des Landkreises sprechen und verstehen die Bewohner vieler comunidades Spanisch und Portugiesisch, aber kaum noch Chiquitano (lokal als Bésiro bezeichnet).
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Tabelle 3: Organizaciones Indígenas der Provinz Velasco (eigene Darstellung) Name
Ort/Einzugsgebiet
Jahr Anlass/Initiative
Externe Unterstützung
CCISM
San Miguel Alle 36 comunidades sind Mitglieder
1988 Lokale Aktivis- Gering Keine Organisaten Motiviert durch tion diverse Organisationsgründungen in der Region
CIBAPA
1998 KlimaschutzSan Ignacio programm MK3 comunidCAP (REDD ades des Bajo Projekt) KomParaguá im ponente Norden, an der APOCOM Grenze zum Nationalpark
ACISIV
San Ignacio Mitglieder sind ein Teil der restlichen 112 comunidades
2001 Kampagne gefördert durch den DED
CEPAD, MINGA, später Fundación TIERRA
ACISARV
San Rafael Mitglied sind alle 18 comunidades
2001 Kampagne gefördert durch den DED
CEPAD und MINGA, später Fundación TIERRA
FAN, Projekt APOCOM, hohes Budget und professionelle Projektmitarbeiter
Der Überblick zeigt, dass mit Ausnahme der CCISM San Miguels alle Organisationen direkt durch andere Organisationen und deren institutionalisierte Vorstellungen initiiert und beeinflusst wurden. In den Organisationen CIBAPA und ACISIV wird die stark von außen beeinflusste Organisationspraxis mehr oder weniger imitiert oder sogar simuliert. Im Fall der CCISM ging die Initiative zur Gründung von lokalen Akteuren aus. Dies begünstigte die Ausbildung einer sich externe Impulse aneigneten und verändernden Vorgehensweise und einer sich selbst an die lokalen Bedingungen
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anpassenden Praxis. Die Ideen und Vorbilder dazu wurden indirekt über das Organisationsfeld MINGA, und anderer NRO aus dem Umfeld der katholischen Kirche, an die lokalen Protagonisten vermittelt. Die institutionelle Umwelt der Indígena-Organisationen besteht im Wesentlichen aus den drei Organisationsfeldern (vgl. Kapitel 2.3.) (1) Übergeordnete Organisationen der indigenen Bewegung, (2) Organisationen der internationalen EZ und (3) einiger bolivianischer NROs. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Organisationsfelder in einem Überblick. Abbildung 13: Institutionelle Umwelten der Organizaciones Indígenas
Quelle: eigene Darstellung
Die vier lokalen Indígena-Organisationen der Fallbeispiele in der Provinz Velasco bilden ein eigenes kleines Organisationsfeld, denn sie beeinflussen sich auch gegenseitig über Erfahrungen mit den gewählten Organisationsmodellen, als Konkurrenten oder durch Kooperationsbeziehungen. Häufig sind sie Empfänger der gleichen Fortbildungsangebote für ihre Organisationsmitglieder, erhalten dieselbe Unterstützung für die Ausbildung von Führungsqualitäten, oder bekommen professionelle Beratung der selben Geberorganisationen. Im Hinblick auf die Abhängigkeit und Einbindung in die institutionelle Umwelt unterscheidet sich CCISM San Miguels stark von den übrigen drei Indígena-Organisationen. Während die CCISM eher lokale Ressourcen bei ihrer Gründung mobilisieren kann und wenig professionelle Beratung durch andere Organisationen erhält, sind
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die anderen drei fast vollständig von externer Unterstützung abhängig. Die unterstützenden NRO und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit stellten in den Fällen ACISIV (San Ignacio) und ACISARV (San Rafael) geringfügige und im Fall CIBAPA (Bajo Paraguá) umfangreiche Finanzierungen und Fachpersonal für die Durchführung von Aktivitäten bereit. Das Organisationsfeld der Indigena-Organisationen Die vier Indígena-Organisationen in Velasco sind in unterschiedlicher Weise in das Organisationsfeld der indigenen Bewegung des bolivianischen Tieflandes eingebettet. Der institutionelle Einfluss der Dachverbände auf die lokalen Mitgliederorganisationen ist in der Provinz Velasco von Organisation zu Organisation unterschiedlich. Nur wenige übernehmen die ofiziellen politischen Standpunkte der Dachverbände. Der Dachverband der Indígena-Organisationen OICH verbreitet und wirbt auf Versammlungen, Fortbildungsseminaren und über Informationsmaterial für die dirigentes der lokalen Organisationen für die Idee, möglichst große Flächen des Landes in TCO28 umzuwandeln. Weitere mit Nachdruck vertretene Positionen der OICH bestehen in der Kritik am Einsatz von gentechnisch verändertem Saatgut und der Aneignung lokaler biologischer Vielfalt durch Patente internationaler Firmen („Biopiraterie“). Diese Ideen machen sich nur wenige der dirigentes der lokalen Organisationen wirklich zu Eigen. Sie haben kaum Bezug zur aktuellen Wirklichkeit der Landgemeinden in der Chiquitania. Gentechnik und Biopiraterie stellen für die materiellen oder sozio-kulturellen Existenzbedingungen der Chiquitano (noch) keine aktuell spürbaren Risiken dar29. Die folgende Abbildung 14 zeigt das Organigramm der Verbände und lokalen Organisationen der Organizaciones Indígenas. Es entspricht einer weltweit typisch hierarchischen Verbandsstruktur, die keine horizontalen Verbindungen hat.
28 TCO bedeutet Tierras Comunales de Origen und ist eine spezielle Form eines kollektiven Landbesitztitels für indigene Völker Boliviens. 29 Hier soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass sowohl Gentechnik als auch Biopiraterie insgesamt hohe Risiken und Bedrohungspotenziale für die Lebensgrundlagen indigener Völker haben können, nur eben nicht zu jener Zeit in der Chiquitania, wo eine viel stärkere Bedrohung von Prozessen der profitgetriebenen illegalen Landaneignung und – konzentration durch Rinderviehzucht und durch massive Vernichtung der Waldressourcen und Korruption durch illegale Holzwirtschaft ausgeht.
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Abbildung 14: Dachverbände der lokalen Organizaciones Indígenas von Velasco
Quelle: eigene Darstellung nach Daten aus Baumkamp 1996, Lema et al. 2001 und eigene Ergänzungen); Erläuterung: Die gestrichelte Linie zu MINGA deutet an, dass die offizielle Mitgliedschaft inzwischen aufgehoben ist.
Das Organisationsfeld der internationalen Entwicklungszusammenarbeit In der Provinz Velasco ist der Deutsche Entwicklungsdienst durch seine LangzeitFachkräfte, die vor allem als Organisationsberater tätig waren, eine der kontinuierlichsten institutionellen institutionellen Begleiter der lokalen Indígena-Organisationen. Der kleinteilige Beratungs- und Förderansatz des DED kann die Organisationen CCISM und ACISARV bei der Entwicklung einer angeeigneten Organisationspraxis punktuell erfolgreich unterstützen und sie ihren eigenen Vorstellungen gemäß unterstützen. Im Fall der Indígena-Organisation ACISIV schien kurzfristig weder eine Unterstützung eigener Ideen noch eine Vermittlung von Ideen stattzufinden. In diesem Organisationsfeld wurden im Untersuchungszeitraum auf der Ebene der Verbände umfangreiche Fördersummen verteilt. An die lokalen Indígena-Organisationen wurden im Allgemeinen über Bildungsveranstaltungen und Rechtsberatung vor allem Ideen über Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und gute Leadership-Eigenschaften weitergegeben. Das Organisationsfeld der bolivianischen NRO Organisationen wie z. B. CEPAD (Bildung und Dezentralisierung), Formasol (Bildung) und die Fundación TIERRA (Landrechtsberatung und Bildung) haben durch ihre Unterstützung verschiedener Gründungsprozesse von Indígena-Organisationen
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und als Anbieter von zeitlich begrenzten Bildungsveranstaltungen zur Verbreitung von Ideen und Konzepten zu Zielen, Aufbau und Funktionsweise politischer Organisationen, Gestalt und Praxis lokaler Organisationen mit beeinflusst. Über ihre Beratungs- und Fortbildungsarbeit fungieren diese NRO auch als Übersetzer normativer Vorstellungen z.B. über die Bedeutung von Führungsqualitäten in modernen Organisationen (dies läuft unter den Stichworten leadership oder liderazgo). Diese Ideen werden als Idealvorstellungen an lokale Organisationen und ihre Aktivisten weitergegeben; dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass sie als effektive Handlungsorientierungen in der Praxis dieser Organisationen auch wirksam werden, wie die Betrachtung der Organisationspraxis am Anfang dieses Kapitels bereits deutlich gemacht hat. Diese Beobachtung wird im Auswertungskapitel 8 noch ausführlicher diskutiert werden. Einen wichtigen indirekten Einfluss auf die Indígena-Organisationen der Chiquitania hatte die NRO APCOB (Apoyo al Campesino del Oriente Boliviano). Sie wurde von dem deutschen Ethnologen Jürgen Riester gegründet und hatte wesentlich zur Gründung einiger der ersten Indígena-Organisationen des bolivianischen Tieflands beigetragen. Noch vor den Gründungen der Organisationen auf kommunaler Ebene wurde 1982 mit einigen wenigen indigenen Gruppen bzw. Völkern des Tieflandes – darunter auch Chiquitano aus der Region Lomerío – auf Anregung von APCOB der Dachverband der Indígena-Organistionen des östlichen Tieflandes CIDOB (Confederación Indígena del Oriente Boliviano30) gegründet (BAUMKAMP 1996: 29). CIDOB sollte sich später zum nationalen Dachverband der Tieflandvölker entwickeln. Die CIDOB nimmt bereits mit der Bezeichnung confederación einen expliziten Bezug auf das Modell der gewerkschaftlichen Organisationsform des gesamtbolivianischen Dachverbandes COB31, und auf die Bauerngewerkschaft CSUTCB (Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia), die erst kurz zuvor, 1979 nach dem Ende der Banzer-Diktatur, gegründet worden war (vgl. SCHORR 2012: 81). Die Wahl des gewerkschaftlichen Organisationsmodells geschah in Übereinstimmung mit den Vorstellungen und der strategischen Beratungsarbeit von APCOB (Interview mit Jürgen Riester). APCOB hatte seit Anfang der Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts über die Verbreitung von Vorstellungen zu den Vorteilen einer einheitlichen Organisationsform auch den Prozess der Verständigung und Einigung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen bzw. Völkern des bolivianischen Tieflands und deren übergeordneter Organisation gefördert. APCOB ist in der Provinz Velasco nur sehr kurz tätig gewesen. Der direkte und prägende Einfluss dieser NRO beschränkt sich in der Chiquitania auf die Organisationen der westlichen Nachbarprovinzen und auf die zuerst gegründeten Dachverbände. 30 Die ursprüngliche Bedeutung der Abkürzung CIDOB wurde im Laufe der Zeit und mit der geografischen Ausdehnung des Vertretungsanspruches verändert. 31 Zum Strukturmodell gewerkschaftlicher Organisation in Bolivien vgl. JOST 2003: 303.
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Zur institutionellen Umwelt der Indígena-Organisation CIBAPA des Bajo Paraguá gehört auch die bolivianische NRO FAN aus dem Naturschutzbereich, die das Projekt durchführt, das zur Gründung von CIBAPA führte. Die FAN hat selbst wenig Interesse an lokalen Organisationen und ist nicht mit dem Organisationsfeld der Indígena Bewegung verbunden. Auf die institutionellen Grundlagen der Organisationspraxis von CIBAPA hat sie keinen erkennbaren Einfluss. 7.1.5 Vertrauen in Indígena-Organisationen der Provinz Velasco Der Organisationstyp der Indígena-Organisation und die Idee der Repräsentation der Interessen der indigenen Bevölkerung stößt bei den Mitgliedern der kleinen Landgemeinden (comunidades) in der Provinz Velasco überwiegend auf Unverständnis und allgemeines Mißtrauen. Die Ähnlichkeit mit den gewerkschaftsähnlichen Basisorganisationen der Hochlandvölker, die Bewohner des Tieflands oftmals mit einer gewissen Distanz, Abgrenzung oder sogar abschätzig betrachten, wird bei der Namensgebung vermieden. Ein Vertrauen in die Institution der Indígena-Organisation entsteht nur in den Mitgliedsgemeinden der CCISM San Miguels. Dieses Vertrauen in die Institution der Organisation hängt stark mit dem Vertrauen in die Person des langjährigen Vorsitzenden, Don Ramon, zusammen. Der Wandel von personenbezogenem zu eine institutionenbezogenen Vertrauen war später möglich, weil es in der CCISM einen größeren Kreis von Organisationsprotagonisten gab, der mit Don Ramon kooperierte und seine Rolle übernehmen konnte. Die typischen Funktionen und Leistungen von CCISM blieben auch ohne die wichtige charismatische Figur Don Ramons der Organisation erhalten. In der ACISARV San Rafaels gab es zwar eine vertrauensvolle praktische Zusammenarbeit mit den Mitgliedsgemeinden, doch hing diese stark von der Persönlichkeit des Vorsitzenden und den Personen im Vorstand ab. Ein institutionalisiertes Vertrauen braucht auch eine stärker institutionalisierte Organisation. In CIBAPA konnte sich bei den formalen Mitgliedern kein verallgemeinertes Vertrauen in die Organisation herausbilden, da keine nennenswerte Kooperation mit den Mitgliedsgemeinden stattfand. Auch im Fallbeispiel der ACISIV San Ignacios kommt es nicht zur Ausbildung von Vertrauen, da die Kooperation mit den Mitgliedsgemeinden nur sporadisch und allgemein nur schwach ausgeprägt ist. Die Landgemeinden entwickelten so keine Erwartungen an die Organisation. Die wechselnden Vorstände und die in den Vollversammlungen öffentlich gewordenen Konflikte verstießen gegen lokale ethische Standards und bestärkten eher das Misstrauen und die Skepsis der Bevölkerung in den Mitgliedsgemeinden gegenüber dieser Organisation.
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7.2 C OMITÉS
DE
V IGILANCIA ZUR B ÜRGERBETEILIGUNG
In den folgenden Abschnitten geht es um einen weiteren Typus lokaler Organisation in der Provinz Velasco dessen Ziele und Strategien – wie schon die Indígena-Organisationen – politischen Charakter haben. Anders als die Indígena-Organisationen, die aus einer sozialen Bewegung entstanden, waren die kommunalen Bürgeraufsichtskomitees (Comités de Vigilancia) aber im Rahmen des Gesetzes zur Partizipation der Öffentlichkeit vorgeschriebene Organisationen, deren Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft bis heute strittig ist. Gegenüber den lokalen sozialen Organisationen der Zivilgesellschaft, die auf selbstorganisierten Gründungen basieren und eigens gesetzte Zielen verfolgen, bewegen sich die Comités de Vigilancia in einem engen, bereits fest definierten Rahmen. Gemäß Kommunalverfassung sollten aber auch ihnen Akteure der Zivillgesellschaft eingebunden werden. Die Comités de Vigilancia hatten die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe, die berechtigten Interessen der Bevölkerung zu ermitteln und in die Planung und Überprüfung öffentlicher Investitionen und Leistungen auf kommunaler Ebene einzubringen. Ihre offizielle Aufgabe besteht also in der Vertretung der Interessen aller Bürger einzelner Siedlungsbereiche (urbane Ortsteile oder ländliche comunidades). Für einen Vergleich lokaler Organisationspraxis sind die kommunalen Bürgeraufsichtskomitees deshalb interessant, weil man daran verstehen kann, welche Besonderheiten und Charakteristika erst jüngst eingerichtete lokale Organisationen ausbilden, wenn sie einen gemeinsamen gesetzlich institutionalisierten Rahmen haben, der auch ihre allgemeine Zielsetzungen bzw. Organisationszwecke definiert. Der Rahmen, in dem sie agieren können, ist somit ungleich enger, als der unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen, die ihre Ziele und Organisationzwecke in weiterem Maße selbst bestimmen konnten. Neben diesen augenfälligen Unterschied werden wir bei der genaueren Betrachtung der Bürgerkommittees aber auch auf Aspekte stoßen, denen wir bei der Analyse der auf Selbsthilfe beruhenden lokalen Organisationen schon begegnet sind: In der Praxis der drei Comités de Vigilancia gibt es deutliche Unterschiede, die beeinflusst sind durch handelnde Personen innerhalb und außerhalb der Bürgeraufsichtskommittees, durch den jeweiligen lokalen Kontext und durch die Interpretationen der gesetzlichen Normen durch die Organisationsmitglieder selbst. Mit Hilfe der Fallbeispiele der drei Comités de Vigilancia der Provinz Velasco kann somit ein weiterer Aspekt zum Verständnis der Einflussfaktoren auf die Praxis lokaler Organisationen untersucht werden: die Interpretationsspielräume, Handlungspraxis und varriierende Funktionsweise lokaler Organisationen innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Auftrages oder Rahmens. Die kommunalen Bürgeraufsichtskomitees (Comités de Vigilancia) sind im Kontext der umfassenden Reformgesetze zur Staatsmodernisierung und Dezentralisierung in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts konzipiert worden. Die Participación Popular (Gesetz zur Volksbeteiligung) war in der Regierung Sanchez de Lozada
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ein wichtiges politisches Projekt. Es stellt nach der erfolgten Wirtschaftsliberalisierung und der Reform der Wahlbehörde den dritten Schritt der von der MNR Regierung gelenkten umfassenden politischen Liberalisierung dar. Die Initiative ging im Wesentlichen von der Regierung aus. Die Umsetzung der Reformen erfolgte in der Fläche des Landes auf der Ebene der Kommunen bis zum Ende der zweiten Amtsperiode Lozadas (1997). Sowohl das Konzept, als auch die Umsetzung von Regierungsseite folgten einem technokratischen und einem auf die Verfahrensweise ausgerichteten Ansatz (vgl. JOST 2003: 339 ff). Die Reformen sollten die Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung und die Beteiligungschancen der Bürger auf der lokaler Ebene ermöglichen. Der bolivianische Soziologe und Dezentralisierungsforscher JOSÉ BLANES erkennt in der Umsetzung der Participación Popular ein politisches Handlungsmuster Boliviens mit Konsequenzen für die Verfasstheit lokaler politischer Organisationen. Er verweist auf die Ähnlichkeiten zum Prozess der Umsetzung der nationalen Revolution von 1952 in Bolivien. Denn auch mit der Participación Popular werden (quasi) zivilgesellschaftliche Organisationen auf Anweisung der Regierung gegründet, wie das System der Bauerngewerkschaften (sindicatos campesinos) in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. 4.3.3). Beide Organisationstypen sollten in ganz Bolivien entstehen und die geografisch wie sozio-kulturell marginalen Teile der Bevölkerung, stärker in die politischen Prozesse einschließen. Die hierarchische Ordnungslogik der gewerkschaftlichen Organisationsform wird in der participación popular durch eine dezentrale Ordnungslogik ersetzt. „Con la LPP el Estado inicia, al igual que lo hizo en la revolución del 52 con la sindicalización del agro, una nueva territorialización de la sociedad civil, sustituyendo la estructura piramidal de las organizaciones campesinas provinciales y cantonales por otra, más plana (,) la de la sección de provincia, que ahora es el municipio. (...) Este proceso se caracterizó por su forma elitista, su rapidez y verticalismo en la implementación de procesos sumamente detallados en la constitución y gestión. Todo lo que ocurre sucede a partir desde el gobierno nacional, incluido Comité de Vigilancia (CV) que debería representar la iniciativa más pura de la sociedad civil.“32 (BLANES 2003: 11)
32 „Mittels der Volksbeteiligung initiiert der Staat – wie schon in der Nationalen Revolution von 1952 mit der Schaffung flächendeckender Gewerkschaftsorganisationen im ländlichen Raumes – eine neue territoriale Ordnung der Zivilgesellschaft, die die pyramidale Struktur der Bauernorganisationen der Provinzen und Kantone durch eine flachere, jetzt auf Ebene der Sektionen, heute Kommunen angesiedelte Struktur ersetzt. (…) Dieser Prozess zeichnet sich durch seine von Eliten und hierarchisch gesteuerte Form und Schnelligkeit aus. Alles was passiert, geschieht auf Veranlassung der nationalen Regierung, die Comités de Vigilancia eingeschlossen, die eigentlich eine Initiative der aller reinsten Zivilgesellschaft repräsentieren sollten.“ (Übersetzung: G.B.)
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Die staatlich reglementierten Comités de Vigilancia sind den gesetzlich vorgeschriebenen und territorial definierten Organisaziones Terrotoriales de Basis (OTB, dt. territoriale Basisorganisationen) zugeordnet. Mit dem Regierungswechsel von 1997 war die Institutionalisierung der Comités de Vigilancia noch nicht abgeschlossen. Die der MNR-Regierung von Präsident Sanchez de Lozada nachfolgende rechtskonservative ADN-Regierung (Acción Democratica Nacional) unter der Präsidentschaft des Ex-Diktators Hugo Banzer vernachlässigte die weitere Umsetzung der Participación Popular, doch konnte sie die flächendeckend umgesetzten Reformmaßnahmen auch nicht mehr rückgängig machen, weil die erweiterten Kompetenzen der Kommunalregierungen über Budgets und lokale Entwicklungsplanung inzwischen in der Bevölkerung eine gewisse, wenn auch nicht ungeteilte Zustimmung fand und von Seiten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit eine durchwegs starke Unterstützung gefunden hatten (vgl. BLANES 2003, MAYDANA 2004). Die Comités de Vigilancia (CV) sind vielleicht die am meisten kritisierten Institutionen der Participación Popular (vgl. MAYDANA 2004, ALBÓ & QUISPE 2004, LEMA 2001,ALBÓ 1999, ARDAYA SALINAS 1998, DED/ARTEAGA 2004a, Red PCCS/BETANCOURT 2004). Eine besondere Schwierigkeit ist ihr ambivalenter institutioneller Charakter, d.h. ihre unklare Position zwischen zivilgesellschaftlicher und staatlicher Sphäre. Im Artikel 150 des Kommunalverfassungsgesetzes33 werden die CV als zivilgesellschaftliche Organisationsform bezeichnet. In dieser sollen zivilgesellschaftliche Akteure in den Kommunen bestimmte Kompetenzen, Rechte und Pflichten der Beteiligung an Entscheidungen und der Überwachung ihrer Durchführung wahrnehmen. Als eine von Staat und Regierung geschaffene und reglementierte Organisationsform ist der zivilgesellschaftliche Charakter der Comités de Vigilancia – d.h. die Unabhängigkeit von staatlichen Instanzen bzw. die Abgrenzung zu kommunalen Einrichtungen – grundsätzlich zweifelhaft. In der faktischen sozialen Ordnung der Kommunen ist der zivilgesellschaftliche Charakter weder sichergestellt noch institutionalisiert. Die Bürger nehmen die Vorstandsmitglieder des Comités de Vigilancia oft als „.ayudantes del alcalde“34 („Assistenten des Bürgermeisters“) wahr. Die Comités de Vigilancia verfügten über ein Budget aus dem nationalen Fondo de Control Social, das jedoch über die Verwaltung der Landkreise (und Städte) an sie weitergeleitet werden musste. Die institutionell verankerte Ambivalenz schlug sich in der stark variierenden Organisationspraxis vieler Comités de Vigilancia und ihrer Vorstandsmitglieder nieder.
33 Das Kommunalverfassungsgesetz wurde inzwischen durch die neue Verfassung (2009) und das neue Rahmengesetz zu den Autonomías (2011) ersetzt, die Abschnitte zu den Comités de Vigilancia bleiben erhalten. 34 Solche oder ähnliche Formulierungen tauchen oft in informellen Gesprächen mit Bürgern und NRO-Mitarbeitern über die reale Praxis der CV auf.
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Im Jahr 2013 wurden die Bürgeraufsichtskomittees (Comités de Vigilancia) durch das Gesetz 341 vom 05.02.2013, Art. 42, abgeschafft. Dieses Gesetz erfüllt die Bestimmungen der Verfassung zur „Neugründung Boliviens“ von 2010. Es erkennt die CV nicht mehr als die in der Verfassung genannten „actores sociales“ an und nimmt ihnen das Recht, Finanzmittel aus den für Bürgerbeteiligung bereitgestellten staatlichen Fonds zu erhalten (Art. 241 und Art. 242).35 7.2.1 Entwicklung und Praxis der drei Comités de Vigilancia von Velasco Obwohl die gesetzlichen Vorgaben, Ziele, Funktionen und Aufgaben für alle Comités de Vigilancia gleich sind, zeigen sich in der Praxis z.T. deutliche Unter-schiede zwischen den drei untersuchten Comités de Vigilancia (CV). Jede dieser drei Organisationen interpretierte die gesetzlichen Vorgaben anders; unter-schiedliche Kontexte und Akteure, Vorerfahrungen und externe Einflüsse spielten hier eine Rolle und führten letztlich zu einer eigensinnigen Ausgestaltung der Comités de Vigilancia mit jeweils sehr unterschiedlichem Rollenverständnis. Das Verständnis und die konkrete Ausführung der Aufgaben des CV sind in den drei Landkreisen also vom jeweiligen lokalen Kontext beeinflusst. Da es der Autorin dieser Untersuchung nur möglich war, teilnehmende Beobachtungen der faktischen Praxis in San Ignacio durchzuführen, wurden zwei Studien von WALTER ARTEAGA für den DED (vgl. DED 2004a) und CRISTINA BETANCOURT für Red PCCS (vgl. Red PCCS 2004) mit Blick auf unsere Fragestellung ausgewertet, die die Praxis aller drei Comités de Vigilancia untersucht haben. In der nun folgenen Darstellung der Praxis der Comités de Vigilancia stehen die handelnden Protagonisten und ihre Deutungsmuster und Interpretationen im Mittelpunkt. Sie sind für die lokal eigensinnige Ausformung der Praxis besonders relevant. Bürgeraufsichtskomitee (Comité de Vigilancia) von San Ignacio Für die Praxis der Comités de Vigilancia ist der Vorsitzende des Landkreisrates und spätere Bürgermeister von San Ignacio, Erwin Mendez, von hoher Bedeutung. Er steht für ein Verhältnis zwischen Regierung, Verwaltung und CV, das dem Leitbild einer gemeinsamen Verantwortung (corresponsabilidad) für die Entwicklung der Kommune folgt (Interview mit Erwin Mendez). Erwin Mendez ist Agraringenieur und war vor vielen Jahren im PLADERVE Projekt der GTZ angestellt. Als Bürgermeister engagiert er sich auch für die Förderung der Organisation der Ceramistas in der Gemeinde San Rafaelito (vgl. Kapitel 5.2). Er gehört keiner der eingesessenen
35 Gazeta Oficial del Estado Plurinacional de Bolivia vom 21.02.2013 (URL