Der blinde Fleck: Kognitive Fehler in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen 9783110323368, 9783110322897

Wir machen immer wieder Fehler, auch in der Wissenschaft. Diese Arbeit zeigt, daß Wissenschaftler bestimmte Denkfehler k

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German Pages 332 [348] Year 2007

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Table of contents :
A Motivation und Ziele
1 Wahl des Themas
2 Stand der Forschung
2.1 Evolutionäre Erkenntnistheorie
2.2 Evolutionäre Psychologie
2.3 Wissenschaftstheorie
3 Entwurf einer evolutiv-kognitivenWissenschaftstheorie
4 Methodik, Ziele und Grenzen der Untersuchung
5 Aufbau
6 Skizze der Argumentation
B Evolution und Entwicklung der Kognition
1 Stammesgeschichte des Menschen
1.1 Belege für Evolution
1.2 Morphologie
1.2.1 Körper und Gehirn
1.2.2 Interpretation der paläontologischen Daten
1.3 Evolution des Verhaltens
1.3.1 Ursprung und Kontinuität des Verhaltens
1.3.2 Spezifität des Verhaltens
1.3.3 Erblichkeit von Verhalten und kognitiven Fähigkeiten
1.3.4 Anpassungsmängel
1.4 Aufbau des Gehirns
1.5 Schlussfolgerungen aus der Stammesgeschichte
2 Ontogenese
2.1 Vorbemerkungen
2.2 Phasen der Kindesentwicklung
2.2.1 Säugling (0 – 2 Jahre)
2.2.2 Kleinkind (2 – 6 Jahre)
2.2.3 Schulkind (6 – 11 Jahre)
2.2.4 Jugendlicher (älter als 11 Jahre)
2.3 Intuitive Physik, intuitive Biologie und Kausalitätsverständnis
2.4 Fehler bei Kindern
2.5 Schlussfolgerungen aus der Ontogenese
C Methodische Grundlagen der Fehleranalyse
1 Methodik der Fehleranalyse
1.1 Definition des Fehlerbegriffs
1.1.1 Kritik an der bisherigen Fehlerforschung
1.1.2 Was lernen wir aus den Mängeln der Fehlerforschung?
1.1.3 Abgrenzung vom philosophischen Irrtumsbegriff
1.2 Einteilung der Fehler
1.2.1 Auswahlkriterien der behandelten Fehler
2 Methodik der evolutionären Erklärung
2.1 Problematik und Rechtfertigung evolutionärer Erklärungen
2.1.1 Kritik an Evolutionärer Psychologie und Evolutionärer Erkenntnistheorie
2.1.2 Grundlagen eines evolutiv-kognitiven Ansatzes
2.1.3 Anpassung und Funktion
2.2 Vorteile einer evolutionären Erklärung
2.3 Voraussagen einer evolutionären Erklärung
3 Wissenschaft und Kognitions­psychologie
3.1 Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen
3.1.1 Wissenschaft als Problemlösen
3.1.2 Unsere Konzeption von Wissenschaft
3.2 Fehleranalyse als methodisches Hilfsmittel für die Wissenschaft
4 Kritik und Einwände gegen evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie
4.1 Liegt die Fehleranalyse außerhalb der Wissenschaftstheorie?
4.2 Sind Wissenschaft und „normales“ Denken vergleichbar?
4.3 Problematik des Fehlerbegriffs in der Wissenschaftsgeschichte
4.3.1 Problematik der Vorläufigkeit
4.3.2 Problematik der Post-hoc-Analyse
4.3.3 Problematik der Abgrenzung
5 Nicht-evolutionäre Fehlerursachen
5.1 Alternative Erklärungen
5.1.1 Historische Interpretation
5.1.2 Paradigmatische Interpretation
5.1.3 Wissenssoziologische Interpretation
5.2 Abgrenzung gegenüber Betrug
6 Häufigkeit von Fehlern
7 Wissenschaftskriterien und ihre Umsetzung
7.1 Wissenschaftliche Normen
7.2 Mechanismen zur Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur
7.3 Gegen welche Kriterien verstoßen die Fehler?
7.4 Anwendung der Fehleranalyse auf die eigene Untersuchung
8 Fazit der methodischen Analyse
D Fehlerfamilie 1: Handlungsfähigkeit durch Kohärenz
1 Hartnäckige erste Hypothese und Beharren auf Überzeugungen
1.1 Charakterisierung
1.2 Empirische Untersuchungen
1.3 Konventionelle Erklärungen
1.4 Bewertung und Kritik
2 Fehlendes Bemühen um Falsifikation
2.1 Charakterisierung
2.2 Empirische Untersuchungen
2.3 Konventionelle Erklärungen
2.4 Bewertung und Kritik
3 Ignorieren widersprechender Belege und Blindheit gegenüber eigenen Fehlern
3.1 Charakterisierung
3.2 Empirische Untersuchungen
3.2.1 Blindheit gegenüber eigenen Fehlern
3.3 Konventionelle Erklärungen
3.4 Bewertung und Kritik
4 Verfälschende Erwartungshaltung
4.1 Charakterisierung
4.2 Empirische Untersuchungen
4.3 Konventionelle Erklärungen
4.4 Bewertung und Kritik
5 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 1
5.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler
5.1.1 Strategie des selektiven Hypothesentestens
5.1.2 Modell der Hypothesenkonstruktion
5.2 Treffen unsere Voraussagen zu?
5.3 Anpassung und Funktion
6 Fallstudie 1: Kalte Fusion
6.1 Geschichte
6.2 Fehler
6.3 Interpretation
7 Fallstudie 2: Schädelmessung und Intelligenz
7.1 Geschichtliche Darstellung von Mortons Schädelmessungen
7.2 Mortons Fehler bei der Schädelmessung
7.3 Geschichtliche Darstellung von Brocas Schädelmessungen
7.4 Brocas Fehler bei der Schädelmessung
7.5 Geschichtliche Darstellung der IQ-Messung
7.6 Fehler bei den IQ-Messungen
7.7 Darstellung heutiger Schädel- und IQ-Messungen
7.8 Fehler heutiger Schädel- und IQ-Messungen
7.8.1 „Paradoxien“ der Schädelmessung
7.8.2 Scheuklappendenken
E Fehlerfamilie 2: Auf Ordnungs­suche – Vorstrukturierung der Welt und Regelmäßigkeitserwartung
1 Räumliche Regelmäßigkeiten und (Vor)-Strukturierung der Welt
1.1 Charakterisierung
1.2 Empirische Untersuchungen
1.3 Konventionelle Erklärungen
1.4 Bewertung und Kritik
2 Zeitliche Regelmäßigkeiten (Kausalität und Korrelation)
2.1 Charakterisierung
2.2 Empirische Untersuchungen
2.2.1 Übertriebene Kausalitätsvermutung
2.2.2 Ähnlichkeitsdenken
2.2.3 Illusionäre Korrelationen
2.3 Konventionelle Erklärungen
2.4 Bewertung und Kritik
3 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 2
3.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler
3.2 Treffen unsere Voraussagen zu?
3.3 Anpassung und Funktion
4 Fallstudie 3: Mangelkrankheiten
4.1 Skorbut
4.1.1 Geschichte
4.1.2 Interpretation
4.2 Beriberi
4.2.1 Geschichte
4.2.2 Historische Interpretation
4.2.3 Evolutionäre Interpretation der Schwierigkeiten
4.3 Rachitis
4.3.1 Geschichte
4.3.2 Interpretation
4.4 Pellagra
4.4.1 Geschichte
4.4.2 Goldbergers Entdeckung der Pellagra-Ursachen
4.4.3 Historische Interpretation
4.4.4 Evolutionäre Interpretation der Schwierigkeiten
4.5 Gelbfieber: Fallbeispiel einer nicht-kognitiven Fehlerinterpretation
F Fehlerfamilie 3: Flexibilität und Informationsgewinn in unbekannter Umgebung
1 Rahmeneffekt
1.1 Charakterisierung
1.2 Empirische Ergebnisse
1.3 Konventionelle Erklärungen
1.4 Bewertung und Kritik
2 Ankereffekt
2.1 Charakterisierung
2.2 Empirische Ergebnisse
2.3 Konventionelle Erklärungen
2.4 Bewertung und Kritik
3 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 3
3.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler
3.2 Treffen unsere Voraussagen zu?
3.3 Anpassung und Funktion
4 Fallstudie 4: Der Rahmeneffekt in der Medizin
G Fehlerfamilie 4: Schnelligkeit und Einfachheit durch Reduktion
1 Umgang mit Komplexität
1.1 Charakterisierung
1.2 Empirische Untersuchungen
1.2.1 Übervereinfachung komplexer Systeme
1.2.2 Schwächen im Umgang mit Zeit
1.2.3 Methodische Schwächen
1.3 Konventionelle Erklärungen
1.4 Bewertung und Kritik
2 Verwendung von Heuristiken
2.1 Charakterisierung
2.2 Empirische Untersuchungen
2.2.1 Überlegenheit lexikographischer Heuristiken
2.2.2 Welche Heuristiken benutzen Menschen?
2.2.3 Fehler durch Heuristiken
2.3 Konventionelle Erklärungen
2.4 Bewertung und Kritik
3 Evolutionäre Erklärung der Fehler­familie 4
3.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler
3.2 Treffen unsere Voraussagen zu?
3.3 Anpassung und Funktion
4 Fallstudie 5: Neobiota und Ökosysteme
4.1 Die Einführung neuer Arten in bestehende Ökosysteme
4.1.1 Beispiel 1: Einführung von Schnecken
4.1.2 Beispiel 2: Einführung des Nilbarsches
4.1.3 Beispiel 3: Weitere Einführungen
4.1.4 Fazit
4.2 Management komplexer Systeme
4.2.1 Beispiel 1: Blue Mountains – Ausgangslage und Schwierigkeiten
4.2.2 Planung erzielt das Gegenteil der erwünschten Effekte
4.2.3 Aktuelle Planungsfehler
4.2.4 Beispiel 2: Yellowstone Nationalpark
H Diskussion der Ergebnisse
1 Zusammenfassung
2 Argumentationslinie
3 Kritikpunkte und Gegenargumente
3.1 Kritikpunkte
3.2 Argumente für eine evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie
4 Leistung der Untersuchung
5 Ausblick
I Literaturverzeichnis
J Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
K Sachverzeichnis
L Personenverzeichnis
M Anhang
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Der blinde Fleck: Kognitive Fehler in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen
 9783110323368, 9783110322897

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Ulrich Frey Der blinde Fleck Kognitive Fehler in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen

EPISTEMISCHE STUDIEN Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von / Edited by Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Albert Newen Band 13 / Volume 13

Ulrich Frey

Der blinde Fleck Kognitive Fehler in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen

ontos verlag Frankfurt I Paris I Ebikon I Lancaster I New Brunswick

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2007 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-938793-51-0 2007 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by buch bücher dd ag

III

Danksagung Zunächst vielen herzlichen Dank an meinen Doktorvater, Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer. Ich denke, einem guten Lehrer schaut man nicht ab, was er macht, sondern wie er es macht. Für mich waren es vor allem zwei Dinge. Erstens, gute und wichtige wissenschaftliche Probleme zu finden und sie so unvoreingenommen wie möglich zu analysieren. Zweitens, ständiges Bemühen um größtmögliche Klarheit im Denken und das Bemühen, Gegenargumente wirklich ernst zu nehmen. Auch wenn ich nach meiner Fehleranalyse weiß, dass es praktisch unmöglich ist, unvoreingenommen zu sein und Gegenargumente zu beachten: Wir sind die einzigen Ausnahmen! Kurz und gut: Ich hätte mir keinen besseren Doktorvater wünschen können. Durch deine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit war die Promotion einfach eine tolle Zeit. Vielen Dank Gerhard! Ich bin froh, dass ich einen ausgewiesenen Fehlerexperten, wie Bertold Schweitzer es im besten Sinne des Wortes ist, als Gutachter gewinnen konnte. Besonders dankbar bin ich für seine wertvollen Hilfestellungen. Danke Bert! Besonderer Dank geht an meine fantastischen Helfer Johannes und Sonja. Vielen Dank auch an Hannes, Wolfgang, Thomas, Anne, Franziska, Bettina und alle anderen Helfer. Die Unterstützung und Offenheit meiner Eltern gegenüber neuen Ideen haben mich die letzten Jahre begleitet. Danke. I mean to say what! Ulrich Frey

V

Inhaltsverzeichnis A Motivation und Ziele........................................................................... 7 1 Wahl des Themas......................................................................................... 7 2 Stand der Forschung.................................................................................. 10 2.1 Evolutionäre Erkenntnistheorie........................................................ 10 2.2 Evolutionäre Psychologie.................................................................. 12 2.3 Wissenschaftstheorie..........................................................................13 3 Entwurf einer evolutiv-kognitiven Wissenschaftstheorie..................... 14 4 Methodik, Ziele und Grenzen der Untersuchung................................... 17 5 Aufbau.........................................................................................................18 6 Skizze der Argumentation.........................................................................19

B Evolution und Entwicklung der Kognition................................... 21 1 Stammesgeschichte des Menschen...........................................................21 1.1 Belege für Evolution.......................................................................... 21 1.2 Morphologie........................................................................................21 1.2.1 Körper und Gehirn............................................................................ 22 1.2.2 Interpretation der paläontologischen Daten................................... 23

1.3 Evolution des Verhaltens...................................................................26 1.3.1 Ursprung und Kontinuität des Verhaltens...................................... 26 1.3.2 Spezifität des Verhaltens................................................................. 28 1.3.3 Erblichkeit von Verhalten und kognitiven Fähigkeiten................ 29 1.3.4 Anpassungsmängel........................................................................... 32

1.4 Aufbau des Gehirns............................................................................ 35 1.5 Schlussfolgerungen aus der Stammesgeschichte............................ 36 2 Ontogenese................................................................................................. 37 2.1 Vorbemerkungen.................................................................................37 2.2 Phasen der Kindesentwicklung......................................................... 39 2.2.1 Säugling (0 – 2 Jahre)...................................................................... 39 2.2.2 Kleinkind (2 – 6 Jahre)..................................................................... 40 2.2.3 Schulkind (6 – 11 Jahre).................................................................. 42 2.2.4 Jugendlicher (älter als 11 Jahre)...................................................... 42

VI

2.3 Intuitive Physik, intuitive Biologie und Kausalitätsverständnis...................................................................... 43 2.4 Fehler bei Kindern..............................................................................44 2.5 Schlussfolgerungen aus der Ontogenese..........................................47

C Methodische Grundlagen der Fehleranalyse................................ 49 1 Methodik der Fehleranalyse..................................................................... 49 1.1 Definition des Fehlerbegriffs............................................................ 49 1.1.1 Kritik an der bisherigen Fehlerforschung....................................... 50 1.1.2 Was lernen wir aus den Mängeln der Fehlerforschung?............... 52 1.1.3 Abgrenzung vom philosophischen Irrtumsbegriff......................... 54

1.2 Einteilung der Fehler..........................................................................57 1.2.1 Auswahlkriterien der behandelten Fehler....................................... 59

2 Methodik der evolutionären Erklärung................................................... 60 2.1 Problematik und Rechtfertigung evolutionärer Erklärungen........ 60 2.1.1 Kritik an Evolutionärer Psychologie und Evolutionärer Erkenntnistheorie..................................................... 60 2.1.2 Grundlagen eines evolutiv-kognitiven Ansatzes............................ 62 2.1.3 Anpassung und Funktion.................................................................. 64

2.2 Vorteile einer evolutionären Erklärung........................................... 66 2.3 Voraussagen einer evolutionären Erklärung................................... 67 3 Wissenschaft und Kognitionspsychologie.............................................. 70 3.1 Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen..................................70 3.1.1 Wissenschaft als Problemlösen....................................................... 70 3.1.2 Unsere Konzeption von Wissenschaft............................................ 72

3.2 Fehleranalyse als methodisches Hilfsmittel für die Wissenschaft................................................................................. 73 4 Kritik und Einwände gegen evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie................................................................................. 74 4.1 Liegt die Fehleranalyse außerhalb der Wissenschaftstheorie?........................................................................74 4.2 Sind Wissenschaft und „normales“ Denken vergleichbar?............75

VII

4.3 Problematik des Fehlerbegriffs in der Wissenschaftsgeschichte.. 77 4.3.1 Problematik der Vorläufigkeit......................................................... 77 4.3.2 Problematik der Post-hoc-Analyse.................................................. 78 4.3.3 Problematik der Abgrenzung........................................................... 79

5 Nicht-evolutionäre Fehlerursachen..........................................................80 5.1 Alternative Erklärungen.....................................................................81 5.1.1 Historische Interpretation................................................................ 81 5.1.2 Paradigmatische Interpretation........................................................ 82 5.1.3 Wissenssoziologische Interpretation............................................... 83

5.2 Abgrenzung gegenüber Betrug......................................................... 84 6 Häufigkeit von Fehlern............................................................................. 85 7 Wissenschaftskriterien und ihre Umsetzung...........................................86 7.1 Wissenschaftliche Normen................................................................ 87 7.2 Mechanismen zur Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur............89 7.3 Gegen welche Kriterien verstoßen die Fehler?............................... 91 7.4 Anwendung der Fehleranalyse auf die eigene Untersuchung........94 8 Fazit der methodischen Analyse.............................................................. 96

D Fehlerfamilie 1: Handlungsfähigkeit durch Kohärenz............... 99 1 Hartnäckige erste Hypothese und Beharren auf Überzeugungen......... 99 1.1 Charakterisierung............................................................................... 99 1.2 Empirische Untersuchungen............................................................100 1.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 102 1.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 103 2 Fehlendes Bemühen um Falsifikation................................................... 103 2.1 Charakterisierung............................................................................. 103 2.2 Empirische Untersuchungen............................................................104 2.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 107 2.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 110 3 Ignorieren widersprechender Belege und Blindheit gegenüber eigenen Fehlern....................................................... 111 3.1 Charakterisierung............................................................................. 111 3.2 Empirische Untersuchungen............................................................112 3.2.1 Blindheit gegenüber eigenen Fehlern........................................... 114

VIII

3.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 115 3.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 115 4 Verfälschende Erwartungshaltung......................................................... 116 4.1 Charakterisierung............................................................................. 116 4.2 Empirische Untersuchungen............................................................117 4.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 118 4.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 119 5 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 1.........................................120 5.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler............................................ 120 5.1.1 Strategie des selektiven Hypothesentestens................................. 120 5.1.2 Modell der Hypothesenkonstruktion............................................. 122

5.2 Treffen unsere Voraussagen zu?.....................................................126 5.3 Anpassung und Funktion................................................................. 127 6 Fallstudie 1: Kalte Fusion.......................................................................129 6.1 Geschichte......................................................................................... 129 6.2 Fehler................................................................................................. 131 6.3 Interpretation.....................................................................................134 7 Fallstudie 2: Schädelmessung und Intelligenz..................................... 136 7.1 Geschichtliche Darstellung von Mortons Schädelmessungen.....137 7.2 Mortons Fehler bei der Schädelmessung....................................... 139 7.3 Geschichtliche Darstellung von Brocas Schädelmessungen....... 140 7.4 Brocas Fehler bei der Schädelmessung..........................................142 7.5 Geschichtliche Darstellung der IQ-Messung................................ 144 7.6 Fehler bei den IQ-Messungen......................................................... 147 7.7 Darstellung heutiger Schädel- und IQ-Messungen.......................148 7.8 Fehler heutiger Schädel- und IQ-Messungen................................151 7.8.1 „Paradoxien“ der Schädelmessung................................................ 152 7.8.2 Scheuklappendenken...................................................................... 154

E Fehlerfamilie 2: Auf Ordnungssuche – Vorstrukturierung der Welt und Regelmäßigkeitserwartung................................... 157 1 Räumliche Regelmäßigkeiten und (Vor)-Strukturierung der Welt.... 157 1.1 Charakterisierung............................................................................. 157

IX

1.2 Empirische Untersuchungen............................................................159 1.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 161 1.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 162 2 Zeitliche Regelmäßigkeiten (Kausalität und Korrelation)..................164 2.1 Charakterisierung............................................................................. 164 2.2 Empirische Untersuchungen............................................................165 2.2.1 Übertriebene Kausalitätsvermutung.............................................. 165 2.2.2 Ähnlichkeitsdenken........................................................................ 166 2.2.3 Illusionäre Korrelationen............................................................... 168

2.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 169 2.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 171 3 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 2.........................................171 3.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler ........................................... 171 3.2 Treffen unsere Voraussagen zu?.....................................................175 3.3 Anpassung und Funktion................................................................. 176 4 Fallstudie 3: Mangelkrankheiten........................................................... 178 4.1 Skorbut.............................................................................................. 179 4.1.1 Geschichte....................................................................................... 179 4.1.2 Interpretation................................................................................... 181

4.2 Beriberi.............................................................................................. 184 4.2.1 Geschichte....................................................................................... 184 4.2.2 Historische Interpretation.............................................................. 188 4.2.3 Evolutionäre Interpretation der Schwierigkeiten......................... 189

4.3 Rachitis.............................................................................................. 191 4.3.1 Geschichte....................................................................................... 191 4.3.2 Interpretation................................................................................... 192

4.4 Pellagra.............................................................................................. 193 4.4.1 Geschichte....................................................................................... 193 4.4.2 Goldbergers Entdeckung der Pellagra-Ursachen......................... 196 4.4.3 Historische Interpretation.............................................................. 197 4.4.4 Evolutionäre Interpretation der Schwierigkeiten......................... 199

4.5 Gelbfieber: Fallbeispiel einer nicht-kognitiven Fehlerinterpretation................................................................................ 201

X

F Fehlerfamilie 3: Flexibilität und Informationsgewinn in unbekannter Umgebung............................................................ 203 1 Rahmeneffekt........................................................................................... 203 1.1 Charakterisierung............................................................................. 203 1.2 Empirische Ergebnisse.....................................................................204 1.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 205 1.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 206 2 Ankereffekt...............................................................................................206 2.1 Charakterisierung............................................................................. 206 2.2 Empirische Ergebnisse.....................................................................207 2.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 208 2.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 209 3 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 3.........................................209 3.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler............................................ 209 3.2 Treffen unsere Voraussagen zu?.....................................................212 3.3 Anpassung und Funktion................................................................. 214 4 Fallstudie 4: Der Rahmeneffekt in der Medizin...................................215

G Fehlerfamilie 4: Schnelligkeit und Einfachheit durch Reduktion.............................................................................. 219 1 Umgang mit Komplexität........................................................................219 1.1 Charakterisierung............................................................................. 219 1.2 Empirische Untersuchungen............................................................220 1.2.1 Übervereinfachung komplexer Systeme....................................... 221 1.2.2 Schwächen im Umgang mit Zeit................................................... 223 1.2.3 Methodische Schwächen................................................................ 224

1.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 226 1.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 227 2 Verwendung von Heuristiken.................................................................227 2.1 Charakterisierung............................................................................. 228 2.2 Empirische Untersuchungen............................................................231 2.2.1 Überlegenheit lexikographischer Heuristiken.............................. 231 2.2.2 Welche Heuristiken benutzen Menschen?.................................... 233

XI 2.2.3 Fehler durch Heuristiken............................................................... 234

2.3 Konventionelle Erklärungen........................................................... 235 2.4 Bewertung und Kritik...................................................................... 236 3 Evolutionäre Erklärung der Fehlerfamilie 4.........................................238 3.1 Gesamtbild und Erklärung der Fehler............................................ 238 3.2 Treffen unsere Voraussagen zu?.....................................................240 3.3 Anpassung und Funktion................................................................. 241 4 Fallstudie 5: Neobiota und Ökosysteme............................................... 242 4.1 Die Einführung neuer Arten in bestehende Ökosysteme............. 243 4.1.1 Beispiel 1: Einführung von Schnecken......................................... 244 4.1.2 Beispiel 2: Einführung des Nilbarsches........................................ 246 4.1.3 Beispiel 3: Weitere Einführungen................................................. 248 4.1.4 Fazit................................................................................................. 251

4.2 Management komplexer Systeme................................................... 252 4.2.1 Beispiel 1: Blue Mountains – Ausgangslage und Schwierigkeiten........................................................ 252 4.2.2 Planung erzielt das Gegenteil der erwünschten Effekte..............256 4.2.3 Aktuelle Planungsfehler................................................................. 259 4.2.4 Beispiel 2: Yellowstone Nationalpark.......................................... 261

H Diskussion der Ergebnisse............................................................. 263 1 Zusammenfassung....................................................................................263 2 Argumentationslinie................................................................................ 263 3 Kritikpunkte und Gegenargumente........................................................266 3.1 Kritikpunkte...................................................................................... 266 3.2 Argumente für eine evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie....271 4 Leistung der Untersuchung.....................................................................274 5 Ausblick.................................................................................................... 276

I Literaturverzeichnis......................................................................... 279 J Abbildungs- und Tabellenverzeichnis........................................... 304 K Sachverzeichnis................................................................................ 305 L Personenverzeichnis........................................................................ 319 M Anhang.............................................................................................. 327

1

Einleitung Jeder macht Fehler – auch Wissenschaftler. Unter den vielen Fehlern ist eine Gruppe von Fehlern, die sich auf evolutionsbedingte Denkmuster zurückführen lässt. Diese kognitiven Fehler sind häufig, sie sind besonders schwer zu bemerken, und sie sind kaum zu korrigieren. Ziel der vorliegenden wissenschaftstheoretischen Untersuchung ist es, solche systematisch vorkommenden kognitiven Fehler in der Wissenschaft nachzuweisen. Dass und wie kognitive Stärken und Schwächen Einfluss auf die wissenschaftliche Tätigkeit nehmen, ist in der Wissenschaftstheorie ein bislang vernachlässigtes Gebiet. Historische oder soziale Einflussfaktoren sind weitaus besser untersucht, müssen aber durch die kognitive Dimension ergänzt werden. Ein Beispiel für einen der vielen kognitiven Fehler ist das fehlende Bemühen um Falsifikation und die oft damit verbundene Bestätigungstendenz. Das führt zu dem Phänomen, dass wissenschaftlich bereits bestehende Hypothesen und Theorien äußerst ungern aufgegeben werden, auch wenn vieles oder fast alles gegen sie spricht. Unsere Ausgangshypothese für das Zustandekommen der Fehler lautet: Menschliches Denken unterliegt als biologisches Phänomen der Evolution und ist in vielen Bereichen an die Problematik unserer Jäger und Sammler-Vorfahren angepasst. Moderne Wissenschaft beschäftigt sich mit ganz anderen Problemen, so dass Fehler und Diskrepanzen auftreten: auf solche Aufgaben und Probleme sind viele dieser Fähigkeiten einfach nicht zugeschnitten. Anpassung und Besonderheiten unserer kognitiven Fähigkeiten werden im Kapitel zur Stammesgeschichte untersucht (B 1); die Entwicklung, die Stärken und Schwächen im Kapitel zur Kindesentwicklung (B 2). Der Nachweis dieser Fehler erfolgt – und das ist wissenschaftstheoretisch bisher kaum geschehen – über einen empirischen Zugang. Dazu werden bekannte Fehler aus der empirischen Kognitionspsychologie mit Fehlern aus wissenschaftsgeschichtlichen Fallstudien verglichen. Da kognitive Fehler relativ spezifisch sind, kann man bei Strukturgleichheit davon ausgehen, dass es sich um dieselben Schwächen handelt. Ein Methodikteil rechtfertigt diesen Schritt, behandelt mögliche Einwände und grenzt das Verfahren gegen andere Ansätze ab (C).

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Die Vorgehensweise ist im Einzelnen: 1. Nachweis typischer Fehler anhand experimentalpsychologischer Literatur (D 1.2-D 4.2, E 1.2, E 2.2, F 1.2, F 2.2, G 1.2, G 2.2) 2. Klassifizierung dieser Fehler in vier Fehlerfamilien (D, E, F, G) 3. Erklärung der Fehler über eine evolutionäre Interpretation (D 5, E 3, F 3, G 3) 4. Nachweis der Bedeutung kognitionspsychologischer Fehler für die Wissenschaft durch wissenschaftshistorische Fallstudien (D 6, D 7, E 4, F 4, G 4) 5. Entwurf einer evolutiv-kognitiv orientierten Wissenschaftstheorie (A 3, H 3.2) Ein besonders drastisches und aktuelles Beispiel für solche Fehler kommt aus der Ökologie. Menschen führen bis heute neue Arten in bestehende Ökosysteme ein – mit verheerenden Auswirkungen. Ökosysteme sind Paradebeispiele für komplexe Systeme und es ist gut erforscht, mit welchen – oft ungenügenden Strategien – viele Menschen versuchen, Probleme in komplexen Systemen zu lösen. Ist das nun bei Wissenschaftlern, die um solche Probleme sehr genau wissen, ebenfalls so? Das folgende Beispiel belegt diese Vermutung: Etwa um 1955 auf Hawaii und 1967 auf Tahiti wurde die Schneckenart Achatina fulica als Nahrungsquelle für die dortige Bevölkerung eingeführt. In kürzester Zeit wurde sie jedoch zur schlimmsten Schneckenpest in den Tropen (Mead 1961; Cowie 2001). Die Einführung war ein kompletter Fehlschlag. Die Reaktion wissenschaftlicher Experten bestand nun aus der Einführung einer weiteren Schneckenart – der Raubschnecke Euglandina rosea. Diese erwies sich nicht nur als ungeeignet, Achatina zu bekämpfen, sie rottete vielmehr fast alle anderen heimischen Schneckenarten aus. Von den ehemals etwa 750 Arten leben nur noch 10 bis 35% (Cowie 2001). Ähnliches gilt für die Ausrottung vieler Partula-Schneckenarten auf Tahiti (Cook 1989). Die übliche Reaktion auf solche katastrophalen Fehlschläge ist: Natürlich irren sich auch Experten manchmal. Solche Fehler sind individuelle Patzer, und man kann dagegen leider nichts tun. Aber weil man aus solchen Fehlern lernt und heute viel besser über ökologische Systeme Bescheid weiß, werden solche Fehler abnehmen – man wird vorsichtiger mit Neueinführungen von Arten.

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Bemerkenswerterweise stimmt keine dieser Antworten. Viele dieser bedauerlichen Fehler sind keine individuellen Fehlurteile, sondern folgen ganz bestimmten Mustern. Diese Fehlermuster kehren immer und immer wieder – und nicht nur in der Ökologie, sondern auch in Physik, Psyochologie, Medizin und anderen Wissenschaften. Man kann sagen, dass Wissenschaftler bestimmte Denkfehler häufig und wiederholt begehen, trotz ihrer Ausbildung und vorhandenen Korrekturmechanismen der Wissenschaft. Welche Muster bzw. Fehler sind das nun im Einzelnen? Man kann die Einzelfehler Fehlerfamilien zuordnen: Aus ihrer evolutionären Interpretation ergibt sich, dass Fehler nicht nur rein negativ beurteilt werden sollten, wie das oft geschieht. Man sollte vielmehr nach einer positiven Funktion suchen. Dann wird man fündig; Fehler sind beispielsweise notwendige Nebeneffekte oder Trade-Offs nützlicher Funktionen – deshalb die positive Bezeichnung der Fehlerfamilien: Sie benennt die Hauptfunktion der (fehlerbehafteten) Mechanismen. Beispiele für die etwa zwanzig untersuchten kognitiven Fehler sind: 1. Fehlendes Bemühen um Falsifikation (aus Fehlerfamilie 1: Handlungsfähigkeit durch Kohärenz) 2. Ähnlichkeitsdenken (aus Fehlerfamilie 2, Vorstrukturierung und Regelmäßigkeits erwartung) 3. Rahmeneffekt (aus Fehlerfamilie 3, Flexibilität und Informationsgewinn in unbekannter Umgebung) 4. Übervereinfachung komplexer Systeme auf eine Ursache (aus Fehlerfamilie 4, Schnelligkeit und Einfachheit durch Reduktion) Ein Beispiel ist das oben bereits genannte fehlende Bemühen um Falsifikation. Nach den methodischen Standards heutiger Wissenschaft ist das kein optimales Verhalten für Forscher. In einer anderen Umwelt dagegen, z. B. in der unsere Vorfahren lebten, konnte es das aber durchaus sein. Denn es ist extrem kostspielig und gefährlich, neue Hypothesen über unbekannte Zusammenhänge zu entwerfen. Hier ist eine Strategie erfolgversprechender und risikoloser, die von bewährtem Wissen ausgeht und nur leichte Variationen bereits erfolgreicher Hypothesen testet (D 5). Falsifikation zu benutzen, war überdies als Entscheidungsverfahren für unsere Vorfahren ungeeignet, da die Anzahl der zu falsifizierenden Fälle durch nichts begrenzt ist –

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aus Zeit- und Ressourcengründen können aber nur wenige Optionen durchsucht werden. Im angesprochenen Beispiel aus der Ökologie stößt uns die Tatsache, dass selbst nach Euglandina rosea noch weitere zwölf Schneckenarten mit derselben Absicht eingeführt wurden (Cowie 2001), mit der Nase auf die Fehler: Menschen reagieren auf komplexe Systeme – wie es Ökosysteme sind – mit nur wenigen Strategien. Eine davon ist die radikale Vereinfachung auf einen Zweck: Aus dem gesamten Ökosystem werden bei der Analyse zwei Arten herausgelöst, der Rest missachtet und so radikal auf zwei Faktoren vereinfacht. Dadurch wurde aber beispielsweise übersehen, dass Euglandina, einmal ausgesetzt, fast ausschließlich kleinere Schnecken als Achatina frisst (Cook 1989). Eine zweite Strategie ist lineares Problemlösen: Wenn man nach zwei missglückten Schneckeneinführungen noch weitere zwölf aussetzt, dann zeigt das deutlich, dass auf ein Problem immer mit derselben – nicht funktionierenden – Strategie reagiert wird. Die Schäden sind, was Ökosysteme betrifft, unwiderruflich und nicht mehr gut zu machen. Besonders Australien und Neuseeland kämpfen seit Jahrzehnten einen verzweifelten Kampf gegen Neuankömmlinge. Die wirtschaftlichen Schäden durch neu eingeführte Arten werden auf 130 Milliarden Dollar pro Jahr für die USA allein (USDA Forest Service 2005b) geschätzt. Und hier geht es nur um ein Teilgebiet einer einzigen Disziplin – und zwei Fehler von vielen, die Menschen machen, wenn sie versuchen, komplexe Systeme zu beherrschen. Viele andere Fehler in drei weiteren Fehlerfamilien haben wir auf ähnliche Art herausgearbeitet (D 6, D 7, E 4, F 4, G 4). Zwei Fragen ergeben sich aus diesen Ergebnissen: Warum machen Menschen solche Fehler? Und wie kann man sie vermeiden? Eine kurze Antwort auf die erste Frage lautet: Unser Gehirn ist in Anpassung an andere Problemstellungen entstanden und schlicht nicht darauf ausgelegt, Netzwerke in der Dimension ganzer Ökosysteme zu überblicken oder gar erfolgreich in sie einzugreifen. Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Leider scheinen diese Fehler nur äußerst schwer vermeidbar zu sein. Einige dieser Fehler werden sogar dann gemacht, wenn explizit auf sie hingewiesen wurde und damit das Wissen um sie verfügbar ist (D 3)!

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Für wieder andere Denkfehler ist nicht einmal die Beziehung zur wissenschaftlichen Tätigkeit hergestellt. Konkrete und wirksame Vermeidungs- oder Korrekturmechanismen sucht man meist vergebens. Um diese häufigen und systematisch auftretenden Fehler in Zukunft in der Wissenschaft zu vermeiden, ist es daher notwendig, die bestehenden Fehler zu sammeln, einzuschätzen und zu klassifizieren. Darauf können Analysen aufbauen, die zeigen, wann und unter welchen Umständen diese Fehler in der Wissenschaft besonders häufig vorkommen. Deshalb weisen wir jede dieser vier Fehlerfamilien an mindestens einer Fallstudie nach. Die behandelten Fallstudien sind: Kalte Fusion (1989-1990), Schädel- und Intelligenzmessung (18392006), Mangelkrankheiten (Skorbut, Rachitis, Beriberi, Pellagra, etwa von 1600 bis 1920), Rahmeneffekt in der Medizin (1982-2002), Einführung neuer Arten (Neobiota) in fremde Ökosysteme (1954-2006) und Management von Ökosystemen (Blue Mountains und Yellowstone National Park von 1900 bis 2006). Sobald diese Vorarbeiten geleistet sind, kann man daran gehen, Fehlervermeidungsstrategien auszuarbeiten. Die vorliegende Untersuchung leistet diese Vorarbeiten, indem sie Fehler aus der empirischen Kognitionspsychologie sammelt, sie in wissenschaftsgeschichtlichen Fallstudien nachweist und ihre Ursachen klärt. Schließlich kann aufbauend auf der hier vorgelegten Fehleranalyse, die als methodisches Hilfsmittel dienen kann, eine Fehlerdidaktik entwickelt werden. Damit ist der erste Schritt hin zur Fehlervermeidung getan. Und wer macht schon gerne Fehler?

Schlußfolgerungen Die vorliegende Untersuchung kombiniert Wissenschaftsgeschichte, Kognitionspsychologie und Fehlerforschung zu einer interdisziplinären wissenschaftstheoretischen Analyse und führt einige wissenschaftliche Fehler auf kognitive Denkmuster zurück. Für diesen Zweck werden Schwachstellen in Wissenschaftstheorie, Kognitionspsychologie und Fehlerforschung aufgedeckt. Für jeden dieser Schwachpunkte wird ein neuer Ansatz zur Behebung entwickelt (C 3, C 2.2, C 1.1.1).

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Eine der wichtigsten Leistungen der vorliegenden Untersuchung ist es, die enormen, aber bislang vernachlässigten kognitiven Einflüsse auf die wissenschaftliche Tätigkeit nachzuweisen. Eine beträchtliche Erklärungslücke in der Wissenschaftstheorie wird damit aufgedeckt und für den Spezialfall der Fehler geschlossen. Unser Ansatz löst einige Schwierigkeiten anderer Theorien, wie beispielsweise Invarianzen einiger Fehler unabhängig von Epoche oder Disziplin. Dies wird in den oben genannten sechs Fallstudien belegt. Kognitiv orientierte wissenschaftstheoretische Untersuchungen zeigen in den letzten Jahren ein zunehmend höheres Selbstbewusstsein. Das halten wir für richtig und angemessen und setzen dies entsprechend um. Diese Art Wissenschaftstheorie zu betreiben ist noch zu selten. Wissenschaftstheoretische Hypothesen sollten sich auf erfahrungswissenschaftliche Belege gründen; ihre Überprüfung sollte durch wissenschaftshistorische Fallbeispiele erfolgen. Unsere Untersuchung ist in diesem Sinne ein Beispiel naturalistischer Wissenschaftstheorie. Aus einem evolutiv-kognitiven Ansatz sind einige Folgerungen ableitbar: Kognitive Fehler in der Wissenschaft sind häufig und haben oft schwerwiegende negative Folgen für die betroffenen Theorien. Sie sind schwer zu vermeiden – oft reicht selbst das Wissen um sie nicht aus. Deshalb ist eine nähere Beschäftigung mit ihnen unumgänglich. Ebenso wie die Optik den Brechungsindex des jeweiligen Mediums berücksichtigt, muss der „Verzerrungsindex” von Denkvorgängen mit in Betracht gezogen werden. So wie gute Wissenschaft Messfehler erwartet, berücksichtigt und korrigiert, sollte sie auch Denkfehler erwarten, ausfindig machen und beseitigen. Millionen Jahre alte Denkmuster spielen in der Tat eine wichtige Rolle in der Wissenschaft, die in Hinblick auf die Rekonstruktion von Welt und ihren Auswirkungen zu den höchstentwickelten Unternehmungen der Menschen zählt.

Anmerkung: Im Folgenden wird aus Gründen der Lesbarkeit durchgängig die männliche Form verwendet; Wissenschaftlerinnen, Forscherinnen usw. sind natürlich immer eingeschlossen.

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A Motivation und Ziele 1 Wahl des Themas Die vorliegende Untersuchung hat kognitive Fehler in den Erfahrungswissenschaften zum Thema. Als wichtige Ursachen für diese Fehler macht sie evolutionsbedingte Eigenheiten der menschlichen Kognition verantwortlich. Die kognitiven Fähigkeiten der Menschen und deren evolutive Prägung sind zentral für das Verständnis wissenschaftlicher Tätigkeit. Eine Beschäftigung mit Fehlern zielt meist – so auch hier – letztlich auf ihre Vermeidung. Fehlerforschung ist deshalb wichtig und interessant, weil wir aus Fehlern lernen und die Problemlösekompetenz und -effizienz steigern können. Der Titel „Der blinde Fleck“ deutet aber bereits darauf hin, dass es äußerst schwierig ist, eigene kognitive Fehler überhaupt zu bemerken oder sogar zu vermeiden. Die Untersuchung bietet aber mehr als eine Fehlertheorie: sie ist darüber hinaus der erste Versuch, eine kognitive Wissenschaftstheorie evolutionärer Prägung zu begründen. Die nahe liegende und konsequente Weiterführung einer ernsthaft verstandenen naturalistischen Philosophie ist die systematische Verknüpfung empirischer Resultate aus den Kognitionswissenschaften mit der Wissenschaftstheorie. Trotz aller Ankündigungen und Beteuerungen seitens der Forschung (z. B. Rubinstein 1984; Callebaut 1993; Ruse 1995; Kitcher 1993; vgl. auch das Feld „cognitive science“) ist das bisher nicht geschehen. Unter naturalistischer Philosophie verstehen wir methodologisch die stärkstmögliche Verwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, ontologisch den Materialismus und epistemologisch den hypothetischen Realismus (vgl. Sukopp 2006). Dieser Ansatz ist freilich nicht unumstritten (vgl. Hartmann & Lange 2000; Gräfrath 2005). Was verstehen wir unter evolutiv-kognitiver Wissenschaftstheorie, und wie setzen wir sie um? Es geht darum, Ergebnisse der Evolutionären Erkenntnistheorie (im Folgenden EE) auszuarbeiten und auf die Wissenschaftstheorie auszuweiten. Folgende Schlusskette liegt nahe: Wer Wissenschaft untersucht, muss die menschlichen kognitiven

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Fähigkeiten berücksichtigen. Wie andere Merkmale des Menschen ist auch Denken Ergebnis einer evolutionären Anpassung. Wenn wir wissen wollen, welche Eigenheiten das menschliche Denken durch seine Anpassung besitzt, müssen wir es empirisch untersuchen. Das tut die Kognitionspsychologie: Sie beantwortet das Wie, die Evolutionstheorie das Warum. Daraus folgt, dass ein vollständiger wissenschaftstheoretischer Ansatz auf empirische Ergebnisse der Kognitions wissenschaften und der Evolutionsbiologie zurückgreifen muss. Die vorliegende Untersuchung stützt Thesen der EE durch Experimente der empirischen Psychologie und führt die EE zu einer praktischen Anwendung in der Wissenschaftstheorie. Insbesondere wird die Frage „Gibt es eine Verbindung zwischen evolutionär-kognitiven und wissenschaftlichen Leistungen?“ grundsätzlich bejaht (zur Begründung siehe C 4.2) und auf den Spezialfall zugespitzt: Gibt es wissenschaftliche Fehler, die sich auf evolutionär-kognitive Fehler zurückführen lassen? Dieser – erfolgreiche – Nachweis bildet den Hauptteil der Untersuchung. Man könnte sich dabei mehr auf die Erfolge der Wissenschaft stützen, warum werden „Fehler“ als Thema gewählt? Zum einen sind Fehler und Irrtümer kaum erforscht (vgl. Schweitzer 2004), zum anderen besitzt das vermeintlich negativ besetzte Feld „Fehler“ mehrere konstruktive Aspekte: Erstens erhöht die Beschäftigung mit Fehlern die Chance, aus ihnen zu lernen. Zweitens macht sie auf methodologische Mängel aufmerksam und erhöht die Kritikfähigkeit. Das ist besonders in der aktuellen Forschung von Bedeutung, da bei der heutigen Publikationsflut eine flächendeckende Nachprüfbarkeit nicht mehr gegeben ist und auch die wachsende Zahl der Betrugsfälle (siehe C 5.2) einer erhöhten kritischen Auseinandersetzung bedarf. Drittens wirft eine genauere Beschäftigung mit Fehlern Licht auf den Theorienwandel: Welche Fehler disqualifizieren eine Theorie? Ab wann und warum wird sie als widerlegt bzw. als falsch angesehen? Viertens können Fehler in Zukunft nur vermieden werden, wenn sie und vor allem ihre Ursachen bekannt sind. So soll diese Untersuchung dazu beitragen, Forschung effizienter und produktiver zu machen. Zum besseren Verständnis soll hier kurz skizziert werden, was wir unter Fehlern verstehen. Dies wird später noch ausführlich diskutiert. Ein Fehler ist die Nichterfüllung einer Anforderung. Wenn man sich

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also von irrelevanten Daten in einer Entscheidung beeinflussen lässt oder Korrelationen sieht, wo keine sind, so sind das Beispiele für Fehler. Wir betrachten etwa zwanzig kognitive Einzelfehler, die wir in vier Fehlerfamilien zusammenfassen. Weil wir den Mechanismen, wie etwa dem Ignorieren widersprechender Belege oder der radikalen Vereinfachung und Linearisierung komplexer Systeme auch einen evolutiv erklärbaren Zweck zuweisen, formulieren wir die vier Fehlerfamilien positiv bezüglich ihrer Hauptfunktionen: 1. Handlungsfähigkeit durch Kohärenz (D) 2. Vorstrukturierung und Regelmäßigkeitserwartung (E) 3. Flexibilität und Informationsgewinn in unbekannter Umgebung (F) 4. Schnelligkeit und Einfachheit durch Reduktion (G). Die Vorgehensweise dieser Untersuchung ist ebenfalls neu: Die Bausteine der vorliegenden Untersuchung – EE, Kognitionspsychologie, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte – wurden so bisher nicht verknüpft. Ausgangspunkt ist die Wissenschaftstheorie; gestützt auf empirische Überprüfung durch die Wissenschaftsgeschichte liefert sie die Fragestellung und den theoretischen Rahmen der Untersuchung. Der in diesem Rahmen verwendete Ansatz ist die Evolutionäre Erkenntnistheorie. Ihre forschungsleitende Perspektive verweist wiederum auf die Kognitionspsychologie, deren Ergebnisse die empirische Basis der Fehleranalyse bilden. Alle drei Gebiete, auf die wir uns hier stützen, haben wichtige Folgerungen vernachlässigt und deshalb wichtige Implikationen bisher nicht ausgearbeitet: In der Wissenschaftstheorie werden kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse zugunsten sozialer und historischer Faktoren kaum beachtet (vgl. Rubinstein 1984). Aus der Evolutionären Erkenntnistheorie sind bisher selten Konsequenzen für Fallstudien gezogen worden. Die Kognitionspsychologie hingegen verfügt über eine Fülle empirischer Ergebnisse, bleibt jedoch bei der Deskription stehen, ohne Folgerungen zu ziehen. Die Motivation der Fallstudien soll kurz skizziert werden. Der eingelöste Anspruch ist es, jede Fehlerfamilie durch mindestens eine

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Fallstudie abzudecken und dadurch zu belegen. Es gibt mehrere Auswahlkriterien. Zum einen soll man an den Fallbeispielen besonders gut die jeweiligen Fehler demonstrieren können. Zum anderen soll die historische Abdeckung möglichst breit sein (sie ist es, von 1600 bis 2005), um allgemein gültige Schlussfolgerungen zu erlauben; das gilt auch für Disziplinen (Medizin, Physik, Biologie). Schließlich ist eine Fallstudie (C 7) synchron und eine (C 4) diachron geschnitten, um selektive Auswahl zu vermeiden (siehe auch H 3.2). Darüber hinaus sind wir überzeugt, in beliebig ausgewählten weiteren Beispielen zumindest einige Aspekte evolutiv-kognitiver Fehler nachweisen zu können.

2 Stand der Forschung 2.1 Evolutionäre Erkenntnistheorie Einige Bausteine der vorliegenden Untersuchung sind bereits gut ausgearbeitet. Das gilt insbesondere für die Evolutionäre Erkenntnistheorie (Campbell 1974; Eibl-Eibesfeldt 1973, 1997; Lorenz 1941, 1961, 1973/1980; Riedl 1980, 1987, 1994; Vollmer 1975/2002, 1985/2003, 1986/2003, 2003; von Ditfurth 1976; Wuketits 1983). Die genannten Autoren arbeiten einen theoretischen Rahmen aus, d. h. sie rechtfertigen diese Argumentationslinie. Damit fundieren sie die EE als einen ernst zu nehmenden philosophischen Ansatz. Auf Kritik daran wird in C 2.1.1 eingegangen. Uns geht es nun um eine Erweiterung, genauer um die praktischen (wissenschaftstheoretischen) Konsequenzen, die man daraus ableiten kann. Sie werden in der vorliegenden Untersuchung umgesetzt. Erstaunlicherweise wird die EE selbst innerhalb der Philosophie der Biologie (Kitcher 1985; Sterelny & Griffiths 2003; Sober 1993; Callebaut 1993; Ruse 1995) vernachlässigt, und von außerhalb, also von nicht biologisch orientierter Philosophie, überproportional häufig kritisiert. Zur Unterscheidung: Mit EE meinen wir im Folgenden die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die den evolutionären Ursprung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen untersucht. Nicht gemeint ist dagegen die Evolutionäre Wissenschaftstheorie, die Theorienwandel

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in Analogie zur Evolution mit den Begriffen der Evolutionstheorie beschreibt und größere Beachtung erfährt (vgl. Popper 1972/1998; Toulmin 1978; Hull 1988; Vollmer 2003, S. 69f.). Wissenschaftstheorie im eben genannten naturalistischen Sinne der EE ist bisher kaum ausgearbeitet worden. Auf den ersten Blick versprechen zwar einige Buchtitel und Autoren genau das (etwa Rubinstein 1984: Science as a Cognitive Process oder Callebaut 1993; vgl. auch Giere 1988; Kitcher 1993); eine systematische Anwendung empirischer Ergebnisse in der Wissenschaftstheorie findet jedoch unseres Wissens nicht statt. Es ist vielmehr so, dass sich an die vielfachen Forderungen, die Kognitionswissenschaften in wissenschaftstheoretische Analysen einzubeziehen, oft naive (und falsche) Spekulationen von Philosophen über psychologische Hintergründe etwa der Logik oder des Falsifikationsprinzips (etwa Ruse 1995) anschließen. Die Fülle einschlägiger empirischer Ergebnisse wird weitgehend ignoriert. Auch Papineau (2000) ist dafür ein Beispiel: Er behauptet, die Schlussfähigkeiten von Tieren seien nicht bekannt (siehe aber B 1.3.1; vgl. auch Kornblith 2002), es gebe keine Basis, von der man konkrete Merkmale von Heuristiken ableiten könne (es gibt sie, siehe C 2 und Krebs & Davis 1996), und spekuliert frei (und falsch) über Entscheidungsfindung und Optimierung. Hier setzt diese Untersuchung an. Dazu muss sie zunächst die vorliegenden empirischen Befunde der Kognitionspsychologie vor allem im Hinblick auf Fehler (Wason 1960, 1968; Nisbett & Ross 1980; Tweney et al. 1981; Kahneman et al. 1982; Schönwandt 1986; Plous 1993; Gigerenzer et al. 1999; Gilovich et al. 2002; Chapman & Johnson 2002 und andere) sichten und klassifizieren. Diese Zusammenstellung empirischer Befunde zeigt, dass Beschreibungen von Fehlern zumindest in der Psychologie vorliegen und gut erforscht sind. Das gilt allerdings nicht für „Fehlertheorien“. Hier gibt es bisher nur sehr vereinzelte Ansätze: für technische Systeme etwa von Reason (1990) oder in wissenschaftsmethodologischer Hinsicht von Schweitzer (2004). Drei Ergebnisse aus der Fehlerforschung sind wichtig (Evans 2002): Erstens machen Menschen überraschend viele Fehler bei eher einfachen Problemlösungsaufgaben. Zweitens sind diese Fehler nicht

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zufällig, sondern treten systematisch auf. Drittens, und das ist eine neuere Erkenntnis, spielen Kontext und Art der Aufgabenstellung eine wichtige Rolle (Gigerenzer & Todd 1999). Kognitionspsychologische Fehlerforschung stößt im Hinblick auf ihre praktische Anwendung schnell an Grenzen: Hauptmängel sind hier sicherlich die Beschränkung auf Laborsituationen ohne Aussagekraft für Realweltkontexte (siehe C 1.1.1), die bloße Deskription der Phänomene ohne Schlussfolgerungen, die vielfache Beschränkung auf immer gleiche Versuchsaufbauten ohne Variation, sowie die Vielzahl unbefriedigender Modelle, welche die auftretenden Phänomene oft nur teilweise erklären. Hier ist Abhilfe durch die Evolutionäre Psychologie in Sicht.

2.2 Evolutionäre Psychologie Die junge Teildisziplin der Evolutionären Psychologie (im Folgenden EP) erklärt einige experimentelle Befunde über die evolutionäre Herkunft der menschlichen Kognition (z. B. Tooby & Cosmides 1992; Cosmides & Tooby 1994, 1997; Pinker 1998; Gigerenzer et al. 1999; Buss 2004a); sie übt heftige Kritik an bisheriger Psychologie: „As a result, cognitive psychology has been conducted as if Darwin never lived.“ Cosmides & Tooby 1994, S. 43)

Unsere geistigen Fähigkeiten müssen in Bezug auf die Umwelt, in der sie evolviert sind, beurteilt werden. Obwohl die EP für unsere Zwecke im Prinzip ideale Ergebnisse liefern könnte, ist das de facto nicht der Fall, denn die Zahl der Untersuchungen ist noch sehr gering. Hier erwarten wir für die Zukunft die beste empirische Stütze für unseren Ansatz. Für eine ausführliche Darstellung der EP und Kritik an ihr siehe C 2.1. Wegen der relativ geringen Anzahl konkreter Ergebnisse aus der Evolutionären Psychologie, die sehr spezifische Voraussagen liefert, stützen wir uns hauptsächlich auf die ausreichend erforschte Abstammung des Menschen (Steitz 1993; Cavalli-Sforza 1996; Henke & Rothe 1999; Boyd & Silk 2003) und die Entwicklung des Kindes (Piaget 1973, 1974; Carey 1987; Krist et al. 1998; Pinker 1998; Gopnik & Meltzoff 1998; Spelke 2000; Goswami 2001). Kombiniert ergeben

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diese beiden Zugänge zur menschlichen Kognition ein deutliches Bild unserer Fähigkeiten und Beschränkungen. Vervollständigt wird dieses Bild durch Forschung zu Heuristiken und zum Problemlösen (z. B. Newell & Simon 1972; Dörner 1974, 1976, 1989; Payne et al. 1993). Wichtig für uns ist die Verbindung dieser kognitiver Ansätze mit der Wissenschaftstheorie.

2.3 Wissenschaftstheorie Das bereits angesprochene Fehlen eines empirischen und kognitiv orientierten Ansatzes in der wissenschaftstheoretischen Literatur ist auffällig. Auf die Gründe kommen wir in A 3 zurück. Ausnahmen sind hier Tweney et al. (1981) und Dunbar (1997; 2002), die wissenschaftliche Entdeckungen psychologisch betrachten. Auch Giere (1988, 1992) weist zumindest ansatzweise auf kognitive Besonderheiten der Forscher hin und Nersessian (2002) betrachtet Mechanismen wie Analogiebildung anhand historischer Beispiele. Bei bekannteren Wissenschaftstheoretikern spielen die Besonderheiten menschlicher Kognition keine Rolle. Hier geht es vielmehr um historische (Fleck 1935/1980; Kuhn 1962/1976, 1978a, 1978b; Feyerabend 1976) und soziale Aspekte (Knorr Cetina 2002), bzw. um die Frage nach Rationalität und Fortschritt (Popper 1934/1994, 1972/1998; Laudan 1977; Lakatos 1978/1982; Kitcher 1993; Callebaut 1993; Vollmer 1993). Manchmal komplementär, manchmal konträr dazu präsentieren sich detaillierte wissenschaftsgeschichtliche Fallstudien, wie sie Holton (1973/1988), Olby (1994), Kay (2000) oder Rheinberger (2001) durchgeführt haben. Heutige Wissenschafts theorie wird von Carruthers, Stich und Siegal (2002) als vorwiegend realistisch und naturalistisch gekennzeichnet. Widerspruch kommt hier allerdings von der Edinburgher Schule um Barnes und Bloor.

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3 Entwurf einer evolutiv-kognitiven Wissenschaftstheorie Diese Herangehensweisen scheinen uns unvollständig zu sein. Die meisten Versuche dieser Art, Wissenschaftstheorie zu betreiben, leiden unter zwei Schwächen. Erstens beschreiben sie die wissenschaftshistorische Wirklichkeit nicht angemessen, denn sie legen zu wenig Wert auf eine empirische Überprüfung ihrer Postulate. So überprüfen Donovan und Laudan (1988) Postulate von Kuhn und Lakatos anhand von Fallstudien, was für die Mehrzahl der Postulate zu negativen Ergebnissen führt. Zweitens konzentrieren sie sich zu eng auf soziale und historische Einflüsse und sparen dabei den Bereich der Biologie völlig aus. Der Mensch ist eben nicht nur ein soziokulturelles, sondern auch ein biologisches Wesen. Genau hier muss eine naturalistische Wissenschaftstheorie ergänzend ansetzen. Eine evolutionsbiologische Erklärung ist also nicht die einzige Erklärung, sie kann aber einige langjährige Schwierigkeiten anderer Interpretationen (etwa invariante Fehler) auflösen. Gerade für kognitive Aspekte der Wissenschaft ist sie die beste Erklärung; sie wird aber auch andere Einflüsse berücksichtigen (siehe auch C 5.1). Diese beiden Schwächen vor Augen, stellt unser naturalistischer Ansatz zwei Forderungen: Er fordert erstens ein stärker empirisch ausgerichtetes methodisches Vorgehen, also die genauere Überprüfung von Theorien an Fallbeispielen. Das erscheint unumgänglich und ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch in steigendem Maße zu beobachten. Ein solcher Ansatz fordert zweitens einen starken Bezug zu erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen, vor allem aus der Kognitionspsychologie und Evolutionsbiologie. Wir werden unsere Untersuchung also auf zahlreiche empirische Ergebnisse stützen (siehe C). Solche Forderungen sind schon gestellt, allerdings noch nicht ausgearbeitet worden, ausgenommen vielleicht von Giere 1988, 1992). Wenn eine solche naturalistische Wissenschaftstheorie wirklich bedeutsam ist, warum ist dann der biologisch-psychologische Bereich

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bisher ausgespart geblieben? Dafür gibt es mehrere Gründe, die sich jedoch entkräften lassen: 1. Kritik: Individuelle Denkprozesse galten entweder als nicht untersuchbar oder als nicht verallgemeinerbar, also für unbrauchbar für eine allgemeine Wissenschaftstheorie. Diesen Grund nennt Kitcher (1993). Erwiderung: Entscheidend ist nicht das Individuum, sondern diejenigen Denkstrukturen, die allen Menschen gemeinsam sind. Empirische Kognitions- und Evolutionspsychologie liefern hierfür neuerdings eine Fülle von Daten (z. B. Tooby & Cosmides 1992), die deutlichen Bezug zu wissenschaftstheoretischen Fragestellungen aufweisen (etwa Induktion, Falsifikation oder Bewertung von Hypothesen). Der mögliche Einwand, dass erst die darauf aufbauenden individuell verschiedenen Fähigkeiten, wie etwa das Genie von Einstein, interessieren, wird in C 4.2 und in den einzelnen Fehlerbeschreibungen und Beispielen widerlegt. 2. Kritik: Eine befriedigend ausgearbeitete kognitive Psychologie, die solche Phänomene (etwa Problemlösungsstrategien, Kausalitätswahrnehmung) beschreiben könnte, gibt es nicht (vgl. Giere 1992, der Kritik und Erwiderung nennt). Erwiderung: Seit der Entwicklung einer empirisch orientierten kognitiven Psychologie (etwa ab 1970) und der Entwicklung der Evolutionären Psychologie (etwa ab 1992) sind geeignete Erklärungsmodelle durchaus vorhanden. 3. Kritik: Biologische Beschreibungen kultureller Prozesse sind in ihrem Erklärungsanspruch zu reduktionistisch. Aufgrund der falschen Beschreibungsebene ist es ihnen unmöglich, solche „übergeordneten“ Phänomene zu erklären. Erwiderung: Es handelt sich hier weder um eine Dichotomie noch um verschiedene Ebenen. Vielmehr liegt eine enge Verschränkung vor (zur Begründung siehe B 1.3.3). Zudem erhebt eine „biologische Beschreibung“ keinen alleinigen Erklärungsanspruch. Ein reduktionistischer Ansatz ist zumindest in der Biologie theoretisch und praktisch sehr gut legitimiert (Ruse 1988). In einer Abwandlung von Quine (1975, S. 115) formuliert: Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit der Erforschung der Leistungen und

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Grenzen eines empirischen Phänomens, nämlich den kognitiven Produkten menschlicher Subjekte (der Wissenschaftler). Diese Auffassung wird in der vorliegenden Untersuchung praktisch umgesetzt. Sie ist ein Versuch, eine streng empirisch orientierte wissenschaftstheoretische Analyse durchzuführen: Anhand historischer Fallstudien werden empirisch gewonnene Aussagen über kognitive Fähigkeiten von Wissenschaftlern überprüft. In einem weiteren Schritt werden sie evolutionsbiologisch erklärt. Die wichtigsten Merkmale einer evolutiv-kognitiven Wissenschaftstheorie sind: 1. Der Fokus liegt auf den kognitiven Fähigkeiten der Wissenschaftler. 2. Kognitive Fähigkeiten sind evolutionstheoretisch erklärbar. 3. Bisher betrachtete Einflussfaktoren (z. B. soziale oder historische) müssen ergänzt werden. 4. Wissenschaftstheorie muss in zweifacher Hinsicht empirisch ausgerichtet sein: Fallstudien gewährleisten die konkrete historische Überprüfbarkeit, naturwissenschaftliche Ergebnisse die Haltbarkeit der Prämissen. Bis jetzt ist dieses Projekt Skizze. Es ist Vorstufe und zugleich zentraler Teil einer vollständig naturalisierten Wissenschaftstheorie, die Erkenntnisse aus mehreren erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen integrieren muss, um ein möglichst vollständiges Bild von Wissenschaft zeichnen zu können. Unser Vorgehen ist eine Demonstration und Durchführung einer naturalistischen Wissenschaftstheorie, wie sie auch Kitcher sieht: „Moreover I shall be concerned to treat the growth of science as a process in which cognitively limited biological entities combine their efforts in a social context.“ (Kitcher 1993, S. 9)

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4 Methodik, Ziele und Grenzen der Untersuchung Die Methodik kann, wie erwähnt, als empirisch-deskriptives Vorgehen anhand von Fallstudien charakterisiert werden. Die Untersuchung ist im Bereich der Wissenschaftstheorie angesiedelt, allerdings gilt: „Wieder werden Fragen, welche die Philosophie gestellt hat, von der Wissenschaft beantwortet. Solche Antworten beruhen auf Ergebnissen der Physiologie, Evolutionstheorie und Verhaltensforschung, der Psychologie, Anthropologie und Sprachwissenschaft und vieler weiterer Forschungszweige.“ (Vollmer 1975/2002, S. 3)

Dieser interdisziplinäre und naturwissenschaftlich geprägte Ansatz verweist auch in der Wissenschaftstheorie auf empirische Forschungsergebnisse. Wir nennen ihn evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie. Teil C behandelt relevante methodische Aspekte ausführlich. Primäres Ziel der Untersuchung ist es, eine schlüssige Erklärung für einige Fehler in den Naturwissenschaften zu liefern. Das erfordert deren Identifikation und Klassifizierung sowie ihre Rückführung auf empirische Ergebnisse aus der kognitiven Psychologie und deren einheitliche Begründung durch die Evolutionstheorie. Keines dieser Teilziele ist bisher erreicht, erst recht nicht ihre Kombination. Gleichzeitig ist es der Versuch, die oben beschriebene kognitiv-empirisch orientierte wissenschaftstheoretische Herangehensweise – am Spezialfall der Fehler – zu demonstrieren, wenn auch nicht theoretisch auszuarbeiten. Letztlich zielt unsere Untersuchung auf eine Steigerung der Effizienz der Forschung ab, denn eine Fehleranalyse erhöht allgemein die Kritikfähigkeit. Sie ist außerdem nützlich, weil Fehlervermeidung und dadurch mögliche kürzere Wege zum Ziel eine zentrale Rolle in der Wissenschaft spielen. Zusätzlich können Hinweise auf systematisch wiederkehrende Fehler helfen, Sackgassen zu vermeiden. Wo liegen die Grenzen der vorliegenden Untersuchung? Sie muss sich – durch ihren Umfang gegeben – in einigen Punkten beschränken: Erstens untersucht sie nur eine Facette der kognitiven Seite der Wissenschaft, nämlich Fehler. Das Gegenstück – besonders erfolgreiche Strategien – betrachtet sie nicht. Auch die Vielzahl anderer möglicher

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Problemlösungstechniken bleibt unberücksichtigt. Zweitens konzentriert sie sich auf kognitive Faktoren in der Forschung. Damit bleiben eine integrierte Betrachtung aller Faktoren (vor allem historisch-sozialer) und deren Gewichtung, Wechselwirkung und Abgrenzung der Zukunft vorbehalten. Drittens kann sie im Bereich der Fehler keine Vollständigkeit beanspruchen. Der Großteil der wichtigeren Fehler sollte aber erfasst sein. Viertens muss sie sich auf elf Fallbeispiele (in fünf Fallstudien) beschränken, so dass einige wenige Einzelfehler nicht historisch belegt sind. Fünftens kann sie Lücken in der empirischen Fehlerforschung nicht durch eigene Experimente schließen. Sechstens können postulierte evolutionäre Mechanismen nur als grobe Modelle, als Vorschläge für eine übergeordnete Funktion vorgestellt werden. Auch hier ist uns eine experimentelle Überprüfung biologischer Funktionen nicht möglich. Auch die normative Umsetzung wird hier nicht vorgenommen. Dennoch ist die Untersuchung in sich geschlossen, da diese Grenzen ihre Kernthesen nicht schwächen.

5 Aufbau Die Untersuchung umfasst fünf Teile. Teil A begründet die Wahl des Themas, legt den Stand der Forschung dar und umreißt die Ziele der Untersuchung. In Teil B geht es um die Grundlagen der menschlichen Kognition: Zwei Zugänge – Stammesgeschichte und Ontogenese – werden sowohl allgemein als auch in Hinblick auf Fehler beschrieben. Teil C geht zunächst auf die Problematik der Fehlerforschung ein, stellt dann die Vorgehensweise (Methodik) dar, rechtfertigt unser Vorgehen und geht auf Kritik ein. Dort erfolgt auch die Selbstanwendung der Fehleranalyse auf die eigene Untersuchung. In Teil D, E, F und G werden die vier Fehlerfamilien (mit etwa zwanzig Einzelfehlern) detailliert beschrieben. Jeder Fehler wird dabei nach dem gleichen Schema analysiert, und für jede Fehlerfamilie wird nach Darstellung der konventionellen Erklärung eine neue, evolutionsbiologische Erklärung gegeben. Jede Fehlerfamilie wird anhand mindestens einer ausführlichen Fallstudie am konkreten historischen Beispiel nachgewiesen. Der abschließende Teil H fasst die Ergebnisse

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zusammen, zieht daraus Folgerungen und diskutiert kritisch die Erklärungskraft unseres Ansatzes und von möglichen Alternativen.

6 Skizze der Argumentation Wissenschaftliche Tätigkeit ist bisher kaum auf ihre kognitive Dimension hin untersucht worden. Das verwundert, denn Wissenschaft ist vor allem eine Beschäftigung mit Problemen, Theorien und Daten; kurz: eine kognitive Tätigkeit. Die Fähigkeit zur Kognition wiederum ist ein biologisches Phänomen und unterliegt der Evolution. Unsere Fähigkeiten müssen deshalb auf ihre ursprüngliche Funktion in der Evolution befragt werden. Daraus gewinnt man Erkenntnisse über Aufbau, Besonderheiten und Ursachen kognitiver Fähigkeiten. Dafür bieten zahlreiche kognitionspsychologische Experimente eine breite empirische Basis (D, E, F, G). Resultate aus Stammesgeschichte (B 1) und Kindesentwicklung (B 2) unterstützen dies. Am Spezialfall der Fehler machen wir die Bedeutung evolutionär geprägter Denkmuster für die Wissenschaft deutlich. Dies geschieht durch fünf Fallstudien: Wissenschaftler zeigen diese experimentell belegten Fehler in ähnlicher oder identischer Form. Dabei spielt es keine Rolle, welche Epoche oder Disziplin untersucht wird; dieselben Fehler treten systematisch auf. Sie erweisen sich zudem als invariant gegenüber Epoche, Disziplin oder Person; ein weiteres Indiz für ihre evolutionäre Herkunft. Ursache der Fehler ist die Diskrepanz zwischen früherer Funktion und Anpassung und ihrer jetzigen Zweckentfremdung für andere, unpassende Probleme. Die meisten Wissenschaftstheoretiker schätzen die Bedeutung von Ergebnissen aus den Kognitionswissenschaften gering ein. Wir dagegen schlagen eine Brücke zwischen kognitions- und evolutionspsychologischen Untersuchungen und Wissenschaftstheorie. Die Kluft zwischen beiden ist zudem nicht so breit, wie bisher angenommen: Wir können über Strukturgleichheit nachweisen, dass es sich um dieselben Fehler handelt. Die Untersuchung ist gleichzeitig eine Demonstration und Durchführung einer oft geforderten, aber nie verwirklichten empirisch ausgerichteten evolutiv-kognitiven Wissenschaftstheorie. Sie weist auf die

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überragende Rolle der Erfahrungswissenschaften bei wissenschaftstheoretischen Arbeiten hin. Nicht nur Ähnlichkeit, auch Zahl, Vielfalt und Invarianz der Fehler geben dieser Methode Recht. Experimentell nachgewiesene, evolutionär erklärbare Fehler spielen eine bedeutende Rolle in der Wissenschaft.

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B Evolution und Entwicklung der Kognition „Is it not reasonable to anticipate that our understanding of the human mind would be aided greatly by knowing the purpose for which it was designed?“ (Williams 1966, S. 16)

Thema der Untersuchung sind die Fähigkeiten des menschlichen Denkens, insbesondere dessen Schwächen und Fehler. Für ein genaues Verständnis ist deshalb eine Charakterisierung der Entstehung des Denkens, seiner Bestandteile und Abhängigkeiten notwendig.

1 Stammesgeschichte des Menschen 1.1 Belege für Evolution Die Entstehung und Entwicklung des Gehirns als Träger des Denkens geschieht im Evolutionsprozess. Über die Tatsache der Evolution von Organismen (einschließlich des Menschen) gibt es heute in der Wissenschaft keine Streitigkeiten mehr. Es gibt überwältigende Belege für die Evolution; die wichtigsten sind (Steitz 1993): Paläontologie (nahezu lückenlose Ahnenreihen), Morphologie (Ähnlichkeit von Bauplänen verschiedener Arten), Biochemie (universelle Natur der DNA, RNA und der Proteine), Embryologie (Ähnlichkeit von Embryonen verschiedener Arten), Serologie (Verwandtschaftsgrade durch Antikörperreaktionen), Parasitologie (artenspezifische Parasiten), Geographie (geographische Isolation führt zu lokalen Arten), Ethologie (Strukturgleichheiten unterschiedlicher Spezies im Verhalten), Taxonomie (Möglichkeit eines gemeinsamen Stammbaumes), Brückenformen (Übergänge zwischen Arten) und rudimentäre Organe. Diese Belege gelten für das gesamte Tierreich. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Evolution des Menschen.

1.2 Morphologie Ziel der folgenden Abschnitte ist es, die Bandbreite evolutiver Anpassungen darzustellen, die von der Morphologie über das Verhalten bis

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zum Denken reicht. Diese drei Bereiche bauen aufeinander auf. Unumstrittene Beispiele aus den ersten beiden Bereichen zeigen sowohl sehr spezielle Angepasstheiten als auch Leistungsgrenzen. Weil Morphologie, Verhalten und Denken einen untrennbaren Komplex bilden, kann von den ersten beiden Bereichen vieles auf den dritten übertragen werden. Es ist also zu erwarten, dass sich das Denken in ähnlich speziellen Anpassungen und mit gewissen Beschränkungen entwickelt hat. Unter Kognition verstehen wir im Folgenden nach Roth und Menzel (2001) die Gesamtheit aus Wahrnehmung, Erkennen, Vorstellen, Wissen, Denken, Kommunikation und Handlungsplanung. Die Rolle der kulturellen Evolution wird in B 1.3.3 behandelt.

1.2.1 Körper und Gehirn Wirbeltiere entstanden etwa vor 500 Millionen Jahren (MJ), Säugetiere vor etwa 200 MJ. Sie erfuhren eine Radiation aber erst mit dem Aussterben der Saurier um 65 MJ. Primaten entwickelten sich vor rund 60-80 MJ, die Menschenaffen wiederum trennten sich vor etwa 20 MJ von den Affen (Steitz 1993; Vogel 2000; Henke & Rothe 1999). Die ersten aufrecht gehenden Hominiden, die Australopithecinen, entwickelten die Bipedie vor 4,4 MJ. Die Entwicklungslinie ging von Australopithecus afarensis und Australopithecus africanus (vor 4-2,5 MJ) über Homo habilis und Homo boisei (vor 3-2 MJ) zu Homo erectus (etwa 2 MJ bis 0,5 MJ). In die Zeit um etwa 2,5 MJ fällt auch der erste Werkzeuggebrauch (Buss 2004a). Homo sapiens entsteht vor 400 000-200 000 Jahren, die heutige, moderne Form (Homo sapiens sapiens) vor 130 000 Jahren (Steitz 1993). Neuere Funde datieren die moderne Form sogar zurück bis auf etwa 195 000 Jahre (McDougall et al. 2005). Nach der Out-of-Africa- These fand von Afrika ausgehend eine rasche Verbreitung des Menschen vor etwa 200 000 Jahren statt. Die Ursprünge der Sprache werden mit hohem Unsicherheitsfaktor um etwa 100 000 Jahre angesetzt (Boaz 1997), bei manchen Autoren sogar auf 2 Millionen Jahre. Viele morphologische Strukturen sind natürlich noch älter. Das Nervensystem ist 1,5 Milliarden Jahre alt, das fünfteilige Wirbeltiergehirn etwa 400 Millionen Jahre. Bemerkenswert ist die Vergrößerung des

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menschlichen Gehirns: Sie kann im evolutionären Maßstab explosionsartig genannt werden. Innerhalb von nur 1-2 Millionen Jahren verdreifacht sich das Volumen von etwa 500 auf 1400 cm³. Das führt dazu, dass sich der Mensch in der Spitzengruppe der Tiere befindet, sowohl was absolutes Gewicht des Gehirns, als auch was relatives Gewicht zum Körpergewicht (2%) betrifft. Der Enzephalisationsquotient gibt das Verhältnis der tatsächlichen Größe zur erwarteten Gehirngröße eines Tieres an. Beim Menschen liegt er bei 7; d. h., das Gehirn ist siebenmal größer als bei unserer Körpergröße zu erwarten wäre (Roth 2001). Das ist umso bemerkenswerter, als zumeist innerhalb taxonomischer Klassen extrem stabile Gewicht-Gehirn-Verhältnisse über Zeiträume von bis zu 100 Millionen Jahren gewahrt bleiben (Plankensteiner 1992). Allerdings bleibt festzustellen, „[...] daß ein direkter Rückschluss vom Encephalisationsgrad auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit der plio-pleistozänen Hominiden nicht möglich ist.“ (Brandt 2000, S. 26)

Ebenso bemerkenswert ist ein deutlicher Entwicklungssprung des Menschen vor etwa 50 000 Jahren. In diesem Zeitraum kommt es sowohl zu einer qualitativ und quantitativ höheren Werkzeugherstellung als auch zu ersten Anfängen von Kultur. Bereits 20 000 Jahre später sind alle konkurrierenden Hominiden ausgestorben, und etwa um 12 000 v. Chr. beginnt der Mensch mit Ackerbau (Henke & Rothe 1999; Buss 2004a).

1.2.2 Interpretation der paläontologischen Daten So unumstritten die Kerndaten der menschlichen Entwicklung sind – aufrechter Gang vor etwa 4 MJ, Werkzeugherstellung ab 2 MJ und rasche Gehirnvergrößerung ab 1 MJ –, so verschieden sind die Spekulationen darüber, warum diese Kennzeichen des modernen Menschen entstanden sind. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Entstehungen ist wegen der großen Zeiträume vermutlich auszuschließen. Die Entwicklung des aufrechten Ganges erklären diejenigen Hypothesen am plausibelsten, die mehrere Faktoren verantwortlich machen. Vermutungen reichen von den freigewordenen Händen, der besseren Energiebilanz für zurückgelegte Wegstrecken

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bis hin zu Thermoregulation, Jagderfolg und zur Paarbindung (Relethford 1994). Wesentlich unsicherer sieht es bei der Gehirnentwicklung aus, da die einzigen erhaltenen messbaren Hinweise Innenabdrücke von Gehirnen an Schädeln sind. Größenordnung und Geschwindigkeit des Gehirnumbaus legen aber einen starken Selektionsdruck auf Größe und Leistungen des Gehirns nahe. Welche Erfordernisse diesen Selektionsdruck ausgeübt haben, ist ungeklärt. Waren es gestiegene soziale Anforderungen in der Gruppe, die Notwendigkeit der Verständigung bei der Jagd, der Werkzeuggebrauch, die sexuelle Auslese, oder waren es noch andere Erfordernisse? Die Sprachentwicklung ist mangels paläontologischer Spuren ähnlich ungeklärt. Ein wichtiger Entwicklungsschritt ist die Anpassung des Menschen an das Savannenhabitat vor mindestens vier Millionen Jahren. Darauf verweisen morphologische Veränderungen wie die Anatomie des Fußskelettes und der daraufhin notwendige Umbau des Beckens und der Wirbelsäule. Die Anpassung an die Savanne ist so alt, dass diese Landschaftspräferenz auf der ganzen Welt gleichermaßen vererbt wird (Kaplan 1992). Die Besiedlung der Savanne war wahrscheinlich eine Reaktion auf starke Klimaveränderungen vor etwa 10 MJ, die zu weit verstreuter und ungleichmäßig vorhandener Nahrung führten (Foley 2000, S. 132). Damit erfolgte auch ein Wechsel der Ernährungsgewohnheiten zur Omnivorie, was einen wesentlichen Teil des Erfolges ausmachte (Henke & Rothe 1999, S. 187). Die erweiterte Nahrungsnische bedeutete wiederum eine komplexere Ressourcenplanung durch das saisonal sehr variable Nahrungsangebot (Henke & Rothe 1999). Parallel zur Anpassung an die Savanne erfolgte die Anpassung an das Jäger- und Sammlerdasein, insbesondere an einen höheren Fleischanteil an der Gesamtnahrung. Von den 58 rezenten Jägerpopulationen decken 11 ihren Nahrungsbedarf hauptsächlich durch Jagd, 18 durch Fischen und 29 durch Sammeln (Lee 1968). Aber auch hauptsächliche Sammler wie die !Kung jagen immerhin 40% ihrer Nahrung (Lathrap 1968).

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Der aufrechte Gang verminderte die Beweglichkeit der Füße, erhöhte aber die der Hände. Das machte Werkzeuggebrauch möglich, was vermutlich zu einer positiven Rückkoppelung führte. Die hohe Bedeutung der Hände zeigt der so genannte „Homunkulus“ (Abb. 1), der die Repräsentation der Körperteile im Gehirn darstellt.

Abbildung 1: Homunkulus Zuordnung der motorischen Region der Großhirnrinde zu Körperregionen

Erst der Werkzeuggebrauch machte die Besiedlung aller Klimazonen der Erde durch den Menschen möglich. Nur durch ihn wurden Großwildjagd, Kleider, Schutzbehausungen und Erschließung praktisch aller Nahrungsquellen denkbar. Die Ausnahmestellung des Menschen wurde möglicherweise durch die Kombination des leistungsfähigen Gehirns mit dem aufrechten Gang möglich, der wiederum die Hände frei werden ließ (Roth 1994). Diese Fakten verdeutlichen eine Anpassung des Menschen an das Jäger- und Sammlerdasein in Savannen. Die beschriebenen körperlichen Anpassungen sind notwendige Bedingung vieler Verhaltensweisen und hängen eng mit ihnen zusammen. Körperliche Anpassungen verraten, in welcher Umwelt das Überleben stattfand; an diese Problematik ist auch Verhalten und Kognition angepasst. Nachdem wir diese spezielle Anpassungen der Menschen für die Morphologie gezeigt haben, werden wir die sehr spezifische Natur vieler Verhaltensweisen nachweisen.

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1.3 Evolution des Verhaltens Im Folgenden werden mehrere Argumentationsziele verfolgt: Erstens wird der evolutive Ursprung des Verhaltens und dessen Kontinuität zwischen Affen und Menschen ebenso wie zwischen Morphologie, Verhalten und Denken aufgezeigt. Zweitens wird, wie schon bei der Morphologie, auch beim Verhalten gezeigt, wie spezifisch und genau angepasst die einzelnen Mechanismen funktionieren. Das dient dem späteren Analogieschluss auf Denkmechanismen, die in gleicher Weise spezifisch angepasst sind. Drittens wird der starke Anteil der Vererbung bei Verhaltensweisen herausgestellt. Auch dies sehen wir später analog bei höheren kognitiven Funktionen. Viertens werden mögliche Anpassungsfehler zusammengestellt, die sich sowohl im Verhalten als auch im Denken nachweisen lassen.

1.3.1 Ursprung und Kontinuität des Verhaltens Zwischen Morphologie und Verhalten gibt es einen engen Zusammenhang, sogar eine enge Verschränkung, da Aufbau und Funktion untrennbar sind: „Wer die Anpassung und Weiterentwicklung des Körperbaus durch Evolution akzeptiert, der muß hinsichtlich der Entwicklung des Verhaltens die gleichen Regeln gelten lassen.“ (von Ditfurth 1976, S. 144)

Beispielsweise beinhaltet der Skelettumbau zum aufrechten Gang eine neue Art der Nahrungsbeschaffung: In prähistorischen und rezenten Jäger- und Sammlervölkern ergänzt die unsichere, aber ertragreiche Jagd der Männer das sichere, aber kalorienärmere Sammeln der Frauen (Buss 2004b). Diese spezialisierten Verhaltensmuster lassen sich bis zu den dafür benötigten geistigen Leistungen verfolgen: Männer sind im Allgemeinen besser in der räumlichen Orientierung und Navigation, Frauen verfügen über das bessere Ortsgedächtnis (Silverman & Eals 1992). Für den Ursprung und die Kontinuität des menschlichen Verhaltens können Fossilien und Verhaltensforschung herangezogen werden. Erfolgversprechender ist die Verhaltensforschung: „Die Erforschung der Phylogenese des Menschen ist auch heute noch, trotz des mittlerweile umfänglichen Fossilreports, auf die

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vergleichende Betrachtung unserer nächsten Verwandten, der rezenten Affen, angewiesen.“ (Henke & Rothe 1999, S. 7)

Vergleichende Untersuchungen zeigen, dass Menschenaffen ein sehr großes Verhaltensrepertoire mit Menschen teilen (Coppens 2002; vgl. Roth 2001, S. 90). Fast alle – oft als typisch menschlich angesehenen – Kennzeichen findet man zumindest in Ansätzen bereits bei Menschenaffen. Dazu gehören der physiologisch praktisch identische Gehirnaufbau, der Chromosomensatz und die Blutgruppen A, B, und 0 (Steitz 1993). Dazu gehören aber auch Verhaltensweisen wie Territorialität, Aggression, Hierarchie- und Dominanzverhalten, Mimik bis hin zu einzelnen Gesten. Neben sozialem Verhalten verfügen Schimpansen auch über höhere Fähigkeiten, etwa Zählen, Addieren (Papini 2002) und Ich-Bewusstsein; sie können abstrahieren und kategorisieren. Viele Studien zum Spracherwerb von Affen (einen Überblick gibt Boaz 1997) belegen, dass ein Zeichenvokabular mit bis zu 500 Wörtern und ein eigenständiges Bilden kurzer Sätze erlernt werden können (vgl. Roth 1994, S. 61). Die Grenzen bei Affen liegen etwa beim geistigen Niveau eines 2-jährigen Kindes, und ohne menschliche lehrende Intervention kommen Affen so gut wie nie über das Imitationslernen einiger weniger höherer Tätigkeiten wie vorausplanender Werkzeuggebrauch hinaus (Tomasello 2003). Eine zentrale Rolle unseres hoch entwickelten Soziallebens spielt die Kommunikation, die hauptsächlich über Signale wie Emotionen und Gesichtsausdrücken vermittelt wird. Wir haben sie von den Primaten fast unverändert übernommen (z. B. Darwin 1874/1966; Eibl-Eibesfeldt 1997). Ekman weist die Universalität von sieben Gesichtsausdrücken und Grundemotionen wie Freude, Zorn, Trauer usw. nach (Ekman et al. 1972). Zu den universalen Verhaltensweisen gehören im weiteren Sinn auch der Augengruß, die Mundfütterungsgeste (der spätere Kuss), die Verlegenheit mit Verbergen, die Ablehnung, das Kindchen-Schema, Lächeln, das Flirtverhalten und viele andere (EiblEibesfeldt 1997). Diese Beispiele belegen die Kontinuität der Entwicklung von äffischen Vorfahren zum Menschen. Es wird zudem deutlich, dass morphologische Anpassungen auch Anpassungen im Verhalten und – wie später gezeigt werden wird – im Denken nach sich ziehen.

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1.3.2 Spezifität des Verhaltens Neben der Kontinuität ist auch die oft sehr spezifische Natur der Verhaltensweisen von Belang. Im Folgenden stellen wir wichtige Verhaltensweisen vor allem aus dem Bereich der Partnerwahl zusammen. Das dient einerseits dazu, das breite Spektrum der vererbten Verhaltensweisen nachzuweisen, und andererseits die oft sehr spezielle Natur von Anpassungen zu verdeutlichen. Frauen können nur wenige Nachkommen haben, die überdies mit hohen Aufzuchtkosten verbunden sind. Männer können potenziell unbegrenzt Nachkommen mit geringem Zeit- und Investitionsaufwand zeugen. Unter solchen Umständen sagt die Evolutionstheorie geschlechtsspezifische Strategien voraus. In einer 37 Kulturen, 33 Länder und über 10 000 Menschen umfassenden Studie konnte Buss (1989) solche universalen Kennzeichen der Partnerwahl nachweisen: Männer suchen nach Frauen, die jung, schön und treu sind. Frauen bevorzugen gesunde, starke, und reiche Männer von hohem Status, die fürsorglich sind. Beide Strategien stellen anpassende Optimierungen an den Reproduktionserfolg dar. Die Jugend bei Frauen ist entscheidend für die Reproduktionskapazität und Fruchtbarkeit, und die Schönheit ist ein Indikator für Gesundheit. Die Treue der Frau schließlich ist von extremer Wichtigkeit für Männer: „Men regard unfaithfulness as the least desirable characteristic in a wife, rating it a –2.93 [auf einer Skala von +3 bis –3], reflecting the high value that men place on fidelity.“ (Buss 2004a, S. 154)

Warum ist das so? Das Aufziehen eines Kindes bedeutet eine sehr hohe Investition für einen Elternteil. Ist das Kind ein fremdes Kind, so stellt diese Fehlinvestition für die eigenen Gene die reproduktive „Höchststrafe“ dar (vgl. Buss 2004b). Allgemein wollen Männer jeder Ethnie mehr Sexpartner als Frauen, und der „ideale Sex“ besteht für sie aus kurzen Affären ohne emotionale Verwicklung und ohne aufwändiges Werben. Der Harem, eine Einrichtung, die Männern in Machtpositionen viele junge Frauen zur alleinigen Verfügung stellt (manchmal mehrere Tausend), ist ein weiteres Indiz für diese Präferenzen. Für Frauen ist dagegen Geborgenheit bei einem vertrauten Partner und emotionale Bindung wichtig, was auf

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die Bedeutung eines zuverlässigen Vaters hinweist. Der entscheidende Faktor ist also die Bereitschaft der Männer, in die Aufzucht des Nachwuchses zu investieren. So erklärt sich das folgende verblüffende Ergebnis eines Experiments: Auf einem Campus in den USA sprechen ein gut aussehender Mann (oder eine gut aussehende Frau) Passanten an, ob sie mit ihm (bzw. er mit ihr) schlafen will. Alle Frauen lehnen ab, während 75% der Männer zustimmen. Die restlichen 25% entschuldigen sich mit Zeitknappheit; sonst würden sie das Angebot annehmen (Buss 2004a). Die Bereitschaft zur Investition betrifft vor allem das Beschaffen oder den Besitz von Ressourcen, die für Frau und Kinder bereitgestellt werden. Typische Verhaltensweisen können bis in die Texte von Kontaktanzeigen belegt werden. Als Fazit lässt sich festhalten: „All these cues – economic resources, social status, and older age – add up to one thing: the ability of the man to acquire and control resources that ancestral women could use for themselves and for their children.“ (Buss 2004a, S. 117)

Diese Beispiele machen klar, dass sehr viele Verhaltensweisen an eng umrissene Problemstellungen angepasst sind. Das wird sich auch im Denken zeigen. Es muss natürlich feststehen, ob es sich bei ihnen um angeborene Verhaltensmuster oder Fähigkeiten handelt.

1.3.3 Erblichkeit von Verhalten und kognitiven Fähigkeiten Vererbtes Verhalten lässt sich durch vier Herangehensweisen belegen (Eibl-Eibesfeldt 1973; Kull 1979): Über vergleichende Verhaltensforschung von Primaten und Menschen, vergleichende Ethnologie (universale Kulturmerkmale), unter Erfahrungsentzug bzw. Erfahrungsmangel aufwachsenden Kindern (etwa taubblind geborene Kinder, Wolfskinder), Universalien in Ontogenese und Verhaltensgenetik (Zwillingsstudien). Vorher jedoch ein Exkurs zur Kultur: Kultur ist keine kausale Erklärung, die mit der Evolutionstheorie konkurriert. Zum einen ist die Dichotomie Biologie-Kultur unbrauchbar, da sie eine Variabilität auf der einen, Unveränderbarkeit auf der anderen Seite suggeriert (vgl.

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Ruse 1988). Zum anderen ist Kultur von Biologie abhängig; letztere ist aber logisch und zeitlich vorgängig: „Dennoch ist es auch hier [bei kulturellem Verhalten] die natürliche Selektion, die die letzte Auswahl trifft, denn sie wählt unter uns auch aufgrund der Entscheidungen aus, die wir auf der kulturellen Ebene getroffen haben.“ (Cavalli-Sforza 1996, S. 191)

Kritiker betonen dagegen deren Unabhängigkeit (Sober 1993). Diese beiden Faktoren bestehen demnach in ihrer Ausprägung durch gegenseitige Wechselwirkungen. Biologische Prädispositionen führen innerhalb vorgegebener Bahnen zu kulturellen Entscheidungen, die jeweils von zufälligen lokalen Bedingungen abhängen (Alexander 1987): „Rather, culture in a sense sits on top of a bed of biological constraints and dispositions.“ (Ruse 1995, S. 158)

Beispiele dafür sind das universale Inzesttabu, Farbkategorisierung (Berlin & Kay 1969/1991) und die Tiefenstruktur der Sprache. Auch grundlegende kognitive menschliche Fähigkeiten bei Kindern (Ginsburg & Opper 1998) und Erwachsenen (Scribner 1984) sind unabhängig von Kultur fast identisch (beispielsweise Geometrieverständnis von US-Amerikanern und einem Amazonasvolk; Dehaene et al. 2006). Das belegt, dass kulturelle Faktoren für unsere Problemstellung eine untergeordnete Rolle spielen, auch wenn die Geschwindigkeit der kulturellen Evolution die der biologischen weit übertrifft. Selbstverständlich unterliegen vererbte Verhaltensweisen immer noch zusätzlich der Modifikation durch die Umwelt und prägen sich erst in diesem Wechselspiel voll aus. Die Bandbreite und Zahl vererbter Verhaltensweisen ist aber bemerkenswert: „Most aspects of behavior are under genetic control. Evidence for this can be seen in the striking biological similarities of human twins and in our ability to select and breed domestic and laboratory animals for particular behavioral traits.“ (Amaral 2000, S. 59; vgl. auch Papini 2002).

Als Belege für den großen Anteil der Vererbung an Verhalten und Denken führen Verhaltensgenetiker an: vererbte Krankheiten mit Einfluss auf die Kognition; bizarre, aber identische Verhaltensweisen getrennt aufgewachsener Zwillinge; sehr hohe Korrelationen bei kognitiven Fähigkeiten von Zwillingen:

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„Die Belege für einen starken genetischen Beitrag zur allgemeinen kognitiven Fähigkeit (g) [g = Generalfaktor der Intelligenz] sind eindeutiger als für jeden anderen Bereich der Psychologie.“ (Plomin 1999, S. 136, ähnlich S. 81)

Überzeugende Beweise für genetische Dispositionen des Lernens liefern Rattenversuche, bei denen eine vererbte Lernleistung nachweisbar war (Plomin 1999). Die Züchtung von Verhalten ist auch bei Drosophila gelungen (Kandel 1996). Eine starke vererbte Komponente findet man auch bei der Mutterrolle und der Säuglingspflege. Bereits bei Primaten ist die Mutter-KindBeziehung angelegt; schon 2-jährige menschliche Mädchen – manchmal selbst noch Säuglinge – spielen bereits Mutter. Versuche, Kinder egalitär, geschlechtsneutral und unabhängig von der Familie aufzuziehen, sind gescheitert; die Kinder fallen in ihr angeborenes Rollenverhalten zurück. Auch das kollektive Erziehen von Kindern in Kibbuzim wurde auf Druck der Frauen wieder abgeschafft: „So the utopian experiment of communal child rearing reverted to the primacy of the mother-child bond – a pattern seen in every human culture.“ (Buss 2004a, S. 188)

Ebenso sind die Geschlechterrollen angeboren: In den ersten Kibbuzen 1920 lag der festgelegte Frauenanteil bei Feld- und maschineller Arbeit bei 50%. Bereits 30 Jahre später betrug er nur noch 12%, verglichen mit einem 88%-Anteil der Frauen an Erziehung und Kinderpflege. 99% der Bauarbeiter waren Männer (Eibl-Eibesfeldt 1997). Weitere universale angeborene Verhaltensmechanismen sind das Inzesttabu, Schamhaftigkeit bei Frauen, sowie basale Strukturen der Ehe und der Kernfamilie (siehe Eibl-Eibesfeldt 1997 für weitere Beispiele). Diese Beispiele demonstrieren, wie stark stammesgeschichtlich erworbene Verhaltensweisen gegenüber soziokulturellen Einflüssen dominieren. Auch Phänomene wie Kindstötung, die auf den ersten Blick gesellschaftlich-sozialer Erklärungen bedürfen, sind über Interessenkonflikte, Ressourcenplanung und Investitionskappung einer evolutionären Erklärung zugänglich (Buss 2004b; Trivers 1985; Voland 2000; Wickler & Seibt 1991). Das gilt auch in Bezug auf das Denken. Hier ist die Evolutionäre Erkenntnistheorie zu nennen:

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Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. Vollmer 1975/2002, S. 102)

Diese Anpassung, unsere „kognitive Nische“ beschränkt sich auf den Mesokosmos, die Welt der mittleren Dimensionen (vgl. Vollmer 1985/2003, S. 77-79) . Für die Fehleranalyse sind nun vor allem Anpassungsmängel von Bedeutung.

1.3.4 Anpassungsmängel Da der Anpassungsbegriff für die Fehleranalyse von großer Wichtigkeit und nicht unumstritten ist, wird auf ihn später (C 2.1.3) genauer eingegangen. Hier zunächst nur die Definition: „[Eine Anpassung ist] ein Merkmal eines Organismus, dessen Vorhandensein in der Gegenwart durch seine Nützlichkeit in der Vergangenheit erklärt werden kann, da der Organismus dadurch mehr Nachkommen hatte als andere.“ (Sterelny & Griffiths 2003, S. 383, Übersetzung U. F.)

Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist die Tatsache, dass Anpassungen nicht perfekt sind; denn gerade daraus entstehen Fehler. Welche Möglichkeiten unvollkommener Anpassungen gibt es? 1. Diskrepanz zwischen der Nützlichkeit in der Vergangenheit und der Nützlichkeit in der Gegenwart (etwa die „Gänsehaut“, der Versuch, ein nicht mehr vorhandenes Fell zu sträuben). 2. Minimalkonstruktionen (z. B. Identifizierung der Raubvogelsilhouette bei Hühnerküken), Kompromisslösungen und Beeinflussbarkeit (z. B. Müller-Lyer-Täuschung, bei der gleich lange Linien als unterschiedlich empfunden werden). 3. (Noch) nicht optimale Anpassungen. So ist der aufrechte Gang eine relativ junge Anpassung und als solche noch nicht „ausgereift“. Das zeigt sich in Geburtsschwierigkeiten, Knieproblemen, Rückenschmerzen und Kreislaufproblemen (Plankensteiner 1992). 4. Die Anpassung besteht gerade in verschobenem Verhalten bzw. in verzerrter Wahrnehmung (z. B. Überängstlichkeit;

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dieses Beispiel wird unten ausgeführt). 5. Der spezifische Geltungsbereich der Anpassung wird überschritten. Im Folgenden werden unmittelbar sichtbare Beispiele für solche Inkongruenzen aus Morphologie und Verhalten angeführt. Sie sind uns wichtig, weil solche Diskrepanzen die grundsätzlichen Ursachen für Fehler darstellen. Ein Beispiel für die Nützlichkeit in der Vergangenheit sind Präferenzen für fette und süße Nahrung, die auf Seltenheit und Wert dieser Nahrung in den Savannenhabitaten verweisen. Dieser früher sicher optimale Anpassungscharakter hat heute durch das völlig andere Nahrungsangebot im wahrsten Sinne des Wortes schwer wiegende negative Konsequenzen: „Anders ausgedrückt laufen wir mit einem Steinzeit-Gehirn in unserer modernen Umwelt herum. Ein starkes Verlangen nach Fetten, eine Anpassung an eine früher existierende Umwelt mit knappen Nahrungsressourcen, verursacht heute verstopfte Arterien und Herzinfarkte.“ (Buss 2004b, S. 45)

Ein anderes Beispiel ist starkes Hierarchiedenken und schnelles und unbewusstes Einordnen in Rangordnungen (Buss 2004b). Diese stark ausgeprägte Ein- und Unterordnung bildet die Basis für den Respekt vor Autoritäten. Auf die Wissenschaft bezogen führt das letztlich zur Autoritätsgläubigkeit. Hier handelt es sich zweifellos um eine Anpassung an eine Lebensweise in Kleingruppen, die etwa 35 bis 75 Menschen umfassten (Birdsell 1968; Williams 1968; Woodburn 1968; Eibl-Eibesfeldt 1997). In heutigen Großstädten funktionieren Mechanismen für Kleingruppen oft nicht mehr: Einige Anzeichen dafür sind Blickvermeidung, Stress, vermehrte Aggression und erhöhte Kriminalität. Ebenso wichtig für das Überleben waren Vermeidung von und Umgang mit Gefahren. Anpassung erfolgte durch die Entwicklung von Phobien. Menschen verfügen über viele Ängste: vor Spinnen, Schlangen, Tiefen, Fremden, freien Plätzen (keine Flucht- bzw. Versteckmöglichkeit), oder Angst um die eigene Gesundheit (Hypochondrie). Ihr Überlebenszweck ist sofort einsichtig. Interessant an Phobien ist ihre grundsätzliche Asymmetrie, die im Satz „Better safe than sorry“

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ihren Ausdruck findet: Die Kosten von Fehlalarmen, also von vermeintlichen Gefahren, die keine sind, sind minimal. Beim Gegenteil – übersehenen Gefahren – kann dagegen ein einziger Fehler den Tod bedeuten. Deshalb ist leicht zu sehen, dass ein hoher Selektionsdruck auf der Verschiebung der Wahrnehmung liegt; hier zeigt sich eine Anpassung, die durch ihre innere Logik die Welt „falsch“ abbildet. So gibt es die Tendenz von Ängsten, sich zu Neurosen zu steigern und es gibt die veränderte Wahrnehmung überängstlicher Personen, die „gefährliche“ Objekte schneller und zuverlässiger aus der Umgebung herausfiltern als vergleichbare Reize. Ängste zeigen überdies sehr deutlich, wie Nützlichkeit in der Vergangenheit veralten kann: Es ist leicht, in nicht-ängstlichen Personen Angst vor jeder Art von Spinnen oder Schlangen hervorzurufen. Für moderne Gefahren wie Autos oder Elektrizität ist das unmöglich (vgl. Buss 2004a, S. 95). Einige Ängste erscheinen zwar „modern“, können aber auf Urängste zurückgeführt werden, etwa Flugangst oder Angst vor Bakterien. Eine andere Verzerrung gibt es in Hinsicht auf Reproduktionsverhalten. In mehreren, auch interkulturell durchgeführten Studien findet man, dass Männer – bei einem neutralen Versuchsaufbau – im Verhalten von Frauen mehr sexuelle Intention sehen als tatsächlich vorhanden ist (Saal et al. 1989). Die evolutionäre Erklärung geht von einer durch Selektion verursachten Verzerrung der Wahrnehmung aus, da diese unmittelbaren Nutzen für die sexuelle Reproduktion bringt: „When in doubt, men infer sexual interest. Men act on their inferences, occasionally opening up sexual opportunities.“ (Buss 2004 a, S. 314)

Es lassen sich also viele Beispiele für nicht optimale Anpassungen finden, die Fehler zur Folge haben können. Viele Fehler im Denken können ebenfalls darauf zurückgeführt werden. Als Funktionsträger des Denkens wird im Folgenden das Gehirn näher betrachtet.

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1.4 Aufbau des Gehirns Grundsätzlich gibt es drei Wege für das Verständnis eines biologischen Organs, in unserem Fall des Gehirns: Die Biologie behandelt Evolution und Entwicklung (siehe B 1, B 2); die Neurowissenschaften untersuchen seinen Aufbau und seine Funktion; die Experimentalpsychologie schließlich studiert seine Funktion (D). Der Aufbau wird im Folgenden nur skizziert. Gewöhnlich begreift man Denken (wir fassen es im Folgenden allgemein als Sammelbegriff für höhere kognitive Prozesse auf) als Endpunkt einer Entwicklung von Reaktionen auf die Umwelt. Sie beginnt bei Wirbellosen mit Phobie und Taxie, läuft über Reflexe und Instinkte, und endet bei Wirbeltieren mit Lernvermögen, Denken beim Menschen. Über die Identität von Gehirn und Denken herrscht bei Naturwissenschaftlern völlige Übereinstimmung: „Neuronale Prozesse, die kognitiven Leistungen zugrunde liegen, lassen sich im Gehirn messen, lokalisieren und bildlich darstellen.“ (Roth & Menzel 2001, S. 543; vgl. auch de Haan & Johnson 2003 sowie Kandel 2000)

Eine neuere Überblicksstudie über 275 fMRI-Einzelstudien (functional Magnetic Resonance Imaging) stellt bei allen Studien eine konsistente und eindeutige Zuweisung aller kognitiven Leistungen zu Aktivierungen im Gehirn fest (Cabeza & Nyberg 2000). Von den fünf Teilen des Wirbeltiergehirns (End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter-, Nachhirn) interessiert vor allem der nur bei Säugetieren vorkommende Neocortex, ein Teil des Endhirns. Hier erfolgen Raum-, Körper- und Bewegungswahrnehmung (Parietallappen), visuelle (Okzipitallappen) und auditorische Verarbeitung (Temporallappen), Motorik, Koordination der Sinne, Planung und Sprechen (Frontallappen) und kategoriale Wahrnehmung (assoziative Kortexareale). Etwas Weiteres kommt hinzu: „Insgesamt unterscheidet man aufgrund anatomischer Kriterien beim Menschen ungefähr 50 verschiedene Hirnrindengebiete […]“ (Roth 1994, S. 49)

Diese Tatsache kann mit der folgenden kombiniert werden: „For here one comes across an important anatomical fact: There is no single cortical area to which all other cortical areas report exclusively, either in the visual or in any other system.“ (Kandel & Wurtz 2000, S. 505)

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Das lässt aus anatomischer Sicht wenig Zweifel daran, dass das Gehirn aus einzelnen nacheinander entstandenen Modulen besteht, die nicht von einer Zentrale gesteuert werden. Diese starke Modularität wird durch zwei Fakten abgeschwächt: Ein funktionelles System im Gehirn umfasst stets mehrere Regionen mit identifizierbaren Verbindungen (Amaral 2000), und Funktionsausfälle können durch hohe Plastizität kompensiert werden (Greenspan et al. 1996). Die Plastizität gehört neben der Redundanz und dem hohen Energieverbrauch (20% des Sauerstoffs, 33% der Herzschläge) zu den hervorstechenden Eigenschaften des Gehirns (Plankensteiner 1992). Die Entwicklung des Gehirns erfolgt zum größten Teil in den ersten Lebensjahren: Neurologisch haben Kinder mit 2 Jahren etwa 75% der Gehirngröße von Erwachsenen erreicht, mit 7 Jahren 100% (Berger 2004). Von erkenntnistheoretischem Interesse ist die getrennte Verarbeitung von Sinnesreizen, die mehrfach umkodiert und erst im Gehirn integriert werden. Die späte Verrechnung der umkodierten und getrennten Reize bedeutet, dass bei der Interpretation der Sinnesdaten nicht mehr von einem Abbild gesprochen werden kann. Dazu kommt der konstruktive Charakter der Interpretation: Viele Änderungen werden über Konstanzleistungen kompensiert, etwa Objektkonstanz (Roth & Menzel 2001). Das gilt im Besonderen für das Gedächtnis (Parkin 2000).

1.5 Schlussfolgerungen aus der Stammesgeschichte Viele Merkmale des Menschen sind durch natürliche Selektion entstandene Anpassungen an eine Lebensweise als Jäger und Sammler in einem Savannenhabitat. Mehrere Millionen Jahre der Evolution stehen einigen Tausenden Jahren an Kulturentwicklung gegenüber. Für viele beobachtete Besonderheiten kann deshalb nur eine evolutive Erklärung eine kausale Interpretation bieten. Sie geht von starken stammesgeschichtlichen Dispositionen aus, die kulturell und durch Umweltinteraktion überformt werden. Kennzeichnend ist dabei eine hohe Kontinuität sowohl im Übergang von Primaten zu Menschen als auch in der menschlichen Stammesgeschichte selbst. Fast alle wichtigen

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Verhaltensweisen und Voraussetzungen des Denkens sind bereits bei Primaten ausgeprägt, und selbst komplexe Denkleistungen lassen sich auf Kombination einfacher Grundbausteine zurückführen (vgl. Spelke 2000, S. 1241). Trotz aller Kontinuität ist aus der rasanten Gehirnvergrößerung zu schließen, dass über lange Zeit ein hoher Selektionsdruck auf kognitive Leistungen herrschte. Morphologie, Verhalten und Kognition sind wie Werkzeug, Tätigkeit und Anwendungsmethode: jede sehr speziell und für sich allein nutzlos. Wenn man die gezeigten Prozesse der Evolution für die ersten beiden bejaht, dann muss man dies auch für das Denken gelten lassen: „Increased brain processing abilities, realized in larger brains, evolved by the same rules that apply to other biological traits.“ (Papini 2002, S. 303)

Analog zu den oben gezeigten spezifischen Anpassungen der Morphologie und des Verhaltens wird für das Denken eine Vielfalt an eng eingegrenzten Modulen erwartet, die jeweils auf bestimmte Problemgebiete zugeschnitten sind. Das wird in D behandelt. Bei den behandelten Anpassungen zeigen sich Fehler, Lücken und Beschränkungen durch Verzerrungen, zeitliche Diskrepanzen und weitere Probleme. Da es sich dabei um generelle Eigenschaften des Anpassungsprozesses handelt, sind diese Mängel auch bei kognitiven Fähigkeiten zu erwarten. Nach diesem Blick auf die Stammesgeschichte soll nun durch eine Betrachtung der Ontogenese – dem zweiten der drei möglichen Wege – die Untersuchung unserer Kognition ergänzt werden. Der dritte Zugang, die vergleichende Verhaltensforschung, bleibt auf Einzelbeispiele beschränkt, da er für die höheren Fähigkeiten weniger Erkenntniszuwachs verspricht.

2 Ontogenese 2.1 Vorbemerkungen Die Untersuchung der Kindesentwicklung kann als einziger der drei Zugänge auf unmittelbare empirische Befunde zurückgreifen und ist

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schon aus diesem Grunde wichtig. Sie kann als Ergänzung der Stammesgeschichte gewertet werden. Zunächst werden die einzelnen Komponenten der Kognition behandelt. Aus dem Zeitpunkt ihres ersten Auftretens und ihrer anschließenden Entwicklung lassen sich ihre Wichtigkeit, der erreichte Kompetenzgrad sowie Grenzen und Schwächen ableiten. Gerade die Kindesentwicklung macht deutlich, dass und wie höhere kognitive Fähigkeiten ihren Ursprung in sehr einfachen, körperzentrierten und konkreten Operationen nehmen. Die Bestandteile und universale Kernbereiche, wie z. B. intuitive Physik oder intuitive Biologie, wie auch deren Grenzen und Schwächen werden sichtbar. Wichtig neben dem Wann und dem Was ist auch der jeweilige Entwicklungsstand der Kinder. Das gibt uns Aufschluss über den Abstand des kindlichen Denkens zum wissenschaftlichen Problemlösen. Im Rahmen dieser Untersuchung kann nicht auf die Mechanismen, das Wie der Ontogenese, oder auf die unterschiedlichen theoretischen Positionen eingegangen werden, die von Piaget und seinen Schülern über Neopiagetianer bis zu Kognitivisten und Vygotski-Anhängern reichen, zumal wir uns auf einige Kernaussagen beschränken, die von den meisten Schulen akzeptiert werden. Weiterhin voraus zu schicken ist die Feststellung, dass die moderne Kognitionsforschung Dichotomien wie etwa „Anlage-Umwelt“ (Vererbt-Erworben) als veraltet ansieht (z. B. Krist et al. 1998; Goswami 2001), weil Konsens herrscht, dass das Zusammenspiel angeborener Muster grundsätzlich nur in Wechselwirkung mit der Umwelt ausreift (Epigenese); es bietet sich deshalb eine Gesamtsicht als Entwicklungssystem an: „So an organism inherits an entire developmental matrix, not just a genome.“ (Sterelny & Griffiths 2003, S. 95)

Eine sinnvollere Formulierung einer Teildebatte in diesem Feld bietet auch Hassenstein: „[Die] Bisher vertretene unrichtige Aussage [ist:] ‚Die IQ-Unterschiede zwischen Menschen sind zu 80% durch ihr Erbgut und zu 20% durch ihre Umwelt bedingt’. [Die] Korrigierte Aussage [lautet:] ‚von den genetischen Anlagen der menschlichen Intelligenz werden im derzeitigen Bildungswesen 67% verwirklicht, und 33% bleiben unentwickelt’.“ (Hassenstein o. J., S. 14; die Zahlen weichen wegen einer Rechnungskorrektur durch Hassenstein ab; vgl. dazu auch Hassenstein 1982)

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Zusätzlich tendiert die moderne Forschung – gegen Piaget – dazu, vom so genannten kompetenten Säugling zu sprechen. Wichtig für die vorliegende Untersuchung ist die schon länger andauernde Debatte um die Domänenspezifität kognitiver Fähigkeiten. Ein Beispiel ist logisches Denken: Können wir bereichsunabhängig logisch denken oder funktionieren bestimmte Operationen (etwa Modus tollens) nur bei kontextsensitiver, spezifischer Aktivierung fehlerfrei (siehe D 2)? Es ist umstritten, ob sich Fähigkeiten eher domänenspezifisch oder eher domänenübergreifend bilden. Die beiden Extreme des Spektrums bilden Fodor (1991) oder Cosmides und Tooby (1992) einerseits, Piaget und seine Nachfolger andererseits. Nach der modernen Kognitionsforschung gibt es aber eine Vielzahl eng begrenzter (spezifischer) Mechanismen, die außerhalb ihres Bereiches versagen. Ebenso deutlich zeigen sich sehr abstrakte Strukturen (etwa taxonomisches Einordnen), die Domänen übergreifen und unterschiedliche spezielle Prozesse steuern. Inzwischen nimmt man an, dass es keine in sich geschlossenen, unabhängigen Phasen gibt, sondern dass sich die domänenspezifischen Fähigkeiten einzeln entwickeln; gleichzeitig kommt es zu Transferleistungen zwischen den einzelnen Modulen.

2.2 Phasen der Kindesentwicklung Gewöhnlich unterscheidet man vier Phasen der Kindesentwicklung: Säugling (0-2 Jahre), Kleinkind (2-6 Jahre), Schulkind (6-11 Jahre) und Jugendlicher (älter als 11 Jahre). Einzelne Untersuchungen zeigen zeitliche Abweichungen, wenn es um die Erwerbszeitpunkte einzelner Fähigkeiten geht. Für unsere Zwecke muss die Zuordnung jedoch nicht allzu exakt sein.

2.2.1 Säugling (0 – 2 Jahre) Zusätzlich zu verschiedenen Reflexen verfügen Säuglinge bei der Geburt über die Fähigkeit zur Nachahmung (Meltzoff & Moore 1983). Bereits für das Alter von 3 Monaten ist das Zusammenspiel der Sinne – die Intermodalität – (Meltzoff & Borton 1979) und Anfänge von Gedächtnisleistungen nachgewiesen. Bei sehr jungen Babys erfolgen Experimente nonverbal als Habituationsexperimente. In dieses Alter

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fällt auch der Beginn der Unterscheidungsfähigkeit und damit Wiedererkennung sowie eine rudimentäre Kategorienbildung. Räumliche Kompetenzen sind bereits gut ausgeprägt (Goswami 2001). Dazu zählen das Wissen um Objektpermanenz, um die Undurchdringlichkeit von Gegenständen und dass Gegenstände zu Boden fallen, wenn sie nicht gehalten werden (Spelke 2000). Die räumliche Wahrnehmung erfolgt allerdings eher nach Bewegungsverlaufsmustern und Orten als nach Objekten (Gopnik & Meltzoff 1998). Zwei Monate später kommen Ansätze einer numerischen Kompetenz hinzu (Wynn 1992). Die Unterscheidung kausal zusammenhängender Ereignisse von nicht-kausalen wird etwa mit 6 Monaten möglich (Rauh 2002), der Beginn von Schlussfolgern und Problemlösen mit etwa 9-11 Monaten (Baillargeon & Aguiar 2000). Babys, die etwa 12 Monate alt sind, zeigen Imitationslernen und Analogieschlüsse. Aber auch Einjährige zeigen analoges Schließen nur, wenn ein extrem hoher Grad an Übereinstimmung zwischen Quellund Zielstruktur gegeben ist. Erst mit 4 Jahren werden Analogien mit Ausnahme abstrakter Strukturen gut beherrscht (Goswami 2001). Dieses Beispiel kann stellvertretend für viele Entwicklungen stehen, die ihren Ausgang in rudimentären, konkreten Formen haben, bis sie durch die wechselseitige Verbesserung des Weltwissens und der formalen Strukturen ihren ausgefeilten Endzustand erreicht haben. Mit etwa einem Jahr beginnt die so genannte naming explosion – der Beginn der Sprachkompetenz. Semantisches Konzept und spezifisches Handeln sind eng verknüpft und neue Wörter werden in ein Kategoriensystem einsortiert (Gopnik & Meltzoff 1998). Die Wahl und der Aufbau des Kategoriensystems ist entscheidend für die Wahrnehmung der Welt. Ab etwa einem Jahr wird in den Basiskategorien nach der Prototypentheorie von Rosch (1978) der Erwachsenen gedacht (Carey 1987). Im zweiten Lebensjahr findet vor allem eine Ausreifung und Vervollkommnung bereits vorhandener Fähigkeiten statt.

2.2.2 Kleinkind (2 – 6 Jahre) Sehr körperbezogene Lernprozesse, die sich aus sensomotorischen Erfahrungen entwickeln, prägen die ersten beiden Jahre (Ginsburg &

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Opper 1998). Für das zweite Jahr ist es das begriffliche Denken. Die Notwendigkeit der unmittelbaren Nähe zu Objekten nimmt ab, und bei abstrakten Tätigkeiten verschleiern sich deren motorisch vorgeformte Bezüge (Piaget 1974). Das der Begrifflichkeit zu Grunde liegende Weltverständnis, das durch das Kategoriensystem beschrieben wird, bildet sich aus. Sortierungsaufgaben werden bis etwa zum vierten Jahr (bis zum zweiten Jahr nach Bauer & Mandler 1989) über typische Merkmale gelöst, also über äußere Ähnlichkeit. Erst mit 9 Jahren gewinnen taxonomische Erwägungen die Oberhand, die Kategoriezugehörigkeit (definierende Merkmale) höher als oberflächliche Übereinstimmungen bewerten (Carey 1987; Goswami 2001). Die Kinder werden sich zudem bewusst, dass andere Menschen ein von ihnen selbst verschiedenes Wissen und andere Absichten besitzen (Theory of Mind). Im Alter von 4 bis 6 Jahren entwickelt sich das kausale Verständnis. Die biologische und soziale Wissensbasis wird stark ausgebaut und das Gedächtnis nähert sich in der Leistung dem der Erwachsenen. Das könnte ein entscheidender Faktor der kognitiven Entwicklung sein, da zwischen Gedächtnisleistung und kognitiven Leistungen eine hohe Korrelation besteht (Goswami 2001). Mit etwa 6 Jahren entwickelt sich das logische Denken. Kinder berücksichtigen mehrere Aspekte eines Problems, sind sich der Operation der Reversibilität bewusst, meistern das Konzept der Klasseninklusion (ein Element ist gleichzeitig Teil der Ober- und Unterklasse) und haben weniger Schwierigkeiten mit Transitivität (Goswami 2001). Greifen wir die Fähigkeit zur Deduktion heraus: Sie wird anhand von Syllogismen untersucht. Dias und Harris (1988) wiesen nach, dass schon Vierjährige in vertrauten Spielsituationen Syllogismen lösen können, unabhängig davon, ob die Prämissen mit dem Weltwissen übereinstimmen (Milch ist weiß), diesem widersprechen (Milch ist schwarz) oder unbekannt sind (Hyänen lachen). In der abgeschwächten Erlaubnisvariante des Wason Selection Task, der die Falsifikation bei Erwachsenen testet (siehe D 2), erkennen Kinder die Verbots- und Erlaubnisstruktur der dargestellten Situationen gut (Harris & Nunez 1996).

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2.2.3 Schulkind (6 – 11 Jahre) In dieser Phase wird anhand der bereits vorhandenen Klassifizierungsund Lösungsstrategien neues Weltwissen erworben. Dieser Prozess wirkt wiederum auf die formalen Strukturen zurück. In Hierarchien, Relationen und Abstrakta zu denken wird vervollkommnet, die Wissensbasis erweitert, Erinnerungsstrategien (Metagedächtnis) bilden sich etwa mit 9 Jahren aus. Festzuhalten bleibt auch, dass die Motivation bei Kindern in allen Bereichen eine große Rolle für die Leistungssteigerung spielt (Goswami 2001). Im konkret-operationalen Stadium, wie Piaget es genannt hat, bilden sich Fähigkeiten aus, die Beachtung mehrerer Dimensionen erfordern. Erhaltungsaufgaben werden dann gelöst: Wenn sich Freunde im Raum verteilen, dann sind es nicht weniger geworden, wie die Antwort von unter 6 Jahre alten Kindern unweigerlich lautet. Klasseninklusion wird begriffen, Reihenbildung, Reziprozität und Reversibilität werden beherrscht. Dabei können vertraute Strukturen eine Verbesserung der Leistung um 50% bewirken. Der nächste Entwicklungssprung erfolgt mit etwa 11 Jahren.

2.2.4 Jugendlicher (älter als 11 Jahre) Wenn sich auch praktisch alle Zeitangaben Piagets zur Entwicklung als zu spät angesetzt erwiesen haben, ist der Beginn des wissenschaftlichen Denkens, den er auf elf Jahre festlegt, von der heutigen Forschung bestätigt (Goswami 2001). Vor diesem Alter zeigen Kinder ein unsystematisches Vorgehen bei Lösungsversuchen aller Art, „Hypothesen“ werden nicht getestet, Schlüsse werden von Erwartungen geprägt und entsprechend verzerrt wahrgenommen. Auch wenn sich diese Verzerrung abschwächt, und sich später Ansätze von Tests zeigen, ist bis zum Alter von elf das gesamte Vorgehen noch zu unsystematisch und unlogisch, um zu richtigen Lösungen zu kommen (Ginsburg & Opper 1998). Erst mit elf kann man Planung, hypothetisches Vorstellen der Möglichkeiten, die VOTAT-Strategie (Vary One Thing At A Time), objektive Beobachtung und logische Schlussfolgerungen erkennen (vgl. Ginsburg & Opper 1998, S. 241).

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2.3 Intuitive Physik, intuitive Biologie und Kausalitätsverständnis Als basale Kategorien kindlicher Kognition lassen sich die intuitive Physik (Krist et al. 1998), die bisher nur angedeutete intuitive Biologie und das kausale Verständnis der Welt festmachen (Goswami 2001; Kälble 1997). Unter intuitiver Physik versteht man, dass einige Erwartungen an die Welt bestehen, wie etwa, dass Objekte nicht verschwinden, Gegenstände fallen oder Flugbahnen kontinuierlich sind. Dieses Verständnis stimmt größtenteils mit den intuitiven Erwartungen der Erwachsenen überein. Sie bleiben oft auch trotz Ausbildung bestehen. Gegen Gopnik und Meltzoff (1998), die eine enge Verschränkung von sprachlicher Kompetenz und Handlungswissen vertreten, behauptet Krist nach eigenen Experimenten: „Schon die Kindergartenkinder berücksichtigten in der Handlungsbedingung [prozedurales Wissen] sowohl die Abwurfhöhe als auch die Zielentfernung in hoher Übereinstimmung mit der physikalischen Gesetzmäßigkeit.“ (Krist 1997, S. 97)

Gleichzeitig scheitert aber die sprachliche Beschreibung des geraden Wurfs. Die Folgerung aus solchen und ähnlichen Untersuchungen sowie aus der erheblichen motorischen Intelligenz schon sehr junger Kinder lässt nur den Schluss zu, dass Menschen mit einem sehr guten physikalischen Weltverständnis zur Welt kommen. Der Bereich der Biologie zeichnet sich vor anderen Teilgebieten des Wissens dadurch aus, dass hier spezifische abstrakte Erwartungen bestehen und diese Domäne recht früh beherrscht wird (Simons & Keil 1995). Einiges an biologischem Wissen, etwa über Körperinneres oder über Fortpflanzung, bleiben kleinen Kindern jedoch etwa bis zum zehnten Lebensjahr verschlossen (Carey 1987). In der intuitiven Biologie herrschen animistische und intentionale Deutungen von Artefakten, Tieren und Pflanzen vor. Ohne Frage ragt das Kausalitätsverständnis hervor, das bereits bei Schimpansen nachgewiesen werden kann (Pinker 1998). Bei Kindern zeigt es sich schon früh mit 6 Monaten und stellt eine derartig dominante Strategie des Wissenserwerbs und der Orientierung in der Welt dar, dass jeder mit dem später

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auftretenden, nie endenwollenden „Warum?“ kleiner Kinder vertraut ist (mehr dazu in D 2). Die Sprachkompetenz von Kindern ist enorm. Untersuchungen an Neugeborenen zeigen, dass schon wenige Tage alte Säuglinge die Sprache der Mutter von fremden Sprachen unterscheiden können (Mehler et al. 1988). Die Sprachentwicklung bei Gehörlosen folgt den gleichen Regeln, Zeiten und Strukturen wie bei normalen Kindern (Grimm 2002). Dies und der frühe Zeitpunkt, wie auch die Art des Spracherwerbs (grammatische Tiefenstruktur, empirische Unterdeterminiertheit, Fehler, Umfang) lassen keinen Zweifel daran, dass die sprachliche Kompetenz und die Fähigkeit, Sprache zu erwerben, zu einem großen Teil angeboren sind (Chomsky 1980; Pinker 1998). Die universale Natur der Sprachfähigkeit wird in Pidgin- und Kreolensprachen ebenfalls deutlich. Auf die engen Wechselwirkungen von Sprachfähigkeiten und Kognitionsleistungen gehen Oerter (2002) und Pinker (1998) näher ein; viele höhere Leistungen sind ohne Sprache nicht denkbar.

2.4 Fehler bei Kindern Bisher wurden die Fähigkeiten des Kindes besprochen. Noch relevanter für die vorliegende Untersuchung sind die Leistungen, die Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten nicht beherrschen. Das beinhaltet Besonderheiten, Schwächen und schwer korrigierbare Fehler. Besonders in der Kindesentwicklung werden Fehler sichtbar, die bei Erwachsenen verdeckt sein können. Durch einen Blick auf die noch nicht voll ausgebildeten Strukturen des Denkens und ihre einzelnen Entwicklungsschritte können einige Grundelemente von Lösungsstrategien oder Fehlern im erwachsenen Denken und schließlich in der wissenschaftlichen Forschung sichtbar gemacht werden. So ist beispielsweise zu erwarten, dass sich einige Abweichungen von der wissenschaftlichen Methodik als Rückfälle in kindliche, allgemeiner in vorwissenschaftliche Denkmuster deuten lassen. Zunächst wird ein Gesamtbild der wichtigsten Besonderheiten entworfen: Sehr kleinen Kindern sind viele Grenzen gesetzt. Die starke Egozentrik und das ausschließliche Begreifen von Dingen, die

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sich in unmittelbarer, also sichtbarer Nähe befinden, sind zwei Beispiele. Weiterhin bleiben Lösungsversuche auf einen einzigen und statischen Aspekt beschränkt. Nach Piagets Experimenten zur Erhaltung von Masse, Volumen oder Zahl und zu Klasseninklusion, Reversibilität, Reihenbildung und Reziprozität werden viele Strukturen erst mit 6 bis 8 Jahren gemeistert. Im Vergleich zu Erwachsenen sind Kinder aller Altersstufen auch sehr schnell überfordert, wenn Aufgaben komplexer werden (Spelke 2000). Bereits genannt wurde die sehr wichtige Rolle des vertrauten Kontextes für die Leistungen. Sind die zu manipulierenden Objekte bekannt, so sind die Ergebnisse deutlich besser. Die Korrekturen der Zeitangaben Piagets bewegen sich deshalb nicht selten im Bereich von Jahren! Kritisch bleibt anzumerken, dass es ja gerade die Unabhängigkeit vom jeweiligen Kontext ist, die ein echtes formales Verständnis ausmacht. Das bleibt in der psychologischen Forschung unerwähnt. Das früh entwickelte kindliche Kausalitätsverständnis weicht in einigen Punkten vom Erwachsenen ab (Bullock & Gelman 1982; Kälble 1997). Die zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung wird zwar früh begriffen, aber Ursachen werden anders interpretiert, bis ein höheres Alter erreicht ist. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei Erwachsenen und wird in E 2 genauer behandelt. In zahlreichen Studien wird interkulturell gut belegt, wie sich zuerst animistische und intentionale, dann artifizialistische Vorstellungen zeigen, warum sich beispielsweise Objekte bewegen (vgl. Kälble 1997, S. 85): Als Gründe für die Bewegung unbelebter Objekte wie Sonne oder Wolken werden angegeben: Sie leben, sie wollen es, sie werden (von Gott) bewegt. Erst allmählich (ab etwa 8 Jahren) gehen diese Vorstellungen in ein physikalisch-mechanisches Weltbild über. Sowohl für Kinder als auch Erwachsene müssen Ereignisse vier Regeln folgen, um kausal interpretiert zu werden (Goswami 2001; Hilton 2002): 1. Prioritätsprinzip (Ursache vor Wirkung) 2. Kovarianzprinzip (Ursache und Wirkung treten regel mäßig gemeinsam auf) 3. Kontiguitätsprinzip (zeitlich-räumliche Nähe von Ursache und Wirkung)

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4. Ähnlichkeitsprinzip (Übereinstimmung von Ursache und Wirkung) Kinder aller Altersstufen lassen sich eher durch zeitliche Kontiguität leiten als durch Kovarianz (Goswami 2001), sind stark auf den Verursacher fixiert und neigen zu finalistischen Interpretationen (Kälble 1997). Kindern fällt zudem der Rückwärtsschluss von der Wirkung zur Ursache erheblich leichter als anders herum (Goswami 2001). Auffällig ist auch das Auseinanderfallen von deklarativem und prozeduralem Wissen in der intuitiven Physik. Erhebliche vererbte motorische Fähigkeiten stehen dem naiven Wissen darüber entgegen. Obwohl motorische Abläufe und Einschätzungen über Objektbewegungen und Kräfte gerade eben erfolgreich durchgeführt wurden, werden dem eklatant widersprechende Theorien über Fallbahnen, Gewicht usw. zur Seite gestellt (Krist 1997). Experimente von Kaiser, Proffitt und McCloskey (1985, S. 533) zeigen, dass Kinder grundsätzlich eine gerade Falllinie von Objekten erwarten, auch wenn das Objekt eine zusätzliche Richtungsänderung erhält (etwa Abwurf eines Balls aus einem fahrenden Zug). Weiterhin zeigt sich hierbei eine kontinuierliche Verbesserung der Voraussagen von 10% auf 50% von der 1. bis zur 6. Klasse, aber auch danach bis ins Erwachsenenalter, allerdings mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen: Wenn für die Falllinien durchsichtige Röhren benutzt werden, lösen alle Kinder die Aufgabe richtig; bei Verwendung undurchsichtiger Röhren erfolgt aber kein Transfer dieses „Wissens“! Diese Lernresistenz verweist einerseits auf die Erblichkeit der naiven Physikvorstellungen, andererseits auf den erheblichen Einfluss der unmittelbaren Anschauung. Dafür spricht auch die Starrheit der Fähigkeiten, die Beschränktheit auf unbewegte Objekte und das Erstaunen beim Vorführen der richtigen Lösung: Überrascht denken viele, der Versuchsleiter müsse gemogelt haben. Die Lernresistenz ist dabei enorm, die gleichen Fehler werden erstaunlich oft wiederholt. Selbst bei mehrmaligem Vorführen wird der Vorgang immer noch falsch gezeichnet, werden Ausreden für die Parabelbahn gesucht (Kaiser et al. 1985). Ergänzend sei erwähnt, dass selbst Erwachsene bei Wurfbahnen aus bewegten Objekten noch zu 35% falsch liegen.

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Die bisher besprochenen Fehler betreffen Altersstufen, in denen Kindern das wissenschaftliche Denken noch abgesprochen wird. Bis zum 11. Lebensjahr sind sie definitiv keine „kleinen Wissenschaftler“. Bevor Kinder Hypothesen systematisch testen können, zeigen sich vor allem drei Phänomene: Die Kinder ignorieren Gegenbeweise fast vollständig; sie verlassen sich fast ausschließlich auf Bestätigungen (positive Tests), während sie Falsifikationsversuche (negative Tests) kaum durchführen, und sie geben alte falsche Hypothesen nur äußerst ungern auf (Klahr 2000; Samuels & McDonald 2002). Zusätzlich schließen sie häufig von nur einem Fall auf die Gesamtheit, und Kovariationen werden kausal interpretiert (Kuhn et al. 1988). Diese Fehler werden wir bei Erwachsenen und Wissenschaftlern in unveränderter Form wiederfinden (siehe E 2). Zusammenfassend kann man schon viele Schwächen bei Kindern erkennen, die bei Erwachsenen zum Teil wieder verschwinden, zum Teil aber auch fortbestehen. Dies sind: eindimensionales, starres und statisches Denken (siehe G 1.2), Notwendigkeit der Anschaulichkeit und Vorzug des Konkreten vor dem Abstrakten (siehe G 1.2), intuitive Physik (auch Erwachsene erreichen die Stufe der Newtonschen Mechanik oft nicht, sondern fallen auf die Impetustheorie des Mittelalters zurück), unsystematisches Experimentieren, die Tendenz zur Einordnung, Taxonomie (Regelglaube, übertriebene Regelmäßigkeitserwartung, siehe E 1.2), Ignorieren widersprechender Belege (siehe D 3), fehlendes Bemühen um Falsifikation (siehe D 2) und Logikfehler. Alle mit Verweis versehenen Schwächen finden sich auch bei wissenschaftlich arbeitenden Erwachsenen. Sie werden in den Fallstudien (D 6, D 7, E 4, F 4, G 4) detailliert besprochen.

2.5 Schlussfolgerungen aus der Ontogenese Die besprochene Vielzahl von Einzelergebnissen zeichnet folgendes Bild: Der Mensch kommt mit vielen angeborenen Fähigkeiten auf die Welt. Die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit lässt darauf schließen, dass die angeborenen Strukturen als Wegweiser dienen und die Begrenzungen für das Lernen vorgeben.

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Entscheidend für die Leistungen der Kinder sind allgemein Kontext und Anschaulichkeit (Janke 1997). Die zum Teil radikale Korrektur der Piagetschen Zeitangaben um mehrere Jahre bei der Ausbildung von Kompetenzen ist vor allem auf die Ersetzung abstrakter Sachverhalte durch vertraute, anschauliche und interessante Kontexte für Kinder zurückzuführen. Erst später erfolgt die Ablösung vom egozen trischen Weltverständnis, das den eigenen Körper als Mittelpunkt setzt, durch die Weiterentwicklung des begrifflichen und logischen Denkens. Die Richtung geht vom konkreten Handeln zum abstrakten Denken. Das Lernen selbst geht nicht von der Anwendung abstrakter Kategorien auf die Welt aus, sondern schreitet vom konkret erlebten Einzelfall zur Kategorie fort (Krist et al. 1998). Die Ontogenese bestätigt also die Voraussagen der Evolutionstheoretiker: Die für das Überleben fundamentalen Bereiche und Fähigkeiten (Biologie, Physik, dort unter anderem Kausalität) sind auch am besten und am frühesten entwickelt. Diese Kernbereiche sind im Wesentlichen angeboren: „Vielmehr nimmt man an, daß es eine Reihe natürlicher Bereiche gibt, in denen Kinder jeweils in spezifischer Weise für den Wissenserwerb prädisponiert sind.“ (Krist et al. 1998, S. 162)

Auch die höchsten kognitiven Fähigkeiten des Menschen entwickeln sich im Laufe der Kindheit aus einfachen Grundstrukturen. Problemlösen und logisches Denken beginnen mit konkreten, einfachen, vertrauten Objekten; Anzahl, Komplexität und Abstraktionsgrad können erst mit der Zeit erhöht werden. Dem Lernprozess sind (angeborene) strikte Grenzen gesetzt: „It is extremely difficult to improve performance on most Piagetian tasks through teaching.“ (Carey 1987, S. 191)

Wird die Interaktion von Reifungsprozess und Lernen gestört, so wird etwa der motorische Entwicklungsrückstand in kurzer Zeit wettgemacht: Beispiele sind monatelang angeschnallte (Hopi) oder eingeschnürte (Äthiopien) Kinder. Dagegen gibt es für die Sprachentwicklung entscheidende sensitive Phasen (Grimm 2002). Ein Ende der Entwicklung wird zeitlich mit dem Ende der Pubertät, inhaltlich mit dem Erreichen des Expertenstatus erreicht.

C - Methodische Grundlagen der Fehleranalyse

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C Methodische Grundlagen der Fehleranalyse Die bisher vorgestellten Belege bezüglich Evolution, Ontogenese und Neurowissenschaften bilden die Grundlage für den Hauptteil (D, E, F, G): Analyse und Erklärung der Fehler. Dieser wird zuvor (in C) methodisch abgesichert.

1 Methodik der Fehleranalyse 1.1 Definition des Fehlerbegriffs Der Fehlerbegriff zielt üblicherweise auf eine Abweichung des tatsächlichen Zustands oder einer Leistung von einer Norm (DUDEN 1999; Brockhaus 1968) oder als Nichterfüllung einer Anforderung: „Unerwünschter Unterschied zwischen beobachteten, gemessenen oder berechneten Zuständen oder Vorgängen einerseits und wahren, festgelegten oder theoretisch korrekten Zuständen oder Vorgängen andererseits.“ (Medlexikon 2005)

Das Fehlen eines Eintrags für „Fehler“ in fast allen spezialisierteren Lexika ist auffällig: Weder im Cambridge Dictionary of Philosophy (1999) noch in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (1980) ist dazu etwas vorhanden. Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie (1971) geht unter „Fehler“ ausschließlich auf Freudsche Fehlleistungen ein, die Encyclopedia Britannica (1965) kennt nur eine Theory of Errors, die Encyclopedia of Philosophy (1967) verzeichnet lediglich den Begriff fallacy in Bezug auf logische Schlüsse, error wiederum nur als Sprachfehler. „Fehlleistung“ wird oft mit der Konnotation der Freudschen Psychoanalyse gebraucht, während Konrad Lorenz damit gestörte Funktionen bezeichnet. Das unterstreicht den Mangel an einer einheitlichen Definition und an Fehlertheorien (vgl. Schweitzer 2004) und zugleich die Notwendigkeit von Fehleranalysen. Andere Definitionen beschreiben Fehler als denjenigen defekten Teil einer Handlung, die ohne den Fehler zum Erreichen des Zieles geführt hätte.

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C - Methodische Grundlagen der Fehleranalyse

Der Begriff „Fehler“ und dessen Wortfamilie, die Versagen, Störung, Abweichung, Täuschung, Fehlfunktion, Scheitern, Schwäche und Ausfall umfasst, verweist somit unmittelbar auf den Begriff der Leistung bzw. den der Funktion. Der Funktionsbegriff ist sowohl in Bezug auf den Fehlerbegriff als auch für den Begriff der Anpassung von Bedeutung. Es gibt im Wesentlichen zwei Auffassungen zum Funktionsbegriff (vgl. Schweitzer 2004): Eine verbreitete Auffassung verweist auf die Herkunft, auf den historischen (evolutiven) Prozess, der zur Funktion F geführt hat. Eine Funktion F wird mit selektierten Effekten gleichgesetzt. Sie trägt als echte Funktion (proper function) zur Gesamtfitness positiv bei (Millikan 1984; Kitcher 1998). Eine andere Auffassung definiert Funktion, ohne den Entwicklungsprozess eines Systems kennen zu müssen. Entscheidend ist vielmehr die Funktion eines Teilsystems in Hinblick auf das Ziel des Gesamtsystems (für weitere Details vgl. Schweitzer 2004, S. 28-35). In der vorliegenden Untersuchung wird der Funktionsbegriff im ersten Sinne verwendet. Der Funktionsbegriff ist für Artefakte unproblematisch; bei Lebewesen führt er auf die Frage der Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit. Die Nützlichkeit einer bestimmten Funktion wird in der Biologie auf den Begriff der Fitness zurückgeführt, die letztlich in Reproduktionserfolg mündet (Schweitzer 2004, S. 4). Dawkins (1990) macht auf die Problematik des Fitnessbegriffes aufmerksam. Die eben besprochene Fehlerdefinition weist bereits auf ein grundlegendes Problem aller Fehleranalysen hin, das jedoch oft übersehen wird. Anhand dieser Problematik kritisieren wir bisherige Ansätze und entwickeln unseren Gegenentwurf.

1.1.1 Kritik an der bisherigen Fehlerforschung Die bei weitem einflussreichste Strömung in der Fehlerforschung ist der heuristics and biases-Ansatz, der in den frühen siebziger Jahren von den Wirtschaftsnobelpreisträgern Kahneman und Tversky begründet wurde. Sie wiesen einige von Menschen benutzte Denkheuristiken nach, die eklatante Verstöße gegen rationales Handeln darstellen. Das zu Grunde liegende Rationalitätsverständnis basiert auf Mathematik,

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Logik und Statistik. In den nächsten 30 Jahren folgte eine Flut von Publikationen in diesem Bereich; ein Sammelband der ursprünglichen Autoren (Gilovich et al. 2002), welcher der richtungsweisenden Aufsatzsammlung von Kahneman, Slovic und Tversky (1982) nachempfunden ist und alle namhaften Autoren zu Wort kommen lässt, sowie die Zahl der Zitationen (z. B. im Science Citation Index) zeigen die Präsenz dieser Forschungstradition. Die Problematik des Fehlerbegriffs wird besonders deutlich im heuristics and biases-Ansatz und soll daran diskutiert werden: Die zweistellige Beziehung von Fehler und Norm (Abhängigkeit des Fehlers von der Norm) wird nicht problematisiert, obwohl sie bereits aus dem Fehlerbegriff ableitbar ist: Das entscheidende Problem ergibt sich hier aus dem Vergleich einer heuristischen Leistung mit einem Rationalitätsstandard aus der Wissenschaft, in den meisten Fällen der Mathematik. So wird beispielsweise die Korrektheit einer Wahrscheinlich keitsschätzung nach dem Bayes-Theorem bewertet. Zwischen diesem normativen, wissenschaftlichen Rationalitätsstandard und den Denkheuristiken besteht aber a priori kein Zusammenhang: Eine Wahrscheinlichkeitsschätzung zielt nicht auf die korrekte Erfüllung des Bayes-Theorems, sondern ist vielmehr auf konkret vorgegebene Aufgaben in einer Umwelt optimiert. Erst in jüngerer Zeit taucht dieser Gedanke unter dem Schlagwort ökologische Rationalität in der Psychologie auf. Auch das davon etwas entferntere Gebiet der Verhaltensökologie weist uns auf diese Problematik hin, z. B. die Optimal Foraging Theory (vgl. Krebs & Davis 1996). Von einem Verhalten wird angenommen, es sei auf X optimiert. Das könnte bei der Nahrungssuche etwa der Kaloriengewinn pro Zeiteinheit sein. Wenn ein Organismus stattdessen die Nahrungssuche auf minimale Wegstrecke optimiert, dann erscheint das Verhalten in Bezug auf Kaloriengewinn keineswegs als optimal, sondern vielleicht sogar als regellos. Genau diese Falle lauert, wenn man Denkheuristiken nach Rationalitätsstandards beurteilt. Letztere sind vielleicht überhaupt nicht das Ziel, auf das hin optimiert wird. Dieser Verdacht erhält aus der vorliegenden Untersuchung weitere Nahrung: Kognitive Heuristiken sind vornehmlich in der und für die Auseinandersetzung mit der Umwelt entstanden. So betont die

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Gruppe um Gigerenzer und Todd die entscheidende Rolle der Umwelt, an die Denkheuristiken angepasst sind: „[…] the reason for the success of a heuristic can be found in its ecological rationality, more precisely, in the fit between the structure properties of the heuristic and the structure of the environment it is applied to.“ (Gigerenzer & Todd 1999, S. 119)

Sie kritisieren deshalb – in teilweise sehr heftigen Debatten – vor allem die mangelnde ökologische Validität: Versuchsergebnisse der heuristics and biases-Schule seien oft wertlos, weil Ergebnisse aus künstlichen Laborumgebungen von der zweistelligen Beziehung zwischen Funktion und Umwelt (Realwelt) einen Teil – eben die Umwelt – nicht angemessen berücksichtigen (Gigerenzer 1991). An dieser Kritik wird die fundamentale Rolle evolutionärer Anpassungen deutlich. Ausdrücke wie ‚irrational’ oder ‚optimal’ sind oft zu eng gefasst, weil sie die Abhängigkeit von Situation und Umwelt nicht genügend berücksichtigen. Gigerenzer zeigt, dass viele Verzerrungen (biases), die Kahneman und Tversky (1982) nachweisen, bei geeigneter, nämlich bei ökologischer Repräsentation verschwinden (Gigerenzer 1991, 1996, 2000; Gigerenzer & Hug 1992). Oft genug reicht Umformulieren für enorme Leistungssteigerungen (für Beispiele siehe auch F). Trotzdem wird auch bei vielen aktuellen Publikationen – vor allem in Ökonomie und Psychologie – immer wieder der Vergleich zu mathematischen Standards gezogen. Dass sich dabei Abweichungen ergeben, überrascht uns nun nicht mehr.

1.1.2 Was lernen wir aus den Mängeln der Fehlerforschung? Wir lernen aus dieser Debatte, dass für die Untersuchung von Denkheuristiken ihre Funktion entscheidend ist; sie verweist auf die Auseinandersetzung mit der Umwelt. Eine zu enge Fragestellung, die nicht passende Normen in Laborsituationen abfragt, muss ein falsches Bild zeichnen. In neuerer Zeit finden sich zunehmend Ansätze in der Fehlerforschung, die zumindest erwähnen, dass die untersuchten Mechanismen evolutiv entstanden sein könnten, sie ziehen aber nicht die nötigen Schlüsse daraus. Selbst die heuristics and biases-Tradition räumt mittlerweile ein, dass diese Perspektive ihre Berechtigung hat.

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Mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. Gigerenzer (Gigerenzer & Goldstein 1996), wird sie aber nicht als forschungsleitende Hypothese eingesetzt. Wir interpretieren Fehler hingegen nicht nur aus evolutionärer Perspektive, sondern verwenden diese auch als Rahmenerklärung. Damit vermeiden wir bereits im Ansatz einen Hauptkritikpunkt an der Fehlerforschung: Die dort besprochenen Fehler werden weitgehend unabhängig voneinander untersucht und bleiben auf diese Weise isoliert. Für jeden einzelnen Fehler muss ein neues, gesondertes und oft sehr spezielles Erklärungsmodell postuliert werden. In einem Fall sind das mentale Modelle, in einem anderen Theorien der Selbstwertstützung, in wieder anderen kognitive Aufwandsberechnungen. Der vorgestellte Rahmen bietet dagegen für Fehler eine einheitliche Beschreibung auf einheitlicher Ebene; man kann an sie deshalb eine kohärente Systematik anlegen. Darüber hinaus verfolgen wir das Ziel, nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine Erklärung der Fehler zu geben. Viele psychologische Arbeiten tun das nicht. Selbst die so fruchtbare Tradition der heuristics and biases mit Tausenden von Publikationen wird oft dahingehend kritisiert, dass sie sich weitgehend auf das Benennen (labeling) von Effekten beschränkt. Diese Mängel stellen eines der Motive für unsere Untersuchung dar. Von besonderer Bedeutung ist hier eine doppelte Wendung unserer Untersuchung. Zuerst wird analog zu Gigerenzer (1991, 2000) der Vergleich menschlicher Denkheuristiken mit normativen Rationalitätsmodellen als nicht umweltspezifisch genug abgelehnt: „If short-sighted evolution has equipped us with adaptive heuristics rather than with the collected works of logic and probability theory, this result indicates that we need to rethink human rationality.“ (Gigerenzer 2000, S. 234)

In der Tat müssen kognitive „Fehler“ völlig anders betrachtet werden: Erst aus ihrem Anpassungscharakter an die Umwelt ergibt sich, woraufhin optimiert wird. Die ökologische Validität fast aller Experimente zum Denken ist jedoch gering. Trotzdem spielt die von Kahneman und Tversky (1982) nachgewiesene Diskrepanz zwischen untersuchten Denkheuristiken und

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Rationalitätsnormen für unsere Untersuchung eine große Rolle, obwohl sie als Bewertungsmaßstab verworfen wird. Im Hinblick auf wissenschaftliche Forschung ist sie eben doch aussagekräftig; das ist gerade eine Stelle, an der ein solcher Konflikt zwischen umweltspezifischer Optimierung und Rationalitätsstandards ständig stattfindet. Die Normen wissenschaftlicher Methodik setzen der Fehleranfälligkeit des Menschen (des Forschers) Mechanismen zur Fehlervermeidung wie Kontrollen entgegen. Wenn Forscher wissenschaftlich arbeiten, dann müssen sie sich den geltenden Normen unterwerfen und geforderte Standards erfüllen. Es ist zu prüfen, ob es sich dabei um eine erreichbare Vorgabe handelt. Aufgrund unserer evolutionären Anpassung ist das wohl nicht ohne weiteres möglich: Zwischen den für evolutive Zielen entstandenen Mechanismen und den Kriterien der Wissenschaft entstehen Diskrepanzen; sie sind unser Thema. Eine weitere Prämisse ist die evolutive Anpassung kognitiver Fähigkeiten. Wenn diese Annahme berechtigt ist, dann haben jene Fähigkeiten ihre Tauglichkeit bereits vielfach unter Beweis gestellt. Somit müssten Fehler nicht primär als ein systematisches Versagen bei bestimmten Aufgaben betrachtet werden, wie es in der Fehlerforschung geschieht, sondern sollten eher als Nebenwirkungen, Kompromisse und Beschränkungen von Anpassungen betrachtet werden, die einen Zweck erfüllen. Fehler als Nebenaspekte von Denkleistungen aufzufassen und diesen genaue Anpassungen zuzuweisen, ist bisher nicht üblich. Mit dem Versuch, evolutive Gründe für Funktionen und Fehler anzugeben, betreten wir Neuland. Diesen Schritt haben wir in C 2 legitimiert.

1.1.3 Abgrenzung vom philosophischen Irrtumsbegriff Wie gerade diskutiert, verwenden wir einen psychologischen statt eines philosophischen Fehlerbegriffes. Das hat gute Gründe. Die Problemstellungen und Auseinandersetzungen der Philosophie seit der Antike beziehen sich auf Irrtümer, nicht auf Fehler. Das Fehlen entsprechender Einträge in einschlägigen Lexika ist nur ein Symptom

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dafür. Im Folgenden prüfen wir diese Begriffe und Problemstellungen auf Berührungspunkte und Zusammenhänge. Ein Irrtum ist ein falsches Urteil, das die urteilende Person als wahr ansieht. Wie kann man falsche und richtige Urteile unterscheiden? Das führt zur Wahrheitsproblematik, wie sie etwa bei Platons im Theätet (1988 a), im Sophistes (1988b) und bei Aristoteles in der Metaphysik (1980, VI, 4, 10) diskutiert wird und die gesamte Philosophiegeschichte durchzieht. Fehler dagegen verfehlen ein Ziel und haben zunächst nichts mit der Erkenntnis von Wahrheit zu tun. Irrtümer und deren philosophische Analyse beziehen sich also auf wahrheitsfähige Urteile über Sachverhalte, unsere Fehleranalyse dagegen auf Fehlfunktionen im Denken selbst, auf das Versagen kognitiver Mechanismen bei Problemlösungsversuchen. Auch die Einschätzung von Irrtum bzw. Fehler ist unterschiedlich. Ein häufiges philosophisches Ziel ist die „endgültige“ Irrtumsbeseitigung und sichere Grundlegung des Wissens. Wir betrachten Fehler des Denkens dagegen als notwendige Folgen der Fehlbarkeit biologischer Wesen. Eine Skizze einiger wichtiger philosophischer Irrtumstheorien, die fragen, wie es zu Irrtümer kommen kann, verdeutlicht den Unterschied und zeigt warum für unser Thema eine philosophische Analyse nicht zentral ist. Francis Bacon (1620/1990) beurteilt bisherige Erkenntnis als unsicher und zufällig. Ein Quell für Irrtümer sind die Idole (der Höhle, des Stammes, des Marktplatzes, des Theaters) des menschlichen Geistes. Deshalb ist unsere Rationalität grundsätzlich irrtumsbehaftet. Diese Auffassung rückt ihn noch am ehesten in unsere Richtung. Sichere Erkenntnis ist nur mit externen Hilfsmitteln möglich. Bacons Methode der Irrtumsbeseitigung ist allerdings nicht praktikabel, ist in ihrer Kombination nie angewendet worden und darf als überholt gelten. René Descartes (1641/1915) will den Irrtum dadurch eliminieren, dass Philosophie wie Mathematik betrieben wird. Als unbezweifelbaren Ausgangspunkt wählt er das Cogito, als Weg zur Wahrheit den Geist. Da Gott die Urteilskraft verleiht und uns nicht täuscht, kann Irrtum nur ein Mangel an Vollkommenheit sein, das dunkle und verworrene Gegenstück zur klaren und deutlichen Wahrheit. Warum wir irren,

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kann Descartes nicht beantworten; dazu verweist er auf Gottes unerforschlichen Ratschluss. Descartes’ Argumentation über Gott als erste Ursache der Erkenntnis (und des Irrtums) ist zu Recht von heutiger Philosophie oft kritisiert worden. Auch er liefert keine Irrtumstheorie. Immanuel Kant (1781/1974) beschreibt die Bestandteile der Vernunft und ihren zulässigen Anwendungsbereich in der Ästhetik und Analytik der Kritik der reinen Vernunft. In der Dialektik weist er Grenzüberschreitungen nach, die zu Irrtümern durch unzulässigen Gebrauch der Vernunft führen. Kants Beschreibung der Vernunft ist im Lichte heutiger, vor allem naturalistischer Philosophie, nicht mehr gerechtfertigt (vgl. Vollmer 1985/2003, S. 166-215). Die Irrtumsquellen müssen an anderen Stellen gesucht werden. Wittgenstein (1921/1989) schließlich verschiebt die Frage nach falschen und wahren Urteilen zu einer dritten Kategorie: „Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig.“ (Wittgenstein 1921/1989, 4.003)

Zweck der Philosophie ist vielmehr eine Klärung der Gedanken (4.112) und der Nachweis der Unsinnigkeit von Metaphysik (6.53). Irrtümer stammen demnach aus undeutlichen, ungeklärten oder unsinnigen Begriffen oder Sätzen. Wittgenstein selbst verwirft seine Kritik später (1953/1989). Eine klare Trennung von wahr, falsch und unsinnig erscheint ihm nicht mehr möglich. Eine Irrtumstheorie gibt es demnach auch hier nicht. Weitere loci classici sind Locke (1823/1963, „Of Wrong Assent, or Error“), Hume (1748/1964, Part. IV, Sect. I) und Leibniz (1705/1962, IV, 20). Als Irrtumsquellen werden genannt: mangelnder Wille, mangelndes Wissen, mangelnde Daten, schädliche Einflüsse, leere Ideen (Einbildungen) durch Assoziation und Gewohnheit. All das führt zu falschen Urteilen über die Welt und verfehlt wahre Erkenntnis. Moderne Wissenschaftstheorie fasst Irrtum grundsätzlich anders auf und ist sich bewusst, dass der Fehlerbegriff normenabhängig ist. Die Pluralität der Normen lässt indes keine eine sichere Norm mehr zu. Zudem operiert die Untersuchung im Rahmen von Evolutionsbiologie und Kognitionspsychologie nicht mit dem Begriff Wahrheit, sondern mit Funktion und Fehlfunktion. In der Folge ergibt sich eine

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Problemverschiebung. Die genannten philosophischen Analysen verlieren deshalb in Hinblick auf unsere Fragestellung ihre Relevanz. Der gewählte Ansatz ist deshalb ein anderer (siehe C). Im unmittelbar folgenden Teil werden die Fehler zunächst detailliert untersucht, bevor anhand von Fallstudien die strukturellen Übereinstimmungen der beschriebenen Fehler mit wissenschaftsgeschichtlichen Ereignissen aufgezeigt werden. Einzelne Fehler werden jeweils einer von vier Fehlerfamilien zugeordnet. Die vier Fehlerfamilien formulieren wir jedoch positiv bezüglich der zug Grunde liegenden Hauptfunktionen: 1. Handlungsfähigkeit durch Kohärenz (D) 2. Vorstrukturierung und Regelmäßigkeitserwartung (E) 3. Flexibilität und Informationsgewinn in unbekannter Umgebung (F) 4. Schnelligkeit und Einfachheit durch Reduktion (G). Der Aufbau der vier Fehlerfamilien ist im Folgenden immer gleich: Die einzelnen dazugehörigen Fehler werden beschrieben und empirisch belegt. Existierende konventionelle Erklärungen werden dargestellt und kritisch diskutiert. Der letzte Punkt jeder Fehlerfamilie ist jeweils der Versuch einer neuen, evolutionären Erklärung. Dort (siehe D 5, E 3, F 3, G 3) erfolgt auch eine detaillierte Besprechung der Fehlerfamilie in der Gesamtsicht. Die Fehlerfamilien stehen damit auch nicht isoliert, sondern besitzen Verbindungen untereinander.

1.2 Einteilung der Fehler Die technisch orientierte Fehlerforschung, z. B. bei Kernkraftwerken, auch Unfallforschung genannt, bietet viele Fehlertaxonomien und Hierarchien, die teilweise sehr spezifisch und detailliert ausgearbeitet sind (vgl. Reason 1990). Sie klassifizieren beispielsweise nach den formalen Merkmalen der Fehler (was?), nach den Umständen, unter denen Fehler auftreten (wann?) oder nach den beteiligten kognitiven Mechanismen (wie?). Nachteile solcher Klassifikationen für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung sind die Ausrichtung auf Performanz und die entweder zu grobe oder die auf enge technische Sachgebiete eingeschränkte Einteilung.

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Wissenschaftstheoretisch orientierte Klassifikationen neigen dagegen zu einer Einteilung entlang der zeitlich-prozessualen Achse: Hypothesenbildung – Experimentalphase – Bewertung der Ergebnisse (vgl. Klahr o. J.). Auch in der psychologischen Literatur ist eine zeitliche Einteilung üblich. Fehler werden nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens geordnet, so etwa während der Informationssuche, der Informationsverarbeitung und der Informationsbeurteilung (vgl. Wagner 2002). Probleme ergeben sich bei solchen prozessualen Einordnungen vor allem dadurch, dass gleiche Fehler, etwa fehlendes Bemühen um Falsifikation, sowohl bei der Informationsbeschaffung als auch bei der Verarbeitung und bei der Beurteilung von Information auftreten können. Und das ist geradezu die Regel. So ergeben sich zahlreiche Redundanzen, die diesen Ansatz als nicht optimal erscheinen lassen. Das sind Nachteile bestehender Klassifikationen. Im Allgemeinen gibt es allerdings kaum Versuche, Fehler systematisch zu behandeln. Selbst die einflussreichste Forschungstradition, die der heuristics and biases (siehe C 1.1.1) stellt keine Verbindung zwischen den einzeln untersuchten Fehlern her; diese bleiben isoliert. Wir führen daher eine eigene Fehlersystematik ein. Ähnliche Fehler werden gruppiert und nach der Art und Weise eingeteilt, nach der sie erklärt werden können. Die sich ergebenden Fehlergruppen nennen wir Fehlerfamilien, weil sie Familienähnlichkeit zeigen. Ihre Zusammengehörigkeit ergibt sich aus der jeweils einer Fehlerfamilie zugeordneten evolutionären Interpretation, die eine einheitliche und übergreifende Erklärung für alle Einzelfehler der Fehlerfamilie bietet. Die vier identifizierten Hauptgruppen können sowohl als Fehler (Beharren auf Überzeugungen, Beeinflussbarkeit, übertriebene Regelmäßigkeitserwartung, zu starke Vereinfachung), als auch als angepasste Denkmodule aufgefasst werden, die ein gewisses Leistungs spektrum erbringen (Handlungsfähigkeit, Flexibilität, Orientierungsfähigkeit, Schnelligkeit). Diese zusammengesetzten Module funktionieren in ihrem Kernbereich gut. An ihren Randbereichen müssen jedoch oft Kompromisse eingegangen werden, und so kommt es zu Fehlern. Dies wird noch detailliert besprochen (D, E, F, G).

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Für eine evolutionäre Interpretation sind Experimente mit Kindern und Untersuchungen bei anderen Kulturen von Belang. Da die Ergebnisse letztlich auf Fehler in der wissenschaftlichen Forschung übertragen werden sollen, sind auch empirische Untersuchungen mit Wissenschaftlern als Versuchspersonen aufschlussreich. Ziel ist es, den Gültigkeitsbereich der Daten – die oft von erwachsenen Laien stammen – in diese drei Dimensionen (für Kinder, andere Kulturen und Wissenschaftler) hinein zu erweitern. Jede Fehlerfamilie wird durch eine oder mehrere Fallstudien belegt.

1.2.1 Auswahlkriterien der behandelten Fehler Angesichts der nicht überschaubaren Vielzahl beobachteter Fehler muss eine Auswahl getroffen werden. Bei der oft kritisierten „Jagd“ auf Fehler kommen manche Sammlungen schon auf 70 Denkfehler. Bei Kombination verschiedener Gebiete – etwa bei Planungs-, Denkund Logikfehlern – kommt man schnell auf 200. Eine genaue Beschreibung oder gar experimentelle Prüfung ist bei einer derartigen Bandbreite nicht möglich; die Forschung hat dies bisher auch nicht geleistet, sondern sich auf wenige beschränkt. Viele „Fehler“ sind zudem nur Umbenennungen winziger oder sporadisch auftretender Effekte, Varianten bereits behandelter Fehler oder Wiederholungen. Sie werden hier vernachlässigt. Wenn im Folgenden von Fehlern die Rede ist, so sind nur jene gemeint, die unter angebbaren Bedingungen bei vielen Menschen zuverlässig erzeugbar und wiederholbar sind. Damit sind bloße „Patzer“, reine „Versehen“ oder „Lapsus“ ausgeschlossen. Von Interesse ist die Kompetenz, weniger die von vielerlei Umständen abhängige tatsächliche Performanz. Unser wichtigstes Auswahlkriterium ist die Bedeutung eines Fehlers für das wissenschaftliche Denken. Letzteres umfasst Hypothesenbildung, Datenaufnahme und deren Interpretation. Dagegen werden Fehler aus Ökonomie (z. B. endowment effect, loss aversion, pseudocertainty effect) und Persönlichkeitspsychologie (z. B. emotionales Denken, fundamentaler Zuschreibungsfehler oder Wunschdenken) ausgeschlossen, weil ihr unmittelbarer Einfluss auf wissenschaftliche Tätigkeiten nicht ersichtlich ist.

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Zweites Kriterium ist die Häufigkeit und Schwere des Fehlers. So sollen die folgenden vier Fehlerfamilien die bekannten Fehler bestmöglichst abdecken. Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu unserem dritten Auswahlkriterium, dem biologischen Ursprung des Fehlers. Auch wenn dieser nicht auf den ersten Blick sichtbar war, wurden wichtige Fehler nicht ausgeschlossen, um Ausgewogenheit und Neutralität der Analyse nicht zu gefährden und mögliche falsifizierende Beispiele zur Hand zu haben. Es ist jedoch überraschend, mit welcher Leichtigkeit sich evolutionäre Interpretationen für die Fehler anbieten. Gerade das mahnt dann auch zur Vorsicht.

2 Methodik der evolutionären Erklärung Im Folgenden wird der gewählte evolutionäre Ansatz dargestellt, methodisch begründet und rechtfertigt (C 2 und C 3). Wir gehen auf Kritik ein (C 4) und grenzen den Ansatz von anderen Erklärungen ab (C 5). Überlegungen zum Fehlerbegriff und zu Mechanismen der Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur und eine Selbstanwendung unserer Fehleranalyse auf die eigene Untersuchung folgen in C 6 und C 7.

2.1 Problematik und Rechtfertigung evolutionärer Erklärungen Im Folgenden diskutieren wir zunächst drei grundsätzliche Kritikpunkte an evolutionären Ansätzen und kommen dann in C 4 auf spezielle Probleme unseres Ansatzes zu sprechen.

2.1.1 Kritik an Evolutionärer Psychologie und Evolutionärer Erkenntnistheorie Ähnlich wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie (EE) sieht sich die Evolutionäre Psychologie (EP) durch die herkömmlichen Modelle heftiger – aber immer gleicher – Kritik ausgesetzt. Die drei häufigsten Einwände sollen kurz diskutiert werden: 1. Kritik: Die EP vertritt einen genetischen Determinismus bzw. einen Nativismus. Der Umwelt wird zu wenig Einfluss zugestanden.

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Erwiderung: Ein genetischer Determinismus wird nicht behauptet. Vertreter der EP, z. B. Cosmides und Tooby (1994) verneinen diese Dichotomie ausdrücklich als unbrauchbar (für Gründe siehe B, 1.3.3). Die developmental system theory verweist auf die enge Verzahnung und Abhängigkeit beider Bereiche voneinander, und Pinker (1998b) und Nanay (2002) erläutern, dass auch Erlerntes über angeborene Strukturen erklärt werden kann. 2. Kritik: Die EP/EE vertritt einen Panadaptionismus: Jedes Merkmal ist eine Anpassung. Erwiderung: Dass jedes Merkmal angepasst sei, wird ebenfalls nicht behauptet (vgl. Vollmer 1985/2003, S. 278f). Anpassung ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Mechanismus der Evolution. Daneben gibt es Umwidmungen und sogar schädliche Nebenprodukte von Anpassungen. Diese Problematik wird in C 2.1.3 behandelt. 3. Kritik: Die EP/EE ist nicht falsifizierbar. Erwiderung: Die EP/EE ist falsifizierbar (siehe Williams 1973 für konkrete Möglichkeiten für die Evolutionstheorie; vgl. auch Vollmer 1985/2003, S. 277f) und wurde schon in einzelnen Bereichen falsifiziert. Empirische Großuntersuchungen (etwa 10 000 Menschen) machen prüfbare Voraussagen (Buss 1989). Für weitergehende Kritik (Modularitätsthese, Verhalten als Anpassung, und andere) siehe Atran (2001); Panksepp & Panksepp (2001); Nanay (2002). Einige Kritik – vor allem die schwache empirische Basis der EP – wird zunehmend gegenstandslos: Ergebnisse aus der aktuellen bildgebenden neuropsychologischen Forschung und der empirischen Psychologie unterstützen die EP. Für eine umfassende Antwort auf Kritik zur EE siehe Vollmer (1985/2003; 2003, S. 24ff). Eine grundlegende philosophische Kritik behauptet, die EE sei keine vollständige Erkenntnistheorie und philosophische Probleme würden von ihr gar nicht berührt. Bezüglich des ersten Punktes lässt sich sowohl das tu quoque-Argument anführen als auch darauf hinweisen, dass eine Erkenntnistheorie, die sich nur für ein Teilgebiet zuständig fühlt, nützlich und richtig sein kann. Dagegen haben sich umfassende

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Theorien in der Vergangenheit sehr häufig als zu ehrgeizig herausgestellt. Zum zweiten Punkt: Genuin philosophische Probleme ohne jeden Bezug zu Naturwissenschaften gibt es unserer Meinung nach nicht. Außerdem beantwortet die EE viele Hauptfragen der Erkenntnistheorie (vgl. Vollmer 1975/2002, 1985/2003, 1986/2003). Zusammenfassend kann man sagen, dass sich evolutionäre Ansätze bewährt haben: Sowohl hinsichtlich empirischer Genauigkeit und Überprüfbarkeit als auch theoretisch-konzeptionell haben sie der Kritik standgehalten; die Rechtfertigungspflicht liegt heute bei Ansätzen, die auf eine evolutionäre Basis verzichten.

2.1.2 Grundlagen eines evolutiv-kognitiven Ansatzes Bevor eine evolutionäre Interpretation kognitiver Fehler gegeben werden kann, sind einige Vorüberlegungen notwendig. Zum einen sollen zunächst die grundsätzlichen Vor- und Nachteile einer solchen Herangehensweise dargestellt werden. Zum anderen muss klar sein, wie eine evolutionäre Erklärung als angemessen erwiesen werden kann. Was sind die Basisannahmen einer evolutionären Beschreibung kognitiver Fähigkeiten? Eine Zusammenstellung bietet das Integrated Causal Model (ICM): „1. Das menschliche Denken besteht aus einer Reihe informationsverarbeitender Mechanismen, die in das Nervensystem des Menschen eingebettet sind. 2. Diese Mechanismen und ihre Entwicklungsprogramme sind Anpassungen, die über evolutionäre Zeiträume durch natürliche Selektion in den Habitaten unserer Vorfahren entstanden sind. 3. Viele dieser Mechanismen sind in ihrer Funktion spezialisiert. Sie erzeugen Verhalten, das ganz bestimmte Anpassungsprobleme löst, wie z. B. Partnerwahl, Spracherwerb und Kooperation. 4. Um derart spezifische Funktionen ausüben zu können, müssen viele dieser Mechanismen eine inhaltsbezogene und reichhaltige Struktur besitzen.“ (Tooby & Cosmides 1992, S. 24, Übersetzung U. F.)

Die Probleme eines Nachweises einer evolutionsbedingten Strategie, etwa des selektiven Hypothesentestens, sind jedoch vielfältig. So ist der Begriff der Fitness nicht unumstritten (Dawkins 1990) und auch der Begriff der Anpassung ist problematisch. So geht eine

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evolutionäre Interpretation im Sinne des Adaptionismus (z. B. Alexander 1987; Sober 1993; positiv-kritisch: Sterelny & Griffiths 2003; negativ-kritisch: Gould & Lewontin 1979) davon aus, dass ein Merkmalskomplex bzw. eine Strategie durch die Evolution entstanden ist, sich in der Selektion bewährt hat und fast immer eine Anpassung darstellt. Bereits in der Definition von Anpassung steckt eine methodische Problematik: „[Eine Anpassung ist] ein Merkmal eines Organismus, dessen Vorhandensein in der Gegenwart durch seine Nützlichkeit in der Vergangenheit erklärt werden kann, da der Organismus dadurch mehr Nachkommen hatte als andere.“ (Sterelny & Griffiths 2003, S. 383, Übersetzung U. F.)

Dadurch sind Untersuchungen gegenwärtiger Fitnessunterschiede für die Frage der Angepasstheit nicht entscheidend, da sich die Nützlichkeit auf die Vergangenheit bezieht. Dazu ein Beispiel: „But the appendix is definitely an adaptation. It evolved through natural selection because it enhanced the fitness of our distant ancestors. So it's an adaptation without being adaptive. The appendix is a vestigial trait: a relic of previous selection. Conversely the ability to read is adaptive without being an adaptation. Literacy is highly adaptive in most modern human societies, as the disadvantages suffered by dyslexic people testify. But the ability to read is probably a side effect of other, more ancient cognitive abilities.“ (Sterelny & Griffiths 2003, S. 218)

Vergangene Anpassungsvorgänge können aber nicht mehr untersucht werden (vgl. Borgerhoff Mulder 1993). Die Untersuchung aktueller Fitnessunterschiede ist allerdings nicht die einzige Methode, Anpassungen zu untersuchen; das wird im folgenden Punkt C 2.1.3 diskutiert. Die vorliegende Fehleranalyse macht sich diese Problematik produktiv zunutze. Sie versucht, gerade auf Unstimmigkeiten einer Anpassung aus der Vergangenheit mit heutiger Fitness hinzuweisen. Die zweite methodische Problematik ist die überaus leichte Konstruierbarkeit adaptiver Szenarien. Solche „Just-so-Stories“ werden vor allem von Gould und Lewontin (1979) scharf kritisiert: „Hence we should not accept an adaptive hypothesis just because it sounds plausible.“ (Sterelny & Griffiths 2003, S. 48). Auch Kitcher (1985) sieht in der Beliebigkeit der Hypothesen Gefahren: „Depending on how we adjust the costs and benefits, the opportunities to exploit, and so forth, we can reach almost any conclusion we want.“ (Kitcher 1985, S. 261)

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Die vorliegende Untersuchung tritt dieser Gefahr entgegen, indem sie die zu erklärenden kognitiven Mechanismen an genauen und prüfbaren Kriterien für Anpassungen misst. Diese Kriterien werden unten (siehe C 2.2) im Einzelnen behandelt.

2.1.3 Anpassung und Funktion Neben der Vergangenheitsproblematik und der leichten Konstruierbarkeit adaptiver Szenarien sind auch Kriterien einer Anpassung schwer zu greifen. Wann ist ein Merkmal eine Anpassung? Vier Möglichkeiten sind grundsätzlich denkbar: Ein Merkmal ist tatsächlich eine Anpassung (z. B. Sichelzellenanämie in Malariagebieten). Es ist das Nebenprodukt einer Anpassung (z. B. das Geräusch des Herzens oder die Lesefähigkeit). Es war eine Anpassung, ist es heute aber nicht mehr (z. B. Blinddarm), oder es war eine Anpassung an etwas anderes und erfuhr einen Funktionswechsel (z. B. Federn bei Vögeln: zunächst dienten sie der Thermoregulation, jetzt dem Fliegen; vgl. Sterelny & Griffiths 2003). Gould (1998) schlägt für Umwidmungen den Ausdruck Exaptation vor, Vollmer (1986/2003) Funktionswechsel. Ein Merkmal kann natürlich auch neutral oder sogar schädlich sein. Bei den folgenden Funktionsanalysen bezüglich des menschlichen Gehirns steht es außer Frage, dass es sich um Anpassungen handelt. Mit Sicherheit sind es die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die ihn zu einem so erfolgreichen und dominierenden Lebewesen machen. Außerdem deutet die rasche Vergrößerung des Gehirns auf einen starken Selektionsdruck hin, der dann weitere Anpassungen nach sich zog. Wenn höhere kognitive Fähigkeiten Anpassungen sind, ist die nächste Frage: Welche Kriterien muss ein Merkmal im einzelnen erfüllen, um als Anpassung zu gelten? Das stärkste Kriterium ist das der Funktion. Sober definiert: „A ist eine Anpassung an Aufgabe T in der Population P dann und nur dann, wenn A in P vorherrschend wurde, weil es Selektionsdruck auf A gab, wobei der selektive Vorteil von A darauf beruhte, dass A die Aufgabe T zu lösen half.“ (Sober 1984, S. 208, Übersetzung U. F.)

Viele Autoren definieren Anpassung im Sinne dieser Definition (Burian 1994; Buss 2004a; Millikan 1984; Sterelny & Griffiths 2003; Cosmides & Tooby 1992). Die Feststellung „Ein Merkmal ist eine

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Anpassung“ ist demnach austauschbar mit „Das Merkmal hat im Sinne des selektierten Effekts eine Funktion“ (vgl. Schweitzer 2004). Das bedeutet, dass die Struktur eines Merkmals gut auf die Funktion zugeschnitten ist. Genauer: Wenn (komplexe oder spezialisierte) Strukturen sich in Bezug auf eine bestimmte Funktion (z. B. Informations verarbeitung) als effizient, ökonomisch, präzise und zuverlässig erweisen, dann spricht man von Anpassung (Cosmides et al. 1992). Die Identifizierung des adaptiven Problems und der selektiv wirksamen Umweltbedingungen sind demnach zwingende Voraussetzungen, um von Anpassung sprechen zu können. Daraus folgt, dass Funktionsanalysen hervorragend geeignet sind, Anpassungen zu belegen. Unter den vielen möglichen Methoden stützt sich die vorliegende Untersuchung deshalb vor allem darauf. Funktionspassungen können beispielsweise über Optimalitätsmodelle und über die Betrachtung von Optimierungsprozessen nachgewiesen werden (Sterelny & Griffiths 2003). Das wiederum geschieht über den Vergleich von Alternativen, im vorliegenden Fall überwiegend über den Vergleich von Vor- und Nachteilen von aus Einzelmechanismen zusammengesetzten Lösungsverfahren. Solche Verfahren, solche kognitiven Module nennen wir Denkheuristiken. Damit sind evolutionär geprägte Vorgehensweisen im Denken zur Lösung spezifischer Probleme gemeint. Sie sind von den in G 2 als Heuristiken bezeichneten allgemeinen abkürzenden Lösungsverfahren zu unterscheiden. Bessere Verfahren lassen auf Anpassung schließen. Werden in Optimalitätsmodellen zusätzlich Artgenossen berücksichtigt, geht es um den Nachweis evolutionär stabiler Strategien (ESS) und um spieltheoretische Lösungen. Um von Anpassungen sprechen zu können, ist häufiges und stabiles Auftreten von Merkmalen ein gutes Indiz. Um sicher zu sein, dass es sich um Anpassungen handelt, wird auf weitere Möglichkeiten des Nachweises, wie Kosten-Nutzen-Analysen und analoge Probleme zurückgegriffen (vgl. Buss 2004a). Erstere können Leistungsgrenzen von Funktionen erklären, indem sie Kosten und Nutzen in Betracht ziehen. Analoge Probleme ermöglichen es, durch Leistungsvergleich von Funktionen den Wirkungsbereich der Anpassung schärfer zu fassen. Auch Effizienzunterschiede durch individuelle Variation können Aufschluss über Optimalität geben.

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Für die vorliegende Untersuchung werden die in den letzten Absätzen beschriebenen Möglichkeiten verwendet, um Anpassung nachzuweisen. Andere Möglichkeiten scheiden aus praktischen Gründen für Menschen aus: So kann weder die differentielle Fitness gemessen werden, noch können Umweltfaktoren kontrolliert werden, wie das z. B. bei Drosophila oder Bakterienexperimenten möglich ist. Ebenso wenig können die Reihenfolge der Entstehung, graduelle Unterschiede oder Konvergenzkriterien herangezogen werden. Auch ein zwischenartlicher Vergleich ist nicht möglich, da außer dem Menschen keine Art über höhere kognitive Fähigkeiten verfügt (Sterelny & Griffiths 2003). Die vorliegende Untersuchung ist sich der Problematik des Anpassungsbegriffes bewusst. Sie weist deshalb keinen Passungscharakter nach, sondern nimmt stattdessen eine Funktionsanalyse vor. Im Fokus stehen ultimate Erklärungen, die natürlich immer in proximaten Mechanismen verwirklicht sind. Wo möglich, werden diese angegeben. Allerdings kann eine detaillierte Beschreibung aller proximaten Mechanismen – die experimentell abgesichert sein muss – von dieser Untersuchung nicht geleistet werden. Unsere Zusammenfassung der behandelten psychologischen Experimentalergebnisse unter ultimat erklärbare Module gibt jedoch eine mögliche Richtung für weitere Experimentalforschung vor. Aufbauend auf Funktionsanalysen aus der empirischen Kognitionspsychologie kann dann ein wissenschaftstheoretischer Ansatz entwickelt werden, der es ermöglicht, kognitive Leistungen von Wissenschaftlern in die Analyse einzubeziehen. Dieser Ansatz wurde bereits als evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie charakterisiert (siehe A 3) und ist ein Beispiel für naturalistische Philosophie. Damit ist die Rechtfertigung der gewählten Untersuchungsmethodik abgeschlossen. Im Folgenden werden wissenschaftsmethodische Argumente für eine evolutionäre Interpretation dargestellt.

2.2 Vorteile einer evolutionären Erklärung Primäres Argument ist die Sparsamkeit der Erklärung für eine Vielzahl von Fehlern. Sparsamkeit bedeutet, dass die Vielzahl konkurrie-

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render Modelle für Einzelfehler unter einer Rahmenerklärung zusammengefasst wird. Bislang wurde beispielsweise der Fehler der Bestätigungstendenz (wiederholtes Testen bereits bestätigter Hypothesen, siehe D 2) bei Theorien über die Motivationstheorie erklärt, die Bestätigungstendenz bei logischen Aufgaben jedoch über Kontexteffekte. Diese psychologischen Modelle unterscheiden sich beträchtlich, etwa in Art, Ebene und Umfang der Erklärung. Dagegen geht eine evolutionäre Erklärung von grundsätzlich gleichberechtigten proximaten kognitiven Mechanismen (Modulen) aus, die physiologisch und funktionell auf einer Ebene liegen. Diese bedürfen nur weniger ultimater Erklärungen; d. h. sie bietet eine übergreifende, einheitliche Theorie. Die Erklärung ist übergreifend, weil sie Fehler methodisch zusammenfasst und erläutert, was Fehler überhaupt sind und warum es sie gibt. Die proximaten Mechanismen liegen im Gegensatz zu Einzelerklärungen auf einer Ebene und speisen sich aus den gleichen Grundlagen. Sie ist kohärent und einfach. Darüber hinaus existiert für viele Fehler bisher nur eine Deskription. Hier bietet die evolutionäre Interpretation fehlerspezifische Erklärungen. Wichtig ist die enge Verknüpfung evolutionärer Ansätze mit empirischen Daten aus der Neurophysiologie und der Evolutionsbiologie. So können Hypothesen über sehr genaue Modelle wie die Optimal Foraging Theory überprüft werden. Auch die Übereinstimmung empirischer Ergebnisse mit einigen kognitiven Mechanismen ist bei evolutionären Erklärungen am höchsten (z. B. Wason Selection Task). Dieser letzte Punkt ist allerdings umstritten (z. B. Johnson-Laird & Byrne 1992). Ein weiterer Vorteil sind die im Folgenden dargestellten überprüfbaren Voraussagen.

2.3 Voraussagen einer evolutionären Erklärung Welche testbaren Voraussagen macht eine evolutionäre Interpretation der Fehler? Das sind solche Erwartungen, die eine evolutionäre Perspektive bei allen Fehlern vorhersagt. Es sind gerade diese Prognosen, welche die Unterschiede zu anderen Fehlertheorien markieren. Konkurrierende Theorien machen entweder keine oder andere Voraus-

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sagen, wenn überhaupt der Versuch gemacht wird, mehr als einen Fehler zu erklären. Die Kohärenz des evolutionären Ansatzes wird also vor allem durch eine einheitliche Erwartungshaltung an alle Fehler deutlich. Dies gilt auch für noch unbekannte Fehler. Im Folgenden sind Minimalcharakteristika aufgeführt, die bei allen Fehlern erwartet werden, was wiederum zu testbaren Voraussagen führt. Solche hier benannten konsistenten Erwartungen an Fehler existieren in keiner uns bekannten Fehlertheorie. Die folgenden Voraussagen sind durch Integration der identifizierten Fehler mit der Evolutionsbiologie und Psychologie für die vorliegende Untersuchung entwickelt worden. Sie bewerten auf verschiedenen Ebenen, sind aber in etwa gleich wichtig, also nicht hierarchisch geordnet: 1. Fehler werden als unerwünschte Effekte (z. B. Nebenwirkung, überholte Nützlichkeit; für weitere siehe B 1.3.4) oder systembedingte Beschränkungen einer vorteilhaften Anpassung aufgefasst. Die Funktion, der Zweck der vorteilhaften Anpassung ist erkennbar oder kann sichtbar gemacht werden. Das Gesamtsystem, das einer solchen Anpassung zu Grunde liegt, bezeichnen wir im Folgenden verkürzend als Komponente. 2. Die (vorteilhafte) Hauptfunktion einer Komponente weist eine dazu passende Struktur auf. Optimierungen zielen auf die Hauptfunktion. 3. Wenn die Funktion einer Anpassung im Labor getestet wird, dann ist die Testleistung umso besser, je ähnlicher die Testumgebung der realen Welt ist. Das bezeichnet man als ökologische Validität (Übertragbarkeit von (Labor)-studien auf die reale Umwelt bzw. Grad der Realweltnachbildung). Die Anpassung zeigt sich oft nur in einem sehr spezifischen Bereich ökologischer Validität und ist meist in ein Gesamtsystem eingebettet. 4. Zwischen Komponenten kann es zu Zielkonflikten und Kompromissen (Trade-Offs) kommen. Mehrere (sich möglicherweise widersprechende) Funktionen (z. B. Schnelligkeit und Gründlichkeit) müssen von opponierenden Komponenten oder sogar von einer einzigen Komponente erfüllt werden. Bei Einführung geeigneter Zielkonflikte sinkt die Leistung merklich ab.

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5. Aus Ökonomiegründen (z. B. Kapazität) erwarten wir im Denken Heuristiken (Faustregeln) statt Algorithmen. 6. Komponenten unterliegen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten. Dadurch sind Schwellenwerte angebbar, wo Leistungen aus Kostengründen nicht weiter optimiert werden, also ihre Grenzen erreichen. Die Kosten-Nutzen-Bilanz muss positiv sein. Letzteres ist empirisch nur schwer prüfbar, da die Parameter einer solchen Bilanz weitgehend frei wählbar sind. 7. Durch die große Variabilität der Aufgabenumgebung wird eine hohe Spezialisierung und Leistungsfähigkeit der Komponenten erwartet (Modularität). Sind keine spezialisierten Komponenten verfügbar oder ist der spezifische auslösende Kontext nicht vorhanden, wird auf eine allgemeinere und leistungsschwächere Strategie zurückgegriffen. Diese besitzt durch ihre Allgemeinheit eine höhere Anwendbarkeit auf verschiedene Problemstellungen. 8. Auch „optimale“ Anpassungen, also scheinbar perfekt funktionierende Systeme, haben bedingt durch den „blinden“ Evolutionsprozess, Stückwerkcharakter. Dies ist ein weiterer Grund für Fehler. Der Stückwerkcharakter kann durch geeignete Experimente sichtbar gemacht werden. 9. Denkheuristiken sind durch negative Selektion auf das Vermeiden der kostenträchtigsten Fehler ausgelegt (worst-caseSchutz). 10.Komponenten basieren auf beschreibbaren körperlichen Merkmalen. Die Dauer des Bestehens und die Stärke des Selektionsdrucks bestimmen Leistung, Umfang und Fehleranfälligkeit der Komponente. Da wir eine evolutiv-kognitive Wissenschaftstheorie entwickeln, ist die Evolution und Entwicklung der Kognition (siehe B) die Basis, auf der die Darstellung und methodische Begründung des verwendeten evolutionären Rahmenmodells aufbaut (siehe C 2). Dieser Ansatz wurde ebenfalls in A 3 bereits kurz dargestellt. Dieser Ansatz wird im Folgenden in das wissenschaftstheoretische Vorgehen integriert. Der weitere Ausbau besteht in der wissenschaftstheoretischen Fundierung (C 3.1), der Abgrenzung gegen Konkurrenzhypothesen (C 5.1) und der Verteidigung gegen mögliche Einwände (C 4).

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3 Wissenschaft und Kognitionspsychologie 3.1 Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen Wissenschaftstheoretische Untersuchungen des 20. Jahrhunderts betrachten Wissenschaft unter nahezu allen Blickwinkeln: ob man Wissenschaft vor allem als ein Unternehmen begreift, das über soziale Faktoren (scientific communities) gesteuert wird (Kuhn 1976, 1978); ob man Probleme, Theorien und ihre Prüfung als grundlegend ansieht (Popper 1934/1994, 1972/1998, 2000); ob Einheit und Fortschritt des Wissens über konkurrierende Forschungsprogramme geschehen (Lakatos 1978/1982); ob man die Wahl von Experimentalsystemen und die Arbeit im Labor in den Mittelpunkt stellt (Olby 1994; Rheinberger 2001); ob man die Konstruktion von Fakten in lokalen Kontexten betont (Latour & Woolgar 1986; Knorr Cetina 2002); ob man Wissenschaft als ein (Macht)-Feld aus Kräften begreift (Bourdieu 1998). Viele andere Ansätze betrachten jeweils nur eine bestimmte Facette, beispielsweise Personen, Theorien, Daten, Beobachtungsaussagen (vgl. für einen Überblick Charpa 1995), oder schlüsseln Forschung nach Entdeckungs- und Begründungszusammenhang auf.

3.1.1 Wissenschaft als Problemlösen Trotz der umstrittenen Charakterisierung was Wissenschaft ist, gibt es doch einen möglichen Minimalkonsens, dem wir uns anschließen und den wir im Folgenden präzisieren: Wissenschaft ist Problemlösen: „Wissenschaft beginnt und endet mit Problemen. Das Verständnis einer Theorie beginnt und endet mit dem Verständnis ihrer Probleme.“ (Vollmer 1993, S. 138)

Damit sind viele Wissenschaftstheoretiker einverstanden, z. B. (Popper 1972/1998), Lakatos (1982), Klahr (2000). Auch Laudans (1977) erster Satz in Progress and its Problems lautet: „Science is essentially a problem-solving activity.“ (S. 11, siehe auch S. 66ff). Dort vertritt er auch das Konzept der Problemlösungs-Effizienz. Präzisiert bedeutet

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„Problemlösen“, die Welt angemessener zu beschreiben, sie besser zu erklären, oder auch genauere Voraussagen zu treffen (vgl. Vollmer 2003, S. 93/94). Vielfach charakterisiert man Wissenschaft auch als Beantwortung (Klärung) von Fragen (Charpa 1995; Kitcher 1993). Das ist eine äquivalente Formulierung, denn Antworten auf Fragen sind Lösungen für Probleme (Laudan 1977). Kuhn verwendet zwar den Begriff Rätsel (puzzle), spricht aber von Rätseln als einer „besonderen Problemkategorie“ (1976, S. 50, siehe auch Kapitel IV) und verwendet durchgängig den Ausdruck Problem. Berühmt geworden ist z. B. auch die Problemsammlung von David Hilbert aus dem Jahre 1900 (vgl. Vollmer 1993, S. 184ff). Dieser breite Konsens kommt natürlich nicht zuletzt durch einen weiten Begriff des Problemlösens zu Stande. Welcher Art sind nun wissenschaftliche Probleme? Sie sind sicherlich komplexer und schwieriger und vor allem tiefer als alltägliche Probleme, auch wenn es dabei keine scharfe Grenze gibt: „I should stress at the outset that I do not believe that 'scientific' problems are fundamentally different from other kinds of problems (though they often are different in degree).“ (Laudan 1977, S. 13)

Im Gegensatz zu klar definierten Problemen (well-defined), bei denen Zielzustand und Methoden bekannt sind, kennt man bei wissenschaftlichen Problemen meist weder die Operationen (Methoden), um an das Ziel zu gelangen, noch ist das Ziel selbst immer scharf bestimmt, also ill-defined (Dörner 1974). Üblicherweise spricht man von Problemräumen (Newell & Simon 1972; Dörner 1989), die definiert, eingegrenzt und durchsucht werden müssen. Klahr (2000, o. J.) unterteilt wissenschaftliche Problemräume weiter in Suche im Hypothesenraum, im Experimentalraum (vgl. Schweitzer 2003) und Bewertung der Belege. Die nahe liegende Frage nach allgemeinen Problemlöseverfahren und Details des Problemlöseprozesses kann hier nicht behandelt werden. Hier sei auf die Literatur verwiesen (z. B. Newell & Simon 1972; Dörner 1974, 1976; Kahney 1993; Sell & Schimweg 1998). Spezielle Verfahren für die Wissenschaft sind nicht vorhanden. Hier schlummert zweifellos ein großes Potential: Da sich die meisten Menschen ohne Schulung auf wenige primitive Methoden (z. B. Zwischenzielbildung)

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beschränken, wäre es sehr produktiv, Wissenschaftler mit verschiedenen effizienteren Problemlöseverfahren vertraut zu machen. All den genannten wissenschaftstheoretischen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einige Merkmale des komplexen wissenschaftlichen Prozesses besonders betonen, andere vernachlässigen. Es ist nicht Ziel der vorliegenden Untersuchung, einen Zugang als „richtig“ zu erweisen, sondern auf eine weitere Facette aufmerksam zu machen, die bisher vernachlässigt wurde: Der Einfluss evolutionär geprägter Denkstrukturen auf wissenschaftliches Arbeiten ist erheblich und wenig erforscht. Diese Vernachlässigung könnte daher rühren, dass Denken – aus herkömmlicher Sicht zu Recht – als individuell verschieden gesehen wird und nicht direkt beobachtbar ist. Kann man aber Denkmechanismen nachweisen, die bei allen Menschen vorhanden sind, dann ändert sich das Bild: So wie alle Menschen den Kniesehnenreflex zeigen und optischen Täuschungen erliegen, so besitzen wir alle auch evolutionär bewährte Denkmuster (siehe D 5, E 3, F 3 und G 3). Unter bestimmten Voraussetzungen werden sie ausgelöst, bleiben aber meist unbewusst. Sie liegen vielen unserer Entscheidungen und Urteilen zu Grunde. Die Beziehung universaler Denkmechanismen zu wissenschaftlicher Arbeit ist deshalb sehr eng, wird aber bisher als nicht untersuchbar eingestuft. Eine integrierte Betrachtung evolutionärer Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, kognitiver Psychologie und Wissenschaftsgeschichte macht eine Untersuchung aber möglich.

3.1.2 Unsere Konzeption von Wissenschaft Was ist nun – aufbauend auf dem Problemlösecharakter – unsere weitere Konzeption von Wissenschaft? Die unbestreitbaren Fortschritte – die auch Relativisten wie Kuhn und Feyerabend trotz gegenteiliger Beteuerungen und trotz aller Erklärungsverluste als Hintergrund annehmen – weisen auf eine zunehmend erfolgreiche Beschreibung einer realen Welt hin, wie sie etwa der hypothetische Realismus (vgl. Vollmer 1975/2002) postuliert. Diese und andere realistische Positionen sind allerdings heftig umstritten, obwohl die Mehrzahl moderner Wissenschaftstheoretiker ebenfalls von Fortschritt spricht (z. B.

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Laudan 1977; Kitcher 1993; Ruse 1995; vgl. Callebaut 1993). Auch wenn Kriterien des Fortschritts schwer anzugeben sind, zeigen doch sparsamere Beschreibungen durch umfassendere Theorien und technische Verwirklichungen die Brauchbarkeit theoretischer Weltbeschreibungen (vgl. Vollmer 1993, S. 139, der von Zuverlässigkeit spricht). Damit sind Theorien mehr als nur reine Instrumente; sie beschreiben im Sinne des Korrespondenzprinzips die reale Welt. Der Forschungsprozess unterliegt dabei erheblichen sozialen und historischen Einflüssen. Eine naturalistische Wissenschaftstheorie berücksichtigt solche Analysen, geht aber über sie hinaus, da der forschende Mensch als biologisches Wesen einbezogen wird (siehe auch A 3). Diese Konzeption von Wissenschaft hält es für fruchtbar, kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich des Problemlösens oder von Fehlern für die wissenschaftstheoretische Analyse heranzuziehen. Ein solcher Ansatz kann ein methodisches Hilfsmittel sein.

3.2 Fehleranalyse als methodisches Hilfsmittel für die Wissenschaft Das Wissen um Fehler erhöht beispielsweise in fehleranfälligen Bereichen oder fehlertypischen Situationen die Kritik- und Lösungsfähigkeit enorm (vgl. Schweitzer 2004). Es könnte eine Entscheidungshilfe sein bei Fragen wie: Sind Erwartungen in die Messungen eingeflossen? Ist die beobachtete Korrelation real oder eingebildet? Diese Problematik ist analog zu einer alten, durchgängigen Frage aller Messungen: Beschreiben die Ergebnisse ein Artefakt oder ein reales Phänomen? Das lässt sich besonders ausgeprägt in der Anfangszeit der Lichtmikroskopie, aber auch beim störenden Rauschen modernster Teilchendetektoren verfolgen: „Aber, wenn ich den Detektor kenne, dann weiß ich, dass der Detektor diese Art von Dingen simulieren kann. Und das ist etwas, was ich langsam lernen muss, wann ich Daten trauen kann und was ich da sehe.“ (Physiker in Knorr Cetina 2002, S. 190)

Artefakte von echten Phänomenen zu unterscheiden ist erlernbar und etwa in der Radiologie unerlässlich. Analog könnten durch Fehleranalyse bestimmte Problemkonfigurationen alsfehlertypisch erkannt und darauf reagiert werden. Unsere Überlegungen legen deshalb nahe, bei

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wissenschaftstheoretischen Untersuchungen auch Fehler evolutionär geprägter Denkstrukturen standardmäßig kritisch zu bedenken. Ebenso wie die Optik den Brechungsindex des jeweiligen Mediums berücksichtigt, muss der „Verzerrungsindex“ von Denkvorgängen in Betracht gezogen werden. Ebenso wie gute Wissenschaft Messfehler erwartet, berücksichtigt und korrigiert, sollte sie auch Denkfehler erwarten, ausfindig machen und beseitigen. Das ist nichts anderes als eine Erweiterung wissenschaftstheoretischer Überlegungen um einen zusätzlichen Einflussfaktor auf Wissenschaft, wie es in den letzten Jahrzehnten wiederholt geschehen ist: Andere sind: Karriereabsichten von Wissenschaftlern, die Organisationsstruktur in Instituten, gruppendynamische Prozesse, Machtverhältnisse. In unserem Fall handelt es sich um einen evolutionsbiologischen Faktor. Gegen eine solche Vorgehensweise sind Einwände möglich.

4 Kritik und Einwände gegen evolutivkognitive Wissenschaftstheorie 4.1 Liegt die Fehleranalyse außerhalb der Wissenschaftstheorie? Ein erster Einwand, etwa von kritischen Rationalisten, trennt Wissenschaft in Entdeckungs- und Begründungszusammenhang (context of discovery und context of justification). In der Wissenschaft geht es um Satzsysteme und deren Verknüpfungsregeln. Damit wird einer Fehleranalyse der Boden entzogen, da diese sich meist im – wissenschaftstheoretisch vermeintlich bedeutungslosen – Entdeckungszusammen hang bewegt, während nur die „Endprodukte“, also die Hypothesen und Theorien auf ihre Tauglichkeit geprüft werden können und sollen. Die Entstehungsgeschichte ist nach dieser Ansicht irrelevant. Diese Haltung, die insbesondere Popper vertreten hat, ist aus mehreren Gründen überholt. Erstens ist es schwierig bis unmöglich, den angeblich „irrationalen“ und individuellen Entstehungsprozess vom Endprodukt, von der Fiktion einer abstrakten, logisch einwandfrei beschreibbaren Theorie, zu

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trennen. Zweitens ist diese Trennung künstlich. Eine Bewertung nach wissenschaftlichen Kriterien findet zu jedem Zeitpunkt statt; es prüft der Forscher selbst während des Arbeitsprozesses, es prüfen Mitarbeiter und Kollegen, denen die Arbeit vor der Publikation vorgelegt wird, und vor allem gibt es eine Begutachtungsinstanz (peer-review). Drittens ist Kritik umso effizienter, je früher sie geäußert wird; so werden Sackgassen vermieden, sowie Zeit und andere Ressourcen eingespart. Viertens, und das ist am wichtigsten, bedeutet es eine unzulässige Vereinfachung und Verfälschung, Wissenschaft unabhängig von Personen bzw. Entstehungsprozessen zu betrachten. Auch die Prüfung eines „Endproduktes” geschieht wiederum im personenabhängigen Arbeitsprozess. Hier sind sich viele moderne Wissenschaftstheoretiker einig (Mitroff 1974; Kuhn 1976, 1978; Feyerabend 1976, 1981; Latour & Woolgar 1986; Ruse 1995; Bourdieu 1998; Knorr Cetina 2002). Beobachtungsaussagen sind von Theorien abhängig und umgekehrt, und beide sind geprägt von der Person des Forschers. Eine Theorienbetrachtung unabhängig von Personen bleibt unvollständig. Deshalb ist der gesamte Prozess von Bedeutung. Das gilt auch für Ratschläge an Wissenschaftler. Das bedeutet nicht, dass das Vorgehen einzelner Forscher gegängelt wird; individuelle, kreative Arten des Problemlösens bleiben weiterhin jedem Forscher selbst überlassen.

4.2 Sind Wissenschaft und „normales“ Denken vergleichbar? Ein zweiter Einwand betrifft die Übertragbarkeit: Können kognitionspsychologische Untersuchungsergebnisse auf wissenschaftliche Vorgänge übertragen werden? Meistens sind ja die Versuchspersonen Laien (häufig: amerikanische Psychologiestudenten). Könnten deren Problemlösungsverfahren von denen ausgebildeter erfahrener Wissenschaftler nicht erheblich abweichen? Dieser Einwand greift nicht vollständig. Erstens finden sich gerade im Bereich von Denkfehlern zwischen Experten und Laien keine fundamentalen Unterschiede (Mahoney & DeMonbreun 1981; Elstein, Shulman & Sprafka 1978; Kühberger 1998). Viele weitere Einzelergebnisse aus Teil C stützen dies. Eben diese Tatsache macht – zusammen mit der Unbelehrbarkeit

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über Fehler – diesen Bereich so interessant. Zweitens gibt es keinen Grund, einen qualitativen Wechsel im Denken für einen willkürlichen Zeitpunkt in der Ausbildung zu postulieren. Im Gegenteil: Zahlreiche Untersuchungen bezüglich des Expertentums in unterschiedlichen Gebieten – und Wissenschaftler sind nichts anderes als Experten in ihrem Gebiet – definieren Expertenwissen als eine Vervollkommnung allgemein verfügbarer Fähigkeiten (Sternberg & Ben-Zeev 2001; Schwartz & Griffin 1986; Wagner 2002; Latour & Woolgar 1986). Experten sind eben „auch nur Menschen“: „Thus, both science and non-scientific activities can use the same cognitive building blocks.“ (Dunbar 2002, S. 165)

Drittens zeigen kognitive Fähigkeiten speziesübergreifende Kontinuität, die in Teil B ausführlich dargestellt wurde. Man kann von Affen über Kinder zu Erwachsenen eine Linie ziehen. Hier sind viele Befunde übertragbar und auf Forscher anwendbar. Manche Forscher ziehen sogar eine direkte Linie von Jäger-und-Sammler-Fähigkeiten zu heutiger Wissenschaft (Carruthers 2002; Mithen 2002). Warum machen dann einige Menschen diese „universalen Fehler“ nicht? Diese häufige Kritik verkennt einige Bedingungen von Fehlern. Persönlichkeit, Erfahrung und individuelles Expertenwissen sind nur einige Faktoren, weswegen sich Unterschiede zeigen. Zudem dürften Ausprägung und Interaktion der Denkheuristiken von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen, denn jedes Denkschema ist nur eines unter vielen. Für den modularen Aufbau des Gehirns gibt es viele Belege (vgl. B 1.4). Ähnlich wie man Sinnesorgane durch Instrumente erweitern und sogar ersetzen kann, lassen sich Denkstrukturen erweitern und ersetzen. Die „Unfähigkeit“, Phänomene im Mikro- und Makrokosmos zu beobachten, ist längst überwunden. Analog verfügt die Wissenschaft über zahlreiche Strategien, Denkfehlern entgegenzutreten. Die bisherigen Überlegungen zur Relevanz kognitionspsychologischer Faktoren für die Wissenschaft, der Nachweis der Übertragbarkeit und die Charakterisierung als Problemlösen weisen auf die hohe Bedeutung der zu besprechenden Fehler (Teil D, E, F, G) für die Wissenschaft hin. Damit ist die Frage nach der Anwendbarkeit und Bedeutung allgemeiner kognitiver Prozesse für ein sehr spezielles

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kulturelles menschliches Unternehmen, eben die Wissenschaft, beantwortet: Wenn man der Argumentation bis hierher folgt, dann ist es für die wissenschaftliche Tätigkeit von Belang, wie beispielsweise Hypothesen verteidigt und immunisiert werden (D 1), wie sich fehlendes Bemühen um Falsifikation auswirkt (D 2), wie unzulässige Kausalitätsvermutungen aufgestellt werden (E 2), wie Forscher mit komplexen Systemen umgehen (G 1), mit welchen Problemlösungsverfahren Menschen arbeiten (G 2). Weitere mögliche Einwände besprechen wir im Folgenden.

4.3 Problematik des Fehlerbegriffs in der Wissenschaftsgeschichte 4.3.1 Problematik der Vorläufigkeit Der Begriff Fehler verweist auf das Wissen um die „richtige“ Lösung. Das ist in mehrerer Hinsicht problematisch, denn Theorienwandel und Vorläufigkeit des Wissens erlauben keinen ausgezeichneten, unveränderlichen Standpunkt, von dem aus geschichtliche Ereignisse als „wahr“ oder „falsch“ beurteilt werden können. Was heute als Fehler eingestuft wird, könnte morgen rehabilitiert werden. Dieser Problematik können wir jedoch begegnen: Wir akzeptieren die Vorläufigkeit aller Theorien, zumindest als methodisches Prinzip. Aber es ist beispielsweise bei der Diskussion der Vitaminmangelkrankheiten (E 4) von geringem praktischen Nutzen, auf die Vorläufigkeit hinzuweisen: Chemische Strukturaufklärung, synthetische Herstellung von Vitaminen, ein molekular biologischer Auflösungsgrad bis zur Molekülebene und tausende kontrollierte Experimente zu allen Mangelkrankheiten konvergieren zu einem klaren, seit 70 Jahren unveränderten Bild. Eine zu vorsichtige Haltung verurteilt hier dagegen zur Untätigkeit. Man muss überdies nicht die „richtige“ Lösung wissen, um Fehler diagnostizieren zu können: Es gibt oft weitere eindeutige Hinweise. Dazu zählen das Zurücknehmen von Publikationen, Widerrufe oder öffentliche Irrtumseingeständnisse von Forschern. Hier kann man mit gutem Recht von Fehlern sprechen. Fast ebenso wichtig sind der Nachweis

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fehlerhafter Arbeit durch andere Forscher oder anhaltende Nichtreproduzierbarkeit. Am deutlichsten sind solche Indizien für Fehler bei defekten Forschungsprogrammen wie der kalten Fusion, oder sehr gut aufgeklärten Problemfeldern wie der erwähnten Vitaminforschung. Fehler aus frühen Epochen sind ebenfalls relativ leicht erkennbar: Sie sind entweder als gänzlich falsch ausgeschieden (z. B. Kraniologie), oder einzelne Fehler wurden schrittweise sichtbar und ausgemerzt. Je näher man allerdings an den aktuellen Forschungsstand heranrückt, desto schwieriger und interessanter wird die Beurteilung. Sogar Korrekturen sind eventuell noch möglich. Die Mehrzahl unserer Fallstudien behandelt deshalb moderne Forschung. Eine retrospektive Fehlererkennung ist dennoch lehrreich, denn sie ermöglicht das Lernen aus vergangenen Fehlern. Unter diesen aufgezählten Gesichtspunkten sprechen wir im Folgenden von Fehlern. Eine wichtige Anschlussfrage ist die nach Kriterien für Fehler: Ab wann ist eine Abweichung ein Fehler? Diese Frage ist aufgrund der unzähligen Einflussfaktoren auf Wissenschaftsprozesse extrem schwierig zu beantworten. Diese Schwierigkeit stellt sich durch den gewählten Ansatz aber nicht in dieser Schärfe: von wissenschaftsgeschichtlichen Fehlern zu sprechen erlauben wir uns dann, wenn sie in ihren Merkmalen mit den kognitionspsychologischen Fehlern aus Teil C übereinstimmen, also strukturgleich sind.

4.3.2 Problematik der Post-hoc-Analyse Die oben erwähnte Problematik muss noch erweitert werden. Historische Analysen laufen Gefahr, Post-hoc-Analysen vorzunehmen und dadurch selbst einen Fehler zu begehen, der als Whiggism bezeichnet wird: Er besteht darin, heutige Maßstäbe und heutiges Wissen an historische Ereignisse anzulegen (vgl. Mayr 1990). Gerade bei der Untersuchung von Fehlern ist die Gefahr der Besserwisserei groß. Wenn historisch neben falschen Theorien auch solche vertreten wurden, die aus heutiger Sicht als richtig gelten, so ist das ein Hinweis, dass Fehler zumindest prinzipiell vermeidbar waren. Methodisch einwandfrei ist es auch, von Fehlern zu sprechen, wenn eine falsche Theorie trotz eines schon aus damaliger Sicht erdrückenden

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Übergewichts von Belegen zugunsten einer anderen Theorie vertreten wurde. Die Fallstudien sind so gewählt, dass beides stets gegeben ist, um diese Kritik von vorne herein auszuräumen. Die Post-hoc-Problematik kann allerdings nicht gänzlich vermieden werden; wichtig ist, dass man Gründe für „falsche“ Überzeugungen anerkennt: „Almost always those who held an erroneous theory had seemingly valid reasons for doing so. They were trying to emphasize something that was neglected by their opponents.“ (Mayr 1990, S. 303, Hervorhebung U. F.)

In diesem besprochenen Sinn sollen in den Fallstudien (D 6, D 7, E 4, F 4, G 4) Fehler vom heutigen Wissensstand aus beurteilt werden.

4.3.3 Problematik der Abgrenzung Neben dem verwendeten naturalistischen Zugang gibt es viele andere Möglichkeiten zur Beschreibung von Wissenschaft (siehe C 3.1), unter anderem historische, soziologische oder rein philosophische. Jeder Ansatz betont andere Einflüsse. Wie kann man feststellen, wie wichtig welcher Faktor ist? Anders formuliert: Wann handelt es sich um primär kognitiv-evolutionsbiologische Einflüsse, wann nicht? Grundsätzlich ist es fragwürdig, einen Aspekt aus dem Kontext herauszulösen (siehe C 3.1), obwohl das aus einsehbaren pragmatischen Gründen vielfach geschieht; solchen Untersuchungen droht die Einseitigkeit. Welcher Faktor entscheidend ist, bestimmen Einzelfall und Plausibilität der Analyse: Es gibt keinen prinzipiell vorzuziehenden, allgemein gültigen Zugang. Nicht immer ist eine evolutionsbiologische Interpretation möglich. Die Entdeckung der Gelbfieberübertragung ist als Beispiel dafür in E 4.5 ausgeführt. Der Gedankengang unserer evolutionsbiologischen Interpretation greift in folgenden Fällen: Eine wissenschaftsgeschichtliche Episode widersetzt sich historischen oder anderen Deutungen. Zusätzlich kann man eine Strukturgleichheit mit einem kognitionspsychologischen Fehler feststellen. Wenn andere zusätzliche Einflüsse nicht ersichtlich entscheidend sind oder durch epochenübergreifende Beispiele verworfen werden können, dann sollten sich evolutionär geprägte Denkmechanismen als wichtig erweisen. Das bedeutet nicht, dass biologische Einflüsse immer an erster Stelle kommen. Forscher arbeiten in einem

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soziokulturellen Netz von Überzeugungen und Hintergrundannahmen. Wie mit diesen Hintergrundannahmen an Problemen gearbeitet wird, ist aber stark von den Besonderheiten des menschlichen Denkens geprägt: Problemlösungsstrategien, Umgang mit Hypothesen und Entscheidungen werden von kognitiven Mechanismen gesteuert, die zur Lösung biologischer Probleme entwickelt wurden. Für diese vielen alltäglichen Entscheidungen und Begründungen muss die Erklärung auf der Ebene des Denkens liegen; hier eine Verbindung zu politischen oder sozialen Rahmenbedingungen zu ziehen, verfehlt die Größenordnung, ist künstlich und deshalb problematisch. Das bedeutet jedoch nicht, dass die beschriebenen (universalen) Denkmuster in sämtlichen Situationen auch tatsächlich wirksam sind. Wir gehen deshalb davon aus, dass bestimmte Denkmuster für einige Situationen typisch sind und dort häufig vorkommen. Ihr Fehlen kann beispielsweise auf unvollständige Problemkonfigurationen (fehlende Auslöser) oder abschwächende andere Faktoren zurückzuführen sein. Die in den voran gegangenen Punkten besprochene Kritik ist in der Untersuchung durchgängig berücksichtigt.

5 Nicht-evolutionäre Fehlerursachen Auch wenn eine historische Fallstudie alle Kriterien einer evolutionären Interpretation der Fehler erfüllt, könnten die Symptome einer historischen Befundlage doch mehrere Diagnosen zulassen. Zwei konkurrierende Diagnosen müssen abgegrenzt werden: alternative Erklärungsmodelle und Betrug.

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5.1 Alternative Erklärungen 5.1.1 Historische Interpretation Unter dem Begriff historische Interpretation fassen wir Erklärungen zusammen, die bei wissenschaftstheoretischen Fragen vor allem die jeweiligen historischen Umstände für entscheidend erachten. Da wissenschaftshistorische Untersuchungen stets viele Facetten von Wissenschaftsprozessen in Betracht ziehen müssen (Kitcher 1993), erhebt eine evolutionäre Erklärung keinen Alleinerklärungsanspruch: Für die behandelten Fehler versteht sie sich zwar als die geeignetste Erklärung, erkennt aber andere Einflussfaktoren an, die verstärkend oder abschwächend wirken. Kritik übt sie im Folgenden vor allem an einseitig ausgerichteten Ansätzen, die jeweils nur eine Klasse von Einflüssen gelten lassen. Aufgrund der großen Zahl von Einflussfaktoren stellt sich in jedem Einzelfall die Frage, in welchem Maße Konkurrenztheorien Erklärungskraft besitzen. Evolutionsbiologisch erklärbare kognitionspsychologische Mechanismen werden über ihre Universalität plausibel gemacht: Die in Teil D, E, F, G beschriebenen Denkmechanismen sind unabhängig von Ort, von der Epoche und von vielen anderen Umständen. Disziplinen oder Epochen, in denen solche Denkmuster überhaupt nicht vorkommen, wären deshalb als Widerlegung zu werten. Der Umkehrschluss ist ebenfalls zulässig: Angenommen, in der Medizin des 15. Jahrhunderts, in der Physik des 18. Jahrhunderts und in der Chemie des 20. Jahrhunderts findet sich das gleiche Denkmuster: Dann liegt eine evolutionäre Erklärung nahe. Je größer die Unterschiede historischer Gegebenheiten und Disziplinen sind, desto schwieriger wird der Spagat für Erklärungen, die eine Gemeinsamkeit verantwortlich machen. Das gilt im Besonderen für historische Deutungen. Im Gegensatz dazu wird eine evolutionäre Interpretation umso plausibler, je mehr unterschiedliche Fallstudien das gleiche Muster aufweisen. Rein historische Erklärungen werden also über Anzahl, Invarianz und Ähnlichkeit der angeführten Beispiele aus unterschiedlichen Epochen oder Fächern unplausibel.

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5.1.2 Paradigmatische Interpretation Wissenschaftstheoretiker in der Tradition von Fleck (1935/1980) und Kuhn (1976) werden versuchen, Fehler wie Blindheit gegenüber widersprechenden Belegen (D 3) aus einem herrschenden „Denkstil“ oder „Paradigma“ zu erklären: Das vorherrschende Paradigma einer wissenschaftlichen Gemeinschaft beschreibt und begrenzt gleichzeitig sein eigenes Problemfeld. Dadurch stellt sich nur ein Ausschnitt von Problemen, andere werden durch eben diese Perspektive ausgeblendet, was durchaus positiv sein kann. Ein solcher Ansatz hat zwei gravierende Probleme bezüglich des Geltungsbereichs: Erstens ist eine solche Erklärung nur für Phänomene geeignet, die zeitlich etwa im Bereich von Jahrzehnten liegen und oft eine ganze Disziplin umgreifen (wie in C 4.3.3 behandelt). Der recht ungenaue Paradigmenbegriff ist von der Beschreibungsebene her nur für einen großen Rahmen angemessen. Das tägliche Problemlösen kann damit aber nicht fein genug erklärt werden (vgl. Kitcher 1993), denn eine sozial-historische Interpretation reicht nur bis zu einer bestimmten Ebene hinunter. Die alltägliche wissenschaftliche Arbeit besteht jedoch aus sehr vielen Entscheidungs-, Einschätzungs- und Lösungsverfahren. Dabei greifen bewährte Denkmechanismen, die Millionen Jahre alt sind und bei zutreffenden Problemen aktiviert werden. Zweitens und gravierender ist: Eine echte Konkurrenz stellt der paradigmatische Ansatz nur für eine der vier untersuchten Fehlerfamilien dar, für Handlungsfähigkeit durch Kohärenz (D): Die drei weiteren Fehlergruppen sind von so allgemeiner und grundlegender Art (z. B. Mustererkennung und Umgang mit Komplexität), dass sie von allen Paradigmenwechseln unberührt bleiben. Dadurch ist der Geltungsbereich dieses Ansatzes äußerst beschränkt, denn er ist gleichzeitig zu weit (zeitlich, siehe oben) und zu eng (viele grundlegende Einflussfaktoren bleiben unberücksichtigt). Zudem ist ein paradigmatischer Ansatz wissenschaftshistorisch nur schwer haltbar (vgl. zur Kritik Donovanet al. 1988).

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5.1.3 Wissenssoziologische Interpretation Wissenssoziologische oder auch sozialkonstruktivistische Ansätze (social studies of science) versuchen Fehler als Effekte gesellschaftlicher, institutioneller und sozialer Umstände zu interpretieren. Als wichtige Vertreter gelten Merton, Latour (1986), Knorr Cetina (2002). Laudan formuliert ein entscheidendes Gegenargument: Es gibt bis heute keine einzige soziologische Theorie, die soziale Bedingungen als kausale Einflüsse für wissenschaftliche Theorien nachweisen kann: „More specifically, cognitive sociology of science is predicated on the existence of determinable correlations between the social background of a scientist and the specific beliefs about the physical world which he espouses. Despite decades of research on this issue, cognitive sociologists have yet to produce a single general law which they are willing to evoke to explain the cognitive fortunes of any scientific theory, from any past period.“ (Laudan 1977, S. 217/218, Hervorhebung im Original)

Anders formuliert: Es gibt weder jüdische oder arische Physik noch bourgeoise Mathematik noch proletarische Relativitätstheorie. Soziologische Ansätze geraten umso eher in Erklärungsnotstand, je abstrakter das jeweilige Gebiet ist. Was sind die sozialen Wurzeln unserer Vorstellung von Atomen? Hier kann der soziale Einfluss vernachlässigt werden. Auch Kitcher (1993) übt sehr grundsätzliche Kritik an derartigen Ansätzen: Die Beschäftigung mit der Natur geht den sozialen Interaktionen (negotiations) logisch und zeitlich voraus; sie ist deren Grundlage. Weiterhin müssten Sozialkonstruktivisten zweierlei zeigen können: Erstens müsste sich unter gleichen sozialen Bedingungen die gleiche Art von Wissenschaft ergeben. Da Konstruktionen nicht unbedingt auf reale Entitäten angewiesen sind, müssten sich zweitens ohne Befragung der Welt (etwa ohne Teilchenbeschleuniger) immer dieselben Resultate ergeben. So etwas ist jedoch noch nie gezeigt worden. Aufgrund dieser sehr grundsätzlichen Kritik wird auf diesen Alternativansatz nicht im Detail eingegangen. Damit sind die drei bedeutendsten Theorieansätze und möglichen Konkurrenten einer übergreifenden Fehleranalyse aufgeführt, nämlich historische, paradigmatische und wissenssoziologische Interpretationen von Fallstudien. Daneben gibt es andere mögliche Erklärungen für Erfolg und Misserfolg: Zufall, Glück, Stand der Technik (verfügbare

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Instrumente), individuelle Laborexpertise, Förderentscheidungen, politische Rahmenbedingungen. Sie werden in unseren Fallstudien je nach Einzelfall behandelt.

5.2 Abgrenzung gegenüber Betrug Eine deutliche Unterscheidung muss zwischen absichtlichen und unabsichtlichen Fehlern gemacht werden. Es kann sein, dass sich Forscher ihrer Fehler bewusst sind, ihre Ergebnisse aber trotzdem veröffentlichen. Bewusste Fehler sind in der Mehrzahl Betrug. Die Gründe dafür fassen wir unter dem Merkmalskomplex des sozialen Drucks zusammen. Dazu gehören Karriere- oder Geldgründe, Geltungsbedürfnis, Zeit- oder Gruppendruck und ähnliches mehr. Aktuelle Beispiele sind der Physiker Jan Hendrik Schön, der wohl aus Karrieregründen von 1998 bis 2001 Daten fälschte, und der Skandal um den Klonforscher Hwang Woo Suk (2005/2006). Schön galt sogar als Kandidat für den Nobelpreis. Andere Beispiele für enormen sozialen Druck sind die Lyssenko-Ära in Russland oder die so genannte Deutsche Physik in Nazideutschland. Auch der Druck der Forschergruppe oder des Instituts kann sehr stark werden, wie das bekannte Beispiel des betrügerischen Mediziners W. Summerlin zeigt: „Dann kam eine Zeit im Herbst 1973, als ich keine neue überraschende Entdeckung vorzuweisen hatte und mir Dr. Good brutal eröffnete, daß ich ein Versager sei [...] So stand ich unter extremem Produktionsdruck.“ (Broad & Wade 1984, S. 184)

Wie stark der Einfluss einer Gruppe sein kann, ist durch die Experimente von Asch (1951/1963) bekannt: Das geht soweit, dass Versuchspersonen ihr Urteil selbst über eindeutige Merkmale wie Länge, Farbe oder Form eines Gegenstandes unter (manipuliertem und absichtlich falschem) Druck der Gruppe änderten. Für eine Abgrenzung absichtlicher Fehler (Betrug) zu unbewussten Fehlern (Irrtümern) ist es nützlich, deren Vorkommen quantitativ zu schätzen. Nach einer anonymisierten Umfrage unter Wissenschaftlern (Martinson et al. (2005), ist Fälschung sehr selten (0,3% aller Fälle); Anpassung der Ergebnisse oder der Methodik auf Druck der Geldgeber ist schon häufiger (15,5%) und ein beschönigender Umgang mit widersprechenden oder zweifelhaften Daten ist schon in 18,5% der

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Fälle bekannt. Beispiele sind die Pharma- und die Zigarettenindustrie (vgl. auch Grayson 1995 für Arten des Betrugs, Lock 1993 für eine Zusammenstellung aktueller Betrugsfälle). Direkte finanzielle Interessen spielen bei etwa 15% der Autoren in führenden Fachzeitschriften in Molekularbiologie und Medizin eine Rolle (Krimsky & Rothenberg 1998). Die National Science Foundation (NSF) und die National Institutes of Health (NIH), die beiden größten Förderer in den USA, schätzen dem gegenüber extrem niedrig: Sie sprechen von 30 bis 80 Fällen bei 50 000 Projekten beim NSF und von 64 Fällen bei 30 000 beim NIH (DFG-Bericht 1998, S. 22), liegen also etwa bei 0,1%. Weitere Information findet man auf der Webseite des Office of Research Integrity: http://ori.hhs.gov. Echter Betrug ist also sehr selten, das „Frisieren“ von Ergebnissen ist dagegen schon viel häufiger. Um eine saubere Abgrenzung zu gewährleisten, behandeln unsere Fallstudien nur Beispiele, bei denen – auf Grund der Veröffentlichung der Rohdaten oder anderer Hinweise – ausgeschlossen werden kann, dass es um absichtliche Fehler bzw. Betrug geht. Bei subtileren Fällen ist das nicht mit abschließender Sicherheit möglich. Betrugsfälle zeigen jedoch bestimmte Muster: Rohdaten sind verloren gegangen; das Phänomen ist gerade an der Nachweisgrenze; auf Kritik wird mit Adhoc-Erklärungen reagiert und andere mehr (vgl. dazu die Kriterien für Pseudowissenschaft von Langmuir, der viele Betrugsfälle entlarvte, in Gratzer 2000.)

6 Häufigkeit von Fehlern Bisher wurde noch nichts darüber gesagt, wie häufig Fehler vorkommen und welche Disziplinen besonders betroffen sind. Für eine quantitative Abschätzung ist es noch zu früh, da die vorliegende Untersuchung erstmals kognitive Fehler in der Wissenschaft systematisch sammelt und ordnet und anhand von Fallstudien zunächst einmal die Machbarkeit eines solchen Vorgehens demonstriert. Mehr lässt sich über besonders fehleranfällige Gebiete sagen. Das sind vor allem Bereiche, wo Kontrollen gänzlich fehlen oder ungenügend entwickelt sind, oder wo keine Strukturen vorhanden sind, die Fehlern aktiv entgegen arbeiten (Mechanismen zur Fehlervermeidung). Das

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wird später (in C 7.2) ausgeführt. Da Kontrollmechanismen im Laufe der Jahrhunderte Verfeinerungen erfuhren – z. B. strengere Anforderungen an Experimente, Einführung statistischer Überprüfungen, Doppelblindversuche –, erwarten wir eine zeitliche Abnahme des Fehler anteils. Auch deshalb, weil aus früheren Fehlern, wenn auch nur schwer, gelernt werden kann. Besonders fehleranfällig sollten Bereiche sein, die hohe Übereinstimmungen mit einer Fehlerfamilie zeigen. Dazu gehören insbesondere sehr komplexe Gebiete, etwa die Hydrodynamik oder die Meteorologie. Das bestätigt die Fallstudie der Fehlerfamilie 4 (G 4). Eine erhöhte Fehlerhäufigkeit erwarten wir auch dort, wo fehleranfällige Vorgehensweisen, insbesondere bloße Heuristiken, die nächstliegenden Lösungsstrategien zu sein scheinen. Deutliche Effekte sollten sich in Bereichen nachweisen lassen, in denen starke (biologische oder physikalische) Voraus-Urteile das Denken beherrschen. Siehe dazu B 2.3: intuitive Biologie und Physik. Das gilt besonders für Bereiche, die mit starken Erwartungen besetzt sind, beispielsweise soziobiologische Themen um Rasse, Gruppe, Sexualität oder Hierarchiebildung. Eben dies findet sich bei der Fallstudie der Schädelmessung (D 7). Zur Frage der Häufigkeit gehört auch: Zu welchen Zeitpunkten treten Fehler auf? Die Analyse der Einzelfehler in Teil D, E, F und G beantwortet das zumindest teilweise. Meist gibt es einen genau definierten Zeitpunkt jedoch nicht. Wir verzichten deshalb auf eine zeitlich geordnete, prozessuale Zuordnung. Sie wäre redundant und wenig sinnvoll, weil Fehler wiederholt und prozessbegleitend auftreten. Zudem kann man einzelne Phasen schwer trennen; ihr Auftreten und ihre Reihenfolge sind oft variabel.

7 Wissenschaftskriterien und ihre Umsetzung Ein letzter Aspekt soll nun noch behandelt werden. Fehler werden ja nicht einfach hingenommen, sondern sie werden verringert, vermieden oder sogar aktiv bekämpft. Es gibt eine Reihe von Mechanismen zur

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Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur. Man kann noch weiter gehen und die Methodik der Wissenschaft insgesamt als einen Versuch betrachten, Fehler systematisch zu verringern oder zu vermeiden. Wie sieht diese Methodik aus, und wie verhindert sie Fehler? Diese Frage führt zur Problematik der wissenschaftlichen Normen, die in C 1.1 genauer besprochen wird: Der Fehlerbegriff verweist stets auf eine Funktion, die nicht erfüllt, oder auf eine Norm, gegen die verstoßen wird. Normen legen fest, was gute Wissenschaft ist, wie man also wissenschaftlich arbeiten sollte. Auf den Einwand, dass wagemutigere, aber fehleranfälligere Strategien erfolgreicher sein könnten, kommen wir zu sprechen. Welche wissenschaftliche Normen gibt es, und wogegen verstoßen Fehler?

7.1 Wissenschaftliche Normen Es gibt zwei Quellen für wissenschaftliche Normen. Zum einen sind das historisch gewachsene Normen, welche die Vorgehensweise von Wissenschaft überhaupt ausmachen und heute in kodifizierter Form vorliegen, etwa die Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der DFG (DFG-Bericht 1998). Sie werden in Deutschland in dieser oder ähnlicher Form von fast allen Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen angewendet. Zum anderen handelt es sich um wissenschaftstheoretische Vorschläge, was gute Wissenschaft ausmacht. Die Untersuchungseinheit ist hier allerdings eine andere: Erstere geben Normen für die Tätigkeit der Wissenschaftler vor, letztere für die Ergebnisse dieser Tätigkeit, also Theorien. Zusammen ergeben sie eine recht gute Beschreibung, was man unter Wissenschaft versteht, auch wenn sich Wissenschaftler nicht immer daran halten. Die Kriterien für wissenschaftliche Tätigkeiten und Personen sind:  Ehrlichkeit,  Vollständige Dokumentation der Arbeitsschritte (auch Quellenangaben),  Berücksichtigung der Methodik des Faches und des Forschungsstandes,

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Aufbewahrung von Rohdaten, vollständige Darstellung von Daten,  Konsequentes Anzweifeln eigener Ergebnisse. Vor allem letzteres ist wegen möglicher Fehler notwendig: 

„Forschung als Tätigkeit ist Suche nach neuen Erkenntnissen. Diese entstehen aus einer stets durch Irrtum und Selbsttäuschung gefährdeten Verbindung von Systematik und Eingebung.“ (DFGBericht 1998, S. 23)

Nicht explizit genannt, aber als selbstverständlich vorausgesetzt werden Neutralität und Objektivität des Forschers. Neutralität umfasst Sachlichkeit, Distanz zum Forschungsgegenstand, Unvoreingenommenheit bei Hypothesen und die Fähigkeit aus mehreren Perspektiven zu urteilen. Objektivität bedeutet, dass auch bei intersubjektiver Überprüfung Ergebnisse konsistent bleiben. Mangelnde Neutralität eines Einzelnen kann durch das Kollektiv Wissenschaft korrigiert werden. Kriterien für den zweiten Punkt, also notwendige Kriterien für gute Theorien, stellt Vollmer (1993) zusammen:  Zirkelfreiheit  Innere Widerspruchsfreiheit  Äußere Widerspruchsfreiheit  Erklärungswert  Prüfbarkeit  Testerfolg Wünschenswert sind außerdem: Vollständigkeit, Allgemeinheit, Tiefe, Genauigkeit, Einfachheit, Anschaulichkeit, Prognosefähigkeit, Reproduzierbarkeit und Fruchtbarkeit. Laudan (1996) nennt ähnliche Kriterien und verweist auf ihren historisch wechselnden Charakter. Bis auf die Forderung nach hohem Erklärungswert sind alle notwendigen Kriterien auf die Ausschaltung von Fehlern gerichtet. Kriterien für gute Wissenschaft – sowohl für Personen als auch für Theorien – weisen also nachdrücklich darauf hin, dass wissenschaftliche Methodik vor allem auf Wiederholbarkeit, Fehlervermeidung und auf Fortschritt (so problematisch dieser Begriff ist) abzielt. Fortschritt ist natürlich mehr als nur Fehlervermeidung. Diese Normen sind nicht unumstritten. Bekannt ist die Kritik von Feyerabend (1976, 1981): Zu strenge Normen oder methodische

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Vorschriften seien für kreative Forschung kontraproduktiv, sie seien schädlich, weil historisch betrachtet viele Theorien zu Beginn methodischen Vorschriften dieser Art nicht genügen, sich später aber als fruchtbar erweisen. Eine ähnliche Kritik übt Mitroff (1974) an der Forderung nach Neutralität, also emotionaler Distanz des Forschers zum Untersuchungsgegenstand: Verbissenheit, Vorlieben und Engagement für eigene Theorien seien im Gegenteil sogar notwendige Bedingung für Forschung. Mitroff weist dies anhand einer Untersuchung einer Gruppe von 40 Wissenschaftlern bei den Apollo-Missionen nach. Demnach würde etwa das Beharren auf Überzeugungen, das in dieser Untersuchung als Fehler klassifiziert wird, durchaus positiv aufgefasst. Dazu ist Folgendes zu sagen: Erstens untersucht Mitroff primär die Motivation der Wissenschaftler; hier ist Engagement natürlich positiv. Es geht also nicht um das Beharren auf Theorien. Zweitens sind sich die untersuchten Wissenschaftler einig, dass Engagement (im Sinne von bias) nur bis zu einem gewissen Grade positiv ist; darüber hinaus wird es unwissenschaftlich: „[...] I was dismayed at the complete lack of objectivity.“ (Anonymisierter Wissenschaftler in Mitroff 1974, S. 66). Drittens gibt es dazu auch starken Widerspruch: „Being strongly committed to the outcome of an experiment while conducting it is a very dangerous thing, and many scientists consciously or unconsciously do this; this is disastrous in science.“ (Anonymisierter Wissenschaftler in Mitroff 1974, S. 71)

Dem stimmen wir vollkommen zu. Auch Feyerabend können wir zustimmen, wenn er gegen überzogene methodische Strenge argumentiert; das belegen seine historischen Beispiele. Der aufgeführte Kriterienkatalog für gute Wissenschaft zur Abgrenzung von Pseudowissen schaften erscheint uns aber durchaus brauchbar und notwendig. Er wird über die im Folgenden dargestellten Mechanismen umgesetzt.

7.2 Mechanismen zur Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur Die folgenden Mechanismen zur Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur sind aktive Schutzmaßnahmen und die wichtigste Verteidigung

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gegen Fehler. An erster Stelle steht ohne Zweifel die Reproduzierbarkeit: „Der primäre Test eines wissenschaftlichen Ergebnisses ist seine Reproduzierbarkeit. Je überraschender, aber auch je erwünschter (im Sinne der Bestätigung einer liebgewordenen Hypothese) ein Ergebnis ist, um so wichtiger ist die unabhängige Wiederholung des Weges zu ihm in der Gruppe, ehe es außerhalb der Gruppe weitergegeben wird.“ (DFG 1998, S.5)

Sie ist sowohl wissenschaftliches Kriterium als auch gewährleistender Mechanismus. Die Reproduzierbarkeit wird unter anderem eingelöst durch Aufbewahrung der Rohdaten, Dokumentation der Arbeitsschritte und Vollständigkeit der Darstellung. Überdies erlangen Experimente ihre Bedeutung grundsätzlich durch Wiederholung. Wiederholbarkeit ist das entscheidende Mittel gegen Betrug und mögliche Fehler. Wenn andere die Ergebnisse nicht reproduzieren können, dann müssen sie zurückgewiesen werden (aber vgl. Wissenschaft von einmaligen Ereignissen, Vollmer 1986/2003, S. 53-65). Wiederholbarkeit betrifft in der Regel das fertige Ergebnis eines Experiments oder Arbeitsschritts. Sie ist nur ein Spezialfall des Fehlerkorrekturmechanismus der Überprüfung, der im gesamten Prozess greift, sei es informell in der Arbeitsgruppe, sei es im Institut oder über Vergleichs standards und Fachkollegen (peer-review). Um Fehler in Experimenten aufzufangen, sind die wichtigsten Maßnahmen zur Überprüfung Kontrollversuche, Randomisierung und Statistik. Besonders letztere hat im 20. Jahrhundert enorme Bedeutung erlangt. Moderne Lehrbücher zum Versuchsaufbau beschäftigen sich fast ausschließlich damit (vgl. z. B. Quinn & Keough 2002 für die Biologie). Neben allgemeinen Mechanismen zur Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur gibt es auch fachspezifische Methoden. Einige Beispiele: In der Medizin weist die Pathologie mittels Obduktionen mögliche Fehldiagnosen nach. Psychologie, Biologie und Medizin arbeiten mit Doppelblindversuchen und Placebos (für Details siehe Bundesminister der Justiz 1987: Grundsätze für die ordnungsgemäße Durchführung der klinischen Prüfung von Arzneimitteln). Man arbeitet in der pharmazeutischen Medikamentenforschung mit High Throughput Screening massiv parallel, um Fehler durch Übersehen auszuschließen (und natürlich

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auch aus Geld- und Zeitgründen). In der Mathematik kann Widerspruchsfreiheit bewiesen werden. In der Informatik ist das für einfache Programme durch Formalisierung ebenfalls möglich. Trotz solcher Gegenmaßnahmen ist auch die Möglichkeit zu bedenken, dass Fehler positive Wirkungen entfalten. Oft kann man gerade aus Fehlern besonders viel über das funktionierende System lernen; eine Vermeidung wäre dann nicht in allen Fällen angebracht. Gebiete wie die Genetik, Ethologie oder die Erforschung kindlichen Spracherwerbs sind in hohem Maße darauf angewiesen. Hier müssen allerdings zwei ganz unterschiedliche Fälle unterschieden werden: Aus den Fehlern der Untersuchungsobjekte kann man tatsächlich viel lernen: „Fehlleistungen können offenbar tatsächlich wertvolle Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung liefern.“ (Schweitzer 2004, S. 253, Kursivierung im Original)

Uns geht es dagegen um – meist unbewusste – Verfälschungen durch die Problemlösungsmethoden der Forscher selbst. Hier ist es kontraproduktiv, nicht um eigene Fehler zu wissen. Sowohl Kriterien für gute Wissenschaft als auch die eingesetzten Methoden zielen also im Wesentlichen auf Fehlervermeidung: Eine Fehleranalyse ist demnach äußerst bedeutsam für die Wissenschaft, da Fehler in einem negativen Verhältnis zu wissenschaftlichen Normen stehen. Wir werden deshalb genauer fragen: Gegen welche Kriterien verstoßen die in D, E, F und G behandelten Fehlerfamilien? Gibt es Mechanismen, die gegen bestimmte Fehler besonders wirksam sind?

7.3 Gegen welche Kriterien verstoßen die Fehler? In Teil D, E, F und G wird jeweils detailliert ausgeführt, gegen welche Kriterien die jeweiligen Einzelfehler verstoßen. Dies wird hier für jede Fehlerfamilie zusammengefasst. Die Zuordnung zu großen logischen Gruppen (Fehlerfamilien) und das Erfassen fast aller aus der Fehlerforschung bekannten Fehler gewährleisten Vollständigkeit. Die Auswahl erfolgt nach Relevanz für die Wissenschaft, Häufigkeit und Schwere der Fehler (siehe dazu auch C 1.2.1).

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Eine Kombination aus verfälschender Erwartungshaltung, fehlendem Bemühen um Falsifikation und Beharren auf Überzeugungen (Fehlerfamilie 1) macht das konsequente Anzweifeln von Ergebnissen unmöglich. Damit sind Vollständigkeit und Tiefe ebenso gefährdet wie der Testerfolg. Zudem verzichtet eine solche Haltung auf ausgezeichnete Prüfstrategien wie etwa Falsifikation, und immunisiert sich gegen Kritik. Räumliche und zeitliche Regelmäßigkeitserwartungen (Fehlerfamilie 2) betreffen den wissenschaftlichen Prozess als solchen, in dem es ja gerade darum geht, zwischen verschiedenen Phänomenen Zusammenhänge zu entdecken und nachzuweisen. Wenn diese Zusammenhänge jedoch teilweise illusionär sind, ist die Zuverlässigkeit und damit die Reproduzierbarkeit nicht gegeben. Bereits hier zeigt sich, dass der obige herkömmliche Kriterienkatalog (C 7.1) manche der kognitionspsychologischen Fehler nicht fassen kann. Das macht deutlich, dass ein naturalistischer, kognitionspsychologisch ausgerichteter Zugang einen neuen Beitrag zur Wissenschaftstheorie liefern kann. Beispielsweise wäre ein „konsequentes Anzweifeln“ der erkannten „Resultate“ zwar unbedingt angebracht, es zu fordern jedoch absurd. Mustererkennung und kategoriale Einordnung sind unbewusste Automatismen und einer Fehlerkorrektur zunächst entzogen. Die Fehler der Beeinflussbarkeit und Kontextabhängigkeit (Fehlerfamilie 3) verletzen Neutralitätsgebot und Äquivalenzprinzip (Gleichwertiges sollte gleich behandelt werden). Daten werden weder neutral noch gleichwertig oder gar kritisch aufgenommen. Als Folge leiden interne Konsistenz, Widerspruchsfreiheit und kritische Distanz. Auch das führt letztlich zur Nicht-Reproduzierbarkeit. Die Reduktion von Komplexität und Verwendung von Heuristiken (Fehlerfamilie 4) gefährdet Vollständigkeit und Genauigkeit; Abkürzungen und willkürliche Entscheidungen sind in Folge meist nicht nachvollziehbar. Heuristisches Vorgehen ist zumindest in der Überprüfungsphase methodischem wissenschaftlichen Arbeiten abträglich. Die Gesamtsicht auf alle Fehler zeigt vor allem mangelnde Neutralität und Distanz; in der Praxis werden Theorien sehr nachlässig geprüft oder sogar gegen Kritik immunisiert. Unter selektiver Datenauswahl leidet oft auch die interne Konsistenz.

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Existieren Mechanismen zur Fehlerkorrektur, die einem Fehler bzw. einer Fehlerfamilie besonders gut entgegenwirken können? Ein Paradebeispiel gibt es: Vermeintliche Korrelations- oder Kausalitätsverknüpfungen (Fehlerfamilie 2) können über statistische Analysen unzweifelhaft als eingebildet erwiesen werden. Das gilt etwas eingeschränkt auch für die Kontextabhängigkeit (Fehlerfamilie 3): Kontexteffekte können durch variierte Wiederholung, Isolierung von Variablen und statistischen Analysen weitgehend ausgeschaltet werden. Zu den anderen beiden Fehlerfamilien gibt es dagegen keine gezielt einsetzbaren, genau passenden Mechanismen zur Fehlerkorrektur. Zwar tritt intersubjektive Überprüfung der verfälschenden Erwartungshaltung entgegen; aber es gibt Fälle, wo Erwartungshaltung und Vorurteil so stark verwurzelt und verbreitet sind, dass es unmöglich wird, diese zu überwinden (etwa D 6 und D 7). Sehr schwierig ist es auch, Kapazitätsgrenzen beim Umgang mit Komplexität zu kompensieren. Modelle, Simulationen und Analogien sind zwar gute Hilfsmittel, ändern aber nichts am black-box-Charakter der Systeme für Menschen. Ähnlich ist es bei heuristischem Vorgehen. Methodisches, kontrolliertes, statistisch abgesichertes wissenschaftliches Arbeiten könnte zwar im Prinzip heuristisches Vorgehen überflüssig machen, an entscheidenden Punkten ist das aber – etwa wegen der Größe des Problemraumes – unmöglich. Auf der Ebene der Wissenschaftsgeschichte gibt es für diese beiden Fehlerfamilien durchaus Mechanismen zur Fehlerkorrektur: Auch wenn der einzelne Forscher auf komplexe Probleme meist mit Zerlegung, Linearisierung, statischmechanischer Betrachtung und Vernachlässigung von Interaktionen reagiert (vgl. Bechtel & Richardson 1993), so kumulieren Einzelergebnisse im Laufe der Zeit zu einem komplexen Gesamtbild. Vollmers (1986/2003, S. 186) Modell der „Theoriendynamik“ beschreibt die Richtung und das Ergebnis dieser Tendenz – die zunehmende Dynamisierung von Disziplinen. Das gilt ebenso für technische Erfindungen (vgl. Altschuller 1984/1998). Andere Faktoren ergänzen die behandelten fehlerspezifischen Mechanismen der Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur. Dazu gehören unter anderem Teamarbeit, Gründlichkeit im Experiment. Sie werden

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in den einzelnen Fallstudien ausgeführt. Komplettiert wird die genaue Prüfung wissenschaftlicher Fehler durch die Anwendung der Fehleranalyse auf die eigene Untersuchung.

7.4 Anwendung der Fehleranalyse auf die eigene Untersuchung Eine Untersuchung über Fehler sollte die Möglichkeit eigener Fehler in Betracht ziehen. Dies wird im Folgenden versucht, weil wir selbst die Bedeutung fehleranfälliger Denkmuster für wissenschaftliches Arbeiten hervorheben und kritische Überprüfungen fordern. Idealerweise erfolgt eine Untersuchung von Schwächen durch Außenstehende; wir können hier nur den zweitbesten Weg gehen. Besonders anfällig ist die vorliegende Untersuchung für Fehler der ersten Fehlerfamilie (D). So kommt durch die hartnäckige erste Hypothese eines evolutionären Erklärungsmodells eine starke Erwartungshaltung zustande. Das könnte durch die Wahl passender, bestäti gender Belege – selektive Auswahl der Fallstudien – noch bestärkt werden. Möglicherweise ignoriert sie Gegenbelege, etwa besser passende historische Interpretationen evolutionär gedeuteter Daten, und bemüht sich nicht hinreichend um Falsifikation der Hypothesen. Wie schützen wir uns davor? Die Literatur bietet zur Fehlervermeidung oft nicht mehr als den Bericht über fehlgeschlagene Versuche (z. B. Luchins & Luchins 1950). Hier ist Forschungsbedarf nötig. Das Wissen um Fehler ist jedenfalls ziemlich wirkungslos (siehe D 3.2): „One technique that has proven to be absolutely worthless is telling people what a particular bias is and then telling them not to be influenced by it [...].“ (Arkes 1981, S. 326)

Da eine verfälschende Erwartungshaltung so etwas wie der eigene blinde Fleck ist, kann dieser Fehler auch selbst kaum entdeckt werden. Der beste Schutz ist nach Meinung vieler Autoren das Bemühen um Alternativerklärungen (Arkes 1981; Ehrlenspiel 1993; Oswald 1993; Platt 1964; Plous 1993; Sedlmeier 1993; Sell & Schimweg 1998). Wir verwenden diese Gegenmaßnahme deshalb durchgängig. Sowohl in diesem Teil (C) als auch bei kognitionspsychologischen Fehlern (Teil

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D, E, F und G) und bei den historischen Fallstudien sind jeweils Alternativerklärungen zu unserem Ansatz angegeben. Die Falsifikationsversuche unserer Hypothesen lösen wir ein, indem wir in C 2.3 Voraussagen für alle untersuchten Fehler machen. Jede Fehlerfamilie wird auf diese Voraussagen getestet (D 5.2, E 3.2, F 3.2, G 3.2). Bei den Fallstudien wiederum macht deren Auswahl eine leichte Falsifikation möglich: Zwei zeitliche Längsschnitte (D 7 und G 4) und ein Querschnitt (E 4) erlauben keine selektive Auswahl. Auch die Vielzahl der Beispiele müsste unsere Hypothesen leicht zu Fall bringen können. Weiterhin laufen wir Gefahr, die erarbeiteten Strukturmerkmale von Fehlern auch dort zu sehen, wo sie nicht vorhanden sind (Fehlerfamilie 2; siehe dazu E). Ebenso wie bei der Fehlerfamilie 3 sind die spezifischen Auslösebedingungen nicht gegeben, so dass diese Fehler weniger zu befürchten sind. Anfälliger sind wir bezüglich der vierten Fehlerfamilie (G): Da jede – und auch unsere – wissenschaftstheoretische Untersuchung ein komplexes wissenschaftliches System beschreibt, ist sie hier für Fehler offen. So ist unsere Darstellung wissenschaftlicher Tätigkeit vereinfacht und wir führen viele unterschiedliche Phänomene auf nur eine Ursache zurück, auf kognitive Schwächen. Zu prüfen ist auch, ob wir Übergeneralisierungen vornehmen, Fern- und Nebenwirkungen ignorieren und Probleme linear lösen. Wie schützen wir uns davor? Einige typische Probleme im Umgang mit komplexen Systemen wie die zuletzt genannten treten nur bei dem Versuch auf, sie zu steuern. Da wir beschreiben, ohne zu versuchen, einen bestimmten Zielzustand zu erreichen, treten diese Probleme bei uns auch nicht auf. Bezüglich der Vereinfachung müssen wir uns jedoch schuldig bekennen. Obwohl wir betonen, dass es zahlreiche Einflussfaktoren auf wissenschaftliche Tätigkeit gibt, die auch untereinander wechselwirken (C 3.1), beschäftigen wir uns ausschließlich mit kognitiven Schwächen und weisen ihnen eine zentrale Rolle zu, ohne Wechselwirkungen näher zu betrachten. Eine Analyse aller Einflussfaktoren und ihrer Wechselwirkungen wäre jedoch ein kaum zu realisierendes Mammutprojekt. Um diesen Fehler dennoch zu vermeiden, diskutieren wir deshalb bei jeder Fallstudie Alternativinterpretationen, die ihrerseits andere Ursachen als zentral betrachten. Da wir

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um diesen Fehler wissen, können wir sogar weitere Maßnahmen ergreifen: Wir weisen kognitiven Schwächen zwar eine wichtige, aber keine dominierende Rolle zu; wir sind uns klar darüber, dass es Fälle gibt, in denen sie keinen Einfluss haben; wir begrenzen die Reichweite unserer Erklärung; wir versuchen, Wechselwirkungen zu skizzieren und wir bringen in E 4.5 ein Gegenbeispiel. Schließlich ist noch eine weitere „Vereinfachung“ zu nennen. Einige Fehler werden überhaupt nicht behandelt. So nennen wir weder Fehler, die der Gruppendynamik geschuldet sind, noch solche, die ihren Ursprung in Emotionen oder in der Motivation haben. Das geschieht aus Platzgründen; wir meinen jedoch, die relevantesten Fehler für die Wissenschaft erfasst zu haben.

8 Fazit der methodischen Analyse Wir haben argumentiert, dass kognitionspsychologische Fehler im Wissenschaftsprozess eine wichtige Rolle spielen. Das wurde bisher kaum beachtet oder untersucht. Das methodische Vorgehen in den folgenden Fallstudien wurde erläutert (C 3). Die Integration der vorliegenden Fehleranalyse in das bisherige Wissenschaftsmodell bereichert dieses um einen bisher vernachlässigten Einflussfaktor und um ein zusätzliches methodisches Hilfsmittel (C 3.2). Die Übertragbarkeit kognitionspsychologischer Untersuchungsergebnisse auf wissenschaftliche Tätigkeit wurde betont: Sowohl die Kontinuität von Denkprozessen von Laien zu Wissenschaftlern als auch von Alltagsproblemen zu wissenschaftlichen Problemen ist gegeben (C 4.2). Die Problematik der Vorläufigkeit des Fehlerbegriffs und der Post-hoc-Analysen konnten wir ausräumen (C 4.3.1 und C 4.3.2). Evolutionsbiologisch bedingte Fehler wurden von sozialen und historischen Einflussfaktoren unterschieden und einem möglichen Wissenschaftsmodell hinzugefügt (C 4.3.3), die Schwachpunkte konkurrie render Erklärungen genannt (C 5.1), Betrug als weitere Fehlerursache ab- bzw. ausgegrenzt (C 5.2). Schließlich wurden besonders fehleranfällige Gebiete identifiziert und Fehler für sie prognostiziert (C 6).

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Der letzte Punkt beschäftigte sich mit den Maßnahmen gegen Fehler: Daraus wurde deutlich, dass die wissenschaftliche Methodik als solche vor allem gegen Fehler gerichtet ist, was eine Fehleruntersuchung sogar in den Brennpunkt wissenschaftstheoretischer Überlegungen rücken sollte. Ihre Bedeutung muss als hoch eingeschätzt werden. Die normativen Forderungen werden in Mechanismen zur Fehlervermeidung und Fehlerkorrektur umgesetzt (C 7.2). Manche Fehler können damit hervorragend bekämpft werden, andere jedoch nicht. Nach diesen Vorüberlegungen, die uns das Handwerkszeug für eine evolutivkognitive Wissenschaftstheorie an die Hand geben, kommen wir nun zu den empirischen Belegen für kognitive Fehler, die wir evolutiv interpretieren und an Fallstudien nachweisen. Die etwa dreißig Einzelfehler sind in die folgenden vier Fehlerfamilien eingeordnet: 1. Handlungsfähigkeit durch Kohärenz (D) 2. Vorstrukturierung und Regelmäßigkeitserwartung (E) 3. Flexibilität und Informationsgewinn in unbekannter Umgebung (F) 4. Schnelligkeit und Einfachheit durch Reduktion (G).

D - Fehlerfamilie 1: Handlungsfähigkeit durch Kohärenz

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D Fehlerfamilie 1: Handlungsfähigkeit durch Kohärenz Die erste Fehlerfamilie besteht aus den Einzelfehlern – hartnäckige erste Hypothese und Beharren auf Überzeugungen (D 1) – fehlendes Bemühen um Falsifikation (D 2) – Ignorieren widersprechender Belege und Blindheit gegenüber eigenen Fehlern (D 3) – verfälschende Erwartungshaltung (D 4) Die Einzelfehler sind Teilaspekte eines umfassenden Komplexes. Durch sie denken wir in widerspruchsfreien Modellen, die durch eben diese ineinander greifenden Mechanismen vor Instabilität geschützt werden. Anfängliche Theorien sind dadurch vor Veränderung auf diverse Arten gefeit: von innen, da eigene Fehler nur schwer bemerkt werden, von außen, weil widersprechende Daten nicht beachtet oder uminterpretiert werden, nach außen, da die Mechanismen der Bestätigung und der fehlenden Falsifikation wirksam werden.

1 Hartnäckige erste Hypothese und Beharren auf Überzeugungen 1.1 Charakterisierung „[…] the great tragedy of Science – the slaying of a beautiful hypothesis by an ugly fact […].“ (Huxley 1870/1970, S. 244)

Dieser im Englischen als belief perseverance oder conservatism bias benannte Fehler kann als Beharren auf Überzeugungen übersetzt werden. Die anfängliche Überzeugung, auf der beharrt wird, bezeichnen wir als hartnäckige erste Hypothese. Plous (1993) definiert eng: „Conservatism is the tendency to change previous probability estimates more slowly than warranted by new data.“ (Plous 1993, S. 138)

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D - Fehlerfamilie 1: Handlungsfähigkeit durch Kohärenz

Etwas weiter fassend kann man das Beharren auf Überzeugungen als die Tendenz beschreiben, bei Meinungen, Hypothesen oder Theorien über einen angemessenen Zeitraum oder gerechtfertigtes Maß hinaus zu bleiben bzw. zu langsam von ihnen abzurücken (konservativ zu sein), obwohl Prämissen nicht mehr gültig sind oder neue falsifizierende Belege die bekannten Daten angreifen. Meinungen können sich in dieser Weise derart verfestigen, dass sie auch im Lichte widersprechender Belege aufrecht erhalten werden. Weil es uns auf Fehler in der Wissenschaft ankommt, wird bei jedem Fehler gezeigt, gegen welche Norm verstoßen wird. Dieser Fehler verstößt gegen die wissenschaftlichen Normen der Neutralität und Objektivität, nach der gleichwertige Fakten und Theorien auch gleich gewichtet werden sollten (siehe C 7.1). Konrad Lorenz bemerkt zu dieser anzustrebenden Vorurteilslosigkeit launig: „Überhaupt ist es für den Forscher ein guter Morgensport, täglich vor dem Frühstück eine Lieblingshypothese einzustampfen – das erhält jung.“ (Lorenz 1963, S. 19)

1.2 Empirische Untersuchungen Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Menschen auf Überzeugungen beharren, wenn es um Theorienbildung und neue Daten geht. Nisbett & Ross (1980) fassen die Ergebnisse in drei Fallunterscheidungen zusammen. Im ersten Fall haben sich die Versuchspersonen bereits eine Theorie vor der Präsentation von Daten gebildet. Wenn anschließend neue Daten verfügbar werden, ist es unerheblich, ob die Daten bestätigend, widersprechend oder ambivalent bezüglich der Theorie sind: Der Glaube an die Theorie steigt in jedem Fall an. Im zweiten Fall werden zuerst die Daten präsentiert, und danach die Theorie gebildet. Diese Theorien sind neuen Daten gegenüber weitgehend resistent. Zwei gleichwertige Datensätze erhalten nicht das gleiche Gewicht, obwohl der einzige Unterschied im Zeitpunkt, nämlich vor oder nach der Theoriebildung liegt. Im dritten Fall entwickeln die Versuchspersonen eine Theorie mit vermeintlichen Beweisen. Anschließend werden die Belege widerlegt. Aber auch hier überlebt die Theorie meist den völligen Verriss der Belege.

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Bei einer anderen Studie (Laufzeit 25 Jahre) machen 199 Sozialwissenschaftler politische Voraussagen. Manche ihrer bisherigen Voraussagen trafen nun nicht ein. Nach Lage der neuen Fakten sollten sie eigentlich zu einer vorher selbst genannten Alternativerklärung wechseln; das taten sie allerdings nicht bzw. nur extrem zögerlich (Tetlock 2002). Vor allem in der ökonomischen Literatur hat das Beharren auf Überzeugungen Beachtung gefunden. Ein weiteres Experiment belegt, wie widerstandsfähig Meinungen gegen Diskreditierung sind (perseverance effect). Sechzig Versuchspersonen geben eine Beurteilung zu einer Aufgabe ab. Dann werden sie durch kontrolliertes Feedback (ihnen wird gesagt, sie hätten unterschiedlich viele Aufgaben richtig gelöst) glauben gemacht, ihre Beurteilung sei sehr gut, durchschnittlich oder schlecht (je 20 Versuchspersonen). Danach werden sie jedoch aufgeklärt, dass die Bewertung ihrer Leistung bereits willkürlich vorher festgelegt wurden, dass die Ergebnisse also gefälscht und ohne Aussage sind. Trotzdem änderte niemand seine Selbsteinschätzung über seine „Leistung“, die jeweils dem Feedback entspricht. Ein variiertes Folgeexperiment bestätigt diesen Effekt. Wichtig ist hierbei, dass die Effekte des Beharrens auf Überzeugungen in der Realität noch erheblich stärker sein dürften; denn so klares und absolut zweifelsfreies negatives Feedback ist selten, Gegenbeweisen kann ausgewichen werden, und Bestärkung der eigenen Meinung wird möglich (Ross et al. 1975). Bestätigungen der Überzeugung erhöhen die Sicherheit, während widersprechende Daten keine Effekte zeigen (Schönwandt 1986). Das zeigt sich in medizinischen Diagnosen darin, dass frühe Hypothesen auch dann bestehen bleiben (hartnäckig sind), wenn eine zweite, richtige Hypothese nur einen Spezialfall der frühen darstellt; eine vollständige Ersetzung findet nicht statt (Elstein & Shulman 1978). Ein Grund für das Beharren auf Überzeugungen ist die Bevorzugung vertrauter Informationen. Ihnen wird ein Wahrheitsbonus eingeräumt. Vertrautheit wird so synonym zum Wahrheitsgehalt der Aussage (Hertwig 1993). Die Stärke des Effekts, an einmal gebildeten Theorien festzuhalten, bestätigen verwandte Forschungen von Luchins und Luchins (1950)

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an über 9000 Personen. Dabei geht es um Lösungswege bei Umfüllaufgaben. Versuchspersonen werden auf ein Lösungsschema „festgelegt“. Später werden dann auch sehr leichte Aufgaben nur über das bekannte kompliziertere Schema gelöst. Viele Versuchspersonen sehen nicht einmal mehr, dass sie 6 Liter erreichen können, indem sie 4 Liter aus einem 10 Liter fassenden Eimer abgießen. Sämtliche Versuche scheitern, die erheblichen Einstellungseffekte (die festgelegten Lösungsschemata) zu verbessern. Über alle Versuchsreihen beharren im Mittel etwa 50-60% der Versuchspersonen auf alten komplizierten Lösungswegen. Selbst Varianten wie konkrete Behälter mit echtem Wasser helfen dabei nicht. Das Fazit bezüglich des Beharrens auf Überzeugungen kann so ausgedrückt werden: „People seem to persist in adhering to their theories to a point that far exceeds any normatively justifiable criterion of 'conservatism'.“ (Nisbett & Ross 1980, S. 169)

Dieser Effekt ist nicht nur äußerst stark, er trifft auch das Herz des wissenschaftlichen Arbeitens: den Umgang und das Zusammenspiel von Theorien und Daten. Denn Daten werden schon aufgrund banalster Unterschiede ganz anders bewertet, und Theorien werden trotz Widersprüchen nicht aufgegeben, oft sogar noch verstärkt.

1.3 Konventionelle Erklärungen In der Literatur finden sich vor allem Erklärungen, die auf emotionale, wertbeladene Verbundenheit mit derjenigen Theorie hinweisen, die man nicht verlieren will. Das lässt sich aber durch die gleichstarke Bindung an negative, emotional unerwünschte Positionen widerlegen. Eine noch stärkere Variante dieser Position führt Beharren auf Überzeugungen (Theorien) trotz Widerlegung auf die notwendige Stabilität übergeordneter Glaubenssysteme zurück (Nisbett & Ross 1980). Luchins und Luchins (1950) machen für ihre Experimente wohl richtigerweise mechanisches Anwenden von Methoden und bewusst hervorgerufene Routine verantwortlich. Wiederum wird aber nicht gefragt, warum Menschen zur Mechanisierung neigen und klare Alternativen übersehen. Weitere Versuche nehmen Rollenspieleffekte an, die bei

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der Konstruktion eines Szenarios entstehen (vgl. Davies 1997). Eine überzeugende Erklärung existiert allerdings nicht: „People's tendencies to persevere in their beliefs are so striking as to raise the possibility that such perseverance serves goals that may be more fundamental and important than holding correct views of particular issues.“ (Nisbett & Ross 1980, S. 192, Hervorhebung U. F.)

Welche Ziele könnten wichtiger sein als eine korrekte Darstellung? Unserer Meinung nach muss die Antwort in der Evolutionsbiologie gesucht werden: Es geht um biologische Optimierung und Überlebensvorteile. Das wird in D 5 näher ausgeführt.

1.4 Bewertung und Kritik An einer Theorie oder Hypothese auch dann noch fest zu halten, wenn neue Belege dagegen sprechen, ist ein Fehler mit einer sehr starken Ausprägung. Diese starken Effekte sind nicht so gut untersucht wie das folgend dargestellte fehlende Bemühen um Falsifikation, aber immer noch reliabel. Dem Fehler des Beharrens auf Überzeugungen wird man am besten gerecht, wenn man ihn einbettet in die anderen hier besprochenen Fehler dieser Fehlerfamilie (D). So verstärkt das Ignorieren widersprechender Belege (D 3) den Glauben an die ursprüngliche Theorie. Die Bandbreite dieses Fehlers ist sehr hoch: Das Fachgebiet spielt keine Rolle, es kommt nur auf den Zeitpunkt der Theoriebildung an. Keinen Unterschied macht auch der Personenkreis: Laien wie Experten sind gleichermaßen betroffen (vgl. für Mediziner Elstein & Shulman 1978).

2 Fehlendes Bemühen um Falsifikation 2.1 Charakterisierung „[…] bleibt dennoch dem menschlichen Geist jener eigentümliche und zähe Irrtum, stets mehr vom Bejahenden als vom Verneinenden bewegt und angeregt zu werden; während er doch nach Recht und Ordnung zu beiden sich in gleicher Weise verhalten sollte; ja, bei der Aufstellung eines wahren Satzes ist sogar die Kraft des verneinenden Falles die stärkere von beiden.“ (Bacon 1620/1990, S. 109)

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Ein gut untersuchter Fehler ist der so genannte confirmation bias. Er zerfällt in zwei Bestandteile, die jedoch häufig nicht getrennt werden: Die Bestätigungstendenz und das fehlende Bemühen um Falsifikation. Unter Bestätigungstendenz versteht man das wiederholte Testen bereits bestätigter Hypothesen mit der Erwartung eines bereits bekannten positiven Resultats. Von fehlendem Bemühen um Falsifikation sprechen wir, wenn beim Überprüfen von Hypothesen fast ausschließlich nach unterstützenden, bestätigenden, positiven Daten gesucht wird, statt nach Daten, welche die Hypothesen gefährden könnten. Dieses Verhalten beschreiben Chapman und Johnson (2002) so: „In a variety of tasks, people tend to seek information that if consistent with the current hypothesis would yield positive feedback (e. g., Wason, 1960), and to interpret evidence as consistent with the hypothesis (e. g., Lord et al. 1984).“ (Chapman & Johnson 2002, S. 133)

Inwieweit kann man von einem wissenschaftsmethodischen Fehler sprechen? Diese Frage spricht die Norm an, auf welche der Fehler hinweist. Die wiederholte Prüfung bereits bekannter Fakten erbringt keinen Erkenntniszuwachs, verbraucht aber Ressourcen wie Zeit und Aufmerksamkeit. Auch das fehlende Bemühen um Falsifikation ist ein Fehler, da auf eine ausgezeichnete Prüfstrategie verzichtet wird (Popper 1934/1994, 1972/1998). Weil es lernbar ist, Falsifikation als Prüfstrategie zu benutzen, ist damit nichts Unmögliches gefordert; es übersteigt die Fähigkeiten von Erwachsenen nicht (Stanovich 1999). Das wird auch durch das Auftreten richtiger Antworten überhaupt belegt. Dies gilt im übrigen für alle im folgenden genannten Experimente: In jeder der zitierten Untersuchungen löst ein gewisser Prozentsatz der Versuchspersonen das Problem korrekt.

2.2 Empirische Untersuchungen Forschungsparadigma für diesen Fehler ist der Wason Selection Task, eine der bekanntesten Aufgaben in der Psychologie. Hintergrund der von Peter Wason (1968) entwickelten Aufgabe war dessen Interesse an den wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Popper: Kann

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die normative Aufforderung zur Falsifikationssuche praktisch umgesetzt werden? Die Versuchsanordnung besteht aus vier Karten, die alle auf einer Seite mit Buchstaben, auf der anderen Seite mit Zahlen beschriftet sind. Zu sehen sind ‚E’, ‚K’, ‚4’ und ‚7’. Die zu überprüfende Regel lautet: Wenn auf der Vorderseite ein Vokal ist, dann ist auf der Rückseite eine gerade Zahl. Die Versuchspersonen müssen dann genau diejenigen Karten nennen, die umzudrehen sind, um die Regel vollständig zu prüfen. Das ist äquivalent zur Überprüfung „Wenn P, dann Q“. Die korrekte Lösung des Modus tollens ist ‚E’ und ‚7’. Der Prozentsatz derjenigen Personen, die diese Aufgabe in der obigen abstrakten Standardformulierung richtig lösen, beträgt über viele Studien hinweg unter 5% (Griggs & Cox 1982: