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German Pages 328 [330] Year 2003
UTA BEIKÜFNER, geboren in Erfurt, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Publizistik an den Universitäten Leipzig, Edinburgh und der Freien Universität Berlin, lehrt am Arbeitsbereich Historische Publizistik und Medientheorie an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen zur Literatur in Deutschland von 1933 bis 1945. ISBN 3-89528-418-1
Blick, Figuration und Gestalt
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Uta Beiküfner Beiküfner
Diese Untersuchung versucht, den Wandel von Ästhetik zu Aisthesis, der die gegenwärtigen ästhetischen Debatten beherrscht, in konkreten, literarisch gestalteten Wahrnehmungserfahrungen archäologisch zu fundieren. Der kindliche Blick in Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, bildliche Figurationen in Siegfried Kracauers Essayband „Das Ornament der Masse“ und die Gestalt als wahrnehmungspsychologische Modifikation der künstlerischen Form in Rudolf Arnheims Frühwerk stellen konkrete Beispiele diskursiver Wahrnehmungspraktiken dar. Alle drei Modelle eint, von der sinnlichen Anschauung der empirischen Wirklichkeit auszugehen. Dabei bilden sowohl die wahrgenommenen Gegenstände als auch die wahrnehmenden Organe bzw. diese unterstützende technische Geräte und kulturelle Praktiken ihr konkretes Material. Den begrifflichen Rahmen für die unterschiedlichen Bedeutungshorizonte von Wahrnehmung bildet die Sammelbezeichnung aisthesis materialis. Der Begriff der Aisthesis verweist auf den ästhetischen Horizont der untersuchten Texte als Literatur, in dem die Ausdeutbarkeit der verschiedenen Aussagen zur Wahrnehmung letztendlich situiert wird.
Blick, Figuration und Gestalt Elemente einer aisthesis materialis im Werk von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim AISTHESIS VERLAG
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Uta Beiküfner
Blick, Figuration und Gestalt Elemente einer aisthesis materialis im Werk von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim
AISTHESIS VERLAG –––––––––––––––––––––––––––––––
Bielefeld 2019
Abbildung auf dem Umschlag: Paul Klee, Zimmerperspektive mit Einwohnern +, 1921, 24; Ölpause und Aquarell auf Papier auf Karton, 48,5 x 31,7 cm; Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern
Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Als Print-Ausgabe 2003 erschienen, ISBN 978-3-89528-418-1
© Aisthesis Verlag Bielefeld 2019 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8498-1408-3 www.aisthesis.de
Inhalt 1. Vorwort ..................................................................................................
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2. Walter Benjamin – Blick ......................................................................
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2.1. Einleitung: Blick ............................................................................ 17 2.2. Ausblicke ........................................................................................ 33 2.2.1. Individueller Ausblick: Loggien ........................................ 33 2.2.2. Illusionistischer Ausblick: Kaiserpanorama ..................... 40 2.2.3. Geschichtlicher Ausblick: Die Siegessäule ....................... 45 2.3. Einblicke ......................................................................................... 53 2.3.1. Geschichtlicher Einblick: Tiergarten ............................... 53 2.3.2. Illusionistischer Einblick: Winterabend ........................... 64 2.3.3. Individueller Einblick: Der Strumpf ................................ 71 2.4. Spektakulärer Blick: Unglücksfälle und Verbrechen ....................... 77 2.5. Entgrenzter Blick .......................................................................... 85 2.5.1. Entgrenzte Zeit: Das Telefon ............................................ 85 2.5.2. Entgrenzter Raum: Das Fieber ........................................ 92 2.5.3. Entgrenztes Bild: Knabenbücher ....................................... 99 2.6. Rückblick: Das bucklichte Männlein ............................................... 104 3. Siegfried Kracauer – Figuration ......................................................... 112 3.1. Einleitung: Figuration .................................................................. 3.2. Natürliche Geometrie .................................................................. 3.2.1. Bewegung: Knabe und Stier ............................................... 3.2.2. Fläche: Zwei Flächen .......................................................... 3.2.3. Raum: Das Straßenvolk in Paris ......................................... 3.3. Absolute Geometrie ..................................................................... 3.3.1. Bewegung: Die Reise und der Tanz ................................... 3.3.2. Fläche: Das Ornament der Masse ....................................... 3.3.3. Raum: Asyl für Obdachlose ................................................. 3.4. Perspektivische Darstellungen .................................................... 3.4.1. Zum Augenpunkt: Aus dem Fenster gesehen .................... 3.4.2. Zum Fluchtpunkt: Abschied von der Lindenpassage ......... 3.5. Photographie: Die Photographie ..................................................... 3.6. Film: Film 1928 ..............................................................................
112 132 132 139 146 155 155 162 168 175 175 182 191 201
4. Rudolf Arnheim – Gestalt ................................................................... 211 4.1. Einleitung: Gestalt ........................................................................ 4.2. Malerei ............................................................................................ 4.3. Tanz ................................................................................................ 4.4. Film: Film als Kunst ........................................................................ 4.5. Maske .............................................................................................. 4.6. Literatur: Eine verkehrte Welt .........................................................
211 228 238 248 276 286
5. Quellenverzeichnis ............................................................................... 300 5.1. Primärliteratur ............................................................................... 5.1.1. Einzelveröffentlichungen ................................................ 5.1.2. Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen ................... 5.1.3. Nachgelassene Papiere .................................................... 5.2. Sekundärliteratur ...........................................................................
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Danksagung ................................................................................................ 328
1. Vorwort Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind Blick, Figuration und Gestalt als Elemente einer aisthesis materialis in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Siegfried Kracauers Essayband Das Ornament der Masse und Rudolf Arnheims kunstkritischem Frühwerk. Den Begriff der aisthesis materialis haben Bernhard Dotzler und Ernst Müller geprägt, die darunter „jede eng am Material, an konkreten Fallbeispielen orientierte Untersuchung von Wahrnehmungsfeldern, durch welche Materialbezogenheit per se auch die historische Dimension solcher Untersuchung aufgerufen ist“1, verstehen. Blick, Figuration und Gestalt sind Beispiele, an denen Wahrnehmung sowohl als kulturhistorisches Phänomen als auch als ästhetisches Paradigma untersucht wird. In den zu untersuchenden Texten ist sie demnach nicht nur Thema, sondern auch formgebendes Prinzip. Der Versuch, Wahrnehmungsprozesse am genuin historischen Ort zu beschreiben – im Berlin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, um Rückschlüsse auf die kulturelle Selbstbestimmung des Wahrnehmungsdiskurses dieser Zeit zu erhalten, setzt neben der Definition seines Gegenstandsbereiches zunächst erst einmal die Benennung seiner Grenzen voraus. Diese liegen in dem Begriff der Wahrnehmung selbst, die mittlerweile als universale Vokabel die klassischen Bedeutungshorizonte von Ästhetik und Aisthesis sprengt. Theoretischer Fluchtpunkt dieser Arbeit ist die umfangreiche Theoriediskussion, die in den letzten Jahren geführt wurde, um Ästhetik als Aisthetik neu zu begründen. Eingeleitet durch die Entdeckung des Auges als „master sense of the modern era“2 wurde dabei vornehmlich die Frage zu beantworten versucht, wie sich der Okularzentrismus auf die ästhetische Erfahrung auswirkt.3 Exemplarische Bedeutung kommt hier den Untersuchungen Gernot Böhmes4 zu. In der Böhmeschen Diktion meint Aisthetik nicht nur eine Rückbesinnung auf die voridealistische Bedeutung von Ästhetik als „Lehre von der sinnli1 2 3
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Dotzler, B., Müller, E., Wahrnehmung und Geschichte, S.VII. (Herv. U.B.). Jay, M., Scopic regimes of modernity, S. 3. Einen ersten Überblick über die geisteswissenschaftlichen Beiträge zur Geschichte der menschlichen Sinnestätigkeit gibt Wolfgang Kemp in seinem Aufsatz Augengeschichten und skopisches Regime. Ich beziehe mich im Folgenden auf Gernot Böhmes jüngste Veröffentlichung, Aisthetik, die seine früheren Untersuchungsergebnisse zu Ästhetik und Wahrnehmungslehre in systematischer Form bündelt.
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Vorwort
chen Erkenntnis“ (Baumgarten). Sie begreift eine systematische Entfaltung von neuen ästhetischen Wahrnehmungsformen mit ein, die sich aus der Erschließung neuer Gegenstandsbereiche – der Natur und des Designs – ergeben.5 Böhmes Kardinalvorwurf an die bisherige Ästhetik lautet, dass sie weniger eine Theorie der sinnlichen Erfahrung zu formulieren suchte als eine Theorie der intellektuellen Beurteilung. Damit korrespondiere, dass weder das wahrnehmende Subjekt noch das konkrete Hier und Jetzt des Kunstwerks thematisiert wurden. Eine solche Theorie versagt notwendigerweise gegenüber heutigen ästhetischen Trends, die Böhme im Anschluss an Walter Benjamin unter dem Schlagwort der „Ästhetisierung des Realen“ zusammenfasst. Böhmes Entwurf einer Aisthetik ist mit einer begrifflichen Neukonzeption von „Natur“ verbunden. Um die Formen ihrer ästhetischen Erfahrung auszubuchstabieren, greift er auf die von Martin Seel vorgeschlagenen Hauptbegriffe zurück. Kontemplation, Korrespondenz und Imagination ergänzt Böhme durch eine spezifisch sinnliche Form der Naturerfahrung – die Wahrnehmung –, die dem affektiven Charakter des Naturerlebnisses im Unterschied zur naturwissenschaftlichen Vermittlung ihrer objektiven „Qualitäten“ gerecht werden soll. Der Begriff der Wahrnehmung bleibt allerdings bei Böhme so vielschichtig wie diffus. Sie ist als „Befindlichkeit zu konzipieren im Sinne von Spüren, in welcher Umgebung man sich befindet“6, sie ist nicht weniger als ein ästhetisches Bedürfnis, zugleich aber auch ein Erkenntnistyp. Darüber hinaus stellt sie ein menschliches Grundvermögen dar, das kultur- und lebensgeschichtlich geprägt ist. Schon im Vorfeld von Böhmes Versuch, Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre neu zu definieren, ist die gegenwärtige „Aktualität des Ästhetischen“7 breit diskutiert worden. Konsens besteht allein darin, dass eine Neubestimmung der Theorie des Schönen dem Anteil der sinnlichen Wahrnehmung am ästhetischen Erlebnis Rechnung zu tragen habe.8 Diese bildet den konkreten Gegenstand der vorliegenden Unter5
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Zur Kritik an einer wirklichkeitsbezogenen Ästhetik vgl. Karl Heinz Bohrer, Zeit und Imagination, S. 99. Bohrer setzt sich hier konkret mit den Positionen von Richard Rorty und Wolfgang Welsch auseinander. Böhme, G., Aisthetik, S. 31. Vgl. Welsch, W., Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit? Vgl. die Ästhetikdebatte, die im Kontext des von Birgit Recki und Lambert Wiesing herausgegebenen Sammelbandes Bild und Reflexion geführt wurde, insbesondere die Positionen Martin Seels und Wolfgang Welschs. Dieter Kliche resümiert in seinem in den Weimarer Beiträgen erschienenen Aufsatz Ästhe-
Vorwort
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suchung; sie wird in den literarischen, journalistischen und theoretischen Texten der drei ausgewählten Autoren gleichsam archäologisch expliziert. Sinnfällig wird ihre Thematisierung an den Motivkomplexen Großstadt und neue technische Medien. An ihnen lassen sich die kulturelle Verankerung und die Historizität des Sehens demonstrieren sowie der Wandel der Bedeutung des Betrachters exemplifizieren. Meine Untersuchung sieht die Beschreibung von Wahrnehmungsvorgängen in den Texten Benjamins, Kracauers und Arnheims als den systematischen Ort an, von dem aus sich Bausteine zu einer aisthetischen Theorie erschließen lassen. Dieser theoretische Fluchtpunkt der Arbeit korrespondiert mit der methodischen Voraussetzung, dass es literarische Anschauungsformen gibt, die in ihren Strukturen visuellen Wahrnehmungsweisen entsprechen und perzeptive Veränderungen adäquat widerspiegeln.9 Sehweisen können zu allegorischen Ausdrucksformen werden oder bestimmte Textmodelle generieren, Blickpunkte Erzählperspektiven markieren, bildliche Tableaus Handlungsorte vorstellen und optische Apparate und Blicktechniken sowohl als Metaphern als auch als epistemologische Begriffe auftreten. Dass die Sinneswahrnehmung literarische Texte nicht nur strukturieren kann, sondern in der Moderne zum Ansatzpunkt einer neuen Ästhetik wird, zeigt Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf; in seinem Essay Der Autor als Produzent hatte er diese These an den neuen literarischen Formensprachen exerziert. Ihm zufolge führt die Veränderung der Wahrnehmung zu einem „gewaltigen Umschmelzungsprozeß literarischer Formen“10. Das epische Theater Brechts ist laut Benjamin ein Ergebnis dieses Prozesses. Brecht beantwortet die Frage nach der Wirkung von Kunst, indem er auf die Funktionen der menschlichen Wahrnehmung verweist und diese politisiert. In seine Dramenkonzeption integriert er die Zerstreuung als Signatur einer neuen Wahrnehmung. Das primäre Element des epischen Theaters, die Geste, dient ihm zur Unterbrechung der Handlung und damit zur Entdeckung von Zuständen. Dabei hat „die Unterbrechung hier
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tik und Aisthesis die wesentlichen Argumente dieser Debatte und erweitert sie um einen kurzen problemgeschichtlichen Abriss der Ästhetik. Vgl. Seel, M., Ästhetik und Aisthesis; Welsch, W., Erweiterungen der Ästhetik; Kliche, D. Ästhetik und Aisthesis, S. 485ff., und Ästhetik, S. 317-342 und S. 369-383. Vgl. Langen, A., Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts und im Anschluß daran Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts. Benjamin, W., Der Autor als Produzent, GS II, 2, S. 687.
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nicht Reizcharakter, sondern eine organisierende Funktion“11. Die ästhetischen Formen, die durch das epische Theater und den Film entfaltet werden, orientieren sich an der geschichtlichen Prägung der optischen Erfahrung und ihrer physiologischen Ausbuchstabierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Rekonstruktion der unterschiedlichen Diskurse, die das weite Feld der Wahrnehmung zu dieser Zeit prägten, ist gleichwohl nur partiell zu leisten. Im Folgenden soll auf den Modus des Blicks in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert, bildliche Figurationen in Siegfried Kracauers Essayband Das Ornament der Masse und die Gestalt als wahrnehmungspsychologische Modifikation der künstlerischen Form in Rudolf Arnheims journalistischem, kunstkritischem und schriftstellerischem Frühwerk eingegangen werden. Blick, Figuration und Gestalt sind Beispiele einer aisthesis materialis, in denen sich ein je unterschiedlicher Wahrnehmungsbegriff manifestiert, der auf die sinnliche Anschauung des empirischen Materials der Wirklichkeit ausgerichtet ist und von den genannten Autoren nicht nur thematisiert, sondern auch formal reflektiert wird. Im Kontext des Benjaminschen Werkes wurde die Veränderung der Wahrnehmungsweisen bisher einseitig auf den Einfluss des neuen Mediums Films zurückgeführt.12 Belegt wurde diese Aussage mit Benjamins Kunstwerk-Aufsatz. Für das Verhältnis von Sehen und Moderne hat Jonathan Crary dagegen nachgewiesen, dass es bereits im frühen 19. Jahrhundert zu einer Neustrukturierung der optischen Erfahrung kam und der Umgang mit den neuen Medien folglich nicht die Ursache, sondern allenfalls ein Ergebnis dieses Prozesses ist.13 In Anlehnung an die Ausführungen Crarys kann die Behauptung aufgestellt werden, dass in Benjamins Berliner Kindheit mit dem kindlichen Blick ein Wahrnehmungsmodus gestaltet wird, der die Erfahrung der Großstadt um 1900 vermittelt. Als These lässt sich hier vorab formulieren, dass Benjamin anhand der Wahrnehmung des städtischen Raumes – die in der Berliner Kindheit ein analoger Prozess zu seiner Erfahrung ist – exemplarisch die Genese bestimmter Techniken des Betrachtens aufzeigt. 11 12
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Ebd., S. 698. Vgl. Schweppenhäuser, G., Bildkraft, prismatische Arbeit und ideologische Spiegelwelten, S. 392f. und Reisch, H., Das Archiv und die Erfahrung. Crary, J., Techniken des Betrachters.
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Während Benjamins Darstellungen ihren Fluchtpunkt in seiner These vom Verlust unmittelbarer Erfahrungen in der Gegenwart haben14, geht Kracauer von der gesellschaftlichen und sozialen Vermitteltheit der Wirklichkeit aus. Seine Einsicht in ihren Konstruktivismus15 steht in einem direkten Zusammenhang mit ihrer ausschnitthaften Darstellung, wobei er sich in ihrer formalen Gestaltung bildlichen Figurationen verpflichtet weiß. Das Abbild reflektiert und interpretiert das Abgebildete. Als Zeitdiagnose legt der Nexus beider darüber hinaus die Vermutung nahe, dass gerade die Einsicht in die konstruktive Verfasstheit alles Wirklichen der vermehrten Produktion von Bildern Vorschub leistet und neue Bildmedien generiert, die nicht nur der Aneignung, sondern auch Beherrschung dieser Wirklichkeit dienen. Im Gegensatz zu Walter Benjamin und Siegfried Kracauer interessierte sich Rudolf Arnheim nicht für die Wirklichkeit als solche oder ihre Konstruktionsprinzipien, sondern für ihre gestalthafte Wahrnehmung. Den Prämissen gestaltpsychologischer Forschung entsprechend, rekurrierte Arnheim auf die Wahrnehmung als einem ursprünglichen Formvermögen. Daraus leitete er die generelle Aussage ab, dass der Mensch die Wirklichkeit mittels Formen zu begreifen versuche, die sich nicht erst im Zuge kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungen herausgebildet haben, sondern den dynamischen Vollzug der Wahrnehmung selbst charakterisieren.16 Im Kontext holistischer Forschungen ist das Sehen nicht mehr länger eine Form der Erkenntnis, sondern wird zur Ausdrucksbewegung. Für ihren Gehalt ist die psychophysiologische Struktur des Wahrnehmungsvorganges ausschlaggebend, die vom Individuellen und Subjektiven abstrahiert. Aisthesis materialis rückt nicht nur die Wahrnehmung in das Zentrum der Untersuchung, sondern auch die materialen Eigenschaften dessen, das durch Wahrnehmung ästhetisch erfahrbar wird. Der Rekurs auf die Materialbezogenheit trägt dem methodischen Vorgehen Walter Benjamins, Siegfried Kracauers und Rudolf Arnheims insofern Rechnung, als die beiden Erstgenannten methodisch einem historischen, Arnheim dagegen einem anthropologischen Materialismus verpflichtet waren. Im Hinblick auf seine geschichtliche Arbeit war sich Benjamin bewusst, dass 14
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So spricht Benjamin in seinen Notizen zu Baudelaire von der „abgestorbenen Erfahrung“. Benjamin, W., Zentralpark, GS I, 2, S. 681. Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 216. Vgl. Interview Thomas Meder mit Rudolf Arnheim am 10. und 11.9.1993 in Ann Arbor.
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seinen Materialuntersuchungen eine „genaue Fixierung des Standorts der Gegenwart in den Dingen vorhergehen muß“17, während Kracauer das „unmittelbar Seiende“18 zum Ausgangspunkt seiner feuilletonistischen Praxis bestimmte. Er sah sich selbst weniger als „Lumpensammler […] im Morgengrauen des Revolutionstages“19 denn als Physiognomiker, der den Sinnzusammenhang der Dinge nicht aus der historischen Erfahrung zu rekonstruieren suchte, sondern aus der sichtbaren Struktur und fühlbaren Textur ihrer Oberflächen. Während er aufmerksam die Gegenwart verfolgte, richteten sich die Intentionen Benjamins auf „das Gewesene“20. Das Interesse für Oberflächenphänomene als Äußerlichkeiten teilten beide.21 Rudolf Arnheim ging es dagegen um die Natur der Dinge selbst. So leitete er „die Gesetze einer Kunst aus den Charaktereigenschaften ihres Materials“22 ab und legte ihnen die Physiologie des menschlichen Sehens zugrunde. Dabei transformierte er den physiologischen Gestaltbegriff zu einer ästhetischen Kategorie. Die Frage, ob dieser Begriff bereits ästhetisch tradiert war, stellte sich für Arnheim nicht.23 Zur Klärung seines methodischen Vorgehens sind allein jene zeitgenössischen Versuche hilfreich, die im Kontext von ästhetischen und kunstgeschichtlichen Studien Erklärungsmuster für menschliches Handeln und künstlerische Selbstdarstellungen aus den Naturwissenschaften bezogen und in denen menschliche Anschauungsformen mit Formen der künstlerischen Darstellung in der historischen Betrachtung gleichgesetzt wurden. Neben der Aufwertung der Sinne im Prozess der ästhetischen Anschauung leistet der Begriff der Aisthesis auch die „Aufhebung der Grenze zwischen den traditionellen Gebieten der Erkenntnistheorie und der Äs17
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Benjamin, W., Brief an Werner Kraft vom 27.12.1935, in: Benjamin, W., Briefe, V, S. 209. Kracauer, S., Zu den Schriften Walter Benjamins, Schriften 5, 2, S. 123. Benjamin, W., Ein Außenseiter macht sich bemerkbar, GS III, S. 225. Kracauer, S., Zu den Schriften Walter Benjamins, Schriften 5, 2, S. 123. So schreibt Max Horkheimer an Walter Benjamin, dass er [Benjamin, U.B.] „die Epoche von kleinen Symptomen der Oberflächer her zu fassen“ versuche. Horkheimer, M., Brief an Walter Benjamin vom 18.9.1935, in: Benjamin, W., Briefe, V, S. 173. Arnheim, R., Film als Kunst, S. 17. Zur ästhetischen Tradition der Gestalttheorie vgl. Simonis, A., Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin.
Vorwort
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thetik“24. Ergänzend zu der Vielgestaltigkeit von Wahrnehmung als Aisthesis ist eine Diskussion seiner unterschiedlichen Bedeutungen auch dem Umstand zuzuschreiben, dass sowohl Walter Benjamin als auch Siegfried Kracauer mit der fragmentarischen und offenen Form ihrer theoretischen und literarischen Entwürfe Einspruch gegen die Wahrheit abgeschlossener philosophischer Systematiken erhoben, deren Zusammenhang sich für beide als Synonym eines zweckrationalistischen Denkens entpuppte.25 Pauschalisierungen, die die dynamischen Begriffsgebilde dieser Autoren in der historischen Rückschau zu vereinheitlichen suchen – sei es als eigenständige Theorie oder als Teil einer Tradition – erweisen sich als unzulänglich. Wenn Wahrnehmung solcherart nicht auf den Begriff zu bringen ist, so doch auf Bilder. Die Texte aller drei Autoren handeln von äußeren, zum Teil auch inneren Bildern und transportieren bildliche Sinnzusammenhänge, die der unmittelbaren Anschauung verpflichtet sind. Mit den neuen, zeitgenössischen Bildmedien teilen sie den Realismus. Im Unterschied zu diesen bilden jene Darstellungen die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern reflektieren sie mit den Möglichkeiten des Ästhetischen. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Literatur, gerade weil sie nicht über die Unmittelbarkeit zwischen dem Gegenstand und der Form seiner Darstellung verfügt, zumindest zeitweise zu einem ausgezeichneten künstlerischen Medium der ästhetischen Erfahrung in der Moderne wurde, da für die Umwandlung des sinnlichen Erlebnisses in die schriftstellerische Form nach wie vor die ästhetische Distanz konstitutiv war, die durch technische Reproduktionsverfahren in anderen künstlerischen Bereichen bereits nivelliert worden war. Martin Seel26 hat die ästhetische Erfahrung als Erfahrung eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes bestimmt, wobei das Erfahrungssubjekt eine spezifische ästhetische Distanz zum Erfahrungsgegenstand inne hat. In Bezug auf die Darstellung von Wahrnehmungsvorgängen konstituiert sich ästhetische Distanz dann, wenn die Sinneswahrnehmung ästhetisch reflektiert wird. Dies kann sowohl inhaltlich als auch formal geschehen.27 Erst jedoch in der Dialektik, die 24 25
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Seel, M., Ästhetik und Aisthesis, S. 23. Detlev Schöttker hat nachgewiesen, dass Benjamin dagegen mit der Form seiner Arbeiten (insbesondere der Traktatform des Trauerspiel-Buches) einen systematischen Anspruch bekundete. Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 43. Vgl. Seel, M., Die Kunst der Entzweiung. Inka Mülder bestimmt als das Distanz konstituierende Moment bei Kracauer die „spielerisch-zweckfreie Haltung des ziellosen Zuschauers“. Diese Progno-
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zwischen der Darstellung von Wahrnehmung und ihrer ästhetischen Reflexion waltet, kommen die Erneuerungsbestrebungen der künstlerischen Form selbst zum Vorschein. Dies trifft sowohl für die Texte Walter Benjamins als auch Siegfried Kracauers zu, nicht aber für die Texte Rudolf Arnheims. Die literarische Form, in der das „Sehen“ im Werk von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer Gestalt annahm, wurde nach dem Titel, unter dem jener 1933 einige Prosastücke in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte, als Denkbild bezeichnet. Charakteristisch für das Denkbild ist die Kombinatorik von Anschaulichem und Gedanklichem.28 Als neue Prosaform sagt das Denkbild nicht nur etwas über das Was der Darstellung aus – die konkrete Anschauung –, sondern auch über das Wie. Die ästhetischen Merkmale sind im Hinblick auf den Gegenstand von besonderem poetologischen Interesse. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die dem Denkbild inhärente Temporalität mit Ernst Blochs Erkenntnis einer radikalen Gleichzeitigkeit der Prozesse des kapitalistischen Wirtschaftslebens korrespondiert.29 Als dichterische Technik konterkariert die dem Denkbild Kracauerscher Prägung immanente Bildlichkeit die Abfolge von Handlungen; in ihr werden zeitliche Verläufe still gestellt, um temporale Koinzidenzen anhand räumlicher Beziehungen zu veranschaulichen. Im Falle Benjamins handelt es sich um eine historische Simultaneität; Vergangenes und Gegenwärtiges werden in einen gemeinsamen bildlichen Sinnzusammenhang überführt. Bei beiden ist diese literarische Anschauungsform gesellschaftskritisch30 akzentuiert, sie zielt auf die Erkennbarkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese wurde ihnen zum alleinigen Index des Wahren künstlerischer Formen.
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se ist sicherlich für die Thematisierung des Betrachters in einigen Essays zutreffend, erklärt allerdings nicht sein „Verschwinden“ in manch anderen. In einem allgemeineren Sinne vernag sie nicht das Erkenntnispotential der Kracauerschen Denkbilder zu erklären. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 113f. Vgl. Schlaffer, H., Denkbilder, S. 180. Bloch, E., Erbschaft dieser Zeit, S. 117. Benjamin schrieb über dieses Buch am 15.1.1935 an Siegfried Kracauer: „Selbstverständlich enthält es einige sehr wertvolle Teile: ich zähle dazu den Versuch über den ungleichzeitigen Widerspruch und den Abschnitt über Märchen und Mythos.“ Benjamin, W., Briefe, V, S. 28. Dies steht nicht in einem Gegensatz zu den wahrnehmungspsychologischen Intentionen, die auch Detlev Schöttker im Denkbild aufspürt. Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 190.
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Eine physiognomische Betrachtungsweise auf die Dinge war auch Rudolf Arnheim eigen. Im Unterschied zu Benjamin und Kracauer, denen zufolge diese Physiognomien historisch determiniert waren und nicht aus dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehung herausgelöst werden konnten, fixierte Arnheim mit ihnen eine bestimmte Geschehensart, die sich allein aus der psychophysischen Struktur organischer Prozesse ableiten ließ. Der historische Stellenwert der Phänomene wurde dabei vollständig ausgeblendet. Während Walter Benjamin und Siegfried Kracauer mit ihrer methodischen Herangehensweise eine bestimmte Denktradition zu unterlaufen suchten, knüpfte Rudolf Arnheim an die Tradition einer Ausdrucksforschung an, deren Methode er zwar auf fundamentale Art und Weise veränderte, die er jedoch nicht hinsichtlich ihrer Korrespondenzen mit historischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen kritisch hinterfragte. An den Texten Arnheims, die von der Wahrnehmungsforschung seiner Zeit beeinflusst wurden, lässt sich aufzeigen, wie diese lediglich zu Neuerungen in der Kunstwissenschaft führte. Arnheims Werk dient weniger als Ergänzung des Spektrums von Wahrnehmungsfeldern denn als Kontrastfolie, um die ästhetischen Erneuerungstendenzen im Werk Kracauers und Benjamins sinnfällig zu machen, die ihrerseits mit einer Neubestimmung der Kunst einher gingen. Die folgende Untersuchung baut auf der Unterscheidung zwischen der geschichtlichen Organisation der Wahrnehmung auf, die der kindliche Blick in Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert wiedergibt, ihrer ästhetischen Vermittlung durch bildliche Figurationen in Kracauers Essayband Das Ornament der Masse und ihrer natürlichen Organisation, die Rudolf Arnheim in seinem kunstkritischen Frühwerk verfolgt. Diese Wahrnehmungsweisen vermitteln nicht nur die Wirklichkeit, sondern werden selbst durch die literarische Darstellung vermittelt. Folglich muss die Betrachtung der Anschauungsformen die Reflexion des Angeschauten mit berücksichtigen. Ziel meiner Arbeit ist die Darstellung unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi als Formen ästhetischer Erfahrung im Werk der genannten Autoren, die weder im Sinne einer ästhetischen Theorie noch einer historischen Abhandlung vereinheitlicht werden können, sondern deren Wandel, Heterogenität und Vielschichtigkeit sie als eine Erscheinung der Moderne charakterisieren. Die methodischen Konsequenzen, die der Wechsel von Ästhetik hin zu Aisthesis mit sich bringt, zielen auf die Entwicklung von Interpreta-
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tionsstrategien, die den Umstand berücksichtigen, dass dieser Wechsel der Vormachtstellung der Schrift gegenüber dem Bild ein Ende bereitet. In der folgenden Untersuchung soll nicht nur aufgezeigt werden, wie sich diese Entwicklungen auf die literarische Form selbst auswirken, sondern intermediale Deutungstechniken prospektiv entworfen werden, die das traditionelle Verhältnis des Lesers zum Text sinnvoll durch eine Phänomenologie des Bildes und eine Geschichte seiner Formen ergänzen, um so dem Anteil der sinnlichen Wahrnehmung am ästhetischen Erlebnis ansatzweise gerecht zu werden.31
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Meine Arbeit ist auch im Umfeld jener kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Germanistik anzusiedeln, die Heinz Brüggemann in seinem Aufsatz Literatur und mediale Wahrnehmung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive aufgrund der Kommunikation des literarischen Prozesses mit der medialen Wahrnehmung gefordert hat.
2. Walter Benjamin – Blick 2.1. Einleitung: Blick In der Berliner Kindheit wird die Thematisierung der visuellen Wahrnehmung bereits sinnfällig in den Überschriften der einzelnen Stücke, aus denen sie besteht: Loggien, Kaiserpanorama, Tiergarten, Die Siegessäule, Wintermorgen, Winterabend. Das Kind, von dem der Autor erzählt, sieht aus der Loggia in den Hof, es lässt die Bilder im Kaiserpanorama an sich vorüberziehen, überblickt den Tiergarten und schaut zur Siegessäule auf. Fast in jedem Stück eröffnet sich ihm eine Position, von der aus es einen visuellen Zugang zu einem Raum erhält, der alle im Blick liegenden Einzeldinge umfasst und dessen Grenzen mit den Grenzen seines optischen Wahrnehmungsvermögens zusammenfallen. Die bereits in den Überschriften ausgewiesenen Bildräume handeln vom Sehen, seinen Bedingungen und seinen Beschränkungen. So stellen z.B. Loggien und Siegessäule eine Aussichtsplattform dar, das Kaiserpanorama einen Vorführapparat für stereoskopische Bilder, Wintermorgen und Winterabend verweisen auf die Übergänge von natürlichem und künstlichem Licht in der Stadt. Vom Leser wird erwartet, dass er sich an den Standort des Kindes begibt, um von dort aus dem kindlichen Blick und der sich durch ihn manifestierenden Wahrnehmung der Räume zu folgen. Sich an den Standort des Kindes zu begeben, heißt jedoch auch, in der Zeit zurückzugehen und auf eine Zeit zu treffen, für die Benjamins Gestaltung von Räumen und Sichtweisen zum Zeichen einer umgreifenden Veränderung der Vorstellung vom Sehen wird. Das Was dieser Veränderungen hat Benjamin selbst in vielen seiner Essays am Erscheinungsbild der Großstadt und dem neuen Betrachter verdeutlicht, den sie erfordert. Dieser wandelt sich stetig, sein Sehen ist subjektiv, „immer vielfach, es grenzt an und überschneidet immer andere Objekte, Begierden und Vektoren“.1 Für das Wie der Gestaltung dieser Zusammenhänge ist entscheidend, dass sich die visuelle Erfahrung nicht länger mit Hilfe des mimetischen Codes und des perspektivischen Raumes darstellen lässt. Die Auflösung des erkenntnistheoretischen Verbundes von cartesianischem Perspektivismus und Zentralperspektive, die dieses Konzept von Subjektivität und ihre logozentrische Verfügung über die Außenwelt geometrisch ras1
Crary, J., Techniken des Betrachtens, S. 30ff.
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terte, beginnt mit der „Trennung der Sinne“2 im 19. Jahrhundert. Während taktile und optische Wahrnehmung im 17. und 18. Jahrhundert als analoge perzeptive Konstanten galten,3 spiegelt die Entwicklung optischer Geräte im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Desintegration des Tastsinnes aus dem sinnlichen Wahrnehmungsensemble wider. Im skopischen Regime der Moderne (Christian Metz) ist das Sehen autonom. Auch die Fortschritte in der physikalischen Optik (Helmholtz, Fechner) in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts führten dazu, das Wozu der Wahrnehmungserfahrungen nicht mehr in einem allgemeinen Wissensbereich zu verorten und dementsprechend neu zu verhandeln.4 Eine an die Beobachtung der Außenwelt durch einen unbeteiligten Betrachter gebundene Erkenntnis war unvereinbar mit der Empirizität optischer Erfahrung. Der Gesichtssinn wurde nun in seiner physiologischen Bedingtheit und seiner Abhängigkeit von äußeren Einflüssen untersucht. Diese physikalisch-physiologische Auffassung von Wahrnehmung erweiterte Benjamin um ihre Historizität: „Die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.“5 Dass diese Geschichte in nuce der Blick des auf der Schwelle zum 19. Jahrhunderts spielenden Kindes spiegelt6, diese Behauptung möchte ich meinen weiteren Ausführungen hypothetisch voranstellen. Das Kind bewegt sich an vergangenen Orten. Nun setzt Sehen Präsenz voraus, die Wahrnehmungen des Kindes scheinen nicht unvermittelt auf. Sie werden kulturell vermittelt durch den Stadtraum der Jahrhundert2
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Ebd. Ausführlich wird die Veränderung der optischen Erfahrung in den Arbeiten Jonathan Crarys und Martin Jays dargestellt. Als einer der ersten hatte Alois Riegl auf die Zurückdrängung des haptischen zugunsten des optischen Sinnes am Beispiel des Impressionismus hingewiesen. E.H. Gombrich macht in der Einleitung seines Buches Kunst und lllusion darauf aufmerksam, dass, Riegl vorgreifend, der Arzt und Romantiker Carl Gustav Carus schon viel früher die Geschichte der Kunst als Entwicklung vom Tastsinn zum Gesichtsinn gesehen habe. Vgl. Gombrich, E.H., Kunst und Illusion, S. 38. Crary, J., Aufmerksamkeit, S. 21. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 354. Benjamin, W., Brief an Gretel Karplus und Theodor Wiesengrund Adorno vom 16.8.1935, in: Benjamin, W., Briefe, V, S. 144.
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wende7 und Techniken der Bilderzeugung, wie sie neben dem architektonischen Ensemble auch optische Geräte vorgeben. Das Kind ist nurmehr Medium der Raumerfahrung, nicht aber ihr Subjekt. Im Rahmen der Berliner Kindheit vertritt es einen besonderen Betrachterstatus.8 Anders als der Erwachsene erfasst es die Dinge so, „wie sie aussehen, sich anhören, sich bewegen oder riechen“9. Seine anfängliche Wahrnehmung und sein mimetisches Verhältnis zur Gegenstandswelt werden zum Garanten von Raumerfahrungen, die in der Gegenwart des Autors bereits dem Vergessen anheim gefallen sind.10 Nicht jedoch die Authentizität des kindlichen Erlebens ist das Entscheidende, sondern seine fehlenden kognitiven Syntheseleistungen. Im Sehen gibt sich das Kind der Großstadt hin, ohne über das Wahrgenommene zu reflektieren. Es ist seiner Umwelt ausgeliefert, verirrt sich, verliert sich und fürchtet sich. Im Gegensatz zur phänomenologischen Auffassung vom Sehen als menschlicher Urteilsbildung11 schlechthin, betont Benjamin seine Wandelbarkeit, seine Abhängigkeit von den Wahrnehmungssituationen und den wahrgenommenen Phänomenen. In den Bildern seiner Großstadtkindheit stellt er die Veränderungen der Wahrnehmung mit den Mitteln des Ästhetischen dar, ohne sie in historische Kausalitäten einzubinden. Dieser alternativen, weil figurativen Geschichtsschreibung12 entsprechen sowohl die Anordnung des Textkonvolutes als auch die Sedimentierung der Großstadt in einzelne Räu7
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Wie stark die Architektur des 19. Jahrhunderts und ihre neuen Materialien Eisen und Glas die Wahrnehmung veränderte, stellte erstmals Alfred Gotthold Meyer in seinem Buch Eisenbauten, ihre Geschichte und Ästhetik dar, das Benjamin rezensierte. Ich verzichte hier auf einen ausführlichen Vergleich der Berliner Chronik mit der Berliner Kindheit unter dem Stichwort der Optizität und verweise auf die Ausführungen Manfred Schneiders. Für die Berliner Chronik machte er geltend, dass „die Allegorien und Emblematiken optischer Medialität“ dort die Funktion erfüllen, „die Fülle der bildhaften Erinnerung zu organisieren als auch die eigene Abkunft von diesen visuellen Codes einzugestehen“. Das Sehen diene in der Berliner Chronik dazu, den autobiographischen Lebensraum zu strukturieren. Schneider, M., Die erkaltete Herzensschrift, S. 120. Arnheim, R., Kunst und Sehen, S. 160. Zu Benjamins Suche nach der verlorenen Zeit und ihrem Sinn vgl. Szondi, P., Hoffnung im Vergangenen. Zur phänomenologischen Auffassung vom Sehen vgl. Manthey, J., Wenn Blicke zeugen könnten, S. 113. Vgl. Bolle, W., Geschichte, S. 403.
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me. Jedes Stück zeichnet sich durch seine relative Selbständigkeit und bildliche Rahmung aus, die einen „Bildraum“ begrenzt. Die einzelnen Stücke der Berliner Kindheit korrespondieren mit den großstädtischen Räumen, die dem kindlichen Betrachter die Koordinaten zuweisen, die für seine Wahrnehmung entscheidendes Gewicht besitzen. Auch wenn die Erfahrungsmöglichkeiten der Großstadt zum Teil autobiographisch vermittelt werden13, gehen die Gestaltungsintentionen der Berliner Kindheit nicht im Autobiographischen auf. Der Titel ist in der Forschungsliteratur oft als ausreichendes Indiz gewertet worden, um die Berliner Kindheit in den Kontext eines autobiographischen Diskurses zu stellen. Benjamin hat sich davon deutlich im Vorwort seines Buches distanziert: „Das hat es mit sich gebracht, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten. Mit ihnen die Physiognomien – die meiner Familie wie die meiner Kameraden“ (BK, S. 385). Kindheit als Topos im Kontinuum eines autobiographischen Lebensraumes setzt einen ausdrücklichen Vermerk über die Identität des Autors mit dem Erzähler voraus.14 Benjamin verweigert diesen „autobiographischen Pakt“, indem er die „Einsicht in die biographische durch die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen“ (BK, S. 385) ersetzt und die Erfahrung einer erlebten Zeit aus der persönlichen Sphäre in die geschichtliche15 überträgt. Analog dazu bestimmt er als Referenzebene der Berliner Kindheit nicht den autobiographischen Lebensraum16, sondern den städtischen Raum um die Jahrhundertwende. Architektur wird laut Benjamin doppelt rezipiert, „durch Gebrauch und durch Wahrnehmung“17. Da sich Sehen und Tasten im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Betrachtung trennen, ersetzt der Begriff des Gebrauchs die ursprüngliche Einheit beider Sinne unter der Voraussetzung 13
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Den Zusammenhang zwischen Benjamins Berliner Kindheit und seiner vergangenen und aktuellen Lebenssituation stiftete und belegte Gershom Scholem in seinem Buch Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. In seinem Aufsatz Der autobiographische Pakt definiert Philippe Lejeune autobiographisches Schreiben durch die Bestätigung der Identität von Autor-Erzähler und Figur im Text. Zu Benjamins geschichtlichem Erinnerungsbegriff vgl. Moses, S., Eingedenken und Jetztzeit, S. 388ff., und Schöttker, D., Erinnern. Zu den autobiographischen Intentionen der Berliner Chronik vgl. Günter, M., Anatomie des Anti-Subjekts. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 381.
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des Verlustes der subjektiven Beziehung zum wahrgenommenen Raum. Dieser subjektiven Beziehung als Bestandteil einer Theorie der Erfahrung kommt eine Schlüsselposition in Benjamins Werk zu. In der Berliner Kindheit ist sie unablösbar von seinem Wahrnehmungsbegriff.18 Wenn die „Erfahrung eine Dimension menschlicher Praxis ist, in der Selbst- und Weltverhältnis derart artikuliert sind, daß das Weltverhältnis als Selbstverhältnis und umgekehrt das Selbstverhältnis als Weltverhältnis artikulierbar wird“, so soll – auch aus etymologischen Gründen19 – im Folgenden der Begriff des Sehens durch den des Blicks ersetzt werden. Während jener die sinnesphysiologische Wiedergabe einer als objektiv angesehenen Realität umfasst, konnotiert dieser stärker das Verhältnis zwischen Betrachter und Betrachtetem. Der Blick selektiert einen Wahrnehmungsgegenstand aus seiner Umwelt, fixiert ihn und kommuniziert mit ihm. Er verknüpft nicht nur den subjektiven Betrachter mit dem Objekt seiner Betrachtung, sondern definiert dieses Verhältnis ständig neu. Der kindliche Blick ist individualgeschichtlich als Ausdruck des Selbstbewusstseins des Kindes interpretierbar20, geschichtlich als Ausdruck der Struktur einer zunehmenden Beherrschung der Objektwelt. Inszeniert wird dieser Blickwechsel im Berliner Stadtraum der Jahrhundertwende. Verbirgt sich in der Berliner Kindheit tatsächlich eine Genese von Techniken des Betrachtens, so setzt dies einen konzeptionellen Zusammenhang ihrer einzelnen Stücke voraus. Dem widerspricht das einstimmige Credo der Benjamin-Forschung, die Berliner Kindheit als Ansammlung von Fragmenten zu betrachten, die als solche keinerlei strukturellen Zusammenhang aufweise. Es ist sicherlich richtig, dass eine Einheit hier weder über einen sich erinnernden Erwachsenen gestiftet wird, der seine Erinnerungen in aufeinanderfolgenden Handlungen perspektiviert, noch durch die 18
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Thomas Kleinspehn hat aufgezeigt, dass im 19. Jahrhundert neben dem Blick auch die auf Erfahrung beruhende Verarbeitung der Bilder Bestandteil der Wahrnehmung war. Kleinspehn, T., Der flüchtige Blick, S. 239. Ursprünglich bezeichnete „blicken“ im Sinne von glänzen und leuchten eine dingliche Eigenschaft. Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 132. Zur kindlichen Subjektivität vgl. Günter, M., Anatomie des Anti-Subjekts und Stoessel, M., Aura. Das vergessene Menschliche. Bei Stoessel ist es nicht der Blick, sondern die mimetische Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt, die sein Selbstbewusstsein formt. Allerdings basiert die Arbeit von Marleen Stoessel auf der Adorno/Rexroth-Fassung der Berliner Kindheit.
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Form selbst. Anna Stüssis Kommentar, dass „each chapter of ‚Berliner Kindheit‘ a labyrinthian figure [is]: there is no development, the goal remains hidden“21, dominiert nach wie vor die Forschung zur Berliner Kindheit.22 Größtenteils übersehen wurde bisher, dass Anna Stüssi ihr Buch über die Berliner Kindheit vor dem Fund des „Handexemplars komplett“ (1981) veröffentlichte, in dem Benjamin die Anordnung seiner Stücke selbst vorgenommen hatte.23 Diese Tatsache soll im Folgenden insofern berücksichtigt werden, als sich gerade in dieser Fassung im Modus des Betrachtens ein mehr als konzeptioneller Zusammenhang der einzelnen Stücke andeutet. In einem Brief an Karl Thieme hat Benjamin selbst auf diesen Sachverhalt mit den Worten hingewiesen, dass der „Wert des Buches [Berliner Kindheit, U.B.] […] gerade hier im Beieinander der einzelnen Teile [besteht]“24. Die wechselvolle und langwierige Entstehungsgeschichte der Berliner Kindheit wurde im Ergänzungsband VII, 2 der Gesammelten Schriften Walter Benjamins zwar skizziert25, aber bisher kaum hinsichtlich ihrer inhaltlichen Konsequenzen untersucht.26 Die Rekonstruktion der inhaltlichen Gehalte der einzelnen Stücke, von denen Benjamin bereits 1932 angibt,
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Stüssi, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 244. Vgl. Günter, M., Anatomie des Anti-Subjekts, S. 113, Schöttker, D., Erinnern, S. 269, und Muthesius, M., Mythos Sprache Erinnerung, S. 16. Zu Recht stellt Detlev Schöttker in seinem Aufsatz Edition und Werkkonstruktion die Reihenfolge der einzelnen Stücke des „Handexemplares komplett“ als endgültige in Frage. Dies widerspricht jedoch nicht meiner These, dass diese Fassung als Einheit konzipiert wurde. Schöttker, D., Edition und Werkkonstruktion, S. 311. Benjamin, W., Brief an Karl Thieme vom 19.4.1934, in: Benjamin, W., Briefe, IV, S. 395. Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Fassungen versucht Marianne Muthesius zu geben, die in der Überarbeitung durch Benjamin vor allen Dingen eine sukzessive Tilgung autobiographischer Spuren ausmacht. Muthesius, M., Mythos Sprache Erinnerung, S. 21, Fußnote 4. Lediglich Bernd Witte hat in seinem Aufsatz Bilder der Endzeit. Zu einem authentischen Text der „Berliner Kindheit“ versucht, sowohl die Textgenese zu rekonstruieren als auch Argumente für eine „Interpretation des Werkes als gestalteter Einheit“ zu liefern. Wittes These, die Berliner Kindheit als ‚Benjamins Vergewisserung des Ursprungs seines eigenen (schriftstellerischen) Tuns in der Kindheit‘ anzusehen, ist für die folgenden Ausführungen jedoch nur von marginaler Bedeutung. Witte, B., Bilder der Endzeit, S. 575 und 578.
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die siebente oder achte Fassung angefertigt zu haben27, ist auch im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Benjamin verfasste einzelne Stücke, die später in die Berliner Kindheit übernommen worden, bereits Mitte der zwanziger Jahre. Konzipiert und teilweise ausgearbeit hat er seine Textsammlung allerdings erst im Herbst 1932. In den folgenden Jahren veröffentlichte er einzelne Texte in verschiedenen Zeitschriften, eine Gesamtpublikation gelang ihm zu Lebzeiten nicht. Als 1938 Theodor W. und Gretel Adorno die Bitte äußern, eine Abschrift des Textkonvolutes zu erhalten, nimmt Benjamin dies zum Anlass, um Stücke erneut zu überarbeiten. Meinen Ausführungen liegt die von Benjamin 1938 autorisierte Fassung letzter Hand zugrunde.28 Einzelne ihrer Stücke, Krumme Straße, Pfaueninsel und Glienicke, Der Strumpf, Unglücksfälle und Verbrechen, Die Farben, Zwei Blechkapellen und Winterabend, erschienen im Sommer 1938 in der Zeitschrift Maß und Wert.29 In einem Brief an den Redakteur der Zeitschrift, Ferdinand Lion, stellt Benjamin die intensive Arbeit an seiner Berliner Kindheit heraus: „Die Arbeit ist während des Exils gereift; von den letzten fünf Jahren ist keins vergangen, ohne dass ich ihr einen oder zwei Monate zugewandt hätte.“30 Im Hinblick auf die intensiven Umarbeitungen seiner Stücke darf nicht vergessen werden, dass zwischen den ersten Entwürfen zur Berliner Kindheit auf Ibiza und der Fassung letzter Hand u.a. Benjamins Arbeit am Passagen-Werk, an seinem Buch über Charles Baudelaire und diverse Aufsätze liegen, die nicht ohne Einfluss auf die Berliner Kindheit geblieben sind. Soll die Berliner Kindheit nach urbanen Wahrnehmungsformen befragt werden, dann kann dies nicht ohne Rückgriff auf Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 31 und seine Studien zu seinem geplanten Buch Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des 27
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Benjamin, W., Brief an Gershom Scholem vom 10.12.1932, in: Benjamin, W., Briefe, IV, S. 149. Diese Fassung wurde in Benjamins Gesammelten Schriften VII, 1, S. 385-433 abgedruckt. Sie erscheint mit dem Sigel BK abgekürzt und unter Angabe der Seitenzahl im Text. Vgl. Benjamin, W., Brief an Theodor W. und Gretel Adorno vom 19.6.1938, in: Benjamin, W., Briefe, VI, S. 123. Benjamin, W., Brief an Ferdinand Lion vom 13.5.1938, in: Benjamin, W., Briefe, VI, S. 79. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I, 2 (erste und dritte Fassung) und GS VII, 1 (zweite Fassung).
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Hochkapitalismus32 geschehen. In diesen Texten widmete sich Benjamin der Ausformulierung einer spezifisch modernen Wahrnehmungstheorie, die er anhand der Veränderungen im Erscheinungsbild von Kunstwerken und den Modi ihrer Darstellungen beschreibt. Im Baudelaire-Aufsatz untersucht er die optische Begrifflichkeit bei E.T.A. Hoffmann, Baudelaire und Poe. Im Werk der beiden letztgenannten zeigt er am Phänomen des Schocks eine neue Wahrnehmungsform auf, deren Entstehung er mit dem Wandel des sozialen Lebens in der Großstadt und technischen Neuerungen begründet. Dass sich die Strukturveränderung der optischen Apperzeption auf die künstlerische Form auswirkt, konstatiert er auch im Kunstwerk-Aufsatz. Laut Benjamin entspricht gerade der Film als neue Kunstform „tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Maßstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschaftsordnung erlebt“33. Wie bereits in der Einleitung skizziert, korrelieren Benjamin zufolge die neuen künstlerischen Darstellungsformen mit den neuen Sehformen.34 Das dialektische Zusammenspiel beider erfordere eine Neubestimmung von Kunst, die auch technische Innovationen zu berücksichtigen habe. Diese Neudefinition des Kunstwerks ist dabei nicht als Bruch an den Rändern der visuellen Kultur der Moderne zu betrachten, sondern als Folge einer Veränderung der Kräfte und Regeln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die das Feld ausmachen, innerhalb dessen die sinnliche Wahrnehmung stattfindet.35 Den Reproduktionstechniken im Sinne Benjamins gehen die Entdeckungen von Aufnahmetechniken der menschlichen Sinnesphysiologie voraus. Sie veränderten die optische Erfahrung lange bevor sie im Medium der Kunst reflektiert werden, z.B. als Auflö32
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Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus war der geplante Titel für eine Monographie über Charles Baudelaire, die allerdings nie zustande kam. Unter dieser Überschrift versammelten die Herausgeber von Benjamins Gesammelten Schriften die Aufsätze Das Paris des Second Empire bei Baudelaire (GS I, 2, S. 511- 604), Über einige Motive bei Baudelaire (GS I,2, S. 605653) und Zentralpark (GS I, 2, S. 655-690), die ich im Folgenden aufgrund ihres inhaltlichen Zusammenhangs als Baudelaire-Aufsatz zitiere. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 380. Inwieweit Benjamin hier von der Wiener Schule beeinflusst wurde, die ebenfalls eine Kongruenz zwischen Anschauungsformen und Darstellungsformen proklamierte, untersucht Wolfgang Kemp in seinem Aufsatz Fernbilder. Vgl. Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 15.
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sung der zentralperspektivischen Konstruktion in der futuristischen und kubistischen Malerei.36 Auf den Zusammenhang von veränderten Formensprachen und neuen Technologien rekurriert Benjamin, indem er eine Traditionslinie der modernen Kunst entwirft, die die Dramenkunst Brechts analog zu der nichteuklidischen Geometrie Riemanns begreift und die Malerei Paul Klees analog zu den technischen Ingenieursleistungen der zwanziger Jahre.37 Benjamins Vergleich prononciert dabei nicht die bildliche Vergleichbarkeit dieser Entwicklungen, sondern den Wandel jahrhundertealter Vorstellungen und seine Auswirkung auf die Form der Darstellung. Tradition bedeutet nicht länger den historischen Anschluß gegenwärtiger Entwicklungen an Überliefertes; die Tradition selbst wird von dem Wandlungsprozess ergriffen, der in ihr zum Ausdruck kommt, und dergestalt verändert, dass diese Entwicklungen nun nicht mehr diachron, als zeitliches Nacheinander, sondern synchron, als zeitliches Nebeneinander, beschrieben werden. So ist Riemanns Verzicht auf das Parallelenaxiom für Benjamin in seiner radikalen Neuheit gleichbedeutend mit dem Wegfall der Katharsis in Brechts epischem Theater38; der Einfluss der Technik auf die künstlerische Darstellung wird für ihn am Konstruktivismus der Bilder Klees sinnfällig. Ort dieser Veränderungen, die „von den Praktiken der Vision bis zu denen des elektrischen Fernsehens reicht“, ist das neunzehnte Jahrhundert; ihr letztes Publikum, das ihnen noch mit Staunen begegnete, waren die Kinder.39 Sich wieder an diesen Ort zu begeben, heißt allerdings auch, die zeitliche Rückschau zu thematisieren. Wenn die unterschiedlichen Betrachterpositionen und räumlichen Standorte des Kindes eine Verschiedenartigkeit von räumlichen Vorstellungsweisen andeuten, so stellt sich neben der Frage nach der Veränderung der Wahrnehmung auch die nach ihrer Auswirkung auf den Vorgang der Erinnerung, soweit er in der Berliner Kindheit thematisiert wird. 36
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Erwin Panofsky hatte 1927 in seinem Aufsatz Die Perspektive als symbolische Form die perspektivische Konstruktion im Anschluss an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als bloße Konvention charakterisiert. Panofsky bestätigte damit theoretisch, was praktisch in der Malerei seit der Jahrhundertwende zu beobachten war. Benjamin notiert Panofskys Aufsatz im Kontext einer Materialzusammenstellung für den Kunstwerk-Aufsatz. Benjamin, W., Anmerkungen, GS VII, 2, S. 679. Benjamin, W., Erfahrung und Armut, GS II, 1, S. 216. Benjamin, W., Was ist das epische Theater?, GS II, 2, S. 535. Benjamin, W., Mondnächte in der Rue la Boétie, GS IV, 1, S. 510.
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Benjamins Erinnerungsmodell weist eine große Nähe zum psychoanalytischen Verfahren auf.40 Freud geht davon aus, dass das Wahrnehmungssystem kein Gedächtnis habe.41 Ihm zufolge wird erst durch die Umwandlung von Wahrnehmungsreizen, durch ein in zeitlicher Abfolge hinter dem Wahrnehmungsapparat liegendes System die Erregung in Dauerspuren, d.h. Erinnerungsspuren umgesetzt.42 Innerhalb des psychischen Apparates sind die funktional ausdifferenzierten Systeme aufeinandergeschichtet.43 Einen Beleg für Benjamins Freud-Rezeption liefert, neben der zweimaligen Erwähnung von Jenseits des Lustprinzips in seinem Verzeichnis gelesener Schriften, das im Umkreis der Denkbilder angesiedelte Fragment Ausgraben und Erinnern, das sich in geringfügig abgewandelter Form im Textkonvolut der Berliner Chronik, einer Vorstufe der Berliner Kindheit, wiederfindet: So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene anderen vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.44 40
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Sigrid Weigel verfolgt in ihrem Buch Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise detailliert den Einfluss Freuds auf Walter Benjamins Theoriebildung. Sie stützt ihre Untersuchungen vorwiegend auf die Schlüsselposition der Freudschen Termini – wie ‚Bahnung‘, ‚Unbewußtes‘, ‚Verdrängung‘, ‚Innervationen‘, ‚Entstellung‘ – in den Texten Benjamins. Freud, S., Die Traumdeutung, S. 516. „Von den Wahrnehmungen, die an uns herantreten, verbleibt in unserem psychischen Apparat eine Spur, die wir ‚Erinnerungsspur‘ heißen können. Die Funktion, die sich auf diese Erinnerungsspur bezieht, heißen wir ja ‚Gedächtnis‘ […] Wir nehmen an, daß ein vorderstes System des Apparates die Wahrnehmungsreize aufnimmt, aber nichts von ihnen bewahrt, also kein Gedächtnis hat, und daß hinter diesem ein zweites System liegt, welches die Erregung des ersten in Dauerspuren umsetzt.“ Ebd., S. 514. In einem Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896 schreibt Freud: „Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt.“ Freud, S., Briefe an Wilhelm Fließ, 1, S. 217. Benjamin, W., Denkbilder, GS IV, 1, S. 400f.
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Benjamin analogisiert die Erinnerung mit der ärchäologischen Ausgrabung. Dabei wird die zeitliche Abfolge in ein räumliches Bild überführt. Bei Freud sind räumliche Relationen Teil eines topisches Modells, das die funktionelle Ausdifferenzierung physiologischer Vorgänge in ein Wahrnehmungs- und Erinnerungssystem veranschaulicht. Bei Benjamin sind räumliche Relationen Darstellungsmittel, um die Erinnerung und damit zeitliche Relationen ins Bild zu übertragen. Erst aus dem In-Beziehung-Setzen der Bilder zur ihrem Fundort lässt sich eine Erinnerung rekonstruieren. Es sind vordergründig nicht die aufgezeichneten Erregungsvorgänge im kindlichen Betrachter, die erinnert werden, sondern eine ursprüngliche Besetzung von Räumen und Bildern45, die durch den kindlichen Blick und vermittelt über seinen Standort veranschaulicht werden. Die Erinnerung besitzt selbst Wahrnehmungscharakter. Benjamin verknüpft sie mit dem Ort und dem primären sinnlichen Eindruck, den dieser im Betrachter hinterlässt. Dem geht voraus, dass Benjamin das Gedächtnis als ‚Medium für die Erkundung des Vergangenen‘46 bestimmt und ihm somit einen eigenen Ausdruckscharakter abspricht. Auf diese Weise findet eine Überlagerung von Erinnerungs- und Wahrnehmungsvorgang in Benjamins bildlicher Darstellung statt. Wahrnehmung und Erinnerung entstehen nur im Zuge einer Interaktion zwischen Betrachter/sich Erinnerndem und der ihn umgebenden Welt. Mit dem Ort wird auch der Betrachter/sich Erinnernde thematisiert. Der Prozess des Grabens führt zwar den relativ unveränderlichen Standpunkt eines Grabenden vor, in der Betonung der zu durchstoßenden Schichten aber geht Benjamin von einer Überlagerung von Wahrnehmungs- und Erinnerungsbildern aus, die vom perspektivischen Standort des Grabenden nicht zu vereinzeln sind. Benjamins Analogisierung von Grabungsvorgang und Erinnerungsvorgang spricht den erinnerten Bildern einen gegenwärtigen Ort zu, auf dessen Erkenntnis die Erinnerung ausgerichtet ist. Die Bezeichnung eines Ortes wird zum vermittelnden Element zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der Rekonstruktion der ursprünglichen Wahrnehmung dieses Ortes gilt die Produktivität47 der Erinnerung. 45
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Burkhardt Lindner hat darauf hingewiesen, dass in der Berliner Kindheit nicht das Kind erinnert wird, sondern „eine verschüttete Ding- und Bildwelt freigelegt“ wird. Lindner, B., Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘, S. 29. Benjamin, W., Denkbilder, GS IV, 1, S. 400f. Schöttker, D., Erinnern, S. 266f.
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Inwieweit die Darstellung von Erinnerungs- und Wahrnehmungsvorgang tatsächlich Rückschlüsse auf beide verändernde Faktoren zulässt, kann nur in einer Untersuchung der kindlichen Raumwahrnehmung ermittelt werden. Dabei soll jedoch die Tatsache, dass die Wahrnehmung selbst vermittelt durch den Prozess der Erinnerung erscheint, nur insofern thematisiert werden, als sie neben einer Verräumlichung auch eine Verzeitlichung bedeutet. Darüber hinaus erfüllt die Erinnerung auch eine poetische Funktion. In ihrem Vollzug entsteht die ästhetische Erfahrung. Erst jene schafft die notwendige ästhetische Distanz zum Gegenstand, die für diese konstitutiv ist.48 Subjekt dieser Erfahrung ist nicht das Kind, sondern der sich erinnernde Erwachsene. Der Blick des Kindes wird dann ästhetisch, wenn seine ursprüngliche Wahrnehmung durch den sich Erinnernden literarisch gerahmt und ins Bild gesetzt wird. Wahrnehmung und Erinnerung stehen in der Berliner Kindheit sowohl inhaltlich als auch formal in einem direkten Wechselverhältnis. Ihre Veränderungen werden an einem neuen Gegenstandsbereich, der Großstadt49, expliziert und in einer neuen Form gestaltet, die sich als „räumlich, blitzhaft, fragmentarisch und diskontinuierlich“50 charakterisieren lässt. Im Vorwort der Berliner Kindheit formuliert Benjamin seine Gestaltungsintention als ‚Habhaftwerden von Bildern‘ (BK, S. 383). Das Bild ist ein zentraler Begriff in seinem Werk, der in den unterschiedlichsten Perspektiven und Kombinationen erscheint: als Bilderschrift, Schriftbild, Bildgedächtnis, Gedächtnisbild, Bilderrede, Denkbild, Symbol und allegorisches Bild.51 Da der kindliche Blick unterschiedliche Bildkonzeptionen vermittelt, die primär an die Darstellung der jeweiligen, vom Kind wahrgenommenen Räume gebunden sind, kann und soll hier vorab keine wie immer geartete Benjaminsche Bildtheorie expliziert werden. Gemeinsam ist diesen Konfigurationen allerdings das Stillstellen eines aus48 49
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Vgl. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 113f. Vgl. Seel, M., Eine Ästhetik der Natur, S. 232 und Brüggemann, H., Das andere Fenster, S. 246. Von diesen formalen Attributen ausgehend definiert Detlev Schöttker die Gestalt der Berliner Kindheit als „Konstruktiven Fragmentarismus“. Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 231. Zur Bildlichkeit von Benjamins philosophischer Darstellung vgl. Lindner, B., Allegorie, S. 83. Zu Benjamins dialektischem Bildbegriff, der als Komplement einer Philosophie der Sprache zu gelten hat, vgl. u.a. Kramer, A., Genesis des Bildes.
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schnitthaften Geschehens, das in der Darstellung einem „aktiv fixierenden Moment des Erkennens unterliegt“52. Ziel meiner Arbeit ist nicht, die besondere Rolle des Bildes als Erkenntnismodus aufzuspüren, zu der die Reflexion der kindlichen Wahrnehmung im bildlichen Medium gehört. Auch für die Diskussion von sprachtheoretischen Positionen im Prosawerk Benjamins ist die von mir vorgestellte Methode ohne Relevanz; sie hält die Bezeichnung Denkbild53 für die einzelnen Stücke der Berliner Kindheit für zutreffend und setzt die erkenntnistheoretischen Intentionen, die Benjamin mit der Verwendung des dialektischen Bildes54 verfolgte, voraus. Im Vordergrund meiner Untersuchung steht der kindliche Blick und sein Verhältnis zu visuellen Wahrnehmungsmustern. Das Bild wird vor allen Dingen als Darstellungsmittel verstanden, das diese Muster abbildet.55 Rückschlüsse darauf erlaubt die konkrete Wahrnehmungssituation, die durch den Vollzug des Sinnesvorgangs, seine natürlichen, technischen und architektonischen Voraussetzungen (z.B. das Licht) und die wahrgenommenen Phänomene selbst bestimmt wird. Ausdruck der Apperzeption des Kindes ist auch sein Handeln. Auf den ungetrennten Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und kindlichem Handeln rekurrierte Benjamin erstmals in seinem Programm eines proletarischen Kindertheaters: „Schöpferische Innervation in exaktem Zusammenhang mit der rezeptiven ist jede kindliche Geste.“56 Die kindliche Wahrnehmung konstituiert sich als Zusammenspiel rezeptiver und produktiver Momente. Benjamin knüpft erneut an diese Überlegungen in 52 53
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Vgl. Hillach, A., Dialektisches Bild, S. 187. Zum Thema Denkbild vgl. Schlaffer, H., Denkbilder und zur Kritik an Schlaffers Definition vgl. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 104f. Detlev Schöttker grenzt sich von dieser Gattungszuschreibung mit dem Argument ab, dass ihr die philologische Basis fehle. Er plädiert für eine Erweiterung der Diskussion um die Darstellungsweise Benjamins, die auch Aphorismus und Traktat miteinbegreift. Vgl. Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 189ff. Vgl. Hillach, A., Dialektisches Bild, S. 186ff. Burkhard Lindner ordnet die Stücke der Berliner Kindheit dem Typus Denkbild zu. Er behauptet allerdings, dass „für das Denkbild konstitutiv [sei], dass visuelle Abbildungen ausgeschlossen bleiben“. Als Grund führt er an, dass das Denkbild ganz auf das Sprachliche ausgerichtet sei. Gerade der Umgang des Kindes mit der Sprache widerlegt diese Behauptung. Mit der Sprache wird Erfahrung mitteilbar, die in räumlichen Konstellationen ins Bild gesetzt wird. Lindner, B., Allegorie, S. 84f. Benjamin, W., Programm eines proletarischen Kindertheaters, GS II, 2, S. 766.
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seiner Studie Über das mimetische Vermögen57 an, die während seiner Arbeit an der Berliner Kindheit entstanden ist58, und modifiziert sie dahingehend, dass er seine wahrnehmungstheoretischen Überlegungen nun nicht mehr von einer bestimmten Kunstpraxis ableitet, sondern auf den anthropologisch konnotierten Begriff der Ähnlichkeit gründet. Im Kontext der Berliner Kindheit wird sie als kindliche Erfahrung literarisch im Stück Die Mummerehlen gestaltet, das ursprünglich das Textkonvolut einleiten sollte. Indem das Kind beizeiten lernt, sich „in die Worte, die eigentlich Wolken waren […] zu mummen“ (BK, S. 417), gleicht es sich seiner Umgebung durch die Nennung ihrer Dingbezeichnungen an. Innerhalb dieses Prozesses der Anverwandlung an die Dinge entspricht in der kindlichen Wahrnehmung die sprachliche Welt dem Erscheinungsbild der Gegenstände (und damit einhergehend auch ihrer Bedeutung). Wahrnehmung ist hier „Lesen“. Der sprachliche Zusammenhang wird ebenfalls in der Semantik eines Bildraumes dargestellt. Vor dem Hintergrund der Untersuchungen zu den geschichts- und erkenntnistheoretischen Intentionen der Berliner Kindheit wurde Benjamins optische Begrifflichkeit bisher kaum berücksichtigt.59 Diese bildet den konkreten Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Einen literarischen Text hinsichtlich seiner optischen Begrifflichkeiten zu untersuchen, setzt voraus, dass unter Optik nicht das rein physiologische Verhältnis des Auges zur Welt verstanden wird, sondern dass der Begriff der Optik in den der visuellen Wahrnehmung insofern eingeht, als er den Bezug der Seh- und Darstellungsweisen zur Psychologie seiner Zeit mit einschließt. Der Betrachter ist untrennbarer Bestandteil der modernen Sehkultur. 57 58
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Benjamin, W., Über das mimetische Vermögen, GS II, 1. Vgl. Benjamin, W., Brief an Gershom Scholem vom 28.2.1933, in: Benjamin, W., Briefe, IV, S. 163. Davon ausgenommen sind die Arbeiten von Heinz Brüggemann, Das andere Fenster und Manfred Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Ersterer betrachtet Wahrnehmung als Beispiel urbanen Sozialverhaltens, letzterem geht es vor allen Dingen um das betrachtende Subjekt im Kontext eines veränderten autobiographischen Diskurses. Auch Sigrid Weigel stellt fest, dass „die spezifische Verbindung von Bild und Raum ihre wichtigste Rolle wohl im Kontext seiner [Benjamins, U.B.] Arbeiten zur Erinnerung spielt, von denen die Textgestalt der Berliner Kindheit um neunzehnhundert am eindeutigsten als Vergegenwärtigung von Bildräumen zu bezeichnen wäre“. Sie führt diesen Gedanken aber nicht weiter aus. Weigel, S., Passagen und Spuren des „Leib- und Bildraumes“, S. 57.
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Der erste Hauptteil meiner Arbeit gliedert sich in die Kapitel Ausblicke, Einblicke, Spektakulärer Blick, Entgrenzter Blick und Rückblick, die auf der Textanalyse exemplarisch ausgewählter Stücke der Berliner Kindheit basieren. In ihrer Anordnung folgen diese Stücke nur bedingt der Chronologie des Textes. Die Überschrift Ausblicke rekurriert auf das teilweise oder vollständige Vorhandensein von Kriterien in den ausgewählten Texten, die der Gestaltung eines perspektivischen Bildraumes genügen. Als Äquivalent zu der seit der Renaissance gültigen Darstellungsart in der Malerei hat August Langen in der Literatur Motive wie etwa Fenster, Lauben, Gartenhäuser, Pavillons nachgewiesen60, die natürlichen Rahmenbildern entsprechen und für die die Camera Obscura optisches Modell und erkenntnistheoretische Metapher war. Auch in der Berliner Kindheit werden räumliche Konstellationen gestaltet, die sich an der Bildanordnung der zentralperspektivischen Konstruktion orientieren. Benjamin benutzt diese Konstruktionsweise aufgrund ihres anschaulichen Gehalts, von den erkenntnistheoretischen Implikationen dieses Darstellungsmodells grenzt er sich dagegen ab. Im Kapitel Loggien soll dies näher ausgeführt werden. Gegenstand des Stückes Siegessäule ist die Insuffizienz einer Wahrnehmung, die sich durch das perspektivische Modell und ihres fest begrenzten Repräsentationsraumes veranschaulichen ließ. Sie erweist sich im 19. Jahrhundert im Bemühen um panoramatische Weite61 und führt letztendlich zur Entgrenzung des Bildraumes. Der Zusammenbruch dieser Ordnung kündigt sich auch in der Ablösung natürlicher Bilder durch technisch produzierte an, wie sie das Kaiserpanorama ausstellte. Das Kapitel Einblicke rekurriert auf die Überlagerung von Räumen, die sich in der Wahrnehmung als Überschneidung von Perspektiven darstellen. Dabei stehen sich die zentralperspektivische Raumkonstruktion, die über Rahmenbilder vermittelt wird, und die Perspektive eines mobilen Beobachters gegenüber. Augenpunkt und Fluchtpunkt entsprechen nicht mehr festen geometrischen Konstruktionen, sondern werden wie im Stück Tiergarten durch einen bewegten Betrachter und den Horizont markiert, der dieser Bewegung folgt. In wahrnehmungsräumlicher Hinsicht konstituiert sich der Blick als visuelles Spannungsmoment „zwischen Subjektzentrismus und Blickflucht ins Unendliche“. Mit dem Dort des Horizonts wird immer auch das Hier des Betrachters verhandelt. Dabei 60 61
Langen, A., Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 44. Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts, S. 68.
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ist der Horizont „Limesfigur alles Sichtbaren“62. Im Stück Winterabend wird der Ausfall einer solchen Horizontwahrnehmung thematisiert. Der perspektivische Raum bildet auch die Basis für Wahrnehmungskonstellationen, in denen äußere mit inneren, psychischen Räumen konfrontiert werden. Die folgenden Kapitel schließen daran an, indem sie die psychologische Komponente der Raumwahrnehmung berücksichtigen, um Rückschlüsse auf die psychische Disposition des kindlichen Betrachters zu ziehen. Hier deutet sich bereits eine Verabschiedung der perspektivischen Wahrnehmung durch die Gestaltung von Krisenerlebnissen (wie der Selbstverdoppelung im Stück Das Telefon) an. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Wahrnehmung der Räume nicht den unmittelbaren Sinneseindruck des Kindes wiedergibt, sondern bereits vermittelt durch den Prozess der Erinnerung erscheint. Neben der Untersuchung einer räumlichen Abbildlichkeit, muss so auch der Prozess einer zeitlichen untersucht werden. Aus den im Text vorgestellten Ereignissen ergibt sich eine weitere Aufspaltung der unter den Überschriften Ausblicke und Einblicke untersuchten Darstellungen in individuelle, illusionistische und geschichtliche, in denen der Raum selbst wieder zur bildlichen Entsprechung von subjektiven, kulturellen und historischen Anschauungsweisen wird. Die Kapitel Spektakulärer Blick und Entgrenzter Blick widmen sich der Strukturumwandlung der Wahrnehmung im urbanen Raum. Im Vordergrund stehen hier weniger Wahrnehmungskonstellationen als der Charakter des Wahrnehmungserlebnisses selbst. Während es in jenem um die Schockwahrnehmung geht, zeigt dieses die Bemühungen des Kindes auf, den Erfahrungsverlust wieder einzuholen, der durch den Schock bedingt ist.63 Das letzte Kapitel resümiert die Auswirkungen der veränderten optischen Erfahrung auf den Betrachter.
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Ebd., S. 49f. Als Tendenz der Berliner Kindheit hat Bernd Witte ausgemacht, dass „das Kind immer mehr dem ähnlich [wird], was es umgibt, der vom Warenverkehr beherrschten Lebenswelt der hochindustrialisierten Gesellschaft“. Dass das Kind gerade nicht in der Anpassung an diese neuen Verhältnisse verharrt, sondern gegenläufige Erfahrungsmodelle zu entwickeln versucht, wurde bisher in der Forschungsliteratur nicht thematisiert. Witte, B., Paris – Berlin – Paris, S. 19.
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2.2. Ausblicke 2.2.1. Individueller Ausblick: Loggien Das Stück Loggien leitet die Fassung der Berliner Kindheit letzter Hand ein. Benjamin deutet die Loggia als „Wiege“, als einen Ort, der einen Blick eröffnet, welcher „die noch zarte Erinnerung an die Kindheit kräftigt“ (BK, S. 386). Die Loggia als Wiege gibt Aufschluss über ihre architektonische Beschaffenheit. Räumlich begrenzt wird sie durch die drei Wände der angrenzenden Zimmer und eine Balustrade. Die Balustrade gibt dem sich Erinnernden (und dem Kind) eine Blickhöhe vor und stellt einen festen Standort dar, von dem aus er in die Höfe sehen kann. Eine Markise reguliert die Lichtverhältnisse. Wenn Benjamin mit dem Stück Loggien ein Porträt von sich selbst gegeben hat64, so korrespondiert dieser Ausdruck mit Benjamins einleitenden Worten, der „Bilder meiner Großstadtkindheit habhaft […] werden“ (BK, S. 385) zu wollen. Bild und Porträt fallen in der Erinnerung als Erinnertes zusammen, wobei die Loggia Wiege, d.h. Ursprung sowohl für das Erinnerte als auch für das Kind war. Mittels eines bestimmten Blickes erstarken Erinnerung und Neugeborenes. Die Erinnerung ist jedoch der Darstellungsvorgang, mit dem etwas geschildert werden soll – die Kindheit –, Form und Inhalt bilden sich mimetisch ab.65 Innerhalb dieses Abbildungsprozesses tritt der Blick als Fixiermittel auf. Er bildet sowohl die Identität des Kindes durch die Wahrnehmung der Umgebung der Höfe heraus, als er in der Wiedergabe dieser Umgebung eine ‚schlafende‘ Erinnerung gestaltet, deren Anwesenheit sich noch auf den Bereich des Unbewussten beschränkt. Der Blick erscheint als Wahrnehmung und Wiedergabe eines Bildes, wobei die Reproduktion nicht den 64
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„Entstanden sind unter dem Titel ‚Loggien‘ einige Seiten, von denen ich nichts als sehr Gutes ankündigen kann und dazu, daß sie das genaueste Porträt enthalten, das mir von mir selbst zu machen gegeben ist.“ Benjamin, W., Brief an Gershom Scholem vom 31.7.1933, in: Benjamin, W., Briefe, IV, S. 267. Hermann Schweppenhäuser nimmt darauf Bezug, wenn er von diesem Stück als „abbreviierter Biographie“ spricht. In ihm sieht er all jene Motive versammelt, die für das Denken Benjamins bestimmend waren. Schweppenhäuser, H., Physiognomie eines Physiognomikers, S. 155. Stüssie, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 131. In ihrem Buch vertritt Anna Stüssie konsequent die These, das Kind als personifizierte Erinnerung zu betrachten.
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Blick in die Höfe wiedergibt, sondern aus den Höfen das Bild des in sie hinabblickenden Kindes aufrufen soll. Diese Wiedergabe ist auf das anwesend Abwesende ausgerichtet, denn vom Kind existiert zum Zeitpunkt der Wiedergabe nur die noch nicht ‚geweckte‘ Erinnerung. Sie verweist auf den Zeitpunkt des Weckens und somit auf eine bestimmte Zukunft. Dem Blick wird die Fähigkeit zugesprochen, den Raum in einen Zeitraum zu verwandeln. Er gleicht einem Zeitraffer, der bei konstanten Raumverhältnissen Vergangenheit und Zukunft im Moment der Betrachtung vereinigt. Durch die Ähnlichkeit von Kind und Erinnerung ist der Blick des sich Erinnernden in nichts von dem des Kindes unterschieden. Der Blick als die Art und Weise, die Umgebung der Höfe wahrzunehmen, ist unverändert und zeitlos. Die bereits gestaltete, aber noch nicht ‚geweckte‘ Erinnerung unterscheidet jedoch das Wahrgenommene des sich Erinnernden von dem des Kindes. Der Blick als Wahrnehmungsmodus verändert sich von einer Sehweise zu einer Sichtweise. Die Rückkehr des erwachsenen Betrachters an die Schauplätze seiner Kindheit wird zum Indiz für die Verinnerlichung einer einstmals erlernten Blickperspektive. In den folgenden Ausführungen wechselt Benjamin die Erzählperspektive. Erzähler ist nicht länger der sich Erinnernde, sondern das Kind. Es erfolgt jedoch kein Hinweis auf ein Erwecken der Erinnerung. Das Bild der noch nicht geweckten Kindheit wird in die vergegenwärtigte Wahrnehmung des Kindes übernommen. Ein weiteres Beschreibungskriterium für den Ort Loggia sind die Karyatiden, „die die Loggia des nächsten Stockwerks trugen“ (BK, S. 386). Damit jedoch entspricht der Ort, den Benjamin schildert, nicht der Definition einer Loggia, wie sie einschlägige Wörterbücher der Architektur liefern. Entscheidendes Merkmal von Loggien ist, dass sie nicht über die Bauflucht hervortreten. Der Hinweis auf die Karyatiden als Trägerelemente lässt darauf schließen, dass es sich um Balkone handelt. Diese sind im Gegensatz zu Loggien dem Gebäude vorgekragt.66 Es wäre jedoch verfehlt, Walter Benjamin, der 1930 eine Rezension zu Werner Hegemanns Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt schrieb67, die Unkenntnis architektonischer Termini vorzuwerfen. Vielmehr gilt es, seine Intentionen aufzuspüren, die diese Begriffsverschiebung motivierten. 66 67
Wasmuths Lexikon der Baukunst, Bd. 1, Balkon, S. 302. Benjamin, W., Ein Jakobiner von Heute, GS III, S. 260ff.
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Der Balkon wird dem abgeschlossenen Wohnraum als Außenelement vorgelagert. Er ist Bestandteil der Fassade des Gebäudes. Als Fassadenelement zergliedert der Balkon – betrachtet man ihn als Standort eines perspektivischen Blicks auf die Höfe – den Außenraum in die Perspektiven möglicher Standorte. Die Wahrnehmung des Außenraums von einer Position innerhalb dieses Raumes lässt die Wahrnehmung des Raumes als Ganzem nicht mehr zu. Die Loggia hingegen wird durch ihre Lage in den Innenraum, d.h. in den Wohnraum integriert, ihre nach außen offene Wandflucht verzahnt Innen- und Außenraum. Folglich erlaubt sie einen Blick in die Höfe von einem Standort, der eindeutig abgegrenzt ist gegenüber dem anderen Wohn-Innenraum. Die „Unbewohnbarkeit“ (BK, S. 387) der Loggien qualifiziert sie zu unbewohnten Innenräumen. Sprachverwandt mit dem Wort Loggia ist das Wort Loge, das im 17. Jahrhundert in das Deutsche rückentlehnt wurde, um einen abgeteilten Raum innerhalb des barocken Theaters zu bezeichnen.68 Die fürstliche Loge war so konstruiert, dass sie im Augenpunkt der zentralperspektivischen Konstruktion lag.69 Nur vom Standort dieser Loge aus war es dem Zuschauer, d.h. dem fürstlichen Souverän, möglich, den Bühnenraum visuell vollständig zu erfassen. Die vollkommene Aussicht auf einen Schauplatz schwingt auch in Benjamins Verwendung des Wortes Loggia mit.70 Unter Berücksichtigung einer Allschau in die Höfe vom Loggienausblick eröffnet die eingangs festgestellte Reziprozität des Blicks im Wiederaufrufen des kindlichen Beobachters eine Kohärenz zwischen Kind und Umgebungsinterieur. Im Prozess seiner Wahrneh68 69 70
Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 580. Oettermann, S., Das Panorama, S. 57. Darüber hinaus entspricht der perspektivische Ausblick von der Loggia dem metaphysischen Konstrukt der Monade: „Der Schein der geschlossnen Faktizität, der an der philologischen Untersuchung haftet und den Forscher in den Bann schlägt, schwindet in dem Grade, in dem der Gegenstand in der historischen Perspektive konstruiert wird. Die Fluchtlinien dieser Konstruktion laufen in unserer eignen historischen Erfahrung zusammen. Damit konstituiert sich der Gegenstand als Monade.“ Benjamin, W., Brief an Theodor W. Adorno vom 9.12.1938, in: Benjamin, W., Briefe, VI, S. 185. Unter Bezug auf dieses Zitat wird in der Forschungsliteratur die Textgestalt der Berliner Kindheit als „monadenförmig“ bezeichnet. Wird damit eine erkenntnistheoretische Konstellation, das spannungsvolle Hingezogensein von Vergangenem zu Gegenwärtigem bezeichnet, mag dies richtig sein. Wird diese Konstellation an einem räumlichen Darstellungsmodell, der Perspektive, veranschaulicht, so ist dies lediglich für das Stück Loggien zutreffend.
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mung wird das Kind selbst wieder über die wahrgenommenen Gegenstände vermittelt. Die Allschau in die Höfe wird zwar über den Vergleich mit dem Augenpunkt einer zentralperspektivischen Konstruktion vorgestellt, diese durch die Reziprozität des Blickes jedoch unterlaufen. Denn die mit der Erfindung der Zentralperspektive verbundene Intention, auf natürliche Weise darzustellen, wie die Dinge wirklich sind71, setzt zwar eine Interdependenz von Subjekt und Objekt voraus, schließt aber einen Rückblick der Dinge aus. Benjamin bestimmt über den Loggienstandort den kindlichen Blick als Medium eines wahrnehmungstheoretischen Standortes, der kultur- und individualgeschichtlich vor dem hierarchischen Auseinanderdifferenzieren von Mensch und Ding in Subjekt und Objekt zu verorten ist. Die Lage der Loge im Innenraum des Theaters impliziert eine weitere Bedeutung. Im Passagen-Werk bezeichnet Benjamin das Theater als fensterloses Haus.72 Ein fensterloses Gebäude ist nicht durch die Abwesenheit von Fenstern gekennzeichnet, sondern durch die Unmöglichkeit eines Ausblicks.73 Ähnlich wie Benjamins Konstruktion der Erinnerung als Blick aus den Höfen eine Umkehrung von Betrachter und Betrachtetem vorausgeht, wird im Wechsel der Perspektive aus der Loggia eine Loge, die Höfe selbst werden als Zwischenräume beschrieben. Die sie umgebenden Mauern lassen keinen ‚Fensterblick‘ auf ihren Standort innerhalb der Stadt zu, d.h., die Stadt kann als Stadt nur in ihren Zwischenräumen beschrieben werden. Diese Zwischenräume entsprechend ihrer wahren Gestalt zur Darstellung zu bringen, ist nur vom Loggienausblick möglich. Versucht man, zu den Koordinaten des Raumes die der Zeit zu bestimmen, so werden diese nur unvollständig durch die Einführung der Begriffe Erinnerung und Kindheit wiedergegeben. Benjamin erweitert die gegenwärtige Wahrnehmung des Kindes, wenn er das Bild einer Berliner Kindheit mit der Antike durchsetzt. Die Karyatiden […] mochten ihren Platz für einen Augenblick verlassen haben, um an dieser Wiege ein Lied zu singen, das wenig von dem enthielt, was mich für später erwartete, dafür jedoch 71 72 73
Vgl. Mitchell, W.J.T., Was ist ein Bild?, S. 48. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 2, S. 1008. Ebd., S. 661: „Übrigens ist auch die Passage ein fensterloses Haus. Die Fenster, die auf sie herabschauen sind wie Logen, aus denen man in sie hineinsehen, nicht aber aus ihr heraussehen kann.“
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den Spruch, durch den die Luft der Höfe mir auf immer berauschend blieb. (BK, S. 386)
Benjamin zitiert die Karyatiden als architektonisches Element und verweist zugleich auf die Baugeschichte der Griechen, die Ausdruck eines mytho-poetischen Denkens war. Bauwerke dieser Zeit zeugen von einem Erinnerungskult, indem das zu Erinnernde durch eine Plastik repräsentiert und innerhalb eines nach oben offenen Raumes ausgestellt wurde.74 In der Berliner Kindheit wird die Stadt zu einem Ort der Erinnerung. Benjamin parallelisiert die Funktion der antiken Architektur mit der Wahrnehmung der modernen Stadt durch das Kind. Archaische Steinfiguren lassen sich auch im Baubestand der modernen Stadt auffinden, sie erscheinen jedoch losgelöst von einer antiken Erinnerungskultur.75 Das Motiv der Karyatiden, seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an vornehmen bürgerlichen Wohnhäusern als antikisierendes Schmuckelement verwendet, wird im Laufe der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts bereits seriell produziert und im Mietwohnungsbau eingesetzt. Seine bildungsmäßige, an der Antike orientierte Bedeutung, die untrennbar mit der Rezeption antiker Kunstwerke verbunden war, um als Ebene des Verweises einen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, erlischt.76 Die Karyatiden werden zum Beispiel für die Emanzipation technisch-industriell gefertigter Gestaltungsformen der Kunst im 19. Jahrhundert.77 In Benjamins Darstellung gelingt dem Kind die Wiederbelebung, es bringt die steinernen Zeugen zum Sprechen. Mit dem virtuellen Akt der Wiederbelebung betont Benjamin die Eigenschaft der kindlichen Wahrnehmung, ‚erwidert‘78 zu werden. Die Erwiderung des kindlichen Blicks 74 75
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Vgl. Riegl, A., Spätrömische Kunstindustrie, S. 38f. Detlef Schöttker interpretiert die enge Verbindung von Erinnerung und Architektur als Ausdruck der antiken Mnemotechnik, die Benjamin in der Berliner Kindheit literarisch umsetze. Dass diese Aussage nur teilweise Gültigkeit besitzt, belegt Benjamins These von der Emanzipation der Gestaltungsformen von der Kunst, die auch für die Architektur zutrifft. Schöttker, D., Erinnern, S. 271. Vgl. Buskart, M., Hänsel, S., Scholz, M., Karyatiden an Berliner Bauten des neunzehnten Jahrhunderts, S. 555. Vgl. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 1, S. 59. „Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird […], da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.“ Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 646.
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stellt den ungetrennten Zusammenhang zwischen dem kindlichen Betrachter und dem Gegenstand seiner Betrachtung als räumliches Verhältnis dar. Indem das Kind die Figuren anspricht, aktualisiert es ihre mythologische Bedeutung. Die Karyatiden waren tanzende Mädchen aus dem Nussbaumdorf Karyai, die der Göttin Artemis dienten. In der Bedeutung, in der Benjamin sie aufruft (ein Wiegenlied zu singen), und ihr antiker Standort in der Karyatidenhalle (die in ihrer architektonischen Beschaffenheit an die ursprüngliche Bedeutung der Loggia als Laube erinnert) am Erechtheion zu Athen erinnert an ihre Funktion als Ammen des göttlichen Beschützers der Stadt Athen.79 Das Erechtheion wurde über dem Grab des Kekrops errichtet. Dort stand auch der erste Ölbaum, der als Zeichen der Macht Athenes ihren Streit mit Poseidon um den attischen Boden entschieden hatte.80 Auch bei Benjamin ist ein Baum Blickfang in der Umgebung der Höfe: „Im Hofe beschäftigte mich die Stelle, wo der Baum stand, am häufigsten“ (BK, S. 386). Die antike Raumordnung wird durch den Standort des Kindes reinszeniert. Der Blick des Kindes kehrt aus den Höfen zurück, um erneut am Interieur der Loggia entlang zu wandern. Er leitet über zur Wahrnehmung der Loggia durch den erwachsenen Betrachter: Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen [den Loggien, U.B.]. Er bleibt sich dort so gegenwärtig, daß nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutz finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf. (BK, S. 388)
Das Kind entzieht sich dem Erinnernden, die Erzählperspektive wechselt vom Kind zum sich erinnernden Erwachsenen. Die Loggia, die der Aufenthaltsraum des Kindes war, wird jetzt zum ‚Beginn des Stadtgottes‘. Kind und Stadtgott treffen und verbünden sich, der sich Erinnernde hat nicht mehr Teil an dem Bündnis, denn „das Kind […] hält sich […] auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf“. Die Loggia ist dem Kind Wiege und Mausoleum. Die Nichtunterscheidung von Kind und umgebender Dingwelt erfährt im Bild des 79 80
Vgl. Kerényi, K., Die Mythologie der Griechen, 1, S. 98ff. Poseidon und Athene stritten miteinander um die attische Erde. Kekrops entschied den Streit zugunsten der Göttin, da sie den ersten Ölbaum aus dem Felsen entsprießen ließ. Vgl. Kerényi, K., Mythologie der Griechen, 2, S. 171.
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Mausoleums ihre letzte Konsequenz. Wenn es Benjamin um die Darstellung der Großstadt in der erinnerten Wahrnehmung des Kindes geht, so vollzieht er im Blick des Kindes eine subjektive Aufladung seiner Umwelt. Mit dem missglückten Versuch einer Rekonstruktion von Kindheit aus dem Umgebungsinterieur der Höfe wird der erwachsene Betrachter an den entsubjektivierten Aufenthaltsort des Mausoleums verwiesen. Der Verlust des Kindes im unzureichenden Erinnerungsvorgang spiegelt so den gegenwärtigen Verlust der Stadt durch den erwachsenen Betrachter wider. Dieser Verlust wird jedoch nicht als Verlust bezeichnet, er bleibt die noch nicht ‚geweckte‘ Erinnerung und bietet die Aussicht auf sein Wiederfinden. Im Mausoleum und seiner doppelten Funktion als Grabmal und Erinnerungsstätte nimmt der Verlust scheinbar paradoxe Züge an. Die konservierende Eigenschaft der Loggia überträgt sich sowohl auf die Zeit als auch auf den Raum. Unter der Voraussetzung, dass es in der Antike keine Kindheit gab81, bildet die Loggia einen Zwischenraum und eine Zwischenzeit, die als Bereich des ‚Nicht-Darstellbaren‘ der noch nicht ‚geweckten‘ Erinnerung die Dinge aufbewahren. Die Zwischenzeit ist der antiken Zeiterfahrung verpflichtet, sie ist zyklische, nichtlineare Zeit. „Die Zeit veraltete in diesen schattenreichen Gelassen, die sich auf die Höfe öffneten“ (BK, S. 387). Die Zeit kommt zum Stillstand, aber auch sie ist als Zeit einem Zeitmaß unterworfen – sie veraltet. Das Bild der Loggia wird zu einer Momentaufnahme82, vergleichbar den Photographien der Jahrhundertwende, deren vergilbte Ränder dem immergleichen Bild ein Alter zuweisen. Die Zeit auf den Loggien hält fest, was als Erfahrung in der Wirklichkeit nicht mehr zu finden ist, weil es bereits ‚aus der Mode ist‘ – Dauer. Diese Zeiterfahrung ist nur als Überblendung83 in der Gegenwart zum Vorschein zu 81
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Philippe Ariès weist in seiner Geschichte der Kindheit überzeugend nach, dass das Kind erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt wurde. Die Thematisierung des Zeitproblems legt eine Interpretation des Loggienbildes als dialektisches Bild nahe: „Bild ist die Dialektik im Stillstand“. Das fehlende „Erwachen“ des Kindes, das sich „auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum aufhält“ (BK, S. 388), unterläuft auf der Ebene der erinnerten Wahrnehmung das Erkenntnispotential des dialektischen Bildes. Die kindliche Wahrnehmung, die sich als dialogische Blickerwiderung inszeniert, schließt die Reflexion des Angeschauten aus. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, V, 1, S. 577. Zum Begriff der Überblendung vgl. Benjamin, W., Brief an Max Horkheimer vom 16.4.1938, in: Benjamin, W., Briefe, VI, S. 65.
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bringen. Zum Emblem84 für die Erinnerung wird das Kind, es wird aber auch zum Emblem des Vergessens. Das Kind selbst emblematisiert die Erfahrung der Stadt Berlin und den Verlust dieser Erfahrung. Am gleichen Ort wie der Stadtgott geboren und mit ihm „im Bunde“ zu sein, erhebt das Kind in den Stand eines antiken Heroen. Wie dieser gleicht es dem Stadtgott-Berlin selbst sich an. „Von dieser Gruppe [Ort, Zeit und Stadtgott, U.B.] eingefaßt“ (BK, S. 388) zu sein, lässt das Kind im Moment seiner größten Ähnlichkeit mit ihr erstarren. Im Mausoleum, d.h. der Loggia, ist es dem sich Erinnernden nur möglich, das Kind als die vergessene Erfahrung der Einheit von Raum und Zeit, in der die Stadt sich offenbart, in der leeren Loggia zu erahnen. 2.2.2. Illusionistischer Ausblick: Kaiserpanorama Einen Verweis auf das Kaiserpanorama liefert Benjamin bereits in dem Stück Loggien durch das Bild der Eisenbahn.85 „Später entdeckte ich vom Bahndamm aus die Höfe neu. Wenn ich an schwülen Sommernachmittagen aus dem Abteil auf sie heruntersah, schien sich der Sommer in sie eingesperrt und von der Landschaft losgesagt zu haben“ (BK, S. 387). Der Blick aus dem Eisenbahnabteil in die Höfe ist ein anderer als der vom Standort der Loggien aus.86 Er ist flüchtig und kinetisch und erfasst nur das räumlich Ferne. Das räumlich Nahe, in dem sich der Betrachter situiert und seinen Standort reflektiert, verschwindet.87 Wollte Benjamin im Stück Loggien noch ein Porträt von sich selbst geben, so kündigt sich mit der neuen Raumwahrnehmung, die die Eisenbahn schafft, der Ausfall einer räumlich definierten Nahsicht und mithin einer Aussicht auf sich selbst an. In seinem Buch Panorama. Ansichten des 19. Jahrhunderts stellt Dolf Sternberger88 die Erfindung des Panoramas und der Eisenbahn nicht nur 84
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Zum barocken Emblem in Abgrenzung zum Symbol vgl. Benjamin, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 390f. Jonathan Crary lehnt eine Verbindung zwischen Kaiserpanorama und Panorama mit dem Argument ab, dass beide unterschiedliche Seherfahrungen propagieren. Dies mag für die Art und Weise der Betrachtung zutreffend sein, nicht aber für ihren Gegenstand: die Ferne. Crary, J., Aufmerksamkeit, S. 112. Heinz Brüggemann sieht in diesem Blick den „Verlust der Geborgenheit“ angekündigt. Brüggemann, H., Das andere Fenster, S. 248. Schivelbusch, W., Geschichte der Eisenbahnreise, S. 61. Benjamins Verriss von Sternbergers Buch richtet sich vor allen Dingen auf die komplette Ausblendung der historischen Dimension der untersuchten
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in einen zeitlichen Zusammenhang, sondern interpretiert sie als Betrachtungsweisen, in denen, abgesehen von der Mobilität des Betrachters, ein vergleichbares Verhältnis zum Gegenstand der Betrachtung herrscht. „Die Eisenbahn“, so Sternberger, „bildet die neu erfahrbare Welt der Länder und Meere selber zum Panorama aus.“89 Das Kaiserpanorama wird wie die Loggien als Ort beschrieben, der einen bestimmten Blick eröffnet. Das Wort Panorama ist eine Neuschöpfung aus dem griechischen ðáí, ‚alles‘, und ñáìá, ‚sehen‘90, es bedeutet wörtlich ‚Allschau‘. Wie der Loggienausblick ist auch das Panorama auf den Augenpunkt der zentralperspektivischen Konstruktion ausgerichtet, mit der Abweichung, dass durch die gebogene Form der Projektionsfläche sich nicht mehr nur ein Betrachter, sondern alle Betrachter im Augenpunkt der Perspektive befinden. Die optische Blickvorgabe des Panoramas verändert sich durch die Erfindung der Photographie und die Entdeckung des stereoskopischen Sehens. Für den speziellen Fall des Kaiserpanoramas, eines Vorführapparates für stereoskopische Bilder, hat Jonathan Crary nachgewiesen, dass die ihm zugrunde liegende Sehtechnik Perspektive nicht mehr zulässt und die Position des Betrachters beliebig wird.91 Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, daß es nicht darauf ankam, wo man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor Kreisform hatte, passierte jedes sämtliche Stationen, von denen aus man durch je ein Fensterpaar in seine schwach getönte Ferne sah. (BK, S. 388)
Benjamin betont die Eigenständigkeit der gezeigten Bilder. In der Wahrnehmung des Kindes besteht der Eindruck des Reisens nicht in der Abfolge unterschiedlicher Stationen, sondern die Versenkung in jede einzelne Station wird für das Kind zur Reise. Die Vollständigkeit des
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Gegenstände und Sternbergers Einfühlung in die Welt des 19. Jahrhunderts, in der sich ein Mangel an Methode offenbare. Dies betrifft sowohl die Deutung als auch die Art und Weise einzelner Beobachtungen, nicht aber ihre Gegenstände. Benjamin, W., Dolf Sternberger, GS III, S. 572-579. Sternberger, D., Panorama, S. 48. Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 677. „Mit einer Sehtechnik, wie das Stereoskop sie erfordert, ist Perspektive nicht mehr möglich. Der Betrachter bezieht sich nicht mehr auf ein Bild wie ein Objekt, das in Bezug auf seine Position im Raum bestimmt ist, sondern er sieht zwei ungleiche Bilder, deren Position die anatomische Struktur des menschlichen Körpers nachahmt.“ Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 133.
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Bühnenraumes, die vom Augenpunkt der zentralperspektivischen Konstruktion aus garantiert wurde, bezieht sich auf die detailgetreue Wiedergabe des Bühnenbildes. Dagegen lässt sich bei den Panoramabildern die Tendenz nachweisen, die Wirklichkeit und ihre an Blick und Erfahrung gebundene Wahrnehmung durch das Bild zu ersetzen. Bei dem von Benjamin beschriebenen Kaiserpanorama handelt es sich jedoch um ein „Photoplasticon“92, bei dem eine Einblicksöffnung Grundmittel der Gestaltung ist.93 Das Kind sitzt vor einer Schauwand und sieht durch je ein Fensterpaar in eine schwach getönte Ferne. Das Kind ist sich der illusionistischen Wirkung des Dargestellten nicht bewusst. Zwischen seinen Blick und das Dargestellte schiebt sich in der Erinnerung nur ein „Fensterpaar“. Mit der Aussparung der Linsen verleugnet die Erinnerung die technische Ursache des illusionistischen Ausblicks. Ein weiteres Kriterium für die Unterscheidung von Panorama und Stereoskop ist der mechanische Weitertransport einzelner Bilder bei letzterem; im Text ist vom ruckweisen Abziehen der Bilder die Rede. Um die Wahrnehmung des Kindes zu beschreiben, greift Benjamin auf eine technische Erfindung zurück, deren Verschwinden mit dem Ende seiner Kindheit zusammenfällt.94 Das Kaiserpanorama selbst thematisiert dieses Verschwinden in der Abfolge seiner Bilder. Die Geschichte des Panoramas, in der das Kaiserpanorama nur eine Variante unzähliger Pano-, Cosmo-, Neo-, Myrio-, Kigo- und Dioramen ist95, beschränkt sich ausschließlich auf das 19. Jahrhundert.96 August Fuhrmann ließ 1889 einen Vorführapparat für wandelnde Stereoskopbilder unter dem Namen „selbsteinkassierendes Wandelpanorama“ paten92 93 94
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Lemke, H., Das Kaiserpanorama, S. 3. Auerbach, A., Panorama und Diorama, S. 4. Einen Hinweis auf diese Entwicklung findet sich in der Beschreibung des Kaiserpanoramas in den Berlin-Baedekern dieser Zeit. So verweist der Autor in der Ausgabe von 1894 auf die Möglichkeit des Erwerbs einer Sammelkarte für acht Vorstellungen zum Preis von einer Mark (demgegenüber kostete der Einzelbesuch 20 Pfennige). Dass sich dieser Verweis nicht mehr in der Ausgabe von 1900 finden lässt, legt nahe, dass das öffentliche Interesse am Kaiserpanorama zu dieser Zeit stark nachgelassen hatte. Vgl. Baedeker, K., Berlin und Umgebungen, S. 36f. (1894), und Baedeker, K., Berlin und Umgebungen, S. 53 (1900). Saphir, M.G., zitiert nach: Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 2, S. 655. Oettermann, S., Das Panorama, S. 9.
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tieren. Fuhrmanns Erfindung war ein Zimmer-Rundbau mit Nussbaumfurnierung, in dem man unter Zuhilfenahme von achromatischen Linsen farbige Glasphotogramme betrachten konnte, die mittels eines automatischen Bildtransports wechselten. Dieses Patent begünstigte die Entstehung einer optischen Reiseliteratur, der auch das Selbstverständnis August Fuhrmanns als Direktor der Zentrale für Kaiser-Panoramen entsprach.97 Anlässlich der ersten Aufführung von Stereobildern aus dem Feldzug 1870/1871 änderte Fuhrmann den Namen in „Kaiserpanorama“.98 Das Kaiserpanorama befand sich im ersten Stockwerk der Kaiserpassage, eines Bauwerkes, das Kaiser Wilhelm I. am 15. März 1873 einweihte.99 Die räumliche Situation des Kindes im Vorführraum des Kaiserpanoramas ist mit seinem Loggienplatz vergleichbar. Die Distanz des vom Standort der Loggia herabblickenden Kindes zum Gegenstand seiner Betrachtung kehrt im Kaiserpanorama in der Einrichtung des Sehschachtes wieder. Dieser Hohlraum, der sich zwischen Einblicksrahmen und Bild befindet, erzeugt den optischen Eindruck eines unbegrenzten Bildes100, das aus der Distanz eines Fensterausblickes wahrgenommen wird. Während jedoch das Kind von der Loggienhöhe aus einem Innenraum heraus in einen Außenraum sieht, kehrt sich die Perspektive im Kaiserpanorama um. Das Kind sieht von einem Raum, der dem Panoramagebäude vorgelagert ist, in das Innere des Guckkastens. Die Illusion besteht darin, dass das Panoramabild als äußere Landschaft wahrgenommen wird und jenes Zimmer, in dem das Kind auf einem Stuhl vor den Linsen Platz genommen hat, als Wohn-, d.h. Innenraum. Dieser Innenraum wird als ‚halbleeres Zimmer‘ (BK, S. 388) bezeichnet, er gleicht in seiner Unbewohnbarkeit den Loggien und kommt wie diese mit dem ‚Innenraum‘ des sich Erinnernden zur Deckung.
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„Meine Lebensaufgabe, die ich mir zum Ziel gesteckt habe, war es, das Sehenswerteste der Erde stereoskopisch aufnehmen zu lassen, in geordneten Reise- und Städte-Zyklen vorzuführen und durch einen möglichst niedrigen Eintrittspreis den Schulkindern und der großen Menge der Bevölkerung […] zugänglich zu machen.“ Fuhrmann, A., Goldenes Buch der Zentrale für Kaiserpanoramen, S. 4. Senf, E., August Fuhrmann, S. 24. Geist, J.F., Passagen, S. 136. Auerbach, A., Panorama und Diorama, S. 4.
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Die Verwandlung der Räume geschieht nach einem photographischen Prinzip, bei dem die realen Gegenstände als Negative (negativ in ihrer Umkehrung von Hell-Dunkel-Werten, die im Text als Unterscheidungskriterien für Innen- und Außenräume auftreten) auf einer Glasplatte101 abgebildet werden. Die Funktion der Glasplatte übernimmt das jeweilige „Fensterpaar“. Darin manifestiert sich der entscheidende Unterschied zu dem Stück Loggien: Zwischen Ausblick und Kind schiebt sich eine Fensterfront. Der Ausblick ist ein illusionistischer, der jedoch nicht nur auf der Glasplatte als negativer belichtet wird, sondern sowohl in der Beliebigkeit der Reihenfolge, die das Kind beim Betrachten konstatiert102, als auch im ruckweisen Weiterziehen der Bilderfolge eine Brechung103 erfährt. „Das war ein Klingeln, welches wenige Sekunden, ehe das Bild ruckweise abzog, um erst eine Lücke und dann das nächste freizugeben, anschlug.“ (BK, S. 388) Anders als die wirkliche Umgebung der Höfe entzieht sich das Bild im Kaiserpanorama seinem Betrachter. Es hält seinem Blick nicht stand, es flieht gleichsam von einem Betrachter zum nächsten, es gibt keinen Standort im Raum, von dem aus das Bild individuell erfahrbar wäre. Das Kind, das den Blick in die Höfe verinnerlicht hat, nimmt es als Abschied wahr. Auf der zeitlichen Ebene wird das Moment von Dauer, das im Bild der Loggia aufbewahrt ist, im Kaiserpanorama durch die Permanenz der Wiederholung abgelöst, die das Kind in dem Wunsch ausdrückt „am nächsten Tage noch einmal vorbeizukommen“ (BK, S. 388). Wenn im ersten Stück Loggien Erinnerung und Kindheit in einem mimetischen Abbildungsverhältnis standen, in dem der Blick als Fixiermittel auftrat, so ist das Kind im Stereoskopbild nur im Moment seines Abschiednehmens anwesend. Abschied setzt etwas Ver101
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Grundprinzip der Daguerreotypie war das Glasplattennegativ. Vgl. Bossert, H.Th., Guttmann, H., Aus der Frühzeit der Photographie 1840-1870. Bei einer Rücksprache mit dem Inhaber des Fuhrmannschen Nachlasses, Herrn Eberhard Senf, konnte ich mich davon überzeugen, dass den Bildzyklen eine Dramaturgie zugrunde lag und es durchaus nicht gleichgültig im Sinne dieser Dramaturgie war, „wo man die Runde begann“. Benjamin war seit 1934 häufiger Gast bei Brecht in Svendborg. Seine Theorie des epischen Theaters, besonders aber die Funktion der Unterbrechung, könnte den theoretischen Hintergrund der Beschreibung des lückenhaften Weiterziehens der Bilder geprägt haben. Brechts Theorie zufolge würde die Versenkung des Kindes in das Bild unterbrochen, um eine kritische Reflektion dieser Versenkung als „falscher Wahrnehmung“ zu ermöglichen. Da es dem Kind an einem solchen Reflexionsvermögen mangelt, nimmt es das Weiterziehen der Bilder lediglich als Abschied war.
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trautes voraus, dem Blick des Kindes gelingt es im Vorüberziehen der Bilderfolge jedoch nicht, das dargestellte Geschehen zu fixieren. Im Gegensatz zur Wiederbelebung der Karyatiden im Loggien-Kapitel als Erwiderung des kindlichen Blicks verweigert der Automat dem Kind die Rückgabe seines Blickes.104 Der Abschiedsschmerz, den das Kind beim Ansehen der Bilder empfindet, gilt ihm selbst, denn nur sich selbst vermag es als Erinnerung in den Bildern aufzuspüren. „Es kam vor, dass die Sehnsucht, die sie erweckten, nicht in das Unbekannte, sondern nach Hause rief.“ (BK, S. 388f.) Unbekanntes und Bekanntes wird wie im Stück Loggien zur Unterscheidung zwischen der noch nicht ‚geweckten‘ Erinnerung und dem Kind. Da die zeitliche Dimension nicht wechselt, ist es an dieser Stelle das Kind und nicht der Erwachsene, das vergisst. Im Gegensatz jedoch zum Loggienkapitel schiebt sich zwischen Kind und es umgebende Dingwelt eine Apparatur, die, durch die Aufspaltung beider in zwei getrennte Lebensbereiche, den Vorgang des Vergessens beschleunigt. Der Versuch der Rekonstruktion eines szenischen Zusammenhanges zwischen stereoskopischem Bildraum und kindlichem Lebensraum muss daran scheitern. 2.2.3. Geschichtlicher Ausblick: Die Siegessäule Wie Loggia und Kaiserpanorama ist auch die Siegessäule ein Ort, von dem aus sich eine bestimmte Aussicht bietet. Sie eröffnet jedoch einen grundsätzlich anderen Blick auf Stadt und Gegenstände. Ihre Lage in relativer Stadtmitte auf dem Königsplatz105, einem ehemaligen Exerzierplatz, und ihre unmittelbare Nähe zum Reichstagsgebäude haben nicht nur als Hinweise auf ihre Bedeutung für die offizielle Geschichtsschreibung zu gelten. Die Siegessäule wurde zum Angedenken an die Kriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866), Frankreich (1870/71) und die Proklamierung des deutschen Kaisertums errichtet. Als Aussichtsplattform und Denkmal gibt sie sowohl einen topographischen Ausblick auf den brandenburgischen Raum als auch einen historischen Ausblick 104
105
„Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche mußte empfunden werden, war das […] Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben.“ Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 646. Die Siegessäule wurde erst 1938 im Zuge der Schaffung einer neuen NordSüd-Achse auf den Großen Stern versetzt.
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auf den Geschichtsraum vor. Stephan Oettermann führt den Bau unzähliger Aussichtstürme im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auf eine Sehsucht als modernes bürgerliches Welt- und Naturverhältnis zurück, das infolge der Entdeckung des Horizonts und seiner Schaustellung in den Panoramabauten entstand.106 Oettermanns These lässt sich auch an der Siegessäule exemplifizieren. Im Zuge der panoramatischen Schaustellungen, die bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzten, hatte es der Betrachter gelernt, die minutiösen Wiedergaben eines historischen Augenblickes im Rahmen eines zeitgeschichtlichen Kontinuums zu ergänzen.107 Diese Ergänzungen wurden durch die bildliche Vorgabe und die Art und Weise der Präsentation des Wirklichkeitsausschnittes normiert. Panorama und Aussichtsturm arbeiten nach den gleichen Techniken des Betrachters. Suggeriert das Kaiserpanorama Universalität und Vollständigkeit der gezeigten Bilderfolgen, so liegt dieser Bildeindruck auch dem „Überblick vom Denkmal auf das Landschafts- und Geschichtspanorama und (in) der Anschauung des Denkmals, das inmitten eines Landschaftspanoramas selbst historisches Panorama ist“108 zugrunde. Wenn jeder freie Ausblick durch einen Horizont begrenzt wird, dann bringt es die Überlagerung von geschichtlichem und sichtbarem Horizont vom Ausblick der Siegessäule mit sich, dass diese Begrenzung vom Standort der Siegessäule durch den zeitgenössischen Hintergrund der gewonnenen Kriege aufgehoben wird; die Begrenzung im Norden durch den Sieg über die Dänen, die Begrenzung im Süden durch den Sieg über Österreich, die Begrenzung im Westen durch den Sieg über Frankreich, den Ausblick in die östliche Himmelsrichtung überlagert der Einzug der „siegreichen deutschen Truppen durch das Brandenburger Tor“109. Als geschichtliche Darstellungen wurden die kriegerischen Expansionen des Horizonts in vier Reliefs am Granitsockel der Säule abgebildet. 106 107
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Oettermann, S., Das Panorama, S. 8 ff. „Panorama als ‚Schnitt in die Zeit‘ und in den historischen Vorgang und die Kunst hatte darin bestanden, dieses Stückwerk so zu wählen, daß der Betrachter fähig war, es nach jeder Richtung zu ergänzen. Denn darauf war das Panorama angewiesen.“ Benjamin weist als eigentliche Intention dieser „Ergänzungspolitik“ die Angst des Bürgertums vor dem „Bild seiner Zukunft“ nach, dem es deshalb um ein Stillstellen der Geschichte gegangen sei. Sternberger, D., Panorama, S. 63, und Benjamin, W., Dolf Sternberger, GS III, S. 577. Hess, G., Panorama und Denkmal, S. 132. Zur genaueren Beschreibung der Reliefs vgl. u.a. Baedeker, K., Berlin und Umgebung, S. 153 (1894).
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Der Wandel des Denkmals im 19. Jahrhundert hin zur „Proklamation des geschichtlichen Sinnes und des Traditionsbewußtseins, Inhalt eines Bewußtseins von Kultur überhaupt, das kaum noch wesentliche Unterschiede oder gar Gegensätze der geschichtlichen Bedeutungen zuließ“110, wird von der doppelten Funktion der Siegessäule – Denkmal und Aussichtsplattform zu sein – in den Zusammenhang einer Rationalisierung der Sinneswahrnehmungen gebracht, die sich in der genormten Seherfahrung empirisch niederschlägt. Im Gegensatz zu Loggia und Kaiserpanorama wird die Siegessäule im Text jedoch nicht als Aussichtsplattform eingeführt, sondern als Blickpunkt. Obwohl sich Siegessäule und Kind im gleichen Tiergarten-Raum befinden, lehnt Benjamin in seiner Gestaltung einen perspektivischen Zusammenhang des Bildraumes von Siegessäule und kindlichem Betrachter ab. „Sie stand auf dem weiten Platz wie das rote Datum auf dem Abreißkalender. Mit dem letzten Sedantag hätte man sie abreißen sollen“ (BK, S. 389). Der Vergleich mit dem Datum eines Abreißkalenders bringt es mit sich, dass aus dem Gegenstand ein zweidimensionales Bild111 wird, das keine räumliche Tiefendimension besitzt. Der Ausblick entfällt. Auch in einem zeitlichen Raum verweist Benjamin das Bild auf den Augenblick, dem durch den Ausfall der zeitlichen Sukzession eine Zukunft verwehrt ist. Die rote Markierung eines Kalenderdatums ist Feiertagen und Sonntagen vorbehalten, die Einführung eines ausgezeichneten Tages – dem Sonntag als dem Ruhe- und Feiertag der Woche – geht auf die jüdische Religion und die Sabbathandlung zurück. Benjamin vollzieht die Projektion eines historischen Ereignisses auf die Kalendermarkierung eines schöpfungsgeschichtlichen nach. Dabei wird offensichtlich, dass das „rote Datum“ das geschichtliche Ereignis auf eine Zahl112 reduziert, die im Gegensatz zu einer bedeutenden Sprache der biblischen Schöpfungsgeschichte abstraktes Zeichen bleibt und als solches auf die Vereinbarung einer Bedeutungszuschreibung angewiesen ist. Eine solche Zahl als Zeit zu erfahren, gleicht der unausführbaren Aufgabe des Sisy110 111
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Sternberger, D., Panorama, S. 143. Darin ähnelt es dem stereoskopischen Bild. Benjamins Siegessäulenmetaphorik schließt eng an die Darstellungsweise der durch das Stereoskop präsentierten Bilder an: „Tatsächlich ist das stereoskopische Bild flächig strukturiert.“ Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 129. Der ‚Sedantag‘ soll an den 2.9.1870 erinnern. Anna Stüssi gibt fälschlicherweise das Datum des 1.9.1870 an. Stüssi, A. Erinnerung an die Zukunft, S. 94.
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phos113; der sukzessive Zwang, dem seine Tätigkeit im Mythos unterliegt, wiederholt sich im Abreißen der Kalenderblätter. Der Vorgang des Abreißens überführt das Bild wieder in den Raum, die Zeit wieder in den Zeitraum der Geschichte. Mit der Siegessäule wird ein chronologisches Zeitmaß eingeführt: Die jährliche gleiche Wiederkehr des Sedantages, der Prozess der Erinnerung als zeitlicher Erfahrung wird zur leeren Formel ihrer Reproduktion. Wenn die Siegessäule, indem sie eine den Horizont überformende Blickposition vorgibt, als Indiz einer veränderten Sehtechnik gelten kann, so ist davon auch der Kalender als zeitstrukturierendes Prinzip betroffen: er wird zum leeren Rahmen. Hatte das Kind im Kaiserpanorama noch den Versuch unternommen, die Unterschiede zwischen einer illusionistischen Bildwelt und seinem eigenen Erfahrungsbereich auszugleichen, so schildert Benjamin nun seine Distanzierung vom Gegenstand der Siegessäule. Der Erfahrungsraum des Kindes polarisiert sich antagonistisch zum ausgesparten Zeitraum der Siegessäule; in der synonymen Verwendung von Erfahrung und Geschichte deutet Benjamin einen anderen Geschichtsbegriff an.114 Nach der Sedanschlacht waren nur Paraden übriggeblieben. Als darum neunzehnhundertzwei Ohm Krüger nach dem verlorenen Burenkrieg die Tauentzienstraße entlang gefahren kam, stand ich mit meiner Gouvernante in der Reihe, um einen Herrn zu bestaunen, der im Zylinder in den Polstern lehnte und ‚einen Krieg geführt hatte‘ […]. Mir schien das großartig aber nicht einwandfrei; wie wenn der Mann ein Nashorn oder Dromedar ‚geführt‘ und damit seinen Ruhm erworben hätte. (BK, S. 389)
Aufnahmen von Ohm Krüger aus dem Burenkrieg und Südafrika gehörten seit 1899 zum stereoskopischen Bildrepertoire des Kaiserpanora113
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Ausgehend von Benjamins Arbeiten zu Baudelaire und Kafka und der darin von Benjamin postulierten engen Verschränkung von Mythos und Moderne weist Rolf-Peter Janz in seiner Arbeit Mythos und Moderne bei Walter Benjamin u.a. auch auf die Bedeutung des Sisyphos-Mythos‘ für die moderne Zeiterfahrung hin. Vgl. Janz, R.P., Mythos und Moderne bei Walter Benjamin, S. 368. „Die Anerkennung einer Qualität mit der Messung der Quantität vereint zu haben, war das Werk der Kalender, die mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenken gleichsam aussparen. Der Mann, dem die Erfahrung abhanden kommt, fühlt sich aus dem Kalender herausgesetzt.“ Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 643.
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mas.115 Seine leibliche Anwesenheit in Berlin bedingte die Bitte um militärische Hilfe gegen die Engländer. Der Abbruch seiner Regierungszeit wird gleichzeitig zum Ausbruch aus dem bildlichen Zusammenhang, den die stereoskopischen Aufnahmen reproduzieren. Bild und Wirklichkeit treten auseinander und führen zur Verwirrung des Kindes, die Benjamin an seinem Umgang mit dem Prädikatsverband ‚Krieg führen‘ veranschaulicht. Die kindliche Konnotation im Sinne eines ‚Nashorn oder Dromedar führen‘ assoziiert das handelnde Subjekt in den Kontext seiner exotischen Herkunft; dieser Kontext wird über seine Sichtbarkeit aufgerufen. Die kindliche Anschauung kennt nur den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren. Sein Empfinden von etwas ‚Großartigem‘ aber nicht ‚Einwandfreiem‘ markiert die Lücke gegenüber einer Welt der Erwachsenen, in der Empfindung und Anschaulichkeit in keinem unmittelbaren Verhältnis zueinander stehen. Der Auftritt Ohm Krügers und das Abhalten militärischer Paraden setzen bildlich in Szene, was durch die Siegessäule in einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang transformiert wurde: ein visuelles Spektakel, bei dem die Bilderfluten sich so überlagern, dass ihr eigentlicher Inhalt – der des Krieges – für den Betrachter nicht mehr rekonstruierbar ist. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung bezeichnet Benjamin den kindlichen Betrachter als ‚Quartaner‘. Die offizielle Bezeichnung für den Schüler einer bestimmten Klassenstufe appelliert an die schulisch vermittelten Geschichtskenntnisse. Damit verbunden ist ein Wahrnehmungs- und Darstellungswechsel: Während das Kind an der Hand der Gouvernante einem konkreten zeitlichen Ereignis ausgesetzt ist, wendet sich der jugendliche Spaziergänger allein den zweiunddreißig Denkmälern der brandenburgisch-preußischen Fürsten zu116, die entlang der Siegesallee aufge115
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Vgl. Bildarchiv Kaiser-Panorama-Berlin unter dem Stichwort ‚Komplette Bilderzyklen‘, unveröffentlichtes Manuskript von Herrn Eberhard Senf. Anna Stüssi unterläuft in ihrer Darstellung der Irrtum, den Bischof in der Darstellung der Kriegsszenen an der Siegessäule zu vermuten. Sie verortet ihn innerhalb der Polarisation in Himmel und Hölle gleichsam als Erlösung stiftendes Element in der Hölle. Auf einen christlich-aufopfernden Kontext bezieht sie auch Benjamins Erwähnung der hl. Katharina und der hl. Barbara (Stüssi, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 95). Da der Bischof als Vasall einem Herrscherdenkmal beigegeben ist, lässt sich diese These nicht länger halten. Die Erwähnung der beiden heiligen Frauen ist eher als ein Verweis auf die Ausdrucksqualität ihrer Sinnbilder (die ihren Todesarten entsprechen) zu deuten.
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stellt waren.117 Sie wurden in den Jahren 1898 bis 1901 aufgrund eines Erlasses Wilhelm II. errichtet, zum „Zeichen seiner Anerkennung dafür, daß Berlin an dem mächtigen Aufblühen des deutschen Reiches in opferbereiter Arbeit so reichen Anteil genommen“118 hat. Hinter den Denkmälern war eine halbkreisförmige Marmorbank aufgestellt, die zwei zeitgenössische Hermen schmückten. Ich liebte unter allen am meisten den Bischof mit dem Dom119 in seiner behandschuhten rechten Hand. Mit dem Ankersteinbaukasten konnte ich schon einen größeren errichten. Seitdem bin ich auf keine heilige Katharina gestoßen, ohne nach ihrem Rad, auf keine heilige Barbara, ohne nach ihrem Turm mich umzusehen. (BK, S. 389f.)
Der kindliche Betrachter rezipiert die Denkmäler nicht über ihre vorgegebene geschichtliche Bedeutung, sondern über die ihnen zugesellten Sinnbilder. Indem ihre Anschaulichkeit in der Möglichkeit ihrer Nachbildung verbleibt, die dem Prinzip des Aneinanderfügens von Bausteinen gehorcht, werden sie ‚spielerische Bildertechniken‘120. Sie vermitteln ein Geschichtsbild von aneinandergereihten Daten und Ereignissen, wobei Daten und Ereignisse im Bild begrenzt und der Herrschaft eines ordnenden Subjekts unterstellt werden. In der Gegenüberstellung von kindlicher Wahrnehmung und vermitteltem Geschichtsbild zeigt Benjamin auch den Prozess des Auseinandertretens von Wahrnehmung und Anschauung auf. Hatte Benjamin 1928 in seinem Aufsatz Kulturgeschichte des Spielzeugs bemerkt, dass der Komplex der Nachahmung im Spiel, nicht im Spielzeug zu Hause sei121, 117 118 119
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Vgl. Baedeker, K., Berlin und Umgebungen, S. 154f. (1904). Müller-Bohn, H., Die Denkmäler Berlins in Wort und Bild, S. 47. Da die Figurengruppe nach 1945 vergraben wurde, ist man bei ihrer Rekonstruktion auf nicht ganz eindeutiges photographisches Material angewiesen. Benjamin scheint einem Irrtum zu unterliegen, wenn er von einem Bischof mit Dom in der Hand spricht. Die einzige Figur, die ein turmartiges Gebäude in der Hand hält, ist Johann Gans Edler zu Putlitz. Er galt als Stifter des Klosters Marienfließ (Zisterzienserinnenkloster) – 1230 – und trägt das Modell dieses Gebäudes in der rechten Hand. Müller-Bohn, H., Die Denkmäler Berlins in Wort und Bild, S. 76. Benjamin grenzt im Trauerspielbuch eine Ebene der bloßen Bezeichnungen – Bildertechniken – gegen die allegorische Darstellungsweise ab. Benjamin, W., Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 337ff. Benjamin, W., Kulturgeschichte des Spielzeugs, GS III, S. 117.
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so findet sich im Ankersteinbaukasten die Nachahmung bereits vorgeprägt. Das taktische Vermögen des Kindes, das im Gegensatz zu einer nur auf das optische begrenzten Wahrnehmung vom Aussichtsturm der Siegessäule steht, wird eingeschränkt durch seine Präfiguration. Benjamin überträgt den „Gegensatz von Perspektive und sachlicher, taktischer Nähe“122 in die unmittelbare Erfahrungswelt des Kindes. Sobald sich der kindliche Betrachter vom offiziellen Erinnerungskult der Siegesallee abwendet und eintaucht in seine individuelle Erfahrungswelt, löst er spielerisch ein, was er vorher institutionell abgebildet hat: An manchen Tagen standen Leute droben. Vorm Himmel schienen sie mir schwarz umrandet wie die Figurinen der Klebebilderbogen. Nahm ich nicht Schere und Leimtopf zur Hand, um, wenn ich mit dem Bauen fertig war, ähnliche Püppchen auf Portale, Nischen und Fensterbrüstungen zu verteilen? Geschöpfe solcher seligen Willkür waren droben im Licht die Leute. Ewiger Sonntag war um sie. Oder war es ein ewiger Sedantag? (BK, S. 390)
Das taktische Vermögen des Kindes ist Ausdruck seiner subjektiven Beziehung zum wahrgenommenen Raum. Auch darin bildet es einen Gegenpol zur Siegessäule, dessen „objektiver Denkmalwert“ sich zugunsten eines „Gebrauchswertes“ – eine Aussichtsplattform zu sein – verkleinert hatte.123 Dauer124 entsprach der kindlichen Zeiterfahrung bereits am Ort der Loggia, einem Ort, an dem Kind und Umgebungsinterieur der Höfe der gleiche Charakter zugesprochen wurde. Hier jedoch ist der Blick der einseitige Blick des kindlichen Betrachters, er muss eine subjektive Aufladung der Dinge erst rekonstruieren, indem er diese in einen anderen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang überführt. Benjamin hat die122 123
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Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 2, S. 1016. Das zumindest konstatierte Alois Riegl in seiner Einleitung zum österreichischen Denkmalschutzgesetz. Riegl, A., Entwurf einer gesetzlichen Organisation der Denkmalpflege in Österreich, S. 81ff. Zur Benjaminschen Riegl-Rezeption vgl. Kemp, W., Fernbilder, S. 237. Gaston Bachelard hat die These aufgestellt, dass die Zeit nicht im Gedächtnis lebt. Daraus leitet Bachelard ab, dass Dauer nur auf der Linie einer abstrakten, jeder Stofflichkeit beraubten Zeit und nur mit Hilfe des Raumes zu denken ist (vgl. Bachelard, G., Poetik des Raumes, S. 35). Bachelards These entspricht den Ausführungen Benjamins insofern, als Benjamin Dauer in den Prozess einer erneuten Rahmung einbindet, die den absoluten Bildraum begrenzt.
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sen Vorgang unter den Begriff der „Erneuerung des Daseins“125 gefasst. Wie im Stück Loggien ist auch dieser Vorgang eine Rahmenschau. Der Klebebilderbogen wird dabei zum Negativ, das einen ‚positiven‘ Ausblick auf die Bevölkerung des nachgebauten Turms eröffnet. Die kindliche Lebenswelt bildet den räumlichen Kontext dieser individuellen Aneignung, die Zeit orientiert sich am kindlichen Erinnerungsvermögen. Den Zusammenhang von kindlicher und Gegenstandswelt erfährt das Kind mithilfe seines mimetischen Vermögens, das auch im Spiel zum Ausdruck kommt.126 Auf den Prozess der Erinnerung übertragen, bedeutet Dauer die Wiederherstellung dieses Zusammenhanges. Die Erinnerung wird zum Gradmesser abweichender Lebenswelten, Nachahmung bezeichnet im Verhältnis dazu einen adäquaten Vorgang der Einfühlung, unter der vorausgesetzten und unüberwindbaren Trennung der Referenzpartner in Subjekt und Objekt. Mit der Paronomasie von Sedantag und Sonntag versucht Benjamin, diese Trennung zu verwischen. In der Überlagerung zweier Räume, in der eine Unterscheidung in innerer und äußerer Raum keine Relevanz mehr besitzt, liegt jedoch auch der Hinweis auf eine Aufspaltung des räumlichen und zeitlichen Kontinuums der frühkindlichen Erfahrungswelt. Der Versuch, den Erinnerungsraum der Berliner Kindheit als Wahrnehmungsraum aus dem Text zu rekonstruieren, stellt mit dem Stück Loggien der Berliner Kindheit das Muster eines kindlichen Blickes voran. Diesem Blick ist es wesentlich, die Dinge nicht nur vollständig in Bezug auf ihre räumliche Position wahrzunehmen, sondern auf eine Art und Weise zu erfahren, die noch nicht zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet. In dem Stück Kaiserpanorama wird der kindliche Modus des Betrachtens mit dem Stereoskop konfrontiert, das eine andere Form der Bilderzeugung 125
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„Die Kinder nämlich verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern ist das Sammeln nur ein Verfahren, ein anderes ist das Bemalen der Gegenstände, wieder eines das Ausschneiden.“ Benjamin, W., Ich packe meine Bibliothek aus, GS IV, 1, S. 388f. „Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehen, die er [der Mensch, U.B.] besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten […] Dieses Vermögen hat aber eine Geschichte, und zwar im phylogenetischen so gut wie im ontogenetischen Sinne. Was letzteren angeht, ist das Spiel in vielem seine Schule.“ Benjamin, W., Über das mimetische Vermögen, GS II, 1, S. 210.
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vorstellt. Das binokulare Doppelsehen, dessen technisches Konstruktionsprinzip die Physiologie der Augen nachahmte, verdrängte ein Sehen, das den Gegenstand vollständig erfasste und zugleich dialogisch mit diesem interagierte. In dem Stück Die Siegessäule offenbart sich der panoramatische Blick, der eine den Horizont auflösende Blickperspektive darstellt. Die Auflösung des Horizontes ist nicht nur als Indiz einer veränderten visuellen Wahrnehmung zu sehen, sondern leitet über zu einem Geschichtsverständnis, das in der Institutionalisierung von geschichtlicher und gegenwärtiger Wahrnehmung sowohl im Kaiserpanorama als auch in der Siegessäule einen öffentlichen Sehraum definiert, der nicht mehr an den unmittelbar sinnlichen Eindruck eines Betrachters gebunden ist. Das Kind entzieht sich den vorgestellten Blickperspektiven oder versucht sie zu korrigieren. Die subjektive Perspektive des betrachtenden Kindes, die sich in seiner Abwendung von offiziellen Techniken des Betrachtens andeutet und die abweicht vom kindlichen Blick, der im Kapitel Loggien vorgestellt wurde, steht dabei am Anfang einer potentiellen Kette von imaginierten Räumen.
2.3. Einblicke 2.3.1. Geschichtlicher Einblick: Tiergarten Hatte Benjamin mit seinem ersten Stück Loggien den Erinnerungsraum als Wahrnehmungsraum der Stadt beschrieben, so erweitert er diesen Raum mit der Landschaft des Tiergartens. Im topographischen Maß der Stadt bildet der Tiergarten ihr Zentrum. Im individualgeschichtlichen Maß der Erinnerung führt Benjamin eine mit dem Tiergarten assoziierte Erscheinung als ‚Ur‘erlebnis ein, das selbst jene Erfahrungen überdauert hat, die ihre Spuren in der Erinnerung hinterlassen haben. Die Fähigkeit, sich zu verirren, um diese nämlich handelt es sich, wird einer Spurensuche gegenübergestellt, von der sie sich durch die ihr innewohnende Negation von intentionalem Aufbruch – das Auffinden einer Spur, in dem durch den Abdruck präfigurierten Bewusstsein – und die ihr innewohnende Negation der Darstellbarkeit eines Weges – die lineare Verbindung von Spuren zu einem Schriftzug als Bedeutungsträger – unterscheidet. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung […]. Diese Kunst habe ich spät
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Wenn Benjamin dem Verirren einen Ort zuweist, dann beschreibt er das Verirren nicht nur als menschliche Fähigkeit, sondern auch als eine dingliche Eigenschaft, die im Kontext des Urerlebnisses das Bild des Labyrinthes auf den Ausdruckscharakter der Dinge ausdehnt. Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass Benjamin von der Stadt als Labyrinth für den Erwachsenen spricht und von einem Labyrinth, das der kindliche Betrachter inmitten des Tiergartens erlebt. Man muss jedoch berücksichtigen, dass um die Jahrhundertwende keines der von dem Landschaftsgärtner Knobelsdorff angelegten Labyrinthe127 im Tiergarten mehr existierte.128 Die Bildqualität des Labyrinths wird durch den Verweis auf seinen zeitlichen und räumlichen Vorgänger in der Tiergartenanlage Knobelsdorffs nahegelegt, die das Kind in eine andere Zeit und eine andere Landschaft, dem Prinzip der Ähnlichkeit folgend („wie gebannt von magischen Kurven, die ein Wasserlauf […] in den Sand schrieb“, BK, S. 392), imaginiert. Das Nicht-Erweckte der Kindheit wird im Stück Tiergarten mit dem Bild eines Ortes und dem Zustand einer Dingwelt parallelisiert, die das Nicht-Erweckte zu einem Nicht-Darstellbaren modifizieren. Im Umgang mit dem Mythologem Labyrinth deutet sich an, was bereits in Bezug auf die Karyatiden als moderne Bauelemente festgestellt werden konnte: Die Mythologeme129 sind als Elemente der Moderne in der Gegenwart nachweisbar130, in ihrer gegenwärtigen Ver127
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Hermann Kern hat auf eine seit der Antike bestehende begriffliche Überlagerung von Labyrinth und Irrgarten hingewiesen, deren unterschiedliche Formund Bedeutungsgehalte erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts voneinander abgegrenzt wurden. Vgl. Kern, H., Labyrinthe, S. 13f. „In den Jahren um die Jahrhundertwende änderte sich nicht viel im Tiergarten, außer daß die alten Anlagen allmählich verfielen, so soll von den Labyrinthen Knobelsdorffs schon 1792 nichts mehr vorhanden gewesen sein, nur im Sternbusch sollen noch einige Heckengänge gestanden haben.“ Wendland, F., Der große Tiergarten in Berlin, S. 79. Zum Mythos-Begriff Benjamins und die Auflösung des Mythos in „flüchtige Mythologeme“ vgl. Menninghaus, W., Schwellenkunde, S. 111. Vgl. Adorno, T.W., Brief an Siegfried Kracauer vom 21.11.1932: „Benjamin war hier. Er hat mir viel aus dem neuen Buch Berliner Kindheit um 1900 vorgelesen. Ich finde es wunderbar und ganz neu; auch gegen die Einbahnstraße einen grossen Fortschritt insofern, als die archaische Mythologie darin
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wendung sind sie jedoch aus dem mythischen Raum einer antiken Vorzeit herausgelöst. Sie erfahren eine erneute Mythologisierung in dem Versuch, einen Zusammenhang zwischen den vergessenen Erfahrungen des Kindes und der es umgebenden, entsubjektivierten Dingwelt zu konstruieren. Während im Stück Loggien diese Kohärenz durch die antike Zeiterfahrung hergestellt wurde, wird sie im Stück Tiergarten durch die antike Raumerfahrung erzeugt, die das Labyrinth veranschaulicht. Auf die Variablen „Straße“ und „Weg“, die den antiken Raum erfahrbar machen, verweist Benjamin in den Notizen zum Passagen-Werk: ‚Straße‘ um verstanden zu werden, muß gegen den älteren ‚Weg‘ profiliert werden. Beide sind ihrer mythologischen Natur nach durchaus verschieden. Der Weg führt die Schrecken des Irrgangs mit sich […]. In den unberechenbaren Wendungen und Entscheidungen der Wege ist noch heute jedem einsamen Wanderer die Macht alter Weissagungen über wandernde Horden spürbar. Wer aber eine Straße geht, braucht scheinbar keine weisende, keine leitende Hand.131
Auch in der Berliner Kindheit unterscheidet Benjamin zwischen Straße und Weg. „Der Weg in dieses Labyrinth“ (BK, S. 393) führt das Kind in das Tiergartenlabyrinth; sich dagegen in den ‚Straßen der Stadt zu verirren‘, muss der Erwachsene erst lernen. Im Bild des Labyrinthes konstruiert Benjamin ein räumliches Nebeneinander und eine zeitliche Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem. Anders als der perspektivische Raum, der als verbildlichter Zeitraum Vergangenes und Gegenwärtiges in die räumlichen Wertigkeiten eines „hier“ und „dort“, „vorn“ und „hinten“ überträgt, stellt das Labyrinth als mythologischer Ort einen kohärenten Lebensraum dar, in dem die Dinge noch nicht im Sinne einer solchen Ordnung voneinander geschieden sind.132
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wirklich liquidiert ist und Mythisches nur im Allerzeitlichsten – ‚Modernen‘ jeweils – aufgesucht wird.“ Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 2, S. 647. „Denn, so verschiedenartig die Raumtheorien der Antike auch gewesen sind, keine von ihnen ist dazu gelangt, den Raum als ein System von bloßen Relationen zwischen Höhe, Breite und Tiefe zu definieren, so dass […] der Unterschied zwischen „vorn“ und „hinten“, „hier“ und „dort“, „Körper und Nichtkörper“ sich in dem höheren und abstrakteren Begriff der dreidimensionalen Ausdehnung […] aufgelöst hätte; sondern stets bleibt das Ganze der Welt etwas von Grund auf Diskontinuierliches“. Panofsky, E., Die Perspektive als symbolische Form, S. 109.
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Geht man bei einer weiteren Betrachtung des Textes von der Prämisse aus, dass das Auffinden des Nicht-Darstellbaren gerade in jener Lücke liegt, die mit der Negation eines Absolut-Darstellbaren aufgerissen wird, so ist es weniger verblüffend, dass Benjamin den Text von einem idealen Aussichtspunkt – der Bendlerbrücke – fortschreibt: „Der Weg […] führte über die Bendlerbrücke, deren linde Wölbung die erste Hügelflanke für mich wurde. Unweit von ihrem Fuße lag das Ziel: der Friedrich Wilhelm und die Königin Luise“ (BK, S. 393f.). Das Wort Flanke, im 17. Jahrhundert als militärischer Fachausdruck aus dem Französischen entlehnt, bezeichnet die Seite eines Festungswerks oder eines in Schlachtordnung aufgestellten Heeres.133 In Verbindung mit dem Wort Hügel entsteht ein Kompositum, in dem die Bedeutung der Konstituente Flanke im Sinne einer geeigneten Verteidigungshaltung abgelöst wird von der Bezeichnung des Standortes einer idealen Raumsicht, der Hügelkuppe. Wenn der Weg in das Labyrinth über die Brücke führt, so liegen die als Ziel genannten Denkmäler vom erhöhten Standort der Brücke aus im Blickpunkt. Die Inschrift im Sockel Friedrich Wilhelms verrät den offiziellen Anlass für die Errichtung des Denkmals im Tiergarten: „Ihrem König Friedrich Wilhelm III. die dankbaren Bewohner Berlins“. Im Auftrag Friedrich Wilhelm III. fand in den Jahren zwischen 1830 und 1840 die größte Umgestaltung des Tiergartens durch den Landschaftsgestalter Peter Joseph Lenné statt. Im Verlauf der etappenweise durchgeführten Umwandlung schuf Lenné ein übersichtliches Wegenetz, das weite Durchsichten gestattete. Er legte die Spazierwege durch den Park so an, dass kein Teil unberührt oder unerschlossen blieb, der ganze Park jedoch nicht zerstückelt wirkte. Wiesen und Lichtungen zog er zu großen Auen und weiten Sichtachsen zusammen. Dabei gaben Baumhorste und kulissenartig gestaffelte Baumhaine den Blickschneisen größere Tiefe und unterbrachen wirkungsvoll die offenen Wiesengründe.134 Diese Sichtachsen sind Ausdruck jener Sehsucht des 19. Jahrhunderts, die Stefan Oettermann am Panorama exemplarisch nachgewiesen hat. Die optische Einbeziehung des Horizonts in den Garten veränderte die Funktion des Tiergartens innerhalb der Stadtlandschaft. Statt die einzelnen Bezirke voneinander zu trennen, machte der Landschaftsgestalter Lenné den Tiergarten zu dem sie verbindenden Gemeinsamen. 133 134
Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 298. Wendland, F., Berlins Gärten und Parke, S. 137f.
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Helmut Schneiders These vom Zusammenhang zwischen Utopie und Landschaftsgestaltung im 18. Jahrhundert135 verdient es, hier anhand der speziellen Verhältnisse der Tiergartenumgestaltung im 19. Jahrhundert konkretisiert zu werden. Wenn sich am Horizont die Silhouette der Stadt als die den Tiergarten umgebende ‚Landschaft‘ abzeichnet, so findet im Tiergarten eine Verschränkung von Stadt- und Tiergartenlandschaft statt.136 Die Ferne erweist sich als eingeübte Stadt-Nähe, das Nicht-Sichtbare erweist sich als Alltägliches. Die Aussicht auf eine transzendente Erfahrung, die der Horizont als Grenze bot, wird von der Immanenz einer allzu bekannten, städtischen Gegenwart verstellt. Im Blick des Kindes kehren sich Betrachter und Betrachtetes um. Die zentralistische Perspektive des geschichtlichen Souveräns, der den Raum von einem nur ihm zugesprochenen bevorzugten Standort (seiner Sockellage) beherrscht, spiegelt sich im kindlichen Panoramablick vom Hügel, in dessen Fluchtpunkt das Denkmal liegt. Gleichzeitig wird durch den kindlichen Betrachter, der sich dem Souverän zuwendet, die Gültigkeit des Repräsentationsmodells, das er vertritt und die Definition des Raumes, die es eröffnet, in Frage gestellt.137 „Lieber als an die Herrscher wandte ich mich aber an ihre Sockel, weil, was darauf vorging, wenn auch undeutlich im Zusammenhange, näher im Raum war“ (BK, S. 394). Den Sockel der Königin Luise schmücken Szenen aus den Befreiungskriegen138 bzw. die „Darstellung von Frauenwirken im Kriege“139, wie es in zeitgenössischen Reiseführern heißt. Am Sockel des Denkmals Friedrich Wilhelm III. sind im Relief „die Segnungen des Friedens und im besonderen die Freuden des Tiergartens: fröhliche Kindergruppen, Schwäne fütternd, Blumenkränze win135
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„Im Wandel des Gartenstils läßt sich der Wandel des utopischen Bewusstseins von zentralistischer Ordnungskonstruktion zu individueller Zukünftigkeitserfahrung gut zeigen. Spazierengehend, wurde das Subjekt seines unbegrenzten weltentdeckerischen Vermögens, der eigenen Progressivität inne und ansichtig.“ Schneider, H., Utopie und Landschaft im 18. Jahrhundert, S. 180f. Diese Verschränkung bildet die Voraussetzung für Benjamins Überlegung, das Labyrinth als Synthese der Schrecken, die die Bezeichnungen Weg und Straße ihrer mythologischen Natur entsprechend mit sich führen, darzustellen. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 1, S. 647. Die Zentralperspektive schließt eine Umkehrung der Blickrichtung aus. Vgl. Koschorke, A., Die Entdeckung des Horizonts, S. 74. Müller-Bohn, H., Die Denkmäler Berlins in Wort und Bild, S. 42. Baedeker, K., Berlin und Umgebung, S. 158 (1904).
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dend oder mit kindlich-frohem Erstaunen in das mit jungen Vögeln gefüllte Nest einer Eiche schauend“140 dargestellt. Tiergarten, individualgeschichtlicher Raum der Kindheit und der zu erinnernde, geschichtliche Raum der Denkmäler vereinigen sich unter dem Blick des Kindes. Raumnähe – in der Erweiterung des Raumes um die Dimension der Zeit, wie sie im Loggien-Kapitel bereits festgestellt wurde – betrifft den individualgeschichtlichen Zeitraum der Kindheit. Das Kind betrachtet die Darstellung der Kinder – unabhängig von ihrem Verweisungszusammenhang – nach den vom Denkmal symbolisch vertretenen Wahrnehmungsprinzipien. Dabei wird der Zeitraum der Kindheit von der Perspektive einer geschichtlichen Zeit überlagert. Die Zentralisierung von Darstellung und Darstellungsraum im Blick des Kindes ermöglicht die Ablösung des Blicks von der Projektionsfläche des Denkmals und überträgt ihn auf die gesamte Tiergartenszenerie. Die vom Souverän übernommene Sichtweise wird zu einer qualitativen Eigenschaft des Blickes. In diesem offenbart sich die Tiergartenanlage als konstruierter Raum. Die durch den Blick vorgenommene Einteilung und Hierarchisierung der Dinge, entsprechend des vom Souverän vertretenen Geschichtsverständnisses, verhindert die individuelle Erfahrung der Tiergartenlandschaft. Der Park gibt dem Besucher den Standort einer alles überformenden Blickperspektive vor, die eine indivdiuelle Aneignung der Objektwelt des Tiergartens verhindert. Die Reliefbilder und ihr Gegenstand repräsentieren Elemente dieser Ordnung. Ihre Prinzipien sind dem Kind bereits durch den optischen Mechanismus des Kaiserpanoramas vertraut. Dabei korrespondieren die Wegenetze der Tiergartenanlage mit dem technischen Konstruktionsprinzip des Kaiserpanoramas.141 Im Umfeld des Landschaftsgartens ist die illusionistische Wirkung der stereoskopischen Bilder durch die Auflösung des Horizonts im Herrscherblick auf die Silhouette der Stadt bereits vorgebildet. Mit dem Blick des Kindes vom perspektivischen Standort des Souveräns auf das Sockelgeschehen ist eine Darstellungsweise aus dem Text rekonstruierbar, wie sie sich vor dem zeitgeschichtlichen 140 141
Müller-Bohn, H., Die Denkmäler Berlins in Wort und Bild, S. 42ff. „An dieser Nabe sind sechs gleich lange T-Eisen derart befestigt, daß sie sich strahlenartig in gleichen Abständen voneinander nach außen erstrecken. Jeder dieser T-Träger trägt einen Quersteig, welcher mit Endlappen versehen ist, in welchem die Bilderrahmen drehbar ruhen.“ Auszug aus der Patentschrift des kaiserlichen Patentamtes für August Fuhrmanns selbsteinkassierendes Wandelpanorama (unveröffentlicht).
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Hintergrund des 19. Jahrhunderts abzeichnet: als absolute Darstellung eines absolut Wahrnehmbaren.142 Die Denkmäler des Herrscherpaares suggerieren, dass die Form des Angedenkens in steinernen Erinnerungsmalen dem mnemotechnischen Prozess entspricht. Dass dem nicht so ist, sondern die Denkmäler als symbolische Repräsentanten einer politischen Ordnung ihre Funktion als Kunstwerk143 einbüßen, belegt der Vorwurf der „Ideologisierung des Denkmalwesens“144 einer noch vor 1840 einsetzenden Denkmalkritik. Günter Hess stellt in seiner Studie zu Panorama und Denkmal einen engen Zusammenhang zwischen der Kanonisierung bestimmter Sehweisen und mit ihnen korrespondierender Denkweisen fest, für die die Verselbständigung und Isolierung der Erinnerung ein Paradebeispiel liefert.145 In der Mechanisierung des Land- und Personenverkehrs146, in den unzähligen stereoskopischen und panoramatischen Schaustellungen und Panoptiken findet sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts empirisch ausformuliert, was Benjamin anlässlich der Erfindung des photographischen Reproduktionsverfahrens mit dem Verlust der „Aura“147 umschrieb: die 142
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Politischer Diskurs und Geschichtsverständnis lassen nur dann Rückschlüsse auf den autobiographischen Diskurs zu, wenn die Autobiographie als Ausdruck einer geschichtlichen Identität verstanden wird. Von dem Komplex einer absoluten Geschichtlichkeit der Selbstreflexion hat sich Benjamin in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Wilhelm Diltheys deutlich distanziert. Der enge Zusammenhang zwischen Kunst und Erinnerung ergibt sich in der antiken Mythologie aus einem Verwandtschaftsverhältnis: Die Musen sind die Töchter der Mnemosyne und des Zeus. Vgl. Kerényi, K., Die Mythologie der Griechen, 1, S. 85. Hess, G., Panorama und Denkmal, S. 150. Ebd., S. 177. „Der Verlust der Aura durch Reproduktion, den Benjamin beschreibt, ist Ausdruck derselben Bewegung, die im 19. Jahrhundert den Massen die Landschaften ‚näher‘ brachte […] Die Verfügbarmachung von Landschaften durch den Tourismus ist eine Vorstufe, Vorbereitung der Verfügbarmachung jeglicher Einzigartigkeit durch die Reproduktion.“ Schivelbusch, W., Geschichte der Eisenbahnreise, S. 43. „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura […] Die Reproduktionstechnik, so läßt sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab.“ Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 353. Die Forschungsliteratur zum Phänomen der Aura ist mittlerweile kaum noch zu übersehen. Eine Zusammenfassung gibt Fürnkäs, J., Aura.
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bis zur Perfektion getriebene Angleichung des Abbildes an sein Original. Der Verlust einer Differenz resultiert nicht nur aus der technischen Qualität von Reproduktionsverfahren. Er ist auch das Ergebnis der Einübung von Sichtweisen, die die wahrgenommenen Dinge dem Blick des Betrachters unterordnen.148 Dass es sich bei dem von den Denkmälern vorgestellten Wahrnehmungs- und Darstellungsraum um einen absoluten handelt, demonstriert Benjamin zusätzlich am Fensterausblick der Luise von Landau. Da dem Fensterausblick der Versuch einer Begrenzung oder Umrahmung des Bildausschnittes zugrunde liegt, stellt er eine Wahrnehmungsweise vor, die nicht mit der Konzeption eines absoluten Bildraumes übereinstimmt. Rahmen lässt sich nur der Ausblick auf das Labyrinth. Benjamin unterläuft das mittels eines Fensters vorgestellte Prinzip der Rahmenschau, indem der notwendig mit ihr verbundene subjektive Betrachter – Luise von Landau – nicht mehr existiert: „So kalt im Schönen mußte fußen, was fürstlich ist und ich begriff, warum Luise von Landau, mit der ich im Zirkel gesessen hatte bis sie gestorben war, am Lützowufer gegenüber von der kleinen Wildnis hatte wohnen müssen, die ihre Blüten von den Wassern des Kanals netzen läßt“ (BK, S. 394). Auch auf der Ebene der Erinnerung unternimmt der sich Erinnernde den Versuch, den Blick des toten Mädchens in die Erinnerung zu integrieren. Dabei gleicht der Ausblick auf die Tiergartenszenerie vom Standort des toten Mädchens aus dem Ausblick vom Mausoleum der Loggia in die Umgebung der Höfe. Während dort das Mausoleum zur Erinnerungsstätte wird, indem es einen Teil der Vergangenheit konserviert, scheitert hier die Vervollständigung der Erinnerung durch den sich Erinnernden von vornherein durch die Barriere des Todes. Die räumliche Perspektive verwandelte sich in den geschichtlichen Hintergrund, vor dem das Kind seinen Einzug in das Labyrinth hält. Dem Kind gelingt es, den perspektivischen Standort einer absoluten Wahrnehmung zu verlassen. Es verschwindet im Labyrinth des Tiergartens. Mit der von ihm ausgeführten Bewegung, die kontrastiv zum festen perspektivischen Standort der Denkmäler steht, löst sich das Kind aus 148
In Bezug auf das Panorama spricht Stephan Oettermann vom Panorama „als Maschine, in der die Herrschaft des bürgerlichen Blicks gelernt und zugleich verherrlicht wird, als Instrument zur Befreiung und zur erneuten Einkerkerung des Blicks, als erstes optisches Massenmedium im strengen Sinne.“ Oettermann, S., Das Panorama, S. 9.
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einem kollektiven Wahrnehmungsgefüge. Im Labyrinth trifft es auf das Denkmal des Prinzen Louis Ferdinand. Wie hoffnungslos kehrt mit jedem Frühling meine Liebe zum Prinzen Louis Ferdinand zurück, zu dessen Füßen die ersten Krokus und Narzissen standen. Ein Wasserlauf, der mich von ihnen trennte, machte sie mir so unberührbar, als wenn sie unter einem Glassturz gestanden hätten. (BK, S. 394)
Im fiktiven Raum des Labyrinths findet sich das Denkmal Louis Ferdinands149 herausgelöst aus dem geschichtlichen Kontinuum seiner königlichen Verwandten. Louis Ferdinand gehörte zum weiten Umfeld der Romantiker, denen Benjamin seine Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik widmete. In dieser Arbeit beschreibt Benjamin im Begriff der ‚Reflexion‘ einen neuen Zusammenhang zwischen erkenntnistheoretischer Intention und Darstellung: Das Denken ist selbstreflexiv geworden, seine Medialität birgt sein Erfahrungspotential. In der Vorrede zum Trauerspielbuch knüpft Benjamin an diesen Gedanken an, Darstellung beschreibt er dort als Umweg.150 Das Zusammenfügen sprachlicher Zeichen wird mit einer physischen Bewegung gleichgesetzt, die im Stück Tiergarten die konkrete Raumordnung des Labyrinths veranschaulicht. Das Labyrinth ist als Bewegungsraum151 zugleich verbildlichter Sprachraum, denn erst in der diskontinuierlichen Bewegung konstituiert sich die Bedeutung der Zeichen.152 Die ‚mit jedem Frühjahr hoffnungslos wiederkehrende Liebe‘ des Kindes zum Prinzen Louis Ferdinand bestimmt das Denkmal zum unerreichbaren Ziel der kindlichen Ausflüge ins Labyrinth. Mit dem Bild des Todes und der Liebe errichtet Benjamin im Text die klassischen Bezugsgrößen zum antiken Mythos des Labyrinthes. Er erzählt dem Leser jedoch nicht die Liebesgeschichte der Ariadne und des Theseus. Von den antiken Figuren wird lediglich Ariadne genannt: Davon [von dem sonderbarsten Teil des Parkes, U.B.] empfing ich früh ein Zeichen. Hier nämlich oder unweit muß ihr Lager 149
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Benjamin scheint hier einem Irrtum zu unterliegen. An dem von ihm beschriebenen Ort befindet sich nicht das Denkmal Louis Ferdinands, sondern „Jung-Wilhelms“. Benjamin, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 208. Kern, H., Labyrinthe, S. 22. Zur Parallelität von Darstellung und Denken und der daraus resultierenden Objekterkenntnis vgl. Gagnebin, J.M., An der Schwelle des Labyrinths, S. 507.
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Walter Benjamin – Blick jene Ariadne abgehalten haben, an deren Nähe ich zum ersten Mal erfuhr, was mir als Wort erst später zufiel: Liebe. Leider tauchte das ‚Fräulein‘ an seiner Quelle auf, das sich als kalter Schatten darüber legte. (BK, S. 394)
Im Mythos ist Minotaurus die ins Labyrinth verbannte Bestie. Ariadne liefert den Faden, mit Hilfe dessen der von ihr geliebte Theseus aus dem Labyrinth findet. In Benjamins Darstellung wird Ariadne zu einer Bewohnerin des Labyrinths, die die Erfahrung der Liebe verbürgt. Benjamins Ariadne-Rezeption korrespondiert mit einem späten Nietzsche-Fragment: „Ein labyrinthischer Mensch sucht niemals die Wahrheit, sondern einzig seine Ariadne.“153 Nietzsche verwendet das Wort Labyrinth attributiv, um das Streben des Menschen nach Erkenntnis zu charakterisieren. Bei Benjamin ist das Labyrinth Widerlager zur systematischen Geschlossenheit der Tiergartenanlage, die der perspektivische Standort des Souverän repräsentiert. An diesem Ort verbirgt sich Ariadne. Als Wesensgehalt ihrer Schönheit154 definiert Benjamin die Wahrheit: „Der Mensch ist schön für den Liebenden, an sich ist er es nicht; und zwar deswegen, weil sein Leib in einer höheren Ordnung als der des Schönen sich darstellt. So auch die Wahrheit: schön ist sie nicht sowohl an sich als für den der sie sucht“.155 Die Funktion des Labyrinths besteht darin, gegenüber jener ‚falschen‘ Wahrheit, die durch die Geschlossenheit der Tiergartenanlage suggeriert wird, heterotopischer Ort156 der ‚echten‘ Wahrheit zu sein. Über den Gehalt dieser Wahrheit gibt der Text keine Auskunft, der Leser erfährt nur, dass sie sich dem Kind durch die sinnliche Erfahrung der Liebe mitteilt. Wurde der Blick des Kindes von Luise von Landau nicht erwidert, so empfängt es ein „Zeichen“ der Ariadne. Das „Zeichen“ ist die „Nähe“, ein „Schatten“ verhindert den Sichtkontakt. Durch die Einführung einer absoluten Wahrnehmung, die mit der Auflösung der Raumgrenzen und einer Vereinzelung des Sehsinns einhergeht, löst sich der Blick vom Gegenstand. Das Sehen im Kontext von Sichtweisen, wie Benjamin sie aufzeigt, bezeichnet nicht mehr einen Wahrnehmungsvorgang, der an die Wahrnehmung einer konkreten Umgebung gebunden ist, sondern repro153 154 155 156
Nietzsche, F., Nachlaß 1882-1884, Bd. 10, S. 125. Benjamin, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 211. Ebd., S. 210. Zum Begriff der Heterotopie und ihrer Funktion vgl. Foucault, M., Andere Räume, S. 39ff.
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duziert Anschauungen aus einer einstmals erlernten Blickperspektive. In diesem Kontext liest sich das „Zeichen“, das das Kind empfängt, als eine Erweiterung des Aurabegriffes. Denn wenn Benjamin die „Aura“ als „Ableitung […] einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert“157 bestimmt, so grenzt sich der ‚erwiderte Blick‘ vom autonomen Sehsinn durch sein Eingebundensein in ein sinnliches Ensemble ab. Aura und Spur werden als Darstellungsweisen einander entgegengesetzt158; während die Spur intentionale Medialität ist, drückt die Aura eine Unmittelbarkeit aus, die den ihr verhafteten Gegenstand intentionslos heraufzubeschwören vermag. Das Abschreiten labyrinthischer Gänge versinnbildlicht nicht nur einen Darstellungsvorgang. In der Berliner Chronik stand das Labyrinth noch für das, was in der „Kammer seiner [des Labyrinths, U.B.] rätselhaften Mitte haust, Ich oder Schicksal“159: die Selbsterfahrung des Kindes.160 Dem entspricht die Funktion des Labyrinths, Ort eines gegenwärtigen Erinnerungskultes zu sein, wie er sich aus der Überlieferung des antiken Mythos restituiert. In der Berliner Kindheit hat der Erwachsene auf seiner Suche nach der Vergangenheit einen Führer und Verbündeten: Als darum dreißig Jahre danach ein Landeskundiger, ein Bauer von Berlin, sich meiner annahm, um nach langer gemeinsamer Entfernung aus der Stadt mit mir zurückzukehren, durchfurchten seine Pfade diesen Garten, in welchen er die Saat des Schweigens säte. Er ging die Steige voran, und ein jeder wurde ihm abschüssig. Sie führten hinab, wenn schon nicht zu den Müttern allen Seins, gewiß zu denen dieses Gartens. (BK, S. 394)
Der „Bauer von Berlin“ spielt auf Aragons surrealistischen Roman Le paysan de Paris an. Gegenstand surrealistischer Darstellungen war die leibhafte Erfahrung.161 Zu Verbündeten werden der „Bauer von Berlin“ (Franz Hessel) und der sich Erinnernde durch ihre gemeinsame Suche nach der „verlorenen Zeit“, die sich auch in ähnlichen Motiven niederschlägt. Die Zeit wird als räumliche Tiefe dargestellt; im Rahmen des Er157 158
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Benjamin, W., Zentralpark, GS I, 2, S. 670. „Der Begriff der Spur findet seine philosophische Determination in Opposition zum Begriff der Aura.“ Benjamin, W., Brief an Theodor W. Adorno vom 9.12.1938, in: Benjamin, W., Briefe, VI, S. 182. Benjamin, W., Berliner Chronik, GS VI, S. 491. Zur Ichfindungsfunktion des Labyrinths und zur Darstellung der Stadt als Labyrinth vgl. Kern, H., Labyrinthe, S. 29. Benjamin, W., Der Sürrealismus, GS II, 1, S. 297.
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innerungsprozesses weisen die hinabführenden Pfade den Weg zum Zentrum des Gartens. Das aufgefundene Erinnerungsmaterial ist das Kind im Labyrinth des Tiergarten, d.h. die durch den kindlichen Betrachter verbürgte Erfahrbarkeit der Stadt.162 2.3.2. Illusionistischer Einblick: Winterabend Mit dem Stück Winterabend dehnt Benjamin die kindliche Erkundung der Stadt auch auf die Abendstunden aus. Ein wesentlicher Umstand des Sehens ändert sich dabei, das Tageslicht wird durch das künstliche Licht der Gaslampen ersetzt. Die Anwesenheit der Mutter weist darauf hin, dass die unbekannte Zeit und das veränderte Licht einen Grenzbereich in der Erfahrungswelt des Kindes bilden. Es war ein dunkles, unbekanntes Berlin, das sich im Gaslicht vor mir ausbreitete. Wir blieben im alten Westen, dessen Straßenzüge einträchtiger und anspruchsloser waren als die später bevorzugten. Die Erker und Säulen gewahrte man nicht mehr deutlich, und in die Fassaden war Licht getreten. (BK, S. 414)
Die Beschreibung der Architektur tritt zugunsten der Wahrnehmung des Lichtes zurück.163 Es handelt sich dabei um ein Licht, das weder reflektiert wird, noch die Dinge einen Schatten werfen lässt. „Lag es an den Mullgardinen, den Stores oder dem Gasstrumpf unter der Hängelampe – dies Licht verriet von den erleuchteten Zimmern wenig“ (BK, S. 414). Vor den nächtlichen Einblick in beleuchtete Wohnungen schieben sich Mullgardinen und Stores. Ihre Verwendung im Zuge der Ablösung von Butzenscheiben durch einfaches Fensterglas evoziert die biedermeierlich dekorierte Innerlichkeit eines restaurativ gesinnten Bürgertums. Benjamin zählt sie zusammen mit der ursprünglichen Lichtquelle auf, dem Gasstrumpf; durch diese Reihung wird allen drei Elementen eine relative Blickundurchlässigkeit zugesprochen. In Anlehnung an Gottfried Sempers materialästhetische Untersuchungen und seine Feststellung einer 162
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Jan Pieper hat die These aufgestellt, dass Grundlage des Labyrinthmythos die „volksdurchwimmelte Stadt“ war. Pieper, J., Das Labyrinthische, S. 19. Es ist bezeichnend, dass Benjamin in der Schilderung des nächtlichen, winterlichen Berlins den Schnee ausspart, der in einigen anderen ‚Wintergeschichten‘ als illustratives Detail Straße und Stadtraum in der Vorstellung des Kindes ausschmückt. Denn Schnee besitzt ein sehr hohes Reflexionsvermögen und würde in dieser Darstellung neben den Gaslaternen selbst zu einer die Stadt illuminierenden Größe werden.
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Tendenz zur Verkleinerung der Reflexe in den textilen Geweben des 19. Jahrhunderts spricht Dolf Sternberger von der „Zerstörung der Gewißheit des inneren, in den Stoffen aufbewahrten und über ihnen spielenden Lichtes, der die andere und äußere Lichtquelle geheimnisvoll einschließen und zurückprallen ließe, ohne daß sie aufgesaugt würde.“164 Auch bei Benjamin verliert sich der Blick des kindlichen Betrachters in den transparenten Schichten von Fensterglas und Stoff, ohne eine Einsicht zu geben.165 Das Objekt der Wahrnehmung kann nicht mehr durchschaut werden. Durch seine Anbindung an die künstliche Lichtquelle stellt sich jedoch das, was Sternberger als Zerstörung bezeichnet, als Effekt der Beleuchtung dar. Benjamins Verweis auf die Gasbeleuchtung als eine spezifische Beleuchtungsart des 19. Jahrhunderts birgt noch eine andere Implikation. Als notwendige und unerlässliche Voraussetzung der optischen Wahrnehmung unterliegt auch das Licht Veränderungen, die sowohl an die Entdeckung ihrer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten als auch an ihre industrielle Produktion gebunden sind. In Benjamins Darstellung steht das Licht nicht mehr für einen transzendenten Bereich, es büßt seine symbolische Funktion ein: „Es [das Licht, U.B.] hatte es nur mit sich selbst zu tun. Es zog mich an und machte mich nachdenklich“ (BK, S. 414). Die Wahrnehmung des Kindes reagiert auf das Licht als rein quantitative Größe, das – entgegen seiner einstigen Bedeutung als theologische Erlösungsmetapher – keine Affinität mehr zum numinosen Charakter des Wahrnehmungserlebnisses besitzt.166 Solcherart konstituiert das industriell erzeugte Lampenlicht einen Gegensatz zum flackernden Ofenlicht des Stückes Wintermorgen, in dem dieses es eben nicht „nur mit sich selbst zu tun“ hatte, da es Wärme abgibt. Der Beleuchtungsef164 165
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Sternberger, D., Panorama, S. 162. Sternbergers Beobachtung und Benjamins paradox anmutende Beschreibung einer ‚verhüllenden Transparenz‘ belegen den Bedeutungswandel des Wortes ‚Blick‘. Die Gebrüder Grimm verzeichneten als Blick auch eine Eigenschaft, die Farben und Metallen beigelegt wurde. In der Folge der Entdeckung optischer Gesetze im 19. Jahrhundert wurde der Blick nun als Reflex glatter Stoffe beschrieben, d.h. als Effekt, der bei der Einwirkung von Lichtstrahlen und ihrer spiegelnden Reflexion an der Materialoberfläche entsteht. Vgl. Grimm, J. und Grimm W., Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, S. 113ff. Dies korrespondiert mit der Feststellung, dass die klassische Idee der Empfindung als etwas, das zu einer Person gehört, „seit 1880 aufhört, im kognitiven Bild der Natur ein signifikanter Bestandteil zu sein“. Crary, J., Aufmerksamkeit, S. 31.
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fekt verwandelt sich zum Hinweis auf eine veränderte Auffassung vom Licht und vom Sehen.167 Letzteres ist nicht mehr Ausdruck einer dyadischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, der Betrachter wird auf sich selbst zurückgeworfen. In dem Kollaps der Perspektivwahrnehmung, die diese Beziehung räumlich veranschaulicht, kündigt sich eine neue Wahrnehmungsweise an. Mullgardinen und Stores sind Erscheinungen des frühen 19. Jahrhunderts, sie gehören in das Gebiet des ‚alten Westens‘. Ihre Verhüllungsfunktion und die damit einhergehende Abgrenzung eines bewohnten Innenraumes konterkariert der Text, indem er den Leser (der Wahrnehmung des Kindes entsprechend) vom Fenster ab- und auf das Licht lenkt. Das Licht, das in die Fassaden tritt, ist sowohl das Straßenlicht der Gaslaterne als auch das Zimmerlicht der Hängelampe. Das Licht verbindet den Wohninnenraum und die nächtliche Straße. Die künstliche Beleuchtung des nächtlichen Berlins fasziniert das Kind. In seinem Baudelaire-Aufsatz weist Benjamin auf die Folgen der unter Napoleon eingeführten Beleuchtung der nächtlichen Straßen hin. Das künstliche Licht verminderte nicht nur die Zahl der Verbrechen, sondern machte die Menschen auch in der Nacht auf den Straßen heimisch.168 Indem das Fenster keinen anderen Blick als den auf das Licht zulässt, d.h. die Quelle aller Sichtbarkeit, hebt es sich selbst als transparente Raumgrenze auf.169 Damit einhergehend wird auch die Unterscheidung zwischen In167
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Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Stück Winterabend als Pendant zum Stück Wintermorgen angelegt ist, worauf nicht zuletzt die Reihenfolge der Stücke hinweist (Wintermorgen trägt im Inhaltsverzeichnis die Nummer 9, Winterabend die Nummer 18). Diese Ergänzung wird u.a. auch in den Beschreibungen und zentralen Rollen von Feuer und Gasbeleuchtung sichtbar. Wolfgang Schivelbusch, der sich in seinem Buch Lichtblicke ausführlich mit dem Zusammenhang von Feuer und Licht auseinandersetzt, umreißt mit folgenden Worten die Trennung von Wärme- und Beleuchtungsquelle, die die unterschiedliche Raumkonstruktionen beider Stücke erfasst: „Das Feuer, welches im Ofen verschwunden war, erlebte im offenen Licht eine sublimierte Wiederauferstehung, es wirkte als Stellvertreter des Feuers, als Feuer-Ersatz, den das Auge offenbar brauchte“. Schivelbusch, W., Lichtblicke, S. 156. Benjamin, W., Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, GS I, 2, S. 552. Auch Alfred Gotthold Meyer widmete sich in seinen Ausführungen zu den Eisenbauten ihrem Verhältnis zum Licht und kam zu der Feststellung, „schattenlose Helle – das ist für den Menschen gleichbedeutend mit grenzenlosem Raum“. Meyer, A., G., Eisenbauten, S. 66.
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nen- und Außenraum obsolet. Auf der nächtlichen Straße ist das Kind aus den festen Bezugspunkten räumlicher Begrenzungen herausgelöst. Die Raumwahrnehmung weicht einer Lichtwahrnehmung, die den Stadtraum verfremdet. Gleichzeitig ist das Licht nicht nur Anlass, sondern auch Gegenstand der Reflexion. Die durch das Nachdenken etablierte Überleitung vom Kind zum Erwachsenen zeigt das Unabschließbare dieses Vorganges auf; das Licht als Quelle aller Sichtbarkeit bleibt Medium und entzieht sich einer Darstellung. Wenn das Licht das Kind zum Nachdenken anregt, so bleibt zunächst offen, worauf sich die Reflexion bezieht. Im Kind und im sich Erinnernden weckt das Licht der Gaslampen die Vorstellung einer Ansichtskarte und der mit ihrem Betrachten verbundenen besonderen Effekte. „Dabei geleitet es mich am liebsten zu einer von meinen Ansichtskarten.“ (BK, S. 414) Ein merkwürdiger Widerspruch tut sich auf: Das Licht, das es „nur mit sich selbst zu tun“ hatte, geleitet den sich Erinnernden zu einer Ansichtskarte. Dieser Widerspruch löst sich, wenn sich hinter dem Zustand des ‚Nachdenklich-Seins‘ ein dem Licht adäquater Vorgang verbirgt, d.h. ein ‚Nur-mit-sich-selbst-zu-tun‘-Haben des Kindes, das der Erwartungshaltung des Erwachsenen von Erinnerung – als auf sich selbst gerichtet sein – entspricht. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so muss in der folgenden Beschreibung der Ansichtskarte die Selbstreflexion von Licht und Kind anschaulich verbunden sein. Sie stellte einen berliner [!] Platz dar. Die Häuser, die ihn umgaben, waren von zartem Blau, der nächtliche Himmel, an dem der Mond stand, von dunklerem. Der Mond und die sämtlichen Fenster waren in der blauen Kartonschicht ausgespart. Sie wollten gegen die Lampe gehalten werden, dann brach ein gelber Schein aus den Wolken und Fensterreihen. (BK, S. 414)
Vorläufer der von Benjamin beschriebenen Ansichtspostkarten sind die um 1800 populären Mondscheindioramen: Auf ein Transparentbild wurden mondscheinbeleuchtete Garten- oder Landschaftsszenen aufgetragen und von hinten mit Öllampen beleuchtet.170 Das Phänomen der Panoramen, in dessen Umkreis auch Mondscheindioramen und Ansichtskarten angesiedelt sind, deutete Benjamin als „Ankündigung einer Umwälzung im Verhältnis der Kunst zur Technik und als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls“.171 Günter Hess bezeichnet die Bildpostkar170 171
Vgl. Oettermann, S., Das Panorama, S. 59. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 1, S. 48.
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te als logische Konsequenz konstant reproduzierter Sehweisen: So sei das Massenauge der Photolinse Produkt des inzwischen so fixierten landschaftlichen Auges.172 Da das Prinzip der photographischen Aufnahme in der photochemischen Registratur von unterschiedlichen Lichtintensitäten besteht, bildet folglich die Photographie Licht ab, das „es nur mit sich selbst zu tun“ hat, da es sich als Licht in unterschiedliche Hellund Dunkelwerte ausdifferenziert. Wie aber ist das nachdenkende Kind in diesem Prozess zu verorten? Dem Kind ist die abgebildete Gegend unbekannt, es ist also nicht mit dem Vorgang der Aufnahme in Beziehung zu bringen. Zieht man jedoch in Betracht, dass Benjamin die Photographie als Wiedergabe eines unbewusst durchwirkten Raumes bezeichnet173, so könnte die Photographie auf einen unbewusst durchwirkten Bildraum verweisen. Wenn das Kind nicht mit dem Vorgang der Aufnahme in Verbindung zu bringen ist, so besteht die Möglichkeit, dass auf der Photographie – und vermittelt durch die Betrachtung des Kindes – etwas zur Darstellung gelangt, was unabhängig vom Kind und seinem subjektiven Blick auf die Dinge existiert. Benjamin bestimmt hier nicht nur die optische Erfahrung neu, sondern er verabschiedet auch das Modell eines aktiven und autonomen Betrachters, der als Produzent seiner visuellen Erfahrung auftritt. Es ist jedoch die Frage zu stellen, was als unbewusst durchwirkter Raum zur Anschauung gebracht werden soll. Zieht man die damals bekannten optischen Gesetze hinzu, lässt sich der Bildeffekt der kolorierten Photographie genauer beschreiben. 1896 erschien das Handbuch der Physiologischen Optik, in dem Helmholtz die neuesten Erkenntnisse zur Optik versammelte, modifizierte und in ihrer praktischen Relevanz darstellte. Einige Jahre zuvor hatte Gustav Theodor Fechner In Sachen der Psychophysik festgestellt, dass die Empfindungsstärke zur objektiven Lichtstärke nicht proportional ist.174 Helmholtz untersuchte die Spezialfälle von Annäherungen der Lichtstärke an ihre obere und untere Grenze, an denen die Unterschiedsschwellen wachsen, die gleich deutlicher Empfindung entsprechen. Er stellte fest, dass hier die Unterscheidung von zarten Schatten, d.h. von Helligkeiten, undeutlicher wird. Daraus leitete er zunächst für den Spezialfall bildlicher Darstellungen ab, dass bei geringer Helligkeit die dunklen dargestellten Objekte den dunkelsten, bei großer Helligkeit die helleren den hellsten 172 173 174
Hess, G., Panorama und Denkmal, S. 177. Benjamin, W., Kleine Geschichte der Photographie, GS II, 1, S. 371. Vgl. Fechner, G.T., In Sachen der Psychophysik, S. 7ff.
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ähnlich werden. Als Beispiele führte er die malerischen Ausführungen von Mondscheinbildern und Wüstenbildern an.175 Helmholtz’ Ausführungen lassen vermuten, dass sich beim Betrachten der beleuchteten Postkarte das Blau der Häuserreihen dem Blau des Himmels annähert und für das Auge nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Ersetzung des Mondes durch künstliches Licht spiegelt sich in der Angleichung von Stadt und Natur wider, wobei die nächtliche Stadt dem Auge vorgibt, Natur zu sein. Mit der Ansichtskarte findet Benjamin eine bildliche Entsprechung für die von ihm konstatierte Verdrängung des Sternenhimmels durch die Gasbeleuchtung.176 Im Unterschied zu Benjamins Bemerkung über die Verbannung der Sterne aus der Welt Baudelaires177 und eines daraus resultierenden Verlustes von Schein und Schönheit wird in der Ablösung der natürlichen Leuchtkraft der Sterne durch das künstliche Licht der Lampen eine andere Implikation sichtbar. Im Prozess des ‚Nur-mit-sich-selbst-zu-tun‘Haben des Kindes ist auch die Hoffnung, die durch die Sterne symbolisiert wird178, prädisponiert. Hoffnung als Ausblick auf eine zukünftige Erlösung geriert sich zum Produkt einer Warenwelt, die diesen Begriff entleert: „Ich kannte die abgebildete Gegend nicht. ‚Hallesches Tor‘ stand darunter. Tor und Halle traten in ihr zusammen und bildeten die erhellte Grotte, in welcher ich die Erinnerung an das winterliche Berlin vorfinde.“ (BK, S. 414) Während das Kind die Ansichtskarte vor die Lampe hält, tritt mit dem Schein der erleuchteten Fenster das Licht wieder aus der Ansichtskarte heraus (ähnlich seinem Hineintreten während des photographischen Aufnahmevorgangs). Dieses Heraustreten wird im Bild der Grotte veranschaulicht, das sich aus bestimmten Wahrnehmungsmechanismen konstituiert. Die ausgesparten Fenster auf der Karte sind nur durch eine relativ schmale Kartonschicht voneinander getrennt. Aus dem bereits erwähnten Fechnerschen Gesetz ergeben sich eine Rei175
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Ich beziehe mich hier zunächst auf einen bereits 1876 gehaltenen Vortrag Helmholtz‘, der später in geringfügig abgewandelter Form in das Textkonvolut der Physiologischen Optik übernommen wurde. Helmholtz, H., Optisches über Malerei, S. 77. „Es [das Gaslicht, U.B.] verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah […]. Mond und Sterne sind nicht mehr erwähnenswert.“ Benjamin, W., Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, GS I, 2, S. 552. Benjamin, W., Zentralpark, GS I, 2, S. 670. Benjamin, W., Goethes Wahlverwandtschaften, GS I, 1, S. 200.
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he von Tatsachen, die Helmholtz unter dem Namen der Irradiation zusammengefasst hat. Ihnen ist u.a. gemeinsam, dass stark beleuchtete Flächen größer erscheinen, als sie wirklich sind. Daraus ergibt sich der Effekt, dass benachbarte helle Flecken zusammenfließen.179 Die Assoziation einer erhellten Grotte wird durch das Ineinanderfließen der beleuchteten Fenster auf der Karte unterstützt, die räumlichen Begrenzungen einer Grotte entsprechen der optischen Wahrnehmung eines künstlich erleuchteten Bereichs im Freien.180 Mit der Grotte ist der Verweis auf ihre unterirdische Lage verbunden, sie entspricht dem Bild einer archäologischen Ausgrabungsstätte, d.h. einem Erinnerungsfeld, wie Benjamin es in dem Denkbild Ausgraben und Erinnern beschreibt. Wenn sich ‚in der Grotte die Erinnerung an das winterliche Berlin wiederfindet‘, so trennt Benjamin hier die Selbstreflexion des Lichtes von dem Vorgang des Nachdenkens, die er in der Karte vereinigt hatte. Das Nachdenken entschlüsselt sich als Erinnerung. Benjamins Parallelisierung von Dioramabild und Erinnerungsvorgang überträgt nicht nur die Illusion der Nähe eines räumlich und zeitlich Fernen im Dioramabild auf den Erinnerungsvorgang181, sondern zeigt in der Zusammenschau dieser vor einer Lichtquelle auf, dass jene Illusion als Prinzip jeglicher illuminativen Einsicht zugrunde liegt. Denn auch in der künstlichen Lichterzeugung fallen Ort und Zeit der Gasproduktion im Gaswerk und seine Verwertung als Lampenlicht auseinander. Benjamin analogisiert den Erinnerungsvorgang und das Betrachten einer Photographie und illustriert damit wechselweise, wie sich die technische Reproduktion einerseits auf die Wahrnehmung und ihre Manifestation im Kunstwerk und andererseits auf das Erinnern auswirkt. Um Photographie und Film hatte er im Kunstwerk-Aufsatz die künstlerischen Darstellungsformen erweitert. Diese neuen technischen Medien nimmt er dort zum Anlass, um den herrschenden Kunstbegriff zu revidieren. Benjamin schlägt den Bogen zurück bis hin zum Ursprung des Kunstwerks in Ritual und Kult. Die Kunstgeschichte, behauptet er, sei als Auseinandersetzung zwischen Ausstellungswert und Kultwert verlaufen. Während die Anfänge der Kunst noch ganz im Zeichen des kulti179 180
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Helmholtz, H., Handbuch der Physiologischen Optik, S. 394ff. „Jeder künstlich erleuchtete Bereich im Freien wird als Innenraum insofern erlebt, als er gegen das umgebende Dunkel abgegrenzt ist wie mit Wänden. Die Wand verläuft dort, wo die Lichtwirkung aufhört.“ Schivelbusch, W., Lichtblicke, S. 144. Vgl. Brüggemann, H., Das andere Fenster, S. 244.
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schen Bildes standen, wird in der Photographie die Verdrängung des Kultwertes zugunsten des Ausstellungswertes manifest. Wenn Benjamin feststellt, dass „im Kult der Erinnerung an die fernen oder abgestorbenen Lieben der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht [hat]“182, so bestimmt er die Erinnerung – über den speziellen Bezug von Familienphotographien hinausgehend – als reproduktive Technik, deren Ausstellungswert an die porträtive Abbildlichkeit der Erinnerung gebunden ist. Übertragen auf die Berliner Kindheit bedeutet das, dass die photographische Stadtaufnahme (unter der Voraussetzung des ‚Nur-mit-sich-selbstzu-tun‘-Haben des Kindes) nicht das Porträt des Kindes wiedergibt. Dies wiederum hat den Verlust des Kultwertes zur Folge, der auch der Erinnerung inhärent ist. Die Erinnerung bleibt in ihrer bildlichen Qualität auf die Exponierung eines Ausstellungswertes beschränkt. Darin eingeschlossen liegt der Verzicht auf eine ‚wahrhaftige‘183 Erinnerung, denn das Kind vermag den Raum nicht mehr als Ganzes zu erfahren, sondern nur in Bruchstücken, in einzelnen Elementen, mit denen es ein subjektives Verhältnis eingehen kann. So ist ihm die abgebildete Gegend zwar unbekannt, aber in seinem assoziativen Umgang mit den Wörtern Halle und Tor gewinnt es einen individuellen Bezug zum Bild184, der letztendlich das Stichwort für die spätere Erinnerung liefert. 2.3.3. Individueller Einblick: Der Strumpf In dem Stück Kaiserpanorama hatte Benjamin entsprechend den historischen Konstellationen einen Raum vorgestellt, in dem das Kaiserpanora182
183
184
Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I, 2, S. 443ff. Wenn das Verhältnis von Erinnerung und Bild als von modernen Reproduktionstechniken betroffen dargestellt werden konnte, dann korrelieren auch die ‚wahrhaftige‘ Erinnerung und der Ewigkeitswert eines in der Tradition fundierten Kunstwerkes und des durch dieses vermittelten Bildbegriffs. Im Stück Der Fischotter (BK, S. 406-408) konnotiert Benjamin die Grotte auch als Zufluchtsstätte des Fischotters als des „heiligen Tieres des Regenwassers“. Aufgrund der besonderen Bedeutung, die dem Regen in der Berliner Kindheit zukommt, ist die Grotte als Zufluchtsstätte ein verallgemeinerbarer Begriff. Zur Analogie zwischen dem Otter und dem Autor der dreißiger Jahre vgl. Stüssi, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 199ff. Die Verbindung zum Autor stellt darüber hinaus auch der Regen als Attribut der „Schwermut des Materialisten“ dar. Vgl. Benjamin, W., Brief an Max Horkheimer vom 24.12.1936, in: Benjamin, W., Briefe, V, S. 450.
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ma als ‚Möbelstück‘ im weitesten Sinne einen bestimmten Blick eröffnete, der eine Transformation von Räumen bedingte. Sowohl in diesem als auch im Stück Loggien werden solche Innenräume als unbewohnbar charakterisiert, die sich eindeutig gegenüber den herkömmlichen, bürgerlichen Wohnstuben abgrenzen. Beide reproduzieren einen kindlichen Betrachterstandpunkt, der unterschiedliche Ausblicke eröffnet, die ihrerseits wieder Rückschlüsse auf das betrachtende Kind zuließen. Das Konstruktionsprinzip von Räumen durch die kindliche Blickperspektive wird im Stück Der Strumpf konsequent verabschiedet. Zwar handelt es sich auch hier um die Beschreibung des kindlichen Blickes, jedoch um einen Einblick, der, ähnlich dem Stück Winterabend, auf den permanenten Verweis der Grenzen ineinander verschachtelter Räume beschränkt bleibt. Der Raum als Teil eines Raumes, der wiederum Teil eines Raumes ist, trägt dabei der Erkenntnis Rechnung, dass die Überlagerung von Räumen die Konstruktion eines Gesamtraumes als Darstellungsraum nicht mehr zulässt. In dem Stück Der Strumpf ist die elterliche Wohnung der Standort des kindlichen Betrachters. Trat im vorangegangenen Kapitel das Fenster als transparente Raumgrenze auf, die im Prozess der permanenten Umwandlung von Räumen als Grenze obsolet wurde, so thematisiert Benjamin mit der zu öffnenden Schranktür die Schwelle185 selbst, auf der das Kind verharrt: „Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode. Ich hatte nur am Knopf zu ziehen, so schnappte die Tür aus ihrem Schlosse mir entgegen.“ (BK, S. 416) Konnte für das Sehen als Betrachtungsweise in den vorangegangenen Kapiteln eine Ablösung vom Betrachter als Produzent eigener optischer Erfahrung nachgewiesen werden, so ist nun der Einblick in den Schrank nicht an eine visuelle Erfahrung gebunden, sondern obliegt einer taktilen.186 Es sind nicht die „Hemden, Schürzen und Leibchen, die dahinter [der Schranktür, U.B.] 185
186
Winfried Menninghaus kommt in seiner Schwellenkunde zu dem Ergebnis, dass die Berliner Kindheit im Zeichen der Schwelle steht. Diese thematisiert sowohl einen sich steigernden Rhythmus des Raumwechsels, der aus dem Kontext der industriellen Produktion von Bildwelten reproduziert wird, als auch das Interieur der erlebten Räume in den erinnerten Gegenständen, Handlungen und Personen. Menninghaus, W., Schwellenkunde. Damit verbunden ist der Ausfall des Nahbereichs optischer Erfahrung. Der Tastsinn dient hier nicht nur zur „Vergewisserung von Nähe“ (Manthey, J., Wenn Blicke zeugen könnten, S. 203), sondern der Wiederherstellung dieser (selbstbezüglichen) Nähe.
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verwahrt gelegen haben“ (BK, S. 416) – die, von der Schranktür verhüllt, selbst wieder Verhüllendes für den kindlichen Körper sind –, auf die sich das kindliche Interesse richtet, sondern die nicht sichtbaren, im äußersten Winkel des Schrankes liegenden Strümpfe, die die Hand des Kindes ertastet. Wenn es diese im Verlauf der Handlung wieder ans Licht befördert, um ihr Aussehen zu beschreiben, so findet in der Bewegung des Kindes, die vom Ort der Schwelle sowohl in den Schrankraum hineinals auch aus ihm hinausgeht, ein Oszillieren zwischen innerem und äußerem Raum statt. Jedes Paar hatte das Aussehen einer kleinen Tasche. Nichts ging mir über das Vergnügen, die Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Ich tat das nicht um ihrer Wärme willen. Es war ‚Das Mitgebrachte‘, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre Tiefe zog. (BK, S. 416)
Die Tiefe des Schrankes birgt die Erfahrung eines Innenraumes, der wiederum auf einen anderen Innenraum verweist. Während das Aussehen beschrieben werden kann, wird die Tiefe, die der Raum verspricht, ertastet. In der Konsequenz der Überlagerung der optischen Erfahrung der Raumtiefe durch die politische und geschichtliche Präfiguration des Horizonts im Tiergartenkapitel liegt es nun, die Tiefendimension, die den Raum grundlegend konstituiert, in der Erfahrungswelt des Kindes haptisch187 zu bestimmen. Im folgenden Prozess der Enthüllung wird aus dem Inneren wieder ein Äußeres, aus dem „Mitgebrachten“ und der „Tasche“ der Gebrauchsgegenstand „Strumpf“. Das Verharren des Kindes auf der Schwelle als symbolischer Ort einer Transformation von Räumen deutet den Übergang von einer taktilen zu einer taktischen Raumerfahrung ebenso an, wie das Verharren auf der Bendlerbrücke 187
Unter dem Stichwort „produktives Missverständnis“ ist in der Forschungsliteratur auf Benjamins Aufladung des ‚taktilen Plans der Dinge‘ durch ‚taktische Besetzung‘ hingewiesen worden (vgl. u.a. Rüffer, U., Taktilität und Nähe). Dabei wurde bisher jedoch nicht der Versuch unternommen, Benjamins Gebrauch der Begriffe ‚taktisch‘ und ‚taktil‘ im Kontext seines Gesamtwerkes zu separieren. In der Berliner Kindheit scheint Benjamin ‚taktil‘ im Sinne von ‚haptisch‘ zu verwenden. Riegls Bestimmung der taktilen Wahrnehmung unterstreicht die Voraussetzung einer notwendigen Dazwischenkunft des subjektiven Denkens (vgl. Riegl, A., Spätrömische Kunstindustrie, S. 28). Die von Benjamin vorzugsweise im Spätwerk verwendete Form des Taktischen als „Chockwirkung“ von Bildern geht von einem anderen Wahrnehmungsbegriff aus, der in Kapitel 2.4. näher erläutert werden soll.
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und ihre Bezeichnung als „Hügelflanke“ im Tiergartenkapitel. Taktik ist der zeitlichen Dimension eines Raumes geschuldet, der nicht mehr auf einen Wahrnehmenden und seine individuelle Lebenszeit ausgerichtet ist. An die Stelle der Zeittrias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die auf das wahrnehmende Subjekt hin perspektiviert ist, tritt die durch nichts mehr vermittelte Gleichzeitigkeit von Ereignissen. Die aktive Erfahrung des Taktilen, die im Begriff des Gebrauchs bereits ihres subjektiven Erfahrungsgehaltes beraubt ist, wandelt sich zu einem taktischen Effekt, von dem der Rezipient als Betrachter betroffen wird.188 Was Benjamin gleichzeitig bildlich vorzuführen versucht, ist der Prozess einer vom Kind vollzogenen Reproduktion, die man auch als „Übung“189 bezeichnen kann. Wiederholbarkeit als Voraussetzung jeder Reproduktion setzt die Verwandlung des Strumpfes in „Tasche“ und „Mitgebrachtes“ voraus. Die kindliche Übung vollzieht sich im Gegensatz zur technischen Reproduktion, Hand und Auge sind gleichermaßen am manuellen Vorgang beteiligt.190 Der optische Eindruck erschöpft sich dabei nicht in der Wiedergabe eines ‚Immergleichen‘, sondern wird zur Anschauung erhoben, die kindliche Übung als Erfahrung der technischen Wiedergabe von Bildwelten entgegengesetzt. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte ‚Das Mitgebrachte‘ herausgeholt, aber ‚Die Tasche‘, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus ‚Der Tasche‘ holte. (BK, S. 417) 188
189
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Wenn Ulrich Rüffer in seinen Ausführungen in Taktilität und Nähe den Begriff des Taktilen bei Benjamin auch genau nachzeichnet, so geht er doch von der Prämisse einer Umfunktionierung des Taktilitätsbegriffes aus, die die inhaltlichen Implikationen der Benjaminschen Riegl-Rezeption eben in ihrer Betonung einer Neubestimmung des modernen Betrachters verfehlt. Benjamin gewinnt den Begriff der Übung im Umfeld seiner Bestimmung der Aura im Baudelaire-Aufsatz. Als Übung bezeichnet er hier den Prozess einer subjektiven Anschauung, der, als Äquivalent zur Aura des Gegenstandes, in der Erfahrung mündet. Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 646. Vgl. Benjamin, W., Programm eines proletarischen Kindertheaters, GS II, 2, S. 766.
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Der Vergleich zwischen technischer und vom Kind vollzogener, manueller Reproduktion gewinnt jedoch beiden ein in der Beschreibung selbst liegendes Gemeinsames ab. Benjamins Neubestimmung der ästhetischen Erfahrung manifestiert sich in der Übernahme der medialen Qualität des Angeschauten191 aus dem Prozess der technischen Reproduktion. Denn der Strumpf als Modell des Medialen verallgemeinert als solcher auch die Verwandlung der Räume und der mit ihr verknüpften Erinnerung. Sowohl im Stück Loggien als auch in Der Strumpf werden durch den kindlichen Blick zwei alternative Bildbegriffe vermittelt. Ihre Konstitution aus der unmittelbaren Erlebniswelt des Kindes gibt unter der Voraussetzung der noch nicht ‚geweckten‘ Erinnerung an die Kindheit und dem Verschwinden der „Tasche“ nicht das Bild als Abbild wieder, sondern, in Analogie zur Erfahrung der Räume, den Prozess der Bildwerdung. Hatte sich der Ausblick vom Loggienstandort in seiner Reproduktion auf die Wiedergabe des kindlichen Betrachters bezogen, um im Bild das Porträt zu gestalten, so vermittelt der Einblick in die Kommode eine Transformation des Bildes in Anschauung. Letztere beschreibt im Gegensatz zur noch nicht ‚geweckten‘ Erinnerung das Verschwinden der „Tasche“ nicht als Verlust, sondern als Einsicht in eine höhere Form der Anschauung. In dem Vorgang der Bildwerdung formuliert Benjamin den metaphysischen Gehalt der Wahrnehmung als ihren ästhetischen: Im Mittelpunkt der bildlichen Wiedergabe steht nicht die Nachahmung, sondern die Erkenntnis des historischen Umfeldes der Gegenstände, mit anderen Worten, ihr ‚Gewordensein‘. Benjamins Überleitung zum Selbstverständnis eines gegenwärtigen Autors und Literaturwissenschaftlers, sein Bekenntnis zur Wahrheit eines sprachlichen Kunstwerkes, medialisiert die kindliche Einsicht im Hinblick auf die zukünftige Position eines sich Erinnernden. Wahrheit als konkret sinnliche Erfahrung innerhalb der sinnlich-anschaulichen Erlebniswelt des Kindes, wie sie im TiergartenKapitel am fiktiven Ort des Labyrinthes nachgewiesen werden konnte, wird nun zu einem medialen Gehalt erhoben. Die Feststellung eines Nicht-Erweckten der Kindheit als Nicht-Darstellbares mündet in der Forderung einer konsequenten Neubestimmung des substantiellen Gehaltes von Erfahrung. Denn innerhalb einer medial vermittelten Welt entschlüsselt sich jenes Nicht-Erweckte als letzte Instanz einer inhaltlichen Bedeutung. In der Konsequenz einer solchen Forderung liegt es, 191
Sowohl die bildliche Qualität des Angeschauten als auch die Übertragung der medialen Qualität auf Erfahrungs- und Erinnerungsräume lassen sich nicht mehr auf den romantischen Begriff der Selbstreflexion zurückführen.
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auch die Position eines unabhängigen und autonomen Subjektes mit einzuschließen, wie sie letztendlich dem Autor selbst zukommt. Insofern ist das von Norbert Bolz (unter Berufung auf die durch das Panorama eingeleitete ‚Entrahmungstendenz‘) getroffene Fazit, dass das Sein-im-Bild das hermeneutische Sein-zum-Text verdrängt192, auch auf das Stück Der Strumpf anwendbar. Das taktile Verhältnis des Kindes zur Gegenstandswelt, die von ihm vollzogene subjektive Aufladung der Dinge und nicht zuletzt die nicht abschließbare Aufspaltung der Innen-Räume bilden die individualgeschichtlichen Voraussetzungen einer späteren Existenz als „Physiognomiker der Dingwelt“193 und der mit ihr verbundenen Sammelleidenschaft, die sich als unendliche Reihe von Intimitäten, als Steigerung des Innen194 eines erwachsenen Betrachters beschreiben lässt. Der Sammler bezeichnet jene kulturelle Identität, hinter der sich der Autor selbst im Text der Berliner Kindheit verbirgt.195 Im Kapitel Einblicke wird das Kind mit veränderten Wahrnehmungsweisen und ihren gesellschaftlichen und industriellen Ursachen konfrontiert, die einen Bildbegriff produzieren, der in keinem unmittelbaren Verhältnis zur kindlichen Wahrnehmung steht. Im Stück Tiergarten gelingt es dem Kind zunächst noch, einen anderen Bildraum zu imaginieren, dessen Bildcharakter sich am räumlichen Nebeneinander der Dinge einer antiken Vorwelt orientiert. Im Stück Winterabend zeigt Benjamin die Auswirkungen der technischen Reproduktion auf den kindlichen Blick und das durch ihn vermittelte Modell eines autonomen Betrachters. Die Zerschlagung dieses Modells, die der Wechsel einer visuellen hin zu einer taktilen Wahrnehmung nur verzögert, geht mit der Forderung nach einer konsequenten Neubestimmung des substantiellen Gehaltes von Erfahrung einher. Das Konstruktionsprinzip von Räumen durch die Reproduktion des kindlichen Blickes wird obsolet und damit auch die individuelle Raumerfahrung. Benjamin wechselt vom Raum- zum Zeitbegriff der Erfahrung, der in dem Aufeinanderfolgen von ineinander verschachtelten Räumen gestaltet wird.196 Dem permanenten Verweis auf die Grenzen dieser Räume, der die Konstruktion eines Gesamtraumes als Dar192 193 194
195 196
Vgl. Bolz, N., Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 102. Benjamin, W., Ich packe meine Bibliothek aus, GS IV, 1, S. 389. „Etymologisch gesehen ist die Intimität die ins Äußerste gesteigerte Form des Innen.“ Schneider, M., Die erkaltete Herzensschrift, S. 138. Stüssi, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 209 Zur Folge als Zeitbegriff der Erfahrung vgl. Weber, T., Erfahrung, S. 254.
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stellungsraum nicht mehr zulässt, entspricht ein alternativer Bildbegriff, der nicht das Abbild, sondern den Prozess der Bildwerdung selbst darstellt. Davon betroffen ist auch der Vorgang der Erinnerung, in dem es nicht mehr gelingt, ein Porträt des Kindes zu entwerfen. Analog zur Sedimentierung der Räume wird im Prozess der Erinnerung im Bruchstückhaften, Zufälligen Vergangenes wiederentdeckt. 2.4. Spektakulärer Blick: Unglücksfälle und Verbrechen Bereits mit seiner Überschrift des Stückes Unglücksfälle und Verbrechen knüpft Benjamin sowohl an die Überlegungen Sigmund Freuds zum Bewusstwerden spektakulärer Ereignisse als auch an seine eigene Modifikation einer schockhaften Wahrnehmung an.197 Sigmund Freuds ontologische Fundierung des Schocks im Unfall und in der Katastrophe198 kennzeichnete ein Gebiet, das außerhalb des gewohnten Spektrums von Reizeinwirkungen liegt. Ergänzt werden diese Überlegungen durch die Etymologie des Wortes Unglücksfälle als das Unbestimmbare, Zufällige199, die das sprachliche Äquivalent zu dem tatsächlichen Ursprung von Unglücksfällen und Verbrechen – der Stadt – bilden. Aktualität und Unberechenbarkeit prägen den Begriff des Erlebnisses im Sinne von städtischer Wahrnehmung. Die Stadt versprach sie [Unglücksfälle und Verbrechen, U.B.] mir mit jedem Tag aufs neue und am Abend war sie sie schuldig geblieben. Tauchten sie auf, so waren sie, wenn ich an Ort und Stelle kam, schon wieder fort wie Götter, die nur Augenblicke für die Sterblichen übrig haben. (BK, S. 421)
Indem das Verhältnis des Kindes zur Stadt einen appellativen Charakter erhält, verliert das Kind seine Autonomie als ein Betrachter, der sich ihren normierten Blickvorgaben entziehen konnte. Es tritt in den Bildraum hinein. Mit der kontinuierlichen Erneuerung eines an das Kind gerichteten Versprechens erhebt Benjamin das Exzeptionelle der städtischen Wahrnehmung in den Rang des Alltäglichen; Unglücksfälle und Verbrechen 197 198
199
Vgl. dazu Hillach, A., Erfahrungsverlust und ‚chockförmige Wahrnehmung‘. Freud nahm typische Träume von Unfallneurotikern zum Anlass, um den Schock als Durchbrechung des dem Bewusstsein eigenen Reizschutzes zu definieren. Freud, S., Jenseits des Lustprinzips, S. 241ff. Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 362.
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sind zur Normalität geworden. Es ist dies aber eine nicht sichtbare Normalität, denn dem Ereignis haftet durch die Geschwindigkeit seines Vollzugs nur eine flüchtige Präsenz an. Die sinnesphysiologisch nicht wahrnehmbaren Ereignisse werden im Vergleich mit der Erscheinungsweise von Göttern200 zu übersinnlichen erhöht. Ein ausgeraubtes Schaufenster, das Haus, aus dem man einen Toten getragen hatte, die Stelle auf dem Fahrdamm, wo ein Pferd gestürzt war – ich faßte vor ihnen Fuß, um an dem flüchtigen Hauch, den dies Geschehen zurückgelassen hatte, mich zu sättigen. Da war er auch schon wieder hin – zerstreut und fortgetragen von dem Haufen Neugieriger, die sich in alle Winde verlaufen hatten. (BK, S. 421f.)
Der kindliche Betrachter reagiert auf das Phänomen der Geschwindigkeit201 mit der Herausbildung eines „sensationellen“ Blickes. Dieser Blick richtet sich auf die Ereignisse, für die Unglücksfälle und Verbrechen zur Chiffre werden. Er unterscheidet sich jedoch von der neugierigen Menge durch seinen Anspruch, sich ‚am Hauch zu sättigen‘. Im „Hauch“, der eine nicht zu übersehende Nähe zum Begriff der „Aura“ aufweist, führt Benjamin die übersinnliche Erhöhung des Geschehens weiter aus. Sowohl dem „Hauch“ als auch der „Aura“ liegt der Eindruck von Unnahbarkeit zugrunde, den Benjamin in der Begriffsbestimmung der „Aura“ als die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“202, erfasst. Birgit Recki deutet die „Aura“ als „Hauchkreis, das Atmosphärische oder auch die Lichthülle, mit der etwas als mit dem Abglanz seiner besonderen Machtfülle umgeben und dadurch als Heiliges herausgehoben, d.h. zugleich sichtbar und der Berührung durch das Profane entho200
201
202
Benjamin verweist hier erneut auf die Nähe von Moderne und Antike. Vgl. Benjamin, W., Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, GS I, 2, S. 584f. Um das optische Übergewicht der Wahrnehmung darzustellen, greift Benjamin in Anlehnung an Georg Simmels Aufsatzsammlung Mélanges de philosophie rélativiste, die er in seinem Baudelaire-Essay zitiert, auf moderne Verkehrsmittel zurück. Vgl. Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 649. Detlev Schöttker konstatiert, dass Benjamin über Simmel hinausgegangen sei, da er für die urbanen Wahrnehmungsformen Entsprechungen im Arbeitsund Freizeitbereich nachgewiesen habe. Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 266. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 355.
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ben ist“203. Indem jedoch als Heiliges das Unheilvolle204 herausgehoben wird, findet im „Hauch“ eine negative Umdeutung des Aurabegriffes statt. Konsequenterweise hat die Bestimmung der Unnahbarkeit ihr Negativ im Sensationsbedürfnis der Menge, das sich als Ausdruck einer absoluten Nähe205 entschlüsselt. Diese Umdeutung ist jedoch von der These eines Verlustes der Aura, wie sie Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz formuliert, verschieden.206 Zwar entspricht das Wortspiel vom ‚Zerstreuen des Hauchs von dem Haufen Neugieriger‘ Benjamins Feststellung der Ablösung einer kontemplativen Rezeption durch eine zerstreute207, jedoch bedeutet das ‚sich am Hauch sättigen‘ des Kindes ebenso einen kontemplativen Vorgang. Denn anders als die schaulustige Menge versucht das Kind, mittels eines sensationellen Blickes das unmittelbar nicht fassbare Geschehen in sein individuelles Empfindungsspektrum einzuholen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde der kindliche Blick dem panoramatischen Blick in der Wahrnehmung der Stadt gegenübergestellt. Dem entsprach die Auflösung eines perspektivischen Raummodells und der Nachweis eines entgrenzten Horizonts. Mit dem sensationellen Blick beschreibt Benjamin eine neue, psychische Qualität der Wahrnehmung, die in der Bedeutungswandlung des Wortes Sensation208 von einer Empfindung hin zu einem aufsehenerregenden Ereignis zum Ausdruck kommt. Freud charakterisiert die Empfindung als Bewusstwerden von Lust und Unlust, die nur aus dem Inneren des seelischen Apparates stammen können.209 Die Schaulust des Kindes in der Darstellung Benja203 204
205
206 207 208
209
Recki, B., Aura und Autonomieverlust, S. 17. ‚Heilig‘ und ‚Heil‘ lassen sich auf einen gemeinsamen etymologischen Ursprung zurückführen, der in der Folge einen solchen Vergleich erlaubt. Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch, S. 402. „Die Dinge sich ‚näherzubringen‘ ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion darstellt.“ Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 355. Ebd. Ebd., S. 381. Das Wort ‚Sensation‘ wurde im 18. Jahrhundert in der Bedeutung ‚Empfindung‘ aus dem Französischen entlehnt. Dass sich der Bedeutungswandel im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog, stützt meine These. Grimm, J. und Grimm, W., Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, S. 604. Freud, S., Jenseits des Lustprinzips, S. 234.
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mins entspricht einem Schauwert des Ereignisses, der Alltag von Unglücksfällen und Verbrechen erhält für das Bewusstsein einen normativen Charakter. Daraus resultiert eine Wahrnehmung, in der die individuelle Empfindung, die im Moment des Schocks noch angedeutet bleibt, dem Ereignis als objektive Eigenschaft zuteil wird. Im Unterschied zu Freud210 lässt sich das Sensationsbedürfnis des Kindes nicht primär aus einem individuellen Lustgewinn ableiten, sondern geht auf den sensationellen Charakter zurück, der dem Ereignis zugesprochen wird. Das Ereignis erhält seine Bestimmung nicht aus einer funktionellen Besetzung, die in der kindlichen Psyche mit seiner Wahrnehmung ausgelöst wird, sondern aufgrund seiner räumlichen Lage. Der kindlichen Wahrnehmung obliegt es in diesem Prozess lediglich, den Schauwert des Ereignisses zu vermitteln. Dabei wird das Kind durch die Ausbildung einer Erwartungshaltung determiniert. Diese steht der Umwandlung des wahrgenommenen Geschehens in körpereigene Energien im Wege. Benjamin selbst belegt diese Feststellung in der Unterscheidung zwischen „Erfahrung“ und „Erlebnis“ im Baudelaire-Aufsatz: Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses.211
Das als Schockmoment ausgewiesene Erlebnis kann von einem hochreflexiven Bewusstsein nur im exakten Zeitwert seines Vorfalls registriert werden. Eine solcherart vom Inhalt des Erlebten abstrahierende Wahrnehmungsstruktur beinhaltet den Verlust der Erfahrung, der seine Entsprechung im Verlust der „Aura“ findet. Die negative Umdeutung der „Aura“ als „Hauch“ macht aus dem Subjekt des Geschehens das Objekt einer sensationellen Anschauung. Wenn die Erfahrung durch den Erlebniswert des Geschehens substituiert wird, dann setzt dieser Prozess jedoch die Möglichkeit von Erfahrung voraus. Den „Hauch“ des Geschehens wahrzunehmen, ist eine Eigenschaft, die nur dem kindlichen Betrachter vorbehalten ist. Benjamin belegt im Begriff des „Hauches“ das Geschehen mit einer Eigenschaft, die vormals als sinnesphysiologische Rezeption den Bereich der kindlichen Erfahrung prägte. Da diese jedoch innerhalb einer schockhaften Wahrnehmung ausfällt, lässt sich 210 211
Ebd. Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 615.
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der „Hauch“ nur als mnemotechnisches Rudiment kindlicher Erfahrung entschlüsseln. Benjamin entgeht dem erkenntnistheoretischen Dilemma der Psychoanalyse, die zwischen psychischer und materieller Realität nicht unterscheiden kann212, indem er von einem ursprünglichen Erfahrungsvermögen des Kindes ausgeht, das an seine unmittelbare Mitteilbarkeit im Namen oder im Bild gebunden ist.213 Das Kind lässt sich demnach nicht einfügen in eine Beobachtertradition im Sinne einer Dichotomie von Subjekt und Objekt, da der Vorgang der adamitischen Namensgebung im Namen beide ungeschieden voneinander bezeichnet. War jedoch dem Kind im Kapitel Die Siegessäule noch die Fähigkeit zu eigen, eine subjektive Aufladung der Dinge im Sinne ihrer Erfahrbarkeit mittels seines Erinnerungsvermögens zu rekonstruieren, so betrifft das im Dienste der Schockabwehr erforderliche Höchstmaß an Bewusstheit auch den Ausschluss der kindlichen Erinnerung. So ist es auch erklärbar, dass Benjamin im weiteren Verlauf der Handlung die unbewusste Erinnerung einführt: Und ist es wunderbar, daß, als nun endlich Unglück und Verbrechen zur Stelle waren, dieses Erlebnis alles um sich her – ja auch die Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit – zunichte machte? So weiß ich nicht mehr, ob es einem Traum entstammt oder nur vielfach in ihm wiederkehrte. In jedem Fall war es im Augenblick bei der Berührung mit der ‚Kette‘ gegenwärtig […]. Und in der Mitte dieser Ängste dehnt sich endlos wie die Höllenqual das Schrecknis, das offenbar nur eingetreten war, weil nicht die Kette vorlag. (BK, S. 423)
Ähnlich wie bei Marcel Proust ist die unbewusste Erinnerung an eine Gliedmaße gebunden. Sie ruft ein Ereignis auf, das der Schreck auslöst, „in den man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein“214. Wie ist es nun aber zu verstehen, dass die unbewusste Erinnerung ein schockauslösendes Erlebnis aufruft, das gleichzeitig auf nahezu paradoxe Weise die Erfüllung des kindlichen Wunsches nach einem Unglück bedeutet? Für eine Beantwortung dieser Frage unter besonderer Berücksichtigung ihrer gestalterischen Konsequenz ist die Untersuchung der Raum- und Zeitkonzeption dieses Kapitels aufschlussreich. Benja212 213
214
Lüdemann, S., Mythos und Selbstdarstellung, S. 153. Vgl. Benjamin, W., Über Sprache und über die Sprache des Menschen überhaupt, GS II, 1, S. 140ff. Freud, S., Jenseits des Lustprinzips, S. 223.
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mins Hinweis über eine lediglich zeitliche Registratur der schockhaften Wahrnehmung findet seine Entsprechung auf der zeitlichen Ebene, die das Unglück verheißt; im ebenso plötzlichen und unerwarteten Ausbruch aus einer dauerhaften, sich stetig selbst wiederholenden Zeit.215 Jean Laplanche sieht in seinem Aufsatz Menschendasein und Zeit Freuds Verdienst darin, die Zeitlichkeit (als Bestimmung der Zeit, die, an ein Subjekt gebunden, von der kosmologischen Zeit im weitesten Sinne losgekoppelt ist216) mit der Wahrnehmung und deren rhythmischer Natur in Beziehung zu bringen.217 Dem entspricht jene Raumkonzeption, die Albrecht Koschorke im Hinblick auf die Entdeckung des Horizontes geltend macht; an die Stelle der Konstellation zwischen irdischem, körperbezogenem Raum und überirdischer Unräumlichkeit rückt das empirische Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Ferne.218 Bei Benjamin ist in der periodischen Wiederkehr der Ereignisse, die im Traum auftreten, ein solcher Zeitrhythmus angekündigt. Den eigentlichen Ereignissen innerhalb der Großstadt haftet jedoch die Signatur einer uneinholbaren Geschwindigkeit an, die sowohl zeitlich als auch räumlich das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Ferne auslöscht. Für die Vorstellung des Raumes bedeutet dies die Auflösung seiner Tiefendimension. Dem entspricht der kindliche Versuch, sich nicht wie bisher den Gegenständen anzuverwandeln, sondern die Geschwindigkeit nachzuahmen. Während das Kind von Tatort zu Tatort eilt, bezieht es immer mehr Räume in seine flüchtige Wahrnehmung ein. Auf der gestalterischen Ebene lösen Bilderfolgen den Handlungsraum ab. Den Ausfall einer zeitlich bedeutenden Progression beschreibt Benjamin im Passagen-Werk als Ausfall des Werdens, das dialektisch in Sensation und Tradition zersetzt wird.219 Die Dialektik von Sensation und Tradition verschlüsselt auf einer zeitlichen Ebene, was Benjamin
215
216 217 218 219
Der plötzliche Ausbruch aus einer stetigen, kontinuierlichen Zeit schließt sich eng an die Vorstellung eines plötzlichen Einbruchs einer messianischen Zeit an. Der Anspruch aus einer Welt erlöst zu werden, für die „Unglücksfälle und Verbrechen“ normativen Charakter haben, ist offensichtlich. Zur messianischen Erlösung vgl. Scholem, G., Judaica I, S. 25. Laplanche, J., Menschendasein und Zeit, S. 25. Ebd., S. 42. Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts, S. 58. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 2, S. 1022.
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auf der stofflichen in der ‚Dialektik des Neuen und Immergleichen‘220 erläutert hat. Die Bestimmung des Werdens steht für den antizipatorischen Aspekt eines zeitlichen Kontinuums ein. Das Zunichtemachen des Werdens wirkt sich auch auf sein dialektisches Gegenstück, die Erinnerung, aus. Die Veränderung der kindlichen Erfahrung entspricht der Wahrnehmung eines sich permanent verändernden Bildraumes. In der Herausbildung eines spektakulären Blickes liegt der Versuch, dem flüchtigen Wechsel der Bilder zu folgen. Auf der gestalterischen Ebene findet so ein Bedeutungswandel des symbolisch aufgeladenen Bildraumes statt. Es ist nicht länger seine Tiefendimension, durch deren Ausloten sich der Bildinhalt erschließt, sondern die transitive Folge wechselnder Bilder, in der sich die Bedeutung als relationale konstituiert.221 Benjamin schildert so die kindliche Wahrnehmung als exakte Entsprechung des neuen Mediums Film, der Optik und Kinematik zu einer bewegten Bilderfolge synthetisiert: Kaum hat er [der Betrachter, U.B.] sie [die Filmaufnahme, U.B.] ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden, weder wie ein Gemälde noch wie etwas Wirkliches. Der Assoziationsablauf dessen, der sie betrachtet, wird sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will. Der Film ist die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform.222
Es gilt hier jedoch auch auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den technisch produzierten und reproduzierten Bildwelten und den Bil220
221
222
Benjamin, W., Brief an Theodor W. Adorno vom 9.12.1938, in: Benjamin, W., Briefe, IV, S. 183. Den Zusammenhang einer solchen Wahrnehmung mit der kapitalistischen Produktionsweise stellt Thomas Kleinspehn u.a. in seinem Buch Der flüchtige Blick dar. Als Zirkulationssysteme bekommen Raum und Zeit eine neue Bedeutung zugesprochen. Darüber hinaus schlägt sich ihre Veränderung auch in den Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstrukturen nieder. Es entsteht der ‚industrielle Blick‘, der den Raum unter seiner zeitlichen Abfolge, d.h. der Geschwindigkeit seiner Durchquerung fasst. Kleinspehn, T., Der flüchtige Blick, S. 243. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I, 2, S. 464.
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derfolgen, die der kindliche Blick wahrnimmt, hinzuweisen. Denn während dem bewegten kindlichen Blick im Wechsel der Bilderfolgen eine rhythmische Raum- und Zeitperzeption entspricht, die die Erfahrung als räumliches und zeitliches Kontinuum ablöst, konstruiert und koordiniert der Film als technische Apparatur Raum und Zeit. Abweichend von Freud prononciert Benjamin die schockartige und fragmentarische Form der unbewussten Wahrnehmung auf der Ebene der bewussten Wahrnehmung. In der Konsequenz dieser Überlegung fordert er im Kunstwerk-Aufsatz deren gestalterische Umsetzung, die er in der schockhaften Wirkung als Charakteristikum der neuen Medien bereits formal verwirklicht sieht. Da dem Schock innerhalb der modernen Wahrnehmung eine Schlüsselfunktion zukommt, ist sein Auftreten untrennbar verbunden – und das belegt Benjamin gerade durch seinen Kunstwerk-Aufsatz – mit der Einlösung neuer Kunstformen, die, sowohl von einem neuen Stand der Technik als auch von gesellschaftlichen Veränderungen ausgehend, eine Überwindung traditioneller Darstellungsweisen bedingen.223 In seinem Stück Unglücksfälle und Verbrechen deutet sich ein solcher gestalterischer Paradigmenwechsel zunächst in der Form an, dass Benjamin über die Beschreibung des kindlichen Blickes in der Überlagerung und im Nebeneinanderstellen von Bildräumen die Autonomie des einen Bildraumes zerstört. Dabei wird die Bewegung – im Gegensatz zu den unter Ausblicke und Einblicke behandelten Wahrnehmungsweisen – zum grundlegenden Moment. Das Aneinanderreihen und die Superposition von Bilderfolgen als gestalterische Grundlage dieses Kapitels versuchen so, mit der simultanen Wahrnehmung innerhalb des großstädtischen Raumes Schritt zu halten. Auf der Ebene der Erinnerung entspricht dem Ausfall eines räumlichen und zeitlichen Kontinuums die gestalterische Umsetzung der Theorie der ‚mémoire involontaire‘. Mit ihrer Hilfe wird das Erinnerte zur Gegenwart.224 In den vorangegangenen Kapiteln konnte gezeigt werden, dass das Kind durch seinen Tastsinn die Gegenstandswelt und ihre räumlichen Begrenzungen unmittelbar erfährt. Dabei wurde ein Raum-Zeit-Kontinuum entweder imaginiert, erinnert oder rekonstruiert. Aufgrund einer räumlichen und zeitlichen Diskontinuität offenbart sich im ‚Berühren der Kette‘ die zeitliche Trennung der ursprünglichen Einheit von Wahr223 224
Ebd., S. 461. Vgl. Weber, T., Erfahrung, S. 239.
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nehmung und Erfahrung. Der Vorgang der ‚mémoire involontaire‘ wird so zu einer Größe, die Erfahrung vermittelt, unter der Voraussetzung eines die gegenwärtige Wahrnehmung betreffenden Verlustes von Erfahrung. Im Rahmen der Schock-Rezeption im Sinne einer modernen Wahrnehmungstheorie Benjamins stellt sich die unwillkürliche Erinnerung als Korrektiv dar, das den Erfahrungsverlust auszugleichen versucht.
2.5. Entgrenzter Blick 2.5.1. Entgrenzte Zeit: Das Telefon Es ist kein Zufall, dass Benjamin in der chronologischen Anordnung der Texte der Berliner Kindheit das Stück Das Telefon auf Die Siegessäule folgen lässt. Die Siegessäule stand für ein optisches Massenmedium (Aussichtsturm) und für eine Kultstätte nationaler Erinnerung (Denkmal) ein. An der Funktion und Bedeutung des Aussichtsturmes konnte eine Annullierung der Ferne nachgewiesen werden. Sie bezog sich sowohl auf seine räumliche Komponente – die Verabsolutierung des Bildraumes – als auch auf seine zeitliche – die Historisierung der Erinnerung. Benjamin analogisiert diesen Vorgang mit der Zertrümmerung der „Aura“. Der Wegfall der „Aura“ als Spannungsmoment zwischen einem Hier und Jetzt225 sowie einer empirischen Ferne und einem geschichtlichen Ausblick226 entzieht sowohl der Erfahrung als auch der Beobachtung ihren Gegenstand, indem er eine vermittelnde Beziehung zwischen Erfahrendem und Gegenstand seiner Erfahrung einerseits sowie Beobachtendem und Gegenstand seiner Beobachtung andererseits leugnet. Zum Wesen der Beobachtung stellt Benjamin in seiner Dissertation227 fest, es sei „die aufkeimende Selbsterkenntnis im Gegenstand […] oder vielmehr, sie, die Beobachtung ist das aufkommende Gegenstandsbewußtsein selbst“228. 225
226
227
228
Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS I, 2, S. 489. Empirische Ferne und geschichtlicher Ausblick beziehen sich auf Benjamins Unterscheidung einer Aura von geschichtlichen und einer Aura von natürlichen Gegenständen. Ebd., S. 479. In dem Fragment Zur Erfahrung greift Benjamin auf die Begriffsbestimmung der Beobachtung zurück, die er in seiner Dissertation formuliert hatte. Benjamin, W., Zur Erfahrung, GS VI, S. 89. Benjamin, W., Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I, 1, S. 61.
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Die Erkenntnis des Gegenstandes entspricht demnach der Selbsterkenntnis. Die Beschränkung der Dinge auf ihre bloße Präsenz bedeutet nicht nur die Unmöglichkeit, sie zu erfahren, sondern auch die, sich selbst zu erfahren. In dem Stück Das Telefon führt Benjamin den Apparat als Zwillingsbruder des Kindes vor: „Auf Tag und Stunde war das Telefon mein Zwillingsbruder.“ (BK, S. 390) Mit der Bezeichnung des akustischen Mediums als Zwillingsbruder wird der Raum unterteilt und zwar, so scheint es, in den sichtbaren Bereich, den die körperliche Präsenz eines erzählten Ich markiert, und den nicht sichtbaren, nur von der Stimme des Bruders ausgefüllten Bereich. Die Gestalt des Bruders bleibt durch die Nacht und den finsteren Korridor (‚finstre Schlauch‘, BK, S. 391) verhüllt. „Es mag am Bau der Apparate oder der Erinnerung liegen – gewiß ist, daß im Nachhall die Geräusche der ersten Telefongespräche mir anders in den Ohren liegen als die heutigen. Es waren Nachtgeräusche. Keine Muse vermeldet sie.“ (BK, S. 390) Manfred Schneider hat auf die vierfache Relation von Kind und Telefon hingewiesen, die neben der Similarität auch Kontemporaneität, eine Verstärkung der Stimme und die Bedeutung des Telefons als Reflexionsmedium umfasst. Dabei thematisiert die Metapher des Zwillingsbruders zugleich das Problem der Bezeichnung, Doublierung, Semiotisierung und Medialisierung des Ich.229 Zwei wichtige Aspekte lässt Schneider jedoch außer Acht. Zum einen macht er nicht deutlich, dass die fehlende Ankündigung der ersten Telefongespräche durch eine Muse auf die Geschichtslosigkeit ihrer Geräusche verweist. Benjamin sieht somit nicht nur „in der neugeborenen Stimme, die in den Apparaten schlummerte“ (BK, S. 390), eine neue akustische Qualität, sondern er unterstreicht damit auch, dass sie sich der Ästhetik einer traditionellen künstlerischen Darstellung entziehen, denn als deren Schutzgöttinnen stellen sich die Musen dar.230 Zum anderen berücksich229 230
Schneider, M., Die erkaltete Herzensschrift, S. 108. Dass Benjamin sich auch darin von modernen Medientheorien, wie etwa der von Friedrich Kittler unterscheidet, verdeutlicht der folgende Satz Kittlers: „Medien definieren, was wirklich ist, über Ästhetik sind sie immer schon hinaus“ (Kittler, F., Grammophon, Film, Typewriter, S. 10). Nach Kittler ist die Wirklichkeit nicht mehr eine Frage der Wahrnehmung im eigentlichen Sinne, sondern nur noch eine Frage der Produktion von Darstellungen. In Benjamins Stück besitzt jedoch auch das Telefon einen Zwillingsbruder. Die Frage der Wirklichkeit stellt sich somit bei Benjamin sowohl als Frage nach der Wahrnehmung als auch nach ihrer Darstellung.
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tigt er nicht, dass die Metapher des Zwillingsbruders zwar eine Verdoppelung des Ich provoziert, befragt man sie jedoch nach ihrer materiellen Substanz, so findet man nur den Verweis auf die Nacht („Die Nacht, aus der sie [die Geräusche, U.B.] kamen“, BK, S. 390), d.h. das Ununterscheidbare, nicht Sehbare schlechthin. Dieser Verweis entspricht einer tatsächlichen Verdoppelung des Ich nur dann, wenn man das Ich als perspektivische und transzendentale Blindstelle in einem durch die Omnipräsenz des Sehens entgrenzten Bildraum auffasst.231 Ein solcherart entsubjektiviertes Ich ist letztlich nur als Instanz seiner Vermittlung vorstellbar – auch der Zwillingsbruder, das Telefon, ist ein allerdings akustisches Medium. Im Stück Das Telefon konstituiert der Bezug zum Akustischen die Bedeutungsebene. Nicht nur dem Erwachsenen gelingt es erst durch die Einführung eines Zwillingsbruders, sich an die gemeinsame Kindheit zu erinnern, auch der Vorgang der Erinnerung selbst wird erst bedeutsam in seinem Bezug auf eine akustische Qualität, die Benjamin durch die metaphorische Ersetzung der Erinnerung durch den ‚Nachhall der Geräusche‘ herstellt. Angesichts einer Verdoppelung des Erzähler-Ichs stellt sich die Frage, inwieweit darin der Versuch begründet liegt, den innerhalb eines absoluten Bildraumes verloren gegangenen symbolischen Bezug auf das Andere, das letztendlich als Gegenüber die Erfahrung des Selbst verbürgt, gerade durch diese Verdoppelung wiederherzustellen. Ich durfte erleben, wie es [das Telefon, U.B.] die Erniedrigungen seiner Erstlingsjahre im Rücken ließ. Denn als Lüster, Ofenschirm und Zimmerpalme, Konsole, Gueridon und Erkerbrüstung, die damals in den Vorderzimmern prangten, schon längst verdorben und gestorben waren, hielt […] den dunklen Korridor im Rücken lassend, der Apparat den königlichen Einzug in die gelichteten und helleren, nun von einem jüngeren Geschlecht bewohnten Räume. (BK, S. 390f.)
Bildet die Deutung von Räumen im weitesten Sinne den Erfahrungshorizont des Kindes, so bedeutet der ‚königliche Einzug des Telefons‘ eine verändernde und veränderte Ordnung des wahrnehmbaren Raumes. Diese Veränderung vollzieht sich in seinem äußeren Erscheinungsbild vom bürgerlichen Salon, für den ‚Lüster, Ofenschirm und Zimmerpalme‘ stellvertretend genannt werden, hin zu einem ‚gelichteten und helleren‘, den Benjamin als „Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und 231
Vgl. Koschorke, A., Geschichte des Horizonts, S. 162.
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Wellen von Licht und Luft“232 beschreibt. Da das Telefon selbst jedoch Medium, d.h. Vermittlungsapparat von elektroakustischen Signalen ist, mediiert es in einem übertragenen Sinne nicht nur diese Signale, sondern auch die Transparenz der Räume. Winfried Menninghaus hat auf die besondere Bedeutung des Mediums als vermittelndes „Zwischen“ hingewiesen. Demnach vermittele das Medium nicht nur zwischen zwei vorausgesetzten Extremen, sondern es produziere zuallererst, was es scheinbar nur überträgt.233 Die Vorstellung, das Ich als bildlose Vermittlung in einem absoluten Bildraum zu begreifen, bestätigt Menninghaus‘ These insofern, als das betrachtende Ich diesen Bildraum als absoluten erst konstruiert. Wie ist es aber zu verstehen, dass sich das Telefon als Zwillingsbruder durch den Zusatz ‚Hoffnung zu sein‘ (BK, S. 391) nicht in der Position eines Vermittlers erschöpft, die die Produktion eines Mittelbaren voraussetzt? Eine Antwort auf diese Frage liegt sowohl in dem unterschiedlichen zeitlichen als auch räumlichen Bezug und der durch diese Bezüge vermittelten Erfahrungen, die den unterschiedlichen Konnotationen des Telefons im Text vorausgehen. Es handelt sich zum einen um den gegenwärtigen Bericht eines gegenwärtigen Autors, für den das Telefon zur ‚Hoffnung‘ wird (BK, S. 391). Zum anderen handelt es sich um die kindliche Wahrnehmung des Telefons. In der Erlebniswelt des Kindes ist der Apparat mit ‚Schrecken‘ (BK, S. 391) und dem Gefühl einer evozierten Selbstaufgabe besetzt: Wenn ich dann, meiner Sinne mit Mühe mächtig, nach langem Tasten durch den finstern Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. (BK, S. 391)
Der erinnerte kindliche Eindruck gibt das Ausgeliefertsein an die Stimme als Ende eines Prozesses von Entgrenzungserscheinungen wieder. Im dunklen Korridor, dessen Bedrohlichkeit das Läuten des Telefons ‚vervielfachte‘ (BK, S. 391), erlebt das Kind die Unzulänglichkeit seiner Wahrnehmung. Sowohl optischer als auch haptischer Sinn versagen bei der Exploration des dunklen Raumes. Der nicht einsehbare Korridor entzieht sich einer Wahrnehmung als Bildraum. Durch die Traditionslo232 233
Benjamin, W., Die Wiederkehr des Flaneurs, GS III, S. 197. Menninghaus, W., Schwellenkunde, S. 55.
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sigkeit des akustischen Signals („Nachtgeräusche“) bleibt es dem Kind verwehrt, dieses in einen anderen Zusammenhang zu imaginieren, der seine Erfahrbarkeit ermöglicht.234 Lediglich das Läuten des Telefons und die Stimme am anderen Ende des Apparates bieten eine minimale Orientierung. Durch ihre Übertragung ist die Stimme nicht mehr an das Hier und Jetzt ihres leibhaftigen Trägers gebunden. Sie wird zum Ausdruck einer Annullierung des Raumes und einer Verkürzung der Zeit. In Analogie zur Zertrümmerung der „Aura“ bedeutet die Flüchtigkeit der vermittelten Stimme sowohl die Auflösung einer individuellen Zeit des Kindes als auch die seines Erfahrungsraumes: „Ohnmächtig litt ich, daß sie mir die Besinnung auf meine Zeit, meinen Vorsatz und meine Pflicht zunichte machte; und wie das Medium der Stimme […] folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telefon an mich erging“ (BK, S. 391). Die „Besinnung“ ist als reflexives Moment der sinnlichen Wahrnehmung auf die Konstitution eines individuellen Raum-ZeitKontinuums ausgerichtet. Innerhalb des Kontinuums vollzieht sich der wechselseitige Prozess von kindlicher Wahrnehmung und Erfahrung. Im indirekten Vergleich mit dem Telefon wird dem Kind selbst ein „apparativer“ Charakter zugesprochen. Der Entgrenzung des Bildraumes entspricht eine ‚Entgrenzung‘ seines Betrachters, insofern dieser Betrachter nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu erfahren. Damit geht die Konfrontation des Kindes mit dem Vergessen einher, denn die entkörperlichte Stimme ist eine Umschreibung der „vergessensten Fremde, die der eigene Körper ist“235. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie eine solche Lesart mit der positiven Konnotation des Telefons als Hoffnungsträger zu vereinen ist. Einer solchen Fragestellung muss die Einheit von Erinnerung und Hoffnung vorangestellt werden, die Benjamin im Zuge seiner Theorie der Erfahrung (wie er sie in seinem Erzähler-Aufsatz formuliert) von Georg Lukács übernimmt.236 Der Verlust der transzendentalen Heimat, so Lukács, erhebt die Zeit zu einem konstitutiven Faktor des epischen Geschehens. Erinnerung und Hoffnung sind für Lukács echte Zeiterlebnisse, da in 234
235 236
Die Vereinzelung wird allerdings auf der Ebene der poetischen Reflexion, die der sich erinnernde Erwachsene vollzieht, aufgehoben durch den intertextuellen Bezug auf das Gedicht Nachtgeräusche von Conrad Ferdinand Meyer. Meyer, C.F., Gedichte, S. 26. Benjamin, W., Franz Kafka, GS II, 2, S. 431. Benjamin, W., Der Erzähler, GS II, 2, S. 454f.
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der Erinnerung die erlebte Einheit von Persönlichkeit und Welt aufdämmert. In Form von Ahnung und Forderung liegt der Hoffnung dieses auch als Heimkehr des Subjekts zu sich selbst bezeichnete Erleben zugrunde.237 Das Telefon als Hoffnungsträger weist auf einen Zeitraum hin, der sich zwischen erinnerter, vergangener Welt und erhoffter, zukünftiger erstreckt. Diese zeitliche Kontinuität ist insofern von Bedeutung, da sie das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst ausdrückt. Der Verlust der „Aura“ schließt den Ausfall der selbstbezüglichen Nähe eines Subjekts in der Gegenwart mit ein. Ihm wurde er [der Telefonapparat, U.B.] der Trost der Einsamkeit. Den Hoffnungslosen, die diese schlechte Welt verlassen wollten, blinkte er mit dem Licht der letzten Hoffnung. Mit den Verlaßnen teilte er ihr Bett. Die schrille Stimme, die ihm im Exil geeignet hatte, klang nun, wo alles auf seinen Anruf wartete, abgedämpft. (BK, S. 391)
Diesem Bericht geht ein Standortwechsel des Telefons voraus, aus dem dunklen, uneinsehbaren Korridor wechselt der Apparat in die Vorderzimmer. Seine dortige Lage nivelliert den Versuch einer Grenzziehung zwischen sichtbarem und nicht sichtbarem Bereich. Mit der Dunkelheit veranschaulicht Benjamin die Erfahrung einer entkonturierten Räumlichkeit als Ausfall der Selbstwahrnehmung. Wenn das Kind im Telefon einen Erfahrungsverlust erlebt, so umfasst dieser Verlust auch sein Vermögen, mit den Objekten seiner Umwelt in ein subjektives Verhältnis treten zu können. Die ‚Einsamkeit eines jüngeren Geschlechts‘ (BK, S. 391) schildert den Zustand einer Beziehungslosigkeit als Folge des kindlichen Verlustes von Erfahrung. „Die Nacht, aus der sie [die Geräusche, U.B.] kamen“ (BK, S. 390), weissagt die Singularisierung dieses Geschlechts. „Trost“ bietet der Zwillingsbruder durch den gemeinsamen zeitlichen und geschichtlichen Ursprung, der gerade in der Vereinzelung – als zeitgeschichtliches Phänomen, das als Begleiterscheinung einer durchtechnisierten und rationalen Dingwelt auftritt – das Gemeinsame bedeutet. In der Darstellung eines ‚mit dem letzten Licht der Hoffnung blinkenden Apparates‘ wird dessen optisch-wahrnehmbare Gestalt zu einer auratischen Erscheinung erhöht. Durch den Glanz des Telefons (‚das Licht‘) findet eine Sakralisierung der Hoffnung statt, sie wird zu einer religiösen Hoffnung auf Erlösung. Als Erlösung in einem profanen Sinne beschreibt Benjamin den „Anruf“. Sprache, als deren Vermittler 237
Lukács, G., Die Theorie des Romans, S. 108ff.
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das Telefon auftritt, bedeutet Kommunikation, bedeutet das Miteinander-in-Beziehung-Treten von Personen. Erfahrung war der Verlust, der dem subjektiven Zustand vorausging, der das Telefon zum Gegenstand einer letzten Hoffnung bestimmt. Wenn der Anruf diese Hoffnung einlöst, muss die Erfahrung auch auf der stimmhaft/sprachlichen Ebene verifizierbar sein. Dem Zusammenhang von Erfahrung und Sprache hat Benjamin seinen Aufsatz Über das mimetische Vermögen238 gewidmet. Ihm geht die Begriffsbestimmung der Erfahrung als „gelebte Ähnlichkeit“ voraus.239 Die Metapher des Zwillingsbruders substituiert die Ähnlichkeit zwischen Telefon und Erzähler-Ich. Diese kann aufgrund der Erscheinungsweise des Telefons nur akustisch sein. Indem Benjamin das Läuten des Telefons als „Stimme“ personifiziert, schafft er die Möglichkeiten, die medialen Qualitäten der menschlichen Stimme und des Telefons miteinander zu vergleichen. Zwar verweist er damit auf einen Zustand von Erfahrungslosigkeit (der, wie oben bereits gezeigt wurde, im Angleichen, d.h. in einer Analogisierung von medial vermittelter Welt und medialem Ich besteht), gleichzeitig gestaltet er aber im Akt des Benennens von Apparat und Stimme eine Möglichkeit von Erfahrung. Diese geht jedoch über den einmaligen Akt des Benennens hinaus, wenn man Benjamins Bestimmung einer unsinnlichen Ähnlichkeit und ihres Verhältnisses zur Sprache als allgemeinen Bezugsrahmen dem Verhältnis von Telefon und Erzähler-Ich voranstellt: Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie soweit gelangten, die der Magie zu liquidieren.240
Benjamin hat in diesem Aufsatz die Frage gestellt, ob ein zeitgeschichtlicher Verfall des mimetischen Vermögens oder dessen Transformierung nachzuweisen wäre.241 Selbige als magische Korrespondenzen und Analogien zu bezeichnen, geht seiner Begriffsfindung der unsinnlichen Ähnlichkeit voraus. Unsinnlich ähnlich in Bezug auf ein gemeinsames Bedeutetes sind auch Telefon und Erzähler-Ich. Benjamin hat den Begriff der 238 239 240 241
Benjamin, W., Über das mimetische Vermögen, GS II, 1, S. 210ff. Benjamin, W., Zur Erfahrung, GS VI, S. 88. Benjamin, W., Über das mimetische Vermögen, GS II, 1, S. 213. Ebd., S. 211.
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unsinnlichen Ähnlichkeit zur Bezeichnung des onomatopoetischen Charakters der Sprache geprägt.242 Das Telefon in seiner auratischen Erscheinungsweise provoziert eine symbolische Deutung als Lautsymbol.243 Dabei entspricht den mimetischen, der phonetischen Gestalt der Stimme zusätzlich eingeschriebenen Erscheinungsformen die Sprache selbst. Benjamins Bestimmung des Symbols als „Einheit von Sinnlichem und Übersinnlichem“244 stellt das Telefon in seiner profanen Hoffnung auf die Vermittlung von akustischem Signal (im Sinne zwischenmenschlicher Kommunikation) und religiöser Hoffnung auf die Mitteilung des sprachlichen Wesens der Dinge245 dar. Die Sprache, und darin liegt der wesentliche Unterschied zur medialen Qualität des Blicks, besitzt selbst in ihren tiefsten Entstellungen ein symbolisches Moment, für das die Hoffnung zum Zeichen wird. Denn im Gegensatz zum Medium der Wahrnehmung – der „Aura“ –, die mit „Geschichte geladen ist“246, verweist die Sprache auf die verlorene Unmittelbarkeit einer göttlichen, ursprünglichen Sprache.247 2.5.2. Entgrenzter Raum: Das Fieber Ging es bisher um die Wahrnehmung von Räumen durch den kindlichen Blick, so wird im Stück Das Fieber das Kind selbst als Raum thematisiert: „Es war, als sei die Krankheit gewohnt, sich zu gedulden, bis ihr vom Arzt Quartier bereitet worden sei. Der kam, besah mich und legte Wert darauf, daß ich das Weitere im Bett erwarte.“ (BK, S. 402f.) Wenn sich bisher das Kind als Beobachter des Raumes seine eigene Perspektive bildete, so tritt nun anstelle der willentlichen und objektiven Anschauung die durch das Fieber verzerrte subjektive Wahrnehmung. Die damit einhergehende räumliche und zeitliche Desorientierung nimmt das ärztliche Gebot, das Bett zu hüten, vorweg. Diese Position führt zu einer Eigenschaft, die im Gegensatz zum plötzlichen Einbruch einer 242 243 244 245
246 247
Ebd., S. 212. Vgl. Kurz, G., Metapher, Allegorie, Symbol, S. 79. Benjamin, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 336. Vgl. Benjamin, W., Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, GS II, 1, S. 142. Benjamin, W., Anmerkungen, GS VII, 2, S. 677. Benjamin, W., Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, GS II, 1, S. 153. Zu Benjamins Sprachtheorie vgl. Menninghaus, W., Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie.
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schockhaften Wahrnehmung steht: „die Neigung, alles, woran mir liegt, von weitem sich mir nahen zu sehen wie meinem Krankenbett die Stunden“ (BK, S. 403).248 Mit dem Warten, als Verstreichen einer gleichförmigen, linearen Zeit, ereignet sich die Überwindung einer räumlichen Distanz. Dabei steht die Freude auf das eintreffende Ereignis in direkter Proportionalität zur räumlichen Entfernung. Benjamin führt so das Spannungsmoment zwischen Nähe, die er als Zuneigung beschreibt, und Ferne, die auf der zeitlichen Ebene im Verstreichen der Stunden, auf der räumlichen in der Überwindung der Entfernung ausgedrückt ist, wieder ein. Dieser Vorgang ist jedoch nicht in den Kontext allgemeiner Wahrnehmungsformen einzubinden, da mit dem zeitlichen Aufschub eine bestimmte Wahrnehmung vom Standpunkt eines individuellen Betrachters erst produziert wird. Aus der Entgrenzung, die das Fieberdelirium provoziert, leitet Benjamin eine Wahrnehmungsweise ab, die den Betrachter aus einem absoluten Bildraum herausstellt, indem sie ein räumliches und zeitliches Kontinuum produziert. Vom Standpunkt des Kindes wird die Krankheit als scheinbares Paradoxon beschrieben; zum einen als räumliche und zeitliche Desorientierung, zum anderen als Vorgang einer Rahmung, die allerdings in ihren einzelnen Erscheinungsweisen unterschiedlich konnotiert und somit als Bildrahmen weder des gesamten Textes noch des einzelnen Stückes verallgemeinert werden kann. Vor dem Hintergrund der Kinderkrankheit findet im Text die Wiedereinführung der Grenze ihre Entsprechung in der Darstellung der Mutter-Kind-Dyade: „Meist machte meine Mutter mir das Bett.“ (BK, S. 404) Der Ort, an dem sich eine Entgrenzung der Wahrnehmung vollzieht, wird durch die Mutter wieder begrenzt. Ein anderes Beispiel für diesen Vorgang findet sich im mütterlichen Fiebermes248
In Goethes Dichtung und Wahrheit findet sich eine ähnliche Stelle: „Alle diese Dinge [Kinderkrankheiten, U.B.] vermehrten meinen Hang zum Nachdenken, und da ich, um das Peinliche der Ungeduld von mir zu entfernen, mich schon öfter im Ausdauern geübt hatte, so schienen mir die Tugenden, welche ich an den Stoikern hatte rühmen hören, höchst nachahmenswert, um so mehr, als durch die christliche Duldungslehre ein Ähnliches empfohlen wurde“ (S. 37). Bei Goethe ist die durch die Krankheit erworbene Eigenschaft in den Kontext eines metaphysischen Sinnzusammenhanges gestellt. Dieser Bezug ist bei Benjamin, wie die vorangegangenen Erläuterungen gezeigt haben, hinfällig geworden. Benjamin kann diese Eigenschaften nur noch als subjektive Erfahrung konstruieren.
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sen: „Wie nah ich ihm [dem Tod, U.B.] gekommen war, das prüfte zweimal am Tage meine Mutter nach. Behutsam ging sie mit dem Thermometer sodann auf Fenster oder Lampe zu und handhabte das schmale Röhrchen so, als sei mein Leben darin eingeschlossen.“ (BK, S. 404) Nicht das Fieberthermometer zeigt den Verlauf der Krankheit an, sondern die Mutter überwacht den Vorgang der Ent- und Begrenzung. Eine weitere Grenzziehung findet sich in der Darstellung häuslicher Intimitäten, in der das Haus als Symbolraum249 wieder eingeführt wird. Diese Behauptung stützt sich zunächst auf die bevorzugte Verwendung des Passivs: Das Kind war gebadet worden, es hatte sein Essen ans Bett bekommen (BK, S. 404). Das Kind verweigert jedoch das Essen, der Teller wird zum Anschauungsobjekt: „Komm nach Osten, komm nach Westen, zu Haus ist’s am besten“ (BK, S. 404). Der Spruch versinnbildlicht die vorher geschilderten Bemühungen häuslicher Krankenpflege; mit dem Haus wird an die Stelle einer direkten Beziehung zum Kind als handelndem Subjekt ein kategorischer Imperativ gesetzt. Die bedeutungsvollste Entsprechung einer Wiedereinführung der Grenze findet sich in den Textstellen, in denen sich das Kind ganz den ihm erzählten Geschichten hingibt: Die starke Strömung, welche sie [die Geschichten, U.B.] erfüllte, ging durch ihn selbst hindurch und schwemmte Krankes wie Treibgut mit sich fort. Schmerz war ein Staudamm, welcher der Erzählung nur anfangs widerstand; er wurde später, wenn sie erstarkt war, unterwühlt und in den Abgrund der Vergessenheit gespült. Das Streicheln bahnte diesem Strom sein Bett. Ich liebte es, denn in der Hand der Mutter rieselten Geschichten, die ich danach von ihr hören durfte. (BK, S. 404)
Der Heilkraft der Erzählung hat Benjamin das Denkbild Erzählung und Heilung gewidmet. Dort erinnert er u.a. an die Merseburger Zaubersprüche als einer Form archaischen Erzählens.250 Dieser Hinweis und der Vergleich von Geschichten mit einem Strom beschreiben den linearen zeitlichen Charakter der Erzählung. Da der Ursprung der Erzählung die aufge249
250
Gaston Bachelard hat das Haus als ursprüngliches Symbol poetologischer Innerlichkeit beschrieben: „Zimmer und Haus als Diagramme der Psychologie, welche die Schriftsteller und Dichter in der Analyse der Innerlichkeit leiten.“ In seiner Poetik des Raumes stellt Bachelard das Haus als die ausgewiesene Form dichterischer Intimität der Bedeutungszuschreibung anderer Räume voran. Bachelard, G., Poetik des Raumes, S. 60. Benjamin, W., Erzählung und Heilung, GS IV, 1, S. 430.
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zeichnete Erinnerung ist251, kann man die Erzählung nicht nur als Form eines kollektiven Gedächtnisses begreifen, sondern auch als Vermittlung und Aufbewahrung einer ursprünglichen Form von Erinnerung. Wie stark diese Form der Erinnerung an ein räumliches und zeitliches Kontinuum gebunden ist, beweist der Inhalt der durch die Mutter weitergegebenen Geschichten; es sind Berichte über den Großvater und andere Ahnen. Die Rahmenhandlung entspricht jedoch nicht den Kriterien eines subjektivistisch-perspektivischen Verfahrens, da nicht vom Standort des Kindes, sondern von dem der Familie der Blick in die Vergangenheit gerichtet wird. Auch in der Fähigkeit des Erwachsenen „zu warten“ (BK, S. 403) beweist sich die Gebundenheit an Raum und Zeit als Kontinuum, denn das Warten ist der Tendenz des „Abkürzens“ entgegengesetzt, die Benjamin als einen der Gründe für den Untergang der Erzählung benennt.252 Benjamin begreift die Erzählung als das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.253 Wenn ‚in der Hand der Mutter Geschichten rieselten‘, so will Benjamin an die enge Verbindung der Erzählung mit dem Handwerk erinnern254, das – und darauf wurde bereits unter dem Stichwort des taktilen Vermögens des Kindes hingewiesen – Erfahrungen begründet. Die einführenden Sätze des Erzähler-Aufsatzes liefern einen Vergleich mit der optischen Wahrnehmung. Benjamin zufolge bedeutet eine gegenwärtige Darstellung des Erzählers, den Abstand zum Erzähler zu vergrößern. Denn aus einem „rechten Abstand“ und „richtigen Blickwinkel“ teilt sich die Erfahrung mit, „daß es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht“255. Nicht umsonst greift Benjamin auf visuelle Metaphern zurück, um das Ende des Erzählens zu verkünden, ist doch mit dem künstlichen Reproduktionsvorgang jeder Abstand ein rechter und jeder Blickwinkel der richtige, da sich der Gegenstand als uneinholbarer dem Auge und der Linse darbietet, deren Effektivität nicht mehr eine Frage der Perspektive ist. Dass Benjamin sich dieser Entwicklungstendenz auch in dem Stück Das Fieber bewusst war, beweist der Satz: „Spä251 252 253 254
255
Benjamin, W., Der Erzähler, GS II, 2, S. 453. Ebd., S. 448. Ebd., S. 439. Ebd., S. 464: „Das Erzählen ist ja, seiner sinnlichen Seite nach, keineswegs ein Werk der Stimme allein. In das echte Erzählen wirkt vielmehr die Hand hinein, die mit ihren, in der Arbeit erfahrenen Gebärden, das was laut wird auf hundertfältige Weise stützt.“ Ebd., S. 439.
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ter, als ich heranwuchs, war für mich die Gegenwart des Seelischen im Leib nicht schwieriger zu enträtseln als der Stand des Lebensfadens in der kleinen Röhre [das Thermometer, U.B.]“. (BK, S. 404) Das Thermometer beschreibt das Sehen in seiner Entgrenzung als lediglich quantitativen Unterschied zur normalen Körpertemperatur.256 Die Vernichtung des Qualitativen in der Sinneswahrnehmung schlägt sich als Ausfall einer Metaphysik nieder. Die „Gegenwart des Seelischen im Leib“ bleibt gerade durch den Vergleich mit dem Thermometer auf einen messbaren Wert im empirischen Versuchsfeld der Psychophysik beschränkt. Diente die Einführung einer Grenze jedoch nicht dazu, einen Erfahrungsraum zu begründen – und das haben die drei vorangegangenen Beispiele gezeigt –, so stellt sich die Frage nach dem durch sie konstruierten Raum umso mehr. Der Darstellung eines äußeren Raumes in seinen durch die Krankheit bedingten Veränderungen fügt Benjamin die Darstellung eines inneren – nämlich jenes, in dem das Fieber ‚Quartier bezogen hat‘ – hinzu. Und eh der Abend sich’s noch selber recht bei mir hatte wohl sein lassen, fing für mich ein neues Leben an; vielmehr das alte des Fiebers blühte unterm Lampenlicht von einem Augenblick zum andern auf […]. Ich nutzte meine Ruhe und die Nähe der Wand, die ich an meinem Bette hatte, das Licht mit Schattenbildern zu begrüßen. (BK, S. 405)
Benjamin beschreibt den fiebrigen Zustand als „neues Leben“ und ‚Einfinden einer goldenen Lebenskugel‘ (BK, S. 405). Im Fieber kündigt sich ein befreiender Zustand an. Das Fieber „blüht“ unterm Lampenlicht, es „blüht“ aber auch im Körper des Kindes, von dem es Besitz ergriffen hat. Das Licht stellt sich als grundsätzlich verschieden von dem im Stück Winterabend gestalteten dar. Als ‚Blühen‘ beschreibt Benjamin metaphorisch die Temperaturzunahme, die, hervorgerufen durch das Lampenlicht, eher an den Ursprung des künstlichen Lichtes im Feuer erinnert.257 Es ist nicht zuletzt die mythologische Bedeutung von Feuer und Lichtsymbolik, die in der positiven Konnotation des Fiebers mitschwingt. Denn das Fieber motiviert das Kind zu Schattenspielen, die von der Figur des mythischen Fenriswolfes (dessen Vater Loki war, der Gott des Feuers) beherrscht werden. 256 257
Vgl. Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 150. Vgl. Schivelbusch, W., Lichtblicke, S. 12.
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August Langen verbindet in seiner Studie zu Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts das Auftreten von Schattenspielen mit dem Ende des Rationalismus: „Dagegen treten nun Instrumente in den Vordergrund, die sich im Rationalismus eben keines sonderlichen Ansehens erfreuten, vor allem Schattenspiel und Zauberlaterne.“258 Den Ausgangspunkt in Langens Abhandlung bildete die symbolische Darstellung des Rationalismus im Guckkastenbild. Dieses wurde mit dem natürlichen Bild gleichgesetzt. Die schattenhafte Darstellung reduziert das Darzustellende auf seine schemenhaften Umrisse und bricht auf diese Art mit der formhaft festen Denkweise des Rationalismus. Der bis dahin als traditionell erfahrene Bildraum wird entgrenzt, indem das Dargestellte an die physische Präsenz eines Darstellers zurückgebunden wird. Bei Benjamin handelt es sich nicht primär um eine Entgrenzung des Bildraumes, da dieser ja zunächst begrenzt wurde. Benjamins kindlicher Protagonist unterläuft mit seinen Schattenspielen vor allem die didaktischen Intentionen, mittels derer spielerisch dem unscharfen Schattenbild eine Bedeutung zugewiesen werden soll: „‚Statt sich vor den Schatten des Abends zu fürchten‘, so stand es in meinem Spielbuch, ‚benutzen ihn lustige Kinder vielmehr, um sich einen Spaß zu machen‘.“ (BK, S. 405) Weit eher als „sich einen Spaß zu machen“, findet sich in Benjamins Darstellung des Schattenbildes eine Entsprechung der durch das Fieber bedingten halluzinativen Wahrnehmung. Damit korrespondiert auch der Inhalt des Dargestellten: Mir selbst gedieh es selten über den Rachen eines Wolfes hinaus. Nur war er dann so groß und klaffend, daß er den Fenriswolf bedeuten mußte, den ich als Weltvernichter in dem gleichen Raum sich in Bewegung setzen ließ, in dem man mich selbst der Kinderkrankheit streitig machte. (BK, S. 405f.)
In der germanischen Mythologie verschlingt der Fenriswolf Odin, den obersten der Götter, und die Sonne. Licht und Sonne galten in der Mythologie als Sinnbilder des Überirdischen und Transzendenten, mit deren Auslöschung die Herrschaft der alten Götter hinfällig wurde. Die Vorstellung des Weltbrandes war jedoch nicht die einer absoluten Vernichtung, er sollte vielmehr reinigen und eine neuere, bessere Weltordnung ankündigen.259 Analog dazu gestaltet Benjamin die imaginäre Ablö258
259
Langen, A., Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, S. 108f. Vgl. Grimm, J., Deutsche Mythologie, 2, S. 679ff.
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sung einer gegenwärtigen Welt. „Das Licht mit Schattenbildern zu begrüßen“ (BK, S. 405), bedeutet zunächst, mittels der mythologischen Figur des Wolfes das künstliche Licht freudig willkommen zu heißen. Wolf und künstliches Licht sind insofern Verbündete, als beide den Zustand einer transzendenten Bedeutungslosigkeit anzeigen. Nun stellt sich aber die Frage, wogegen die Zerstörungswut des Wolfes gerichtet ist. Wie bereits belegt, kennzeichnet das Fieber den inneren Zustand des Ich, das im Schattenspiel seinen Austausch mit der Welt zeichenhaft nachbildet. Der ‚gleiche Raum‘, in dem der ‚Wolf in Bewegung gesetzt‘ und das Kind der ‚Kinderkrankheit streitig gemacht wird‘, setzt zunächst erst einmal einen Raum voraus – und hierin liegt die Funktion der Begrenzungen. Die Vorstellung eines Raumes, in dem unterschiedliche Präfigurationen miteinander verwoben sind, stimmt strukturell mit den Konzeptionen von Leib- und Bildraum überein, wie Benjamin sie im Sürrealismus-Aufsatz geprägt hat.260 Da der Wolf eine Spiegelung des inneren (Leib-) Raumes ist, konstruiert Benjamin in seiner Bewegung den Zusammenfall von Leib- und Bildraum, d.h. von Darstellungs- und Wahrnehmungsraum des Kindes. Der ‚gleiche Raum‘ stellt in der Figur des Wolfes eine Einverleibung des Bildraumes dar. Der Wolf erhält seine Bedeutung aus seinem symbolischen Bezug zum Tod, seine Vernichtungsabsichten sind auf den Raum und das Kind ausgerichtet. Die Vernichtung bedeutet aber den Ausfall von Distanz, sie bedeutet die Konstruktion einer selbstbezüglichen Nähe, die in dem Aufsprengen der dialektischen Konstellation von Nähe und Ferne auch die Grenze zwischen Subjekt und Objekt aufhebt.261 ‚Die lockenden Gesichte, die das Fieber freigibt‘ (BK, S. 405), offenbaren sich als Selbsterfahrungen. Während im Stück Das Telefon das Selbst, das außerhalb aller Vermittlungen liegt, nur noch in der sprachlichen Existenz eines Anderen erscheint, gelingt es dem kindlichen Ich im Stück Das Fieber unter der Voraussetzung einer Begrenzung des Raumes, sich selbst in einer Grenzsituation – der Auslöschung seiner individuellen Zeit als Lebenszeit – zu erahnen. Als Entgrenzung der kindlich subjektiven Existenz ist das Fieber Reaktion und Korrektiv auf die bedrohliche Erfahrung, nur noch im Angesprochen-Werden durch das Telefon zu existieren.
260 261
Vgl. Benjamin, W., Der Sürrealismus, GS II, 1, S. 309f. Vgl. Weigel, S., Passagen und Spuren des ‚Leib- und Bildraums‘, S. 51.
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2.5.3. Entgrenztes Bild: Knabenbücher Im Gegensatz zur Literarisierung von Bildräumen – die Stadt, das Krankenzimmer, die elterliche Wohnung – veranschaulichen die einleitenden Zeilen des Stückes Knabenbücher den Prozess der Verbildlichung eines Buches: „Der Klassenlehrer sagte meinen Namen und dann machte das Buch über die Bänke seinen Weg; der eine schob es dem anderen zu oder es schwebte über die Köpfe hin, bis es bei mir, der sich gemeldet hatte, angekommen war.“ (BK, S. 396) Benjamin vollzieht die Wortbildung des Titels Knabenbücher nach, indem er dem Leser die unmittelbaren Konstituenten des Wortes – den Knaben und das Buch – vorstellt und sie zusammenführt. Der Titel des Stückes wird so zu einem markanten Signifikanten, der die semantische Vereinigung von Knabe und Buch zum Knabenbuch umfasst. Gleichzeitig entspricht diese Bedeutungsebene einem Bildraum, der durch die Überwindung der räumlichen Distanz zwischen Knabe und Buch komponiert wird. Hatte sich in den vorangegangenen Kapiteln der Ausfall einer räumlichen und zeitlichen Begrenzung als Verlust von Bedeutungen dargestellt, so führt Benjamin hier eine Resemantisierung über die Konstruktion eines Bildraumes vor. Um diesen Raum erlebbar zu machen, bedarf es seiner Begrenzung, die (in einem reziproken Verhältnis) durch die vorgestellte Entfernung von Kind und Buch markiert wird. Der Weg, den das Buch zum Kind zurücklegt, beschreibt einen Raum, der den Bildraum des Knabenbuches vorzeichnet. In ihrer Bedeutungsüberlagerung werden Verschriftlichen und Abbilden zu Synonymen, denen die Reflexion über das jeweils andere – als das Moment ihres ursprünglichen Zusammenhanges262 – inhärent ist. Das Verhältnis zwischen Bedeutungsebene und bildlicher Anschauung illustriert Benjamin im assoziativen Umgang mit den Blättern eines Buches und den Blättern eines Baumes. Ihre gemeinsame Etymologie ergänzt er durch die Anschaulichkeit des Baumes, dessen Holz sowohl Rohstoff für die Papierherstellung ist als auch selbst direkt Laubblätter treibt. Dass Baum und Sprache in einem engen Zusammenhang stehen, davon legt auch das 1933 entstandene Denkbild Der Baum und die Sprache 263 Zeugnis 262
263
Vgl. Benjamin, W., Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I, 1, S. 26. Benjamin, W., Kurze Schatten, GS IV, 1, S. 425f.
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ab.264 Dort hatte es geheißen, dass „während ich ins Laubwerk sah und seiner Bewegung folgte, mit einmal in mir die Sprache dergestalt von ihm ergriffen wurde, daß sie augenblicklich die uralte Vermählung mit dem Baum in meinem Beisein noch einmal vollzog.“ Das Ergebnis der ‚Vermählung von Sprache und Baum‘ bezeichnet Benjamin am Ende des Textes als „Bilderrede“. Eine „Bilderrede“ erzeugt auch die Verschränkung vom Baum (als Bildraum) und der Sprache (als lesbarem Text) im Knabenbuch: „An seinen Blättern aber hingen, wie Altweibersommer am Geäst der Bäume, bisweilen schwache Fäden eines Netzes, in das ich einst beim Lesenlernen mich verstrickt hatte.“ (BK, S. 396) „Herbstgewebe“ und „weiße Fäden“ sind die Wörter, die die deutsche Mythologie als Synonyme für Altweibersommer kennt.265 In der Mythologie werden als Orte ihrer Erscheinung die Felder benannt. Auf den Zusammenhang zwischen „Gewebe“ und „Text“ hat Benjamin in seinem Proust-Aufsatz hingewiesen.266 Von einem „Netz […] in das die Gabe zu erzählen gebettet ist“, schreibt Benjamin darüber hinaus in seinem Erzähler-Aufsatz, „es sei die Fähigkeit solcherart zu lauschen, daß der Lauschende selbst zum Erzähler werde“.267 Das ‚sich verstrickende Kind‘ ist das lauschende Kind, in dem sich der spätere Erzähler Benjamin verbirgt. Das Kind liest nicht nur in den Blättern des Buches, es liest auch in den Blättern des Baumes. Wenn Benjamin den Baum zum Ort der Naturerscheinung und zum Hort des kindlichen Lesenlernens bestimmt, so verweist er neben dem Ursprung der Erzählung im Mythos auf einen weiteren Zusammenhang: „Was nie geschrieben wurde, lesen. Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.“268 Ebenso wurde aus den Blättern gelesen, die Phyllomantie war eine weit verbreitete, heidnische Kunst des Wahrsagens.269 In der Verbildlichung dieses magischen Kultus exemplifiziert Benjamin seine Vorstellung einer urzeitlichen „Wahrnehmung als ein Lesen in den Konfigurationen der Fläche“270. 264
265 266 267 268 269 270
In seinem Tagebuch vermerkte Benjamin bereits am 17.6.1931: „Während ich in das Laubwerk sah und seine Bewegung verfolgte, kam mir mit einem Mal der Gedanke, wie viel Bilder, Metaphern der Sprache allein in einem einzigen Baume nisten.“ Benjamin, W., Tagebuch Mai-Juni 1931, GS VI, S. 440f. Vgl. Grimm, J., Deutsche Mythologie, 2, S. 654. Benjamin, W., Zum Bilde Prousts, GS II, 1, S. 311. Benjamin, W., Der Erzähler, GS II, 2, S. 446f. Benjamin, W., Über das mimetische Vermögen, GS II, 1, S. 213. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. VII, S. 22-24. Scholem, G., Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, S. 80.
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„Beim Lesen hielt ich mir die Ohren zu. So lautlos hatte ich doch schon einmal erzählen hören? […] Manchmal jedoch, im Winter, wenn ich in der warmen Stube am Fenster stand, erzählte das Schneegestöber draußen mir so lautlos.“ (BK, S. 396) Das ‚lautlose Lesen‘ ist Ausdruck des nur an die Augen und den Blick gebundenen mimetischen Vermögens, das sich noch nicht ‚vom Auge auf die Lippen verlagert hat‘271. Als Vorgang eines lebendigen Lesens, durch das die Dinge wahrgenommen werden, ohne sie einer Ordnung zu unterstellen, schildert Benjamin die Beziehung zwischen Knabe und Buch. Konsequenterweise wird auch die Trennung in Subjekt und Objekt aufgehoben; das lesende Kind ist gleichzeitig das zuhörende Kind. Der verinnerlichte Bildraum wird zur äußeren Erscheinung; Erzähler ist nicht länger das Buch, sondern der fallende Schnee vor dem Fenster. Ähnlich in einem formalen Sinne sind „Flockenschar“ und „Gestöber der Lettern“ (BK, S. 396). Doch während sich im „Gestöber der Lettern“ Geschichten verbergen, bleibt die Erzählung der „Flockenschar“ unverstanden. Was es erzählte, hatte ich zwar nie genau erfassen können, denn zu dicht und unablässig drängte zwischen dem Altbekannten Neues sich heran […]. Nun aber war der Augenblick gekommen, im Gestöber der Lettern den Geschichten nachzugehen, die sich am Fenster mir entzogen hatten. (BK, S. 396)
Der linearen Bewegung, die das Auge beim Zusammenfügen der Buchstaben erzeugt, stehen die selbstinduktiven Bewegungen der Schneeflocken gegenüber. In der Überlagerung der Flocken, die nicht weiter spezifizierbar als ‚Neues‘ oder ‚Altbekanntes‘ sind, löst sich die Tiefendimension des Bildraumes auf, den der Fensterausblick begründet. Wenn in der modernen Physik der Raum als relativ zu einem in Bewegung befindlichen Punkt angesehen wird272, so konstituieren die sich bewegenden Flocken Räume, die dem Plural von Neuem und Altbekanntem entsprechen. Indem sich das Kind der ‚Flockenschar anschließt‘ (BK, S. 396), begibt es sich in eine Position, die seine eigentliche Betrachterposition im Verhältnis zur Wahrnehmung eines Raumes wiederherstellt. Aufgrund seiner natürlichen Trägheit vermag der Blick jedoch nicht, dem permanenten Wechsel von Räumen zu folgen. Dem kindlichen Blick gelingt es nicht, die durch die Flockenschar verheißenen Erzählräume zu ergründen. Wahrnehmbar bleibt einzig und allein die Bewegung, 271 272
Benjamin, W., Anmerkungen, GS II, 3, S. 958. Vgl. Giedion, S., Raum, Zeit, Architektur, S. 280.
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einem Flimmern vergleichbar, in dem Benjamin die Anforderung einer mimetischen Angleichung des traditionellen Leseverhaltens an neue, sich ständig überlagernde Bildwelten analog zum filmischen Material andeutet. Folgerichtig verweist er auf der Ebene der Bedeutung auf die klassische Form der Erzählung, ihr Gehalt erschließt sich nur in der Erinnerung. In der vertikalen Richtung des fallenden Schnees klingen ‚die abschüssigen Pfade des Tiergartens‘ (BK, S. 394) wieder an, welche die Erinnerungen metaphorisch durch die Tiefe ersetzen. Da der vom Kind verinnerlichte Bildraum keine Entsprechung in der gegenwärtigen, äußerlich wahrnehmbaren Welt besitzt, erweist sich die Erzählung als technischer und sozialer Anachronismus (das Kind hatte „den Vater freilich nicht“ – BK, S. 396 – erzählen hören). Das sich im Netz verstrickende Kind lauscht nicht nur den Erzählungen, sondern auch den Erinnerungen, wobei Buchstabe und Blick gleichgesetzt werden. Denn „sie, die Erinnerung, stiftet das Netz, welches alle Geschichten am Ende miteinander bilden.“273 Erzählung und Erinnerung beziehen sich nicht auf die individuelle Erfahrungswelt des Knaben, sondern sind Erscheinungen verhaftet, die Benjamin im Begriff der Ferne vorführt. Die fernen Länder, welche mir in ihnen [den Geschichten, U.B.] begegneten, spielten vertraulich wie die Flocken umeinander. Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite sondern ins Innere führt, so lagen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, Tromsö und Transvaal in meinem Innern. (BK, S. 396f.)
Auch im Kaiserpanorama eröffnete sich dem Kind durch ein Fensterpaar der Ausblick in eine Ferne. Diese wurde durch die illusionistische Inszenierung von photographischen Bilderfolgen erzeugt. Im Stück Knabenbücher handelt es sich um eine Ferne, die nicht durch den Blick wahrnehmbar ist und deren bildliche Gestaltung durch Schrift und Schneetreiben nur vermittelt, jedoch nicht reproduziert wird. Der Bildraum des Knabenbuches kommt mit dem Inneren des Knaben zur Deckung, indem die räumliche Ferne (die in den Städtenamen anklingt) zu einem umgekehrten Verhältnis von Nähe („in meinem Innern“) wird. Das sich solcherart in den Bildraum des Knabenbuches entgrenzende Ich erfordert ein ebenso entgrenztes Bild, wobei Entgrenzung sich hier auf den Prozess der Medialisierung von Ich und Bild bezieht. Der Bildraum, den das Knabenbuch konstituiert, ist der einer mythologischen Vorwelt, in 273
Benjamin, W., Der Erzähler, GS II, 2, S. 453.
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der die Ferne weder eine räumliche noch eine zeitliche bedeutet, wie es Erich Auerbach für die homerischen Epen nachgewiesen hat: „Aber solch […] Verfahren, welches Vordergrund und Hintergrund schafft, so dass die Gegenwart sich nach der Vergangenheitstiefe öffnet, ist dem homerischen Stil völlig fremd; er kennt nur Vordergrund, nur gleichmäßig beleuchtete, gleichmäßig objektive Gegenwart.“274 Erinnerung und Erfahrung stellen sich so als Kategorien dar, die einen Bildbegriff begründen, der als Darstellung von Vorstellungen hinter die Geschichte materieller Bilder und der sie begründenden Tradition einer zentralperspektivischen Gestaltung zurückgeht. Dabei wird der visuellen, gegenwärtigen Wahrnehmung das kindliche Lesen entgegengesetzt, durch das Wahrnehmung und Bedeutung des Gegenstandes noch ungeschieden voneinander erfahren werden. Dieser Rückgriff auf eine der Abbildfunktion vorausgegangene Bildtradition275 spiegelt jedoch im Vergleich mit dem „Schneegestöber“ die Unzulänglichkeit desselben in der Gegenwart wieder, denn der permanente Andrang des ‚Neuen‘ ist nur noch als gestaltlose Bewegung wahrnehmbar. Für die bereits untersuchten Stücke konnte gezeigt werden, dass die Darstellung eines entgrenzten Bildraumes, vom Standort des Kindes aus gesehen, die Wiedereinführung einer Grenze voraussetzt. In den Kapiteln Ausblicke und Einblicke wurde den veränderten Wahrnehmungsweisen der kindliche Blick als kritische Instanz gegenübergestellt. Die Gestaltung persönlicher Räume in den Stücken Das Telefon, Das Fieber und Knabenbücher verbürgt einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung, der das wahrnehmende Subjekt selbst in Frage stellt. Während sich in den Kapiteln Einblicke und Ausblicke der kindliche Blick vor allem an der Wahrnehmung der Stadt nachvollziehen lässt, kehrt er sich in den Stücken Das Telefon, Das Fieber und Knabenbücher nach innen und bringt binnenperspektivische Ansichten zur Darstellung. Dass er dabei nicht nur die Auswirkungen der Veränderungen eines äußeren Bildraumes auf einen inneren überträgt, konnte ebenso nachgewiesen werden wie seine Entgrenzung als Medium und der an ihn gebundene psychologische Bildbegriff, der das kindliche Selbst thematisiert. Während Benjamin im Stück Das Telefon den entgrenzten Bildraum über die Einführung eines Zwillingsbruders begrenzen will, verlagert er die Konstruktion von Bildräumen in den Stücken Das Fieber und Knabenbücher in den kindlichen Be274 275
Auerbach, E., Mimesis, S. 9. Vgl. Mitchell, W.J.T., Was ist ein Bild?, S. 43.
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trachter. Er versucht so, sie einer historisierenden Blickperspektive zu entziehen. Dabei ist hervorzuheben, dass der innerliche Bildraum des Kindes bildliche und räumliche Konzeptionen (adamitische Namenssprache, Welt des Mythos, Bilderrede) darstellt, die einer perspektivischen Anschauungsart vorausliegen. Diese Konzeptionen entsprechen einem dynamischen Modell von Objekt- und Selbsterfahrung. Wenn im Vorgang der Entgrenzung das Verhältnis des Knaben zu den ihn umgebenden Räumen veranschaulicht wird, so bezieht der Vorgang der Entgrenzung seine eigentliche Bedeutung aus dem Verlust eines ursprünglichen Bildmodells. Es gelangt nun, im Prozess einer erneuten Veränderung, aus dem Verborgenen noch einmal zur Anschauung.276 Für den konkreten Erlebnisraum des Kindes bleibt jedoch noch die Frage zu klären, ob sich der entgrenzte Blick des Kindes durch den Rückblick eines im gleichen Bildraum befindlichen Betrachters wieder begrenzen lässt. Diese Fragestellung liegt der nun folgenden Untersuchung des chronologisch letzten Kapitels der Berliner Kindheit zugrunde.
2.6. Rückblick: Das bucklichte Männlein Das Stück Das bucklichte Männlein beschließt die Berliner Kindheit. Zur Figur des „bucklichten Männlein“ leitet der Text zunächst über die Darstellung von Sehgewohnheiten und der an sie gebundenen Räume hin: Solange ich klein war, sah ich beim Spazierengehen gern durch waagerechte Gatter, die erlaubten, vor einem Schaufenster auch dann sich aufzustellen, wenn gerade unter ihm ein Schacht sich auftat. Er diente dazu, die Kellerluken in der Tiefe mit etwas Licht und Lüftung zu versorgen. Die Luken gingen kaum ins Freie, sondern eher ins Unterirdische. (BK, S. 429)
Das Kind, das vor einem deklarierten ‚Schauraum‘ steht, folgt nicht der Blickvorgabe, sondern sieht in die Tiefe. Diese erschloss sich in den vo276
Dieser Bildbegriff berührt sich mit dem dialektischen, den Benjamin aus der Analyse des Werkes Baudelaires gewann: „Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das des Gewesenen, in diesem Falle, das von Baudelaire, festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt, und nur dergestalt, vollzogen wird, läßt sich immer nur als Wahrnehmung von dem unrettbar sich verlierenden gewinnen.“ Benjamin, W., Zentralpark, GS I, 2, S. 682. Zum historischen Index des dialektischen Bildes vgl. Schöttker, D., Konstruktiver Fragmentarismus, S. 258.
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rangegangenen Kapiteln als metaphorische Umschreibung sowohl der Erinnerung als auch des Vergessens. Benjamin bestimmt die Tiefe genauer, wenn er in ihr „Luken“ verortet, die ins „Unterirdische“ weisen. Dass der unter der Erde liegende Ort Bewohner beherbergt, findet einen indirekten Kommentar Benjamins in der Aufnahme eines Zitats von Karl Marx in das Textkonvolut der Pariser Passagen. Marx deutet den sozialen Abstieg in die Souterrainwohnung als ‚Rückkehr des Menschen zu der Höhlenwohnung in einer entfremdeten, feindseligen Gestalt‘.277 Zum Symbol dieser Entfremdung bestimmt Benjamin die Ware, die mit dem Aufkommen der Schaufenster im Stadtbild hervortritt.278 Auch hier wird die Komplementarität von Erinnern und Wahrnehmen augenfällig. Wenn sich laut Marx das Sehen infolge der Entfremdung aller Sinne durch die kapitalistischen Besitzverhältnisse auf den reinen Sinn des Habens reduziert279, so veranschaulichen das Schaufenster und die in ihm ausgestellte Ware diesen uneingeschränkten Zugriff auf die Gegenstandswelt. Der vom Schaufenster abgewandte Blick des Kindes kann als Versuch gewertet werden, sich einer Blickvorgabe zu entziehen, aus der heraus sich die Dinge nicht nur in einer entfremdeten Gestalt präsentieren, sondern die diese Entfremdung erst produziert. Indem Benjamin die Bewohner des Souterrains an jener Stelle auffindet, die das Vergessen bezeichnet, schließt er sie in den Umkreis des Vergessenen mit ein. Das Vergessene erhält eine gesellschaftskritische Intention.280 Es umfasst jedoch nicht nur das herrschaftsfreie Verhältnis des Menschen zur Gegenstandswelt. Im ‚davonzutragenden Anblick eines Kanarienvogels, einer Lampe oder eines Bewohners‘ (BK, S. 429) stellt Benjamin einen Zusammenhang zwischen diesem Verhältnis und einer bildlichen Vorstellung von Tier, Ding und Mensch her, die ebenfalls dem Vergessen anheim gefallen ist.281 277 278 279 280 281
Karl Marx, zitiert nach: Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 1, S. 295. Benjamin, W., Zentralpark, GS I, 2, S. 686. Marx, K., Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 540. Vgl. Wohlfarth, I., Märchen für Dialektiker, S. 131f. Anna Stüssi sieht hier eine Analogie zur Ausgräber-Metapher der Berliner Chronik. Ihr zufolge ist dort das Vergessene durch einen Naturvorgang verschüttet, im Bucklichten Männlein dagegen ist es Opfer eines Herrschaftsverhältnisses. Meines Erachtens liegt der wesentliche Unterschied im Wandel der Wahrnehmungserfahrung. Im Kontext der Ausgräber-Metapher stellt sich das Sehen noch als konstante Erfahrung dar, die lediglich vom Standort des Betrachters und dem betrachteten Phänomen abhängig ist. Im Bucklichten Männlein dagegen zeigt Benjamin, dass sich die optische Erfahrung selbst und zwar
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In der folgenden Schilderung des kindlichen Traumes, findet eine Umkehrung der Blicke statt: Im Traume zielten Blicke, die mich dingfest machten, aus solchen Kellerlöchern. Gnomen mit spitzen Mützen warfen sie. Kaum hatten sie mich bis ins Mark erschreckt, so waren sie schon wieder fort. Ich wußte darum gut, woran ich war, als ich eines Tages im ‚Deutschen Kinderbuch‘ den Versen begegnete: ‚Will ich in mein Keller gehn, / Will mein Weinlein zapfen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Thut mir’n Krug wegschnappen.‘ Ich kannte diese Sippe, die auf Schaden und Schabernack versessen war […]. ‚Lumpengesindel‘ war es. (BK, S. 429f.)
Zunächst scheinen die Blicke der Gnomen der auratischen Aufmerksamkeit verwandt, da sie eine Erwiderung des kindlichen Blickes sind, der sich den Bewohnern des Unterirdischen ‚geschenkt hatte‘.282 In auffälligem Gegensatz dazu stehen jedoch die Absicht der Gnomen, das Kind ‚dingfest zu machen‘, und das Erschrecken des Kindes. Die gespenstische Begegnung mit den Gnomen findet im Traum statt. Benjamin beschreibt das, was den Stoff zu Träumen macht, als das vorher ‚Unvermerkte‘283. Dieses korrespondiert mit dem unbewussten Wunsch in den Ausführungen Freuds, der auf dem angestrebten Wege des Bewusstwerdens „die Entstellung [annimmt], die schon durch die Übertragung auf das Rezente angebahnt war“284. Auch Benjamin spricht dem Traum die Fähigkeit des ‚Verstellens‘285 zu. Die ursprünglichen Gedanken des Kindes sind jedoch nicht nur im Traum verstellt, sondern in der Gestalt der Gnomen auch entstellt.286 Das durch sie vermittelte Gefühl des Unheimlichen ist laut Sigmund Freud an die Angst gebunden, wobei „jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird“287. Freuds weitere Ausführungen stellen das Verdrängte als das vom Seelenleben Entfremdete dar. Im späteren Wiedererkennen der Gnomen unterläuft Benjamin ihre un-
282 283 284 285 286
287
in Abhängigkeit von den ökonomischen Verhältnissen verändert. Stüssi, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 86. Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 646. Benjamin, W., Gewohnheit und Aufmerksamkeit, GS IV, 1, S. 408. Freud, S., Die Traumdeutung, S. 546. Benjamin, W., Gewohnheit und Aufmerksamkeit, GS IV, 1, S. 408. Detlev Schöttker interpretiert diese Entstellung als allegorisch-leibhaftige Form des Gedächtnisses. Schöttker, D., Erinnern, S. 272f. Freud, S., Das Unheimliche, S. 263.
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heimliche Wirkung auf das Kind. Die Gnomen verwandeln sich in das „bucklichte Männlein“, das Benjamin genealogisch in den Umkreis der Märchenfiguren einordnet („Lumpengesindel“ bezeichnet sowohl die Hauptfiguren als auch den Titel eines Märchens der Gebrüder Grimm). Benjamin zufolge war das Märchen ‚einst der erste Ratgeber der Menschheit‘288, wobei der ‚Rat in den Stoff gelebten Lebens eingewebte Weisheit ist‘289. Es lehrt noch heute die Kinder, den Gewalten der mythischen Welt mit List und mit Übermut zu begegnen.290 Wenn die Blicke der Gnomen das Kind erschrecken, so muss man in Betracht ziehen, dass sich das Erschrecken im Traum vollzieht. In Anlehnung an Bergsons These, Wahrnehmung sei eine Funktion der Zeit291, stellt Benjamin im Passagen-Werk für den Traum einen anderen Rhythmus fest. Er bestehe darin, dass in ihm alles vor unseren Augen geschähe und uns zustieße.292 Mit dem Blick der Gnomen greift Benjamin das Augenhafte als reflexives Moment der traumhaften Wahrnehmung wieder auf, denn im Blick der Gnomen stößt dem Kind ihr Anblick zu. Indem der Traum ein schreckauslösendes Ereignis aufruft, ähnelt er dem Prinzip der ‚mémoire involontaire‘. Die Gnomen, die das Kind aus dem Bereich heraus anblicken, der dem topographischen Ort der Erinnerung und somit auch des Vergessens entspricht, bezeichnen die Möglichkeit einer unbewussten Erinnerung, die das Vergessene in entfremdeter und entstellter Gestalt vergegenwärtigt.293 Dabei stellt sich der Blick nicht nur als sein Medium dar, sondern ist selbst vom Vergessen in den Blick der Gnomen entstellt. Die Märchenfiguren aber tragen dem Rechnung, was Benjamin in seinem Kafka-Aufsatz als Mischung jedes Vergessenen mit dem Vergessenen der Vorwelt bezeichnet, in das auch die Tiere miteingeschlossen sind.294 Dass die Dinge in ihrer Vergessenheit eine entstellte Form annehmen, wird laut Benjamin besonders im Urbilde der Entstel288 289 290 291 292
293 294
Benjamin, W., Der Erzähler, GS II, 2, S. 457. Ebd., S. 442. Ebd., S. 458. Benjamin, W., Das Passagen-Werk, GS V, 2, S. 1009. Ebd., im Editionsbericht der Herausgeber der Ausgabe bleibt allerdings offen, ob die Notizen Benjamins, aus denen obiges Zitat stammt, wirklich im Umkreis des Passagenprojektes entstanden sind. So kann hier ein Zusammenhang zwischen der Berliner Kindheit und den Notaten nur vermutet werden, zu dem Benjamins Notiz, „Rhythmus des Wahrnehmens im Traum: Geschichte von den drei Trollen“ den Anlass gibt. Lindner, B., Zwerg und Engel, S. 247f. Benjamin, W., Franz Kafka, GS II, 2, S. 430.
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lung, dem Buckligen, sichtbar.295 Im Gegensatz zu den Gnomen kommt das „bucklichte Männlein“ dem Kind jedoch nicht näher: Mir selbst kam er [der Bucklige, U.B.] nicht näher. Erst heute weiß ich, wie er geheißen hat. Meine Mutter verriet mir das. ‚Ungeschickt läßt grüßen‘, sagte sie, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder gefallen war. Und nun verstehe ich, wovon sie sprach. Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte. Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht. (BK, S. 430)
Das ‚Näherkommen‘ kann als Modalität sowohl den vorangegangenen Textabschnitt betreffen – im Bezug auf die Blicke der Gnomen als Art und Weise einer Annäherung an das Kind – als auch eine tatsächliche Begegnung mit dem Kind. Jenes würde das Erscheinen des Buckligen im Traum umfassen, d.h. eine Art der Wahrnehmung des Buckligen, die außerhalb einer zeitlichen Wahrnehmung liegt. Dieses würde seine gegenwärtige Wahrnehmung umfassen, die die gleichzeitige Anwesenheit von Kind und Buckligem in einem gemeinsamen Bildraum voraussetzt. Die Verneinung eines Kontaktes im Sinne von ‚Näherkommen‘ schließt beides aus. Der Bucklige gehört sowohl einem anderen Bild- als auch Zeitraum an; weder in der gegenwärtigen Wirklichkeit noch in der Traumwelt des Kindes ist der Kontakt mit ihm möglich. Für Benjamin beruht die Entstellung somit auf zweierlei: zum einen auf einer Entstellung der raum-zeitlichen Wirklichkeit des Kindes und zum anderen auf einer Entstellung vom verschobenen Produkt der Traumarbeit (den Gnomen). Während das Kind das Männlein nicht ansehen kann, besitzt das Männlein die Fähigkeit, das Kind anzusehen. Damit einher geht eine Unaufmerksamkeit; das „bucklichte Männlein“ konstituiert sich als gegenteilige Figur zur auratischen Reziprozität.296 „Die Wahrnehmbarkeit“, so zitiert 295 296
Ebd., S. 431. „Die (Nicht)Begegnung mit dem Männlein“, so Irving Wohlfarth, „wäre demnach keine unmittelbar auratische, sondern eine im Freudschen Sinne unheimliche Selbstbegegnung – eine verfehlte Verabredung mit dem eigenen Unbewußten, das im Souterrain unserer Existenz sein Unwesen treibt.“ Wohlfarths Deutung einer unheimlichen Selbstbegegnung ist, wenn man von Benjamins eigenen Ausführungen zu einer Wahrnehmung im Traum absieht, zwar für die Begegnung mit den Trollen überzeugend, berücksichtigt aber nicht Benjamins Wechsel vom Traum zum Märchen. Dort wurde die Begegnung mit dem Buckligen ambivalent gedeutet: der „Angang“ eines Blinden,
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Benjamin Novalis, „ist eine Aufmerksamkeit.“297 In seiner Dissertation belegte Benjamin mit diesem Satz seine Behauptung, dass in der Romantik jede Objektwahrnehmung durch die Selbstwahrnehmung des Objekts bedingt sei. Benjamin verweist auf dieses Zitat erneut im Baudelaire-Aufsatz. Den Begriff der Wahrnehmbarkeit setzt er nun mit dem der „Aura“ gleich, die das Verhältnis des Unbelebten oder das der Natur zum Menschen umfasst.298 Der Blick des Männleins führt demnach zu einem Ausfall der Selbstwahrnehmung, der gleichzeitig das Verhältnis zur Gegenstandswelt betrifft: Er [der, den das Männlein ansieht, U.B.] steht verstört vor einem Scherbenhaufen […]. Wo es [das bucklichte Männlein, U.B.] erschien, da hatte ich das Nachsehn. Ein Nachsehn, dem die Dinge sich entzogen, bis aus dem Garten übers Jahr ein Gärtlein, ein Kämmerlein aus meiner Kammer und ein Bänklein aus der Bank geworden war. Sie schrumpften, und es war, als wüchse ihnen ein Buckel, der sie dem Männlein zu eigen machte. (BK, S. 430)
Das ‚Nichtachtgeben‘ negiert die Selbstwahrnehmung und mit ihr die Möglichkeit einer Wahrnehmung des Gegenstandes. Im entstehenden „Scherbenhaufen“ verbildlicht Benjamin die Unmöglichkeit, die Gegenstände zu erkennen. Das Zerbrechen durch Unaufmerksamkeit ist die gegenläufige Tendenz zur Erkenntnis eines Gegenstandes als Selbsterkenntnis in dem Sinne, „daß diese durch ein Reflexionszentrum (den Beobachter) in einem anderen (dem Dinge) nur wachgerufen werden kann, indem das erste durch wiederholte Reflexionen bis zum Umfassen des zweiten sich steigert“.299 Das Männlein ist nicht nur selbst ‚Urbild des Entstellten‘, es besitzt auch die Fähigkeit, die Dinge zu entstellen. Wenn das Kind statt der Gegenstände nur noch ihrer Scherben ansichtig wird, verändert sich die Wahrnehmbarkeit als auratische Aufmerksamkeit und wird zum ‚bruchstückhaften Bild im Feld der allegorischen Intuition‘300.
297
298 299 300
Hinkenden und Bettlers galt als „übel“, der eines „Höckerichten“ und Aussätzigen als gut. (Grimm, J., Deutsche Mythologie, 2, S. 942). Ebenso greift der Terminus der Selbstbegegnung zu kurz. Denn gerade die (Nicht-)Begegnung in dem oben ausgeführten Sinne schließt das aus, was Freud als Doppelgängertum bezeichnet. Wohlfarth, I., Märchen für Dialektiker, S. 134f. Benjamin, W., Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I, 1, S. 55f. Benjamin, W., Über einige Motive bei Baudelaire, GS I, 2, S. 646. Benjamin, W., Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I, 1, S. 59. Benjamin, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 352.
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Walter Benjamin – Blick
Da die Wahrnehmbarkeit den Kriterien des romantischen Begriffs der Beobachtung entspricht, umfasst der Prozess der Verbildlichung ihre Veränderung auch hinsichtlich des Ausschlusses der Erfahrung. Der Verlust einer ursprünglichen Aufmerksamkeit stellt sich sowohl als räumliche Distanz zum Gegenstand als auch als zeitliche Distanz dar. Während jene über eine Diminution der Gegenstände ihr Verschwinden in der Tiefe des Raumes andeutet, kulminiert diese, als zeitliches sich Entfernen, im Vergessen: „Doch sonst tat er mir nichts, der graue Vogt, als von jedwedem Ding, an das ich kam, den Halbpart des Vergessens einzutreiben.“ (BK, S. 430) Die Gnomen veranschaulichen die Möglichkeit einer unbewussten Erinnerung des Vergessenen in entstellter Form. Dagegen betrifft die Gleichsetzung des Vergessenen mit dem Buckel des Männleins eine vergessene Form der Wahrnehmung, die nicht wieder erinnert werden kann. Damit korrespondieren die abschließenden Bemerkungen zur Figur des Bucklichten im Kafka-Aufsatz, die auch die Schlussworte des Stückes Das bucklichte Männlein erhellen: „Wenn Kafka nicht gebetet hat – was wir nicht wissen – so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche ‚das natürliche Gebet der Seele‘ nennt – die Aufmerksamkeit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle Kreatur eingeschlossen.“301 Das Männlein, das mit dem Vergessen beladen ist, bittet das Kind um seine Aufmerksamkeit. Zieht man Benjamins Nichtunterscheidung von Form und Inhalt in Betracht, so droht das Männlein als Behältnis des Vergessens selbst dem Vergessen anheim zu fallen. Es [das Männlein, U.B.] sah nur immer mich. Es sah mich im Versteck und vor dem Zwinger des Fischotters […]. Es hat längst abgedankt. Doch seine Stimme, die wie das Summen des Gasstrumpfs ist, wispert mir über die Jahrhundertschwelle die Worte nach: ‚Liebes Kindlein, ach ich bitt, / Bet’ für’s bucklicht Männlein mit. (BK, S. 430)
Über den Vergleich mit dem Gasstrumpf erschließen sich dem Leser die undefinierbaren Geräusche als die ‚sprachlose Nähe einer Stoffwelt‘ (BK, S. 418), die, bereits einer Wahrnehmbarkeit entrückt, nur noch als amorphe Geräuschkulisse die Erinnerungen über die Jahrhundertschwelle begleiten. Manfred Schneider stellt fest: Anders als es die Lehre vom Ähnlichen entwirft, läßt im buckligen Männlein der rasende Bilderreigen keine definite Autobiogra301
Benjamin, W., Franz Kafka, GS II, 2, S. 432.
Walter Benjamin – Blick
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phie (filmisches Stenogramm) entstehen, vielmehr geht er über in jenes Summen, das amorphe Geräusch, aus dessen Tiefe die magischen Sprüche der Luft und des Lebens aufsteigen.302
In Schneiders Ausführungen wird deutlich gemacht, dass die Blicke, mit denen das Männlein das Kind anschaut303, das Momentane nicht zu Bildern fixieren. Anna Stüssi, die sich in ihren Ausführungen zur Berliner Kindheit auf die Adorno/Rexroth-Fassung bezog, behauptete „Benjamin [deute] im letzten Kapitel Erinnerung mit der Metapher der Photographie“304. In der Fassung letzter Hand wurde die Belegstelle für diese These von Benjamin eliminiert. Hatte es in der Adorno/Rexroth-Fassung geheißen, die Bilder des Männlein seien „Vorläufer unserer Kinematographen“305, so wird die Fassung letzter Hand um diese Formulierung und die mit ihr verbundene Erinnerungstheorie gekürzt. Das Gewicht der Darstellung verlagert sich auf die Wahrnehmung. Im Blick des Männleins bildet Benjamin die Verflüchtigung einer äußeren Wirklichkeit nach, die nur noch als Bild wahrgenommen wird, ohne den Betrachter zu affizieren. An die Stelle einer Wahrnehmung, die neben dem kindlichen Blick auch die Erfahrung umfasst, tritt nun das Bild.306 Gerade weil die Wirklichkeit nur noch als Bild angesehen wird, fällt sie dem Vergessen anheim. Wenn Benjamin vom ‚Nachsehn‘ spricht, ‚dem die Dinge sich entzogen‘, so schildert das ‚Nachsehn‘ jenen Prozess, in dem sich die Erfahrung im Bild verflüchtigt. Die bildhafte Wahrnehmung ist dem kindlichen Blick vom Standort der Loggien entgegengesetzt. Im letzten Stück der Berliner Kindheit ist es nicht mehr das Kind, das betrachtet, sondern es wird betrachtet. Das Sehen wandelt sich von einer aktiven Erfahrung hin zu einem passiven ‚Nachsehn‘ in jener anderen Bedeutung, die ebenfalls dem Wort ‚Nachsehn‘ zukommt: als Wiedergabe einer vorgegebenen Blickperspektive. Der Wahrnehmung eignet nunmehr eine „formale Signatur“307. 302 303 304 305 306
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Schneider, M., Die erkaltete Herzensschrift, S. 133. Stüssi, A., Erinnerung an die Zukunft, S. 68. Ebd., S. 70. Benjamin, W., Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, GS IV, 1, S. 304. Diese Deutung wird durch die Aussage Benjamins gestützt, das Bucklichte Männlein sei als letztes Stück Pendant zum ersten, den Mummerehlen (Benjamin, W., Brief an Gershom Scholem vom 28.2.1933), das ein „photographisches Selbstporträt“ enthalte (Benjamin, W., Brief an Gretel Karplus vom 12.8.1933). Benjamin, W., Briefe, IV, S. 163 und S. 275. Benjamin, W., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, GS VII, 1, S. 354.
3. Siegfried Kracauer – Figuration 3.1. Einleitung: Figuration Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden konnte, tritt bei Benjamin an die Stelle der subjektiven Raumwahrnehmung das Bild des Raumes als etwas, „das dessen Grenzen sprengt“1. Indem das Bild Abbild und Konstruktion zugleich ist, kommt in ihm zwar noch eine spezifische Raumauffassung zur Darstellung, seine Produktion mittels technischer Medien macht allerdings die konkrete Raumerfahrung und mit ihr das Subjekt dieser Erfahrung überflüssig.2 In erkenntnistheoretischer Hinsicht korrespondiert diese Einsicht mit der Annahme, dass „der Übergang von der Aufklärung zur Moderne […] u.a. dort zu liegen [scheint], wo der klassische Vernunftbegriff abgelöst wird durch einen industriellen Konstruktivismus ohne Vernunftsubjekt“3. Die Frage nach dem Zusammenhang von gesellschaftlichen Veränderungen und den Möglichkeiten ihrer Erkenntnis, die nicht nur der Analyse der Wirklichkeit zugrunde liegt, sondern auch hinsichtlich der Form der Reflexion eine entscheidende Rolle spielt, bildet eine der Konstanten des Kracauerschen Werkes. Bereits in seiner Abhandlung über den Detektivroman analysierte Kracauer exemplarisch das Verhältnis von literarischer Form und einer durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technik veränderten Wirklichkeit. Die „immer weiter gehende Abstraktion von der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit“ habe dazu geführt, dass das Ich „jedes Verhältnis zu der mit unseren Sinnen wahrgenommenen Erscheinungsfülle verloren ha[t]“4. Während Kracauer dem Detektivro1
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3 4
Tzara, T., Die Photographie von der Kehrseite, S. 9. Benjamin übersetzte diesen Artikel Tzaras über die Rayografie Man Rays für die konstruktivistische Zeitschrift G. Vgl. Tiedemann, R., Anmerkungen, in: Benjamin, W., GS, Supplement I, S. 435. Dabei korrespondiert dieser neue „Bildcharakter“ mit dem neuen Charakter der Wahrnehmung: „Vor dem neunzehnten Jahrhundert galt der wahrnehmende Mensch generell als passiver Empfänger von Reizen […]. Was dagegen in den letzten zwei Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts Gestalt annahm, war ein Konzept von Wahrnehmung, bei dem das Subjekt als dynamisch psychophysikalischer Organismus […] die Welt um sich herum aktiv konstruierte.“ Crary, J., Aufmerksamkeit, S. 81. Vietta, S., Die vollendete Speculation führt zur Natur zurück, S. 184. Kracauer, S., Anthroposophie und Wissenschaft, Schriften 5, 1, S. 113.
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man noch das Vermögen zuspricht, die Wirklichkeit5 gerade in ihrer Entfremdung und Entstellung aufzuzeigen, erhebt er in dem 1925 geschriebenen Aufsatz Der Künstler in dieser Zeit einen radikalen Zweifel an der fortdauernden Gültigkeit ästhetischer Formen, die nur solchen historischen Epochen vorbehalten sind, in denen die Einheit von Mensch und Welt nicht in Frage gestellt wird, wie es in der Gegenwart der zwanziger Jahre geschieht.6 Da diese „mit dem Ausbruch des Menschen aus der Wirklichkeit selber dahin [welken]“7, ist es nur folgerichtig, dass Kracauer sich im fortlaufenden Text der Analyse eines „Filmwerks“ – Die Straße – zuwendet: ‚Die Straße‘ zeigt eine Welt, in der das Werk der Verknüpfung ungetan bleibt. Diese Menschen der Großstadtstraße haben keinen Bezug auf das Obere, sie sind nur noch ein solches Außen, wie die Straße selber es ist, auf der sich vieles begibt, ohne daß etwas geschieht. Das Getriebe der Figuren gleicht dem Wirbel der Atome, sie begegnen sich nicht, sondern prallen zusammen, sie treiben auseinander und trennen sich nicht. Statt daß sie mit den Dingen verbunden leben, sinken sie zu den totbewegten Gegenständen herab: zu den Autos, den Mauerfluchten, der Lichtreklame, die, unbekümmert um die Zeit, in der Zeit sich erhellt und verdunkelt; statt daß sie den Raum erfüllen, ziehen sie ihre Bahn in der Öde, statt daß sie durch Rede sich verständigen, lassen sie ungesagt, was einigen oder entzweien könnte.8
Als Titel eines Films wird Die Straße zum Sinnbild einer Welt, die der Möglichkeit zur Transzendenz enträt. Der Ausfall von Sinn legt die Darstellung auf eine Sphäre reiner Immanenz fest, die durch die Straße bezeichnet wird. In diesem Bereich scheint das Darstellungsproblem insofern aufgehoben zu sein, als der Filmschaffende die empirische Welt lediglich abzulichten braucht und ihre Darstellung folglich nicht der ästhetischen „Verknüpfung“ durch eine künstlerische Form bedarf. Ge5
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Auf die Zweideutigkeit von Kracauers Wirklichkeitsbegriff im Detektivroman – als phänomenaler Begriff und als theologisch konnotierter Gegenbegriff zur Unwirklichkeit der Gegenwart – hat Inka Mülder hingewiesen. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 44. So bestimmte Michael Schröter bereits die grundlegenden Intentionen des Kracauerschen Werkes als „Weltzerfall“ und seine „Rekonstruktion“. Schröter, M., Weltzerfall und Rekonstruktion, S. 19ff. Kracauer, S., Der Künstler in dieser Zeit, Schriften 5, 1, S. 303. Ebd.
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messen am Kanon traditioneller Ausdrucksformen verfügt der Film für Kracauer zu diesem Zeitpunkt über keinerlei ästhetisches Potential; gleichwohl deutet sich in seiner Beschäftigung mit dem Medium Film seine zunehmende Aufmerksamkeit für populärkulturelle Phänomene und der sich durch diese etablierenden neuen Gestaltungsformen an. Kracauers Interesse für das filmische Abbild der „Menschen der Großstadtstraße“ dokumentiert folglich nicht nur seine zunehmende Hinwendung zu Phänomenen der Wirklichkeit, sondern auch zu neuen künstlerischen Formen, die die Beziehungen zwischen Mensch und Welt räumlich veranschaulichen. Bereits im Detektiv-Roman hatte Kracauer die Fragestellung seines Lehrers Georg Simmel „nach der Bedeutung, die die Raumbedingungen einer Vergesellschaftung für ihre sonstige Bestimmtheit und Entwicklungen in soziologischer Hinsicht besitzen“9 am räumlichen Beispiel der „Hotelhalle“ beantwortet. Da bei Kracauer die Auseinandersetzung mit dem Raum als theoretisches, gesellschaftliches und lebensweltliches Phänomen in den Rahmen einer Analyse von künstlerischen und literarischen Werken im weitesten Sinne eingebettet ist, werden mit der Frage nach der Bedeutung der Raumformen stets die ästhetischen Möglichkeiten seiner Inszenierung mitreflektiert. Lessing hatte in seinem Laokoon den Raum als Darstellungskategorie aufgrund der Gestaltung von Körpern der Malerei zugeordnet. Dagegen wurde ihm die Zeit zu einem wesentlichen Charakteristikum der Dichtung, da es dieser obliege, Handlungen zu entwickeln.10 Inwieweit sich der Film in Anlehnung an Lessings Bestimmung traditioneller künstlerischer Medien „materialästhetisch“11 begründen ließe, ist hier nur von einem mittelbaren Interesse. Zwar ließe sich argumentieren, dass eine Verwandtschaft des Films mit der Malerei aufgrund seiner Darstellung von Gegenständen bestünde. Kracauer destruiert jedoch diesen Aspekt, indem er auf die fehlende körperliche Ausdehnung als Eigenschaft von Gegenständen verweist. Auch im Hinblick auf die Handlung, die als ein zureichendes Indiz für die Verwandtschaft von Film und Dichtung gelten könnte, bricht Kracauer die von Lessing aufgestellten Dicta im Bild der Lichtreklame. Diese wird ihm zu einem Zeitmaß der permanenten Wiederholung, in dem sich das „seelenlose Nebeneinander“ nicht zu einer Handlung entwickeln 9 10 11
Simmel, G., Soziologie, S. 690. Lessing, G.E., Laokoon, S. 103. In der Theorie des Films führt Kracauer Lessing als Kronzeugen für eine materialästhetische Betrachtungsweise an. Kracauer, S., Theorie des Films, S. 37.
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kann. Die „Menschen“, die „statt daß sie mit den Dingen verbunden leben, zu den totbewegten Gegenständen herab[sinken]“, sind nicht in der Lage, die sie umgebende Wirklichkeit zu erfahren. Im Rahmen dieser Argumentation verkörpert die Straße den empirischen Gehalt einer radikalen Verräumlichung des Daseins, für die Innerlichkeit12 und Erfahrung nur zwei Aspekte eines selben Verlustes sind, nämlich jenes der Einheit von Mensch und Welt. Das Aufsuchen von empirischen Erscheinungsweisen des Raumes gewinnt für Kracauers Schaffen gleichsam programmatisches Gewicht.13 Dabei ist zu beachten, dass Kracauers Hinwendung zum „Materiellen und Äußerlichen“14 stets mit einer Reflexionsbewegung verbunden war, die ausgehend von den sichtbaren (räumlichen) Gegebenheiten die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit intendierte. Mit dieser Herangehensweise opponierte Kracauer gegen die Ableitung der Erkenntnis von einer spezifischen Gesetzlichkeit, die der Wirklichkeit ihre Formprinzipien diktierte, denn „der Fortschritt in der Erkenntnis ist kein bloßer Erkenntnisfortschritt, den das sich unbedingt setzende Subjekt von sich aus vollziehen könnte, er ist vielmehr an die Entfaltung des Verhältnisses gebunden, das der ausgerichtete Mensch zur Wirklichkeit hat“15. Seine Kritik entzündete sich am Werk zeitgenössischer Architekten, die dem maschinellen Charakter der modernen Großstadt durch geometrische Formen Ausdruck zu verleihen suchten und die sich dadurch auswiesen, im Dienste des „abstrakten Rationalismus“ zu stehen, „der in seiner Maßlosigkeit alles Menschliche vergewaltigt“16. Kracauer nahm an, dass eine ‚mathematisch begründete räumliche Ordnung‘ dem Verhältnis von Gegenstandswelt und Betrachter in 12
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Dirk Oschmann arbeitet in seiner Dissertation exemplarisch die „Verabschiedung der Innerlichkeit als Lebensform und als ästhetischer Kategorie“ im literarischen Werk Kracauers heraus. Oschmann, D., Auszug aus der Innerlichkeit, S. 311. Im Kontext der Diskussion einer Bedeutungslehre von Räumen im Schaffen Kracauers, die sich immer wieder an der Deutung des Kapitels Hotelhalle im Detektiv-Roman entzündet, unterscheidet Anthony Vidler recht allgemein zwischen dem erfüllten Raum der Gemeinschaft und dem unerfüllten Raum der Physik und der abstrakten Wissenschaft. Vidler, A., Räume des Durchgangs, S. 96ff. Kracauer, S., Brief an Ernst Bloch vom 27.5.1926, in: Bloch, E., Briefe, 1, S. 274. Kracauer, S., Der Detektiv-Roman, Schriften 1, S. 155. Kracauer, S., Gestalt und Zerfall, Schriften 5, 1, S. 326.
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der ästhetischen Moderne den Absolutheitsanspruch eines logischen Systems oktroyiere, um seine Historizität, seine Komplexität und Wandelbarkeit im Dienste der Erhaltung von gesellschaftlichen Machtstrukturen bewusst zu verschleiern. Dagegen forderte Kracauer ein „konkretes Denken“, „das in der vollen menschlichen Wirklichkeit verhaftet ist“17. Er suchte eine alternative Formensprache, deren Ausdruckselemente nicht den „Schein“-Zusammenhang der Wirklichkeit reproduzieren, sondern die Heterogenität und Vielschichtigkeit urbaner Erfahrungen, ihre Unbestimmtheit und Auflösung vermitteln. „Mit Walter Benjamin teilt[e] Kracauer den Blick des Flaneurs auf die Oberfläche als Mitteilungssystem.“18 Als eine dieser Entzifferungsmethode angemessene Darstellungsform schuf Walter Benjamin die Textsorte „Denkbild“19. Unter der Voraussetzung, dass im Denkbild Kracauers „phänomenologisches Verfahren der Oberflächenanalyse“20 seine adäquate Form findet, weisen Kracauers Texte darüber hinaus eine Thematisierung des Bildes als einer anschaulichen Ordnung auf.21 Die Verbindung von anschaulicher Darstellung und philosophischer Deutung, die das „Denkbild“ im allgemeinen auszeichnet22, muss im Falle Kracauers dahingehend modifiziert werden, dass die Reflexion nicht den Anschluss an ein philosophisches System herstellen soll, sondern im bewussten Rückgriff auf eine bestimmte Bildsorte aufgehoben ist. Sowohl die Art des Zugriffs auf die Phänomene als auch die durch eine bildkünstlerische Tradition präfigurierte Art seiner Darstellung machen die Einheitlichkeit der Texte Kracauers aus. Ob als „lebendige Welt der Phä17 18 19
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Vidler, A., Räume des Durchgangs, S. 102. Koch, G., Kracauer zur Einführung, S. 14. Vgl. Schlaffer, H., Denkbilder, S. 174ff., und Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 104ff. Ebd., S. 107. Gertrud Koch charakterisiert die Sprachtheorie Kracauers als eine Variante ästhetischen Sprachgebrauchs: „Die Worte bilden nicht die Gegenstände ab, sondern die Worte evozieren eine bestimmte Wahrnehmung von Dingen, sie sind Perspektiven auf Dinge.“ Koch, G., Kracauer zur Einführung, S. 71. Im Hinblick auf die erkenntniskritischen Intentionen Kracauers ist die Definition der Bildlichkeit literarischer Texte von Walter Gebhard treffender, der Bildlichkeit als Struktur einer simultanen Veranschaulichung bzw. Transformation von theoretischen Gehalten bestimmt. Gebhard, W., Der Zusammenhang der Dinge, S. 19. Vgl. Tiedemann, R., Anmerkungen des Herausgebers, in: Benjamin, W., GS IV, 2, S. 883.
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nomene“ oder „wesenlose Welt des bloßen Scheins“23, stets referiert Kracauer auf den Begriff der Oberfläche24 in der Form eines kohärenten, sinnlich wahrnehmbaren Ordnungsgefüges, auf das der Text selbstreferentiell im Verfolgen einer bestimmten Bildsorte verweist. Diese Praxis wird besonders offenkundig in der Gliederung von Kracauers Essayband Das Ornament der Masse, in dem die einzelnen Prosastücke nach der ihnen immanenten bildlichen Darstellungsweise unterteilt sind: Natürliche Geometrie, Äußere und innere Gegenstände, Konstruktionen, Perspektiven, Kino, Ausklang: Zum Fluchtpunkt. Diese Bilder lassen sich nicht als sprachliche Bilder auslegen; ihre Anschaulichkeit zielt auf keinen symbolischen Gehalt, sondern stellt einen Zusammenhang dar, der im Hier und Jetzt der Phänomene begründet liegt. Indem Kracauer Wirklichkeitsausschnitte in „Bildern“ erfasst, reagiert er auf die veränderte empirische Wahrnehmung, bei der die Reizzunahme zu einem Ausfall der bewussten Verarbeitung von Reizen geführt hatte. Sie wird im Kontext seines Werkes unter dem Stichwort „Zerstreuung“ verhandelt. Die Unmittelbarkeit des Wahrgenommenen, die eine Eigenschaft von Bildern ist, wird durch die literarische Vermittlung konterkariert. Diese bezieht sich weniger auf den ästhetischen Charakter des Bildes, als vielmehr auf die dargestelllte Wirklichkeit. Nicht das literarisch vermittelte Abbild, sondern die Wirklichkeit selbst ist eine Konstruktion. Das „Individuelle der Erfahrung“25 wird im Kontext kultureller Figurationen angesiedelt, die einen sinnvollen Zusammenhang dieser Phänomene und folglich auch ihre Lesbarkeit verbürgen. Mit seinen bildlichen Anordnungen, so lässt sich als These formulieren, begegnet Kracauer dem Darstellungsproblem, das sich aus dem von ihm konstatierten „Weltzerfall“ und der damit einhergehenden Auflösung eines traditionellen literarischen Formenkanons ergibt.
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Mülder, I., Nachwort der Herausgeberin, in: Kracauer, S., Schriften 5, 3, S. 373. Inka Mülder verweist ausschließlich auf die übertragene Bedeutung dieses Wortes als Metapher „historischer Negativität“ und „mediengerechter Physiognomie“. Dass Kracauer es nicht nur metaphorisch, sondern auch im Sinne eines Begriffs verwendet, fehlt in ihren Ausführungen. Vgl. Mülder, I., Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der „Oberfläche“, S. 359 und Mülder, I., Soziologie als Ethnographie, S. 286. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 106.
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Im Detektiv-Roman hatte Kracauer mit Bedauern festgestellt, dass anstelle eines sinnvollen und metaphysisch aufgeladenen „Gesamtseins“ Teileinheiten des Wirklichen treten, die sich in der Form von Atomen und Atomkomplexen zu „beliebigen, doch stets errechenbaren Mosaikmustern […] zusammenfügen lassen“26. Dagegen wertete Kracauer in seiner Studie Die Angestellten die Ereignisse gerade aufgrund ihrer Vereinzelung und relativen Autonomie neu, bezogen sie doch aus ihrer augenscheinlichen Unabhängigkeit von etablierten Sinnzusammenhängen ihr gesellschaftliches Erkenntnispotential. Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, in dem das Einzelne und Konkrete steht, greift Kracauer auf Bildformationen wie „natürliche Geometrie“ oder „Perspektiven“ zurück, die einen kulturell verbürgten Zusammenhang anschaulicher Gegenstände proklamieren. Seine Darstellung von sozialen und kulturellen Phänomenen in der Form von bildlichen bzw. räumlichen Konfigurationen legt nahe, dass Kracauer damit eine alltagsweltlich bestimmte Einheit von Mensch und Welt gestaltet, die als alternativer Entwurf zur philosophischen Form und ihrer exkludierenden Ausrichtung auf einen Systembegriff verstanden werden kann. Dies setzt voraus, dass das Bild „nicht nur piktorale Funktion[en erfüllt], sondern […] zugleich eine Theorie des Raums und der Raumbeherrschung in sich [birgt], jenes Tableau, wo im Spiegelverhältnis von Ich und Landschaft der Code der Repräsentation […] geboren wird.“27 Betrachtet man den Raum als Bildraum, d.h. durch die ästhetische Wahrnehmung vermittelt, dann überlagern sich in der Frage nach der Konstitution des Bildes ästhetische und erkenntnistheoretische Intentionen; nicht nur der Modus der Darstellung wird hinterfragt, sondern auch die Rolle des Objekts (als Spiegelung der Welt) und des Subjekts (als Spiegelung des Menschen) im Rahmen dieses Prozesses.28 Während diese in der Frage nach den Möglichkeiten der Erkenntnis von Wirklichkeit aufgehoben ist, wird jene in der Frage nach der Wirklichkeit selbst verhandelt. Eine Antwort auf letztere ist in dem von der Kracauer-Forschung immer wieder angeführten Zitat aus den Angestellten enthalten29: „Die Wirk26 27 28 29
Kracauer, S., Der Detektiv-Roman, Schriften 1, S. 118. Burckhardt, M., Metamorphosen von Raum und Zeit, S. 188. Vgl. Bohn, V., Bildlichkeit, Einleitung, S. 7. Helmut Lethen interpretiert den Begriff der Konstruktion im AngestelltenBuch ideologiekritisch. Er verweise auf die historische Lage der Angestellten und diene dazu, die Alltagsmythen der Angestellten transparent zu machen. Gleichzeitig hafte diesem Begriff etwas von einem den Geschichts-
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lichkeit ist eine Konstruktion.“30 Dieser Satz besagt, dass die Wirklichkeit nicht unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiert. Sie ist immer schon Ausdruck eines bewussten Eingriffes des Menschen in seine Umwelt. Ihre Prinzipien mittels der ästhetischen Darstellung zu erfassen, heißt allerdings weder, die Position des Subjekts zu referieren, das sie mittels logischer Deduktion erzeugt oder im Sinne einer Abbildästhetik wiedergibt, noch sie als Wechselwirkung zwischen Betrachter und Objekt der Betrachtung zu beschreiben, sondern den Strukturbegriff offen zu legen, der als konstruktives Prinzip Wirklichkeit generiert.31 Für Kracauer wurde die Philosophie Kants32 zum Präzedenzfall eines sich verselbständigt habenden Denkens, das zu jenen, die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit umfassenden Entfremdungserscheinungen führte, deren Erfahrung Kracauer in den zwanziger Jahren machte. Bei Kant oblag die Realisierung von Wirklichkeit im Sinne ihrer Darstellung einerseits dem Subjekt und den ihm zugänglichen Reflexionsformen über die Art und Weise seiner Anschauung. Gleichzeitig war im Begriff der Wirklichkeit die ideale Gesamtheit der den Subjekten zugänglichen empirischen Anschauungsformen aufgehoben. Raum und Wirklichkeit sind nur vom Ich her verstehbar, der Begriff der Konstruktion bezeichnet eine
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prozess beschleunigenden Prinzip an, das sich ideologischer Wertungen entziehe (vgl. Lethen, H., Sichtbarkeit, S. 217). Auch für Henri Band spiegelt der Begriff der Konstruktion die (Un)Ordnung der Gesellschaft wider (vgl. Band, H., Mittelschichten und Massenkultur, S.146). Für Klaus Koziol bildet Max Webers „idealtypisches Konstruktionsmodell“ das wissenschaftstheoretische wie methodische Fundament Kracauers (vgl. Koziol, K., Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion, S. 149). Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 216. Mit seiner konstruktiven Bestimmung von Wirklichkeit stimmt Kracauer mit soziologischen Positionen bspw. Max Schelers weitestgehend überein: „So war es eine Prämisse für die Wissenssoziologie, wie sie sich ausgehend von der Phänomenologie seit Mitte der zwanziger Jahre in den Schriften von Max Scheler, Karl Mannheim und Alfred Schütz ausbildete, daß die Frage nach der Adäquanz oder nach der Wahrheit von Welterfahrung obsolet geworden war. Statt sich jedoch vom Kollaps des Subjekt/Objekt-Paradigmas intellektuell lähmen zu lassen, konzentrierten sich die Wissenssoziologen – nicht mehr auf die Wirklichkeit ‚selbst‘, sondern – auf Prozesse der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeiten durch Begriffe und Wissenselemente.“ Gumbrecht, H.U., Wahrnehmung versus Erfahrung, S. 176. Sowohl in seiner Abhandlung Georg Simmel als auch im Detektiv-Roman setzt sich Kracauer kritisch mit der Philosophie Kants auseinander.
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Verstandesleistung. Dagegen ist für Kracauer der Raum nicht „ideell“, sondern materiell, er erschließt sich nicht der „reinen“ Anschauung, sondern der konkreten sinnlichen Wahrnehmung33: Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie [die Wirklichkeit, U.B.] erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehaltes zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.34
Der Begriff der Konstruktion referiert auf die Struktur eines (in einem sprachlichen Zusammenhang) bildhaften Motivs35, das Aufschluss gibt über die Regeln seiner inneren Konsistenz, die denen des dargestellten Wirklichkeitsausschnittes anschaulich entsprechen. Der im Mosaik neu gestiftete Zusammenhang der Bildelemente lässt sich weder auf eine mimetische Relation zwischen Original und Abbild reduzieren, noch geht er in der Homogenität eines gemeinsamen Bildraumes auf.36 Vielmehr ist zu beachten, dass die Konstruktion bildlicher Figurationen die Erkenntnis der Gehalte der konkreten Phänomene voraussetzt. Dem Gegensatz zwischen diesem ästhetischen Konstruktivismus und jenem „industriellen Konstruktivismus ohne Vernunftsubjekt“ trägt Kracauer mit der Unterscheidung zwischen einer „natürlichen Geometrie“ 33
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In der Diskussion von Wirklichkeits- und Raumvorstellungen lässt sich – zumindest im Hinblick auf Die Angestellten – formulieren, dass Ganzheits- und Raumvorstellungen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis stehen. Denn im Begriff der Konstruktion, wie ihn Kracauer dort prägt, schwingt auch eine Neubestimmung des Verhältnisses vom Ganzen und seinen Teilen mit. Dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, war einer der Lehrsätze der Gestaltpsychologie, mit deren Thesen vermutlich Aron Gurwitsch Kracauer bekannt machte. Gurwitsch hatte 1928 in Göttingen mit einer gestaltpsychologischen Arbeit bei Adhemar Gelb promoviert. Vgl. Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 216, und Grathoff, R., Alfred Schütz – Aron Gurwitsch, Vorwort, S. 8. Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 216. Auf den Aspekt der Multiperspektivität hat bereits Gertrud Koch hingewiesen. Vgl. Koch, G., Kracauer zur Einführung, S. 54. Damit distanziert sich Kracauer auch vom Roman, in dessen Wesen es liegt, aus der „Welthaftigkeit als formale[r] Totalstruktur“ heraus die Einheit von Mensch und Welt zu gestalten. Blumenberg, H., Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, S. 27.
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und einer von ihm nicht so bezeichneten, sich jedoch in seinen Texten ausdrückenden „absoluten Geometrie“ Rechnung. Es ist nicht zufällig, dass es sich bei den in den Texten Kracauers immer wiederkehrenden Motiven von Straßen, Städten, Häfen um räumliche Äquivalente zu rein gedanklichen Objekten wie Punkten, Linien und Ornamenten handelt. Bereits in seiner Anfang der zwanziger Jahre verfassten Abhandlung zu Georg Simmel hatte Kracauer als einen Grundzug der kapitalistischen Produktionsweise herausgearbeitet, dass sie Dinge erzeuge, „die alle messbare Größen sind. Technische Erfindungsgabe, Organisationstalent, rechnerische Gewandtheit, logisches Denken usw. vergegenständlichen sich in Schöpfungen, deren Wert nicht etwa unwägbar ist, sondern sich direkt in Zahlen ausdrücken lässt“37. Die mathematisch-logische Ordnung, die vom Menschen abstrahiert und ihn „zu einer mathematischen Gegebenheit in Raum und Zeit“38 werden lässt, steht im Gegensatz zu einer Ordnung, die der Mensch im konkreten Raumerlebnis erfährt und deren darstellerische Normen der Wirklichkeit selbst innewohnen. Denn Kracauers Forderung nach einer anschauungsgebundenen Erkenntnis setzt voraus, dass der Anschauungsraum bereits strukturiert und gegliedert ist und ihm eine „natürliche Geometrie“39 eignet. Der Antagonismus zwischen dieser und einer „absoluten Geometrie“ gründet sich auf den eigentümlichen Doppelcharakter der Geometrie, die „ihre Begründung aus dem Gebiet des reinen Verstandes, der formalen Logik, einerseits und aus dem Gebiet der sinnlichen Anschauung andrerseits [zieht]“40. Der Unterschied zwischen Natürlicher und Absoluter Geometrie wird in den Texten Kracauers auf zwei Ebenen verhandelt. Zum einen spiegelt sich darin seine kritische Auseinandersetzung mit der Verabsolutierung der aufklärerischen Ratio und eines durch sie begründeten „Zwangszusammenhanges“, dem er die Wirklichkeit als offenes und sich stets erneuerndes Prinzip entgegensetzt. Zum anderen besteht eine enge Beziehung zu den umfangreichen Diskussionen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl aus mathematischer als auch aus philosophi37 38 39
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Kracauer, S., Georg Simmel, S. 133, DLA. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 293. Der „natürlichen Geometrie“ entspricht nicht die „géométrie naturelle“ aus der Wahrnehmungstheorie René Descartes. Diese bezieht sich auf die ordnende Wahrnehmungsleistung eines Subjekts, jene auf eine der Dingwelt inhärente Ordnung. Becker, O., Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, S. 388.
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scher Sicht geführt wurden, um die Geometrie neu zu verorten, die ihren Absolutheitsanspruch und ihre Universalität aufgrund der neuen Erkenntnisse von Raum und Zeit verloren hatte. In erkenntnistheoretischer Hinsicht galt ursprünglich die Natur als Modell der geometrischen und technischen Konstruktion. Kant hatte das Subjekt über dieses Vorbild erhoben und den Begriff der Konstruktion als Verstandesleistung zum Mittelpunkt seiner Argumentation erklärt. Im Zuge der Formulierung von nichteuklidischen Raumvorstellungen zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, die mit der Vorstellung eines homogenen physikalischen Raumes brachen, wurde die apriorische Notwendigkeit geometrischer Formen ebenso in Frage gestellt wie die Kausalität von Naturgesetzen. Dies führte zur Revision jener erkenntnistheoretischen Methoden, die durch Untersuchungen über die Natur der mathematischen Erkenntnisse fundiert worden waren. Daraus ergab sich die Notwendigkeit neuer physikalischer Erklärungsansätze und philosophischer Systematiken. In seiner Rezension von Paul Oppenheims Buch Die natürliche Ordnung der Wissenschaften setzte sich Kracauer mit einem neuen Klassifikationssystem von Wissenschaft auseinander, das für ihn symptomatische Bedeutung gewann. Laut Kracauer bestand Oppenheims Verdienst darin, nicht länger logische Linearitäten als konstitutiv für die Ordnung der Wissenschaften anzuerkennen, sondern „die Bestimmungen, die ihnen logische Struktur verleihen“41. Von diesen Bestimmungen – typisch, individuell, abstrakt, konkret – leitet Oppenheim den zweidimensionalen Charakter der logischen Ordnung ab, die er mit einer symbolischen Graphik veranschaulicht. In dieser bilden die genannten Bestimmungen die Eckpunkte eines Vierecks, das die „Denkfläche“ einschließt. Statt eines „umgrenzten logischen Verhaltens“ schreibt Oppenheim so den Wissenschaften eine jeweilige Tendenz zu, die sich aus ihrer Lage im Spannungsfeld von Abstraktions- und Konkretionspol sowie Typisierungsund Individuierungspol ergibt.42 Während Oppenheim die Metaphysik an den Abstraktionspol verlegt, weist er dem Konkretionspol die Geographie zu „als die das Einzelne schlechthin verzeichnende Wissenschaft“. Entscheidend für Kracauers Rezeption dieses Schemas ist die neue Qualität, die der logischen Ordnung durch Oppenheim zugeschrie41 42
Kracauer, S., Die Denkfläche, Schriften 5, 1, S. 368ff. Es ist Gertrud Kochs Verdienst, die Bedeutung des Oppenheimschen Denkschemas für das Werk Kracauers expliziert zu haben. Vgl. Koch, G., Kracauer zur Einführung, S. 43f.
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ben wird: An die Stelle ihrer Linearität tritt ihre Zweidimensionalität, die Wissenschaften sind nicht mehr länger „diskret voneinander abgehoben“, sondern „in ein logisches Kontinuum eingebettet“43. Oppenheims „Denkfläche“ ist ein geometrisches Gebilde, in dem die logisch-formale Ordnung durch eine struktural-rationale abgelöst wird. Kracauers Rezension mündet in einer fundamentalen Kritik am Schema Oppenheims: Eben die Folgerichtigkeit verleiht dem Werk die Bedeutung. Indem es die Summe der Wissenschaften in einem bisher nicht erreichten Grade zur logischen Totalität umwandelt, gibt es der Zeit, wozu sie reif ist: die Darstellung einer aus allen Seinsbeständen abgeschiedenen Ganzheit, die in ihrer Formalität unantastbar zu ruhen scheint. Sie ist eine äußerste Entleerung des Seienden, aber genau diese Entleerung ist aktuell gefordert, da ein Umschlag in die Fülle des Seienden sich nicht eher vollziehen kann, als das Kehrbild der Fülle hervortritt. Es wird in dem System Oppenheims Zug um Zug Wirklichkeit. In der Denkfläche finden sich die Sphären des Seienden wieder, die keine lineare Logik noch einzusammeln vermochte.44
Da in Oppenheims Systematik, die Kracauer auch als „rationale Enzyklopädie der Wissenschaften“ bezeichnet, die „Strukturen aller möglichen Wissenschaften überhaupt“ enthalten sind, wird in ihr selbst die Wissenschaftsklassifikation zur eigentlichen Geschichte der Wissenschaften erhoben. Der Ausschluss von Natur, den dieses Schema der Repräsentation mit sich bringt, bedeutet den Ausschluss einer „natürlichen“ gegenüber einer „rationalen“ Ordnung. Gleichzeitig verdeutlicht das Schema Oppenheims, dass es auf der Ebene der Darstellung zu einer Überlagerung von ästhetischem und theoretischem Raum kommt. Oppenheim greift damit eine der wesentlichen Entwicklungstendenzen der zwanziger Jahre auf, und Kracauer verdeutlicht ihre Konsequenzen: Indem einerseits die Geometrie von der zeitgenössischen Kunst und Literatur zum Gestaltungsideal erhoben45 und andererseits das Verhältnis der Wissenschaften zueinander nicht mehr kausal begründet, sondern in einem flächigen Schema dargestellt wird, wird die Logizität dieser ebenso geleugnet wie die Symbolkraft jener. Eine solche Entwicklung markiert gleichzeitig den Übergang in eine mythische Ordnung, die keine Rückschlüsse mehr auf ihre eigentliche „Natur“ zulässt. Es sind diese Ten43 44 45
Kracauer, S., Die Denkfläche, Schriften 5, 1, S. 369. Ebd., S. 371. Vgl. Sedlmayr, H., Die Revolution der modernen Kunst, S. 70f.
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denzen, die in der direkten Folge der Ablösung der Geometrie von der Anschauung und ihrer Einverleibung in die Mathematik stehen46 und die in meinen weiteren Ausführungen den Begriff einer Absoluten Geometrie konnotieren.47 Ihrem Gehalt, der in der „äußersten Entleerung des Seienden“ besteht, hält Kracauer die Utopie eines dialektischen Umschlags „in die Fülle des Seienden“ entgegen. Während sich im Bereich der Absoluten Geometrie das Verhältnis zwischen den Elementen der Dinge und ihren Figurationen als Totalität darstellt, ist es in dem der Natürlichen Geometrie ein offenes und sich stetig veränderndes. Mit seinen „konkreten“ Städtebildern erfüllte Kracauer seine Forderung nach einer anschaulichen Darstellung des Raumes. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass in der Unterscheidung zwischen Natürlicher und Absoluter Geometrie der Verlust von Natur aufgehoben ist. Denn nicht die Natur ist es, die – der Geschichte der Geometrie entsprechend – zum Vorbild einer Natürlichen Geometrie erhoben wird, sondern der Entwicklungsprozess selbst. Dass seine Konfigurationen ein „immer wechselndes Wandelpanorama von Bildern“48 darstellen, steht in direktem Zusammenhang damit. In Kracauers Werk spricht sich die Gewissheit aus, dass die Zurichtung der Dinge durch die Rationalität zu den unhintergehbaren Erfahrungen der Moderne gehört. Bereits Anfang der zwanziger Jahre sah Kracauer ein, dass die Welt der Erscheinungen nicht nur rein vitalistische Äußerungen umfasst, sondern auch dem Eingriff des Denkens Rechnung zu tragen hat. In der Auseinandersetzung mit der Philosophie Henri Bergsons und Georg Simmels erfuhr Kracauer diese Ambivalenz als Gegensätze ihrer theoretischen Positionen: Beide Denker verlegen den Grund der Welt in eine schöpferische Lebenskraft […]. Während aber der französische Philosoph das Seiende ganz in ein Werden auflöst und alle Werke gleichsam einschmilzt, um nur noch den der Entwicklung gelten zu lassen, begreift der deutsche Philosoph in das Leben auch das ein, was sich ihm als Idee gegenüber befindet. Jener unterbewertet das Erstarrende, es ist für ihn lediglich ein Überbleibsel, ein Abfallsprodukt 46 47
48
Gosztonyi, A., Der Raum, 2, S. 1221. Das Denotat dieses Begriffs hat nichts gemeinsam mit der Axiomatik bspw. David Hilberts, „die den ‚Naturanteil‘ an der Geometrie durch die freie Setzung von Axiomen liquidierte“. Kracauer, S., Über neue Musik, Schriften 5, 3, S. 301. Kracauer, S., Einer, der nichts zu tun hat, Schriften 5, 2, S. 154.
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des sich entspannenden Lebens; dieser definiert es geradezu als die Aufgabe des Lebens, sich zu Gebilden zu verdichten, die ihm übergeordnet sind.49
Bezogen auf das Kracauersche Denken wird dieser ‚Gegensatz‘ auf der Ebene der konkreten Anschauung in den begrifflichen Antagonismen von Improvisation – so bezeichnet Kracauer Jahrmärkte, Häfen und Zirkusse als „exemplarische Stätten der Improvisation“50 – und Konstruktion deutlich, die sich in geometrischen Mustern, wie z.B. Straßen, verfestigt.51 Improvisation und Konstruktion determinieren den Prozess der Gestaltung selbst, ohne ihn abzuschließen; während jene ein gleichsam organisches, vom Bewusstsein unabhängiges Ordnungsprinzip verkörpert, dessen Einheit allerdings nur noch in der Negation von Gestaltung herstellbar wird, wie sie sich im Zerfall offenbart, umschreibt diese die Gestaltwerdung als synthetischen Prozess, der die Erkenntnisleistung eines Subjekts voraussetzt. Gleichzeitig sind Stätten der Improvisation jene Orte, an denen ‚eine Umkehrung der herkömmlichen Weltverhältnisse‘ stattfindet, die nicht als dialektischer Prozess verstanden wird. Ihre Bedeutung liegt lediglich darin, „die Akzente aufzuheben, die wir als Selbstverständlichkeiten hinnehmen, und die Hierarchie der Werte in Frage zu stellen, der wir im Alltag uns unterwerfen“52, sie ist somit nicht substantieller Art, sondern rein funktionell bestimmt. Das konkrete Raumerlebnis dieser Orte ist nicht selten ein Schwindelgefühl, in dessen Folge der Raum seine festen Bezugspunkte verliert und „die Dinge noch illusionärer macht, als sie es an sich schon sind“53. Kracauers uneinheitlicher Gebrauch von Begriffen bringt es jedoch mit sich, dass diese Bestimmungen nur als Konnotationen angesehen werden können, die sich letztendlich nur aus dem jeweiligen Kontext 49 50 51
52 53
Kracauer, S., Georg Simmel, S. 76, DLA. Kracauer, S., Zu den Schriften Walter Benjamins, Schriften 5, 2, S. 122. Inka Mülder-Bach ordnet diesem Gegensatz konkrete geographische Daten zu: Paris und Berlin. In ihrer Rekonstruktion des topographischen Vergleichs beider Städte liegt der Schwerpunkt auf seinen geschichtsphilosophischen Implikationen. Sie deutet Berlin als eigentliche Stadt der Moderne, die als „Ort radikaler Gleichzeitigkeit“ selbst geschichtslos ist und zu ihrer Beschreibung der Distanz bedarf, die erst die räumliche und zeitliche Ferne des in Teilen „vormodernen“ Standortes Paris gewährt. Mülder-Bach, I., Mancherlei Fremde, S. 63. Kracauer, S., Akrobat – schöön, Schriften 5, 3, S. 128. Kracauer, S., Im Zirkus, in: Frankfurter Turmhäuser, S. 74.
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erschließen lassen und nicht verallgemeinerbar sind. Improvisation bezeichnet nicht nur einen Gestaltungsvorgang, sondern korreliert auch mit einer neuen Form der Wahrnehmung, die die bewusste Verarbeitung von Umweltreizen ausschließt, der Zerstreuung.54 Der Begriff der Konstruktion wird von Kracauer sowohl negativ – als Ausdruck einer verabsolutierenden Verstandesleistung – als auch positiv – als Erkenntnisleistung eines aufklärerischen Subjektes gebraucht. Darüber hinaus verwendet er ihn in seinen Aufsätzen zum Film, die Ende der zwanziger Jahre entstanden, stellenweise synonym mit dem der Montage.55 Eine Chronologie deutet sich in Kracauers Werk insofern an, als er in seinen Schriften bis Mitte der zwanziger Jahre vorrangig destruktive Momente erfaßt, die in der Aufhebung vorgefertigter Ordnungen durch vitale Kräfte ihren Ausdruck finden. Dagegen bringt es seine marxistische Ausrichtung mit sich, dass Kracauer ab Mitte der zwanziger Jahre innerhalb sozialer Zusammenhänge einen subjektiven Konstruktivismus vertritt, der auf die Neugestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse hinausläuft. Den folgenden Ausführungen möchte ich nun die These voranstellen, dass Kracauer Wirklichkeit anhand der Dialektik zwischen Straßen, Städten und Häfen als ihren Elementen und Geometrie, Perspektive, Photographie und Film als ihren bildlichen Figurationen darstellt. Meiner These liegt Kracauers Kritik am methodischen Vorgehen Walter Benjamins zugrunde, in der sich eine Beschreibung seines eigenen Verfahrens verbirgt: „Zur vollen Wirklichkeit dränge Benjamin erst durch, wenn er die reale Dialektik zwischen den Elementen der Dinge und ihren Figuren, zwischen den Konkretionen und dem Abstrakten, zwischen dem Sinn der Gestalt und der Gestalt selbst entspönne.“56 Im Hinblick auf den Darstellungsgegenstand veranschaulichen folglich Straßen, Städte und 54 55
56
Kracauer, S., Kult der Zerstreuung, in: Das Ornament der Masse, S. 316. Im Rahmen seiner Kritik der Ausstellung „Revolutionäre Bildmontage“ merkt Kracauer 1932 positiv an: „Das Netz der Konstruktionslinien versandet nicht länger im Kunstgewerbe, erhält vielmehr die beabsichtigte klassenkämpferische Funktion; die Technik wird der Gesellschaft zugeordnet und hat damit aufgehört, Selbstzweck zu sein […] Die meisten [Arbeiten, U.B.] sind doch, was sie alle sein wollen: auf den Stand der sozialistischen Lehre gebrachte Montagen, die den Konstruktivismus liquidieren und retten.“ Kracauer, S., Revolutionäre Bildmontage, Schriften 5, 3, S. 32. Kracauer, S., Zu den Schriften Walter Benjamins, Schriften 5, 2, S. 123.
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Häfen räumliche Ordnungen, die in Analogie zu gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhängen gesehen werden können. Auf der darstellerischen Ebene dagegen treten diese räumlichen Motive als Strukturelemente auf und geben Aufschluss über jene Mechanismen, die der Konstruktion der bildlichen Figurationen zugrunde liegen. Wirklichkeit wird so gerade in ihrer „rationalen“ Bedingtheit aufgezeigt. In ihrem Materialismus unterscheiden sich Kracauers Texte von dem gesellschaftlich sanktionierten ‚Zwangszusammenhang alles Wirklichen‘, den eine verabsolutierte Ratio schafft, in ihrer Bildlichkeit vom „systematischen Zusammenhang formaler Begriffe“, den die philosophische Abstraktion stiftet. Dies setzt voraus, dass die Definition des Raumes Teil eines Repräsentationssystems ist, dessen Darstellung nicht in einer speziellen Zeichensorte („Bild“)57 aufgeht, sondern eine grundlegende ‚Ordnung der Dinge‘ zur Anschauung bringt.58 Nun ist damit weder gemeint, dass Kracauer seine Denkbilder generell als Bildbeschreibungen anlegte, noch dass er sich einen privilegierten Raum vorstellte, der sich in einem ausgezeichneten imaginären System darstellen ließe. Vielmehr ging es ihm darum, jene Ordnungen selbst als historische Modelle zu erfassen, in denen sich der Zusammenhang der Phänomene offenbart.59 Anstelle des Bildes soll hier der Begriff der Figuration als ästhetisch-konstruktiver Sammelbegriff für jene Repräsentationssysteme gebraucht werden, aus deren 57
58 59
In meiner Untersuchung gehe ich folglich nicht von der Frage aus, was ein Bild ist. Diese Frage wurde bisher dahingehend beantwortet, die Beziehung zwischen Bild und abgebildetem Gegenstand auszubuchstabieren und auf adäquate Formeln zu bringen, wie z.B. Ähnlichkeit, Kausalität, Intentionalität. Da sich erst daraus die Notwendigkeit ergibt, zwischen Darstellung, Repräsentation und Bild zu unterscheiden, werde ich diese folglich in meinen Ausführungen nicht berücksichtigen (vgl. Scholz, O.R., Bild. Darstellung. Zeichen, S. 13ff., und Scholz, O.R., Bild, S. 620-668). Lediglich Nelson Goodman schlägt in seinem Buch Sprachen der Kunst durch die Frage, was ein Bild repräsentiert, eine Erweiterung des Bildbegriffes dahingehend vor, Bild durch Repräsentation zu ersetzen, wobei letztere eher „eine Sache der Klassifikation als der Imitation von Objekten, eher eine Sache der Charakterisierung als der Abbildung“ sei. Goodman, N., Sprachen der Kunst, S. 42. Vgl. Mitchell, M., in Anlehnung an Foucault, Was ist ein Bild?, S. 21. Ordnung gebrauche ich im Sinne Foucaults, der sie als das definiert, „was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert“. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 22.
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Vielzahl ich im Folgenden die Geometrie, Perspektivische Darstellungen, Photographie und Film auswähle. Als kulturelle Konstrukte sind diese Figurationen für Kracauer keine „sinnenfälligen Abbild[er] eines Objektiven“60, sondern zeigen Wirklichkeitsvorstellungen in ihrer historischen und sozialen Bedingtheit auf. Die Folie, vor der diese Bildverständnisse ausbuchstabiert werden, ist demnach nicht die Kunst, da sie sich Kracauer zufolge „zu Schöpfungen […] verdichtet, die bar jedes Wirklichkeitsgehaltes sind“61, und „weniger auf der exakten Beobachtung“ beruht „als auf dem freien Hantieren mit dem optischen Material“62. Aus den ästhetischen Implikationen der Darstellungssysteme leitet Kracauer jenen erkenntniskritischen Mehrwert ab, den die gesellschaftliche Ordnung aufgrund des von ihr etablierten Formsystems verweigert. Kracauer greift auf verschiedene bildliche Formationen zurück, da sich in ihnen ein alternativer Diskurs63 zur philosophischen Erkenntnislehre abzeichnet. Während diese „Sinn einfach nur behaupte[t]“64, werden in jenen die Begriffe Subjektivität und Objektivität anschaulich verhandelt. In unserem heutigen Verständnis setzt die Lesbarkeit dieser Ordnungen eine „Theorie der Wahrnehmung, Bildpragmatik, Semiotik, Phänomenologie des Bildes“65 und eine Analyse der diskursiven Praktiken voraus, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“66. Im Hinblick auf die Repräsentationssysteme Geometrie, Perspektivische Darstellungen, Photographie und Film ist jedoch nicht die Frage entscheidend, was eine geometrische, perspektivische, photographische oder filmische Darstellung ist, sondern wie die einzelnen Elemente innerhalb dieser Systeme miteinander verknüpft werden, wie sich die Konstitution von Sinn vollzieht und welche alternativen Erkenntnismodelle durch sie vermittelt werden. Es mag Kracauers früher Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe geschuldet sein, ‚die in räumlichen Anschauungen befangen ist‘67, dass sein Raumverständnis stark von geometrischen Theorien geprägt ist. 60 61 62 63
64 65 66 67
Bohn, V., Bildlichkeit, Einleitung, S. 7. Kracauer, S., Schicksalswende der Kunst, Schriften 5, 1, S. 77. Kracauer, S., Kinder-Kunst, in: Berliner Nebeneinander, S. 225. Grob vereinfacht lautet so das Fazit von Gottfried Boehms Studien zur Perspektivität. Schröter, M., Weltzerfall und Rekonstruktion, S. 24. Böhme, G., Theorie des Bildes, S. 11. Foucault, M., Archäologie des Wissens, S. 74. Kracauer, S., Die Notlage des Architektenstandes, in: Frankfurter Turmhäuser, S. 303.
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Bildliche Formationen treten bei ihm als Ordnungssysteme auf, die entweder die Struktur zu erkennen geben, die der Organisation von Gegenständen (Inhalten) zugrunde liegt, oder im Rahmen eines Bezugs- bzw. Koordinatensystems zu entschlüsseln sind, das ihre Konstruktionsmechanismen bestimmt. In einem buchstäblichen Sinn sind sie weniger optische Bildmedien als die räumlich-konkreten Veranschaulichungen von erkenntnistheoretischen Konstellationen. Ergänzt wird der Versuch, die Oberfläche der Erscheinungen zu deuten, die in einfachen geometrischen Formen der konkreten Anschauung aufgehoben sind, durch das psychische Raumerlebnis, das entweder – wie im Rausch – unmittelbar erlebt oder – wie im Traum – durch eine andere, sinnbildliche Formenwelt vermittelt wird. Meine Gliederung der räumlichen Repräsentationssysteme impliziert nicht nur eine kulturgeschichtliche Betrachtungsweise, die an bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen gebunden ist, sondern geht auch davon aus, dass Anschauungsformen und Erscheinungsformen bestimmte einfache geometrische Zusammenhänge aufweisen können.68 Während die Geometrie lediglich Formen und ihre Veränderungen und Bewegungen in der Ebene darstellte69, versuchte die perspektivische Darstellung eine einheitliche Gesamtraumwahrnehmung70 zu vermitteln. Dem entspricht die Auffassung, dass in der Geometrie Proportionen und ideale Formen anhand des Naturvorbildes und unter Ausschluss jeglicher aus der Erfahrung stammenden Vorstellung erfasst werden sollten und mithin ein Betrachter selbst im Bild nicht thematisiert wird. Dagegen beruhte die Zentralperspektive auf der cartesianischen Konzeption einer SubjektObjekt-Beziehung und veranschaulichte als optisches Gefüge so die ausgezeichnete Position des Subjekts auf der Grundlage eines erkenntnistheoretischen Modells. Da sie als solche mit der Frage nach den psychophysischen Voraussetzungen des Sehens verknüpft war, wurde die sinnliche Wahrnehmung im Zuge einer naturwissenschaftlichen Wahrnehmungsforschung am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen und aktiven Form der Erkenntnis aufgewertet.71 Im Kontext der Untersuchung perspektivischer Darstellungssysteme in Kracauers Schriften ist ihre phänomenologische Modifikation im Sinne einer allgemeinen 68 69 70 71
Vgl. Gosztonyi, A., Der Raum, 2, S. 1235. Riegl, A., Spätrömische Kunstindustrie, S. 13. Vgl. Scholz, O.R., Bild, S. 647. Vgl. Boehm, G., Was ist ein Bild?, S. 19.
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Perzeptionstheorie insofern von Interesse, als sie eine Theorie des Betrachters impliziert, der aufgrund seiner Leiblichkeit Anteil hat an der sichtbaren Welt der Dinge und sie dadurch auch verändert. Ende der zwanziger Jahre gibt Kracauer sein phänomenologisches Verfahren zugunsten einer marxistisch motivierten Analyse der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse auf. Die Verschleierung dieser Verhältnisse im Dienste der Erhaltung von Machtstrukturen steht für Kracauer in einem direkten Zusammenhang mit dem Aufkommen von Bildsystemen, wie Photographie und Film, die als Realitätsersatz fungieren und die gleichzeitig die Erfahrung ihrer Bildinhalte verweigern. Ziel seiner Darstellung ist ihm nicht länger, die Strukturen des Wirklichen aufzuzeigen, sondern „die Aufhebung der mythologischen Kräfte“, die sich im Bildzusammenhang verdichten, und „die Abschaffung des Wunders um der Wirklichkeit der Wahrheit willen“.72 Für Kracauer wird nun die Frage virulent, inwieweit diese Repräsentationssysteme über eine eigene Semantik verfügen und inwieweit ein aufklärerischer Umgang mit ihnen gerade deshalb möglich ist, weil sie die Wirklichkeit nicht mehr repräsentieren, sondern ihren technischen Bedingungen gemäß und den Intentionen ihres Bildners entsprechend darstellen. Meine Textauswahl orientiert sich an Kracauers Essayband Das Ornament der Masse, mit dessen Zusammenstellung und Gliederung Kracauer den Zusammenhang seiner frühen Essays unter allgemein theoretischen Gesichtspunkten räumlicher Darstellungssysteme reflektierte.73 Kracauers 1960 erschienene Theory of Film und die darin entwickelten Grundzüge einer materialen Ästhetik mögen den Hintergrund für diese Herangehensweise bilden. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich Kracauer zeitlebens auch mit ästhetischen Fragestellungen auseinandergesetzt hat, die er zwar erst in seinem Spätwerk in einer quasi-systematischen Form beantwortete, die aber gleichwohl in Motiven und Metaphern auch sein journalistisches Werk bis 1933 durchziehen. Ausgehend 72
73
So legt es das Motto des Photographieaufsatzes nahe, das aus einem Märchen stammt. Den aufklärerischen Impetus des Märchens hatte Kracauer in seiner Rezension von Franz Kafkas Roman Das Schloß dargestellt. Kracauer, S., Das Schloß, Schriften 5, 1, S. 392. Auf den besonderen Gestus der Rückwendung in Kracauers Spätwerk hat bereits Inka Mülder-Bach hingewiesen. Ausgehend von Kracauers posthum veröffentlichter Studie History. The Last Things Before the Last stellt sie die Frage nach der Kontinuität von Kracauers Denkfiguren und Motiven. MülderBach, I., Schlupflöcher, S. 249.
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von der unter der gleichnamigen Überschrift im Ornament der Masse versammelten Bewegungsstudie Knabe und Stier beziehen sich die ersten beiden Kapitel vor allen Dingen auf den Gegensatz zwischen Natürlicher und Absoluter Geometrie, die die Rekonstruktion der Wirklichkeitsvorstellungen74, wie sie in den exemplarisch zu analysierenden Feuilletons verhandelt werden, mit einschließt. Es gilt mittlerweile als Konsens in der Kracauer-Forschung, dass Kracauer in seinen frühen Schriften das existentialistisch gefärbte Konzept eines „wirklichen“ Menschen vertritt und ab 1925 marxistische Positionen einnimmt. Entsprechend changiert Kracauers Raumbegriff zwischen einem ‚erfüllten Raum der Gemeinschaft‘75 und dem Raum als ‚Darstellung des Seins der Gesellschaft, das durch deren Bewusstsein verhüllt wird‘76. Zu Beginn der dreißiger Jahre geht Kracauer davon aus, dass die (gesellschaftliche) Wirklichkeit nur in jenen Ereignisfolgen zu erkennen sei, die sich „ohne Eingreifen des Bewusstseins“ vollziehen.77 Wirklichkeit wird als Folge von Ereignissen begriffen, die sich zwar historisch, aber entgegen dem „‚natürlichen‘ gesellschaftlichen Ablauf“78 entwickeln. In Abgrenzung zur Etablierung eines falschen „natürlichen“ gesellschaftlichen Ordnungssystems, das die Einsicht in die historische Bedingtheit ökonomischer und sozialer Machtzusammenhänge verwehrt, lässt sich auch die individuelle Sinngebung als alternative Erkenntnisform verstehen. Das Kapitel Perspektivische Darstellungen reflektiert die Position des Subjekts, das diese deutenden Konstruktionsmodelle verhandelt. Im Mittelpunkt der Kapitel Photographie und Film stehen die gleichnamigen Medien, die vollständig neue Wiedergabemodi von Wirklichkeit begründen und andere interpretatorische Verfahren erfordern.
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75 76 77 78
Zu den unterschiedlichen Konnotationen von Kracauers Wirklichkeitsbereich im Sinne einer materialen, gesellschaftlichen und belangvollen Wirklichkeit vgl. Schröter, M., Weltzerfall und Rekonstruktion, S. 32. Kracauer, S., Der Detektiv-Roman, Schriften 1, S. 111. Kracauer, S., Brief an Theodor W. Adorno vom 1.8.1930, DLA. Kracauer, S., Ein soziologisches Experiment?, Schriften 5, 3, S. 38. Ebd., S. 39.
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3.2. Natürliche Geometrie 3.2.1. Bewegung: Knabe und Stier Die Datierung „Mitte September 1926“ und die Ortsangabe „Aix (Provence)“ belegen79, dass es sich bei dem beschriebenen Stierkampf um ein Erlebnis Kracauers während seines Frankreichaufenthaltes im Herbst 1926 handelte. In der literarischen Bearbeitung verwandelte sich das wirkliche Ereignis in die Beschreibung eines Bildes, konkret einer „Bewegungsstudie“. Nicht genug damit, wählte Kracauer fast dreißig Jahre nach dem Erstdruck diesen Text für eine erneute Publikation aus und ordnete ihn dem Kapitel Natürliche Geometrie zu. Der Transformation von einem Ereignis zu einem Bild entspricht eine Verlagerung der Aufmerksamkeit: Nicht der Wirklichkeit, die das Erlebnis verbürgt, gilt Kracauers Interesse, sondern ihrer, im Rahmen formaler Gesetze verallgemeinerbaren Darstellung. Durch die ästhetische Distanz zum realen Ereignis sublimiert Kracauer die affektiven Wirkungen des Stierkampfes und lenkt so das Interesse vom Inhalt80 auf den Akt der Darstellung selbst. Welche Darstellung aber ist gemeint, und wie ist der Darstellungsraum beschaffen, den die Studie vermittelt? Der Untertitel des Essays, Bewegungsstudie, legt nahe, dass Kracauer mit der Gestaltung seines Textes an die gleichnamige malerische Tradition anknüpft. Die Prosaform des Denkbildes umfasst somit zwei medienspezifische Pole der Darstellung: zum einen die konkrete Veranschauli79
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Einen Nachweis dafür, dass dem beschriebenen Bild ein wirkliches Ereignis zugrunde lag, liefert Benjamins Reaktion auf Kracauers südfranzösische Miniaturen: „Ich erkannte natürlich das Portrait des unheimlichen Platzes, auf den wir nachts stießen, erkannte auch meine eigenen Wahrnehmungen in der sehr präzisen Stierkampf-Darstellung, in der Sie das Diminutivum das die Veranstaltung wohl nicht allein wegen des kindlichen Kämpfers darstellt – sondern auch als ein nördlichst vorgeschobenes Stück der corrida-Kultur sehr deutlich heraustreten lassen.“ Benjamin, W., Brief an Kracauer vom 5.11.1926, in: Benjamin, W., Briefe, III, S. 211. Insofern kommt auch dem Gegenstand der Darstellung nicht das Gewicht zu, wie bisher von der Forschung allgemein angenommen: „The traumatic nature of social change not only challenges aesthetic claims to truth and generality, but calls into question the traditional hierarchy which the institution of art has relied on to exclude and suppress other, i.e., lower-class and more physical, forms of culture.“ Bratu Hansen, M., Kracauer’s Early Writings on Film and Mass Culture, S. 58.
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chung eines Ereignisses im Bild und zum anderen die Reflexion dieser Anschauung in einer konkreten Textsorte, der Bildbeschreibung. Es handelt sich allerdings bei beiden um eine modifizierte Variante, denn im Vordergrund sowohl der Darstellung als auch der Deskription steht nicht das Bild, sondern die Bewegung im Bild. Damit geht ein Wandel des Gegenstandes einher, nicht mehr das Bild als solches steht zur Disposition, sondern seine Voraussetzung: die Bewegung.81 Parallel zur physischen Bewegung, die im formalisierten Akt des Stierkampfes den Bildraum generiert, weist der Text bereits mit den einleitenden Sätzen auf eine weitere Form der Raumerzeugung hin: „Ein Knabe tötet einen Stier. Der Satz aus der Schulgrammatik wird in einer gelben Ellipse dargestellt, in der die Sonne kocht.“82 Die Bewegungen des Knaben werden mit einem Textmodell enggeführt, die „natürliche Geometrie“ des Bewegungsablaufes mit dem Funktionieren sprachlicher Zeichen gleichgesetzt.83 Wie rechtfertigt der Text selbst den formalisierten Bewegungsablauf einer Corrida als „natürliche Geometrie“, und inwieweit korrespondiert diese mit der sequentiellen Folge sprachlicher Repräsentationen, die dem Regelsystem der Grammatik unterliegen? Sowohl der Bewegung des kindlichen Matadors als auch der Grammatik84 ist gemeinsam, Ordnungen in der Zeit vorzustellen, deren Teile und Grade sich nacheinander entwickeln und durchlaufen werden. Demnach gibt der Raum keine eindeutige und definitive Ordnung vor, sondern offenbart sich in wechselnden Konstellationen, die dem streng ritualisierten Bewegungsablauf des Stierkampfes entsprechen. Der Stierkämpfer ist gleichzeitig das grammatikalische Subjekt; die Art und Weise, in der Kracauer diesen schildert, erlaubt jedoch keinerlei Rückschlüsse auf seine Individualität: 81
82 83
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Die Bewegung, „als Beschreibung eines Raumes“, wird von Kant in den Kontext der Transzendentalphilosophie gestellt; ihre Reflexion „als Handlung des Subjekts“ vollzieht sich im Bereich des Verstandes, der anhand von Begriffen zu ihrer Vorstellung angeregt wird. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, 1, S. 151. Kracauer, S., Knabe und Stier, Schriften 5, 1, S. 380. Hinzu kommt die Behandlung der Farben. Es sei hier nur angedeutet, dass Kracauers Desinteresse am Gegenständlichen (als Inhalt der Darstellung) seiner Behandlung der Farben als reine Wirkfarben entspricht. Ähnlich wie im Impressionismus wird der Gegenstand in der Schilderung Kracauers „von Reflexen überlagert, verliert sich […] in seinen Beziehungen zur Luft und zu anderen Gegenständen“. Vgl. Merleau-Ponty, M., Der Zweifel Cézannes, S. 43. Vgl. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 121.
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Siegfried Kracauer – Figuration Er ist ein orangener Punkt mit umgeschlagenem Zopf. Dreizehn Jahre, ein Bubengesicht. Andere Jungen seines Alters sausen im Prunkkostüm über die Prärie und erretten die weiße Squaw vor dem Martertod. Vor einem Stier liefen sie davon. Der Knabe steht und lächelt zeremoniell. Das Tier erliegt einer Marionette.85
Nicht ohne Grund erinnert das mangelnde Selbstbewusstsein des kindlichen Stierkämpfers, den Kracauer auch als eine Marionette bezeichnet, an Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater86. Kleist führte aus, dass das Ästhetische durch die Grazie des Tänzers vermittelt werde und bedauerte den Verlust der Unschuld als ihrer Voraussetzung, die aus der stetigen Selbstreflexion des Menschen resultiere. Seine Überlegungen mündeten in der fundamentalen Schlusssequenz, dass, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“, sich die Grazie wieder einfindet „so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“87 Kracauer geht es weniger um eine ästhetische Form der Darstellung, sondern um die Erkenntnisleistung, die sich am Vorbild der Geometrie orientiert. Diese bedeutet allerdings nicht die detailgetreue Nachahmung von Naturgegenständen mittels abstrakter, geometrischer Regeln oder eine im Kantschen Sinne konstruktive Verstandesleistung, die unabhängig von der Erfahrungswelt ist. Gerade der Verlust an Bewusstsein erfüllt für Kracauer die attributive Voraussetzung einer Natürlichen Geometrie. Den sich daraus ergebenden begrifflichen Widerspruch vermag Kracauer zu lösen, indem er die Geometrie Aufschluss geben lässt über das „‚materiale‘ Wesen des Raumes“88. Sie wird somit zu einem 85 86
87 88
Kracauer, S., Knabe und Stier, Schriften 5, 1, S. 380. Auch der Marionettentheateraufsatz intendiere die unterschiedlichen Darstellungen von Bewegungsformationen, denn Kleist habe „die Berechenbarkeit von Bewegung, mithin von Bewegung nach formalen Gesetzen […] zeit seines Lebens gesucht und spätestens seit seiner Kant-Lektüre in ihrer sprachlichen Bedingtheit zu erkennen gelernt“. Allerdings definiert Roger W. Müller Farguell Bewegung in einem rein sprachlich-rhetorischen Sinne. Müller Farguell, R.W., Tanz-Figuren, S. 109. Kleist, H.v., Über das Marionettentheater, S. 563. Vgl. Becker, O., Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, S. 390. Kracauer argumentiert nicht aus rein phänomenologischer Perspektive; während bei Becker das „materiale Wesen des Raumes“ ontologisch behandelt wird, ist dieser Terminus bei Kracauer in der Empirie verankert.
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von der Materie abhängigen und wechselvollen Konstrukt. Kracauers Interesse richtet sich dabei weder auf den substantiellen Gehalt natürlicher Gegenstände noch auf die konkrete Bedeutung von bildlichen und sprachlichen Repräsentationssystemen. Vielmehr geht es ihm um das Wie der Verknüpfung; er rekurriert auf ein Repräsentationssystem, dessen Elemente – wie abstrakt auch immer sie sein mögen – in einem „natürlichen“ Zusammenhang stehen, d.h. nicht der reflexiven und konstruktiven Leistung eines Bewusstseins unterliegen. In dem Gliedermann, der kein Bewusstsein besitzt, erscheint die Erkenntnis dergestalt als reine Erkenntnis, als sie die Form der Repräsentation offen zu legen vermag. Im Gegensatz zu Kleist, bei dem dieser Verlust gleichzeitig einen Gewinn für das Ästhetische darstellt89, ist Kracauer weniger an der ästhetischen Wirkung dieses Vorganges als an ihren epistemologischen Implikationen interessiert. Gerade der Verlust an Bewusstsein eröffnet für Kracauer ein gleichsam erkenntnistheoretisches Fenster, durch das sich der Diskurs in seiner Bedingtheit selbst zu erkennen gibt. Mit seiner Bewegungsstudie verfolgt Kracauer so eher rhetorische und mathematische Intentionen, die beide auf je unterschiedliche Weise die Entstehungsbedingungen des Beschreibungs- und Bildraumes reflektieren. Gottfried Boehm hat nachgewiesen, dass „die ältere Tradition der descriptio […] nicht nur ins Feld der Rhetorik und der Kunsttheorie [führt], sie erschließt […] auch die Bereiche des exakten Wissens […]. Die Kategorie der descriptio meint […] die vorgängige Erzeugung eines geometrischen Gebildes“.90 Den Anspruch der vorgängigen Erzeugung eines Gebildes erfüllt die Fokussierung der Bewegung, die den Bildraum erzeugt. Unbeantwortet blieb bisher jedoch die Frage, welche sprachlichen Bewegungen der Text transportiert, die seine Funktionsweise offen legen.91 89
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Vgl. de Man, P., Ästhetische Formalisierung, S. 210. Mein Bezug auf de Man ist nicht mit einer dekonstruktivistischen Lektüre Kracauers gleichzusetzen. Gleichwohl lassen sich Übereinstimmungen zwischen de Mans dekonstruktiven Lektüreansätzen, die die Sinnverschiebungen in Texten anhand rhetorischer Figuren untersuchen, und Kracauers Frage nach den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen des Sinns finden. In seinem aufklärerischen Impetus geht Kracauer jedoch nie so weit, das Kunstwerk und das Subjekt selbst in Frage zu stellen. Boehm, G., Bildbeschreibung, S. 24. Wenn diese Fragestellung einer wissenschaftlichen Methode zugeordnet werden soll, dann ist dies die Semiologie. Vgl. Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 88, und de Man, P., Semiologie und Rhetorik, S. 34.
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Im Text selbst sind die Ebenen einer sukzessiven, sich zeitlich entwickelnden Ordnung als auch einer simultanen, räumlichen vorhanden. Während jene dem Muster des grammatikalischen Beispielsatzes „Ein Knabe tötet einen Stier“ folgt, kulminiert diese aufgrund des formalisierten Bewegungsablaufes in arabesken Mustern, die sich als ästhetisches Kunstprodukt par excellence offenbaren. Die abstrakte, dem Bewegungsvorgang eingelagerte Arabeske unterliegt nicht dem Gesetz der Nachahmung, denn „Natürliches ließe sich aufspießen, vor dem Gleitflug der rinnenden Falten schwinden die Kräfte“92. Die Arabeske ist allein schon deshalb ein ästhetisches Konstrukt, weil sie der Natur entgegengesetzt wird. Infolgedessen trägt sie selbstreflexive Züge: Der Tendenz zu simultaner Gleichzeitigkeit, die das Bild charakterisiert93, wird das Schweben der Capa gegenübergestellt, das einen zeitlichen Stillstand ankündigt. Im Gleiten ist der Gegenfetisch scheinbar von der Schwerkraft befreit und damit von der Materie unabhängig.94 Er wird zur reinen Form. Das physikalische Kräftespiel, das die Bewegungen des Knaben kausal mit den Bewegungen des Stieres verbunden hat, wird unterbrochen. Die „natürliche“ Wirklichkeit, in der der Stier agiert, unterscheidet sich von dem artifiziellen Raum, den die „Geometrie“ von Muleta, Pica und Degen konstruiert. Auf der Ebene des Textes findet ein Wechsel zwischen der „Ordnung, die die Räumlichkeit in der Zeit aufteilt“, (Grammatik) und der Weise statt, „auf die die Sprache sich in den sprachlichen Zeichen räumlich anordnet“95 (Rhetorik). Im Sinne einer rhetorischen Figur bezeichnet die Arabeske den Bruch zwischen dem Zeichen und seinem Referenten. Die Bewegungen des Knaben kehren im Text als ein „System von Wendungen und Abweichungen“96 wieder, die aufgrund ihrer Selbstreferentialität zur Auslöschung ihres Referenzobjektes, des Stieres, führen.
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Kracauer, S., Knabe und Stier, Schriften 5, 1, S. 380. „Die Abbildung ist gewiß gebieterischer als die Schrift, sie zwingt uns ihre Bedeutung mit einem Schlag auf, ohne sie zu analysieren, ohne sie zu zerstreuen.“ Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 87. „In den Erscheinungen der Gravitation gibt sich also des Trägheits- oder, wie ich lieber sage, des Führungsfeldes Veränderungsfähigkeit und Abhängigkeit von der Materie kund.“ Weyl, H., Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 74f. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 121. de Man, P., Ästhetische Formalisierung, S. 227.
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In diesem Zusammenhang sind auch die im Text folgenden Verwandlungen des Knaben zu sehen: Aus der Marionette wird das orangefarbene Weib, aus dem Weib der kleine Magier. Die Transformationen, die die Bewegungen des Knaben in das Spiel von Arabesken und Ornamenten übersetzen, betreffen auch ihn selbst. Die ästhetische Kraft obliegt nicht dem Knaben und seinem Agieren in einem dramatischen Rollenspiel: In der metaphorischen Verkleidung entzieht er sich einem konkreten, selbstbestimmten Handeln. Sie ist Teil jener festgelegten Ordnung, deren Vorschriften der Knabe befolgt, und die von Kracauer als „Geometrie“ bezeichnet wird. Die Attribute der Fläche und der Linie bezeichnen das Nahen des Endes. Die Marionette läßt den Lappen funkeln und zieht mit dem Degen Kreise, die sich verengen. Der Stier wird von einem Zittern befallen vor der Gewalt der Ornamente. Sie, die ihn Rauchringen gleich umstrichen, später punktweise trafen, pressen sich drohender stets an ihn, damit er in den Kanevas vergehe.97
Ausgestattet mit den „Attributen der Fläche und der Linie“, die konkret die Muleta und den Degen benennen, in übertragener Bedeutung jedoch für die Flächigkeit des Bildes und die Linearität der Sprache stehen, wird das Ritual in deskriptive geometrische Parameter gefasst. Die Gewalt der Ornamente entspricht jener diskursiven Ordnung, die durch geometrische Elemente und rhetorische Figuren definiert wird und die gegen die Natur, den Stier, gerichtet ist. Diese geometrische Nomenklatur schreibt den Bewegungen des Stierkämpfers seinen Objektcharakter vor, sie wird zur Form, die der Betrachter des Stierkampfes analysieren kann. Auf der Ebene des Bildes wird der Stier von der Geometrie ins Bild gebannt. Erst in dem Moment, in dem der Stier besiegt ist, „herrschen die Farben und Schwünge“98. Der Tod des Stieres befreit das Bild endgültig vom Diktum der Gegenständlichkeit; Bild- und Textelemente agieren in „Farben99 und Schwüngen“ selbstreferentiell, die ästhetische Ordnung gibt sich ganz zu erkennen. Dabei ist zu beachten, dass die Ornamente ihre Kraft aus der Auslöschung der Natur beziehen. Der Text selbst führt die Bewegung aus, die die ästhetische Gegenstandswelt des Zeichens von 97 98 99
Kracauer, S., Knabe und Stier, Schriften 5, 1, S. 381. Ebd. „Und ähnlich steht es mit den Farben, die von ihrer Nachahmungsfunktion in der idealistischen Ästhetik gelöst und als Wirkfarben aufgrund ihrer materiellen Qualitäten neu eingesetzt werden“. Bandmann, G., Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, S. 148.
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der natürlichen Wirklichkeit des Referenten trennt. Das Ornament, das ebenso wie die Arabeske der Bewegung eingelagert ist, mithin jenen Prozess transparent werden lässt, wird zum Zeichen dieses Bruches. Kracauer kehrt sich mit seiner Bewegungsstudie von einer erzählerisch motivierten Darstellung ab. Zwar schildert er ein dramatisches Rollenspiel, doch ist dieses keinesfalls mimetischer Natur; seine Beschreibung zielt auf die Art und Weise der Verknüpfung, die die Handlungssequenzen hervortreten lassen, jene Ordnung, die er als Natürliche Geometrie bezeichnet und die im Sinne einer Sprachbewegung die Rhetorik einlöst. Dies wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass die Beschreibung des Stierkampfes nicht mit dem Tod des Stieres endet, sondern mit der Wiedergabe seiner Vorschrift: „Der Knabe lächelt zeremoniell.“100 Die Zeremonie entspricht dem axiomatisierten Regelkanon der Erfahrungstatsache, wie man einen Stier tötet. Der eigentliche Akzent der Vorschrift liegt dabei auf dem Wie; erst die Modalität als eine Funktion der Rhetorik stellt die Übereinstimmungen her, „die anstelle des ‚substantiellen‘ Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird“101. Dabei kann sich die Geometrie gerade durch die Auslassung des Subjektes als „natürliche Geometrie“ geben. Es lässt sich hier jedoch nicht der Widerspruch übersehen, der sich aus der Gegenüberstellung der Wörter „Geometrie“ und „Studie“ ergibt und der den Widerspruch zwischen einem Regelkanon, der allgemeinverbindlich angelegt ist, und einem Entwurf, der die Intentionen seines Autors zum Ausdruck bringt, mit einbegreift. Dieser Widerspruch löst sich durch die Bedeutung einer Natürlichen Geometrie auf, die dieser im Prozess einer Analogisierung mit der Rhetorik zugeschrieben wird. Beide lassen sich auf den gemeinsamen begrifflichen Nenner bringen, Wirkungsmittel durchschaubar zu halten und bewusst zu machen.102 Insofern sich Kracauer im theoretischen Vollzug dieser Bewegungen einem vorläufigen Erklärungsmodell annähert, sind Natürliche Geometrie und skizzenhafte Darstellung103 einander verwandt. Der Untertitel „Bewegungsstudie“ konnotiert so auch das Provisorische und 100 101
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Kracauer, S., Knabe und Stier, Schriften 5, 1, S. 381. Blumenberg, H., Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 289. Ebd., S. 292. Nelson Goodman spricht der Skizze die Eigenschaft ab, ein Zeichensystem zu sein, da sie weder durch die Gewohnheit noch durch eine ausdrückliche Festlegung klassifiziert werden kann. Goodman, N., Sprachen der Kunst, S. 198f.
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Unvollendete der Beschreibung, das bewusst in Abgrenzung zu einer definiten und letztendlichen Wahrheit formuliert wird. 3.2.2. Fläche: Zwei Flächen Ebenso wie Knabe und Stier ordnete Kracauer auch den Text Zwei Flächen dem Kapitel Natürliche Geometrie seiner Essaysammlung Das Ornament der Masse zu. Im Gegensatz zu jenem Text, in dem Kracauer das reale Geschehen zu einem „Bild“ erhöht, um es zu deuten, wendet er sich in diesem Text einem „wirklichen“ Ort zu. Bezogen auf die in der Einleitung skizzierte Problemstellung wird an diesem Wechsel von künstlerischen Gegenständen hin zu alltäglichen Kracauers Erkenntnis sichtbar, „daß das Ästhetische schon zur Grundschicht von Erkenntnis und Wirklichkeit gehört“104. Die Überschrift Zwei Flächen entspricht der Zweiteilung des Textes: Dargestellt werden Die Bai von Marseille und Das Karree. Während jene den Hafen spiegelt, beschreibt Kracauer mit diesem einen Platz; allein aufgrund der formalen Anordnung gibt der Text eine Symmetrie zu erkennen. Im Unterschied zu Knabe und Stier wird jedoch nicht die „vorgängige Erzeugung eines geometrischen Gebildes“ diskutiert, sondern geometrische Figuren, die konkreten städtebaulichen Elementen und Konstruktionen entsprechen. Kracauer übersetzt räumliche Verhältnisse, die in bühnenarchitektonische Metaphern gekleidet sind, in Flächen, die aus den geometrischen Elementen von Punkten, Linien und Ebenen bestehen: Marseille, ein blendendes Amphitheater, baut sich um das Rechteck des Alten Hafens auf. Den meergepflasterten Platz, der mit seiner Tiefe in die Stadt einschneidet, säumen auf den drei Uferseiten Fassadenbänder gleichförmig ein […]. Auf ihn, als den Fluchtort aller Perspektiven, sind die Kirchen ausgerichtet, ihm die noch unbedeckten Hügel zugewandt. Ein solches Publikum ist kaum je um eine Arena versammelt gewesen. Füllten Ozeandampfer das Bassin, ihre Rauchfahnen wehten den entlegensten Häusern, brennte Feuerwerk über der Fläche ab, die Stadt wäre Zeuge der Illumination.105
Der Hafen wird zur Bühne und zum Bild, das sich geometrisch als Fläche beschreiben lässt und gleichzeitig den „Fluchtort aller Perspektiven“ darstellt. Dagegen markiert es als Bühne den Blickpunkt der Aufmerk104 105
Welsch, W., Ästhetisierungsprozesse, S. 8. Kracauer, S., Zwei Flächen, Schriften 5, 1, S. 378.
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samkeit eines „Publikums“, in diesem Falle der Stadtviertel, die sich um den Hafen lagern. Kracauer wechselt von der Bildlichkeit euklidischer Grundfiguren in die konstruktive Geometrie: Der Hafen und die ihn umgebenden Viertel werden so nicht mehr als ‚reine‘, sich selbst genügende Flächen repräsentiert; sie werden dem Regelsystem eines projektierten Wirklichkeitszusammenhanges unterstellt, der in der Bildrahmung selbst zum Ausdruck kommt. Dieser Wechsel ist zunächst historisch motiviert, da das Theater den Entstehungsort der Zentralperspektive markiert.106 Die „Kirchen“ und die „noch unbedeckten Hügel“ sind auf den „Fluchtort aller Perspektiven ausgerichtet“. Dies legt nahe, dass die Wirklichkeit nicht vordergründig im Sinne einer geometrischen Perspektive konstruiert oder entworfen ist, die ein bestimmtes Subjekt-ObjektVerhältnis zum Ausdruck bringt, sondern ihr Wahrheitsanspruch heilsund naturgeschichtlich verbürgt wird. Die Überschneidung von verschiedenen bildlichen Formationssystemen wirft allerdings die Frage auf, inwiefern dieser Text überhaupt der Zuordnung zu einer Natürlichen Geometrie standhält. Mit der Personifikation der Stadtviertel wird der Augenpunkt – dessen Bezug zum Fluchtpunkt das Wesen der Perspektive ausmacht107 – eines fiktiven Betrachters in das Bild hineingeholt. Nicht genug damit findet gleichzeitig eine Permutation statt: Entgegen aller perspektivischen Regeln wird der Augenpunkt vervielfältigt.108 Im Fluchtort werden die Augenpunkte gebündelt; die Bewegungen von „Ozeandampfern“ und das Abbrennen von „Feuerwerken“ verleihen den Quartieren ihre räumliche Tiefe. Der Gebrauch des Konjunktivs weist jedoch gerade auf das Nichtvorhandensein eines Fluchtpunktes hin. Der Fluchtpunkt, die unbewegte Wasserfläche, erscheint ausgelöscht, da er nichts weiter als das Gespiegelte selbst vorweisen kann. Indem Augenpunkt und Fluchtpunkt einander entsprechen, kommt es zu einer semantischen Überlagerung 106
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„Die Entdeckung der Perspektive, von Licht und Schatten, erfolgen in einem Sehraum, der den Sehraum der Stadt in deren Mitte wiederholt: im Theater (Skenographie).“ Manthey, J., Wenn Blicke zeugen könnten, S. 154. Boehm, G., Studien zur Perspektivität, S. 58. „Der Augenpunkt ist der Punkt des Bildes, in dem die Fluchtlinien aller Gegenstände und Ebenen zusammenlaufen. (Im Unterschied zum Fluchtpunkt, dem Konvergenzpunkt lediglich einiger Tiefenlinien des Bildes, gegenüber dem Augenpunkt, in dem sich sämtliche Linien des Bildes treffen müssen. Ein Bild kann wohl mehrere Fluchtpunkte, aber nur einen Augenpunkt haben).“ Ebd., S. 18.
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von Bühnenraum und Bildfläche, die Tiefendimension geht verloren. Der Hafen wird zur schlichten Projektionsfläche, zum zweidimensionalen Bild, das jeder Transzendenz enträt und jene heils- und naturgeschichtlichen Erwartungen, die „Kirchen“ und noch „unbedeckte Hügel“ aussprechen, nicht einzulösen vermag. Eine Lesart des Fluchtpunktes als „metaphysisches Loch, das der geometrisierte, mathematische Raum aus dem Bilde selbst verbannt hat: nicht als der Raum, der nicht ist, das Nirgendwo, sondern als das, was noch nicht ist“109, legt nahe, dass die Zweidimensionalität der Fläche das Verschwinden dessen anzeigt, was erst mit der Erfindung der Zentralperspektive in das Bild gerät: eines utopischen Ausblicks nämlich. Während in Knabe und Stier ein reines, sich selbst genügendes Repräsentationssystem zur Darstellung gelangt, offenbart die bildnerische Ordnung in dem Text Die Bai einen Verlust: Keine Ozeandampfer füllen die Bai, Raketen gleiten nicht nieder. Jollen, Motorbarken, Pinassen nur liegen träg an den Rändern. Zur Zeit der Segelfischerei war der Hafen ein Kaleidoskop, das bewegte Muster über die Kais entsandte. Sie verrieselten in den Poren, an den herrschaftlichen Gebäuden hinter den Uferfronten gleißten die Gitter. Der Glanz hat sich abgenutzt, die Bai ist aus der Straße der Straßen zum Rechteck verwaist.110
Worin aber besteht dieser Verlust, den die zweidimensionale Darstellung anzeigt und der innerhalb des Regelkanons zentralperspektivischer Bilder positiv umgedeutet wird? Die Bewegungen von Ozeandampfern, Jollen, Motorbarken und Pinassen übersetzt Kracauer in die Linienzeichnungen eines Kaleidoskops. Auf diese Art demonstriert er die Kongruenz von „Dingwahrnehmung“ und „Ordnungswahrnehmung“111. Das Kaleidoskop wird zum Präze109
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Martin Burckhardt setzt stillschweigend voraus, dass die Entwicklung der Zentralperspektive einen Fortschritt darstellt. Davon ausgehend, projiziert er auf die euklidische Geometrie das Fehlen eines utopischen Ausblicks, das er dann negativ beurteilt. Unter dem Aspekt einer synchronen Betrachtungsweise ist sein Befund allerdings richtig. Burckhardt, M., Metamorphosen von Raum und Zeit, S. 157. Kracauer, S., Zwei Flächen, Schriften 5, 1, S. 378. „Mit Dingen meine ich hier Elemente unserer Umgebung, die für uns im Kampf ums Dasein und für unsere Interessen von Wichtigkeit sind […] Was ich den Ordnungssinn genannt habe, verhilft uns, wie man sagen könnte, uns in Raum und Zeit zurechtzufinden mit Bezug auf die Dinge, die wir suchen oder vermeiden.“ Gombrich, E.H., Ornament und Kunst, S. 163.
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denzfall einer gesetzmäßig geordneten, „schönen“ Struktur, der Fluchtpunkt so zum Ort, wo sich die Ordnung selbst zu erkennen gibt. Da ihre „Schönheit“ auf Symmetrie beruht, sind dieser Ordnung Hierarchien wesensfremd. Im weiteren Verlauf des Textes konfrontiert Kracauer diese bildkünstlerischen Regeln mit gesellschaftlichen Ordnungen, die durch Herrschaft („herrschaftliche Gebäude“), Ausschluss („Gitter“) und Unveränderbarkeit gekennzeichnet sind. Das Wort „Herrschaft“ verweist auf eine einheitliche, historisch und gesellschaftlich legitimierte Subjektposition, die der permanenten Auflösung fester Bildpunkte im Kaleidoskop ebenso entgegengesetzt ist wie das „Gitter“ als ein starrer, unveränderlicher Ordnungsraster den beweglichen, sich ständig auflösenden und neu konstituierenden Formen, über die ein Kaleidoskop verfügt. Mit der Wahrnehmung der Ordnung geht ein Verlust an Bedeutung einher112, der nicht die Gegenstände betrifft, sondern das Darstellungssystem, in das sie eingebunden sind. Aus der bedeutenden Ordnung wird eine unbedeutende: „Die Bai ist aus der Straße der Straßen zum Rechteck verwaist.“113 Bezeichnenderweise verfügen die neuen Hafenbassins nicht über die regelmäßige Grundform eines Rechtecks, sondern beschreiben „im Verein mit der Küste eine mächtige Wurflinie“. Den Regeln der Mathematik entsprechend, stellt diese Kurve den Wechsel von der euklidischen zur analytischen Geometrie dar. Eine „ideale“, elementare Form (das Rechteck), die allerdings leer ist, wird durch eine Kurvenkonstruktion abgelöst, die sich erst durch die Einführung eines Koordinatensystems darstellen lässt114, mithin durch den Bezug auf eine Ordnung, deren Element sie ist, ohne jedoch selbstimmanent Aufschluss über ihren konstruktiven Zusammenhang geben zu können. Auf den Text bezogen bedeutet dies, dass die Darstellung der Gegenstandswelt nicht mit den Gegenständen selbst identisch ist: „Die Trostlosigkeit der kahlen Lagerhauswände ist ein Schein; ihre Vorderseite sähe der Prinz aus dem Märchen. In den Schwammhöhlungen des Hafenviertels wimmelt die menschliche Fauna, rein steht in den Lachen der Himmel.“115 Neben dem Ordnungssystem werden nun auch die wirklichen Dinge zu einem 112
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Entgegen der Annahme Gombrichs hat gerade das vorangegangene Kapitel gezeigt, dass die Konzentration auf den Ordnungssinn der Konstitution von Bedeutung vorausgehen kann und nicht notwendigerweise zum Verlust dieser führt. Kracauer, S., Zwei Flächen, Schriften 5, 1, S. 378. Vgl. Mainzer, K., Geschichte der Geometrie, S. 100ff. Kracauer, S., Zwei Flächen, Schriften 5, 1, S. 378.
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selbständigen Teil der Beschreibung. Die Kurve, die zwar nicht im wörtlichen Sinn als Trope (Parabel) gedeutet werden kann, drückt die Inkongruenz zwischen dem Gegenstand und dem Ordnungssystem aus, dessen Bestandteil er ist. Doch es bleibt nicht bei dieser Bedeutungsverschiebung zwischen dem erfüllten Raum, dessen Bild Kracauer im ersten Teil seines Textes beschreibt, und der Trostlosigkeit, die das neue Hafenbassin ausstrahlt. Die Entlarvung der Trostlosigkeit als Schein und die Konfrontation des leeren Rechtecks mit dem menschlichen Gewimmel der Hafengegend kündigen eine Ordnung an, die nicht mehr als metaphysische (im konkreten Sinne von heils- oder naturgeschichtlich) begriffen werden kann, sondern in der gesellschaftliche Verhältnisse repräsentiert und in der das Hafenvolk zum neuen Hoffnungsträger wird. Dem gesellschaftlichen Umschlag geht voraus, dass die Verhältnismäßigkeit metaphysischer oder gesellschaftlicher Ordnungen in Bezug auf den ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeitsbegriff offen gelegt wird. Der Formprozess einer Natürlichen Geometrie wird so aus der synchronen Ebene der Gestaltwerdung in die diachrone Betrachtungsweise geschichtlicher Entwicklungen ausgeweitet und bezieht nun auch historische Veränderungen mit ein. Im zweiten Teil seines Essays zeichnet sich die beschriebene Fläche zunächst dadurch aus, dass sie der Aufmerksamkeit eines Beobachters entgeht, insofern gleicht sie der Beschreibung der Bai; auch in jener deuteten weder der Fluchtpunkt noch der Augenpunkt des Bildes auf den ausgezeichneten Standort eines Subjektes hin: „Nicht gesucht hat den Platz, wen er findet. Die Gassen, zerknüllte Papierschlangen, sind unverknotet ineinander geschlungen. Über die Erdfalten führen Traversen, die sich am Putz reiben, in Kellertiefen stürzen und zu ihrem Anfang zurückgeschleudert werden“116. Das undurchdringliche Liniengewirr schildert Kracauer auch als Labyrinth, in dessen Mitte das Karree liegt. Dieses ist jedoch nicht gleichbedeutend mit seinem Zentrum; weder ist das Karree organisch in das Gefüge eines Labyrinths eingepasst (vielmehr ist es „mit einer Riesenform in das Geschlinge gestanzt worden“), noch liegt es in der Absicht des Betrachters, in dessen imaginäre Mitte vorzudringen. Betrachtet man das Labyrinth als einen von seiner Umgebung abgegrenzten Binnenraum, in dem sich ein „Abgrenzungs-, Ichfindungs-, (Selbst-) Definitionsprozeß“117 vollzieht, so erfüllt der Platz eine gegen116 117
Ebd., S. 379. Kern, H., Labyrinthe, S. 29.
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teilige Funktion; er wird nicht zum Ort der Selbstfindung, sondern des drohenden Selbstverlustes, den die Angst118 anzeigt: Auf dem menschenleeren Platz begibt sich dies: durch die Gewalt des Quadrats wird der Eingefangene in seine Mitte gestoßen. Er ist allein und ist es nicht. Ohne daß Beobachter zu sehen wären, dringen ihre Blickstrahlen durch die Fensterläden, durch die Mauern. Sie fahren bündelweis über das Feld und schneiden sich in der Mitte. Splitternackt ist die Angst; ihnen preisgegeben.119
Dem Labyrinth als „hochkomplizierter abstrakter Bewegungsfigur“120 steht der in die Bildmitte gebahnte Betrachter entgegen, der Dynamik der in jener sich entfaltenden Traumwelt die Starre und Unbeweglichkeit quadratischer Maßverhältnisse in dieser. Diese Gegenüberstellung ergibt nur dann einen Sinn121, wenn man den Text Die Bai in ein Verhältnis zu Das Karree setzt. Während dort die Frage nach der Form der Repräsentation mit der Darstellung der Objektwelt koinzidiert, wird hier die Frage nach dem Subjekt, dem Ort des Betrachters verhandelt. Beide Texte spiegeln sich insofern, als die Auslöschung der „heils- und naturgeschichtlich“ begründeten Tiefendimension in ersterem mit dem drohenden Selbstverlust in letzterem korreliert. Diese Lesart legt nahe, dass die Ordnung, wie sie in dem Text Die Bai beschrieben wird und in der der Gegenstand und seine Darstellung identisch sind, als Form der Repräsentation der Dazwischenkunft eines subjektiven, konstruierenden und einheitlichen Bewusstseins entbehren. In dem Text Knabe und Stier erfüllte seine Abwesenheit die Voraussetzung einer Natürlichen Geometrie. Der Wegfall eines metaphysischen Bezugssystems erfordert einen veränder118 119 120 121
Vgl. Freud, S., Das Ich und das Es, S. 322ff. Kracauer, S., Zwei Flächen, Schriften 5, 1, S. 379f. Kern, H., Labyrinthe, S. 14. Die Miniatur Die Fläche im Sinne der „Projektion des spezifischen Wirklichkeitsbewusstseins des Ichs“ zu deuten, wie es allgemein Labyrinth-Darstellungen in der Literatur zugeschrieben wird (Schmeling, M., Der labyrinthische Diskurs, S. 101), setzt bei Kracauer voraus, dass eine Interaktion zwischen Ich und Wirklichkeit stattfindet und nicht die subjektive Bewusstseinssphäre zur alleinigen Wirklichkeit aufgewertet wird. (Denn dass die Wirklichkeit eine Konstruktion ist, bedeutet nicht, dass sie nur als Bewusstseinssphäre existiert.) Das Labyrinth kann sicherlich als eine Stätte der „Improvisation“ bezeichnet werden; gleichwohl wird an ihr das Verhältnis von Subjekt und Wirklichkeit ausbuchstabiert, sie ist somit kein „imaginärer Ort“. MülderBach, I., Schlupflöcher, S. 256.
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ten Wirklichkeitsbegriff. Davon betroffen ist nicht nur die Vorstellung der Gegenstandswelt, sondern auch das menschliche Selbstbild. Wenn der Mensch sich nicht länger in seiner Beziehung zu Gott verstehen kann, muss er „sich einerseits immanent verorten und sich andererseits selbst zum Gegenstand der Reflexion machen“122. Doch in dem Text Die Bai kommt der Betrachter, dem ein Jenseits der Bildwelt verwehrt wird und damit der Ausblick auf heils- und naturgeschichtliche Perspektiven, im Diesseits bildnerischer Konstruktionen (noch) nicht vor. Der plötzlichen Abhängigkeit von der Außenwelt entzieht sich das Individuum in dem Text Das Karree durch den Entwurf jener subjektiven Welten, deren Ordnung das Labyrinth verkörpert und deren Gegenstände innere Prozesse, „Träume“123 sind. Einerseits erzeugt so das Individuum seine eigene Wirklichkeit, andererseits veranschaulicht das Bild des „Eingefangenen“, der „durch die Gewalt des Quadrates […] in seine Mitte gestoßen“ wird, den Bezug des Menschen zu der von ihm konstruierten Wirklichkeit. In der Mitte des Quadrates stehend, wird er zum Zentrum der ihn umgebenden Welt. Die psychische Resonanz, die die räumliche Umgebungssituation auf den Betrachter hat, dekonstruiert jedoch seine ausgezeichnete räumliche Stellung: Auf die plötzliche Abhängigkeit von der Außenwelt reagiert er mit Angst. Nun besteht diese Außenwelt selbst aber nur aus den ‚Blickstrahlen von Beobachtern‘, die sich in der imaginären Mitte des Quadrats schneiden. In der räumlichen Anordnung des Quadrats wird der Mensch so bildlich zum Gegenstand seiner Reflexion. Er erlebt dabei die Gefahren des reinen, selbstbezüglichen Denkens in der gewaltsamen Wirkung einer räumlichen Ordnung an sich selbst.124 122 123
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Oschmann, D., Auszug aus der Innerlichkeit, S. 263. Geht es Kracauer in dem Kapitel Natürliche Geometrie um die Erkenntnis der Gegenstandswelt, so referieren sowohl seine Analogie von Rhetorik und Geometrie als auch seine Hinwendung zum Unbewussten den Stellenwert einer nominalistischen Erkenntnis, der die Sprache zum eigentlichen Objekt wird: „Die kritische Erhöhung der Sprache, die ihre Nivellierung im Objekt kompensierte, implizierte, daß sie gleichzeitig einem Akt reinen Erkennens jeden Sprechens und dem angenähert sei, was sich in jeder unserer Diskurse nicht erkennen läßt. Man mußte sie entweder für die Formen der Erkenntnis transparent machen oder sie in die Inhalte des Unbewußten hineindrängen.“ Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 364f. Auch Heinz Brüggemann deutet das Karree als Angstraum. In seiner Interpretation (die von einem inhaltlichen Zusammenhang der Stücke Die Bai und Das Karree absieht) ist diese Angst die traumatische Folge des cartesianischen Wahrnehmungsparadigmas. Vgl. Brüggemann, H., Das andere Fenster, S. 282ff.
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Für das Individuum, das sich weder gesellschaftlich noch geistig verorten kann, stellt auch das Labyrinth keinen alternativen Ort der Selbstbestimmung dar; es bleibt heimatlos, solange es die Welt der Empirie nicht zu entdecken vermag. 3.2.3. Raum: Das Straßenvolk in Paris Kracauer destruiert die räumliche Einheit, die die Stadt darstellt, bereits in den einleitenden Sätzen: „In den Straßen der zwanzig Städte, aus denen Paris besteht, blüht die Vegetation der kleinen Leute.“125 Die Stadt Paris wird anthropomorphisiert; obgleich ihr Wesen organisch126 ist, legt der Gebrauch des Plurals nahe, dass sie selbst keine Ganzheit darstellt.127 Die metaphorische Redeweise bleibt zunächst auf die Bewohner und das Wachstum der städtischen Außenbezirke bezogen, umschreibt also ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung, die im Gegensatz zum Verschwinden der „höheren Gesellschaft“ steht. Kracauer gibt die proletarischen Außenbezirke von Paris als vom Volk geschaffene Stadtlandschaft128 wieder, „in der es dauern kann, ein unauflösliches Zellgewebe, das durch die Architekturperspektiven der Könige und des aufgeklärten Großbür125 126
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Kracauer, S., Das Straßenvolk in Paris, Schriften 5, 2, S. 39. Mit seiner Beschreibung erfüllt Kracauer nicht ‚die metaphorischen Wunschvorstellungen des Organischen vom Großenganzen, Ewigeigenen oder Besonderstiefen‘. Vgl. Scherpe, K., Zur Faszination des Organischen, S. 7. Das Organische im Sinne von Ganzheit zu interpretieren, widerspricht Kracauers Kritik am vulgärmarxistischen Denken, dessen Dialektik er lediglich als eine Verlagerung idealistischer Totalität begreift. Gerade gegen die gedankliche Einheit eines Basis-Überbau-Modells führt er die Bewusstseinslage der Franzosen ins Feld: „Durch die Hülle der Seelenmalerei und des persönlichen Esprits schimmert natürlich das Soziale und Klassenmäßige hindurch, aber ihm ist nicht unmittelbar die Aufmerksamkeit zugekehrt, und es gilt auch nicht die blanke vulgärmarxistische Lehre, daß es sich bei diesen geistigen Gebilden rein um ableitbare Überbauten handelt. Sie sind Überbauten, in der Tat, doch die Gehalte, die sie bergen, dauern in einer gewissen Unabhängigkeit von der materiellen Basis; eben der wohlgegliederten Menschlichkeit wegen, die mit aus der Natur stammt.“ Kracauer, S., Pariser Beobachtungen, Schriften 5, 2, S. 32. Friedrich Sengle ist die Ersetzung der Land-Stadt-Opposition durch den Gegensatz der Klassen ein Merkmal des sozialkritischen und naturalistischen Romans des 19. Jahrhunderts. Sengle, F., Wunschbild Land und Schreckbild Stadt.
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gertums kaum verletzt worden ist“129. Das organische Wachstum bestimmter Bevölkerungsgruppen korrespondiert mit dem Verständnis der Stadt als Landschaft, deren Teil sie ist. Bei der Gestaltung von (Stadt-) Landschaft „als individueller Kommentar des Wirklichen eines Naturausschnittes“130 wird das Volk als sein (organischer) Gegenstand benannt; die Abbildung des Natur-Raumes hingegen durch seine „natürliche“ Ausdehnung – Wachstum – ersetzt. Diesen individuellen Kommentar, der sich jeder räumlichen und geschichtlichen Fixierung entzieht, kontrastiert Kracauer mit einem Raumverständnis, das den Dingen einen festen Ort sowohl im Ensemble der Stadt als auch in der Geschichte zuweist. Stadtplanung wird von Kracauer als Inszenierung absolutistischer und großbürgerlicher Macht entlarvt, die durch die Vorgabe von Perspektiven das Raumerlebnis normierte und kontrollierte. Wenn Kracauer dagegen die Stadt als Landschaft bezeichnet, spricht er ihr nicht nur einen natürlichen Charakter zu, sondern verweist auch auf das ästhetische Erlebnis, durch das sie dem Betrachter zugänglich wird. Da der Standpunkt des Betrachters, der selbst den höheren Schichten angehört, im Bild nur noch in seinem Verschwinden ausgemacht werden kann, offenbart sich das ästhetische Moment als räumliche Distanz zu einer fremden Erfahrungswelt. Die Erfahrung der Natur, die durch die Landschaftsschilderung ins Bild gesetzt wird, betrifft nicht den städtischen Raum, sondern die Existenzweise des Volkes. Die sich angesichts der „Fülle des Lebens“ vollziehende Neubewertung bürgerlichen Selbstbewusstseins131 stellt sich als Bewusstsein für andere Klassen dar. An die Stelle von Geschichte, die teleologisch auf den gegenwärtigen Standort des bürgerlichen Subjekts ausgerichtet ist, tritt eine in diesem Sinne geschichtslose Anthropologie: Ihre [die der kleinen Leute, U.B.] Entfaltung ist schon allein durch die Notdurft behindert, ihre Formen brechen plötzlich ab, ohne eine Oberfläche zu bilden, ihre Dinge stehen bunt nebeneinander. Die Natur, die sich in ihnen verkörpert, hebt sich selber auf. Ein Emporschießen, ein Zerfall. Er ist nicht gleichbedeutend mit dem Tod, sondern setzt lang vor dem Sterben ein. So als ob das Volk sich aus eigenen Stücken jeder Verfestigung entzöge, als ob ein unbekannter Zwang es davon abhielte, sich zu einem lesbaren Muster zusammenzusetzen. Die bürgerliche Gesellschaft 129 130 131
Kracauer, S., Das Straßenvolk in Paris, Schriften 5, 2, S. 39. Vgl. Gruenter, R., Landschaft, S. 202. Vgl. Gebhard, W., Die Erblast des 19. Jahrhunderts, S. 35.
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Siegfried Kracauer – Figuration trachtet nach Sicherungen über den Augenblick hinaus und bewegt sich in einem System von Bahnen, die so grade sind wie die Avenuen. (Freilich hat das System keinen Bestand.) Das Bild, in dem sich die kleinen Leute darstellen, ist ein improvisiertes Mosaik. Es läßt viele Hohlräume frei.132
Der Landschaftsraum, dessen Wesen über die räumliche und zeitliche Ausdehnung seiner Bestandteile vorgestellt wurde, soll nun hinsichtlich seiner Form bestimmt werden. Dabei zeigt sich, dass sich die Dinge nicht zu Figuren zusammenschließen, vielmehr als disparates Nebeneinander sich jeder Ordnung entziehen, die Stadt als Landschaft unbegrenzt ist. Raum und Zeit, denen die Funktion einer Selbstvergewisserung der Erkenntnis zukommt, verfügen über keinerlei ästhetische Signatur. Der Fokus der Darstellung liegt auf dem Unerkannten, das eine politische Dimension erhält. Die Dichotomie von Stadt und Land wird in den gesellschaftlichen Antagonismus von höheren und niederen Klassen transponiert.133 Der begriffliche Zusammenhang, den Kracauer als „lesbares Muster“ bezeichnet, wird sofort in ein räumliches Bild übertragen, das dem Leser bereits aus den einleitenden Sätzen vertraut ist: Die „Bahnen, die so gerade sind wie die Avenuen“, übersetzen in räumliche Hierarchien, was sich zunächst als gedankliche Ordnung vorstellte. Dieser Raum der bürgerlichen Gesellschaft – das System – kann aufgrund seiner strukturbildenden Elemente – der Bahnen – vollständig erschlossen werden.134 Kontrastiv dazu setzt Kracauer das Mosaik und seine Mehrdeutigkeit.135 Aufschlussreich im Kontext dieser Argumentation ist die Tatsache, dass der Stadtraum nicht anhand architektonischer Elemente entziffert wird, sondern sein Straßennetz zum bedeutenden Zeichen erwählt wird. Dies hängt mit der städtebaulichen Entwicklung von Paris zusammen, die darauf hinauslief, die Funktion der Architektur im Sinne der Verkehrsregelung neu zu bestimmen.136 Der Hinweis auf die „Avenuen“ legt nahe, 132 133 134
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Kracauer, S., Das Straßenvolk in Paris, Schriften 5, 2, S. 40. Vgl. Sengle, F., Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Inka Mülder-Bach interpretiert Kracauers Metapher des „Systems von Bahnen, die so gerade sind wie die Avenuen“ als Beschreibung der architektonischen Moderne eines Le Corbusier und Mies van der Rohe. Dieser entspräche eine systematische Denkweise, die mit einem rational-funktionalen Maßstab operiere. Mülder-Bach, I., „Mancherlei Fremde“, S. 63. Zum Mosaik vgl. Gombrich, E.H., Kunst und Illusion, S. 316. „Hundert Jahre später erst baute sich Paris den reinen Sternplatz, der für alle modernen Großstädte vorbildlich werden sollte: die Place de l’Etoile (Anfang
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dass räumliche Begrenzungen aufgehoben werden und der Verkehr nun auch den Raum erzeugt und strukturiert. Der „reinen“ Bewegung,137 die sich im „Emporschießen“ und „Zerfall“ offenbart, wird eine gerichtete Bewegung entgegengesetzt, die der Sicherung des Raumes dient. Damit greift Kracauer eine Beobachtung Simmels auf, der anhand von Bewegungsmodellen die Änderung der soziologischen Bedeutung des Raumes beschrieben hatte: Der Verkehr fordert Städte um so entschiedener, je lebhafter er ist, damit den ganzen Unterschied seiner Lebhaftigkeit gegen die unruhige nomadische Bewegtheit primitiver Gruppen offenbarend. Es ist der typische Gegensatz gesellschaftlicher Lebendigkeiten: ob sie einfach ein Hinausstreben aus dem räumlich und sachlich Gegebenen […] oder ob sie sich um feste Punkte herumbewegen. Im letzteren Falle erst werden sie eigentlich geformt, gewinnen sie einen Kristallisationspunkt für den Ansatz bleibender Werte, selbst wenn diese nur in der beharrenden Form von Relationen und Bewegungen bestehen.138
Während es Simmel noch darum ging, die sich widerstrebenden Bewegungsformen in einem Kräfteschema zu vereinheitlichen, liegt das Gewicht in der Darstellung Kracauers, der jede Form von Einheit oder Ganzheit aus ideologiekritischen Gründen ablehnte, auf einer Verschärfung ihrer Gegensätze. Gleichzeitig wird deutlich, dass das Paris des Volkes139 zu seiner Schilderung des bürgerlichen Paris bedarf. Denn nur für
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XIX. Jh., U.B.). Das ist nun – mit den Korrekturen, die Haußmann unter Napoleon III. anbrachte – die Lösung aus dem gegensätzlichen Geiste: die Platzwände werden fast völlig aufgelöst und der klassizistische Triumphbogen in der Mitte (1805-1836 von Francois Chalgrin) hat trotz seiner erhöhten Lage und seiner monumentalen Form nur noch eine geringe architektonische Funktion: er regelt den Verkehr.“ Gantner, J., Grundformen der europäischen Stadt, S. 104f. Zwar finden sich in der Gestaltung von Bewegung, „die sich Selbstzweck ist“, Ideen der Lebensphilosophie wieder, allerdings bettet Kracauer diese Positionen in den Kontext einer Gesellschaftskritik ein. Vgl. Kracauer, S., Georg Simmel, S. 130, DLA. Simmel, G., Soziologie, S. 709. Gerade hier zeigt sich, dass das Kapitel „Raum“ in keinem Widerspruch zu den Darstellungsmodalitäten einer „natürlichen Geometrie“ steht. Denn die antike Geometrie verfügte zwar über projektive Darstellungsmittel, diese (z.B. ein Koordinatensystem) zeichneten sich allerdings dadurch aus, dass sie die Figuren nicht definierten und als Bezugslinien immer im Nachhinein in
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dieses bietet der herrschende Diskurs Kriterien der Beschreibung. Seine Darstellung als System, die Gesetzmäßigkeiten, die zu seiner Sicherung geschaffen wurden, all das legt nahe, dass dieses bürgerliche Paris auf einem Abstraktionsniveau verhandelt wird, das einerseits seinen angemaßten „Besitz an Seiendem“ in der Form räumlicher Ordnungen veranschaulicht und andererseits jene „äußerste Entleerung des Seienden“ zum Ausdruck bringt, die die Voraussetzung für den „Umschlag in die Fülle des Seienden“140 bildet. Die mittels „Sicherungen“ auf Dauer gestellte Zeit konfrontiert Kracauer mit dem Augenblick, der zunächst nur im Bild dargestellt werden kann. Der Vorgang der „Improvisation“141 wird zum Muster bildlicher Gestaltung: Das Volk selbst tritt als Bildträger auf. Durch seine gesellschaftliche Position ist es von dem System bürgerlicher Sicherungen ausgeschlossen. Im Prozess der Bildwerdung schlägt nun die gesellschaftliche Negation in eine ästhetische142 um, das „improvisierte Mosaik“ wird als Gestaltungsprinzip jener semantisch leeren Bedeutung der „Lesbarkeit“ entgegengesetzt. Während diese auf einer in Begriffen sich vollziehenden Erfahrung rekurriert, die kulturhistorisch und geistesgeschicht-
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eine Figur eingetragen werden. Dem entspricht, dass die Bestimmung vom Paris des Volkes in Abgrenzung zur Stadt des Bürgertums ebenso wie seine als Wachstum vorgestellte Ausdehnung eher Proportionsverhältnisse wiedergibt, die einer hierarchischen Ordnung des Raumes entgegengesetzt sind. Vgl. Mainzer, K., Geschichte der Geometrie, S. 72f. Vgl. Kracauer, S., Die Denkfläche, Schriften 5, 1, S. 371. Inka Mülder-Bach hat bereits auf die existentiellen Implikationen dieses Begriffes, im Sinne der Erfahrung von Vorläufigkeit, Vergänglichkeit und den grenzüberschreitenden Möglichkeiten des Menschen, hingewiesen. Sie stützt ihre Deutung auf die positiv konnotierte (wenn auch vormoderne) heterotopische Ordnung, die im Straßenleben des Pariser Volkes im Gegensatz zur negativ konnotierten homotopischen Struktur des Raumes der Moderne zum Ausdruck kommt (Mülder-Bach, I., „Mancherlei Fremde“, S. 67). Der Begriff der Heteropie, den Michel Foucault geprägt hat, unterliegt in seinem Werk allerdings einem extremen Bedeutungswandel. Hinzu kommt, dass die Funktion von Heterotopien – Imaginationsarsenale zu sein – die Zuschreibung einer eindeutigen gesellschaftlichen Wertigkeit verhindert. Lediglich hinsichtlich ihrer alternativen Funktion gegenüber Utopien wäre es möglich, das Paris der kleinen Leute als heterotopischen Ort zu beschreiben. Vgl. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 20, und Foucault, M., Andere Räume, S. 39ff. Zum Begriff der „ästhetischen Negation“ vgl. Ferdinand Fellmann in Anlehnung an Lipps in Wovon sprechen die Bilder?, S. 153.
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lich festgeschrieben ist, bringt jene den Formprozess unmittelbar selbst zur Anschauung.143 In erkenntnistheoretischer Hinsicht entsprechen diesen künstlerischen Formen Räume, die „Hohlräume“ mit einbegreifen. In der Funktion von unbestimmten, noch leeren Räumen erzeugt gerade ihr Vorhandensein in einer gleichsam paradoxen Weise die eingangs geschilderte „Lebensfülle“. „Nomadische Bewegtheit“ (Simmel) kommt auch in den Basarstraßen zum Ausdruck: Sie [die Basarstraßen, U.B.] wachsen aus den Häusern hervor, der Winter wird ihnen zum Sommer. Entflieht man der Basarstraße am einen Stadtende, so ist sie, ehe man noch mit der Metro eintrifft, am anderen Stadtende schon wieder errichtet. Diese Straße, die mit der Schnelligkeit des Swinegels im Märchen immer von neuem auftaucht, ist von Sonne erfüllt, auch wenn die Sonne nicht scheint.144
Kracauer führt die Basarstraßen als gegenläufiges Modell zu den Avenuen der bürgerlichen Gesellschaft ein. Dem funktionalen Zusammenhang, den geometrische Muster bilden, und der sich am Produktionsprozess orientiert, wird die materiale Qualität, der in Buden und Basarstraßen ausgestellten handwerklich gefertigten Waren gegenübergestellt. Die Schnelligkeit tritt als inverses Element von Wandlungsfähigkeit auf; der Bezug zum Märchen steht anstelle der Erfahrung ihres Wandels. „Sonne“ und „Sommer“ symbolisieren Natur und Lebenskraft. Auf den gemeinsamen Gehalt der Motive Basarstraßen, Buden und Karusselle145 hatte Walter Benjamin Kracauer bereits 1926 hingewiesen: 143
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Kracauers Deutung der „exemplarischen Stätten der Improvisation“ weist eine große Affinität zu Michael Bachtins zeitgleichen Ausführungen zum Karneval und karnevalistischen Motiven in der Literatur auf. Für Bachtin besteht das Wesentliche des Karnevals darin, „das Fest der allvernichtenden und allerneuernden Zeit“ zu sein. Darüber hinaus feiere der Karneval „den Wechsel, den Vorgang der Abfolge – nicht das, was der Wechsel jeweils bringt“. Auch Benjamin hat auf die schöpferische Kraft hingewiesen, die in der Umkehrung der Werte durch den Karneval zum Ausdruck kommt. Bachtin, M., Literatur und Karneval, S. 58f und Benjamin, W., Programm eines proletarischen Kindertheaters, GS II, 2, S. 768. Kracauer, S., Das Straßenvolk in Paris, Schriften 5, 2, S. 40. So lauten drei der vier kurzen Prosatexte der Sammlung Das Straßenvolk in Paris.
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Siegfried Kracauer – Figuration Unter dem Titel ‚Schiffe und Buden‘ […] bereite ich einige Notizen über Jahrmärkte und Matrosenfahrten vor, in denen die geheime Verwandtschaft zwischen einem Rummelplatz und einem Hafen heraustreten soll, mit gewissen Andeutungen über die Ursachen der attrativa von ‚Buden‘. Das Sujet steht dem Kinderspielzeug nicht fern, aber ich nehme bei dieser Gelegenheit schnell noch das Weltmeer mit hinein […]. Paris gibt in der ‚foire‘ die von Stadtteil zu Stadtteil wandert, das auserlesene Modell zu solchen Studien.146
Den Zusammenhang von „Volkskunst“ und „kindlichem Weltbild“147, den für Benjamin die offizielle Zuwendung zum Spielzeug offenbart, setzt er selbst anhand von Räumen ins Bild – Hafen und Rummelplatz –, in denen das Volk in einer lebendigen Inszenierung dieser Räume seine eigentliche Kunst ausübt. Auch in Kracauers Beschreibung der Basarstraßen steht die räumliche Inszenierung im Vordergrund, auch er konstatiert die Nähe der Basarstraßen zum Meer. Im Reichtum einer Dingwelt, den Basarstraßen und Buden ausstellen und der sich einem figurativen Muster entzieht, spiegelt sich der literarische Gestaltungsanspruch Kracauers wieder. Der Fokus auf das einzelne, individuelle Phänomen, das sich nicht in den Zusammenhang von bereits etablierten Formen fügen lässt, evoziert eine Kulturtechnik des Entzifferns, die als „vor-literarische Bedeutung des konkreten Aufsammelns und Auflesens“148 ihre Gehalte der Zurichtung durch Geschichte entzieht.149 Anders jedoch als Walter Benjamin, der mit der Darstellung von Vergangenem zugleich eine alternative Geschichtsauffassung verbindet, in der der historische Erfahrungswert zum utopischen Moment von Gegenwart wird150, geht es Kracauer darum, das Zufällige, Provisorische, sich im Abbruch Befindliche – denn das ist es, was sowohl das Volk auf Abbruch als auch Basarstraßen, Buden und Karusselle vereint – im Augenblick der Beschreibung festzuhalten, ohne es in einer zukünftigen Gestalt zu terminieren oder es in einem geschichtsphilosophischen System zu konservie146
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Benjamin, W., Brief an Siegfried Kracauer vom 27.4.1926, in: Benjamin, W., Briefe, III, S. 148. Benjamin, W., Spielzeug und Spielen, GS III, S. 128. Orth, E.W., Lektüre und geistiger Bildraum, S. 180. Durch die Exemplifikation von literarischen Techniken, die beispielhaft Herrschaftsstrukturen in der Beschreibung unterlaufen, wird der Vorwurf an Kracauer hinfällig, sich der Macht aufklärerischer Positionen im Vertrauen passiv anheim zu geben. Vgl. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 120. Szondi, P., Hoffnung im Vergangenen, S. 289.
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ren.151 Gleichzeitig liefert dieses Städtebild Kracauers einen in erkenntnistheoretischer Hinsicht paradigmatischen Text; Erkenntnis wird als Bewegung vorgestellt, in der die anfängliche ästhetische Distanz des Betrachters als Anschauungsferne zum Bereich einer „absoluten“ Nähe, der leiblichen Erfahrung des Rausches, führt. Diese Bewegung wird in einer Semantik des Raumes aufgezeigt; bereits die Überschriften der Texte markieren eine Verringerung des Fokus der Darstellung: Vom Stadtteil wechselt Kracauer zum städtebaulichen Element (Basarstraße), von diesem zum architektonischen (Buden). Die Abnahme der räumlichen Entfernung schlägt sich auch im Gegenstand nieder; während Kracauer im Textabschnitt Volk auf Abbruch räumliche und gesellschaftliche Ordnungen analogisiert, gestaltet er in der Basarstraße das Verhältnis von Gegenständen und räumlicher Ordnung. Den Nahbereich der Wahrnehmung in Buden bildet der menschliche Körper152: Wünsche dürfen sich ausleben, die während des nutzlosen Spazierengehens einschlüpfen, Wünsche aus verschollenen Knabenjahren, dunkle Wünsche der verschiedenen Körperregionen, Wünsche, die flüchtige Seifenblasen sind – der ganze Mischmasch ungestillter Regungen, der sonst zwischen Tag und Nacht sich verliert.153
Im abschließenden Bild einer Karussellfahrt führt Bewegung dazu, dass sich nicht nur die körperlich erfahrbare Nähe zugunsten einer imaginären Ferne auflöst, sondern auch die zeitliche Unterscheidung zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit nicht mehr möglich ist: 151
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In seinem Geburtstagsbrief an Ernst Bloch von 1965 betont Kracauer, dass die Gemeinsamkeit in ihrem Denken in der „nicht-utopischen Seite Deiner [Blochs, U.B.] Existenz“ besteht, die er durch die Erinnerung an den gemeinsamen Besuch der foire beim Lion de Belfort belegt: „Gewiß, die Glücks- und Schießbuden waren zum Abbau und Aufbruch bereit, aber mitsamt den Riesendamen, Wahrsagerinnen und Zuckerstangen entzückten sie Dich doch in all ihrer Vorläufigkeit. Du fühlst Dich, scheint mir, zu den Phänomenen des undeutlichen Lebens um uns her so hingezogen, daß Du stets geneigt bist, auf ihr wunderliches Wesen oder auch Unwesen zärtlich einzugehen.“ Kracauer, S., Zwei Deutungen in zwei Sprachen, Schriften 5, 3, S. 352. Kracauers akademischer Lehrer Max Scheler hatte als einer der ersten die Erweiterung der Phänomenologie der Wahrnehmung um die physischen Dispositionen des Wahrnehmenden gefordert. Vgl. Mühlmann, W.E., Geschichte der Anthropologie, S. 173. Kracauer, S., Das Straßenvolk in Paris, Schriften 5, 2, S. 42.
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Siegfried Kracauer – Figuration Lange harren sie nicht. Zu viel Festland sind Buden und Schuppen, die offenen Räume winken. Sie fahren sausend ins Bodenlose. Karusselle ohne Zahl reißen nach allen Himmelsrichtungen fort. Daß sie sich wie Glücksräder im Kreise drehten, ist eine optische Täuschung. Kein Flugzeug frißt die Ferne wie sie, keine Kinolandschaft ist so wild wie die Natur, der die Planken entgegenjagen […]. In dem Rennen führen die Stiere […]. Ein Knabe reitet voran, der über dem Rücken des Stieres schwebt […]. Der Knabe wirft Papierschlangen aus, in die sich Tiere und Menschen verwickeln, und ein aufgelöster Knäuel folgt dem Phantom.154
Ausgehend von der Gegenwart, die durch Flugzeuge und Kinos angezeigt wird, findet während der Karussellfahrt155 eine Reise in eine mythische Vergangenheit statt. Jener Knabe, der auf dem Rücken des Stieres voranreitet, ist derselbe Knabe, der in der Arena dem Stier gegenüberstand. Er verkörpert eine mythologische Figur: Theseus. Während dort das Gewicht der Darstellung auf dem Vollzug des Rituals liegt, geht es hier darum, dass Theseus der nun leeren Mitte des Labyrinths zu entkommen versucht. Im Mythos verdankt er seine räumliche Orientierung allein Ariadnes Faden.156 Anstatt die Papierschlangen, die er auswirft, den räumlich und zeitlich orientierungslosen Menschen und Tieren einen Weg weisen, „verwickeln“ sich diese in ihnen. Durch seine Gefolgschaft verwandelt sich Theseus in Dionysos157; doch der Horizont, den der Knabe bereist, stellt sich so wenig als Ausgang aus dem Labyrinth dar, wie ihm selbst die Rolle eines (bacchantischen) Führers zugeschrieben werden kann. Als Phantom verweist er auf einen anderen Bedeutungsträger, den Stier, durch den der Horizont symbolisch eingeholt wird. Er ist nicht die weite, unbekannte räumliche Ferne, sondern der natürliche Raum, der sich durch die Fülle von Lebenskraft konstituiert und der im Rausch durch keine Form mehr vermittelt erlebt wird. Er entspricht jenem Zentrum des Labyrinths, das durch die Entleibung des Minotauros zum „Hohlraum“ wird.158 154 155
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Ebd., S. 42f. Stefan Oettermann verweist auf den Zusammenhang zwischen der Entdeckung des Horizonts und der Erfindung des Karussells, so ließe sich auf diesem jener symbolisch bereisen. Oettermann, S., Panorama, S. 13. Kerényi, K., Die Mythologie der Griechen, 1, S. 211. Zur Verknüpfung beider Mythen durch die Figur der Ariadne ebd. Auf die enge Verbindung der Motive Labyrinth und Stadt weisen Hermann Kern und Jan Pieper in ihren Studien zum Labyrinth hin. Vgl. Kern, H., Labyrinthe, S. 30 und Pieper, J., Das Labyrinthische, S. 19f.
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3.3. Absolute Geometrie 3.3.1. Bewegung: Die Reise und der Tanz In seinem Essay Die Reise und der Tanz geht Kracauer zunächst von der Erzeugung kulturell bedeutsamer Räume in der Frühphase der bürgerlichen Gesellschaft durch diese Bewegungsformationen aus. Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung, die Raum und Zeit bei der Lösung erkenntnistheoretischer Fragen zukommt, beschreibt Kracauer Reise und Tanz als ästhetische Phänomene, die nicht mehr in der Lage sind, die Ordnungen von Raum und Zeit künstlerisch zu gestalten und ihnen einen Sinn zuzuschreiben. Für die ehemals sinnstiftende Funktion der Reise führt Kracauer Goethes Italienreise an, die dem Land galt, „das er [Goethe, U.B.] mit der Seele suchte“. Dagegen suche „die Seele heute – oder was Seele so heißt – […] den Wechsel des Raums, den die Reise ihr bietet. Das Ziel der modernen Reise ist nicht ihr Ziel, sondern ein neuer Ort schlechthin, erfragt wird weniger das bestimmte Sein einer Landschaft als die Fremdheit ihres Gesichts“159. Der ästhetische Raum, den die Erkundung der Landschaft eröffnet, erfüllt die Funktion, „Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen“ zu sein, „in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt.“160 Die Möglichkeit der Distanznahme, die der Erfahrung des Raumes vorgängig ist, begründet das „Sein einer Landschaft“ gerade in ihrer Gegenständlichkeit. Indem das ästhetische Objekt durch die pure Oberfläche ersetzt wird, das Andere, das seinen Ausgang vom Ich nimmt („das als Traum schon sich eingebildet hätte“161), durch das „Exotische“, das nicht mehr auf das Ich zurückzuführen ist, verliert das Ich seine eigene kulturelle Identität: „Die Menschen sind heimisch sowohl zuhause wie anderwärts oder auch nirgends zuhause.“162 Der Befund Kracauers, dass die Erfahrung einer bedeutenden Ordnung des Raumes seinem bloßen Wechsel gewichen ist, zeigt zugleich, dass der sozial und ästhetisch erlebbare Raum auf geometrische Parameter reduziert wird: Der Akzent liegt auf der Abgelöstheit als solcher, die sie [die Reise, U.B.] gewährt, nicht auf der durch sie vermittelten Hinwendung zu einer so oder so gearteten Gegend, ihre Bedeutung er159 160 161 162
Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 289. Cassirer, E., Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 30. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 289. Ebd.
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Siegfried Kracauer – Figuration schöpft sich darin, dass sie es ermöglicht, den five o’clock-Tee in einem zufällig weniger abgelebten Raum als dem des Alltagsbetriebs zu konsumieren […]. Als räumliche Veränderung, als vorübergehende Vertauschung der Aufenthalte erfüllt sie [die Reise, U.B.] ihre entscheidende Funktion.163
War gerade für die Reiseschriftsteller des späten 18. Jahrhunderts prägend, dass sie das soziale Raumerlebnis anderer Länder in ein Verhältnis zu ihrem eigenen gesellschaftlichen Umfeld setzen konnten, um aus diesem Spannungsverhältnis heraus die „feudalabsolutistische Handhabung des Raums als Herrschaftsmittel“164 zu neutralisieren, so legt die Verabsolutierung der Bewegung nahe, dass der Reisende zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedingungslos der Macht der (sozialen) Räume ausgeliefert ist. Wenn sich die Bewegung nicht mehr auf bedeutende Räume beziehen lässt165, die sie konstituiert, so ist sie selbst von keinem Bezugssystem aus mehr zu erfassen. Eine ähnliche Entwicklung konstatiert Kracauer auch für die Zeit, in der der Tanz traditionell seine Bedeutungen entfaltet: Hat die Reise zum puren Raumerlebnis sich reduziert, so der Tanz zu einer Skandierung der Zeit […]. Der moderne Gesellschaftstanz, dem Gefüge der in den Zwischenschichten geltenden Bindungen entfremdet, neigt zur Darstellung des Rhythmus schlechthin; statt daß er bestimmte Gehalte in der Zeit zum Ausdruck brächte, ist diese selber sein eigentlicher Gehalt. War in Epochen des Beginns der Tanz eine Handlung des Kultus, so ist er heute ein Kult der Bewegung.166 163 164 165
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Ebd. Vgl. Laermann, K., Raumerfahrung und Erfahrungsraum, S. 57ff. Bereits in seiner 1917 verfassten Abhandlung Das Leiden unter dem Wissen und die Sehnsucht nach der Tat hatte Kracauer für die Bewegung einen ähnlichen Befund konstatiert, den er jedoch nicht aus der Anschauung empirischer Phänomene gewann, sondern aus dem Stellenwert der Bewegung in der Lebensphilosophie Henri Bergsons: „Es mag kein Zufall sein, dass eine Lehre, die das Leben als ein ewiges Streben und Drängen von Neuem zu Neuem deutet und alles Dauernde, sich gleichbleibende aus dem Leben in die Materie zurückverbannt, eine Lehre, der die Bewegung und nicht das Wohin dieser Bewegung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, gerade in unseren Tagen weitverbreitete Aufnahme und was entscheidender ist, auch Eingang in das Gemüt findet.“ Kracauer, S., Das Leiden unter dem Wissen und die Sehnsucht nach der Tat, S. 242, DLA. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S., 289f.
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Kracauers Ausführungen setzen die Unterscheidung zwischen jenem klassisch verstandenen (Gesellschafts-)Tanz voraus, der (historische) Bedeutungen zum Ausdruck brachte167 und dem Tanz als populärkulturellem Vergnügen. Sein negatives Urteil bezieht sich sowohl auf letzteres als auch auf die Erneuerungsbestrebungen des Tanzes um die Jahrhundertwende, die zum Tanz in einem modernen Sinne führten: Daß hier die Wendung des mit der Bewegung Bedeuteten zu der auf sich nur deutenden Bewegung vollzogen werde, beweist auch der Gebrauch der von den Pariser Tanzlehrern zurechtgestutzten Figuren. Ihre Folge wird nicht durch ein objektives und inhaltliches Gesetz bestimmt, dem auch die Musik sich anpaßte, sondern wächst frei aus den jeweiligen Bewegungsimpulsen hervor, die nach der Musik sich richten. Eine Individualisierung, wenn man so will, aber eine solche, die auf das Individuelle gar nicht zielt. Da die Jazz-Musik nämlich […] das bloß Lebendige sich selbst überläßt, sind die durch sie inaugurierten Gangarten, die, sinnfällig genug, zum nichtssagenden Schritt sich abzuschleifen trachten, kaum viel mehr als rhythmische Darbietungen, Zeiterlebnisse, denen die Synkope eine letzte Beglückung ist.168
Während gerade die Entdeckung des Individuellen im Tanz als „das Neue, als Signum der Authentizität und der Befreiung zu den Möglichkeiten des Mediums“169 in der Rückschau zum Kennzeichen seiner Modernität wurde, bezieht Kracauer einen kulturkonservativen Standpunkt, wenn er für den Tanz ein ‚objektives und inhaltliches Gesetz‘ fordert. Kracauer geht es jedoch zunächst weniger um eine Analyse des Tanzes als ästhetisches Phänomen als um sein erkenntniskritisches Potential. Dem entspricht die Betonung der zeitlichen Aspekte, „des mit der Bewegung Bedeuteten“, mithin der Verknüpfung der Dinge. Dies schließt jene Bedeutungskonnotationen aus, die den Tanz als bewegte Raumfigur zu definieren suchen. Neben dem sozialen gerät so der existentielle Raum in das Blickfeld seiner Betrachtung. Seine Kritik richtet sich gegen die Mechanisierung der Bewegung, die Reise und Tanz formalisiert. Die Verwandlungen von Raum und Zeit würden zur Veränderung der Gegenstandswelt führen, die eine Erkenntnis des „Eigenwertes“ der Dinge verhindere und nur noch den Prozess der Veränderung selbst transparent werden ließe. Jener Gestaltwechsel, den die Dinge durchlaufen, deu167 168 169
Vgl. Feréc, L., Getanzte Geschichte. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 290. Brandstetter, G., Tanz-Lektüren, S. 60.
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tet Kracauer wie schon im Detektiv-Roman als Ausdruck der „Verzerrung des wirklichen [Lebens, U.B.]“170. Hatte Kracauer dort in Anlehnung an die Existenzphilosophie Kierkegaards den „wirklichen“ Menschen durch sein spannungsvolles Hingezogensein zu den höheren Sphären geistiger Existenz bestimmt, so definiert er ihn hier durch seine Beziehung zu einer „überräumliche[n] Unendlichkeit“ und der „Ewigkeit“171. Der Mensch, der „zwischen den beiden Welten“ existiert, ist „eingetan in das raumzeitliche Leben, dem er nicht verfallen ist“ und richtet sich „auf das Jenseitige [aus], in dem alles Hier seinen Sinn und Abschluss erst fände“172. Die Kunst tritt dabei als Mittler zwischen den Sphären auf: Indem die Kunst das Erscheinende gestaltet, fügt sie eine Form ihm zu, die es getroffen sein lässt von der nicht in ihm selber gegebenen Bedeutung, bezieht sie es auf einen Raum und zeitüberlegenen Sinn, der das Ephemere zum Gebilde erhebt.173
Der künstlerische Formungsprozess unterlegt den Gegenständen durch seinen transzendentalen Bezug einen Mehrwert an Sinn.174 Die mechanische Konstitution von Bewegung führt gerade durch ihre Unbezogenheit zu einem Bedeutungsverlust von Raum und Zeit; bei beiden kann zwischen dem Hier und Dort sowie zwischen einem Früher oder Später nicht mehr unterschieden werden. Für diesen Prozess macht Kracauer den „abgelöste[n] Intellekt“ verantwortlich, der „die Technik [zeugt] und eine Rationalisierung des Lebens [erstrebt], die es der Technik zugeordnet sein lässt“175. Reise und Tanz werden als „ästhetische bzw. kulturelle Epiphänomene eines grundlegenden Rationalisierungs- und Entsubstan170 171 172 173 174
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Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 291. Ebd. Ebd., S. 292. Ebd. Die Bedeutungskonnotationen von „profan“ und „sakral“, die Kracauer beiden Wirklichkeitssphären zuordnet, um sie voneinander zu trennen, erschließen sich aus dem quasi-existenzphilosophischen Hintergrund seines Denkens. Nach Mircea Eliade zeichnet sich das Heilige gegenüber dem Sakralen durch eine bestimmte Modalität aus und dadurch, dass es „als historischer Moment […] eine Situation des Menschen in bezug auf das Sakrale“ offenbart. Der „wirkliche Mensch“ bringt laut Kracauer dieses Verhältnis zum Ausdruck, Zeugnis darüber vermag allein die Kunst abzulegen. Eliade, M., Die Religionen und das Heilige, S. 20. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 292.
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tialisierungsprozesses“176 begriffen. In seiner Folge wird der Mensch „zu einer mathematischen Gegebenheit in Raum und Zeit“, und „sein Dasein zerfällt in eine Reihe organisatorisch geforderter Tätigkeiten“. Nichts entspräche der Mechanisierung mehr, „als dass er [der Mensch, U.B.] gleichsam zum Punkt sich zusammenzöge, zum nutzbaren Glied der intellektuellen Apparatur“177. Dem existentiellen Modell menschlichen Daseins stellt Kracauer ein rationales gegenüber, in dem der Mensch nur mehr als mathematische Größe auftaucht. Damit wird jedoch auch sein Bewusstsein außer Kraft gesetzt, er wird zum „Handlanger technischer Exzesse“ und „maschinenhaft“. Der Raum menschlicher Existenz wird durch „Punkte“ und Funktionen umrissen, wobei die Art und Weise der Verknüpfung anschaulich nicht vorstellbar ist: Da sie [die zivilisierten Menschen, U.B.] eingebannt sind in das raumzeitliche Koordinatensystem und sich über die Formen der Anschauung nicht hinausspannen können zu der Anschauung der Formen, wird ihnen das Jenseitige nur durch die Veränderung ihrer Position in Raum und Zeit selber zuteil.178
An die Stelle einer existentiell „erfüllten Sphäre“ tritt der geometrische Raum. Dieser zeichnet sich dadurch aus, „dass die ‚Punkte‘, die sich in ihm zusammenschließen, nichts als einfache Lagebestimmungen sind, die aber außerhalb dieser Relation, dieser ‚Lage‘, in welcher sie sich zueinander befinden, nicht noch einen eigenen selbständigen Inhalt besitzen“179. Neben der Funktionalität wird das wechselseitige Verhältnis dieser „Punkte“ durch die Relativität ihrer raumzeitlichen Position charakterisiert. In letzterer kommen Entwicklungstendenzen der Geometrie des 19. Jahrhunderts zum Tragen, die nicht mehr mit einem Raummodell operieren, in dem der Horizont die Möglichkeit perspektivischer Transgression bot. Für Kracauer bezeichnet gerade das Jenseitige eine solche Grenzüberschreitung, dessen Bedeutung sich aus dem spannungsvollen Hingezogensein aus einem Diesseits heraus konstituiert. Indem die Anschauung objektiviert und das menschliche Bewusstsein durch eine mathematische Größe ersetzt wird, verliert dieses spannungsvolle Verhältnis seinen transzendentalen Bezug und wird zu einer Bewegung de176 177 178 179
Band, H., Mittelschichten und Massenkultur, S. 50. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 293. Ebd. Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen, 2, S. 104f.
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gradiert, die nicht mehr über sich selbst hinauszuweisen vermag. Die daraus resultierende Relativität der raumzeitlichen Position des Menschen entspricht der geometrischen Bestimmung des Riemannschen Raumes180, die mit der Annahme von Raum und Zeit als reinen, nichtempirischen Größen der Anschauung bricht. Die Stelle eines ausgezeichneten Raumbegriffes nehmen nun Funktions- und Strukturbestimmungen ein. Aus der Aufgabe eines absoluten (theoretischen) Raumes leitet Kracauer den Absolutheitsanspruch der funktionalen Beziehung zwischen dem „Raum-Erfüllenden“, der Bewegung181, ab. Als Raum-Zeit-Punkt ist der Mensch nur durch die Bewegung zu definieren, diese wird zur notwendigen Voraussetzung seiner Existenz.182 So kann sie – mit negativen Vorzeichen versehen – als Surrogat für jene metaphysischen, nicht mehr erreichbaren Sphären dienen: Um sich ihrer Bürgschaft in den zwei Welten zu versichern, müssen sie, die reduziert zu Raum-Zeit-Punkten sind, abwechselnd an dieser Stelle und an jener sich aufhalten, bald in dem einen Tempo, bald im andern sich bewegen. Reise und Tanz haben eine theologische Bedeutung erlangt, sie sind wesentliche Möglichkei-
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Hermann Weyl veranschaulicht den Unterschied zwischen euklidischem und Riemannschem Raum am Beispiel eines Kristalls: „Der euklidische Raum ist zu vergleichen einem Kristall, der aus lauter gleichen unveränderlichen Atomen in der regelmäßigen und starren, unveränderlichen Anordnung eines Gitters aufgebaut ist, der Riemannsche Raum einer Flüssigkeit, die aus denselben untereinander gleichen unveränderlichen Atomen besteht, aber in einer beweglichen, gegenüber einwirkenden Kräften nachgiebigen Lagerung und Orientierung.“ Weyl, H., Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, S. 63. Bei den von Kracauer beschriebenen Bewegungen handelt es sich im physikalischen Sinne natürlich um Relativbewegungen. Aus dem Ausfall eines absoluten Bezugssystems schlussfolgert Kracauer das Absolutwerden der Bewegung selbst. Kant hatte den Unterschied zwischen der Bewegung eines Objekts im Raume und der Bewegung als Beschreibung eines Raumes postuliert. Während diese „ein reiner Actus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildung“ sei, gehöre jene „nicht in eine reine Wissenschaft, folglich auch nicht in die Geometrie; weil, daß etwas beweglich sei, nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann“. Mit der Aufgabe eines ausgezeichneten Raumes wird jede Bewegung zur Bewegung eines Objekts. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, 1, S. 151.
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ten der von der Mechanisierung umgriffenen Figuren, die Doppelexistenz uneigentlich zu leben, die Wirklichkeit gründet.183
Die Bewegung vermag weder eine kausale Folge herbeizuführen noch kann sie in Relation zu einem ausgezeichneten Bezugssystem gesetzt werden.184 Sie ist Bewegung von Raum-Zeit-Punkten und sonst nichts. Was sie allein auszeichnet, ist ihr „Tempo“185. Da sie ihre positive Entsprechung in der Erfahrung der „überräumlichen Unendlichkeit“ und des „Ewigen“ findet, wird sie gedanklich von Kracauer relativiert. Reise und Tanz bilden den „Ersatz für die Sphäre, die sich ihnen [den Menschen, U.B.] verweigert“186. Der Erfahrungsverlust dieser Sphäre schließt ihre Vermittlung mit der Alltagswelt aus; die Metaphysik des Unendlichen wird in ihr als nutzlos enthüllt. Stattdessen lassen sich den empirischen Elementen mathematische oder geometrische Axiome zuordnen, die die Beziehungen zwischen den Elementen auf einen theoretischen Begriff bringen. Gerade der Verweis auf die Geometrie als eine Darstellungsweise, die mit einem ähnlichen Raum- und Zeitbegriff operiert wie der, den Kracauer in den populärkulturellen Phänomenen Reise und Tanz zu erkennen glaubt, weist die Fragwürdigkeit eines metaphysischen Bezugrahmens auf, der ein von der Erfahrung unabhängiges System bildet. Dieser Vorwurf, den Kracauer immer wieder gegen Kant erhoben hat, kann an dieser Stelle ebenso gegenüber seinem eigenen Sphärenmodell geltend gemacht werden. Lediglich am Schluss seines Essays wirft Kracauer die Frage auf, ob nicht angesichts der veränderten Alltagserfahrung von Raum und Zeit 183 184
185
186
Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 293f. In dieser Transzendenzunfähigkeit gleicht sie der Bewegung, die Deleuze im Rückgriff auf Bergson als charakteristisch für den Film herausgearbeitet hat: „Die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit bestand darin, die Bewegung nicht mehr auf herausgehobene Momente, sondern auf jeden beliebigen Moment zu beziehen. Soweit die Bewegung überhaupt noch zusammengesetzt wurde, tat man dies nicht mehr von transzendenten Formelementen (Posen) aus, sondern anhand immanenter materieller Elemente (Schnitte)“. Vgl. Deleuze, G., Das Bewegungs-Bild, 1, S. 17. Auch für diesen Aspekt liefert Knabe und Stier ein positives Gegenbild. Während es in Die Reise und der Tanz vor allen Dingen um die Beschleunigung von Bewegungen geht, kann dort die Rhetorik als „Inbegriff der Verzögerung“ gelten, die den „humanen Weg“ zwischen zwei Punkten beschreibt. Blumenberg, H., Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 300. Kracauer, S., Die Reise und der Tanz, Schriften 5, 1, S. 293.
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ein neues, ideales begriffliches System geschaffen werden muss, das diesen Veränderungen gedanklich Rechnung zu tragen vermag: „So skandieren wir auch als Tanzende eine Zeit, die es bisher nicht gab, eine durch tausend Erfindungen uns bereitete Zeit, deren Gehalte wir vielleicht deshalb nicht ermessen, weil ihre ungewohnten Maße einstweilen Gehalt uns sind.“187 Kracauers wenige Zeit später vollzogene intensive Beschäftigung mit dem Marxismus wird dazu führen, dass er jenen Sachverhalt, in dem er in Die Reise und der Tanz noch ein Übergangsphänomen einer im eigentlichen Sinne erlösungsbedürftigen Zeit sieht – der Form als solcher unabhängig von ihrem Gehalt Bedeutung zuzusprechen –, zum erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt seiner Gesellschaftskritik machen wird. Denn dass „an der Eigenmacht der materiellen Faktoren die mit ihnen verkoppelten kulturellen Gebilde zuschanden geworden [sind]“, zeigt einmal mehr, dass die äußerste Entleerung des Seienden der Utopie eines dialektischen Umschlags vorangehen muss: „Nicht anders [kann] eine Ordnung erzielt werden als durch die Veränderung dieser Faktoren, die wiederum ihr nacktes Hervortreten aus allen sie bergenden und verbergenden Hüllen zur Voraussetzung hat.“188 3.3.2. Fläche: Das Ornament der Masse Das Ornament bezeichnet eine Kunstgattung, die wie keine zweite zu Beginn des Jahrhunderts massiver Kritik ausgesetzt war. In der Folge von Adolf Loos’ Diktum „Ornament ist ein Verbrechen“ wurde seine Abschaffung systematisch durchgeführt. Mit dem Ornament greift Kracauer ein Ausdruckselement auf, das in den zwanziger Jahren bereits als Anachronismus gelten konnte. Das Ornament, das „malerisch oder plastisch oder auch selbst tektonisch […] an einem flächigen oder körperhaften Träger, an Architektur, Gerät, auf der flachen Seite des Buches oder an einem textilen Werk usw. erwächst“189, ist kein selbständiges Gebilde. In Kracauers Essay bedarf es der Masse als seines Trägers, mithin einer Formation, die Kracauer zwar als Zeiterscheinung benennen kann, doch weder psychologisch190 187 188 189 190
Ebd., S. 296. Kracauer, S., Die Bibel auf Deutsch, Schriften 5, 1, S. 358. Sedlmayr, H., Die Revolution der modernen Kunst, S. 49. Kracauers Verwendung des Begriffes „Masse“ bietet keinerlei Übereinstimmungen mit dem Freudschen Modell. Weder beschäftigt Kracauer das Verhältnis der Massen zu einem Führer, noch interessiert ihn ihre Triebökono-
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noch soziologisch klassifiziert. Ursprünglich kam den Ornamenten eine symbolische oder allegorische Bedeutung zu, die sich auf den Träger als Ganzen bezog. Die Masse stellt diese Einheit nur noch im Begriff vor und verweist auf eine andere sinnstiftende Ordnung. Die „Unbewußtheit“ „unscheinbarer Oberflächenäußerungen“ kommt im Ornament der Masse in doppelter Weise zum Tragen. Während das Ornament Zeichen eines bereits vergangenen Formenkanons ist, führt Kracauer mit der Masse einen Begriff vor, der weder selbst Bedeutungen schafft, noch Teil einer bedeutenden Ordnung ist und somit durchlässig für jene Bedeutungsformationen erscheint, die sich ihn einzuverleiben suchen. Während sie [die unauflöslichen Mädchenkomplexe, U.B.] sich in den Revuen zu Figuren verdichten, ereignen sich auf australischem und indischem Boden, von Amerika ganz zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit. Das kleinste Örtchen, in das sie noch nicht gedrungen sind, wird durch die Filmwochenschau über sie unterrichtet. Ein Blick auf die Leinwand belehrt, daß die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körper in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch die Tribünen gegliederte Menge zu.191
Auf der darstellerischen Ebene wird das Ornament zum Bild der Masse. Das Ornament enthüllt sich als eine Form des Labyrinths; stellte dieses den Ort einer subjektiven Selbstbestimmung dar, so jenes den einer kollektiven. Zwischen der „durch Tribünen gegliederten Menge“ und den „Ornamenten aus Tausenden von Körpern“ besteht ein symmetrisches Verhältnis, der Zustand der „Unbewußtheit“ enthüllt sich auch hier als ein Mangel an Kollektivbewusstsein.192 Kracauer konstatierte bereits in den einleitenden Sätzen, dass „der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen [ist], als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst“193. Diese Aussage impliziert, dass sprachliche Äußerungen ein reflektierendes Verhältnis zur Umwelt voraussetzen. Dagegen konstituieren sich die Bildformationen, zu denen die Elemente der Wirklichkeit zufällig zusammentreten, unabhängig von konventionel-
191 192 193
mie oder eventuelle Spuren eines kollektiven Unbewussten. Vgl. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 77ff. Kracauer, S., Das Ornament der Masse, Schriften 5, 2, S. 57. Vgl. Hansen, M., Mass Culture, S. 65. Kracauer, S., Das Ornament der Masse, Schriften 5, 2, S. 57.
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len Sinnzusammenhängen. Ihre Oberflächen beschreibt Kracauer zwar als ästhetische Phänomene, doch lassen sie sich weder ästhetisch noch phänomenologisch deuten: Das Ornament wird von den Massen, die es zustandebringen, nicht mitgedacht. So linienhaft es ist: keine Linie dringt aus den Massenteilchen auf die ganze Figur […]. Je mehr ihr Zusammenhang zu einem bloß linearen sich entäußert, um so mehr entzieht sie sich der Bewußtseinsimmanenz ihrer Bildner. Aber darum wird sie nicht von einem Blick getroffen, der entscheidender wäre, sondern niemand erblickte sie, säße nicht die Zuschauermenge vor dem Ornament, die sich ästhetisch zu ihm verhält und niemanden vertritt. Das von seinen Trägern abgelöste Ornament ist rational zu erfassen. Es besteht aus Graden und Kreisen, wie sie in den Lehrbüchern der euklidischen Geometrie sich finden.194
Indem die Bildelemente „Graden und Kreise“ in einer gesetzmäßig geordneten Struktur – der Geometrie – aufgehen, geht ihnen gleichzeitig ihre individuelle Bedeutung verloren. Das Ornament wird zum Ausdruck einer abstrakten Form, deren konkreter Gehalt nicht mehr zu bestimmen ist. In der historischen Abfolge konnte das Ornament ursprünglich als „optisches Transparenzideal“195 gedeutet werden, das die Linearperspektive offenbarte, die seiner Entstehung zugrunde lag. Nach der historischen Abkehr vom Perspektivismus, wie sie sich etwa im Expressionismus vollzog196, weist es den Standort eines idealen Betrachters als Leerstelle aus. „Das von seinen Trägern abgelöste Ornament“ demonstriert die Emanzipation perspektivischer Konstruktionen von einem sie inaugurierenden Selbst- und Weltverständnis. Als Zeichen steht das Ornament nicht länger für einen Signifikanten, dessen dingliche Realität – die Masse – Träger der Bedeutung ist. Kracauer führt die ästhetische Struktur des Massenornaments auf das Prinzip der Vernunft zurück, das sich auch im gegenwärtigen Pro194 195 196
Ebd., S. 59. Graevenitz, G., Das Ornament des Blicks, S. 198. „Er [der expressionistische Künstler, U.B.] verneint diese unselige Wirklichkeit überhaupt, er möchte sie am liebsten ganz ausschalten, um hüllenlos und unvermittelt sein Inneres auszudrücken. Damit er sich als Herr über sie fühlen kann, zerstückelt er die gewohnten Bildungen, die uns umstellen, zerreißt die Formen, in die uns das Mannigfaltige gebannt erscheint, und setzt sich über die Notwendigkeiten hinweg, denen wir allzulange uns gebeugt haben.“ Kracauer, S., Schicksalswende der Kunst, Schriften 5, 1, S. 74.
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duktionsprozess widerspiegelt. Die Inhaltslosigkeit des Ornaments korrespondiert mit der Entsubstantialisierung der Fabrikarbeit, „das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität“197. Hinsichtlich seiner Wirkungsintention erhebt Kracauer das Massenornament über die Kunstproduktion seiner Zeit: Entgegen ihrer [der Gebildeten, U.B.] Meinung ist das ästhetische Wohlgefallen an den ornamentalen Massenbewegungen legitim. Sie in der Tat gehören zu den vereinzelten Gestaltungen der Zeit, die einem vorgegebenen Material die Form verleihen. Die in ihnen gegliederte Masse ist aus den Büros und Fabriken geholt; das Formprinzip, nach dem sie gemodelt wird, bestimmt sie auch in der Realität […]. Wie gering immer der Wert des Massenornaments angesetzt werde, es steht seinem Realitätsgrad nach über den künstlerischen Produktionen, die abgelegte höhere Gefühle in vergangenen Formen nachzüchten; mag es auch nichts weiter bedeuten.198
Kracauer interessiert nicht der ästhetische Akt als solcher, sondern das Verhältnis von ‚künstlerischem‘ Material und Wirklichkeit. In diesem Kontext verweist er auch auf das Verhältnis von Form und Material. Kracauer deutet das „Material“ zunächst hinsichtlich seines realistischen Gehaltes, der seine Verwendung bestimmt. Diesen deduziert er jedoch nicht aus einem gegebenen Bestand an Sichtbarkeiten, sondern leitet ihn aus dem System der kapitalistischen Gesellschaft ab. In Kracauers Ausführungen lässt sich ein – wenn auch nur indirekter – Bezug zu den Ornament-Debatten des späten 19. Jahrhunderts herstellen, die die Prämissen einer idealistischen Ästhetik zugunsten der Frage nach der Materialgerechtigkeit der Form aufgaben.199 Kracauer greift mit dem Ornament auf einen Gattungstypus zurück, für dessen ästhetische Betrachtung im Industriezeitalter das Verhältnis von Material und Technik ausschlaggebend war. Wurde die Eigengesetzlichkeit des Materials am Ausgang des 19. Jahrhunderts mit einem substantiellen Wert begründet, der mit der Natur des Materials gegeben war200, so be197 198 199
200
Kracauer, S., Das Ornament der Masse, Schriften 5, 2, S. 60. Ebd. Vgl. Bandmann, G., Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, S. 151f. Vgl. Ruskins Kritik am industriell gefertigten Ornament, das im Gegensatz zu einem handwerklich gefertigten und über einen ästhetischen Eigenwert des Materials verfügenden steht. Ruskin, J., Die sieben Leuchter der Baukunst, S. 99.
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tont Kracauer die strukturellen und funktionellen Implikationen dieses Verhältnisses. Der im Ornament „gegliederte[n] Masse“, die „aus den Büros und Fabriken geholt“ ist, kommt als Material kein Eigenwert zu, sie ist lediglich funktional, d.h. durch den Produktionsprozess zu bestimmen. Erst indem das von Kracauer beschriebene Ornament seine eigene Materialität leugnet, erlangt es semantische Transparenz. Es ist nicht länger der Bereich des Imaginären (Motivik), der dem Ornament seine Bedeutung verleiht, sondern das Prinzip der Konstruktion, das es zum Medium desavouiert. Die Medialität des Ornaments korrespondiert mit seiner Abstraktheit, mit der Kracauer zunächst nur andeutet, dass das Ornament keine Sinneinheit in der ursprünglichen Funktion eines Zeichens mehr ist. Das Zeichen des Orts, an dem sich das kapitalistische Denken befindet, ist seine Abstraktheit. Durch ihr Vorherrschen heute wird ein geistiger Raum gesetzt, der sämtliche Äußerungen umfängt. Der gegen die abstrakte Denkweise gerichtete Einwand, daß sie die eigentlichen Gehalte des Lebens nicht zu fassen vermöge und darum einer konkreten Betrachtung der Erscheinungen zu weichen habe, deutet gewiß auf die Grenze des Abstrakten hin, wird aber voreilig erhoben, wenn er zu Gunsten jener falschen, mythologischen Konkretheit erfolgt, die in dem Organismus und der Gestalt das Ende erblickt.201
Die ästhetischen Implikationen des Ornaments bindet Kracauer in eine quasi-historische Darstellung symbolischer Autoritäten ein. Der Geschichtsprozess ist Kracauer zufolge ein „Prozeß der Entmythologisierung“202; in seinem Verlauf wird die natürliche Ordnung einer Vorzeit, deren signifikatorische Einheit der Organismus verkörperte, durch die Vernunft abgelöst, der es um die Einsetzung der „Wahrheit“ geht. In der Gegenwart stagniert der historische Prozess, da sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verhärten. Jener abstrakte Zusammenhang der Elemente einer „entzauberten Wirklichkeit“ nimmt selbst mythische Züge an, da er sich als unveränderliche Ordnung etabliert hat.203 Die Inthronisation einer rationalen Ordnung macht aus der Darstellung einen formalen Akt; Sinn wird nicht mehr durch die (natürliche) Gegebenheit der Dinge selbst gestiftet, sondern als Konstruktion der Materialität des 201 202 203
Kracauer, S., Das Ornament der Masse, Schriften 5, 2, S. 62f. Ebd., S. 63. Vgl. Mülder-Bach, I., Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der „Oberfläche“, S. 364.
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Signifikanten eingeschrieben. Abstraktheit bezeichnet den Verlust von Bedeutungen, die außerhalb jenes „geistigen Raumes“ angesiedelt sind, mithin in den natürlichen Erscheinungen selbst, die von der herrschenden Ordnung nicht mehr repräsentiert werden. Im Zuge der Etablierung einer falschen Abstraktheit tritt das Ornament als Übergangsphänomen auf, dem sowohl sprachliche als auch bildliche Eigenschaften zugesprochen werden. Während in der historischen Betrachtung der Ornamente eine seiner Grundbestimmungen – die Abstraktion – gerade aus dem Unterschied zwischen ästhetischem Bild und Ornament abgeleitet wurde204, spielt in Kracauers Argumentation der Bezug zu einem Darstellungsmodus von „einmaligen raumzeitlichen Zuständen“ keine Rolle mehr. Vielmehr weist das Ornament Eigenschaften auf, die den strukturellen Bestimmungen photographischer Abbilder im Photographie-Essay entsprechen. Die Bedeutungsrelationen, die Kracauer anhand des ästhetischen Gehalts des Ornaments entwickelt, decken sich in großen Teilen mit dem von Roland Barthes rund dreißig Jahre später entwickelten Mythenbegriff205, den dieser als Erweiterung sprachlicher Bedeutungssysteme konzipiert hatte. Laut Barthes unterscheidet sich der Mythos von der Sprache dadurch, dass „er auf einer semiologischen Kette aufbaut, die bereits vor ihm existiert; er ist ein sekundäres semiologisches System“206. Barthes konstatiert, dass sich der Mythos der Zeichen eines ihm vorangegangenen linguistischen Systems bedient, um seine eigenen Bedeutungen zu konstruieren. Dies führt dazu, dass die Gehalte des linguistischen Schemas entleert werden. Der Sinn des linguistischen Systems wandelt sich zur Form des Mythos. In Kracauers Argumentation nimmt die Natur den Platz einer ursprünglichen signifikatorischen Einheit ein. Der Elemente dieses primären zeichenhaften Systems bedient sich die Vernunft, um einen rationalen Zwangszusammenhang zu stiften, in dem die ursprünglichen Elemente ihres Sinns entleert und in Stummheit überführt werden: Sie [die unkontrollierte Natur, U.B.] kann sich nicht mehr wie bei den primitiven Völkern und in den Zeiten der religiösen Kulte in Gestaltungen umsetzen, die als Symbole mächtig sind. Solche Kraft der Zeichenrede ist aus dem Massenornament unter dem 204
205
206
Irmscher, G., Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments seit der frühen Neuzeit, S. 9. Kracauer selbst verwendet den Begriff des Mythos entsprechend seiner Bedeutungszuschreibung durch Johann Jakob Bachofen. Vgl. Kracauer, S., Aufruhr der Mittelschichten, Schriften 5, 2., S. 412ff. Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 92.
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Siegfried Kracauer – Figuration Einfluß der gleichen Rationalität gewichen, die das Aufbrechen seiner Stummheit verwehrt. So gibt sich denn die bloße Natur in ihm, die Natur, die sich auch wider die Aussage und Fassung ihrer eigenen Bedeutung sträubt.207
Der für den Mythos konstitutive Umschlag des „Sinns“ in „Form“ wird im Ornament bildhaft vollzogen; Natur meint nicht mehr länger die Konstitution von Sinn aus der Welt ursprünglicher Erscheinungen, sondern wird zur „rationale[n] Leerform des Kultes“208. Gerade weil das Ornament über keine eigene Materialität verfügt, ist es symbolischer Sprache nicht fähig. Seine Qualität besteht in jener Transparenz, die es hinsichtlich einer begrifflichen Ordnung – der abstrakten Rationalität – zu erzeugen vermag. Im Gegensatz zu Roland Barthes spricht Kracauer dem Ornament nicht den Charakter eines selbständigen Zeichensystems zu, das Ornament bleibt „stumm“. Es mag Kracauers Interesse an dem „geschichtlichen Ort“209 der Gegenwart geschuldet sein, dass er die ästhetischen Implikationen210 reiner Oberflächenphänomene stets ihren ideologiekritischen Gehalten unterordnete. Für Kracauer stellte einzig die Sprache das Medium von Erkenntnis dar, nur sie allein sei in der Lage „die schlechte Rationalität des kapitalistischen Denkens“211 zu enthüllen. So scheint zwar im Ornament eine mythische Ordnung auf, doch wird diese nicht als bildliche ‚Qualität‘ gewertet. Erst im Photographie-Essay wird Kracauer der photographischen ‚Sprache‘ die Bedeutung eines eigenständigen Zeichensystems zuerkennen, dessen Bilder Aussagen produzieren, die unabhängig von sprachlichen Sinnzuschreibungen zu entschlüsseln sind. 3.3.3. Raum: Asyl für Obdachlose In der Forschungsliteratur wurde wiederholt auf die Ideologiekritik hingewiesen, die Kracauer bereits mit dem Titel dieses Kapitels seiner An207 208 209 210
211
Kracauer, S., Das Ornament der Masse, Schriften 5, 2, S. 65. Ebd. Ebd., S. 67. So geht Kracauer auf parallel sich vollziehende Entwicklungstendenzen in der Malerei mit keiner Silbe ein. Dabei offenbarte sich gerade in der abstrakten Malerei die Nähe von Abstraktion und Geometrie, die einen neuen Formalismus begründete. Vgl. Belting, H., Das unsichtbare Meisterwerk, S. 335. Kracauer, S., Bücher vom Film, FZ 10.7.1927.
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gestellten-Studie übte.212 Während der „Zusammenhang von Angestelltenwelt, Konsum- und Kulturbetrieb“213 vorwiegend soziologisch rekonstruiert wurde, steht eine kulturgeschichtliche Untersuchung jener räumlichen Asyle der Angestellten noch aus. Der soziologischen Funktion von Räumen hatte bereits das Interesse von Kracauers Lehrer Georg Simmel gegolten: Immer fassen wir den Raum, den eine gesellschaftliche Gruppe in irgend einem Sinne erfüllt, als eine Einheit auf, die die Einheit jener Gruppe ebenso ausdrückt und trägt, wie sie von ihr getragen wird. Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die beiden Funktionen, die eigentlich nur die zwei Seiten einer einzigen sind: das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und es in sich zusammenzuschließen; der Rahmen verkündet, daß sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen untertänige Welt befindet, die in die Bestimmtheiten und Bewegungen der umgebenden nicht hineingezogen ist; indem er die selbstgenugsame Einheit des Kunstwerks symbolisiert, verstärkt er zugleich von sich aus deren Wirklichkeit und Eindruck. So ist eine Gesellschaft dadurch, daß ihr Existenzraum von scharf bewußten Grenzen eingefaßt ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert, und umgekehrt: die wechselwirkende Einheit, die funktionelle Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze.214
An Simmels Versuch, eine soziologisch fundierte Terminologie der Besetzung von Räumen aufzustellen, fällt auf, dass Simmel mit den Worten „Einheit“, „Rahmen“ und „Grenze“ Vokabeln beschwört, die die kulturgeschichtliche Entwicklung bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihres Bedeutungsgehaltes beraubt hatte. Durch seinen ästhetisierenden, die Geschichte bewusst ausblendenden Blick auf soziale Erscheinungen der Zeit215 maskiert Simmel in der Einheit von Kunstwerken die rationale Struktur des Raumes, die durch die funktionelle Beziehung seiner Elemente gegeben ist. 212 213 214 215
Vgl. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 124. Koch, G., Kracauer zur Einführung, S. 58. Simmel, G., Soziologie, S. 694. Den Mangel an einer Geschichtsauffassung hatte Kracauer bereits in seinem frühen Aufsatz über Georg Simmel beklagt. Kracauer, S., Georg Simmel, S. 1, DLA.
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Im Unterschied zu Georg Simmel wendet sich Kracauer der historischen Bedingtheit jener kulturellen Besetzung von Räumen zu, die den „angeblichen“ Existenzraum der Angestellten zum Ausdruck bringen. Die Erscheinung des „Höheren“ deutet er nicht als „Gehalt“ des Lebens der Angestellten, sondern als „Glanz“216. Ihr reflektierendes Verhalten zum Licht – dem klassischen Symbolträger, der die sinnliche Erfahrung des Übersinnlichen zum Ausdruck bringt – legt nahe, dass die Welt der Angestellten kein kohärentes Ganzes darstellt, sondern sich in der Form der eigenen Existenz die Gehalte einer anderen Ordnung verfestigt haben. Nicht zufällig sucht Kracauer in der Gegenwart die kulturellen Institutionen der Angestellten auf, die im 19. Jahrhundert prägend für die Ausbildung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins waren. Es hängt mit der Monotonie in den Betrieben zusammen, daß die Panoramen des 19. Jahrhunderts in allen diesen Lokalen wieder zu so hohen Ehren kommen. Je mehr die Monotonie den Werktag beherrscht, desto mehr muß der Feierabend aus seiner Nähe entfernen; vorausgesetzt, daß die Aufmerksamkeit von den Hintergründen des Produktionsprozesses abgelenkt werden soll. Der genaue Gegenschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint. Eine Welt, die bis in den letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuumreiniger vom Staub des Alltags gesäubert ist. Die Geographie der Obdachlosenasyle ist aus dem Schlager geboren. Obwohl er nur über eine vage Ortskenntnis verfügt, sind die Panoramen doch meistens exakt ausgeführt; eine Pedanterie, die darum nicht überflüssig ist, weil im Zeitalter des Verkehrs auch der tarifmäßige Urlaub schon eine Kontrolle mancher Landschaften an Ort und Stelle ermöglicht.217
Um der Monotonie zu entkommen, bedarf es der Abwechslung, der „Zerstreuung“, die Kracauer der „Sammlung“ gegenüberstellt. Während sich in dieser Sinnstiftung als gleichsam kontemplativer Akt vollzieht, lässt der Gestaltwechsel, dem jene sich anheim gibt, den Bezug auf einen Sinn nicht zu. In Augenzeugenberichten panoramatischer Vorführungen wurde immer wieder hervorgehoben, dass die perfekte Nachbildung der Wirklichkeit dem Betrachter eine bestimmte Raumund Zeitwahrnehmung vorgab, die sein an der Natur geschultes räumli216 217
Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 282. Ebd., S. 287.
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ches und zeitliches Empfinden außer Kraft setzte.218 Das ästhetische Erlebnis bedingte die Auslieferung des Betrachters an die Prinzipien, die dieses Erlebnis erzeugen: Dem panoramatischen, von den Dingen gleichsam überfluteten Blick steht die rationalistische Distanzierungsgeste, sich vom Bild abzuwenden, es durch den Duktus der Betrachtung zu funktionalisieren und zu entmachten, nicht mehr zur Verfügung. Vom Bildraum umschlossen oder in ihn suggestiv einbezogen zu sein, heißt, sich aus der Innenwelt des Bildes nicht mehr hinausabstrahieren zu können.219
Die täuschende Illusion der Wirklichkeit wird nicht nur durch technische Mittel und dem damit einhergehenden Ausfall von Distanz erreicht, sondern auch dadurch, dass das panoramatische Bild den Charakter seiner Bildlichkeit verliert, indem es ohne Rahmen vom Betrachter rezipiert wird. Im 19. Jahrhundert entsprach die perfekte Nachahmung der Natur durchaus noch einem Kunstideal. Allerdings vermochten dessen ästhetische Rechtfertigungsversuche nicht über seine gesellschaftlichen Gründe hinwegzutäuschen: der Beherrschung der Natur durch die fortschreitende Industrialisierung.220 So liefert sich zwar der Betrachter an das Gesehene aus; gleichzeitig jedoch stellt er den Werkstatus des Bildes radikal in Frage. Das als „Traumbild“ oder „imaginäre Wirklichkeit“ bezeichnete Erlebnis, deutet den Verlust der Autonomie der Kunst an; diese wird zu einer Bewusstseinssphäre ab- bzw. aufgewertet.221 218
219 220
221
„Wie denn endlich die völlige Tageshelle wieder zurückkehrte und die weißen hohen Wände der Kirche wieder die völlige Menschenleere noch auffallender machten, da war es mir, als erwachte ich aus einem Traume, ja dieses alles mußte mir um so mehr traumähnlich scheinen, je schneller die sonst eine Reihe von Stunden Zeit brauchenden Phänomene an mir vorübergegangen waren, und zwar Phänomene, die mich gleich wirklichen Traumbildern immer nur an eine imaginäre Wirklichkeit und keineswegs an ein Kunstwerk erinnert hatten.“ Carus, C.G., Denkwürdigkeiten aus Europa, S. 454. Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts, S. 167. „Das bürgerliche Publikum genießt im Besuch der Panoramen seinen Zuwachs an politischer und ökonomischer Macht. Es spiegelt den gesellschaftlichen Auftrag, den es sich zuschreibt, in einer Optik, die keine Grenzen der Weltbemächtigung zeigt.“ Ebd., S. 163. Die wirkungsästhetische Praxis, die das Panoramaerlebnis auslöste, wird zum Ende des 19. Jahrhunderts theoretisch durch die Erklärungsversuche eingeholt, wie sie im Rahmen der Einfühlungsästhetik formuliert wurden. Vgl. Geiger, M., Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt der durch die Panoramen vertretene Typ von Rationalität im Produktionsprozess selbst zum Ausdruck. Sie steht nicht mehr im Dienst der Nachahmung von Wirklichkeit, sondern erzeugt und strukturiert den Alltag der Angestellten. Im Wunsch, sich von der alltäglichen ‚Monotonie des Werktages‘ zu entfernen, gibt sich der Angestellte der räumlichen Ferne der Panoramen anheim, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass diese räumliche Ferne den positiven Ursprung von jener zeitlichen Nähe bildet. Die Panoramen, deren Geschichte das 19. Jahrhundert umfasst222, sind in Kracauers Schilderung bereits zum Bestandteil von Vergnügungsetablissements degeneriert; als solche erfüllen sie nicht mehr die Funktion der Selbstrepräsentation. Dagegen hält Kracauer, dass die Aktivitäten der Angestellten vom Schlager skandiert werden. Die „Geographie der Obdachlosenasyle“ wird zu einer räumlichen Leerformel, da sie weder räumlich konkretisiert werden kann, noch über ihre Bestandteile Auskunft zu geben vermag. Ihre Abkunft vom Schlager legt ihr ein zeitliches Prinzip zugrunde, das auch in der Akzentuierung von Bewegungsabläufen und ihrer Charakterisierung durch Rhythmus und Tempo zum Ausdruck kommt. Im 19. Jahrhundert verdankte das Panorama seine Wirkung vor allen Dingen gezielten Lichteffekten und Farbbildungen.223 Die von Kracauer zitierten Panoramen präsentieren heimische und exotische Landschaften, deren Glaubwürdigkeit durch tänzerische Darbietungen noch erhöht werden sollte. Das Licht spielt nur noch eine bildhafte Rolle, da die Illusion, die der Zerstreuung dient, nicht durch täuschende Nachahmung, sondern vorwiegend durch Bewegung erreicht wird. Die in der Warenhaus-Propagandaschrift angerufenen Lichtfluten wirken überall im Ensemble mit. Sie werden im Resi papageienbunt durch den Raum geschickt und überspielen das dortige Heidelberger Schloß mit einer Farbenpracht, deren die untergehende Sonne nicht fähig wäre […]. Die eigentliche Macht des Lichtes aber ist seine Gegenwart. Es entfremdet die Masse ihres gewohnten Fleisches, es wirft ihr ein Kostüm über, das sie verwandelt.
222 223
Oettermann, S., Panorama, S. 8. Heinz Buddemeier teilt die Geschichte des Panoramas und Dioramas in drei Stufen ein; während die historisch früheste Stufe durch das Wechseln von Farben und Helligkeitsgraden gekennzeichnet ist, sind es die folgenden beiden Stufen durch die Zunahme der Komplexität von Bewegungen. Buddemeier, H., Panorama. Diorama. Photographie, S. 34.
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Durch seine geheimen Kräfte wird der Glanz Gehalt, die Zerstreuung Rausch.224
Der Besuch der Lokale wird von Kracauer als Reise tituliert. Die „Bewegung“ des Betrachters, d.h. seine Versetzung in einen imaginären Bereich, führt zur Auslöschung seines räumlichen Nahbereiches – des Körpers –, die Steigerung der Bewegung mündet im Rausch, der Raum und Zeit vergessen lässt. Kracauer übersetzt die räumlichen Bilder in eine gesellschaftskritische Terminologie. Der Auslöschung des Vordergrundes entspricht in seiner Darstellung das fehlende Selbstbewusstsein der Angestelltenschicht. Der Verlust der Ferne, der sich darin äußert, dass es sich weniger „um wirkliche Fernen als um die erträumten Märchengebilde, in denen die Illusionen leibhaftig Figur geworden sind“225 handelt, resultiert aus ihrer Zurichtung durch den historischen Vorläufer: „Indem es [das Diorama, U.B.] die Ferne so scheinbar zum Greifen naherückt, eliminiert es den Ort, wo die Träume ihren Sitz und ihr Ziel haben. Erst der Verlust macht den Ersatz nötig und seine profitable Verwertung möglich.“226 Mit der Chronologie der Bewegungsabläufe reproduziert die Vergnügungsindustrie die Monotonie des Produktionsprozesses. Im Verhältnis zu der von den Panoramen repräsentierten Landschaft kehrt sich die Passivität um: Die Herrschaft, der der Angestellte im Werkalltag unterworfen ist, übt er selbst in der Form von Kontrolle über die Landschaft aus. Gerade die Hingabe an eine vorgetäuschte Wirklichkeit macht deutlich, dass die Schicht der Angestellten über kein eigenes Bewusstsein verfügt. Die Gesellschaft der Angestellten entspricht dem Idealtypus einer Masse, die im Simmelschen Sinne sozial nicht erfasst werden kann, da sie weder innerlich zusammengehört, noch über eine sie selbst bedeutende Begrenzung verfügt. Dass die Masse der Angestellten kein eigenes Repräsentationssystem besitzt, illustriert Kracauer am Beispiel des Panoramas, an dem er den Ausschluss von anderen Ordnungen vorführt. Zwar weist die räumliche Ordnung Spuren einer historischen Topographie auf, doch dienen diese dazu, den Dingen eine Form zuzusprechen, die ihren eigentlichen Gehalt und ihre gegenwärtige Situierung im Raum bewusst verschleiern. Dabei wird deutlich, dass mit den Vergnügungslokalen Illusionsräume geschaffen werden, die den Angestellten darüber hin224 225 226
Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 288. Ebd. Oettermann, S., Panorama, S. 64.
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wegtäuschen, dass diese Räume sich von dem ‚wirklichen‘ Raum ihrer Arbeitswelt nicht unterscheiden. Das Panorama tritt in diesem Kontext nicht als historischer Raum, sondern als mythischer auf. Er „entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte. Die Geschichte verflüchtigt sich aus ihm“227. In der Gegenwart der zwanziger Jahre inszeniert sich diese „panoramatische“ Perspektive selbst als definitive Bewusstheit und restringiert in der angemaßten Totalität ihres Wirkungsbereiches – des Produktionsprozesses – seine Erkenntnis.228 In der Betonung von Endlichkeit, die er der „Verwerfung des Alters“ und „dem Grauen vor der Konfrontation mit dem Tod“229 gegenüberstellt, entlarvt Kracauer die Existenzweise der Angestellten als Scheintotalität. Die durch die Panoramen eingeübte Täuschung des Betrachters, die sich durch die perfekte Nachbildung der Wirklichkeit ergab, findet ihre Fortsetzung durch die Reportage und die illustrierten Zeitungen als optische Massenmedien. Die „Reproduktion des Beobachteten“230 referiert auf die exakte Beschreibung von Wirklichkeit; in deren Folge Erkenntnis zu einer methodologischen Positivität abgewertet wird. Kracauer zeigt den täuschenden und illusionistischen Charakter dieses Sichtbaren auf, mit dessen falscher Totalität die Allmachtsphantasien der Besucher von Panoramen korrelierten. Ihre Bedeutung lag für Kracauer in dem, was sie „dem Blick entziehen“, was sie im Vergnügen zu zerstreuen suchen: die eigene Körperlosigkeit, die sie in einem übertragenen Sinne zu einem Teil jener Oberfläche werden lässt, die sich durch rationale Ordnungen konstituiert. Die Institutionalisierung panoramatischer Sehweisen verfolgt allerdings auch noch einen anderen Zweck. War diese zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch an die „Ungleichzeitigkeit einer dergestalt traditionellen ‚veralteten‘ Wahrnehmung“231 gebunden, so bedingt ihr Wiederaufkommen an dem „Ort radikaler Gleichzeitigkeit“232 (dem Berlin der zwanziger Jahre) den bewuss227 228
229 230 231 232
Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 141. In einem Brief an Adorno bezeichnet Kracauer seinen methodischen Ansatz als materiale Dialektik, da sie „eine neue Art der Aussage konstituiert, eine, die nicht zwischen allgemeiner Theorie und spezieller Praxis jongliert, sondern eine eigen strukturierte Betrachtungsart darstellt.“ Kracauer, S., Brief an Theodor W. Adorno vom 25.5.1930, DLA. Kracauer, S., Die Angestellten, Schriften 1, S. 289. Ebd., S. 216. Schivelbusch, W., Geschichte der Eisenbahnreise, S. 170. Bloch, E., Erbschaft dieser Zeit, S. 117. Inka Mülder-Bach greift ähnlich wie Helmut Lethen auf Blochs Theorie der Gleichzeitigkeit zurück, um Kracau-
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ten Ausschluss von neuen Wahrnehmungsweisen, die sich bereits auf der Basis von Warenproduktion und Verteilung durchgesetzt hatten.233 Am räumlichen Beispiel Berlin führt dieser Prozess vor, dass die Stadt, die „über das Zaubermittel [verfügt], alle Erinnerungen zu tilgen“, um „ganz Gegenwart zu sein“234, zu jenem historischen Ort wird, an dem der Ausschluss von Geschichte bildhaft zu ihrer Instrumentalisierung führt.
3.4. Perspektivische Darstellungen 3.4.1. Zum Augenpunkt: Aus dem Fenster gesehen Kracauer unterscheidet gleich zu Beginn dieser Miniatur zwischen zwei Arten von Stadtbildern: Während die eine „bewußt geformt“ ist und anhand von „Plätzen, Durchblicken, Gebäudegruppen und perspektivischen Effekten“ gestaltet wird, ergibt sich die andere „absichtslos“, zufällig und „ist so wenig gestaltet wie die Natur und gleicht einer Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet“235. Dass diese Unterscheidung in ihrer Grundsätzlichkeit so nicht aufrechtzuerhalten ist, belegt die von Kracauer dreiunddreißig Jahre später vollzogene Umbenennung des Textes Berliner Landschaften in Aus dem Fenster gesehen236. Denn die eindeutige Position eines Betrachters, der aus dem Fenster sieht, um eine augenblickliche, bildhafte Konstellation wahrzunehmen, garantiert zwar die Zufälligkeit des Motivs, lässt allerdings auch keinen Zweifel an einem diesem Sehen zugrunde liegenden optischen Modell: der zentral-
233
234 235 236
ers Betrachtungen der Massenkultur zu deuten. Mülder-Bach, I., „Mancherlei Fremde“, S. 63, und Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 68. Le Corbusier spricht sogar von einer zielgerichteten Manipulation der Sinne durch die Elemente der Baukunst. Vgl. Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, S. 32. Kracauer, S., Wiederholung, Schriften 5, 3, S. 71. Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 399. Der ursprüngliche Titel dieser Miniatur, Berliner Landschaft, legt nahe, dass Kracauer erst in der Rückschau auf das eigene Werk und vor dem Hintergrund seiner kurz zuvor erschienenen Theory of Film ein Bewusstsein für die Dominanz des Optischen in seinem Werk entwickelte, das sich in der Umbenennung einzelner Essays, so etwa im 1964 erschienenen Band Strassen und in der Konzeption von Überschriften, bspw. im Essayband Das Ornament der Masse, äußerte.
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perspektivischen Konstruktion.237 Die von Kracauer aufgezählten städtebaulichen Elemente Plätze, Durchblicke und Gebäudegruppen sind nach abstrakten Regeln entworfen und gehen ganz in der ihnen zugrunde liegenden geometrischen Projektion auf. Sie verfügen über keine davon unabhängige ‚eigene‘ Materialität. Auf den ersten Blick scheint Kracauer ausgehend von diesem negativen Befund ein positives Gegenmodell zu entwerfen, ein „Stadtbild“, das nicht nur vom Blickwinkel des betrachtenden Subjektes unabhängig existiere, indem jenes „niemals der Gegenstand irgendeines Interesses gewesen ist“238, sondern auch über eine eigene Materialität verfüge, die sich in zufälligen und absichtslosen Konstellationen offenbare. Ebenso wenig jedoch, wie sich eine Landschaft „bewusstlos“ behauptet, war ihre ästhetische ‚Entdeckung‘ doch wesentlich an das Repräsentationsmodell der Perspektive gebunden239, stellt sich das von Kracauer entworfene Stadtbild unbewusst dar. Es vermag im Gegenteil detaillierte Auskünfte über jenes Subjekt zu liefern, das mit dem Fensterblick sein Verhältnis zur äußeren Welt und damit auch sich selbst beschreibt.240 Indem Kracauer den Bildausschnitt auf den Standort eines Betrachters zurückführt, wird offensichtlich, dass es ihm weder darum geht, die Rolle des Subjekts bei der Wahrnehmung der Stadtlandschaft zu leugnen, noch das optische Modell, das diesem Prozess zugrunde liegt: 237
238 239 240
„Dieser Fensterblick aus dem Interieur, der das Auge gleichsam durch einen zweiten Rahmen in den unermeßlichen Raum hinter der überkommenen Raumbühne entführt, ist paradigmatisch für das Selbstverständnis der zentralperspektivischen Kunst.“ Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts, S. 71f. Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 399. Vgl. Gruenter, R., Landschaft, S. 200f. „Tatsächlich knüpft das zentralperspektivische Bild ja einen hochkomplexen Zusammenhang, ein projektives Geflecht, dessen Sinn daraus erwächst, daß das Allgemeine und das Besondere im Zeichensystem des Bildes zu einer Form von Übereinstimmung gelangen, zu einem Muster, in dem ich und die Welt miteinander verwoben sind. Augenpunkt und Fluchtpunkt sind korrespondierende, einander spiegelnde Punkte; und so wie sie einander im mathematischen Sinn bedingen, so bedingen und reflektieren sie einander auch im Geistigen. Das Porträt und die Landschaft, das menschliche Gesicht und die physiognomische Auffassung der Welt sind Teil desselben Bild-Projekts – eines Projekts, das eine Umkehrbarkeit von Flucht- und Augenpunkt, von Innenwelt und Außenwelt behauptet.“ Burckhardt, M., Metamorphosen von Raum und Zeit, S. 259f.
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Vor meinem Fenster verdichtet sich die Stadt zu einem Bild, das herrlich wie ein Naturschauspiel ist. Doch ehe ich mich ihm zuwende, muß ich des Standortes gedenken, von dem aus es sich erschließt. Er befindet sich hoch über einer unregelmäßigen Platzanlage, der eine wunderbare Fähigkeit eignet. Sie kann sich unsichtbar machen, sie hat eine Tarnkappe auf. Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, daß kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. Vielleicht hat diese märchenhafte Geschicklichkeit ihren Grund in der Tatsache, daß er vor allem dem Durchgangsverkehr dient. Tausende kreuzen ihn täglich im Omnibus oder in der Tram, aber gerade weil sie ihn ohne jedes Aufheben überqueren, versäumen sie es, seiner zu achten.241
Die zentralperspektivische Konstruktion tritt als erkenntnistheoretisches Modell auf, das die Verbindung von Phänomenen der äußeren Welt einem abstrakten Regelkanon entsprechend anschaulich umschreibt. Dieser Zusammenhang entspricht den ‚bewusst geformten‘ Stadtbildern. Dagegen liefert Kracauer mit der Beschreibung des Platzes ein Beispiel für einen Gegenstand, der nicht in diesem Zusammenhang steht, da er der Aufmerksamkeit entgeht. In diesem Kontext hat der Platz Objektfunktion; gleichzeitig gibt er jedoch auch Aufschluss über das betrachtende Subjekt. Der Standort eines Verkehrsknotenpunktes, von dem aus strahlenförmig in alle Richtungen Straßen abzweigen, hat wenig gemeinsam mit dem Fensterblick aus einem Innenraum in die äußere Welt, der als Standort für den Betrachter im Gefüge zentralperspektivischer Kunst paradigmatisch war.242 Indem sich der Betrachter in einen Bildraum imaginiert, der selbst jedoch „unsichtbar“ ist, wird dieser durch den Wahrnehmungsraum des Subjekts substituiert, der mit der Vorstellung eines homogenen, stetigen und isotropen Raumes bricht.243 Dass dieser Platz „unsichtbar“ sei, zeigt die Grenzen des Wahrnehmungsvermögens des Betrachters auf und zugleich die Unmöglichkeit, diesen ‚absichtslosen Bildern‘ einen örtlich festgelegten Blickwinkel zuzuschreiben. Sichtbar wird der Platz dem Betrachter erst dann, wenn er ihn eben nicht „täglich 241 242
243
Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 399. „Der geregelte Durchblick durchs Fenster impliziert ein elementares Bewusstseinsmodell […]. Seit der Perspektivkonstruktion spricht man von einer Rationalisierung des Sehens, die in der Geometrisierung des Wahrnehmungsprozesses unverhüllt zutage trat.“ Boehm, G., Die Wiederkehr der Bilder, S. 19. Vgl. Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen, 3, S. 183.
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im Omnibus oder in der Tram kreuzt“, sondern einen festen Standort bezieht und sein Blick durch die Fokussierung einer unbewegten Fläche gleichsam stillgestellt wird.244 Der Blick aus dem Fenster über den Platz bezeichnet so eine topographische Relation innerhalb des Bildraumes, die nichts mit jener subjektiven Bemächtigungstechnik gemeinsam hat, als die die Perspektive kulturgeschichtlich gedeutet wurde. Die Voraussetzungen, unter denen jene absichtslosen Bilder in Anbetracht einer herrschenden Ordnung des Sichtbaren, der zentralperspektivischen Konstruktion, überhaupt als Bilder wahrgenommen werden können, bilden demnach die Ersetzung von kulturell verbürgten Techniken des Betrachters durch die subjektive Wahrnehmung und die Befreiung ihrer Darstellung von objektivierten geometrischen Projektionen. Offen bleibt dabei die Frage, wie solche Bilder gedeutet werden können, denn es gehört zum Wesen des Bildes, nicht nur wahrgenommen, sondern auch hinsichtlich seines Sinns entschlüsselt zu werden. Das Hineintreten des Betrachters in den Bildraum und die damit verbundene Aufhebung der kategorialen Trennung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt wird auch im Bildinhalt selbst reflektiert: Das Stadtbild selber nun, das bei diesem Plätzchen beginnt, ist ein Raum von außerordentlicher Weite, den ein metallischer Eisenacker erfüllt. Er klingt von Eisenbahngleisen wider. Sie kommen aus der Richtung des Bahnhofs Charlottenburg hinter einer überlebensgroßen Mietshauswand hervor, laufen bündelweise nebeneinander und entschwinden zuletzt hinter gewöhnlichen Häusern.245
Das Motiv der Eisenbahn wird zum Indiz für die Ablösung des durch die Perspektive gestalteten Landschaftsraumes durch ein neues Raummodell, das aus einem „Netzwerk aus Brücken und Gleisen“ besteht.246 Die Schienen sind gleichsam materialisierte Fluchtlinien, die nicht mehr auf einen bestimmten Punkt zulaufen; indem sie „entschwinden“ 244
245 246
Dass Erfahrung und Erkenntnis wechselseitige Prozesse sind, die sowohl die Auslieferung an das Ereignis als auch die Möglichkeit einer Distanzierung und Reflexion bedeuten, belegt der 1933 erschienene Text Lokomotive über der Friedrichstraße. Der Lokomotivführer, der sich den Bewegungen des Zuges ausliefert, verschwindet mit ihm. Kracauer, S., Lokomotive über der Friedrichstraße, Schriften 5, 3, S. 194f. Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 400f. Burckhardt, M., Metamorphosen von Raum und Zeit, S. 275.
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wird ihre Bewegung zum eigentlichen Thema. Der ihnen folgende, wandernde Blick tritt an den Platz eines Sehens, das in das starre Gefüge der zentralperspektivischen Konstruktion eingebunden war. Mit der Auslieferung des Blicks an den Bildinhalt geht die Preisgabe jenes, von der umgrenzenden Natur unabhängigen Innenraumes des Betrachters einher. Auch wenn die Fläche „mit ihren vielen Signalmasten und Schuppen […] beinahe den Eindruck eines mechanischen Modells macht“, so ist es doch nur „ein Knabe, der irgendwo unsichtbar kniet, [dieses] zum Experimentieren benutzt“247. Der sich einem erwachsenen Betrachter der Gegenwart verflüchtigende Raum wird eingeholt durch den ontogenetisch vergangenen Standort eines Knaben und seiner spielerischen Raumbemächtigung. Durch die vergänglichen Muster, die die Bewegungen der Stadtbahnzüge und Lokomotiven, der Signale und der Rauchwolken in den Raum weben, garantiert das Spiel die Produktion „absichtsloser Bilder“. Sowohl der Knabe als auch der erwachsene Betrachter sind Teil des Bildraumes: Während jenem der Raum zur Projektion seines spielerischen Handelns wird, liefert sich dieser ganz dem Objektdynamismus eines transitorischen Raumes248 aus.249 Was für den Knaben unhinterfragbarer Teil seines Handelns ist, steht dem erwachsenen Betrachter als „Geriesel“ gegenüber. In diesem verdichtet sich die Wahrnehmung der „rollenden Züge“ zum Bild; nicht das Wahrzunehmende ist dem Auge ausgeliefert, sondern umgekehrt das Auge dem Wahrzunehmenden. Der Versuch, eine ästhetische Distanz zum Bild aufzubauen, raubt ihm seine Lesbarkeit. Eine endgültige und definitive Ordnung des Sichtbaren wird dadurch ebenso in Frage gestellt, wie ihre Omnipotenz durch den Rundfunkturm, der als „senkrechter Strich“250 am Horizont erscheint. Schall und Licht galten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als Wellenerscheinungen, wobei historisch gesehen die Wellentheorie die Verselbständigung der Optik als wissenschaftliche Disziplin einleitete und dem Modell der zentralperspektivischen Konstruktion seine wissenschaftliche Legitimation entzog.251 247 248 249
250 251
Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 400. Zum Begriff des transitorischen Raumes vgl. Geist, J.F., Passagen, S. 84. Die Beschreibung des Betrachters weist große Ähnlichkeit zur literarischen Technik des ‚stream of consciousness‘ auf, die durch die Veränderung des Wahrnehmungsverhaltens in der modernen Großstadt inauguriert wurde. Vgl. Brüggemann, H., Sinne in der Moderne, S. 376f. Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 400. Vgl. Mason, S.F., Geschichte der Naturwissenschaft, S. 554ff., und Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 92.
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Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht gerade im „Geriesel“, das auf kein Bezeichnetes verweist (ein gesellschaftlicher Bezugsraum wird lediglich angedeutet durch die „Mietshauswand“ und „gewöhnliche Häuser“, die die Bilder rahmen), die Materialität des Zeichens selbst zum Ausdruck kommt. Der weitere Verlauf des Textes – der Wechsel zur Nacht und die Thematisierung der Voraussetzung alles Sichtbaren, des Lichtes – scheint diese Lesart zu bestätigen: Abends ist das ganze Stadtbild illuminiert. Verschwunden die Schienen, die Masten, die Häuser – ein einziges Lichterfeld glänzt in der Dunkelheit, eines von jenen, die dem Reisenden nachts Trost spenden, weil sie ihm die baldige Ankunft verheißen. Die Lichter sind über den Raum verteilt, sie harren still oder bewegen sich wie an Schnüren […]. Mitten aus dem Getümmel, das keine Tiefe hat, erhebt sich ein strahlender Baum: der Rundfunkturm, der von seiner Spitze einen Lichtkegel rundum schickt. Unablässig kreisend tastet das Blinkfeuer die Nacht ab, und wenn der Sturm heult, fliegt es über die hohe See, deren Wogen den Schienenacker umspülen.252
Der nächtliche Himmel wird als Fläche geschildert, die dem Betrachter mit Lichtpunkten gesprenkelt erscheint. Zwar provoziert die „Verheißung der baldigen Ankunft“ geradezu eine Deutung des Lichts als theologische Erlösungsmetapher253, doch unterstützen die Verweise auf den Einsatz des Lichts zu Werbezwecken („vorne […] leuchtet ein blendendes Orange, mit dessen Hilfe eine Großgarage ihren eigenen Ruhm weithin verbreitet“254) und die fehlende Raumtiefe die Lesart einer „entsprechenden Annullierung des symbolischen Rückbezugs der Zeichen“255. Bereits in seinem Essay Lichtreklame hatte Kracauer festgestellt, dass man im Lichtgewimmel der Reklame „zwar noch Zeichen und Schriften erkennen [kann], doch […] das Eingehen in die Buntheit hat sie zu Glanzfragmenten zerstückelt, die sich nach anderen Gesetzen als den gewohnten zusammenfügen“256. Da dieser Bezugshorizont der räumlichen Wertigkeit innerhalb eines perspektivischen Bedeutungsgefüges entsprach, die eine bestimmte, erkenntnistheoretische Konstellation veranschaulichte, deutet Kracauer seinen Verlust durchaus positiv. Mehr noch, in252 253 254 255 256
Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 400. Schröter, M., Weltzerfall und Rekonstruktion, S. 25. Kracauer, S., Aus dem Fenster gesehen, Schriften 5, 2, S. 400. Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts, S. 300. Kracauer, S., Lichtreklame, Schriften 5, 2, S. 19.
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dem innerhalb der Bildlogik ein „Fluchtpunkt als des ‚Bildes der unendlich fernen Punkte sämtlicher Tiefenlinien‘“ nicht mehr vorkommt und die Flächigkeit des Bildes auf seine Immanenz verweist, wird jener, der als „Symbol für die Entdeckung des Unendlichen“257 galt, durch die Materialität der Gegenstände selbst ersetzt, die seine Endlichkeit verbürgt. Der Blick, der sich vom Dargestellten zurück zur Oberfläche des Bildes bewegt258, macht deutlich, dass Kracauer den perspektivischen Blick auf die Dinge durch eine phänomenologische Betrachtungsweise ersetzt. ‚Absichtslose Bilder‘ sind demnach Bilder, die sich zwar als Zeichen zu erkennen geben, jedoch nicht im Kontext überlieferter Bedeutungsschemata sinnhaft sind. Wenn „die Erkenntnis der Städte […] an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder“ geknüpft ist, dann ist damit nicht mehr über ihre Dechiffrierung gesagt, als dass sich der Betrachter diesen Bildern und damit auch dem Raum aussetzen muss.259 Seine Subjektivität und Individualität, die im Kontext technologischer Entwicklungen im Bereich des Sehens längst als überholt galten260, werden hier wieder in ihr Recht eingesetzt. Da sich der Prozess der „Lesbarmachung“ „traumhaft hingesagter Bilder“ dadurch auszeichnet, dass er „sich linear auf der Ebene der Trauminhalte bewegt“261, lassen sich diese Bilder zu einer Bilderfolge verknüpfen, die immanent und d.h. ohne Formvermittlung interpretiert werden kann. Abschließend bleibt jedoch im Hinblick auf Kracauers ästhetische Betrachtung des Films die Frage offen, ob die in einer bestimmten Blickkonstellation unsichtbare Materialität des Platzes nur zufällig der ‚materiellen Malfläche‘ zentralperspektivischer Konstruktionen gleicht, „auf die die Formen einzelner Figuren oder Dinge […] aufgeheftet erscheinen, [und die] als solche negiert ist und zu einer bloßen ‚Bildebene‘ umgedeutet wird“262 (und die aus phänomenologischer Sicht die Materialität 257 258
259
260 261 262
Panofsky, E., Die Perspektive als symbolische Form, S. 117. Zum Begriff der Oberfläche aus phänomenologischer Sicht vgl. Wiesing, L., Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 214ff. Inka Mülder führt den Terminus „Entzifferung“ auf den Bruch zwischen Bild und Bedeutung im Prozess der Entzauberung zurück. In ihrer Argumentation bleibt unbeachtet, dass sich die Dechiffrierung auf den ‚Traum‘ bezieht, der seit der Antike einen eigenen Typus von Deutung erforderte, da die Bedeutung des Traumes nicht „unmittelbar anschaulich“ gegeben war. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 87. Vgl. Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 135. Blumenberg, H., Die Lesbarkeit der Welt, S. 353. Panofsky, E., Die Perspektive als symbolische Form, S. 99.
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des Bildes selbst beschreibt) und als solche nicht zu einer ontologischen Basis aufgewertet wird, indem sie ihre Existenz als Oberfläche unabhängig von einem festen Standort des betrachtenden Subjekts behauptet. 3.4.2. Zum Fluchtpunkt: Abschied von der Lindenpassage In seiner Essaysammlung Das Ornament der Masse ordnete Kracauer diesen Text dem Kapitel Ausklang: Zum Fluchtpunkt zu. Mit Abschied von der Lindenpassage263 klingt der Essayband tatsächlich aus, inwieweit hier allerdings ein „Fluchtpunkt“ entworfen wird, darüber lässt sich anhand der formalen Textanordnung zunächst nur spekulieren. Im Rahmen des Essaybandes käme es dann dem Kapitel Natürliche Geometrie zu, einen Augenpunkt zu inaugurieren, der, über welchen konkreten Gehalt er auch verfügen würde, mit dem Fluchtpunkt korrespondieren muss. Darüber hinaus legt die bereits in den einleitenden Sätzen dieser Miniatur formulierte eindeutige Betrachterperspektive – die an einen ausgezeichneten Raum gekoppelt ist – nahe, dass der Text selbst über einen „Fluchtpunkt“ verfügt, dessen semantische Besetzung sich aus seiner projektiven Anordnung ergibt. Dem entspricht das Thema des Textes: Ein gegenwärtiger Beobachter264 nimmt Abschied von der Passage, deren architektonische Umgestaltung den Verlust eines kulturell bedeutsamen Raumes anzeigt, den die zwanzig Jahre zurückliegenden Erlebnisse des Studenten verbürgen265: Die Lindenpassage hat aufgehört zu bestehen. Das heißt, sie bleibt der Form nach eine Passage zwischen der Friedrichstraße und den Linden, aber sie ist doch keine Passage mehr. Als ich vor kurzem wieder einmal in ihr lustwandelte wie so oft in den Studentenjahren vor dem Krieg, war das Werk der Vernichtung schon beinahe vollendet. Kalte glatte Marmorplatten verkleideten die Pfeiler zwischen den Geschäften, und darüber wölbte sich bereits ein modernes Glasdach, wie es deren Dutzende gibt. Nur an 263
264
265
Bei der von Kracauer beschriebenen Passage handelte es sich um die Berliner Kaisergalerie. Geist, J.F., Passagen, S. 38. Einmal mehr wird auch in diesem Text das Bild des Flaneurs gezeichnet. Vgl. Zohlen, G., Nachwort, S. 122 und Neumeyer, H., Der Flaneur, S. 351ff. Kracauer hatte seit dem Wintersemester 1907/1908 an der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin studiert, an der er 1909 die Diplom-Vorprüfung der Abteilung für Architektur ablegte. Vgl. Belke, I., und Renz, I., Siegfried Kracauer, S. 10ff.
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einigen Stellen sah zum Glück noch die alte Renaissance-Architektur hervor, jene fürchterlich-schöne Stilimitation unserer Väter und Großväter.266
In den vorangegangenen Essays und Miniaturen stellte die Eindeutigkeit der geometrischen Linie das zentrale Raster einer gesellschaftlich sanktionierten Ordnung dar. Hier kehrt es in der Marmorfassade der Passage der zwanziger Jahre wieder und wird zum Zeichen dafür, dass „die Zeit der Passagen […] abgelaufen“267 ist. Jene Ordnung, die, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, nur funktional zu bestimmen ist, kontrastiert Kracauer in diesem Text mit dem Ineinander verschiedener architektonischer Stilrichtungen und dem von Menschen und Dingen im Raum der Passage um die Jahrhundertwende.268 Gerade aufgrund ihrer Eigentümlichkeit, „Stilimitation“ zu sein, wird die Passage für Kracauer zu einem Raum, der Aussagen über die „Materialität und Medialität der Industriekultur“269 – und das heißt für ihn konkret des gesellschaftlichen Raumes – liefert. Dieser wird allerdings nicht als ein zufälliger Ausschnitt aus der Alltagswelt beschrieben, sondern als ausgezeichneter Raum, dem die Funktion zukommt, Durchgang zu sein: Ihre [der Passagen, U.B.] Eigentümlichkeit war, Durchgänge zu sein, Gänge durchs bürgerliche Leben, das vor ihren Mündungen und über ihnen wohnte. Alles, was von ihm abgeschieden wurde, weil es nicht repräsentationsfähig war oder gar der offiziellen Weltanschauung zuwiderlief, nistete sich in den Passagen ein. Sie beherbergten das Ausgestoßene und Hineingestoßene, die Summe jener Dinge, die nicht zum Fassadenschmuck taugten.270
Zum Fassadenschmuck taugten die Renaissanceornamente aufgrund ihrer geschichtslegitimierenden Eigenschaften, bildeten sie doch „eine Art Brücke zum Gestern“271 und evozierten so die Vorstellung eines historischen Kontinuums, das teleologisch auf die bürgerliche Gesellschaft der 266 267 268
269 270 271
Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 260. Ebd. Diesen Unterschied bezog Bruno Taut auf die außerweltliche Einstellung des Menschen, die sich in seinem Verhältnis zu Technik und Maschinen des 20. Jahrhunderts offenbart, und seiner innerweltlichen, die dem 18. Jahrhundert verhaftet ist. Taut, B., Die neue Baukunst, S. 2. Graevenitz, G.v., Das Ornament des Blicks, S. 178. Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 260. Kracauer, S., Straße ohne Erinnerung, Schriften 5, 3, S. 173.
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Gegenwart ausgerichtet war.272 Das „Ausgestoßene und Hineingestoßene“ bezeichnet dabei jene Dinge, die sich dieser offiziellen Geschichtsschreibung verweigerten. Worin aber besteht ihr konkreter Gehalt? Anhand der Passage veranschaulicht Kracauer das bürgerliche Subjektverständnis des 19. Jahrhunderts. Der Durchgang ist allerdings ein gleichsam doppeltes Schwellenmotiv273, in dem die Schwelle von einem Außenraum in einen Innenraum und von dort wieder in einen Außenraum übertreten wird. Hinzu kommt die historische Dimension der Betrachtung: Während sich jene Blickflucht als synchroner Vorgang vollzieht – der Student besucht die Passage der Vorkriegszeit –, realisiert sich diese als diachroner, geschichtlicher Prozess – der Betrachter tritt aus dem Innenraum der Passage der Vorkriegszeit in den städtischen Außenraum der zwanziger Jahre. Dadurch wird auch die Position des Betrachters relativiert und eine Veränderung des Status des betrachtenden Subjekts angezeigt: War dort die gesellschaftliche Außenwelt konstitutiv für das Selbstverständnis des Subjekts, ist hier das (körperliche) Selbstbewusstsein des Subjekts entscheidend für die konstitutive Erfassung der gesellschaftlichen Außenwelt274: Noch ist die Lindenpassage mit Läden gefüllt, deren Auslagen solche Passagen inmitten der bourgeoisen Lebenskomposition sind. Und zwar befriedigen sie vor allem die körperliche Notdurft und die Gier nach Bildern, wie sie in Wachträumen erscheinen. Beides: das ganz Nahe und das ganz Ferne entweicht der bürgerlichen Öffentlichkeit, die es nicht duldet, und zieht sich gern ins heimliche Dämmer des Durchgangs zurück, in dem es aufblüht wie in einem Sumpf. Eben als Passage ist der Durchgang zugleich auch der Ort, an dem sich wie kaum sonstwo die Reise darstellen kann, die der Aufbruch aus dem Nahen zur Ferne ist und Leib und Bild miteinander verbindet.275 272
273 274
275
So hatte bspw. Gottfried Semper postuliert, „dass die Geschichte der Architektur mit der Geschichte der Kunstindustrie beginnt, und dass die Schönheits- und Stilgesetze der Architektur ihr Urbild in denjenigen der Kunstindustrie haben.“ Semper, G., Entwurf eines Systems der vergleichenden Stillehre, S. 263. Vgl. Geist, J.F., Passagen, S. 11. Für Michel Foucault liegt die Schwelle der Modernität in dem Augenblick, in dem die Frage nach der Erkenntnis zum einen die Frage nach dem Raum des Körpers mit einschließt und zum anderen ihre historischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 385. Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 261.
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Das Auftreten der Passage als Schwellenmotiv, das Verhältnis von Innenraum und Außenraum, die Spannung zwischen Nähe und Ferne, die der Betrachter in der Passage erlebt, dies alles sind Indizien für die literarische Darstellung bildkünstlerischer Verfahren, anhand derer das Verhältnis von Subjekt und Objekt veranschaulicht wird. Anhand des ‚ganz Nahen‘, der körperlichen Verfassung des Subjekts, und des ‚ganz Fernen‘, für das die „Gier nach Bildern, wie sie in Wachträumen erscheinen“ zur Chiffre wird, unterscheidet Kracauer formal zwischen einem körpergebundenen Wahrnehmungsraum und einem ästhetischen Darstellungsraum. Indem die Passage in der Funktion eines „transparenten Innenraumes“276 auftritt, wird die Trennung zwischen Wahrnehmungsraum und ästhetischem Darstellungsraum aufgehoben. Beide werden durch die „Gier nach Bildern, wie sie in Wachträumen erscheinen“ bestimmt, mithin durch die Lust, sich der herrschenden Ordnung, die sich im Bereich des Sichtbaren, Bewussten und Erinnerbaren manifestiert, zu entziehen. Die diesem Prozess angemessenen Ausdrucksformationen sind Reise und Bild; während erstere die Distanz zwischen Subjekt und Objekt durch die intentional gerichtete Bewegung auf das ‚ganz Ferne‘ hin aufhebt, schafft das Bild nicht nur eine ästhetische Distanz zum ‚ganz Nahen‘, dem eigenen Körper. Im Bild wird auch die (räumliche) Position des betrachtenden Subjektes thematisiert: Die Nähe wandelt sich zur Anschauungsferne. Das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Ferne wird zum Ausdruck subjektiver Selbstbezogenheit277 und umschreibt den Anschauungsraum des erkennenden Betrachters. Dem Bildbegriff, den Kracauer in diesem Kontext verwendet, ist der Verweis auf einen utopischen Fluchtpunkt – als dem ‚ganz Fernen‘ – wesentlich. Das Bild umschreibt den Horizont subjektiver Selbsterkundungen: Die Wahrnehmung von Ferne zeichnet kein optisches Verhältnis nach, sondern erkundet den Bereich des Unsichtbaren, Unbewussten und Verges-
276 277
Geist, J.F., Passage, S. 176. Diese Selbstbezogenheit, in der der Körper zum absoluten Nullpunkt des Raumes wird, deckt sich mit der phänomenologischen Bestimmung des Sehfeldes durch Husserl, demzufolge „das okkulomotorische Feld wie jedes konstituierte Orientierungsfeld oder wie jeder ‚Sehraum‘ seine Art Nähe und Ferne [hat] – wenn wir nämlich einen bestimmten Sinn dieser Worte im Auge haben: das ‚sich etwas näher Bringen‘, Fixieren, in den Mittelpunkt Bringen“. Edmund Husserl, Ding und Raum, S. 333.
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senen278, der die lineare Verlängerung jener körperlichen, von der Gesellschaft sanktionierten Nähe ist: Unter den der Körperlichkeit gewidmeten Schaustellungen nimmt das Anatomische Museum den Ehrenplatz in der Lindenpassage ein […]. Ja es geht hier um den Bauch, um die Eingeweide, um alles, was rein des Körpers ist. Seine Wucherungen und Monstrositäten werden drinnen peinlich verfolgt, und für die Erwachsenen grassieren außerdem sämtliche Geschlechtskrankheiten in einem Extrakabinett. Sie sind die Wirkung unbesonnener Sinnlichkeit, die nahebei in einer Buchhandlung angefacht wird.279
Unter dem Oberbegriff „unbesonnene Sinnlichkeit“ subsumiert Kracauer jene körperlichen Regungen und Betätigungen, die dem Sexualitätsdispositiv der bürgerlichen Gesellschaft zuwiderliefen. Nicht repräsentationsfähig waren körperliche „Wucherungen“, „Monstrositäten“ und „Geschlechtskrankheiten“, weil sie den Kontrollverlust über Körper und Sexualität demonstrierten, die so nicht mehr in die kapitalistischen Produktionsapparate eingeschaltet werden konnten und weder die geregelte Expansion der Produktivkräfte noch die gesunde Fortpflanzung des Bürgertums sicherstellten.280 Die Passage der zwanziger Jahre kann allerdings nur deshalb zum Ort der Ungleichzeitigkeit eines rationalisierten Umgangs mit der Sexualität und der Zurschaustellung verbotener Sinnlichkeit werden, weil der Prozess der Rationalisierung der Sexualität in seinen Methoden und Zielstellungen dem 19. Jahrhundert verhaftet blieb und „vor dem Hintergrund einer noch weit verbreiteten Prüderie auftrat“281. Aus der Passage der zwanziger Jahre wechselt Kracauer in die der Vorkriegszeit und die in ihr ausgestellte Gegenstandswelt, die nicht auf den Bereich der Sinnlichkeit und des Körpers beschränkt ist. Die Ratio278
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Die oft beschriebene Figur der Negativität im Kracauerschen Denken erscheint hier psychoanalytisch motiviert. In seiner Traumdeutung betonte Sigmund Freud die Rolle der Umkehrung im Rahmen der Verdichtungsarbeit. Es erscheint nur konsequent, wenn Kracauer in diesem Text die Figur des Umschlags auf den Raum des Körpers bezieht und hier das Unbewusste, Unsichtbare und Vergessene zur Horizonterfahrung erklärt. Freud, S., Traumdeutung, S. 324. Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 261. Foucault, M., Der Wille zum Wissen, S. 151ff. Peukert, D.J.K., Die Weimarer Republik, S. 106.
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nalisierung der Sexualität wird mit der Verfügbarmachung der Ferne analogisiert, wie sie das photographische Bild bezeugt: Wieviel ferner und vertrauter war die Fremde in der Zeit der Andenkenartikel! Mit ihnen ist ein Passagengeschäft vollgestopft. Souvenir de Berlin steht auf Tellern und Krügen geschrieben […]. Diese Gedächtnishilfen, die sich betten lassen, diese echten Kopien ortsansässiger Originale sind Leib vom Leibe Berlins und zweifellos besser dazu geeignet, ihren Käufern die Kräfte der von ihnen vertilgten Stadt mitzuteilen als die Lichtbilder, zu deren eigenhändiger Anfertigung das Photographengeschäft einlädt. Die Photos wähnen die bereisten Länder heimzubringen; das WeltPanorama dagegen gaukelt die ersehnten vor und entrückt erst recht die bekannten. Es thront in der Passage wie die Anatomie, und vom greifbaren Körper bis zur ungreifbaren Ferne ist in der Tat nur ein winziger Sprung. Wann immer ich als Kind das WeltPanorama besuchte […] fühlte ich mich wie bei der Betrachtung von Bilderbüchern in eine Weite versetzt, die schlechterdings unwirklich war.282
Als Erkenntnismodus ist jener Bildbegriff, den Kracauer anhand des Leib-Raumes veranschaulicht, dem des photographischen Bildes diametral entgegengesetzt, das im Welt-Panorama ausgestellt wird. Während in der Gegenwart das Unsichtbare, Unbewusste und Vergessene den Bereich der Ferne markiert, die analytisch erschlossen werden muss, wechselt Kracauer in jene Vergangenheit, in der die ‚visuelle‘ Ferne durch das räumlich und kulturell Fremde signalisiert wurde. Zum Zeichen dieser Zeit wird Kracauer der Andenkenartikel, der die Erfahrung des fremden Ortes durch seine Gegenständlichkeit verbürgt. Dem steht die Immaterialität des photographischen Bildes gegenüber, dessen optische Qualität die Erfahrung des Ortes nicht mehr voraussetzt. Das Bild des Gegenstandes tritt an die Stelle des Originals. Der inneren Logik des Bildes entsprechend, deutet Kracauer das Original als räumliche Ferne, die nicht mehr in einem szenischen Bezug zum Betrachter steht.283 Die photographischen Bilder werden zu obdachlosen Bildern, die weder über die Art ihrer Erzeugung noch über den Betrachter selbst und seine kulturellen und psychophysischen Wahrnehmungsdispositionen Rückschlüsse erlauben. „Entwirklicht“ wird das Original allerdings auch durch die qua282 283
Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 262f. Vgl. Crarys Beschreibung der Techniken stereoskopischen Sehens. Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 131.
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litativen, technischen Mängel des Bildes, war es doch eine Eigentümlichkeit stereoskopischer Bilder, räumlich weit entfernte Objekte aufgrund noch nicht ausreichend entwickelter Objektivgläser und der psychophysischen Beschaffenheit des Auges als flache, unwirkliche Gebilde zu reproduzieren.284 Die optische Ferne wird so zu dem Ort, wo sie ihre technische Erzeugung gerade durch deren Mangelhaftigkeit zu erkennen gibt, eine Mangelhaftigkeit, die Kracauer allerdings nur konstatieren kann, da mittlerweile das „Weltpanorama durch den Film überholt“285 ist. Dass die fernen Landschaften nur „beinahe […] obdachlose Bilder“ sind, „Illustrationen passagerer Regungen, die hie und da einmal durch die Risse im Bretterzaun schimmern, der uns umgibt“286, legt noch eine weitere Bedeutung nahe. Denn der solcherart beschriebene Standort des Betrachters ist dem des Besuchers eines Panoramas insofern verwandt, wie dieses als „vollkommener Kerker des Blicks“287, d.h. als optische Auslieferung an das Gesehene, die Voraussetzung seiner Auslieferung an die „trügerischen Bestände“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit bildet. Der offensichtlichen synthetischen Natur stereoskopischer Bilder, die im Gegensatz zur Photographie an einen Vorführapparat gebunden sind und deren Effekte durch zwei Stereoskopkarten erzeugt wurden288, mögen die „Risse im Bretterzaun“ geschuldet sein, aufgrund derer diese Auslieferung thematisiert wird, indem ihre technische Bedingtheit in den Blick gerät. Die Passage fordere nicht nur die Zersetzung der „trügerischen Bestände“, sondern leiste sie auch durch die Ausstellung alternativer Bildformationen und Zeichensysteme289, die den räumlichen und zeitlichen 284
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„In neuerer Zeit werden deshalb nach Brewster’s Vorschlag vielfach Instrumente mit zwei Objektivgläsern benutzt, welche auf zwei verschiedenen Abschnitten derselben Platte gleich die beiden Bilder geben […] Aber sie genügen eigentlich nicht für Landschaften mit weit entfernten Objekten, weil die Distanz der Gesichtspunkte zu klein ist, um in diesen hinreichend große Unterschiede zu erhalten und die ferneren Theile der Landschaft deshalb gewöhnlich ganz flach aussehen.“ Helmholtz, H.v., Handbuch der Physiologischen Optik, S. 837. Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 265. Ebd., S. 263. Oettermann, S., Panorama, S. 18. Vgl. Crary, J., Techniken des Betrachters, S. 139. Kracauer verweist an dieser Stelle sowohl auf Walter Benjamins Beschäftigung mit den Pariser Passagen als auch auf das Bild der Briefmarkensammlung in seiner Aphorismensammlung Die Einbahnstraße. Benjamin und Kra-
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Absolutheitsanspruch „der bürgerlichen Front“, der sich im Panorama, „in den Domen und den Universitäten, bei Festreden und Paraden“290 ankündigte, unterlaufen. Dem festen und unveränderlichen Standort des Panoramabesuchers wird die Bewegung des Durchgangs durch die „bürgerliche Welt“ entgegengesetzt, die „an ihr eine Kritik [übte], die jeder rechte Passant begriff“. In der Betrachtung der Gegenstandswelt der Passage findet die permanente Transformation von Ferne in Nähe statt. In diesem Kontext wird gesellschaftliche Erkenntnis zwar in der Funktion einer intellektuellen Erschließungsbewegung aufgezeigt, allerdings einer Bewegung, die sich am körperlichen Durchmessen von wirklichen Räumen materialisiert. Offen bleibt allerdings die Frage, warum Gesellschaftskritik vom Raum der Passage aus zwanzig Jahre später nicht mehr möglich ist. „Alle Gegenstände“ in der Passage der zwanziger Jahre seien „mit Stummheit geschlagen“. Unter der Voraussetzung, dass sich jene Form von Erkenntnis, die zum gesellschaftlichen Umschwung führt, allein in der Sprache vollzieht291, verweisen die stummen Gegenstände auf einen Zustand, der keinerlei Erkenntnis zulässt. Als Grund dafür gibt Kracauer die gesellschaftliche Existenzform selbst an: „Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist.“292 Die ephemere Daseinsweise der Gesellschaft ist der ‚Dynamisierung des Raumes‘293 analog, die mit seiner Entgrenzung einhergeht; beide zeichnen sich durch den Wegfall eines Bezugssystems aus. In der Semantik des Raumes bedeutet dies die Auslöschung von Nähe und Ferne. Die Annullierung der Spannung zwischen Nähe und Ferne kehrt in der Binnenstruktur der Zeichen dergestalt wieder, dass sie die „Transzendenzunfähigkeit der Signifikanten selbst [bedeutet], die nicht mehr von dem, was sie besagen sollen, angezogen und verschlungen zu werden scheinen,
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cauer eint ihre „Gegenposition zur abstrakten Verallgemeinerung überhaupt“. Während Benjamin dagegen die „diskontinuierliche Vielheit der Ideen“ behauptet, geht es Kracauer um die Phänomene selbst (Kracauer, S., Zu den Schriften Walter Benjamins, Schriften 5, 2, S. 119). Es ist nur folgerichtig, dass sich Kracauer so auch gegen die für das Passagen-Werk grundlegende „romantische“ Auffassung Benjamins von „der Stadt als eines Traums vom Kollektiv“ wendet. Kracauer, S., Brief an Theodor W. Adorno vom 1.8.1930, DLA. Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 264. Kracauer, S., Bücher vom Film, FZ 10.7.1927. Kracauer, S., Abschied von der Lindenpassage, Schriften 5, 2, S. 265. Kracauer, S., Ein paar Tage Paris, Schriften 5, 2, S. 298.
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sondern umgekehrt in einer zur Stummheit neigenden Dimensionslosigkeit auf sich selbst reduziert sind“294. Doch nicht genug damit, der Verlust der Raumtiefe bedeutet auch den Verlust eines Fluchtpunktes und damit die Unmöglichkeit, einen Augenpunkt – den Standort des Subjekts – zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund konstruiert Kracauer einen Fluchtpunkt, indem er die stummen Gegenstände in Beziehung setzt zum Ort und zur Zeit ihrer Entstehung. Erst aus dieser perspektivischen Einbindung in eine räumliche und zeitliche Ferne gewinnen sie Sinn. Dies, dass Kracauer den Betrachter daran teilhaben lässt, dass das erkennende Subjekt selbst mit zu den „Dingen“ gehört, die mit Sprache begabt werden innerhalb der historischen Anschauung und dass seine Erkenntnisfähigkeit durch seine material-empirische Existenz, seine Leiblichkeit, begründet wird, darin korrespondieren Zum Fluchtpunkt und Natürliche Geometrie. Trotzdem bleibt zu fragen, warum Kracauer im Bewusstsein des passageren Zustands der Gesellschaft und des durch ihn bedingten Wegfalls einer Spannungslinie zwischen Nähe und Ferne, zwischen Zeichen und Bezeichnetem auf das atavistische Modell der Perspektive als Bewusstseinsreflexion zurückgreift, um einen „utopischen Ausblick“ zu konstruieren. Die Beantwortung dieser Frage hat zunächst in Rechnung zu stellen, dass Kracauer im Film eine Neuverortung des Subjekts wahrzunehmen glaubte.295 Hinzu kommt, dass Kracauer in Abschied von der Lindenpassage einmal mehr seinem Glauben an die aufklärerische Vernunft Ausdruck verleiht, die allein „die maßlose Ratio begrenzen [kann]“ und zu deren Merkmalen es gehört, „dass sie ihrer Bedingtheit eingedenk ist“.296 Seinem Ethos als Kritiker und Schriftsteller entsprach eine ‚Haltung des dialektischen Materialismus‘, der ‚die transzendente Schicht des Daseins grundsätzlich verleugnete‘, um sich ‚in das gesellschaftliche Diesseits einzusenken‘297. Insofern legt dieser Text auch Zeugnis ab über das Selbstverständnis seines Autors, der ihn gut dreißig Jahre nach der Entstehung „zum Fluchtpunkt“ seines Werkes erklärte. 294 295
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Koschorke, A., Die Geschichte des Horizonts, S. 300. So stellt Kracauer im Hinblick auf Pudowskins Film Der Mann mit dem Kinoapparat fest, dass ohne „das Subjekt […] das Leben für uns nicht Objekt [wäre], Objekt und Subjekt gehören zusammen“. Kracauer, S., Der Mann mit dem Kinoapparat, in: Kino, S. 89. Kracauer, S., Aufruhr der Mittelschichten, Schriften 5, 2, S. 423. Kracauer, S., Über den Schriftsteller, Schriften 5, 2, S. 345.
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3.5. Photographie: Die Photographie In diesem Essay kontrastiert Kracauer die Photographie mit traditionellen Bildtypen und Zeichenformationen, um anhand eines Vergleichs das für sie Spezifische und Neue herausarbeiten zu können.298 Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen beantwortet Kracauer die Frage, wie das photographische Bild entsteht, nicht durch den Verweis auf die Entdeckung einer neuen Bildertechnik. Ebenso wenig argumentiert er vor dem Hintergrund einer ausgezeichneten Bildtheorie; viel eher verwischt er in seiner Argumentation die Gattungs- und Mediengrenzen. Zum gemeinsamen Nenner wird ihm der Bedeutungszusammenhang, den Bildformationen in einem räumlichen und zeitlichen Kontinuum stiften und die in ihnen ausgedrückte Einheit von Zeichen und Bezeichnetem, die ihrerseits Rückschlüsse auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zulässt. Kracauer vergleicht zunächst die Photographie einer Filmdiva der Gegenwart mit der sechzig Jahre alten Photographie der Großmutter als junger Frau. Während jeder die Filmdiva ‚entzückt‘ erkennt, weil er „das Original schon auf der Leinwand gesehen“, „ließe sich die Großmutter [aus dem Bild] nicht rekonstruieren“ ohne die mündliche Tradition.299 Kracauer thematisiert die landläufige Meinung seiner Zeit, das künstlerisch-reproduktive Potential der Photographie läge in der „Wiedergabe (Kopie) der Natur im Sinne der perspektivischen Regeln“300. Gerade das traditionelle künstlerische Ideal der Nachahmung versagt jedoch am Bild der Großmutter, denn „Mitlebende existieren nicht mehr […] längst ist das Urbild vermodert“301. Die mittels der Photographie ins Assoziative verschobene Beziehung zwischen Kennen und Erkenntnis, Abbilden und Nachahmen dient dazu, Objekte zu vergegenwärtigen, die aus den Erfahrungszusammenhängen des Betrachters gerissen sind302. Im Hin298
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In der Forschungsliteratur wird allzu leichtfertig davon gesprochen, dass es Kracauer „um die Behauptung von Gehalten zu tun [ist], die den Horizont des gegenwärtigen gesellschaftlichen Daseins überschreiten“ (Band, H., Mittelschichten und Massenkultur, S. 186). Dass es Kracauer dabei weniger um die konkrete Ausbuchstabierung dieser Gehalte geht, sondern vielmehr darum, gesellschaftliche, historische und ästhetische Deutungsmuster selbst sichtbar zu machen und zu hinterfragen, wird dabei häufig übersehen. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 83. Moholy-Nagy, L., Malerei, Fotografie, Film, S. 25. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 84. Kracauer, S., Photographiertes Berlin, Schriften 5, 3, S. 169f.
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blick auf die Diva ist die Wirklichkeit eine technisch produzierte – der Film –, die jedoch weniger durch ihr Abbild als solche erkannt werden kann, als durch eine qualitative Eigenschaft des Bildes:303 den „Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen“304. Darüber hinaus fällt an dem Vergleich auch sein Gegenstand auf; bei den von Kracauer aufgeführten Beispielen handelt es sich größtenteils um die bildliche Wiedergabe von Personen. Dies legt nahe, dass weniger das Abbilden der Wirklichkeit als solches thematisiert, als die Form der Anschauung selbst reflektiert wird und mit ihr der Standpunkt eines Subjekts, die zusammen den künstlerischen Wahrheitsanspruch verbürgen. Es geht mithin darum, aus der konkreten räumlichen und zeitlichen Erfahrung der Phänomene Bedeutungsschemata abzuleiten. Nicht die Großmutter kann auf dem photographischen Bild wiedererkannt werden, sondern allenfalls das „Zeitkostüm“, „modischaltmodische Einzelheiten“, „eine Außendekoration, die sich verselbständigt hat“. Die photographische Reproduktion macht den subjektiven Betrachter, der sich selbst im Bild anschaut, überflüssig.305 Im Fall der Großmutter erweist er sich als Leerstelle, bezogen auf die Diva reproduziert das Bild, was bereits massenmedial produziert wurde und keines subjektiven Bildträgers mehr bedarf. Dem durch die individuelle Erinnerung gestifteten, jedoch zeitlich nicht lückenlosen Gedächtnis stellt Kracauer die lückenlose Aufeinanderfolge geschichtlicher Ereignisse gegenüber, wie es der Historismus vertrat. Während „die Photographie ein Raumkontinuum [darbietet]; [möchte] der Historismus das Zeitkontinuum erfüllen“. Dagegen bezieht „das Gedächtnis weder die totale Raumerscheinung noch den totalen zeitlichen Verlauf seines Tatbestandes ein“306. Das Gedächtnisbild wird für Kracauer zu einem Bedeutungsschema, das die ursprüngliche Einheit 303
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Inka Mülders Interpretation der Photographie als Ausdruck einer „Realitätsillusion“, die als Funktion photographischer Reproduktion „die ursprüngliche erste Natur in dem Grade als eine vermittelte erscheinen lässt, wie die technisch vermittelte zweite Natur den Charakter neuer Unmittelbarkeit annimmt“, ist dagegen nur für den Sonderfall künstlerischer Photographien gültig, die „aus photographischen Fragmenten zusammengesetzt [sind], um das Nebeneinander verdinglichter Erscheinungen zu unterstreichen, die in den räumlichen Relationen aufgehen“ (Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 88). Vgl. Mülder, I., Siegfried Kracauer, S. 73. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 83. Vgl. Wiesing, L., Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 182. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 85.
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von Zeichen und Bezeichnetem durch die Erinnerung zu rekonstruieren versucht. Sein Sinn wird durch den in ihm „aufbewahrten“ Wahrheitsgehalt verbürgt. Im Gegensatz dazu bedeutet das photographische Bild den nur „räumlichen Zusammenhang“ des Dargestellten, das den „Sinn nicht einbegreift“307, auf den die szenenhaften Ausschnitte der Wirklichkeit bezogen sind. Die Transzendenzunfähigkeit des photographischen Bildes lässt es vom ausgezeichneten Standort des Gedächtnisbildes aus als „ein Gemenge“ erscheinen, „das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt“308. Der Sinn der Gedächtnisbilder erscheint jedoch deformiert „solange sie in das unkontrollierbare Triebleben eingebunden sind“309. Der Wahrheit teilhaftig werden kann erst das reflektierende Bewusstsein, das in dem Prozess der Wahrheitsfindung die Möglichkeiten der Erkenntnis stets mitbedenkt. Kracauer verweist dabei auf ein, vor allen anderen Bildern ausgezeichnetes Urbild, das „Gehalte“ bewahrt, „die das als wahr Erkannte betreffen“: Zu diesem Bilde, das mit gutem Recht das letzte heißen darf, müssen sich sämtliche Gedächtnisbilder reduzieren, da nur in ihm das Unvergeßliche dauert. Das letzte Bild eines Menschen ist seine eigentliche ‚Geschichte‘. Aus ihr fallen alle Merkmale und Bestimmungen aus, die sich nicht in einem bedeutenden Sinne zu der von dem freigesetzten Bewußtsein gemeinten Wahrheit verhalten. Wie sie von einem Menschen dargestellt wird, hängt weder rein von seiner Naturbeschaffenheit noch von dem Scheinzusammenhang seiner Individualität ab; also gehen nur Bruchstücke dieser Bestände in seine Geschichte ein.310
An dieser Stelle überlagern sich Bild- und Zeichenmodell. Das „letzte Bild eines Menschen“ zeichnet sich dadurch aus, dass das Bedeutende rein im Bedeuteten – der Geschichte – aufgeht. Die „Wahrheit“ umschreibt den Sinngehalt des Bildes, zu seinem Zeichen wird seine Geschichte.311 Kracauers Bild-Begriff orientiert sich, so scheint es zunächst, an einem ontologischen, der der platonischen Theorie von der Spiegelung eines Urbildes nahe steht. Er ersetzt jedoch die intuitionistische 307 308 309 310 311
Ebd., S. 86. Ebd. Ebd. Ebd., S. 86f. Zum Verhältnis zwischen Bedeutendes, Bedeutetes und Zeichen vgl. Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 90f.
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Schau durch das reflektierende Erinnern.312 Das Sehen verliert seine Vorrangstellung zugunsten von Geschichte. Dem entspricht der Bildbegriff des Gedächtnisbildes. Die Geschichte des Menschen lässt sich nicht als „illusionistisch-visuelle Reproduktion realer oder Produktion potentiell erfahrbarer Raum-Zeit-Koordination definieren“313, sondern „gleicht einem Monogramm, das den Namen zu einem Linienzug verdichtet, der als Ornament Bedeutung hat“. Kracauer analogisiert die Geschichte mit einem Monogramm, das er aufgrund seiner ästhetischen Eigenschaften zwischen Bild und Begriff ansiedelt. Wie der Begriff wird auch das Monogramm gelesen, doch in seiner Bedeutung als Ornament abstrahiert es von Zeit und Raum, in dem sich die Geschichte ereignet und Bilder konstituieren. Als Ornament repräsentiert das „letzte Bild“ eine Ordnung, die sich den Formen des reflexiven Denkens entzieht, als Schriftzug repräsentiert es die Initialen eines Subjekts, das sich erst durch die Regeln der Vernunft bestimmen lässt. Wenn Kracauer darüber hinaus als Beispiel den Eckart314 anführt, dessen Monogramm die Treue sei, dann verwendet er den Begriff Ornament auch im Sinne eines Symbols. Was motiviert diese begriffliche Verschiebung? Im weiteren Verlauf seines Essays liefert Kracauer selbst einen kurzen historischen Abriss bildlicher Darstellungen, die neben der Photographie die Allegorie und das Symbol umfassen.315 Letzteres gilt ihm als älteste 312
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Auf diese Art verhandelt Kracauer auch eine Theorie des Betrachters, der große Ähnlichkeit mit jenem aufweist, den Erich Auerbach anhand von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt. Für Proust verbürgt das sich erinnernde Bewusstsein die Objektivität des Geschehenen. Auerbach zufolge „vereint sich die moderne Vorstellung von der inneren Zeit mit einer neuplatonischen Auffassung, daß das wahre Urbild des Gegenstandes in der Seele des Künstlers liege; eines Künstlers, der, selbst im Gegenstand befindlich, sich als Betrachtender vom Gegenstand losgelöst hat und seiner eigenen Vergangenheit gegenübertritt“. Auerbach, E., Mimesis, S. 504. Irmscher, K., Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments, S. 6. Bei dem treuen Eckart handelt es sich um ein altes Sagenmotiv. Kracauers Ausführungen zum photographischen Bild im Rahmen einer „Geschichte“ bildlicher Darstellungen legen den Vergleich mit Walter Benjamins Ausführungen zum Symbol und zur Allegorie in seinem Trauerspiel-Buch nahe (u.a. gibt Kracauer ein bereits bei Benjamin abgedrucktes Creuzer-Zitat wieder). Beiden gemeinsam ist die Überlegung, dass diese Bildformationen nicht ontologisch, sondern historisch fundiert sind. Während Kracauer ihren konkreten Sinngehalt in seiner Abhängigkeit von gesellschaftlichen und historischen Bedingungen auszubuchstabieren versucht, geht es Benjamin im Rück-
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Bildformation und „geht auf die ‚naturwüchsige Gemeinschaft‘ zurück, in der das Bewusstsein des Menschen von der Natur noch ganz umgriffen wird“. Kracauer zitiert Bachofen, um das Wesentliche des Symbols zu skizzieren: Wie die Geschichte der einzelnen Wörter stets mit der sinnlichnatürlichen Bedeutung eröffnet und erst im weitern Fortgang der Entwicklung zu abgezogenen, figürlichen Anwendungen fortschreitet, wie in der Religion, in der Entwicklung des einzelnen Individuums und der Menschheit überhaupt derselbe Fortschritt von dem Stoffe und der Materie zu Seelischem und Geistigem zu bemerken ist: also haben auch die Symbole, in welchen die früheste Menschheit ihre Anschauungen von der Natur der sie umgebenden Welt niederzulegen gewohnt war, eine rein physischmaterielle Grundbedeutung.316
Bildliche Darstellungen werden zum Ausdruck des Verhältnisses von Mensch und Natur, ihre Geschichte spiegelt die Emanzipation des menschlichen Bewusstseins wieder: „In dem Maße, als das Bewusstsein seiner selbst inne wird und damit die anfängliche ‚Identität von Natur und Mensch‘ […] hinschwindet, nimmt das Bild mehr und mehr eine abgezogene, immaterielle Bedeutung an.“317 Die Bedeutung des Bildes geht nicht mehr in seiner reinen Präsenz auf; es erhält seine Bedeutung erst durch den Bezug auf eine von seinem „physisch-materiellen“ Bildkörper verschiedene Idee. „Mit der zunehmenden Beherrschung der Natur verliert das Bild seine symbolische Kraft. Das sich aus der Natur aussondernde und ihr gegenübertretende Bewusstsein […] denkt in Begriffen […] die symbolische Darstellung wird zur Allegorie.“318 Das Zeichen verweist lediglich auf ein anderes Zeichen, ohne dass die Einheit von Zeichen und Bezeichnetem in einem allgemeinen Sinnzusammenhang wiederhergestellt werden kann. Die lebende Natur ist nicht mehr länger das Modell bildlicher Darstellungen, sondern das Bewusstsein tritt ihr als bildnerische Kraft gegenüber, an die Stelle einer getreuen Wiedergabe der Natur im Bild tritt der abstrakte Begriff. Der „Auszug des Bewusstseins aus seiner Naturbefangenheit“ führt nach Kracauer dazu, dass sich
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griff auf seine frühen sprachphilosophischen Überlegungen eher um den „Ausdrucks“charakter der Allegorie. Benjamin, W., Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I, 1, S. 339. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 94. Ebd., S. 94f. Ebd., S. 95.
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ihm dafür desto ‚reiner sein Naturfundament darbietet‘. Wenn das ‚Meinen [des Menschen, U.B.] auf und durch die Natur geht‘, dann wird die Natur nicht nur zum Objekt des reflektierenden Denkens, sondern selbst objektiviert und damit als Natur bedeutungslos; das Bild verliert seinen symbolischen und allegorischen Sinn. Da sich die Natur in genauer Übereinstimmung mit dem jeweiligen Bewußtseinsstand verändert, kommt das bedeutungsleere Naturfundament mit der modernen Photographie herauf. Nicht anders als die frühen Darstellungsarten ist auch diese einer bestimmten Entwicklungsstufe des praktisch-materiellen Lebens zugeordnet. Der kapitalistische Produktionsprozeß hat sie aus sich herausgesetzt. Dieselbe bloße Natur, die auf der Photographie erscheint, lebt sich in der Realität der von ihm erzeugten Gesellschaft aus. Es läßt sich durchaus eine der stummen Natur verfallene Gesellschaft denken, mit der nichts gemeint ist; wie abstrakt immer sie schweige […]. Hätte sie Bestand, so wäre die Folge der Emanzipation des Bewußtseins seine Tilgung; die von ihm undurchdrungene Natur setzte sich an den Tisch, den es verlassen hat.319
In seiner Argumentation setzt Kracauer insofern eine Affinität von Zeichensystemen und dem Bewusstsein voraus, als beide die Erkenntnis der Phänomene intendieren. Der Emanzipationsprozess des Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Natur im Zuge dieser Emanzipation vom Bewusstsein „undurchdrungen“ bleibt. Ein Bild kann allerdings nur dann als eine Darstellung von etwas betrachtet werden, wenn seine Oberfläche durchschaubar ist.320 Während im Gedächtnisbild gleichsam das ganze Leben eines Menschen dargestellt wird, begnügt sich der Betrachter des photographischen Bildes mit der Anschauung seiner Oberfläche. Zwar kann auch das photographische Bild optisches Zeichen sein, jedoch nur solange das Original exis319 320
Ebd., S. 95f. Die Position, die der Betrachter bei der Deutung der Bilder einnehmen muss, hatte bereits Georg Simmel Kracauer vorgeführt: „Simmel […] ist der geborene Mittler zwischen der Erscheinung und den Ideen. Von der Oberfläche der Dinge dringt er allenthalben mit Hilfe eines Netzes von Beziehungen der Analogie und der Wesenszusammengehörigkeit zu ihren geistigen Untergründen vor und zeigt, daß jene Oberfläche Symbolcharakter besitzt, daß sie die Sichtbarwerdung und Auswirkung dieser geistigen Kräfte und Wesenheiten ist.“ Kracauer, S., Georg Simmel, S. 30, DLA.
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tiert, auf das es sich bezieht: „Die aktuelle Photographie, die eine dem gegenwärtigen Bewußtsein vertraute Erscheinung abbildet, gewährt in begrenztem Umfang dem Leben des Originals Einlaß. Sie verzeichnet jeweils eine Äußerlichkeit, die zur Zeit ihrer Herrschaft ein so allgemein verständliches Ausdrucksmittel ist wie die Sprache.“321 Im Falle des photographischen Bildes bedeutet Ähnlichkeit nicht mehr die Nachahmung von Wirklichkeit, sondern bezeichnet eine Relation, für die der Inhalt des Dargestellten bedeutungslos ist. Das Bild verweist auf das Original; jenes verliert seinen Zeichencharakter genau dann, wenn dieses nicht mehr verfügbar ist. Gegenüber den klassischen Bildformen existiert das photographische Bild nicht als semiotisches Beziehungsgefüge, sondern als Darstellendes. Zur Oberfläche wird ihm der seines „Zeichenwertes“ beraubte Bildinhalt selbst.322 Aufgrund ihrer qualitativen Eigenschaften ist die Bildoberfläche des photographischen Bildes nicht mehr hermeneutisch deutbar. Während das perspektivische Bild eine bestimmte Sichtweise auf die Dinge verhandelt, erscheint das photographische Bild davon emanzipiert, es erlaubt keinerlei Rückschlüsse auf das anschauende Subjekt.323 Bezogen auf das diesem Bild zugrunde liegende Zeichenmodell, knüpft Kracauer an einen Gedanken an, den er bereits im Ornament der Masse entwickelt hatte, und modifiziert ihn. Der Verlauf der Geschichte bildlicher Darstellungen nimmt seinen Ausgang von der Natur als ursprünglicher signifikatorischer Einheit, die in der Folge der Emanzipation des Bewusstseins diese Funktion verliert und zu einem Element der Darstellung abgewertet wird. Ging es im Ornament der Masse darum, dass diese sinnentleerte Natur als Element einer sekundären Ordnung – jenes, von der Vernunft gestifteten rationalen Zwangszusammenhanges – missbraucht wird, so steht hier die Darstellung des „bedeutungsleeren Naturfundaments“ – der „äußeren Gegenstände“324 – im Vordergrund 321 322
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Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 89. In Anlehnung an Roland Barthes wären solche Bilder als analoge Bilder zu bezeichnen, die nur ihre Identität, nicht aber ihre Wahrheit hervorrufen. Barthes, R., Die helle Kammer, S. 80f. Vgl. Martin Burckhardt, der über die Mechanik der Bildverarbeitung aussagt, dass sie „die Echtheit des Bildes zu verbürgen scheint […] in dem sich statt des bildenden Subjekts ein von jeglicher Subjektivität gereinigter, mechanischer Blick verrät: der kalte, unbestechliche Blick einer Kamera.“ Burckhardt, M., Metamorphosen von Raum und Zeit, S. 256. Äußere und innere Gegenstände lautet die Kapitelüberschrift, unter der Kracauer diesen Essay in dem Band Das Ornament der Masse anordnete.
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der Betrachtung. Kracauer deutet auch hier den Umschlag von Geschichte in Mythos an; „eine der stummen Natur verfallene Gesellschaft“ bedeutet nichts anderes, als dass jener Prozess der Emanzipation des Bewusstseins, der die Natur ihres Sinns beraubte, zu einer Verselbständigung des Bewusstseins geführt hat, das jedoch „unablässig wieder Wurzel im Sinn [d.h. in der Natur, U.B.] fassen und aus ihm sich mit Natur nähren können“325 muss. Die Freisetzung des Bewusstseins bietet auch „eine unvergleichliche Chance“, denn „mit den Naturbeständen unvermischt wie nie zuvor, kann es an ihnen seine Gewalt bewähren“326. Mit Bezug auf das Gedächtnisbild besteht die ‚Gewalt des freigesetzten Bewußtseins‘ in seinem Potential zur Wahrheitsfindung, mithin im Erkenntnispotential des photographischen Bildes in Bezug auf etwas anderes.327 Das photographische Bild erscheint nur hinsichtlich seiner Bedeutungsfunktion von Interesse, die es in die Geschichte bildlicher Darstellungen einreiht; eine nichtsemiotische328 Bestimmung des Zeichens wird ausgeschlossen: Auf der Photographie wird das Kostüm der Großmutter als ein abgeworfener Rest erkannt, der sich fortbehaupten möchte. Es geht in der Summe seiner Einzelheiten auf wie eine Leiche und gebärdet sich groß, als sei Leben in ihm. Auch die Landschaft und jede andere Gegenständlichkeit ist auf der alten Photographie ein Kostüm.329
Die zum „Kostüm“ erstarrten Dinge bringen nicht die Natur zum Ausdruck, sondern veranschaulichen „bildlich“ ihren Auszug. Dieser wird zum eigentlichen Sinn der Photographie.330 Das „Kostüm“ wird zur 325 326 327
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Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 98. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 96. Für Gottfried Boehm besteht der wesentliche Unterschied zwischen Bild und Photographie in der fehlenden Bedeutungsrelation der letzteren: „Seitdem die Garantie für die Einheit des Bildes vom Vermögen des Menschen herrührt, hat es seine Sprache, die Aussprache des Urbildes war, immer mehr verloren, es begann zu verstummen. Die neuzeitliche Bildgeschichte kann als Verlustgeschichte des Seinswertes der Bilder beschrieben werden.“ Boehm, G., Studien zur Perspektivität, S. 31f. Dies entspräche etwa dem Phänomen einer „reinen Sichtbarkeit“, wie es die Betonung des Oberflächenzusammenhanges des Bildes nahe legt. Vgl. Wiesing, L., Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 166. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 91. Insofern ist Inka Mülder-Bachs These nicht länger haltbar, wonach „für den Kracauer des Photographie-Essays […] das subjektlose, entfremdete Auge
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Form, der eine Bedeutung zukommt, die unabhängig von ihrem Inhalt ist, das photographische Bild erfordert eine neue Deutungstechnik, die ihren Sinn nicht vorschnell auf einen kausalen oder mimetischen Wirklichkeitsbezug festlegt.331 Im Monogramm des Gedächtnisbildes verbanden sich die „Naturbeschaffenheit“, die „Individualität“ und die (persönliche) Geschichte des Menschen zu einem lesbaren und sinnvollen Linienzug. Dass dieses Monogramm als Ornament Bedeutung hat, weist auf die untrennbare Einheit des durch die Schrift Verbundenen hin332, die nicht mit einer ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur verwechselt werden darf. Dagegen besteht die „unvergleichliche Chance“, die sich dem Bewusstsein bietet, in der Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Anschauung „unvermischter Naturbestände“, die weder einer sinnvollen Einheit angehören, noch in eine solche überführt werden können. Es ist die Aufgabe der Photographie, das bisher noch ungesichtete Naturfundament aufzuweisen. Zum ersten Mal in der Geschichte treibt sie die ganze naturale Hülle heraus, zum ersten Mal vergegenwärtigt sich durch sie die Totenwelt in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen. Sie zeigt die Städte in Flugbildern, holt die Krabben und Figuren von den gotischen Kathedralen herunter; alle räumlichen Konfigurationen werden in ungewohnten Überschneidungen, die sie aus der menschlichen Nähe entfernen, dem Hauptarchiv einverleibt.333
Zwar erscheint die Welt im photographischen Bild als „Aneinanderreihung beziehungsloser, freischwebender Partikel“ und wird die Realität
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der Kamera im emphatischen Sinn erkenntnislos [ist]“. Gerade in diesem Essay kündigt sich an, was Inka Mülder-Bach erst in Kracauers Geschichtsbuch wahrzunehmen glaubt: der konstruktive und bruchstückhafte Charakter der Wirklichkeit. Mülder-Bach, I., Schlupflöcher, S. 260. Kracauers Ansichten verwandt sind neuere sprachanalytische Überlegungen zum Bild, die davon ausgehen, dass sich Bilder weniger aufgrund ihrer materialen Eigenschaften als Bilder bestimmen lassen, sondern aufgrund von Interpretationsweisen, die sie „deutbar“ machen: „Ob ein Ding ein Bild ist oder nicht, hängt also nicht so sehr von den Beschaffenheiten des Dinges ab, sondern vor allem auch davon, welches Zeichensystem als Interpretationsrahmen dient.“ Scholz, O.R., Bild. Darstellung. Zeichen, S. 83. Vgl. Blumenberg, H., Die Lesbarkeit der Welt, S. 17ff. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 96.
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durch die Kamera atomisiert334, doch „befreit“ das photographische Bild die Gegenstände auch aus Ordnungssystemen, ohne sie neu zu binden. Das Abbild spiegelt lediglich eine provisorische Beziehung zwischen Ding und Umwelt wieder, „dem Bewusstsein läge also ob, die Vorläufigkeit aller Konfigurationen nachzuweisen, wenn nicht gar die Ahnung der richtigen Ordnung des Naturbestands zu erwecken“335. Historisch gesehen hält das photographische Bild so den Moment fest, in dem Geschichte in Mythologie umzuschlagen droht. Von der Allegorie und dem Symbol unterscheidet sich die Photographie durch den fehlenden Gehalt der bedeuteten Gegenstände und den subjektiven Standpunkt. Gleichwohl reiht Kracauer auch sie in die Geschichte von Sinnbildern ein, die eine völlig andere Bedeutung als die Geometrie – die Sphäre rationaler Formen – haben. Im Gegensatz zur mythischen Aussage ist das photographische Bild nicht determiniert, es ist weder geschichtlich noch intentional336 und lässt sich nicht in eine größere Sinneinheit, sei es Mythos oder Geschichte, überführen. Über eine mythische Qualität verfügt erst die Photomontage, die „Sinnbilder zur Veranschaulichung von Quantitäten verwende[t]“.337 Einzig und allein im Film sieht Kracauer eine Möglichkeit, „Teile und Ausschnitte“ der Realität umzutreiben und zu „fremden Gebilden zu assoziieren“338. Die Aufmerksamkeit gilt nicht mehr länger einer ursprünglichen Einheit, die das Bild verkörpert, sondern richtet sich notwendigerweise auf den konstruktiven Prozess, der Bilder und Ordnungen hervorbringt, da diese selbst noch nicht entzifferbar sind. So entspricht auch die in ihm verhandelte Wirklichkeit nicht einem photographischen „Abbild“, sondern geht im Spiel ihrer Möglichkeiten auf. In ästhetischer Hinsicht bedeutet dieser konstruktive Prozess, den Kracauer später in Anlehnung an die filmische Technik Montage nennen wird, eine Vorläufigkeit; er markiert einen historischen Übergang in eine der Gegenwart noch unbekannte Ordnung.
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Sontag, S., Über Fotografie, S. 27. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 97. Vgl. Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 98. Kracauer, S., Zahl und Bild, in: Berliner Nebeneinander, S. 135. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 97.
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3.6. Film: Film 1928 Eine rein ästhetische Auseinandersetzung339 mit dem Film unternimmt Kracauer erst in seinem 1960 publizierten Buch Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. Obwohl Kracauer gerade in seinem Photographie-Essay einen Ausblick auf die ästhetischen Möglichkeiten des Films geboten hatte, überwiegt in den zwanziger Jahren die Analyse unter soziologischen, kulturkritischen oder mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen.340 Als mögliche Gründe führt Kracauer 1932 in seinem Essay Über die Aufgaben des Filmkritikers folgende Situation an: „Filme, die echte Gehalte bergen, waren und sind selten. Bei ihrer Betrachtung darf natürlich der Akzent nicht allein auf der soziologischen Analyse liegen, sondern diese hat sich mit der immanent-ästhetischen zu durchdringen.“341 Dass darüber hinaus die Bestimmung des historischen Ortes des Films die Gültigkeit einer allgemeinen Ästhetik generell in Frage stellte, belegt Kracauers Rezension von Béla Balázs’ Buch Der sichtbare Mensch 342: Es gibt noch nicht einmal die ästhetische Theorie des Films, die es geben könnte. Da der Film gewissen allgemeinen Bedingungen untersteht – er beschränkt sich auf die Abbildung der sichtbaren Welt und hat ein technisches Verfahren zur Voraussetzung, aus dem seine Grenzen und Freiheiten abzuleiten sind – werden sich auch gewisse Rahmenerkenntnisse über ihn finden lassen. Ferner: der Film ist das Produkt der Gegenwart; also wird er den ihm eigentümlichen Gehalten nach auf die Gegenwart als auf seinen ge339
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Kracauer bezeichnet sein Unternehmen als materiale Ästhetik, „es befasst sich mit Inhalten. Es beruht auf der Annahme, dass der Film im wesentlichen eine Erweiterung der Fotografie ist und daher mit diesem Medium eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt um uns her gemeinsam hat. Filme sind sich selber treu, wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen.“ Kracauer, S., Theorie des Films, S. 11. Darin besteht mittlerweile Konsens in der Forschungsliteratur. Vgl. Schlüpmann, H., Phenomenology of Film, S. 106. Kracauer, S., Über die Aufgabe des Filmkritikers, in: Kino, S. 11. Kracauers Kritik an der von Balázs festgestellten „neuen Sichtbarkeit des Menschen, die der Film veranschaulicht“, die nicht Naturausdruck sei, sondern die Bestätigung der schlechten Rationalität des kapitalistischen Denkens, findet ihr Pendant in semiotischen Begriffsbestimmungen des Films. Gebärden werden als Kommunikationsakte verstanden, die auf konventionellen und kulturellen Regeln beruhen. Kracauer, S., Bücher vom Film, FZ 10.7.1927, und Eco, U., Einführung in die Semiotik, S. 254.
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Siegfried Kracauer – Figuration schichtlichen Ort bezogen sein. (Nicht jeder Gehalt ist in jeder Kunstart zu jeder Zeit anzutreffen – die idealistische Ästhetik ist historisch blind.) Sobald die ästhetische Theorie sich freilich der Betrachtung seiner historisch bedingten Gehalte zuwendet, d.h. sobald sie zur materialen Ästhetik wird, verliert sie die Allgemeinheit jener Rahmenerkenntnisse und bleibt notwendig ein Fragment. Denn die wie immer geartete Durchdringung zwischenschichtlicher Gebilde führt grundsätzlich nicht zum abschlußhaften System, sondern mündet in den Aufweis einzelner Züge ein, deren Zusammenhang dahinsteht, ohne daß er geleugnet werden dürfte.343
Kracauers Kommentar macht deutlich, dass er eine rein ästhetische Betrachtung des Films Ende der zwanziger Jahre nicht aufgrund seiner qualitativen Eigenschaften ablehnte, sondern aufgrund der veränderten Funktion des Films als einer Kunstform, die sich von einer ästhetischen hin zu einer gesellschaftlichen gewandelt hatte. Nichtsdestotrotz finden sich in seinen Filmkritiken dieser Jahre Versatzstücke einer ästhetischen Theorie, die sowohl das Verhältnis des Films zur sichtbaren Welt als auch seine technische Natur genauer ausbuchstabieren. So lassen beispielsweise die Kategorien filmischer Kritik, die Kracauer in seinem Essay Film 1928 anwendet, Rückschlüsse wenn nicht auf eine Systematik so doch auf grundlegende ästhetische und formale Kriterien zu. Dieser im Ornament der Masse wiederabgedruckte Essay erschien 1928 unter dem Titel Der heutige Film und sein Publikum in der Frankfurter Zeitung. Seine Umbenennung im Rahmen eines Wiederabdrucks unterstreicht den allgemein gültigen Charakter der Aussagen zum Film zu diesem Zeitpunkt. Es handelt sich bei diesem Essay um eine gesellschaftlich motivierte Kritik an den gegenwärtigen Filmproduktionen, der die konkrete Bestimmung des filmischen Materials und seiner Möglichkeiten vorausgeht. Das belegt die immanente Gliederung des Textes: Kracauer untersucht zunächst die Thematisierung und Umsetzung allgemeiner Merkmale des Films. Zu ihnen zählt zuallererst der photographische Realismus filmischer Bilder. Er wendet sich dann den unterschiedlichen Genres zu, um die Möglichkeiten filmischen Erzählens aufzuzeigen. Filmische Erzählmuster grenzt er im Folgenden von theatralischen Effekten und Mitteln ab, um so zu einer ästhetischen Neubestimmung des Films zu gelangen. Die Frage nach dem Kunstwert des Films bildet den Abschluss seiner Betrachtungen. 343
Kracauer, S., Bücher vom Film, FZ 10.7.1927.
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Ausgehend von dem Befund, dass sich „die Filmproduktion […] so stabilisiert [hat] wie das Publikum“ und „ihre Erzeugnisse […] typische, immer wiederkehrende Motive und Tendenzen auf[weisen]“344, demonstriert Kracauer die Strukturaffinitäten zwischen der Filmproduktion und der industriellen Warenproduktion.345 Die „Rationalisierung der Wirtschaft“, in deren Folge alles zur Ware wird, kehrt im Film in der permanenten Variation verdinglichter Erzählmuster wieder. Weit davon entfernt, diese Realität durch ihre Darstellung zu entlarven, wird die „gesellschaftliche Wirklichkeit auf bald idiotisch harmlose, bald verruchte Weise verflüchtigt, beschönigt, entstellt. Genau das, was auf die Leinwand projiziert werden sollte, ist von ihr weggewischt, und Bilder, die uns um das Dasein betrügen, füllen die Fläche“346. Nicht die Gegenwart gelangt im Film zur Darstellung, sondern „ferne Zeiten und Räume, mit denen wir nichts mehr zu tun haben“ und die jener Vergangenheit, die das Gedächtnisbild betrifft, entgegengesetzt sind. Der „Glanz der Kostüme“ verweist auf die fehlenden Gehalte. „Wenn nun doch die Gegenwart dargestellt wird, so entschwindet sie erst recht aus dem Gesichtsfeld.“347 Kracauer kontrastiert das Dasein gesellschaftlicher Schichten – etwa der Arbeiter und der Angestellten – mit ihrer Darstellung im Film. Während diese ein Bewusstsein ihrer selbst erst aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit erlangen, agieren sie im Film als Einzelne, denen ihr privates Glück über die Interessen ihrer Klasse geht. Der Film wird zum Instrument einer ideologischen Umkehrung, die Kracauer beispielhaft an einem der politischen und soziologischen Reizwörter der zwanziger Jahre vorführt: dem der Gesellschaft: Sie [die Gesellschaft, U.B.] erstrahlt in den herrschenden Filmen so hell wie das Paradies auf mittelalterlichen Bildern. Ihre Mitglieder chauffieren selbst, leben in Berlin, Paris und an der Riviera, treten fast nur im Sportkostüm oder in großer Abendtoilette auf und geraten höchstens einmal in Not, wenn sie sofort hinterher 344 345
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Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 295. Ausgehend von der These, dass es ‚zeit- und klassenlose Kunstwerke nicht gäbe‘ bezeichnete Walter Benjamin das von Kracauer geleistete Aufzeigen des „Zusammenspiels der Phantasie der herrschenden und beherrschten Klassen wie die Filmindustrie es organisiert“ als soziologische Entdeckung. Benjamin, W., Brief an Siegfried Kracauer vom 13.4.1927, in: Benjamin, W., Briefe, III, S. 248. Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 296. Ebd., S. 297.
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Siegfried Kracauer – Figuration eine reiche Heirat machen. Es geht ihnen von Tag zu Tag besser und besser, und nachts tanzen sie in der Bar, sitzen am Spieltisch oder brechen beinahe die Ehe; das heißt, sie entkleiden sich allenfalls der Frivolität wegen, und dann kommt etwas dazwischen, dieses Mal der Moral wegen, die aufrechterhalten werden muß, weil sonst der Glaube an die Gesellschaft zu wanken begänne.348
„Gesellschaft“ ist nicht länger ein historischer Begriff, sie wird zur schillernden Oberfläche, die alle sozialen Unterschiede absorbiert. Indem der Film sie in der Form sakraler Flächenkunst repräsentiert, wird sie zum Kultbild und ihre Angehörigen zu Gläubigen. Gleichzeitig bedingt die Apotheose der Gesellschaft ihre Unwandelbarkeit. Durch die hieratische Verklärung der räumlichen Ferne wird der Raum als Ort des sozialen Miteinanders bedeutungslos. Der Unterschied zwischen der Zeichenrede des Massenornaments und der des Films besteht im Aktualisieren eines sakralen Bildbegriffs in letzterem. Im Gegensatz zum Ornament, „das die gestaltsprengende Vernunft reiner als jene anderen Prinzipien, vertritt, die den Menschen als organische Einheit bewahren“349, präsentiert der Film „körperliche Darstellungen von konkreter Unmittelbarkeit“350. Diese werden in die Totalität symbolhafter Gestaltungen umgesetzt. Als Totalität umfassen sie die Ganzheit der Körperwelt, die im Film angeblich unvermittelt aufscheint. Hiermit ist ihre Anschauung und damit die Einsicht in ihre durch die Technik produzierte „zweite Natur“ selbst vernichtet; der Glaube tritt an die Stelle ihrer Erkennbarkeit. Ausgehend von den Wechselwirkungen zwischen Film und Publikum und der davon abgeleiteten enormen Bedeutung kinematographischer Produktionen in der Öffentlichkeit351 arbeitet Kracauer so die eigentliche gesellschaftspolitische Funktion des Films heraus: Instrument der Aufklärung zu sein. Innerhalb dieser Öffentlichkeit betrifft die Aufklärungsarbeit, die Film und Kritiker zu leisten haben, das gleiche Publikum. Die Aufklärung 348 349 350 351
Ebd., S. 298. Kracauer, S., Das Ornament der Masse, Schriften 5, 2, S. 64. Ebd., S. 65. Wie die Eingangssätze dieses Essays belegen, ist Öffentlichkeit für Kracauer ein positiv konnotierter Begriff, mit dem er an Kants Bestimmung der Öffentlichkeit als Methode der Aufklärung anschließt: „Die Kritik der gegenwärtigen Produktion richtet sich mithin keineswegs ausschließlich gegen die Industrie, sie wird genau so an der Öffentlichkeit geübt, die dieser Industrie sich auszuleben erlaubt.“ Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 295.
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wird allerdings nicht von seiner Mündigkeit abhängig gemacht, sondern von der Art und Weise ihrer Vermittlung.352 Dem Spielfilm stellt Kracauer im weiteren Verlauf seiner Ausführungen den Dokumentarfilm gegenüber, der keine „künstlichen Szenerien“ gestalte, sondern die Wirklichkeit erfassen soll: Man könnte meinen, daß sie den Ehrgeiz besäßen, uns die Welt vorzuführen, wie sie ist. Genau das Umgekehrte trifft zu. Sie sperren von dem Leben ab, das uns einzig angeht, sie überschütten das Publikum mit einer solchen Fülle gleichgültiger Beobachtungen, daß es gegen die wichtigen abstumpft. Eines Tages wird es völlig erblinden.353
Das Wahrnehmungsvermögen ist der Flut der Bilderfülle nicht gewachsen; der sich in der Folge der Zunahme optischer Impulse ausbildende Reizschutz verhindert die Aufnahme relevanter Bilder. Die Mechanisierung und Formalisierung des Sehens, die der Film bedeutet, führt direkt zur Ausschaltung der Körperlichkeit des Sehens: der Zuschauer erblindet. Die Welt, die nicht mehr mittels eines optischen Sensoriums des Menschen angeschaut werden kann, lässt sich nicht länger als Ordnungssystem durchschauen, in dem unterschiedliche Positionen eingenommen und miteinander verglichen werden können. Hinzu kommt, dass die „Monotonie“ dokumentarischer Filmsequenzen „durch die gedankenleere Art, in der sich die einzelnen Bildeinheiten zum Mosaik fügen, nur noch gesteigert wird“, mithin gerade der gleichbleibende Reiz dazu beiträgt, dass er keinerlei Empfindung im Zuschauer auszulösen vermag.354 Kracauer leitet daraus die Konsequenz ab, dass Erkenntnis nicht gleichbedeutend mit der unmittelbaren Anschauung der Phänomene ist. Sie hat ihren Ausgang nicht von den im Film dargestellten Elementen der Wirklichkeit zu nehmen, sondern von dem konstruktiven Zusammenhang dieser Elemente, der durch das formale Mittel der Montage gestiftet wird.355 Kracauers Fazit lautet, dass 352
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Zum Thema Aufklärung und Öffentlichkeit vgl. Habermas, J., Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 178ff. Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 299. Die Abhängigkeit der Empfindung von einer bestimmten Intensität (Reizschwelle) des Reizes hatte Fechner in seinem psychophysischen Gesetz formuliert. Vgl. Helmholtz, H.v., Handbuch der physiologischen Optik, S. 387ff. So charakterisiert Kracauer die Vorgehensweise Pudowkins, des „Mannes mit dem Kinoapparat“, folgendermaßen: „Sie [die Russen, U.B.] wählen sich, wie es nicht anders sein kann, soziale Themen; ihr Material ist die Wirklichkeit.
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Siegfried Kracauer – Figuration sämtliche Fabeln der Durchschnittsproduktion […] bewußte oder unbewußte Umgehungsmanöver [sind]. Teils entfernen sie sich einfach von unserer Wirklichkeit in gleichgültige Weiten, teils richten sie im Interesse der stabilisierten Gesellschaft Ideologien auf, die einem Hauptstamm der Kinobesucher, den kleineren Angestellten also, die Aussicht versperren.356
Der Zusammenhang, den die Filmfabel konstruiert, ist eine mythische Aussage. Sie dient dazu, Ideologien aufzurichten, die nicht erklärbar sind. In diesem Sinne ist die „Ordnung der Welt […] ausreichend oder unsagbar, niemals ist sie bedeutend. Schließlich bringt die erste Vorstellung einer perfektionierbaren, beweglichen Welt das umgekehrte Bild einer unbeweglichen Menschheit hervor“.357 Dem Angestellten, dem ‚die Aussicht versperrt ist‘, wird der Blick auf den Anderen verwehrt, durch den allein er erst seine eigene Identität zu finden vermag. Er bleibt in dem Bild befangen, dass die herrschende Klasse ihren Vorstellungen gemäß von ihm verbreitet. Doch nicht genug damit, „der stofflichen Unzulänglichkeit entspricht […] die ästhetische“358. Kracauer fordert ein spezifisch filmisches Kompositionsprinzip, durch das „die optischen Einzelheiten die ihnen gebührenden Funktionen erhielten“. Dieser Forderung steht die Praxis gegenwärtiger Filmproduktionen selbst entgegen, die wahllos auf literarische Vorlagen zurückgreift. Der Film wird so zu einer „fortlaufenden Illustration eines fremden Textes, während er selbst der zu lesende Text sein sollte“359. Der Denunziation des Films als mythischer Aussage stellt Kracauer ein Zeichensystem gegenüber, in dem der Film selbst eine assoziative Ganzheit darstellt, vor deren Hintergrund jedem einzelnen Bild sein Gehalt zukommt. Der Film beruht auf einer optischen Kontinuität, die von traditionellen Erzählmustern verschieden ist. Dieses Modell ist allerdings historisch bedingt; sein Wahrheitsgehalt durch eine bestimmte geschichtliche Situation verbürgt. Der ideale Film gleicht darin dem Gedächtnisbild; wenn dieses den Wahrheitsgehalt in der individuellen Geschichte aufbewahrt, dann jener am „geschichtlichen Ort“, der visuell entfaltet wird. Wie das Gedächtnisbild eine unmimeti-
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Da sie nicht künstlerisch vorgeformt ist, ruht das Schwergewicht bei ihnen auf der Montage.“ Kracauer, S., Der Mann mit dem Kinoapparat, in: Kino, S. 88. Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 300. Barthes, R., Mythen des Alltags, S. 130. Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 301. Ebd., S. 302.
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sche Relation darstellt, so geht auch der Wahrheitsgehalt des Films nicht in seinem photographischen Realismus auf. Während dort die individuelle Erinnerung zur Erkenntnis von Sinn führt, ist es hier die historische Erfahrung, die die filmische Welt konstituiert. Kracauers Methode ähnelt jener, die er in Béla Balázs’ Buch Der Geist des Films auszumachen glaubte: Es ist wie das erste [Buch Balázs’, U.B.] nicht so sehr eine Filmästhetik im engeren Sinne, als der Versuch, die durch den Film und durch ihn allein dargebotenen Bedeutungen zu ermitteln. Wobei es sich keineswegs damit begnügt, die bedeutenden Phänomene nach Art der Phänomenologie zu beschreiben, sondern zugleich ihre Interpretation unternimmt. Sie geschieht im großen und ganzen vom marxistischen Standpunkt aus.360
Auch in Kracauers Ausführungen verschränken sich phänomenologische Deutung und marxistische Interpretation. Er geht allerdings von einem neuen, radikaleren Kunstbegriff aus: Die Kunst steht im Dienst des Klassenkampfes, um die gesellschaftliche Wirklichkeit wiederzugeben. Der Film vermag diesen neuen Kunstbegriff zu befördern, weil er über „die zur Aneignung oder Verwandlung fähigen Kunstelemente“361 verfügt. Als Beispiel führt Kracauer die Filme Chaplins an, dem es zwar nicht gelingt, die ‚entstellte Welt zurechtzurücken‘, sie dafür allerdings als „verkehrte Umgebung“ zu entlarven, „in der ein so merkwürdiges Durcheinander von Menschen und Dingen herrscht“362. Allein im „Russenfilm“ scheinen Kracauer die „wahren Gehalte“ auf, die aus dem „Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker“363 ihren historischen Wert beziehen. Für Kracauers filmtheoretische Positionen vor 1933 ist bezeichnend, dass er nur in Abhängigkeit von diesen Gehalten den Film als Ausdrucksform betrachtet, der eine „eigene Grammatik der optischen Sprache“ besitzt, die weder mit der Zeichensprache traditioneller Kunstformen noch mit den Gesetzen des Sehens erklärt werden konnte.364 Dies wird insbesondere in seinen Ausführungen zu den formalen Mitteln 360 361 362 363 364
Kracauer, S., Ein neues Filmbuch, FZ 2.11.1930. Kracauer, S., Ein soziologisches Experiment, Schriften 5, 3, S. 36f. Kracauer, S., Begegnungen mit hilflosen Figuren, Schriften 5, 2, S. 285. Kracauer, S., Die Jupiterlampen brennen weiter, in: Kino, S. 73. „Die Internationalität des stummen Films ergab sich nicht einfach aus der Allgemeinverständlichkeit der Bilder, sondern war die Folge des methodisch durchgeführten Bildertransports.“ Kracauer, S., Internationaler Tonfilm, Schriften 2, S. 469.
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des Films wie etwa Montage, Großaufnahmen, Totalen und Überblendungen deutlich.365 Im Gegensatz zur filmischen Praxis einer „rein formalen optischen Verbindung unverknüpfter Stoffteile“366 fordert Kracauer die „Verknüpfung der Gehalte im optischen Medium“. Das bedeutungsvolle Ganze, das Kracauer zufolge der Film realisiert, hat nichts gemeinsam mit der Autonomie und Geschlossenheit traditioneller Kunstwerke. Es orientiert sich an einem historischen Modell und geht in der Dialektik einer materialen Geschichtsbetrachtung auf. Das Prinzip der „Standardproduktionen“ der Filmindustrie beruhte darauf, körperliche Darstellungen von konkreter Unmittelbarkeit in die Totalität symbolhafter Gestaltungen umzusetzen; diese verhinderte die Erkenntnis ihrer technisch produzierten „zweiten Natur“. Dagegen werden Kracauer zufolge im „echten“ Film die historischen Verhältnisse aufgezeigt, aufgrund derer die Verkehrung stattfinden kann; Gesellschaft tritt hier an die Stelle einer undurchdringlichen Natur, ihre Vermitteltheit durch die filmische Konstruktion an die Stelle einer „natürlichen“ Unmittelbarkeit, die Erkenntnis immanenter Zusammenhänge an die Stelle einer gläubigen Bilderverehrung. Dieser Unterschied wird besonders deutlich in Kracauers Kritik an Walter Ruttmanns Film Berlin. Sinfonie einer Großstadt: Ein Werk ohne eigentliche Handlung, das die Großstadt aus einer Folge mikroskopischer Einzelzüge erstehen lassen möchte. Vermittelt es die Wirklichkeit Berlins? Es ist wirklichkeitsblind wie irgendein Spielfilm […]. Statt den gewaltigen Gegenstand in einer Weise zu durchdringen, die ein echtes Verständnis für seine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Struktur verriete, statt ihn mit menschlicher Anteilnahme zu beobachten, ihn überhaupt an einem bestimmten Zipfel anzufassen und dann entschlossen aufzurollen, läßt Ruttmann Tausende von Details un365
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Als autonome Ausdrucksmittel betrachtet Kracauer sie erst, nachdem Béla Balázs in seinem Buch Der Geist des Films die Eigenschaft herausgearbeitet hatte, dass „die Großaufnahme […] nicht nur [isoliert], sie hebt den Gegenstand überhaupt aus dem Raum heraus […]. Das Bild, das nicht mehr raumgebunden ist, ist auch nicht zeitgebunden. In dieser eigenen, geistigen Dimension der Grossaufnahme wird das Bild zum Begriff und kann sich wandeln wie der Gedanke“. In seiner drei Jahre zuvor erschienenen Kritik des Filmbuches Der sichtbare Mensch hatte Kracauer den Film dagegen noch als „stumme Kunst“ bezeichnet. Kracauer, S., Ein neues Filmbuch, FZ 2.11.1930, und Bücher vom Film, FZ 10.7.1927. Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 304.
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verbunden nebeneinander bestehen und schaltet höchstens frei ersonnene Überleitungen ein, die inhaltsleer sind.367
Kracauer knüpft mit seiner Kritik explizit an seinen Photographie-Essay an. Während dort „die Bilder des in seine Elemente aufgelösten Naturbestands […] dem Bewußtsein zur freien Verfügung überantwortet [sind]“368 bestehen hier „Tausende von Details unverbunden nebeneinander“. Entscheidend ist die Subjektabhängigkeit: Erst die bewusste Konstruktion vermag die unverbundenen äußeren und inneren Gegenstände, die der photographische Realismus ins Bild bannt, in ein bedeutungsvolles Beziehungsgefüge einzubinden. Der Begriff der Konstruktion erhält hier eine materialistische Kontur und wird auf ein kritisches Subjekt hin perspektiviert. Während im Photographie-Essay die Möglichkeiten des Films darin bestehen sollen, „Teile und Ausschnitte zu fremden Gebilden [zu] assoziieren“369, fordert Kracauer von Ruttmann die Verknüpfung aufgrund seiner Einsicht in die ‚sinnvollen Zusammenhänge des Wirklichen‘. Erst durch die begriffliche Reflexion, die der bildnerischen Konstruktion vorauszugehen hat, kann der Film den Zuschauer zu Veränderungen veranlassen und der Film folglich mit „Rede“ begabt werden.370 Kracauers Wirklichkeitsbegriff baut auf einem Begriff der Erfahrung auf, der ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Dimension betrifft. Ihre durch den Film gestaltete Intentionalität steht dabei im Gegensatz zu jener ‚drohenden Vernichtung eines vielleicht vorhandenen Bewusstseins entscheidender Züge der Wirklichkeit‘371 durch die Bilderfülle, die die Photographie hervorbringt. Der Begriff „Wirklichkeit“ wird in beiden Essays unterschiedlich gebraucht, während sie im Photographie-Essay auch jenen Bereich der Natur umfasst, der vom Bewusstsein noch nicht ergriffen ist, bezieht er sich in Film 1928 ausschließlich auf den ‚historischen Ort der Gegenwart‘.
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Ebd., S. 307f. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 97. Ebd. In Anlehnung an Gottfried Boehms Unterscheidung zwischen Bild und Begriff ließe sich hier formulieren, dass der dem Bild vorausgehende Begriff dazu dient, die größeren Gegebenheitsweisen des Bildes einzuschränken, ihm somit einen eindeutigen Gehalt zuzuweisen. Vgl. Boehm, G., Bildsinn und Sinnesorgane, S. 125. Kracauer, S., Die Photographie, Schriften 5, 2, S. 93.
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Kracauers abschließendes Loblied auf den russischen Film verdeutlicht, dass ästhetische Kategorien nicht anders als in Abhängigkeit von historischen Erfahrungen aufgestellt werden können: Wesentlicher ist, daß Eisenstein und Pudowkin […] um menschliche Dinge Bescheid wissen, daß sie und alle Darsteller Armut, Hunger, Ungerechtigkeit und Glück noch wirklich erfahren haben und die Erfahrungen in ihrer Tragweite abzuschätzen vermögen. Darum und nur darum finden sie die Ausschnitte und Perspektiven, in denen Straßen, Höfe, Plätze und Säulenarchitekturen die Gewalt der Rede erhalten.372
Nicht „Straßen, Höfe und Plätze“ offenbaren eine „natürliche Ordnung des Raumes“, sondern erst ihre Perspektivierung mittels filmischer Technik, ihre Ausrichtung auf das historische Subjekt des Klassenkampfes verleiht ihnen die Kraft der Zeichenrede. Kracauers existentialontologische Überlegungen, die ihren Ausdruck in einer Natürlichen Geometrie fanden und in denen das Subjekt allenfalls als Leerstelle auftauchte, werden Ende der zwanziger Jahre durch die gesellschaftlichen Umstände überholt, die Kracauer zufolge eine eindeutige subjektive Positionierung notwendig machten.
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Kracauer, S., Film 1928, in: Das Ornament der Masse, S. 310.
4. Rudolf Arnheim – Gestalt 4.1. Einleitung: Gestalt An ausgewählten Essays Kracauers konnte gezeigt werden, dass sie Ende der zwanziger Jahre von der Wunschvorstellung eines aufklärerischen Subjekts getragen werden. Kracauers marxistischer Orientierung zufolge ist die Art und Weise der Wahrnehmung zu diesem Zeitpunkt geschichtlich bedingt: Die Erkenntnisleistung, die das Subjekt im Hinblick auf die gesellschaftlichen Umstände zu erbringen vermag, steht im Vordergrund seiner Betrachtung. In einem ganz anderen, nämlich naturwissenschaftlichen Sinne, spielte das Subjekt im Kontext gestaltpsychologischer Forschung eine Rolle. Hier sind es die psychologischen und zentralnervösen Prozesse, die den Begriff der Wahrnehmung prägen und das Subjekt zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung erheben, die allerdings von seiner historischen und kulturellen Bedingtheit abstrahiert. Auch wenn die Frage, was denn eigentlich die Gestaltpsychologie war, mittlerweile zumindest aus wissenschaftshistorischer Perspektive erschöpfend beantwortet wurde1, entbindet diese Antwort denjenigen nicht von einer Erklärung, der nach den ästhetischen Implikationen der Gestaltpsychologie fragt und daraus ableitend ihrem Einfluss auf die künstlerische Praxis und die ästhetische Theoriebildung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nachgeht. Grundlegend für diese Fragestellung ist der transzendentale und ästhetische Charakter, der im Kontext der Gestaltpsychologie der Wahrnehmungserfahrung zugesprochen wurde. Nicht die Art der Analyse, die sich „auf den Raum des Körpers beschränkt“, sondern die Tatsache, dass „die Untersuchung der Wahrnehmung, der Sinnesmechanismen, der neuromotorischen Schemata, der gemeinsamen Gliederung von Dingen und Organismus wie eine Art transzendentaler Ästhetik funktioniert“2, lässt Rückschlüsse auf ein Erkenntnismodell zu, dass sich von den antisystematischen Ansätzen Benjamins und Kracauers fundamental unterscheidet. Wenn im Frühwerk Rudolf Arnheims der 1
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Aus diesem Grund verzichte ich im Folgenden auf eine ausführliche Darstellung ihrer Entstehung, ihrer institutionellen Verankerung und ihres Stellenwertes in der Wissenschaftslandschaft der Weimarer Republik und verweise auf das grundlegende Werk Gestalt Psychology in German Culture 1890-1967 von Mitchell G. Ash. Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, S. 385.
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psychophysiologisch definierte Begriff der „Gestalt“ auf die künstlerische Form übertragen wird, so muss berücksichtigt werden, dass innerhalb der Gestalttheorie „die menschliche Wahrnehmung mit einer inhärenten Bedeutung, Kohärenz und sogar Ordnung“ ausgestattet wird, die gegenläufig zum modernen Charakter dieser Erfahrung, seiner „Mutation, Instrumentalisierung und Dekomposition“3 war. In den folgenden Untersuchungen wird nicht der Versuch unternommen, die empirische Genese einer Kunstpsychologie, wie sie von Rudolf Arnheim auf der Grundlage der Gestaltpsychologie nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika entwickelt wurde, zu rekonstruieren. Denn die von Arnheim in Kunst und Sehen oder Anschauliches Denken aufgestellten, normativen Kriterien für die Beurteilung von künstlerischen Werken erheben Anspruch auf eine Totalität, der eine ideengeschichtliche Untersuchung ihrer Ursprünge Vorschub leisten würde. Dagegen wird es mir darum gehen, die Bedingungen aufzuzeigen, in denen die „Gestalt“ als Form der Erkenntnis wurzelt und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer Ausweitung auf andere, primär künstlerische Lebensformen zu untersuchen.4 Wenn bei dieser Betrachtung gleichwohl das auf die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre beschränkte Werk eines Autors, nämlich Rudolf Arnheims, im Vordergrund steht, so nicht, um diese verschiedenen Ansätze im Sinne einer Theorie (daraus resultiert auch der Verzicht auf eine systematische Anbindung an Arnheims eigentliches kunstpsychologisches Werk), wohl aber in dem des empirischen Materials zu synthetisieren. Denn Arnheim verkörperte gleichsam in Personalunion das In-Beziehung-Setzen von gestaltpsychologischer Theorie und ästhetischer Praxis: Hatte er doch 1928 mit einer gestaltpsychologischen Arbeit bei Max Wertheimer promoviert und war noch im selben Jahr als Kulturredakteur bei der linksbürgerlichen Zeitschrift Die Welt3 4
Crary, J., Aufmerksamkeit, S. 133. Besonders im Werk Wolfgang Köhlers zeichnet sich eine zunehmende Aufmerksamkeit für die philosophischen Implikationen der Gestaltpsychologie ab. Aron Gurwitsch erkannte dagegen sehr früh, dass die Gestaltpsychologie über keine philosophische Grundlage verfügte, und versuchte, ihre Erkenntnisse in eine Phänomenologie der Wahrnehmung einzubringen (Gurwitsch, A., Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich). Trotz dieser partiellen Versuche gilt es mittlerweile als Konsens in der Forschung, dass angesichts des „lack of any substantial and formally fruitful logical treatment of the wealth of notions clustering around the Gestalt idea, a truly adequate mastering of the philosophical difficulties which surround this idea has never really taken place“. Smith, B., Gestalt Theory, S. 69.
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bühne fest angestellt worden.5 Nicht nur trat er als Kunst-, Literatur- und Filmkritiker in Erscheinung, der sein eigenes, die Sprache als Mittel benutzendes Schreiben bewusst dem Anspruch an Literarizität unterordnete, den sich die Weltbühne auf ihre Fahnen geschrieben hatte.6 Er veröffentlichte darüber hinaus 1932 ein filmtheoretisches Werk mit dem programmatischen Titel Film als Kunst und schrieb in der Zeit seines italienischen Exils den Roman Eine verkehrte Welt. Im Folgenden sollen zunächst die theoretischen Voraussetzungen der Gestaltpsychologie dargestellt werden, die im Spannungsfeld zwischen experimenteller Psychologie und ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Theoriebildung entstand. Dieser kurze historische Abriss dient dazu, der Entstehung der Psychologie im 19. Jahrhundert und ihrem Einfluss auf die Ästhetik Rechnung zu tragen, der zur Herausbildung eines gestaltpsychologischen Wahrnehmungsbegriffes führte und diesen mit jenem Wahrnehmungsbegriff zu konfrontieren, den die kulturellen Praktiken im Werk Walter Benjamins und Siegfried Kracauers offen legten. Wilhelm Wundt begründete die Experimentalpsychologie; er hatte sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Naturwissenschaften abgegrenzt und zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin erklärt. Die Gründe dafür sah Wundt in dem unterschiedlichen methodischen Vorgehen: Während die Naturwissenschaften auf einer begrifflich vermittelten Erfahrung aufbauen, eruiere die Psychologie mit Hilfe der ‚analytischen Introspektion‘ die Empfindungen des Subjekts. Wundt ging davon aus, dass es nur eine unteilbare Welt der Erfahrung gibt, in der die Psychologie den Standpunkt des Subjekts untersucht, das diese Welt unmittelbar erfährt. Bereits vor der Gründung des ersten experimentalpsychologischen Institutes in Leipzig durch ihn hatte Gustav Theodor Fechner ein Gesetz aufgestellt, das den mathematischen Zusammenhang zwischen der Stärke der Sinnesempfindungen und den sie auslösenden Reizen formulierte.7 Etwa zeitgleich mit dem Bekenntnis Wundts zu einem elementenpsychologischen Ansatz hatte auch Ernst Mach der Empfindungswelt elementaren Charakter zugesprochen, wobei er ihr keinen substantiellen Gehalt zuerkannte, sondern ihre Beziehungen funktional bestimmte. 5
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Zu Rudolf Arnheims Tätigkeit bei der Weltbühne vgl. Grathoff, D., Rudolf Arnheim at the Weltbühne. Vgl. Nickel, G., Die Schaubühne – Die Weltbühne. Fechner, G.T., In Sachen der Psychophysik, S. 7ff.
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In seiner Auseinandersetzung mit Ernst Machs Analyse der Empfindungen kam Christian von Ehrenfels wenig später zu dem Schluss, dass die Reproduktion von physischen Elementen mittels psychophysischer Prozesse keineswegs die exakten empirischen Daten der Reizvorlage wiedergibt. Daraus leitete Ehrenfels ab, dass psychische Geschehnisse nach eigenen, strukturellen Gesetzmäßigkeiten organisiert werden. In Abgrenzung von Machs Verwendung des Begriffes der Empfindung prägte Ehrenfels in seinem 1890 erschienenen Werk Über „Gestaltqualitäten“ den Begriff der Gestalt.8 Diese verstand er nicht mehr als bloße Zusammenfassung von Elementen, sondern „als etwas (den Elementen gegenüber, auf denen sie beruhen) Neues und bis zu gewissem Grade Selbstständiges“9. Im Anschluss an Ehrenfels wurde der Begriff der Gestalt als Ausdruck einer Ganzheit rezipiert, die „nicht nur mehr, sondern oft etwas ganz anderes als die Summe [ihrer] Bestandteile“10 ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Ehrenfels hypothetische Voraussagen experimentell bestätigt. Grundlegend für die Entstehung der Gestaltpsychologie waren Max Wertheimers Untersuchungen der Bewegungswahrnehmung. Wertheimer ermittelte 1912 die Organisationsprinzipien, nach denen zwei kurzzeitig hintereinander gebotene unterschiedliche Reize wahrgenommen werden. Je nach der Pausenzeit, die zwischen den Reizen liegt, wurden diese entweder simultan empfunden oder sukzessive zu einer Scheinbewegung zusammengesetzt. Diese Scheinbewegung interpretierte Wertheimer als Wahrnehmungseinheit.11 Seine Untersuchungen widerlegten die Auffassung der Behavioristen, wonach einzelnen Reizen entsprechende Erlebnisqualitäten zugeordnet werden können. Ein weiterer wichtiger Grundzug der Gestalttheorie wird mit der ‚Prägnanztendenz‘ ausgedrückt, die besagt, dass sich die Änderung von Gestalten in Richtung auf ‚energiesparende‘ Gleichgewichtszustände vollzieht. Die Prinzipien der Gestalttheorie beziehen sich nicht nur auf die Wahrnehmung, sondern auf psychische Funktionen im allgemeinen. Sie 8
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Zu Recht weisen Kurt Grelling und Paul Oppenheim bereits 1937 in einem Aufsatz auf die Bedeutungsveränderung des Begriffes Gestalt im Kontext der Gestaltpsychologie hin. Während Ehrenfels noch von Gestaltqualitäten gesprochen habe, verwende Köhler den Begriff für ein „organized whole“, Koffka dagegen für ein „functional whole“. Grelling, K., und Oppenheim, P., Der Gestaltbegriff im Lichte der neuen Logik, S. 222. Ehrenfels, C.v., Über „Gestaltqualitäten“, S. 129. Metzger, W., Gestalttheorie im Exil, S. 666. Vgl. Wertheimer, M., Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung.
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wurden auch auf „das Lösen von Denkproblemen“ angewandt, das „als optimierende Neuordnung von ‚Problemlagen‘ verstanden“12 wurde, d.h. als Umstrukturierung von Sachverhalten. In der Folge dieser Entdeckungen beschäftigten sich die Gestaltpsychologen ganz allgemein mit der „typischen Form der Gegebenheit von Erlebnissen“13. Sie gingen davon aus, dass das „Gegebene […] an sich, in verschiedenem Grade ‚gestaltet‘“ ist und „mehr oder weniger bestimmte Ganze und Ganzprozesse“ primär gegeben sind. Max Wertheimer stellte fest, dass die Struktur dieser Ganzheiten durch konkrete Gestaltgesetze bedingt wird.14 Dies hatte ein methodisches Vorgehen zur Folge, das nicht „von unten nach oben“ vorschritt, d.h. vom Teil zum Ganzen, sondern „von oben nach unten“, vom „Erfassen bestimmter Ganzeigenschaften, Ganzbedingungen, Struktureigenschaften und von da aus […] zu ‚Teilen‘ im prägnanten Sinn dieses Wortes“15. Die Gestaltpsychologen lehnten folglich jede Form von Introspektion ab, die auf die Eruierung von singulären Empfindungen gerichtet war. An ihre Stelle trat die Beobachtung von visuellen Vorgängen, Denkprozessen und Verhalten. Während die Anfänge der Gestaltpsychologie noch im Zeichen der Denk- und Völkerpsychologie standen, verschob sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Gegenstand hin zur Wahrnehmungsforschung.16 Den Gestaltgesetzen entsprechend, stellte die Wahrnehmungswelt mehr als die Summe einzelner Empfindungen dar; Kurt Koffka zog daraus die Konsequenz, ihr den Charakter eines elementaren psychologischen Phänomens zuzusprechen.17 Eine wichtige Voraussetzung für die Anwendung gestaltpsychologischer Erkenntnisse auf die künstlerische Form und ihre Wahrnehmung bildete die Isomorphie. Max Wertheimer äußerte in seinem grundlegenden Aufsatz Über das Sehen von Bewegung die Vermutung, daß nicht die Erregungsvorgänge in den erregten Zellen selbst (peripherwärts oder durch ‚Assoziationsleistung‘ empfangen) oder die Summe dieser Einzelerregungen das einzig wesentliche sind: sondern daß eine wichtige und für manche, psychologisch herauszufassende, Faktoren direkt wesentliche Rolle charakteristischen Quer- und Gesamtvorgängen zukomme, die, aus der Erregung 12 13 14 15 16 17
Herrmann, T., Ganzheitspsychologie und Gestalttheorie, S. 586. Koffka, K., Zur Grundlegung der Wahrnehmungspsychologie, S. 249. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I, S. 52f. Ebd., S. 55. Vgl. Wertheimer, M., Max Wertheimer, S. 152. Vgl. Arnheim, R., Psychologie, S. 232.
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Rudolf Arnheim – Gestalt der Einzelstellen (ev. als Einfallstellen), als spezifisches Ganzes (größeren Bereichs) resultieren. Hier würde eine solche Wirkung relativ einfacher Art wahrscheinlich: eine Querfunktion zwischen erregten Stellen […] eine Art physiologischen Kurzschlusses, dem psychisch phänomenal das φ-Phänomen entspräche.18
Für die Lösung dieses so genannten Wertheimer-Problems – der Frage danach, welche Hirnvorgänge die Gestaltwahrnehmung unmittelbar im Physiologischen repräsentieren – machte Wolfgang Köhler in seiner Abhandlung über Die physischen Gestalten das Prinzip eines psychophysischen Isomorphismus geltend, unter dem er eine Strukturentsprechung zwischen phänomenalen Gestalten und bestimmten physikalischen Eigenschaften zentralnervöser Prozesse verstand.19 Er konstatierte, dass die „Gestaltpsychologie […] in beiden Fällen phänomenal und physiologisch gleiche Organisation an[nimmt]; sie macht diese Hypothese ja ganz allgemein und für alle Gestalteigenschaften“20. In späteren Darstellungen berief sich Köhler auf den Physiologen Ewald Hering21, der davon ausgegangen sei, dass das Verhältnis zwischen den Anschauungsdaten und den zugehörigen physiologischen Vorgängen kein willkürliches ist, sondern auf der Kongruenz bzw. Isomorphie der Systemeigenschaften beider beruhe. Diese strukturellen Übereinstimmungen bezogen sich zunächst nur auf die Anschauung als Ordnung in einem abstrakten Sys18 19
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Wertheimer, M., Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, S. 91. Peter Keiler hat nachgewiesen, dass Köhlers Lösung des Wertheimer-Problems eine Einengung von „Gestalt“ auf „Struktur“ mit sich brachte, da Köhler Wertheimers funktional-physiologische durch eine strukturell-physikalische Sichtweise ersetzt habe. Keiler, P., Isomorphie-Konzept und WertheimerProblem, S. 125. Köhler, W., Psychologische Probleme, S. 163. Ash stellt in seinen Ausführungen dar, dass die eigentliche Quelle für Köhlers Begriff des Isomorphismus G.E. Müllers psychophysikalische Axiome waren, die er aus den Ideen Machs und Herings destilliert hätte. Ashs weitere Argumentation widerspricht jedoch der Begriffsgeschichte, die Köhler in seinem Buch Psychologische Probleme anführt. Denn gerade jener fundamentale Unterschied zwischen Machs und Köhlers Definition, nämlich die Verwandlung von „incidentally correlated point patterns or ‚components‘“ in „‚objectively related‘ structures“ stellt keine Modifikation der Machschen Terminologie dar, sondern geht Köhlers eigenen Worten zufolge auf Herings Definition des Isomorphismus zurück. Vgl. Ash, M., Gestalt Psychology, S. 178, und Köhler, W., Psychologische Probleme, S. 39.
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tem22, die aufgrund mangelnder Einsicht in die physiologischen Mechanismen der Wahrnehmung die genaue Kenntnis der konkreten Realanschauung ausschloss. Köhler behauptete, dass die anschaulich gegebene Ordnung, wie alles Anschauliche, von physiologischen Prozessen in meinem Nervensystem ab[hänge], es muss ihr etwas an der funktionellen Beschaffenheit dieser Prozesse entsprechen. Und wenn wir unser Prinzip auch auf diese konkrete Ordnung anwenden, dann besagt es, dass z.B. der anschaulichen Symmetrie im Sehfeld eine gleichartige Symmetrie dynamischen Zusammenhanges in den zugehörigen Prozessen des Nervensystems entsprechen muß.23
Dieses Prinzip der Kongruenz besaß für Köhler sowohl für die anschauliche Ordnung des Raumes und der Zeit als auch für den Geschehenszusammenhang Gültigkeit. Wie Mitchell G. Ash darstellte, veränderte die Neubestimmung der Isomorphie die Vorstellung der Wahrnehmung radikal: „For Gestalt theory, the three-dimensional world that we see is not constructed by cognitive processes on the basis of insufficient sensory information. Rather, it appears complete as the product of nervous processes occurring in the three-dimensional optic sector.“24 Die optische Wahrnehmung wurde als ein physiologischer Vorgang dargestellt, der unabhängig von den die Reizvorlage verarbeitenden Bewusstseinsprozessen untersucht werden konnte. Allerdings ließen sich die von Köhler angenommenen Hirnvorgänge empirisch noch nicht nachweisen.25 Die Beobachtung hatte sich somit auf das „anschaulich Phänomenale“ zu beschränken. Mit seinem Wahrnehmungsbegriff grenzte sich Köhler explizit von der durch Hermann Helmholtz und Carl Stumpf vertretenen „Konstanzannahme“ ab, unter der er „die stille Überzeugung, dass echte Sinneserfahrung vom jeweiligen Verhalten des Betrachters unabhängig ist, und dass sie in ihrer lokalen Beschaffenheit nur von der zugehörigen lokalen Reizung bestimmt wird“26, verstand. Zwar unterschied auch Köhler weiterhin zwischen Empfindung und Wahrnehmung, doch während mit jener 22 23 24 25
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Köhler, W., Psychologische Probleme, S. 38f. Ebd., S. 39. Ash, M., Gestalt Psychology, S. 179. Erst im Zuge gegenwärtiger neurobiologischer Forschungen wurden Köhlers Thesen empirisch bestätigt. Vgl. Roth, G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 258ff. Köhler, W., Psychologische Probleme, S. 62.
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das „reine Sinnesmaterial als solches“ vorliege, sei die Konstanz dieser das Ergebnis von Lernprozessen und ähnlichem und könne nicht auf lokale Reize zurückgeführt werden. Köhler ließ nicht länger kausale Begründungszusammenhänge gelten, sondern konstatierte, dass sich die Anschauungswelt psychologischen Gesetzen entsprechend „selbst organisiere“27. Die Abkehr vom Analytischen und die Nivellierung subjektiver Faktoren zugunsten der sachlichen Eigenschaften physikalischer Reize28 lenkten die Aufmerksamkeit auf die Umweltbedingungen. Der Begriff der Gestalt, der seinen Ausgang von der ‚Geschlossenheit des Organismus und seines Verhaltens‘29 nahm, implizierte so auch eine Vorstellung von Ganzheit, die im Gegensatz zu „Subjektzerrissenheit“ und „Weltzerfall“ – jenen Postulaten, mit denen die künstlerische Moderne angetreten war – das Subjekt und die Natur wieder als eine Einheit begriff, wenn auch nur auf der Grundlage gleich ablaufender Strukturprozesse. Da diese Vorstellung jedoch ganz auf dem Boden der „Tatsachenwissenschaften“ entstand und das Rezeptionsverhalten der bürgerlichen Schichten nach wie vor dem Schema überkommener Philosophien verhaftet war, blieb eine breite Wirkung aus.30 Die Anwendung gestaltpsychologischer Theoreme auf kunstwissenschaftliche Fragestellungen ergab sich zum einen aus der ästhetischen Dimension, die dem Prinzip der Gestalt selbst inhärent war31 und die sich im Gegenstandsbereich niederschlug, den die Gestaltpsychologen ihren Untersuchungen zugrunde legten.32 Zum anderen spielte die Aufmerksamkeit eine große Rolle, die psychophysische Positionen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen ästhetischer Theoriebildungen erlangt hatten. Die psy27 28
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Ebd., S. 45ff. Wertheimer fasste diese Eigenschaften unter dem Terminus „Reizkonstellation“. Vgl. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I, S. 54. Köhler, W., Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, S. XIII. Vgl. Musil, R., Das hilflose Europa, S. 1085. Zu Musils Rezeption der Gestaltpsychologie vgl. Döring, S. A., Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Vgl. Ash, M., Gestalt Psychology, S. 1. So formulierte Wertheimer in seinem Antrag für ein Stipendium der Rockefeller Foundation: „It is not by pure chance that historically the first indication of ‚gestalt qualities‘ given by von Ehrenfels was taken from an aesthetical observation […] In fact, works of art show very clearly certain features which according to gestalt psychology are characteristic for percepts in general.“ Wertheimer, M., Antrag für ein Stipendium der Rockefeller Foundation, AHAP.
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chologischen Implikationen der Einfühlungsästhetik33 waren jedoch mit der grundsätzlichen Neubewertung der Funktionsweise von psychischen Prozessen durch die Gestaltpsychologen zu großen Teilen unvereinbar. So war nicht nur die Vorstellung der Einfühlung als Bewusstseinsvorgang34 grundsätzlich verschieden von den funktionellen Eigenschaften dieses (organischen) Prozesses auf der Grundlage von Gestaltgesetzen35, auch stand die davon ableitbare Geformtheit der Natur in einem deutlichen Gegensatz zu dem radikalen Subjektivismus, den die Einfühlungsästhetiker vertreten hatten, indem sie die Umwelt nur als passives, ungestaltetes Rohmaterial gelten ließen. Nicht genug damit, der psychophysische Parallelismus, der im Kontext der Einfühlungsästhetik dazu gedient hatte, den Ausdruckswert der künstlerischen Form entsprechend des Reiz-Reaktions-Schemas von der körperlichen Beschaffenheit eines Betrachters abzuleiten36, wurde von der Vorstellung abgelöst, dass 33
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Zur Geschichte der Einfühlungsästhetik vgl. Geiger, M., Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung. Vgl. Lipps, T., Zur Einfühlung, S. 112: „Zweifellos ist Einfühlung ganz allgemein gesagt dies, daß etwas von mir oder ein in Wahrheit mir und nur mir zugehöriges Element, also etwas Subjektives, für mich in dem vom Subjekt aufgefaßten oder ihm geistig gegenüberstehenden Gegenstand liegt, nicht in dem Gegenstand also, so wie er an sich ist, oder in dem reinen Gegenstand, sondern in dem Gegenstand für mich oder dem Gegenstand, wie er für das auffassende Subjekt da ist oder ihm ‚erscheint‘.“ „Die allgemeine Biologie und die Psychologie nähern sich einander maximal in der Theorie der nervösen Funktionen, insbesondere in der Lehre von den physischen Grundlagen des Bewusstseins. An dieser Stelle wird die Forderung unabweislich, organisches Geschehen, das höheren psychischen Geschehen unmittelbar entsprechen soll, an dessen wesentlichen funktionellen Eigenschaften teilnehmen zu lassen und deshalb organische Prozesse als Gestalten zu denken.“ Köhler, W., Die physischen Gestalten, S. XIV. Vgl. Vischer, R., Über das optische Formgefühl, S. 6f.: „Es ist eben gerade recht das Wesen der künstlerischen Idealität, sich nicht selbst ideal zu wissen, sondern sich an einem einzelnen Gegenstande zu reflektieren. Weit entfernt, das speziale Gepräge desselben zu verwischen, zwingt sie nur den Formtrieb, sich ihr als seiner Urvorstellung anzubilden. Zu dem Zwecke harmonisiert sie ihn und zwar nicht nach einem abstrakten, allgemeinen Kanon, sondern nach dem subjektiv konkreten, wie ihn der Mensch psychophysisch an sich selber hat.“ Heinrich Wölfflin übertrug Robert Vischers psychophysischen Parallelismus wenige Jahre später auf die Architektur. Er behauptete, dass die architektonische Form einen spezifischen Ausdruckswert besitzt, der im Vollzug der Wahrnehmung eine motorische Reaktion provoziere, die dann den entsprechenden Stimmungseindruck hervorrufe. Wölfflin, H., Prolegomena, S. 13.
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Hirnvorgänge sich selbst organisieren und lediglich nach ähnlichen Gesetzen strukturiert sind wie wahrgenommene Ganzheiten. Mit dieser Einsicht verbunden ist die Abwertung ontologischer Fragestellungen, die mit dem psychophysischen Problem im 19. Jahrhundert noch verbunden waren zugunsten jener nach der tatsächlichen, empirisch fundierten Funktionsweise des Nervensystems. Während die Einfühlungstheoretiker das Gefühl und seine Darstellung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellten, untersuchten die Gestaltpsychologen optisch-sensorische Prozesse im Allgemeinen37; das von Wilhelm Wundt geprägte Modell einer „analytischen Introspektion“ wurde abgelöst durch das gestaltete Sehen. Allein bei der Bestimmung der den Dingen innewohnenden Ordnung, d.h. der „Einfühlung“ in ihre Form, deutet sich eine konzeptionelle Nähe zum Begriff der Gestalt an. Denn wenn Lipps zufolge auch „ein Ausgangspunkt […] für unser Ordnen […] jederzeit gegeben [ist]“, so ist „diese vorgefundene Ordnung […] nicht die kausale Ordnung, d.h. eben die Ordnung, die uns erlaubt, von einem zum andern urteilend sicher überzugehen. Um diese Ordnung herzustellen, müssen wir vielmehr was wir vorfinden ergänzen, wir müssen etwas hinzudenken oder denkend hinzufügen“38. Ganz im Sinne der Gestaltpsychologen ist die von Lipps angesprochene Ordnung mehr als die „Summe ihrer Empfindungen“; Lipps begreift allerdings dieses Mehr nicht als Gestaltqualität, sondern als Produkt von Bewusstseinsvorgängen.39 Max Wertheimer hatte bereits in seiner Studie über das Bewegungssehen auf die Ähnlichkeit der Wahrnehmung von Gestalten und Werken der bildenden Kunst hingewiesen.40 Ausführlich war Wolfgang Köhler auf die Konnotationen des Begriffes der Gestalt in Abgrenzung zu denen der künstlerischen Form eingegangen: Nun wird im Deutschen das Wort ‚Gestalt‘ in der Regel gleichbedeutend mit dem Wort ‚Form‘ gebraucht. So nahm von Ehrenfels 37 38 39
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Vgl. Iser, W., Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie, S. 43. Lipps, T., Zur Einfühlung, S. 455. Noch deutlicher formuliert Lipps diese Auffassung in seiner kurzen Replik Zu den ‚Gestaltqualitäten‘: „‚Gestaltqualitäten‘, ich meine, das, was man so nennt, sind, sofern darunter nicht zeitliche Bestimmungen oder räumliche Formen gemeint sind, immer Weisen der psychischen Beziehung zwischen psychischen Vorgängen, die als solche im Bewusstsein nicht gegeben sind.“ Lipps, T., Zu den „Gestaltqualitäten“, S. 384. Wertheimer, M., Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, S. 101.
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den Fall spezifischer Formbeschaffenheiten als den wichtigsten und einleuchtendsten unter diesen Eigenschaften und nannte nach ihm alle miteinander ‚Gestaltqualitäten‘. Daraus geht hervor, daß nicht nur die verschiedenen Einzelformen von Dingen und Figuren gemeint sind, sondern z.B. auch solche Beschaffenheiten wie ‚regelmäßig‘. Wir haben ferner gesehen, daß es ebenso wohl zeitlich verlaufende Gestaltqualitäten gibt wie im Raum ruhende […]. Schließlich kann eine gesehene Bewegung als ganze eine Gestaltqualität haben, die zugleich zeitlich und räumlich ausgedehnter Natur ist. Das trifft für den anschaulichen Charakter bestimmter Tanzformen zu […]. Außer auf Formen als Eigenschaften von Dingen wird es auf konkrete individuelle und charakteristische Gebilde selbst angewandt, die mehr oder weniger für sich bestehen und zu deren Attributen Form oder Gestalt in jenem ersten Sinn gehört. Dieser Tradition gemäß bedeutet das Wort ‚Gestalt‘ in der Gestalttheorie ein ausgesondertes Ganzes, und die Untersuchung von Gestaltqualitäten ist eine speziellere Seite der Gestaltforschung geworden. Die entscheidende Idee dabei ist, daß im allgemeinsten dieselbe Art dynamischer Hergänge, welche zu der Ausbildung und Aussonderung ausgedehnter Ganzer führt, auch ihre spezifischen Eigenschaften, die Gestaltqualitäten, und darüber hinaus alle spezifischen Bereichsqualitäten verstehen lassen wird. Es wird also auf eine bestimmte Geschehensart das Hauptgewicht gelegt.41
In seiner Definition unterscheidet Köhler zwischen der Form als Eigenschaft von Dingen, die sich über die entsprechenden Gestaltqualitäten hinaus auch durch andere Eigenschaften bestimmen lassen und reinen, selbstbezüglichen Formen. Beide werden durch dynamische Prozesse generiert, die ihren „anschaulichen Charakter“ prägen. Dabei sind Gestalteigenschaften, die ein konkretes Gebilde attribuieren, nur insofern von ästhetischen Urteilen zu unterscheiden, als jenen ein anschaulich vermitteltes Kräfteverhältnis zugrunde liegt, während diese auf Lust- oder Unlustgefühle rekurrieren. Der Fokus der Betrachtung wechselte von der Wirkung ästhetischer Prozesse hin zur Natur physiologischer Vorgänge. Im Hinblick auf ästhetische Fragestellungen weist die Gestaltpsychologie so eher eine Nähe zu der materialen Ästhetik eines John Ruskin oder Gottfried Semper auf, als auch dort die Frage nach den „stofflichen Eigenschaften der künstlerischen Form“ vorrangig ist.42 Abgesehen von 41 42
Köhler, W., Psychologische Probleme, S. 121. Vgl. Bandmann, G., Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, S. 142ff.
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dem künstlerischen Produktionsprozess hier, in dessen Verlauf erst Formen geschaffen werden, und der sinnlichen Wahrnehmung dort, die sich ihrer Natur gemäß gestalthaft organisiert, besteht der wesentliche Unterschied in der funktionellen Bestimmung der „Gestalt“ gegenüber dem substantiellen Formbegriff bspw. Sempers.43 Sowohl Gestaltqualitäten als auch Gestalten werden analog zu jenen, in der Empirie physiologischer Prozesse verhafteten Prinzipien generiert; eine Untersuchung ihrer Gesetze verfolgt die Art und Weise der dynamischen Geschehensart. Ein spezifischer Ausdruckswert kommt ihnen dabei aufgrund des psychophysischen Isomorphismus zu. Untersucht wurden diese „Ausdrucksbewegungen“, die keineswegs mit ästhetischen Urteilen gleichgesetzt werden können, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Rahmen der „Gefühlspsychologie“, deren Gegenstand jedoch Kurt Lewin zufolge bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts auf die menschliche Mimik beschränkt blieb.44 Auch wenn Lewin den Gegenstandsbereich der Ausdrucksforschung auf das Handeln erweiterte, wobei er sich dabei insbesondere auf den „kindlichen Ausdruck“ konzentrierte45, mag die anfängliche Beschränkung auf die Mimik die Gründe für jene psychologisch motivierte Deutungspraxis der zwanziger Jahre liefern, für die bestimmend war, vom Ausdruck eines Kunstwerkes auf den Charakter seines Schöpfers zu schließen. In seiner Dissertation Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem widmete sich auch Rudolf Arnheim der Erforschung des Ausdrucks. Er stellte Testpersonen die Aufgabe, Handschriften und Porträtgruppen berühmten Persönlichkeiten oder Leuten mit auffälligen 43
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Der Bruch mit dem Reiz-Reaktions-Modell verabschiedet auch die Vorstellung vom Kunstwerk als eines „Reizes“, auf den der Rezipient „reagiert“. Im Sinne Köhlers setzt die Selbstorganisation der Wahrnehmung so prinzipiell voraus, „daß Gestaltfragen keine Material- oder Stofffragen sind“. Köhler, W., Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 233. Lewin, K., Ausgewählte Kapitel der Psychologie, Vorlesungsmitschrift Rudolf Arnheims vom 3.5.1923, AHAP. Auch in den folgenden Semestern hielt Lewin regelmäßig Vorlesungen zur Willenspsychologie und Über den Ausdruck psychischen Geschehens (vgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Verzeichnis der Vorlesungen). Da es mir im Folgenden darum gehen wird, Arnheims Verwendungsweise von „Ausdruck“ zu rekonstruieren, und nicht darum, eine Genese der Ausdrucksforschung aufzuzeigen, verzichte ich auf eine Kritik an der Position Lewins durch ihre Konfrontation mit den Traditionslinien der Ausdruckspsychologie. Vgl. Lewin, K., Kindlicher Ausdruck, S. 510ff.
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Charaktermerkmalen zuzuordnen. Auf der Grundlage empirischer Versuche wollte Arnheim so die Frage beantworten, „von welcher Art die Prozesse [sind], die zu einer physiognomischen oder graphologischen Leistung führen“46. Die Beurteilungen von graphologischen und physiognomischen Gestalten durch ungeschulte Probanden konfrontierte er dann mit den Ergebnissen gestaltpsychologischer Forschung. Seine Ergebnisse zeigten, „daß objektiv identische Gesichtsteile unter Umständen einen recht verschiedenen Charakterausdruck zeigen können, je nach dem Ganzgesicht, dessen Teile sie sind, resp. ob sie allein exponiert werden oder im Ganzgesicht“47. Aus dem gestaltpsychologischem Theorem der Isomorphie folgt, dass die physiognomischen Gestalten (Mimik) mit physiologischen Vorgängen kongruieren, die dem psychischen Verhalten (Charaktereigenschaften) der jeweiligen Personen entsprechen.48 In diesem Sinne hatte Arnheim bereits in einer Rezension des Buches Vom Ausdruck der Seele von Wilhelm Specht kritisch angemerkt, dass der unmittelbar gegebene Ausdrucksgehalt körperlicher Dinge nicht als „Ausdruck der Seele im Körperlichen“ benannt werden könne (und auf diese Art ganz im Sinne Ludwig Klages’ eine Einheit von Körper und Seele postuliere), „sondern daß vielmehr ein Faktum vorliege, das sich […] sowohl im Seelischen wie im Körperlichen – unmittelbar und auf identische Weise – manifestiere“49. Das Verhältnis beider ist nicht länger eines der Hierarchie zugunsten von Unterscheidungen, sondern basiert auf einer strukturellen Ähnlich46
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Arnheim, R., Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem, S. 47. Ebd., S. 101. Arnheims Dissertation entstand wahrscheinlich im Kontext von Max Wertheimers Seminar zur Physiognomie und zum Ausdrucksproblem. Den Worten Fritz Heiders zufolge hatte Wertheimer behauptet, „‚that each person has a certain quality‘ […]. This quality expresses itself in a person’s appearance, handwriting, mode of dress, movements, talking, and acting, and ‚also in the way he thinks, what kind of outlook he has, and if he is a scholar, in the kind of theory he builds or adopts‘“ (zitiert nach Ash, M., Gestalt Theory, S. 257). Barry Smith zufolge geht Wertheimers Verwendung des Begriffes „Ausdruck“ auf seine Beschäftigung mit der Philosophie Spinozas zurück (Smith, B., Gestalt Theory, S. 46). Dies erscheint insofern plausibel, als Wertheimer unter Ausdruck im Sinne Spinozas ganz allgemein den dynamischen Vorgang der Manifestation des Ganzheitseindruckes eines Gegenstandes oder einer Person verstand. Arnheim, R., Rez. Wilhelm Specht: Vom Ausdruck der Seele, S. 187.
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keit. Wie noch zu zeigen sein wird, unterschied sich die gestaltpsychologische Diktion des Begriffes „Ausdruck“ grundsätzlich von jener Bestimmung der Kunst als Ausdruck, die als Psychologismus in die Kunstbetrachtung der Jahrhundertwende eingegangen war.50 In Arnheims Versuch, gestaltpsychologische Erkenntnisse auf die Deutung von Handschriften und Porträts bedeutender Künstler anzuwenden – dabei ging es ihm weniger um eine Explikation der Physiognomik51 als um das Verhältnis von Teil und Ganzem physiognomischer Gestalten –, ist ein letzter Rest dieser psychologisierenden Kunstbetrachtung enthalten. Er zielt auf die Manifestation von Ausdruck im Begriff der Gestalt selbst, der in der Betrachtung als bloße Zuschreibung desavouiert wird, wie der Rückgriff auf eine Tradition belegt, innerhalb derer zwischen Kunst und Genieästhetik nicht unterschieden wurde. Die Handschriften Wagners, Schillers, Freytags, Leonardos, Raffaels und Michelangelos sowie die Porträts von Claudius, Klopstock und Möricke stellen gleichsam das Erbe des Bildungsbürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar, ein Erbe allerdings, das den Blick auf die zeitgenössische Avantgarde verstellte, da diese ihr Selbstverständnis gerade aus dem Bruch mit allem vorangegangenen bezog. Im Kontext seiner Dissertation verwendete Arnheim den Terminus „Gestalt“ nicht als vorurteilslosen, durch die Psychologie neu geprägten Begriff, sondern applizierte ihn auf ästhetische Phänomene, deren Deutung durch eine bestimmte, subjektorientierte Tradition verbürgt war. Trotz der begrifflichen Nähe von „Form“ und „Gestalt“ unternahm erst 1932 Friedrich Sander den Versuch, die Gestaltpsychologie auch auf kunstwissenschaftliche Fragestellungen anzuwenden. Diesem Versuch ging Johannes von Alleschs euphorische Besprechung der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin voran, die 1922 in der von den Berliner Gestaltpsychologen herausgegebenen Zeitschrift Psychologische Forschung erschienen war. Von Allesch betonte, dass „nirgends […] die Möglichkeit, komplexe Gestaltvorgänge als natürliche Prozesse mitzuerleben, so groß wie gerade vor dem Kunstwerk [gegeben 50
51
Zu ihren Vertretern zählt auch Karl Bühler, der in seiner 1933 erschienen Ausdruckstheorie Ausdruck als Darstellungskategorie von Innerlichkeit abhandelt, Psychologie heisst für ihn die Wissenschaft von der Seele. Unter Physiognomik verstand Arnheim weitläufig die Zuordnung bestimmter Ausdruckswerte zu bestimmten Formen einzelner Gesichtsteile. Arnheim, R., Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem, S. 96.
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sei] und nirgends […] die Struktur der Gestalt so klar zutage [liegt] wie da“52. Auf diese Rezension bezog sich auch Hans Sedlmayr bei seinem Versuch, eine Monographie des Architekten Borromini zu verfassen, die er von vorangegangenen Betrachtungen aufgrund der Anwendung eines neuen „künstlerischen Wert- und Gestaltungssystems“ abgrenzte.53 So arbeitete Sedlmayr mit dem Begriff der Gestalt, den er in der Bedeutung einer sinnvoll strukturierten Ganzheit verwendete, um vom Wahrnehmungserlebnis bestimmter Formen und Konfigurationen der Kirchenbauten Borrominis ihr notwendiges Strukturprinzip abzuleiten. Dabei bezog sich Sedlmayr punktuell auch auf Arbeiten von Koffka und Wertheimer. Trotz seiner Verwendung experimentalpsychologischer „Hilfsmittel“ und Begriffe schuf Sedlmayr kein neues interpretatorisches Verfahren.54 Das primäre Ziel seiner Arbeit war ein kunsthistorisches; es bestand in der Rekonstruktion der geschichtlichen Stellung Borrominis.55 Dass gestaltpsychologische Erkenntnisse auf kunstwissenschaftliche Sachverhalte erst zu diesem späten Zeitpunkt ausgeweitet wurden, erklärte Friedrich Sander indirekt mit den unterschiedlichen wissenschaftlichen Interessen beider Disziplinen: Der Kunsttheoretiker bleibt gebunden an den einmal gegebenen, historischen Bestand an Kunstwerken, seine Aufgaben erfüllen sich in einer gestaltanalytischen Vergleichung und in einer Herausarbeitung übergreifender Gestalteigentümlichkeiten, charakteristischer Ganzmomente personaler und epochaler Werkfolgen und ihres einmaligen historischen Gestaltwandels. 52
53 54
55
Johannes von Allesch, Psychologische Bemerkungen zu zwei Werken der neueren Kunstgeschichte, S. 381. Hans Sedlmayr, Die Architektur Borrominis, S. 17f. Es ist bezeichnend, dass Ernst Gombrich Sedlmayrs Werk unter der allgemeinen Überschrift Kunstwissenschaft und Psychologie vor fünfzig Jahren würdigte, denn gerade der dritte Teil von Sedlmayrs Arbeit beschäftigte sich intensiv mit der psychologischen Deutung Borrominis, wobei Sedlmayr seiner Persönlichkeitsanalyse Ernst Kretschmers Buch Körperbau und Charakter zugrunde legte. Gombrich, E., Kunstwissenschaft und Psychologie vor fünfzig Jahren, S. 101. Eine ausführliche Kritik an Sedlmayrs Methode leistete Walter Benjamin, der Sedlmayr unterstellte, dass an die Stelle der konkreten Erscheinung der Begriff der „Gestalt“ träte, der allein aus methodischen Überlegungen gewonnen sei. Seine Kritik bezog sich jedoch nicht auf Sedlmayrs Monographie, sondern auf seinen Beitrag in dem ersten Band der Kunstwissenschaftlichen Forschungen. Benjamin, W., Strenge Kunstwissenschaft (Erste Fassung), GS III, S. 367.
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Dagegen ginge es dem Psychologen darum, durch eine planmäßige Variation der objektiven Gestaltbedingungen […] in Zusammenhänge der einzelnen Gestaltmomente unter sich und ihre Abhängigkeit von den objektiven Bedingungen einerseits, von den strukturellen Bedingungen des personalen Ganzen des Erlebenden andererseits einzudringen und Gesetzlichkeiten, die den einzelnen Fall übergreifen, herauszuarbeiten.56
In Sanders Beitrag kommt der Psychologie propädeutischer Charakter zu; sie liefert eine strukturalistische Methode mit Hilfe derer sich Kunstwerke analysieren und vergleichen lassen. Es ist bezeichnend, dass sich Sander in seinem Beitrag Gestaltpsychologie und Kunsttheorie vor allen Dingen mit Heinrich Wölfflins früher Abhandlung Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur auseinandersetzt, hatte dieser doch versucht, durch die Anwendung psychologischer Methoden „ein organisches Verständnis der Formengeschichte zu vermitteln“57. Gegenstand der Untersuchung Sanders sind die „architektonischen Formanalysen, wie sie wiederum Heinrich Wölfflin in seinem Frühwerk Renaissance und Barock gegeben hat“. Sander begründet seine Wahl durch die „Sachsinnfreiheit“ architektonischer Gebilde, die „ihre Eigenart wesentlich der rein-geometrisch-ästhetischen Formphantasie der menschlichen Natur“ verdanken.58 Es mutet eigentümlich an, dass sich Sander nicht direkt mit den Baustilen der Renaissance und des Barock auseinander setzte, sondern im Rückgriff auf Wölfflins Formanalysen charakteristische Gestalterlebnisse als gegeben ansah, deren Abhängigkeit von „objektiven Gestaltgesetzen“ und äußeren und inneren Bedingungen der jeweiligen Reizkonstellation59 er im Verlauf seiner Ausführungen nachwies. Es ging Sander somit nicht primär um eine Analyse der künstlerischen Form, sondern darum, ihre 56 57 58 59
Sander, F., Gestaltpsychologie und Kunsttheorie, S. 321. Ebd., S. 323. Ebd. Sander konstatiert zwei Bedingungskomplexe: „Der eine umfaßt jene äußeren Bedingungen der jeweiligen Reizkonstellation, der andere die endogenen Bedingungen struktureller Kräfte, innerer Gerichtetheiten, unter deren Wirkung das sinnlich Gegebene möglichst optimaler Gestalt erlebt wird.“ Mit dem Nachweis dieser Faktoren versucht Sander, einen Beitrag zur „Aktualgenese der Gestalten“ zu leisten, deren vollständige Negierung die Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie (der Sander angehörte) den Berliner Gestaltpsychologen zum Vorwurf machte. Vgl. Ash, M., Gestalt Psychology, S. 317, und Sander, F., Gestaltpsychologie und Kunsttheorie, S. 335.
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Erlebnismöglichkeiten auf der Grundlage der durch ihre Ganzqualitäten ausgelösten Empfindungen aufzuzeigen. Auf diese Art und Weise überprüfte Sander lediglich die Kompatibilität der Wölfflinschen Formanalysen mit der Gestaltpsychologie, ohne jedoch einen eigenständigen Zugang zu kunstwissenschaftlichen Fragestellungen auf der Basis der Gestaltpsychologie zu entwickeln. An Rudolf Arnheims journalistischem, filmtheoretischem und literarischem Werk aus der Zeit von 1925 bis 1939 soll aufgezeigt werden, inwieweit hier die Bedingungen und Möglichkeiten aufscheinen, unter denen der gestaltpsychologische Ansatz auch zur Beantwortung kunstgeschichtlicher und ästhetischer Fragestellungen herangezogen werden konnte. Die beiden Pole der folgenden Untersuchung bilden demnach der Begriff der Gestalt selbst und die zeitgenössische künstlerische Praxis. Im Zentrum steht die visuelle Wahrnehmung, die im Kontext der Gestaltpsychologie empirisch fundiert war und deren philosophische Tradierung vollständig ausgeblendet wurde.60 Demzufolge werden jene Kritiken nicht berücksichtigt, in denen Arnheim Stellung zu akustischen Medien bezieht, wie dem Hörspiel oder der Musik, obgleich gerade letzteres im Kontext der Gestaltpsychologie eine wesentliche Rolle spielte. Auch die Architektur wird in den folgenden Ausführungen ausgespart werden, da sich Arnheim in seinen Artikeln zu diesem Bereich künstlerischer Praxis zum überwiegenden Teil mit der Bauweise von Architekten auseinander setzte, die entweder mit dem Bauhaus oder dem Werkbund61 assoziiert waren. Ansätze zu einer eigenen Interpretationsmethode sind hier nicht erkennbar. Eine der Konsequenzen der Ausweitung des Terminus „Gestalt“ auf die künstlerische Form ist die Betrachtung der Maske und des Tanzes als eigenständige Kunstformen. Zwar hatte sich dieser im Rahmen der Akzentuierung einer spezifischen Ausdruckskunst bereits im 19. Jahrhundert von den traditionellen Darstellungsformen emanzipiert62, doch wird gerade in der begrifflichen Neubestimmung von „Ausdruck“ durch die Gestaltpsychologen ein unübersehbarer Bruch mit dieser Tradition ma60
61 62
„Es gibt eben große Wissensgebiete, die sich von der Philosophie abgespalten haben und heute nur noch aufgrund exakter Experimente diskutiert werden können. Dazu gehört auch die Lehre von der Apperzeption und Begriffsbildung.“ Arnheim, R., Übernächtigte Demut. Vgl. Arnheim, R., Die Stuttgarter Werkbundausstellung, S. 639ff. Vgl. Kosenina, A., Gebärde, S. 577.
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nifest. Denn das Interesse der Gestaltpsychologen galt nicht länger den ästhetischen Formen und den durch sie „ausgedrückten“ seelischen Gehalten, sondern den „allgemeinen Eigenschaften phänomenaler Gestalten“ und ihrer sichtbaren Entsprechung zur „Materialnatur de[s]jenigen speziellen Geschehens“, „welche[s] wirklich im Nervensystem gestaltet verl[äuft]“63. Wie noch zu zeigen sein wird, folgt daraus, dass nicht nur die von Lichtenberg eingeführte Unterscheidung zwischen Pathognomik und Physiognomik überflüssig wird, sondern auch, dass die gestaltpsychologische Wahrnehmungslehre zum Paradigma einer neuen physiognomischen Praxis wird, deren Gegenstandsbereich sich folglich nicht auf die Mimik und den Körper beschränkt, sondern allgemein sichtbare „Gestalten“ umfaßt. Im Werk Rudolf Arnheims deutet sich die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Menschen als Untersuchungsgegenstand auf das Material des künstlerischen Produktionsprozesses an und damit – den Ergebnissen Wolfgang Köhlers partiell folgend – von der Physiologie neuronaler Prozesse, die das Wahrnehmungserlebnis prägt, zur Physik des künstlerischen Materials, die Ende der dreißiger Jahre in Arnheims Beschäftigung mit dem „Ausdruck“ als ästhetischem Phänomen ihren konkreten Niederschlag finden wird.64
4.2. Malerei Arnheims vornehmlich in der Weltbühne erschienene Artikel zur Malerei65 stimmen in ihren Grundaussagen mit seinen Ausführungen zum Film überein. Ihre neueren Entwicklungen werden kulturgeschichtlich durch die „Emanzipation der Form“ bestimmt, die auf die ‚Isolierung 63 64
65
Köhler, W., Die physischen Gestalten, S. 174. Allerdings hatte Köhler das Modell physikalischer Feldprozesse auf Hirnvorgänge übertragen. Zu Köhlers „Physicalism“ vgl. Ash, M., Gestalt Theory, S. 181, und Keiler, P., Isomorphie-Konzept und Wertheimer-Problem. Arnheims Interesse für die darstellende Kunst wurde sehr früh unterstützt durch den Freund der Familie und späteren Ehemann seiner älteren Schwester Leni, den Kunsthistoriker Kurt Badt, unter dessen fachkundiger Anleitung er bereits als Oberschüler Ausstellungen zu besuchen pflegte. Obwohl Arnheim an der Friedrich-Wilhelms-Universität u.a. auch kunsthistorische Vorlesungen bei Adolph Goldschmidt, Hans Kauffmann und Edmund Hildebrandt hörte, lässt sich ein Einfluss ihrerseits auf Arnheims frühe Kritiken in der Weltbühne nicht nachweisen. Vgl. Arnheim, R., Zur Psychologie der Kunst und ihrer Geschichte, S. 201f.
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von einer Gesamtkultur‘ folge.66 Unter Gesamtkultur verstand Arnheim eine Stilrichtung, die dem Kunstwerk seine darstellerischen Normen vorschrieb. Kriterien für das Verstehen neuerer Kunst sind Arnheim zufolge nicht Lust- und Unlustgefühle, d.h. die ästhetische Wirkung des Bildes, sondern „Bildungsgesetze“, die sich auf die formale Bildanordnung beziehen: Eine gelungene Komposition ist […] eine ebenso real anschauliche psychische Tatsache wie der Zusammenklang eines Quintenintervalls, die Symmetrie zweier paralleler Linien. Nur daß ein geringrer Grad von objektiver Notwendigkeit vorliegt: ein Bild ist ein so kompliziertes Gebilde, daß seine Gleichgewichtsverhältnisse sich nicht auf den ersten Blick ablesen lassen.67
Die „Bildungsgesetze“ gehen auf die Organisationsprinzipien der Wahrnehmung zurück, für die das „Gesetz des Ganzen“ oberstes Prinzip ist. Allerdings arbeitet Arnheim mit zwei divergierenden Betrachtungsweisen, wobei keine von beiden in sich konsistent und plausibel erscheint: Während er die Hinwendung zur Form kulturgeschichtlich erklärt, steht seine Beurteilung des künstlerischen Bildes unter dem Diktat von Gestaltgesetzen, die zwar begrifflich gefordert, durch die konkrete Anschauung selbst allerdings nicht eingelöst werden. Diese unterschiedlichen Ansätze sind vor dem Hintergrund des Überganges der (universal)geschichtlichen Analyse in die psychologisch-formale zu sehen, die das Gebiet der Kunstwissenschaft zu dieser Zeit im Allgemeinen prägte.68 Für die Gestaltpsychologen bedeutete Gleichgewicht die Ausgewogenheit von Feldkräften im Sinne einer „guten Gestalt“69. Übertragen auf das künstlerische Bild, geht es Arnheim jedoch zunächst nur darum, Einzelbeobachtungen zu sammeln, die keineswegs systematisch hinsichtlich der Organisationsprinzipien von Gestaltprozessen von ihm analysiert werden. In dieser Hinsicht ist die Art und Weise aufschlussreich, in der er die Malerei van Goghs von derjenigen Cézannes abgrenzt. Dieser „sieht die Welt räumlich, er zwängt alle Körper in einfache geometrische Formen“. „Deshalb sind seine Pinselstriche 66 67 68
69
Arnheim, R., Große Malerei, S. 225. Ebd., S. 226f. So stand etwa Wölfflins Analyse der Form den Versuchen Sempers oder Riegls gegenüber, welche die Entwicklungen in der Architektur und Malerei kultur- oder evolutionsgeschichtlich zu begründen versuchten. Köhler, W., Die physischen Gestalten, S. 259f., und Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 325.
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ohne alle lineare Bedeutung.“ Dagegen zeichne „van Gogh mit dem Pinsel“. Schlüsselbegriff für die qualitative Beurteilung der Werke beider Künstler ist die „lineare Bedeutung“. Während Arnheim als Elemente der Bilder Cézannes Formen ausmacht, die der Geometrie entstammen70, spielt der Terminus „lineare Bedeutung“ auf das Vorherrschen von Formen und Farben im Werk van Goghs an, die wahrnehmungspsychologisch motiviert sind: Er [van Gogh, U.B.] sieht einerseits homogene Flächen ohne alle Raumfunktion, andrerseits die Linie […]. Van Goghs beste Bilder sind ohne Raum; die Fläche verliert ihren dingbezeichnenden Charakter und wird zum bloßen Farbwert […]. Und während Cézanne alle Details eines Frauenkopfes in die Einfachheit einer Ellipsoidform einzuschmelzen sucht, steht der linearen Kunst van Goghs das Feld psychologischer Charakteristik offen.71
Arnheims Einschätzung der Bilder van Goghs setzt Erkenntnisse zur Wirkung von Farben voraus, wie die der Evokation von Gefühlswerten, die bereits die Impressionisten bei der Produktion ihrer Bilder berücksichtigten.72 Der Zusammenhang zwischen der Linie als Gestaltungselement im Werk van Goghs und der farbigen Flächigkeit seiner Bilder lässt sich dagegen als Wahrnehmungseindruck geschlossener Konturen auflösen.73 In ihrer Allgemeinheit zielt die „lineare Bedeutung“ dagegen auf ein konkretes, prinzipielles Beziehungsgeflecht von Bildteilen. Dieses erschließt sich allerdings nicht im Kontext der Gestaltpsychologie, sondern geht auf die psychologischen Implikationen von Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen zurück, was sowohl durch die Bezeichnung „lineare Kunst“ als auch durch das methodische Vorhaben Arnheims belegt wird, von einem optischen Stil auf psychologische Aus70
71 72 73
Im Gegensatz zu van Gogh versuchte Cézanne, trotz seiner Verhaftetheit im Impressionismus, wieder zum Gegenstand zurückzukehren. Maurice Merleau-Ponty hat nachweisen können, dass diese Gegenständlichkeit nur der Oberflächeneindruck der Bemühungen Cézannes ist, die Welt gleichzeitig so malen zu wollen, wie sie ist, und so, wie sie uns unmittelbar berührt. In diesem Sinne bezeichnete Cézanne sein Sehen als „logisches Sehen“. Vgl. Merleau-Ponty, M., Der Zweifel Cézannes, S. 44 und 52. Arnheim, R., Große Malerei, S. 227. Teuber, M., Zwei frühe Quellen zu Paul Klees Theorie der Form, S. 275. Dieser Einsicht liegt Edgar Rubins Figur-Grund-Differenzierung zugrunde, die besagt, dass in sich geschlossene Konturen nicht als Linien, sondern als Flächen wahrgenommen werden. Rubin, E., Visuell wahrgenommene Figuren.
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drucksmomente zu schließen. Wölfflin hatte die einfühlungspsychologische Methode seiner Dissertation zugrunde gelegt, um so die Ausdruckswerte architektonischer Formen zu erklären. In den Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen, in deren Kontext Wölfflin mithilfe polarer Stilbegriffe – wie linear und malerisch – den Gegensatz künstlerischer Epochen (Renaissance und Barock) zu beschreiben versucht, wird diese Methode nicht weiter expliziert, bleibt allerdings in der Argumentationsstruktur des Buches erhalten.74 Arnheim, der sich nachweislich mit der Einfühlungsästhetik erst nach seiner Emigration nach Amerika auseinander setzte75, teilte mit Wölfflin die Annahme, dass bestimmten Formen oder Formelementen ein spezifischer Ausdruckswert zukommt. Allerdings kommt dieser Wert für Arnheim nicht dadurch zustande, dass sich ein Betrachter in die Form einfühle, sondern Ausdruck ist zuallererst eine durch die künstlerische Form vermittelte subjektive Verhaltenskategorie, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Künstlers erlaubt und somit keine Gestaltqualität. Unter der Voraussetzung, dass „eine lebendige Psychologie […] aufräumen [wird] mit den unbestimmten und schlechtfundierten Vermutungen über das Wesen des künstlerischen Schaffensaktes“, wird man alle Form begreifen lernen als eine nicht vom gegenständlichen Erlebnis, sondern von den subjektiven Produktionsmitteln des Künstlers abzuleitende Erscheinung, und insbesondere der von Wölfflin aufgestellte Typus der ‚linearen‘ Zeichenkunst wird dann eine überraschende charakterologische Motivierung finden.76
Arnheim forderte eine Verknüpfung von formaler Analyse und Deutung der Künstlerpersönlichkeit. Dabei beruft er sich auf die Theorie Ernst Kretschmers, der in seinem damals weitverbreiteten Buch vom Körperbau auf den Charakter geschlossen hatte. Dieser Bezug ist insofern interessant, als er bestätigt, dass sowohl das Subjekt als auch die Persönlichkeit keine Gegenstände gestaltpsychologischer Forschung waren.77 Wölfflin hatte mit der „linearen Zeichenkunst“ eine Art zu sehen charakterisiert, bei der die „Linie als Blickbahn und Führerin des Auges“ ausgebildet wurde, sowie „die Begreifung der Körper nach ihrem tastba74 75
76 77
Vgl. Lurz, M., Heinrich Wölfflin, S. 192. Rudolf Arnheim erwähnt Lipps erstmals in seinem unveröffentlichten Manuskriptkonvolut Vasen (DLA), das er auf den 9.2.1941 datierte. Arnheim, R., Über introvertierte Kunst, S. 1. Vgl. Ash, M., Gestalt Psychology, S. 314.
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ren Charakter“78. Dagegen beschrieb Arnheim mit der „Verschlossenheit des Charakters, de[m] Mangel an unmittelbaren Einwirkungen der Außenwelt, d[em] lebhafte[n] Spiel einer von innen, nicht von außen her genährten Phantasie“79 die Art, sich selbst wahrzunehmen. Nicht nur wird Kulturgeschichte so zur Charakterkunde; indem die Malerei ihren Bezug zur Gegenstandswelt aufgibt und sich der Künstler nur noch der Introspektion hingibt, werden Psychologie und Malerei in ein komplementäres Verhältnis gesetzt, das die Eigenständigkeit beider Praktiken nivelliert.80 Während die Intentionen des malerischen Werkes vollständig in der psychischen Konstitution des Künstlers aufgehen, bedarf die Psychologie notwendig einer ergänzenden Form der Darstellung. Hier wird deutlich, dass das Vorhandensein und die Popularität von kunstwissenschaftlichen Methoden und Herangehensweisen Arnheim zumindest in den zwanziger Jahren einen eigenen Zugang zur bildenden Kunst erschwerte. Dieser Zugang deutet sich zwar in seiner Terminologie bereits an, wird aber durch die konkreten Beobachtungen und ihre Auswertungen nicht eingelöst. Denn obwohl die Gestaltpsychologie die Innenschau als Untersuchungsmethode psychischer Tatsachen bereits zugunsten der konkreten Verhaltensforschung aufgegeben hatte, geht Arnheim wie selbstverständlich in der Interpretation von der Persönlichkeit des Künstlers aus und offenbart so sein Verhaftetsein in der Genieästhetik vorangegangener Jahrhunderte. Anders als der Film, der lediglich „an die Wirklichkeit einerseits und an die politisch-wirtschaftlichen Mächte andererseits“ gefesselt ist und in dem sich „der Leerlauf der Form überall und immer wieder mit Händen greifen“ lässt, hat Arnheim bei der Betrachtung der Malerei „ein in Jahrhunderten vervollkommnetes Formge78 79 80
Wölfflin, H., Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 27. Arnheim, R., Über introvertierte Kunst, S. 1. Zur Popularisierung der Verbindung von Psychologie bzw. Psychopathologie und bildnerischer Gestaltung trug Hans Prinzhorns 1922 erschienenes Buch Bildnerei der Geisteskranken bei. Arnheim kannte dieses Buch, wie aus seiner Rezension eines Sammelbandes zur Charakterologie, in dem auch Prinzhorn mit einem Beitrag vertreten war, hervorgeht. Der Frage, inwieweit Prinzhorns Thesen mit gestaltpsychologischen Erkenntnissen korrespondierten – was eine Erweiterung seiner Thesen im Sinne von Arnheims Kunstpsychologie erlaubt hätte – widmete sich Arnheim erst in Amerika. Prinzhorn selbst distanzierte sich von diesen Ansätzen. Vgl. Prinzhorn, H., Bildnerei der Geisteskranken, S. 356; Arnheim, R., Rez. des Jahrbuches der Charakterologie, S. 186, und Palucca, G., Brief an Rudolf Arnheim vom 27.2.1985, DLA.
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fühl“, d.h. die historisch tradierte Ableitung der Form aus ästhetischen Theorien und kunstwissenschaftlichen Entwürfen zu berücksichtigen.81 Methodisch orientierte sich Arnheim an dem kunstwissenschaftlichen Ansatz Wölfflins, seine Ausführungen implizieren aber bereits einen anderen Formbegriff. Denn während Wölfflin, in der Tradition der formalen Ästhetik stehend, die Form als „Komplexion von Relationen“82 auffasst, weist Arnheim explizit auf ihren Ganzheitscharakter hin. Die Beziehungen zwischen den Teilen sind allerdings nur dahingehend festgelegt, als sie zwar in ein dynamisches Geschehen eingebunden erscheinen, abgesehen von dem Verhältnis zwischen Figur und Grund die Gestaltqualitäten dieser räumlichen Vorgänge von Arnheim aber nicht ermittelt werden. Dem entspricht, dass Arnheim den formalen Ausdruck des Kunstwerks an die Künstlerpersönlichkeit rückbindet und nicht als eigenständige Gestaltqualität expliziert. Dementsprechend changiert auch sein Formbegriff zwischen der noch sehr allgemein gehaltenen Bedeutung von Form als Gestalt und seiner umgangssprachlichen Bedeutung für künstlerische Gegenstände. Besonders deutlich kommt Arnheims populistisches Formverständnis in seiner Charakterisierung der Malerei Picassos zum Ausdruck: In den Kunstbüchern kann man lesen, daß hier die nackten Raumformen selbst zum Gegenstand der Malerei gemacht worden seien – der Kubismus ist, der Theorie nach, die plastische Malerei par excellence. Auch Picasso hat es wohl so gewollt. Sieht man aber hin, so zeigt sich allenthalben ein klägliches Scheitern: ein Kopf wird in geometrische Flächen zerlegt – gut, aber diese Flächen umhüllen keinen Körper, sie fahren ins Leere, sie schließen nicht richtig aneinander, sie gehen nicht nach hinten und nicht nach vorn, weil die Schraffuren voller falscher Tonwerte stecken, und zwischendurch zeigen sich überall die Reste reiner Flächenformen.83
Picassos Formbegriff ist nicht an der Geometrie geschult, sondern an den Traktakten zur Malerei, und begreift seine Auseinandersetzung mit kunstgeschichtlichen Traditionen mit ein. Arnheim weist selbst indirekt auf diese Beziehung hin, wenn er für Picasso geltend macht, dass sich seine Malerei durch einen „flächenhaften Linienstil“ auszeichne. Wölfflin 81 82 83
Arnheim, R., Teils gut, teils wichtig, S. 620. Wiesing, L., Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 44. Arnheim, R., Über introvertierte Kunst, S. 3.
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zufolge ist „die Fläche […] das Element der Linie, flächenhaftes Nebeneinander die Form der größten Schaubarkeit“84. Die „Unüberschaubarkeit“, die Arnheim dagegen bei Picasso konstatiert, resultiert daraus, dass Picasso den Raum in den Formen sich überlagernder Flächen und Ansichten auflöste. Davon lässt sich weniger „die akrobatische Labilität der Ausdrucksform“85 ableiten, als die kulturgeschichtlich bedeutsame Relativierung des ausgezeichneten Betrachterstandpunktes eines Subjekts, wie er durch die Zentralperspektive inthronisiert wurde, zugunsten einer Polyperspektivik der Darstellung.86 Arnheims Verhaftetheit in der Gestaltpsychologie führt dagegen dazu, dass er die Zerlegung einzelner Formen ganz allgemein als Gestaltzerfall interpretiert. Dem Schema der zeitgenössischen Charakterologie87 folgend, schließt er vom Ausdruck der Malerei Picassos auf dessen Persönlichkeit88 und verkennt so seine eigentliche historische Bedeutung. In seinen Überlegungen zu neuen Entwicklungen in der Malerei, die ihren Ausgang von der Emanzipation der formalen Mittel nehmen, polemisierte Arnheim hauptsächlich gegen das Nachahmungsideal, welches die Wirkungsästhetik von Kunst bisher bestimmt habe. Bis in die Gegenwart hat das Vorhandensein eines festen Kunststils immer verhindert, daß der Satz [dass der Künstler die Natur nachahme, U.B.] im Sinne einer Kopie des psychologischen Wahrnehmungsbildes ausgelegt werden konnte. Ist dieser Punkt aber erreicht, so degradiert sich die Nachahmungstheorie zur Proklamierung eines unschöpferischen Stumpfsinns […]. Denn 84 85 86
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88
Wölfflin, H., Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 27f. Arnheim, R., Über introvertierte Kunst, S. 4. „Er [der Kubismus, U.B.] sah Objekte gleichsam relativ, von verschiedenen Standpunkten aus, von denen keiner absolute Autorität über die andern hatte.“ Giedion, S., Raum. Zeit. Architektur, S. 280. Es ist bezeichnend, dass in der Zeit, in der Arnheim an der Friedrich-Wilhelms-Universität studierte, Johannes von Allesch sowohl Lehrveranstaltungen zur Ästhetik als auch zur Charakterologie durchführte. Vgl. FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin, Verzeichnis der Vorlesungen. Nach diesem Muster und mit diesen Merkmalen versehen, waren die Zeichnungen von „Schwachsinnigen“ gedeutet worden (vgl. Lewin, K., Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie, S. 18). Sechzig Jahre später distanzierte sich Arnheim von dieser Deutungspraxis: „Ob eine solche echte Gestaltsicht auch außerhalb der Wahrnehmung, etwa in der Auffassung einer Persönlichkeit, möglich ist, ist mir sehr zweifelhaft“. Arnheim, R., Zur Psychologie der Kunst und ihrer Geschichte, S. 210.
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diese neue Sachlichkeit ist eine sehr alte: es ist die aesthetisch ganz uninteressante Sachlichkeit des Laienauges, es ist die stückhafte Richtigkeit der Einzelform.89
Arnheims Argumentation reagiert auf den grundlegenden Wandel, der sich in der Nachahmungstheorie im 19. Jahrhundert vollzogen hatte: An die Stelle der Erkenntnis der Natur qua Bild tritt ihr subjektives Wahrnehmungserlebnis. Dies impliziert die Vorstellung, dass Reize adäquat im Bewusstsein abgebildet werden und sich aus ihrer Summierung das Bild der Außenwelt formt. Dieser so genannten Mosaikthese und dem mit ihr verbundenen Elementarismus hatte bereits Wertheimer vehement widersprochen. Entgegen ihrer Annahme, dass „allem ‚Komplexen‘ […] als Grundlage, die Summe nebeneinander gegebener elementarer Inhalte, Bestandstücke (Empfindungen usw.) zugrunde[liegt]“90, machte er geltend, dass von der Mosaik- und Assoziationsthese aus […] Erfassung, Erklärung, irgend sinnvoll, sachgemäßen Geschehens oder Seins als solchem prinzipiell nicht erreichbar [ist] […]. Denn: für sie ist konstitutiv das Und-Summenhafte, sachlich gegenseitig Blinde der Stücke; der Aufbau aus Stücken von unten her und zwar so, daß inhaltsfremde, äußere Faktoren bestimmen, was verbunden wird; während für sinnvolle Vorgänge charakteristisch sein soll, daß, was geschieht, aus sachlichen Gefordertheiten geschieht, aus inneren Gründen.91
Da die ‚unsachliche, vom naturalistischen Ideal emanzipierte Formgebung‘ lediglich dazu führt, dass der Maler „mit der Form zu spielen“ beginnt und „auf ungefähren Anhaltspunkten des Objekts unverbindliche Ornamente auf[baut]“92, resultiert die „stückhafte Richtigkeit der Einzelform“ Arnheim zufolge aus „falschen“ psychologischen Erklärungsmustern des Wahrnehmungsbildes. Arnheims Kritik an dem durch die neue Sachlichkeit proklamierten Zusammenhang von künstlerischem Bild und psychologischem Wahrnehmungsbild richtet sich gegen die Verabsolutierung eines psychologisch „falschen“ Abbildungsverhältnisses. „Richtig“ dagegen ist die strukturelle Übereinstimmung beider auf der Grundlage von „Gestaltgesetzen“, wobei die dynamischen Wahrneh89 90 91 92
Arnheim, R., Neue Sachlichkeit und alter Stumpfsinn, S. 592. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I, S. 48f. Ebd., S. 57. Arnheim, R., Große Berliner Kunstausstellung, S. 985f.
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mungsvorgänge das Modell für künstlerische Bildungsgesetze liefern, die das Bild als Ganzes und den sich darin ausdrückenden Zusammenhang von (nicht isolierbaren) Bildteilen als autonome Einheit begreifen. In diesem Kontext muss hervorgehoben werden, dass sich Arnheim vor dem Hintergrund zeitgenössischer psychologischer Theorien zwar mit der Malerei der Neuen Sachlichkeit auseinander setzte, sein Kunstverständnis aber hauptsächlich am Impressionismus93 geschult war. Dies belegen vor allen Dingen seine Kritiken der Malerei Picassos und Paul Klees, wobei er gerade im Falle des letztgenannten übersieht, dass sich dieser nachweislich darum bemühte, gerade durch die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Wahrnehmungslehre94 zu einem neuen künstlerischen Stil zu finden: Dem Maler Klee ist es gelungen, sich mit seiner Hände Arbeit zu einem Stadium durchzuringen, das alle anderen Menschen als Quintaner durchmachen, wenn sie, vom Unterricht gelangweilt, ihre Löschblätter bemalen, ihre Finger unartig spazieren gehen lassen, wobei dann der Kringel unversehens zum Naturgegenstand und der Naturgegenstand zum Kringel wird, wo Gewolltes und Nichtgewolltes gemächlich nebeneinander stehen […]. Man kann weiterhin zeigen, wie jeden Augenblick die Gegenstandsvorstellung durch die Undiszipliniertheit der Hand abgebogen und dem Kalligraphischen geopfert wird. Dabei ist in der Linienführung wenig Gefühl für Flächenfüllung – man könnte das Format beliebig ändern.95
Arnheim polemisierte sowohl gegen die angebliche Beliebigkeit der (ornamentalen) Formen Klees als auch gegen das durch sie ausgedrückte 93
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So beruft sich Arnheim mehrfach und explizit auf die 1922 im Verlag Bruno Cassirer erschienenen Gesammelten Schriften von Max Liebermann als den theoretischen Hintergrund seiner Kunstkritiken. Vgl. Arnheim, R., Die AkademieAusstellung, S. 868, und Brief an den Maler Kirchner, S. 395. Unter Hannes Meyer wurden Vorlesungen über Psychologie am Bauhaus eingeführt. Diese bestritt in den Jahren 1930 und 1931 Dr. Karlfried Graf von Dürckheim als Gastdozent. Er gehörte zur Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie und war ein Schüler Felix Kruegers. Im Gegensatz zu den Gestaltpsychologen betonte Krueger die Funktion von Gefühlen und des Willens bei der Erfahrungsbildung. Dürckheims Ausführungen zur Form, zum Raum, den Gefühlen und zur Persönlichkeit beeinflussten sowohl Klee als auch Kandinsky. Vgl. Wingler, H.M., Das Bauhaus, S. 166f., und Ash, G., Gestalt Psychology, S. 311. Arnheim, R., Klee für Kinder, S. 171.
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mangelnde Können des Künstlers. Hinzu kommen „Undiszipliniertheit“, d.h. ein fehlendes gestalterisches Bewusstsein, und ungenügende Raumaufteilung sowie Flächenfüllung. Marianne Teuber hat überzeugend nachweisen können, dass Klee seinen Formbegriff aus den physiologischen Studien über Formwahrnehmung von Ernst Mach und Friedrich Schumann ableitete.96 Nicht von ungefähr galt Mach die Ornamentik (wie sie Owen Jones in seinem Buch Grammar of Ornament darstellte) als Beispiel und Beweis für die Existenz von parallelen Elementen- und Empfindungskomplexen.97 Der Elementarismus Machs kehrt nun insofern in Klees Bildanordnungen wieder, als diese nicht in „gestalteten Ganzheiten“ aufgehen, sondern aus Formelementen („Punkten, Linien und Flächen“98) – den abstrakten Elementen der Empfindung99 – aufgebaut sind. In diesem Zusammenhang lässt sich der ‚Zeichner [keineswegs] vom Ergebnis überraschen‘, sondern kalkuliert bereits bei der Gestaltung von Mustern, dass sich „gewisse Formelemente herauslesen und zu verschiedenen Konfigurationen zusammengruppieren“100 lassen. Im Unterschied zu den Prämissen der Gestaltpsychologie begriff Klee die Gestaltwerdung als Produkt von Bewusstseinsprozessen. Entscheidend für Klees malerisches Verständnis ist die Spannung zwischen den Elementen, die Betonung der Formung und nicht der starren Form.101 Aus der Forderung nach der Darstellung des „Werdens“ leitete Klee die Gegenstände und Themen seiner Bilder ab. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Empfindungen für Mach nur bei Kindern und heranwachsenden Tieren ursprünglich und elementar sind, da „mit der Entwicklung der Intelligenz [der Summe von Erinnerungen bzw. Erfahrungen, U.B.] […] die Sinnesempfindungen […] immer mehr durch den Intellekt ergänzt und ersetzt“102 werden. Indem Arnheim konstatiert, dass Kinder „die Linien auf dem Papier [die Bilder Klees, U.B.] für ein Stück Wirklichkeit [nehmen], weil ihnen die für alles Kunstverständnis als Voraussetzung notwendige Vorstellung fehlt, daß der Künstler die Wirklichkeit interpretiert, nicht neue Wirklichkeiten schafft“103, er96 97 98 99 100 101 102 103
Vgl. Teuber, M., Zwei frühe Quellen zu Paul Klees Theorie der Form. Mach, E., Die Analyse der Empfindungen, S. 96. Vgl. Klee, P., Das bildnerische Denken, S. 125. Teuber, M., Zwei frühe Quellen zu Paul Klees Theorie der Form, S. 277. Ebd., S. 282. Vgl. Klee, P., Das bildnerische Denken, S. 125 und S. 169. Mach, E., Die Analyse der Empfindungen, S. 161. Arnheim, R., Klee für Kinder, S. 173.
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kennt er zwar die Motivation dieser Bilder, die in der Wiedergabe des „reinen Sinnesmaterials“ (wie es sich nur bei Kindern finden lässt) liegt104, nicht jedoch die damit verbundene entscheidende Gestaltungsintention Klees: nämlich die Ableitung der künstlerischen Form von der physiologischen Formwahrnehmung. Genau darin aber offenbart sich die Wesensverwandtschaft zwischen Klees ästhetischem Konzept und Arnheims kunstpsychologisch motivierter Interpretationsmethode, die er Jahre später systematisch entwickeln sollte und in deren Kontext er auch der Malerei Paul Klees späte Gerechtigkeit widerfahren ließ. Diese Entwicklung setzte eine Neudefinition des Begriffes „Ausdruck“ voraus: Er ist weder in einem rein charakterologischen Sinne subjektgebunden noch durch eine Kausalbeziehung zwischen Künstler und Werk determiniert, sondern erlaubt als Gestaltqualität lediglich Aussagen hinsichtlich der dynamischen Struktur des Werkes. Der Prozess der Begriffsfindung wird in Arnheims Buch Film als Kunst in Gang gesetzt, in dessen Rahmen auch Paul Klee erstmals positiv erwähnt wird. Hier begründet Arnheim die Ablehnung der Malerei Klees mit dem Argument, „sie sei nicht naturgetreu“105. Mit dieser Behauptung legte er die eigentlichen Gründe für seine zurückweisende Haltung der Bilder Klees offen: Seine Einstellung basierte zwar auf der Abkehr von einem Abbildideal, allerdings verfügte Arnheim zu dieser Zeit noch nicht über einen Formbegriff, der eine nichtmimetische Kunstbetrachtung zu begründen vermocht hätte.
4.3. Tanz Arnheims Hinwendung zum Tanz entsprach einem in der Weimarer Republik weitverbreiteten Interesse. Es gründete sich darauf, dass der Tanz sich von der „Spitzentechnik“ des klassischen Ballettstils befreit hatte und zum Ausdruck der natürlichen Bewegung „des Menschen, wie er ist“106 gelangt war. Neben diesen allgemeinen gab es auch persönliche Gründe: 1927 – kurz nach ihrer Trennung von der Tanzgruppe Mary 104
105 106
In diesem Sinne wusste sich bereits Ernst Mach zu erinnern, dass ihm „in einem Alter von etwa drei Jahren alle perspektivischen Zeichnungen als Zerrbilder der Gegenstände erschienen“. Mach, E., Wozu hat der Mensch zwei Augen, S. 88. Arnheim, R., Film als Kunst, S. 322. Arnheim, R., Technische Improvisationen, S. 827.
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Wigmans107 – lernte Arnheim Gret Palucca anlässlich einer ihrer Performances am Dessauer Bauhaus kennen. In der Folge dieser Begegnung entstand jener Artikel, in dem Arnheim eine erste Charakterisierung der Tänze Paluccas wagt: Es geht um einen Tanz, der nicht Stimmungsausdruck oder Darstellung sein, sondern auf den Möglichkeiten des menschlichen Körpers eine reine Bewegungskunst aufbauen will. Diesem Ziel dient eine technische Vollkommenheit, wie es sie heute wohl nicht noch einmal gibt; jedes Aufstehen, jedes einfache Gehen ist ein Wunder an Ausgeglichenheit der Kurve und ruft nach der Zeitlupe.108
In Arnheims Ausführungen zeichnet sich der Tanz durch die Selbstreferentialität der Bewegung aus. Der menschliche Körper und die durch ihn ausgeführten Bewegungen verschmelzen zu einer physischen Einheit und können nicht im Sinne von Darstellungsmittel und dargestelltem Gegenstand auseinander dividiert werden. Mit seinen Ausführungen grenzt sich Arnheim vor allen Dingen von dem expressiven Ausdruckstanz Mary Wigmans ab. Diese beschrieb den Tanz als „Ausdruck gesteigerten Lebensgefühls“ und sah als seinen Gegenstand die Darstellung von „Wandel und Wechsel seelischer Zustände“ an.109 Wigmans Aussagen setzen voraus, „daß der Körper eine Art Gehäuse der Seele sei“, um Seelisches durch den Körper darzustellen. Sie widersprechen der von Arnheim auf der Grundlage der Isomorphie formulierten Behauptung, „daß in Körper und Seele der gleiche Formtypus, das gleiche Formniveau, die gleichen Spannungsverhältnisse herrschen müssen“110. Die Tänze Paluccas bildeten fortan den fast ausschließlichen Gegenstand von Arnheims Artikeln zu diesem Thema in der Weltbühne. Darüber hinaus weisen sie Spuren seiner Auseinandersetzung mit den im Umfeld des Bauhauses entwickelten Vorstellungen zum Tanz auf, die eher einer Abgrenzung dienten als dazu, gemeinsame Positionen zu bestärken. So hatte bspw. Wassili Kandinsky 1926 festgestellt, dass das Spezifische der Tänze Paluccas „der selten genaue Aufbau nicht bloß des Tanzes in der zeitlichen Entwicklung, sondern in erster Linie der exakte 107 108 109 110
Ebd., S. 828. Arnheim, R., Palucca (1927), S. 315. Wigman, M., Sprache des Tanzes, S. 9. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft II, S. 602.
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Aufbau einzelner Momente“ sei, woraus er die Forderung ableitete, dass „der Tanz Paluccas […] unbedingt mit Zeitlupe aufgenommen werden [sollte], wodurch eine exakte Prüfung dieses exakten Tanzes ermöglicht würde“111. Während Kandinsky in der Zeitlupe ein technisches Hilfsmittel sah, das es ihm erlaubte, die Charakterzüge der tänzerischen Form genau zu bestimmen, verwendete Arnheim die Zeitlupe sowohl in metaphorischer Prädikation als auch metonymisch: Die von Palucca neu entworfenen Bewegungsformen weisen die gleichen Qualitäten wie jene Gestalten auf, die durch das filmische Mittel der Zeitlupe gebildet werden können. Arnheims Deklaration einer „reinen Bewegungskunst“ unterscheidet sich insofern von Kandinskys Übersetzung der Bewegungen Paluccas in graphische Sprungschemata, als dieser damit beabsichtigte, die durch sie ausgedrückten Spannungsverhältnisse in geometrische Formen zu übertragen.112 Paluccas tänzerische Darbietungen am Bauhaus gehen nicht nur auf die persönliche Bekanntschaft mit Paul Klee und Walter Gropius zurück, die sie im Elternhaus ihres Mannes Friedrich Bienert kennen lernte, dessen Mutter eine einflussreiche Kunstmäzenin war.113 Sie sind vor allen Dingen Ausdruck eines allgemeinen Interesses, das die Bauhäusler nahezu jeder neusachlichen Kunstausübung entgegenbrachten, die eine Zweck-Mittel-Rationalität erkennen ließ. Bereits in Weimar hatten sich einige Bauhäusler den künstlerischen Möglichkeiten zugewandt, die Bühne und Tanz eröffneten. Es kam allerdings nie dazu, diese Interessen institutionell zu verankern, sie blieben auf die privaten Initiativen von Paul Klee, László Moholy-Nagy, Oskar Schlemmer und Wassili Kandinsky beschränkt. Erst nach dem Umzug nach Dessau wurde dem Lehrbetrieb auch eine Bühnenklasse eingegliedert, mit deren Leitung Oskar Schlemmer betraut wurde. Sein Lehrprogramm leitete er „aus der konsequenten Anwendung ihrer [d.h. jeder künstlerisch und handwerklich technischen Gattung, U.B.] Mittel, Materialien, Möglichkeiten und Bedingungen“114 ab. In Schlemmers Konzept einer ganzheitlichen Gestaltdarstellung und Arnheims Aufsätzen zum Tanz in der Weimarer Republik zeichnet sich insofern ein gemeinsamer Nenner ab, als in beiden der Einfluss wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Natur des Menschen sichtbar wird, 111 112 113 114
Wassili Kandinsky, zitiert nach Krull, E., und Gommlich, W., Palucca, S. 13f. Vgl. Kandinsky, W., Punkt und Linie zu Fläche, S. 43ff. Vgl. Sarchow, P., und Stabel, R., Palucca, S. 33. Vgl. Maur, K., Oskar Schlemmer, I, S. 130.
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die sowohl Schlemmers „Grundbegriff des Menschen“115 mitprägten als auch Arnheims Vorstellungen der tänzerischen Bewegung als einer natürlichen Ausdrucksform. Die nüchterne Sachlichkeit der Tänze Paluccas verstand Arnheim als Reaktion auf den Expressionismus116, in dem das Streben nach Ausdruck zu einer Hypertrophie der darstellerischen Mittel geführt hatte: In Paluccas Tänzen ist kein Restchen mehr von jener Genrekunst, die mit Krinolinen, Negermasken, Busenschildern und Schleiern den Leuten kleine Kabarettgeschichten vormimte. So wie ihre Kostüme nur mit der Schönheit glatter Farbflächen und mit der Anmut biegsamer Falten wirken und weder Amazone noch Bajadere vortäuschen wollen, so ist die Ausdruckskraft der Bewegung, das Elegische und das Übermütige, das Torkeln und das Schreiten, das Attackieren und das Zurückweichen, für sie nur Material, um optische Melodien zu bauen […]. Im Tanz tritt, gerade weil die verfügbaren Elemente primitiver, überschaubarer und an Zahl viel geringer sind als in allen übrigen Künsten, das Wunder schöpferischer Einfälle am allerhandgreiflichsten zutage.117
Arnheim begründete die Überlegenheit des Tanzstils Paluccas gegenüber dem Ausdruckstanz mit dem Argument der Angemessenheit des Ausdrucks als Moment der Bewegung, der sich nicht verselbständige und damit den Tanz als Ganzen in Frage stelle. Er schließt an eine Begriffsbestimmung von Ausdruck an, für die nicht mehr – wie noch im Falle seiner Ausführungen zur Malerei – die „Struktur der Subjektivität“ (im Sinne der Veräußerlichung eines Seelischen oder Körperlichen) konstitutiv ist.118 Vielmehr bezeichnet Ausdruck eine Eigenschaft der Bewegung und attribuiert somit einen Geschehensvorgang. Die Objektivierung der Bewegung geht mit ihrer Formalisierung einher; diese wiederum ist nur 115 116
117 118
Ebd., S. 131. Auch wenn Arnheim an dieser Stelle Paluccas Tanz von künstlerischen Darbietungen abgrenzt, deren Attribute auf den Expressionismus deuten, ist zu beachten, dass Arnheim grundsätzlich zwischen dem Expressionismus, unter dem er eine bestimmte Stilrichtung in der Malerei versteht, und dem Ausdruckstanz unterscheidet, der nicht unter diese Stilrichtung zu subsumieren ist. Diese Differenzierung basiert auf den unterschiedlichen darstellerischen Mitteln, die in beiden zur Anwendung kommen. Vgl. Arnheim, R., Brief an Professor Peter W. Guenther vom 24.9.1980, AAA. Arnheim, R., Palucca (1929), S. 751. Vgl. Gumbrecht, H., Ausdruck, S. 418ff.
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möglich, weil die Tänzerin sich von Rollenbildern („Amazone, Bajadere“) befreit hat und mit ihren Vorführungen „Gefühle“ ausdrückt, die als ästhetische Qualität der Bewegung selbst innewohnen und nicht erst als Ergebnis reflektierender Bewusstseinsprozesse entstehen.119 Es ist offensichtlich, dass Arnheims Bestimmung des Ausdrucks psychologisch konnotiert ist. Gleichwohl wird ein weiteres Vorbild in seiner Überlegung erkennbar: In seinem Aufsatz Über das Marionettentheater hatte Kleist für den Verlust der Anmut das Selbstbewusstsein verantwortlich gemacht. Daraus leitete er den Vorteil ab, „den Puppen vor lebendigen Tänzern voraus haben würden“: Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unsrer Tänzer sucht.120
Nun entspricht nicht die Marionette und die von ihr ausgeführte mechanische Bewegung Arnheims Kunstideal, sondern ein „wohlgebauter und wohlgeübter Körper in seiner natürlichen Funktion“121. Hinzu kommt, dass nicht das „Erleben des Ausdrucks“ einzelner Glieder bzw. Bewegungsabschnitte das Entscheidende ist, sondern der ganzheitliche Bewegungsablauf, die „optische Melodie“. Diese metaphorische Bezeichnung impliziert zwei Referenzebenen. Zum einen bezieht sie sich auf die Verknüpfung der Bewegungsfolgen, deren visuelle Wahrnehmung Arnheim 119
120
121
Dies bestätigt Arnheims Kritik an der Tanzkunst Niddy Impekovens. Hier benutze ein Mädchen „seinen begabten Körper, um eine Sehnsucht, eine Trauer, eine Versonnenheit zu mimen, die sie im Kopf, aber nicht in den Beinen hat“. Arnheim, R., Niddy Impekoven, S. 483. Kleist, H.v., Über das Marionettentheater, S. 559. Diesen Abschnitt zitiert Arnheim in seinem Buch Kunst und Sehen (S. 406). Dass Arnheim aus den Werken Kleists bereits in den zwanziger Jahren wichtige Impulse für seine eigenen Überlegungen bezog, belegt die Tatsache, dass er seinem 1933 in der Weltbühne erschienenen Artikel zu Gottfried Benn Die Flucht vor den Schachtelhalmen ein Zitat aus Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater voranstellte. Wenige Zeit später übertrug Arnheim diesen Aufsatz Kleists ins Italienische. Arnheim, R., Technische Improvisationen, S. 829.
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mit der akustischen von Melodien analogisiert. Für diese hatte Wertheimer geltend gemacht: daß die einzelnen Töne in der Melodie klar, prägnant als Teile gegeben sind; und wenn man vor dem Weitergehen die Art des Gegebenen zu fassen sucht […] so ergibt sich schön Charakteristisches: die Töne sind in ihrem Charakter noch gar nicht recht ‚fertig‘, sind unbestimmteren, noch labilen Charakters […] sind fertig, fest und bestimmt nur dann, wenn der letzte z.B. als ‚Schlußton‘ da ist und damit alles festgelegt.122
Die Bewegungsfolgen lassen sich nicht als einzelne Teile wahrnehmen und stellen keine Ausdruckselemente123 dar; sie sind von vornherein als Teile eines Ganzen charakterisiert. Zum anderen verweist der Terminus „optische Melodien“ auf die Materialität der Bewegung, die zwar anschaulich vorhanden, aber begrifflich nicht fassbar ist. Denn Paluccas Tänze gehen weder in der Abbildung menschlichen Denkens und Fühlens auf, noch ist ihre expressive Kraft mit dem Pathos der Leidenschaften identisch; stattdessen wurzelt „ihr Tanz […] fest in der Tonleiter der gymnastischen Urformen, immer ist sein Ausdruck zugleich einfach beschreibbare Gliederbewegung“124. Die Unbestimmtheit ihrer Tänze als Körperkunst, „die etwas bedeuten können, auch wenn sie keine Gegenstände bezeichnen“125, wird jedoch auch nicht durch die Erklärung der physikalischen und formalen Gesetze der Bewegung aufgehoben. So kann die Frage nach der konkreten Bedeutung dieser ganzheitlichen Gebilde nicht beantwortet werden: Denn streng erfaßbar sind eben nur Tatbestände, die sich auf einfache Maßbegriffe, etwa auf Zahlen, zurückführen lassen. Eine Tonhöhe beispielsweise kann ich durch die Frequenzzahl physikalisch eindeutig bestimmen, und setze ich eine Serie solcher Frequenzzahlen nebeneinander, so kann ich die Reihenfolge einer Melodie angeben. Das Eigentliche einer Melodie aber, die dynamischen Charaktere des Auf und Ab, das Verhältnis der Intervalle kann ich nicht definieren, obwohl es sich um ein durchaus offenliegendes, klares Phänomen der Wirklichkeit handelt.126 122 123 124 125 126
Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 350. Herv. U.B. Arnheim, R., Palucca (1932), S. 886. Arnheim, R., Technische Improvisationen, S. 829. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft I, S. 557.
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Arnheim analogisiert die Eigenschaften von Kunstwerken mit bestimmten Gestaltqualitäten. Diese Analogien schaffen die Voraussetzung dafür, dass er auf künstlerische Phänomene zurückgreifen kann, um gestaltpsychologische Erkenntnisse zu veranschaulichen, die terminologisch nicht explizierbar sind. Dabei setzt die Unmöglichkeit, Bedeutungen begrifflich darzustellen, einen Prozess der Metaphorisierung in Gang, in dessen Folge die Kunst nicht nur zum Bildspender wird, der Bedeutungsmöglichkeiten für naturwissenschaftliche Phänomene und Vorgänge schafft, sondern der auch eine – zumindest partiell – ästhetische Struktur dieser Phänomene impliziert. Eine solche Funktion kann nur eine Kunst erfüllen, die nicht dem Ideal der Nachahmung untersteht, sondern deren Kraft in der Möglichkeit zur formalen Gestaltung selbst liegt. Mit anderen Worten, sie kann nur dann Bedeutungen schaffen, wenn dem Phänomen oder Vorgang, der mit Bedeutung begabt werden soll, eine bestimmte „Gestalt“ (Form) bereits inhärent ist. Diese Voraussetzung aber ist durch die Grundannahme der Gestaltpsychologen gegeben, die besagt, dass sich Gestaltung in sensorischer Dynamik vollzieht.127 Dabei bezeichnen „Bau und Funktionen des irdischen Körpers“128 sowohl die Vorgänge, auf die sich das naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse (der Gestaltpsychologen) primär richtete, als auch ideale Modellanordnungen der ästhetischen Anschauung. Was bedeutet das konkret für die Bewegung sowohl als künstlerische Darstellungsweise als auch im Hinblick auf die hier hypothetisch vorausgesetzte Veranschaulichung konkreter gestaltpsychologischer Phänomene? Den Untersuchungsergebnissen der Gestaltpsychologen entsprechend ist „phänomenale Bewegung […] Verschiebung im natürlichen Bezugssystem“129. Für den Tänzer ist das Bezugssystem der Umgebungsraum, das Medium seiner Kunstausübung der eigene Körper. Für den 127
128 129
“In fact, the most fundamental axiom of the gestaltists was that perception is controlled by the configurations offered by the outer world. Köhler’s entire theory of values depends on the assertion that values are objectively valid because they reflect objective situations. The entire perceptual work equally depends on this assumption, in Wertheimer, in Koffka, etc. They conduct a lifelong controversy against the anglosaxonian tradition, going back to the empiricists, that shape is imposed on the world by conceptions based on past experiences or some similar internally generated principle.“ Arnheim, R., Brief an John Kennedy vom 18.2.1981, AHAP. Arnheim, R., Technische Improvisationen, S. 827. Vgl. Krolik, W., Bewegungssehen, S. 99.
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Zuschauer dagegen ist der Tanz eine visuelle Darbietung, sein Umgebungsraum der optische Raum. Entscheidend dabei ist, dass nicht erst seine Wahrnehmung des Tanzes der Bewegung bestimmte Ausdruckswerte zuordnet, Ausdruck ist der Bewegung selbst inhärent. Ein Erklärungsmodell für diesen Sachverhalt lieferte Arnheim zu einem späteren Zeitpunkt mit Bezug auf Max Wertheimer: Max Wertheimer war es vor allem, der erklärte, die Wahrnehmung von Ausdruck sei viel zu unmittelbar und zwingend, als daß sie einfach als Ergebnis eines Lernvorgangs hingestellt werden könne. Wenn wir einer Tänzerin zusehen, scheint die traurige oder heitere Stimmung unmittelbar aus den Bewegungen selbst zu kommen. Wertheimer folgerte, das sei deshalb richtig, weil formale Faktoren im Tanz identische Faktoren in der Stimmung hervorbrächten […]. Der ‚Isomorphismus‘, d.h. die Strukturverwandtschaft zwischen dem Reizmuster und dem Ausdruck, den es vermittelt, läßt sich sehr schön an einfachen Kurven zeigen.130
In seinen Aufsätzen zum Tanz aus den zwanziger Jahren ist der Widerspruch unverkennbar, der sich durch das Postulat einer neuen Ausdruckskunst und ihrer Charakterisierung als „reiner“, d.h. von der Intentionalität des Bewusstseins nicht betroffener, Bewegungskunst manifestiert. Dieser Widerspruch geht auf die starke Verhaftetheit Arnheims in der experimentalpsychologischen Forschung seiner Zeit zurück. Denn zu diesem frühen Zeitpunkt überträgt Arnheim größtenteils Begriffe aus der Psychologie in die Ästhetik, ohne sie entsprechend zu modifizieren. Gleichwohl führt die in dieser Praxis angedeutete begriffliche Erweiterung ästhetischer Sachverhalte bereits zu einer Neukonnotierung von „künstlerischer Darstellung“. Insofern Arnheim Ausdruck und Darstellung synonym verwendet, sind beide gleichwertige „ästhetische“ Qualitäten. Unter „Kunst“ werden nicht länger nur gegenständliche Darstellungen subsumiert, sondern allgemein „ausdruckshafte“ Werke131: 130 131
Arnheim, R., Kunst und Sehen, S. 453. Arnheim selbst erinnerte zu einem späteren Zeitpunkt daran, dass die Traditionslinie einer ungegenständlichen Kunstgeschichtsschreibung durch Wilhelm Worringers Dissertation Abstraktion und Einfühlung begründet und durch Daniel-Henry Kahnweiler in einen konkreten Zusammenhang mit dem Kubismus gebracht wurde. Arnheim zufolge leitete Worringer allerdings die Rolle, die die Abstraktion in der künstlerischen Praxis durch die Jahrhunderte spielte, weniger aus konkreten kunstgeschichtlichen Untersuchungen als aus dem Lebensgefühl der Jahrhundertwende ab. Vgl. Arnheim, R., Abstraction and Empathy in Retrospekt, S. 10.
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Der Körper der Tänzerin ist das formale Mittel, sein Ausdruck nicht mit dem seelischen oder körperlichen Gehalt, der sich in der menschlichen Mimik und Pantomimik offenbart, in eins zu setzen.133 Beiden gemeinsam ist lediglich der ihnen innewohnende „dynamische Charakter“, der jedoch Gestaltvorgänge im Allgemeinen auszeichnet und kein hinreichendes Kriterium für ihre Unterscheidung bietet. Daraus lässt sich die These ableiten, dass jeder dynamische Vorgang ausdruckshaft ist, wobei die tänzerische, keine Inhalte vermittelnde Bewegung beispielhaft diese Vorgänge veranschaulicht. Darin liegt zugleich die Ursache für Arnheims generellen Verzicht auf Bewegungsanalysen sowohl im Kontext des Films als auch im Hinblick auf seine physiognomischen Studien. Denn hier sind die künstlerischen Formen (Gestalten) jeweils an eine konkrete Bedeutung gebunden – sei es der Inhalt des Films oder der Charakter eines Menschen –, die auch den Ausdrucksgehalt der Bewegung determiniert. Arnheim passt seine Analyse des Tanzes auch insofern der Terminologie der Gestaltpsychologen an, als Ausdruck „nur“ eine Gestaltqualität bezeichnet. Entscheidend ist jedoch die Gestalt in ihrer Ganzheit. Übertragen auf den Tanz bedeutet dies, dass Paluccas „Improvisationen nicht Kunst [sind] und […] keine sein [wollen]. Sie sind unorganisiertes Material, katalogartig dargeboten“134. In dem mangelhaften Aufgehen der Teile in einem letztendlichen Ganzen wird sich für Arnheim zu einem späteren Zeitpunkt ein Grundzug menschlicher Wahrnehmung offenbaren.135 Dies erklärt zugleich, warum Arnheims Tätigkeit als Kunstpsy132 133
134 135
Arnheim, R., Technische Improvisationen, S. 829. Darin unterscheidet sich Arnheim auch von Karl Bühlers Handlungstheorie des Ausdrucks, die als „Grammatik der Ausdruckslehre“ hauptsächlich „die Funktion der Ausdrucksbewegungen im sozialen ‚Verkehr‘“ untersucht. Vgl. Lethen, H., Verhaltenslehren der Kälte, S. 104 und 110. Arnheim, R., Technische Improvisationen, S. 830. „If Kracauer’s principle applies to the arts employing the raw materials of optical reality and to history as the story of human behavior […]. Should not is
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chologe seinen Ausgang von seiner Untersuchung tänzerischer Darbietung nahm. Was für Aussagen lassen sich hinsichtlich der Bewegung des Tänzers und ihrer Wahrnehmung durch den Zuschauer und der ihnen entsprechenden, unterschiedlichen Bezugssysteme treffen? Für die Tanzbewegungen machte Erwin Straus ein Bezugssystem geltend, das er als „symbolische Raumqualitäten“ bezeichnete. Diese setzen voraus, dass Weg und Entfernung als allgemeine Größen der Bewegung aufgehoben werden, sich die Raumkoordinaten des physikalischen Raumes auflösen und der „Leib-Raum“ in den „Um-Raum“ erweitert wird. Im Sinne Arnheims erfüllt gerade die Lösung der Bewegung vom Zweck der Fortbewegung die Voraussetzung für eine „reine Bewegung“. Die Konsequenz, die Straus aus der Veränderung der Raumstruktur vom physikalischen hin zum Erlebnisraum ableitet, dass nämlich „sich zugleich das Erlebnis des Gegenüberseins, die Subjekt-Objekt-Spannung [wandelt], die in der Ekstase zur vollkommenen Aufhebung gelangt“136, widerspricht allerdings den Überlegungen Arnheims. Diese Diskrepanz kommt zum einen dadurch zustande, dass Straus seine Aussagen allein auf das Erlebnis des Raumes durch den Tänzer bezieht, Arnheim dagegen auf den optischen Eindruck, den der Zuschauer vom Tanz erhält. Zwar können auch im Hinblick auf den optischen Raum die vom Tänzer ausgeführten Drehungen die Wahrnehmung beeinträchtigen und so ebenfalls zur Auflösung der Raumkoordinaten führen137, nicht jedoch in dem Falle, wenn es sich nur um „gymnastische Übungen“ handelt. Zum anderen zeigt dieses Beispiel auf, dass Straus die Veräußerlichung seelischer Zustände voraussetzt, wie sie der Ausdruckstanz anstrebte. Nur vor dem Hintergrund, dass seelisches Erleben in körperliche Bewegungen transformiert wird, kann aus dem sachlich-optischen Raum ein physiognomischer Raum werden.138 Inwieweit sich davon Arnheims Auffassungen vom Tanz unterscheiden, wurde bereits ausgeführt. Nicht jedoch die Konsequenz, die
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also, in its designs, show the lack of finality, of complete formal organization that K. rightly demands of photography and that I applied to the dance and the theatre?“ Arnheim, R., Tagebucheintrag vom 22.5.1978, AAA. Straus, E., Die Formen des Räumlichen, S. 648ff. Vgl. Köhler, W., Die physischen Gestalten, S. 239. Vgl. Heinz Werners weiterführende Überlegungen zu den Untersuchungsergebnissen von Erwin Straus in seinem Buch Einführung in die Entwicklungspsychologie, S. 140ff.
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sich daraus für die Raumstruktur des sachlich-optischen Raumes ergibt: Denn durch Arnheims Notation des Ausdrucks als allgemeiner Gestaltqualität dynamischer Prozesse wird die Unterscheidung zwischen einem sachlich-optischen Raum und einem physiognomischen Raum aufgehoben. Wenn Arnheim die Bewegung dahingehend deutet, dass sie die räumliche Struktur veranschaulicht, ohne dabei an eine konkrete Bedeutung gebunden zu sein, folgt daraus, dass nicht eine semantisch determinierte „Sinnfunktion das primäre und bestimmende [ist]“139, sondern Raumgestalten in ihrer dynamisch-physikalischen Struktur.
4.4. Film: Film als Kunst Bereits in der Einleitung zu seinem 1932 erschienenen Buch Film als Kunst 140 umreißt Rudolf Arnheim den theoretischen Hintergrund seiner Arbeit und die sich daraus ergebenden Folgen für die Ästhetik des Films: Neben [der] Bekanntschaft mit dem Film und seinen Herstellern halfen für dies Buch gewisse Vorkenntnisse aus der modernen Experimentalpsychologie. Allzuviele Ästhetiker pflegen sich dieses Hilfsmittels zu entschlagen. Sie wissen nicht, daß sie ihren Arbeiten stillschweigend dennoch eine bestimmte Psychologie zugrundelegen […]. Wenn man vom einfachen Sehakt eine falsche Vorstellung hat, wird man unmöglich einen komplizierten richtig erklären und ästhetisch auswerten können. Was die Ästhetik anlangt, so soll im folgenden versucht werden, Ernst zu machen mit dem oft leichthin ausgesprochenen Satz, daß man die Gesetze einer Kunst aus den Charaktereigenschaften ihres Materials abzuleiten habe. Es wird […] gezeigt, daß die Filmaufnahme niemals einfache Wirklichkeitswiedergabe ist und welche diese Abweichungen zwischen ‚Weltbild‘ und ‚Filmbild‘ sind. Diese Abweichungen, die zunächst als Mängel der Filmtechnik erscheinen, erweisen dann aber […] ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit zu formen und zu deuten. (FaK, S. 17f.)
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Cassirer, E., Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 26. Arnheim, R., Film als Kunst. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf die 1932 erschienene Ausgabe und werden im laufenden Text mit dem Sigel FaK abgekürzt und unter Angabe der Seitenzahl ausgewiesen.
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Als methodische Folie, vor der er den Nachweis führen will, dass der Film Kunst sei, weist Arnheim die Experimentalpsychologie aus.141 Indem er „die Gesetze einer Kunst aus den Charaktereigenschaften ihres Materials“ ableiten will, schließt Arnheim in ästhetischer Hinsicht an jene Wesensbestimmung der bildenden Künste an, wie sie von Lessing in seinem Laokoon formuliert wurde.142 Dass der Film darüber hinaus auf der Ausnutzung der photographischen Technik beruht, nahm Arnheim zum Anlass, um dessen künstlerische Eigenschaften auch in einem historischen Sinne zu legitimieren: Die Erfindung der Photographie war insofern von allergrößter Wichtigkeit für die prinzipielle Aesthetik, als auf ein Mal möglich wurde, die Ideale der ‚naturalistischen‘ Kunsttheorie auf rein maschinellem Wege im Extrem zu neutralisieren und so die Überflüssigkeit dieser speziellen Kunstziele schlagend zu erweisen.143
Entgegen der Tendenz zeitgenössischer Debatten, in denen der Film als Unterhaltungsmedium abgewertet wurde144, forderte Arnheim die öffentliche Akzeptanz des Films als Kunstmittel. Allerdings sah er diese Anerkennung des Films durch seine Kompatibilität mit der traditionellen Kunsttheorie Lessingscher Provenienz auch durchaus gewährleistet. Lessing hatte die künstlerischen Mittel und ihren zweckmäßigen Gebrauch unter dem Aspekt ihrer Wirkung auf den Rezipienten zur Grundlage seiner Unterscheidung der Kunstarten gemacht. Bereits bei Lessing war die Wirkung, die das Kunstwerk hervorruft, weniger durch Nach141
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Arnheims Filmanalyse gründet sich auch auf die „theoretischen Arbeiten von Balázs, Pudowkin und Moussinac“ (vgl. Kracauer, S., Neue Filmbücher, S. 142). Da es mir jedoch hauptsächlich um die Rekonstruktion gestaltpsychologischer Positionen geht, wird dieser Aspekt nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ihre Rechtfertigung erhält diese These durch einen 1938 von Arnheim in der italienischen Zeitschrift Bianco e Nero veröffentlichten Aufsatz, der den programmatischen Titel Neuer Laokoon trägt. In diesem Aufsatz untersucht Arnheim, „ob bzw. unter welchen Bedingungen Kunstwerke möglich sind, die sich auf mehr als einem einzigen künstlerischen Mittel – gesprochenes Wort, bewegtes Bild, Musik – aufbauen und welchen Bereich, Charakter und Wert sie haben. Die Ergebnisse der Untersuchung wendeten wir auf den Sprechfilm an.“ Vgl. Arnheim, R., Neuer Laokoon, S. 82. Arnheim, R., Die Seele in der Silberschicht, S. 141. Arnheim selbst führt als Kronzeugen für diese Debatten Thomas Mann mit seinem Aufsatz Über den Film an (FaK, S. 154).
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ahmung, d.h. durch die Gegenständlichkeit des Kunstwerkes erzielt worden als durch seine Form bzw. die diese hervorbringenden Mittel.145 Er ging von den ästhetischen Wirkungsmöglichkeiten (Lust und Unlust) aus, die er vom Schönheitsbegriff einerseits und aus der Angemessenheit zwischen Medium und Gegenstand der Darstellung andererseits ableitete146, um die spezifischen künstlerischen Bereiche voneinander abzugrenzen. Bei Lessing war jene wirkungsmächtige Instanz des Rezipienten seine Einbildungskraft. Arnheims experimentalpsychologischer Ansatz bedingt zunächst ganz allgemein die Ersetzung der ästhetischen Wirkung durch die „Natur“ der Seheindrücke. Grundlegend für seine Untersuchung ist die Strukturentsprechung der Wahrnehmungserlebnisse mit den phänomenalen Gestalten, d.h. sowohl dem Film in seiner Ganzheit als auch dem einzelnen Filmbild. Um seine Analyse der formalen Mittel gegenüber der vorherrschenden Meinung zu verteidigen, dass Kunst mimetisch sei (FaK, S. 51), proklamiert Arnheim, dass der Film die Welt nicht abbilde (FaK, S. 23).147 Die Polemik dieses Arguments vermag jedoch nicht über seine eigentliche Basis hinwegzutäuschen, die jene allgemeinen Gestaltgesetze bilden, denen zufolge der gestaltete optische Eindruck nicht die Wirklichkeit wiedergibt, sondern auf der Selbstorganisation der Wahrnehmung basiert. Film und Wahrnehmung sind insofern einander ähnlich, als beide keine abbildenden Systeme sind, sondern auf konstruktiven Vorgängen beruhen. Dem Film als einer Kunstgattung liegt die bewusste Ausnutzung der die Wahrnehmung organisierenden Gestaltgesetze durch seine formalen Mittel zugrunde. Der Film ist gestaltete Wahrnehmung von Wahrnehmung. Arnheims Behauptung, dass der Film die Wirklichkeit nicht mechanisch reproduziere, sondern forme und gestalte, er145 146 147
Vgl. Lessing, G.E., Laokoon, S. 23. Vgl. Gumbrecht, H.U., Ausdruck, S. 422. Hier ist bereits Arnheims kunstwissenschaftlicher Zugang erkennbar, die Kunstgeschichte von der Form her aufzuzäumen, der ihn später zu einem Widersacher Ernst Gombrichs werden ließ. Zu dieser Problematik äußerte sich Arnheim ausführlich in einem Brief an Gombrich: „Worum es mir eben ging, war, darauf hinzuweisen, was mir als ein Widerspruch erscheint zwischen dem Primat und der Superiorität der naturnahen Malerei, wozu sie sich doch unbestreitbar bekennen, und der wichtigen Erkenntnis, daß die künstlerische Aussage ein bloßes Äquivalent zum Naturerlebnis ist, eine aus den Mitteln des Darstellungsmaterials und der Geisteshaltung des Künstlers entspringende Reaktion.“ Arnheim, R., Brief an Ernst Gombrich vom 27.11.1982, DLA.
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scheint so als notwendige Analogie zu der Annahme Wolfgang Köhlers, dass „gesehene Gestalten […] nicht auf eine Abbildung von physischen Gestalten der Umgebung als solchen“148 zurückgehen. Mit seiner filmtheoretischen Analyse versucht Arnheim, den allgemeinen Anspruch der Gestaltpsychologie umzusetzen, das Vorhandensein von „Ganzheiten“ zur methodischen Grundlage eines gleichsam universalen Deutungsmusters für all jene Vorgänge zu machen, die ihren Abdruck in sinnesphysiologischen Prozessen hinterlassen.149 Vor diesem Hintergrund reiht der Film nicht Abbild an Abbild summativ aneinander, sondern gestaltet aufgrund seiner Mittel sowohl das Einzelfilmbild als auch den gesamten Film als Ganzheiten. Hatte Wertheimer als ausgezeichnete Ganzeigenschaften „‚Geschlossenheit‘, ‚Symmetrie‘, ‚inneres Gleichgewicht‘“150 herausgearbeitet, so erhebt Arnheim biologische Gesetzlichkeiten zu einem ästhetischen Paradigma, wenn er als eine Wurzel der Kunst das „natürliche Gefühl des Menschen für Symmetrie und Gleichgewicht“ bestimmt. Aus diesen Überlegungen heraus ist es nur folgerichtig, dass Arnheim die künstlerische Form mit der Gestalt gleichsetzt: Man könnte […] die Aufgabe des darstellenden Künstlers vergleichen mit einem jener Scherzspiele: aus zehn gegebenen Papierschnitzelchen ein Quadrat zusammenzusetzen. Die Befriedigung, die nach Lösung eines solchen Puzzles der, der’s geschafft hat, und die, die das Geleistete betrachten, empfinden, besteht [darin], daß die zehn Stückchen, die vorher als geschlossene Eigenformen gegeben waren, nun zu einer so überraschenden und einfachen Ganzheit zusammengeschlossen sind. (FaK, S. 54)
Die Empfindungen, die das Kunstwerk im Betrachter hervorruft, beruhen auf jenen oben genannten prägnanten Ganzeigenschaften, die Wertheimer durch allgemeine Gestaltgesetze begründet hatte. Arnheim unterlässt es jedoch, die Ersetzung der – im Hinblick auf Lessing – ästhetischen Wirkungskonnotation durch die wahrnehmungspsychologische auf ihre erkenntnistheoretischen und ästhetischen Konsequenzen hin zu befragen.151 An ihre Stelle tritt seine lapidare Annahme, „daß im 148 149 150 151
Köhler, W., Die physischen Gestalten, S. 195. Vgl. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft I, S. 558f. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 325. Diese Frage bildet dreißig Jahre später den Gegenstand von Arnheims Buch Anschauliches Denken: „Faced with the task of having to show, for my new book, that perception contains the elements of thinking I suddenly discov-
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darstellenden Kunstwerk die Abweichungen von der Wirklichkeit als schöpferische Formungen eben dieser Wirklichkeit gemeint sind“152. In seiner Analyse fokussiert Arnheim weniger die künstlerische Darstellung selbst als die perzeptive Aufnahme des Films durch den Zuschauer.153 Darüber hinaus impliziert dieser Wechsel der Aufmerksamkeit die Gleichsetzung der sinnesphysiologischen Wahrnehmung mit der Wirkung von Kunst, speziell der des Films. Denn die Erlebnisse, die der Film vermittelt, führt Arnheim auf Gestalteigenschaften zurück, die zwar unter Ausnutzung der filmischen Mittel produziert werden, aber der Empirie der Wahrnehmungsforschung verhaftet sind und keinen davon unabhängigen, ästhetischen Bereich markieren. Dem entspricht, dass nicht Dinge wahrgenommen werden, sondern Bildformationen, die sich primär durch ihre Anschaulichkeit definieren, wobei ihre Struktur den (physikalischen) Mechanismus ihrer Funktionsweise erklärt. Im Unterschied zu Lessing, der das Bild als Darstellungsmodus begreift154, sind bei Arnheim Bildaufbau und Bildstruktur untrennbare Bestandteile des optischen Eindrucks. Der Terminologie der Gestaltpsychologen entsprechend, erweist sich der Begriff der „Empfindung“ als Fiktion; in der theoretischen Anschauung wird er ersetzt durch den der „Erlebniswahrnehmung“155. Hatte Lessing „Wahrheit und Ausdruck“ als erstes Gesetz der Kunst bestimmt156, so bedingt Arnheims Ausgangspunkt von den „sinnesphysio-
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ered that many of the features distinguishing the perceived visual field from the world it depicts can be said to shape the facts of experience in the same way thinking does. Focusing in depth, e.g., singles out one layer of objects for attention. What struck me about this idea is its resemblance to the theme of my book on film, written some 36 years ago. There I showed that the deviations from what I then called Weltbild, the image of reality, offer possibilities for artistic creation. This formula has kept the book alive to this day.“ Arnheim, R., Tagebucheintrag vom 27.8.1966, AAA. Arnheim, R., Brief an den Maler Kirchner, S. 395. Wolfgang Iser betont, dass im Zuge der Gestaltpsychologie die „traditionsgeheiligte Trennung von Darstellung und Wirkung“ aufgehoben wird. Iser, W., Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie, S. 44. „Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erfordert also, daß diese Teile neben einander liegen müssen“. Lessing, G.E., Laokoon, S. 129. Koffka, K., Zur Theorie der Erlebnis-Wahrnehmung, S. 391f. Lessing, G.E., Laokoon, S. 25.
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logischen Empfindungen“ (FaK, S. 16), dass er die ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten157 des filmischen Mediums zwar voraussetzt, aber nur sporadisch expliziert und nicht systematisch darstellt.158 Der Grund dafür ist sicherlich in der Unbestimmtheit des Begriffes „Ausdruck“ zu suchen, der sich nicht zuletzt aus der fehlenden Differenzierung zwischen Wahrnehmung, Rezeption und dem Filmgeschehen als ausdruckshafter Handlung ergibt. Der Verlauf seiner gestaltpsychologisch ausgerichteten Argumentation im Filmbuch dokumentiert die Entwicklung des Begriffs Ausdruck von einem Modus, der unmittelbar im Seelischen und Körperlichen gegeben ist (bspw. in der Großaufnahme, FaK, S. 173), hin zur Bezeichnung einer allgemeinen Eigenschaft der Wahrnehmung. Auf die eher traditionelle Anbindung des Ausdrucksproblems an ästhetische Phänomene greift Arnheim bei seiner Bestimmung der Gattung des „Kunstfilms“ zurück, den er vom „Kulturfilm“ abgrenzt. Hier bezieht er sich auf die generelle künstlerische Aufgabe, „Gegenstände oder Vorgänge körperlicher oder seelischer Art mit den Mitteln eines bestimmten Ausdrucksmaterials so darzustellen, daß, was ihnen an ihrem Vorbild fesselnd oder charakteristisch erschien, zu anschaulichem Vortrag gelangte“ (FaK, S. 163). Ausdruck kommt in diesem Fall nicht allein „Gegenständen oder Vorgängen körperlicher oder seelischer Art“ zu, sondern ist – wie bei Lessing – auch eine Eigenschaft des künstlerischen 157
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Insofern muss Noël Carroll (Philosophical problems of classical film theory) widersprochen werden, der als zentralen Begriff in Arnheims Filmtheorie den der „expression“ herausarbeitete. In der ursprünglichen Fassung von Film als Kunst (Carroll bezieht sich auf die stark überarbeitete, englischsprachige Nachkriegsausgabe, der Arnheims Buch Art and Visual Perception vorangeht) spielt die ästhetische Notation des Ausdrucks im Hinblick auf den Film (nicht die Kunst) vordergründig keine Rolle, da Arnheim nicht die ästhetische Wirkung des Films expliziert, sondern seine Wahrnehmung. Hinzu kommt, dass Carroll den Einfluss der Gestaltpsychologie vollkommen ausblendet. So unterscheidet er nicht nur nicht zwischen Ausdruck und Gestaltung, sondern spricht auch von „the analogy theory of expression“, die sich als Isomorphie entschlüsseln lässt. Dass die Wahrnehmungserlebnisse, die der Film vermittelt, „gestaltet“ sind, daran lässt Arnheim keinen Zweifel; dass ihnen auch ein bestimmter Ausdruck innewohnt, darauf geht Arnheim nur sporadisch ein. Arnheims nachgelassene Arbeitspapiere belegen, dass er erst Ende der dreißiger Jahre beginnt, sich für das Problem des ästhetischen „Ausdrucks“ zu interessieren (vgl. Arnheim, R., Vasen, DLA). Seinen ersten theoretischen Niederschlag findet seine Auseinandersetzung mit dem Problem des Ausdrucks in seinem Aufsatz The Gestalt Theory of Expression, den er 1949 veröffentlichte.
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Materials. Nicht Ausdruck als Eigenschaft der Wahrnehmung prägt hier den Begriff, sondern die Verwendungsmöglichkeit von Ausdruck als ästhetischem Urteil, das sich auf die Angemessenheit des künstlerischen Mediums bezieht. Auch wenn „Ausdruck“ im Arnheimschen Sprachgebrauch sowohl eine ästhetische Eigenschaft des Filmbildes bezeichnet als auch eine Eigenschaft dynamischer Geschehensprozesse, wie sie die Psychologie untersucht, folgt daraus nicht die Kongruenz beider Erscheinungsweisen. Vielmehr resultiert ihre synonyme Verwendung aus einer terminologischen Unschärfe, die sich daraus ergibt, dass Arnheim an dieser Stelle das Verhältnis von Inhalt und Form nicht „aus dem Funktionieren der Sinne“ (FaK, S. 26) ableitete. Bereits hier werden die Grenzen von Arnheims Filmästhetik deutlich: Arnheim modifiziert eine Methode, für die der Stummfilm zum idealen Versuchsfeld wird. Zu klären bliebe allerdings dann die Frage, was den Stummfilm zu einem ausgezeichneten Bereich der Anwendung von gestaltpsychologischen Theoremen machte. Bei der folgenden Klärung werde ich mich hauptsächlich mit dem ersten Teil von Film als Kunst auseinandersetzen, in dem Arnheim die formalen Mittel des Films herausarbeitet. Unter der Fragestellung nach den gestaltpsychologischen Implikationen kann der zweite Teil des Buches, der sich mit dem stofflichen Gehalt des Films beschäftigt, größtenteils vernachlässigt werden, da ihm vorausgeht, dass Arnheim den Unterschied zwischen Inhalt und Form filmkünstlerischer Darstellungen relativiert.159 Dies vermag lediglich die Einsicht zu befördern, dass sich so auch stoffliche Aspekte durch formale Gesetzmäßigkeiten erklären lassen; die Ergebnisse des zweiten Teiles des Buches weisen somit nicht über die des ersten Teiles hinaus. Der Film ist ein funktionelles Ganzes, das gegenüber diesem relativ selbständige Filmbild ist ein echtes Unterganzes.160 Das Filmbild stellt ein dynamisches System von Funktionalbeziehungen dar. Es wird durch die filmischen Mittel bestimmt und kann nicht als rein mechanisches Ver159
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Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass im Kontext der Gestaltpsychologie die Frage nach dem Inhalt so nicht mehr zu stellen ist, da sich „seine gesamte Existenz […] gewissermaßen in reine Form verwandelt; sie dient nur noch der Aufgabe, eine bestimmte Bedeutung zu vermitteln und sie mit anderen zu Bedeutungsgefügen […] zusammenzufassen“. Blumenberg, H., Die Lesbarkeit der Welt, S. 19. Vgl. Wolfgang Köhlers Beschreibung des Verhältnisses von Molekül und Atom, Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 204.
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fahren zur Wiedergabe von Wirklichkeit gelten. Arnheim selbst erläutert dieses Prinzip in einer aufschlussreichen Parallele, die er zur industriellen Fertigungsweise des Bauhauses zieht: Der Architekt Walter Gropius hat einmal den Einfall gehabt, man könne in Serienfabrikation Häuser herstellen, die nicht alle gleich sondern sogar recht verschieden aussähen, die aber alle aus denselben Elementen zusammengestellt wären; diese Elemente wollte er in Serie fabrizieren lassen. Genau nach diesem Prinzip fertigt die Filmindustrie ihre Ware. Die Elemente sind festgelegt und werden immer wieder auf dieselbe Weise gearbeitet, aber sie werden ganz verschieden kombiniert, und so entstehen aus demselben Material immer wieder neue Filme. (FaK, S. 189)
Die Organisationsprinzipien, nach denen der Film zustande kommt, ergeben sich aus der Vielfalt möglicher Kombinationen sowohl des filmischen Materials als auch der Filmstoffe; diese bilden die ‚objektive Geometrie der Reize‘, d.h. die äußeren Voraussetzungen der Gestaltprozesse. Die Konzentration auf den Stummfilm, und somit auf das rein Visuelle, korreliert mit der bewussten Ausnutzung optischer Mittel auf der Ebene der Darstellung: So können auch akustische Teilbereiche der Handlung ins Optische transkribiert werden: „Der stumme Film zieht also besondre Kunstmöglichkeiten aus seiner Stummheit: das, was er am Akustischen als wesentlich herausheben will, transponiert er ins Optische und gibt so, indirekt, statt eines Vorgangs der Wirklichkeit nur sein Charakteristisches, formt und interpretiert ihn also.“ (FaK, S. 130) Die Ausschaltung ganzer Sinnesgebiete führt laut Arnheim dazu, andere zu kunstreichen Stellvertretern zu machen; der stumme Film lebt vom Primat des Optischen, das die grundsätzliche Ersetzbarkeit anderer sinnlicher Erfahrungen auf der Ebene der Darstellung nahe legt. Arnheim zeigt im Verlauf seines Film-Buches zunächst auf, wie die sinnlich-optische Wahrnehmung des Menschen funktioniert und inwieweit sich davon die Wiedergabe durch das filmische Medium unterscheidet.161 Er geht von der Projektion eines Würfels aus, um das „Auffinden der charakteristischen Ansicht“ des abzubildenden Gegenstandes zu beto161
Die Einsicht, dass der Film die Wirklichkeit nicht wiedergibt, stellt sich darüber hinaus als notwendige Folge der Erforschung der psychologischen Mechanismen der Wahrnehmung dar. Denn mit der Widerlegung der Konstanzannahme erübrigt sich die Frage nach einem Sehen, dass die Reizvorlage exakt reproduziert.
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nen, für das es keine formulierbare Regel gäbe, sondern das eine Gefühlssache sei (FaK, S. 24). Die von ihm favorisierte dreidimensionale Ansicht des Würfels stimmt mit der zentralperspektivischen Konstruktion überein. In Abgrenzung zu den sie begründenden Regeln behauptet Arnheim, dass die Wahrnehmung des Würfels nicht durch die Vernunft und einer durch sie festgelegten geometrischen Definition bestimmt wird, sondern allein durch seine physische Präsenz. An die Stelle einer (von der Perspektive abgeleiteten) Konvention tritt ein „biologisches Gesetz“, das Arnheim aus der Funktionsweise der menschlichen Psyche ableitet. Hier wird erneut deutlich, dass Arnheim nicht mit einem künstlerischen Formbegriff operiert, der durch einen Regelkanon festgeschrieben ist, sondern die künstlerische Form durch den psychologisch konnotierten Terminus der Gestalt ersetzt, deren Wahrnehmung durch die „Reizkonstellation einerseits und dem psychisch tatsächlich Gegebenen in seinem Gestalthaften andererseits“162 geprägt wird.163 Insofern handelt es sich hier nicht um eine „charakteristische Ansicht“, sondern um die bewusste (filmische) Produktion eines Ganzen mit konkreten Ganzeigenschaften. Um nun eine künstlerische Wirkung zu erzielen, muss der Filmkünstler „dem Prinzip der charakteristischsten Abbildung gerade entgegen“ handeln (FaK, S. 58). Die von Arnheim als gelungenes Beispiel angeführte Chaplin-Szene – Chaplin befindet sich inmitten einer Gruppe Seekranker an der Reling eines Schiffes, richtet sich plötzlich auf und entpuppt sich dabei als Angler – offenbart, dass es sich hier um einen konkreten, psychologisch konnotierten Ausdruck handelt, der durch die Ausnutzung eines gestaltpsychologischen Gesetzes – jenes der Umstrukturierung – durch filmische Mittel zustande kommt. Dem Zuschauer wird durch die Gruppe Seekranker ein eindeutiger Gesamteindruck vermittelt; indem sich ein Mitglied der homogen erscheinenden Gruppe als Angler herausstellt, wird dieses geschlossene Bild plötzlich umgeworfen und neu strukturiert. Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass nicht die von Chaplin ausgeführte Handlung im Vordergrund steht, sondern die bildliche Einstellung. 162 163
Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I, S. 54. Diese These wird durch die Wahl des Beispieles „Würfel“ belegt, der an die Untersuchungen einfacher Figuren durch die Gestaltpsychologen anschloss (vgl. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II). Aus dieser Untersuchungspraxis leitete Arnheim später die „Einfachheit in der Wahrnehmung“ ab. Vgl. Arnheim, R., Brief an Ernst Gombrich vom 18.1.1982, DLA.
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Die Einzelformen der dargestellten Gegenstände bilden Teile der Ganzheiten und als solche optische Muster, denen Arnheim einen spezifischen „symbolischen Wert“ zuspricht. Seine Begriffsbestimmung korreliert mit der des Ausdrucks in einem klassisch-ästhetischen Sinn.164 Da dem „Ausdruck“ in der Diktion der Gestaltpsychologen keine konkrete Bedeutung zukommt165, muss er durch ein „Zeichen“ ergänzt werden, um auch auf den Film als ästhetisches Bild anwendbar zu sein. In diesem zeichenhaften Sinne verwendet Arnheim das „Symbol“, das seine Bedeutung durch den strukturellen Zusammenhang – „die konkrete Einkleidung des zu veranschaulichenden Motivs“ (FaK, S. 220) – erhält, in dem es steht. So kann Arnheim in der Folge seiner Ausführungen den symbolischen Wert mit der Bildbedeutung gleichsetzen: Indem sie [die neuartige Einstellung, U.B.] den Gegenstand in einer besonders ausgewählten Ansicht zeigt, kann sie ihn eben dadurch in einer mehr oder weniger tiefen Weise deuten […]. Auch hier bietet einen besondern Reiz, daß der Gegenstand zum Zwecke dieser Deutung nicht irgendwie umgeformt oder stilisiert sondern genauso gelassen ist, wie er in der Wirklichkeit vorkommt. (FaK, S. 66)
Die filmische Einstellung lässt sich als Vermittlung zwischen dem Bild als Ganzem und der Wahrnehmung dieser Ganzheit durch den Betrachter definieren. Auf der Bildebene übernimmt sie zunächst die Funktion einer optischen Fokussierung von Teilen oder Ganzem. Den Auffassungen der Gestaltpsychologen entsprechend, handelt es sich bei der Bildbedeutung nicht um eine kausale, an das gegenständliche Original angelehnte Sinnzuschreibung166, sondern um die Funktion eines Bildteiles im 164
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In ihrem Aufsatz Rudolf Arnheim: The Materialist of Aesthetic Illusion schlägt Gertrud Koch in Anlehnung an Überlegungen Nelson Goodmans und Catherine Elgins vor, „Arnheim’s notion of ‚expression‘ with that of ‚exemplification‘ and his notion of ‚symbolization,‘ in turn, with that of ‚expression‘“ auszutauschen. „In doing so, the authors try to come to terms with the material and the metaphorical state of aesthetic objects […]. The ‚exemplification‘ would then be the material Gestalt, while their immanent structure and the ‚expression‘ comprise the metaphorical meaning.“ Diese klare Trennung ist allerdings im Frühwerk eindeutig auf die psychologische Konnotierung von Ausdruck zurückzuführen. Koch, G., Rudolf Arnheim, S. 177. Vgl. Lewin, K., Kindliche Ausdrucksbewegungen, S. 501. Zum Begriff des kausalen Bildes vgl. Scholz, O., Bild. Darstellung. Zeichen, S. 65.
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Rahmen von Ganzprozessen, die nur im Rückgriff auf das Sehen selbst analysiert werden kann. So ist der symbolische Wert von Bildteilen sowohl psychologisch konnotiert, da sich ihre Wertigkeit auch aus umfassenderen Ganzheiten ableiten lässt, als auch ästhetisch im Sinne eines Zeichens für etwas. Es darf hierbei nicht vergessen werden, dass Arnheim, indem es ihm bei seinem Vorgehen weniger auf das Ganze ankommt, „als auf letzte analysierte Teile“, seine Interpretation selbst zu einem Gestaltungsvorgang aufwertet.167 Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen bezieht sich Arnheim auf die räumliche Wahrnehmung, die dadurch zustande kommt, dass die Augen verschiedene Bilder wahrnehmen. Davon grenzt er das Ineinander von Raum- und Flächenbild des Films ab, der nicht über die räumliche Tiefe des wirklichen Seheindruckes verfüge. Um Beziehungen zwischen den Gegenständen herzustellen, lässt der Filmkünstler das räumlich Hintereinanderliegende so zwingend als aufeinanderliegend erscheinen […] daß der Zuschauer sich gezwungen sieht, eine inhaltliche (symbolische) Beziehung zwischen den also zusammengekoppelten Gegenständen zu suchen, resp. die Überschneidungen und Überdeckungen, die sich ergeben, als sinnvoll und gewollt zu betrachten. (FaK, S. 89)
Max Wertheimer hatte festgestellt, dass der Wahrnehmungseindruck der Zusammengefasstheit von Teilen sowohl im Optischen als auch im Räumlichen infolge des „kleinen Abstandes“ zwischen ihnen entsteht.168 Die Wertigkeit der räumlichen Beziehung zwischen den Gegenständen im Filmbild lässt sich demnach durch ein einfaches Gestaltprinzip erklären: Ihre „symbolische Bedeutung“ resultiert aus dem Faktor der Nähe. Mit dem Flächencharakter des Filmbildes geht der Verlust des Vermögens von ‚Größen- und Formkonstanz‘ einher. Unter Größenkonstanz ist die individualpsychologisch bedingte Korrektur von scheinbaren Größenverschiebungen zu verstehen, die aufgrund von Entfernungen zustande kommen. Der Terminus Formkonstanz bezeichnet den unbewussten Ausgleich von perspektivischen Veränderungen. Erst im Zuge des Wegfalls dieses psychischen Korrektivs wandelt sich das psychologisch bedingte Sehbild in ein symbolisch konnotiertes Flächenbild um. Die Größe bezeichnet nun erst eine symbolische, d.h. objektiv-funktional bestimmte Flächenwertigkeit, die sich an ihrer Wirkung messen lässt 167 168
Vgl. Koffka, K., Zur Theorie der Erlebnis-Wahrnehmung, S. 396. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 308.
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(das „Mächtige, Pompöse“, FaK, S. 76). Gleichzeitig „unterstützt also die perspektivische Größenveränderung eines objektiv gleich groß bleibenden Körpers die Aktivität, die auch objektiv für ihn charakteristisch ist“ (FaK, S. 85). Generell beruht die Flächenwirkung auf der graphischen Qualität von Körpern, die diese annehmen, sobald die Räumlichkeit verringert wird (FaK, S. 82).169 Hinzu kommt, dass der Film nicht den natürlichen Farbeneindruck wiedergibt. In der „Reduzierung der Wirklichkeitsfarbwerte auf die Werte der eindimensionalen Graureihe“ (FaK, S. 90) sieht Arnheim eines der wichtigsten Formungsmittel des Films; es bedingt die dekorative Aufteilung der Filmbildfläche und unterstreicht ihre graphische Qualität. Auch hier wird wiederum deutlich, dass es nicht um achromatische Kontraste geht, sondern um die Funktion der Lichtwerte in Bezug auf die gesamte Einstellung. Das Licht dient nicht nur dazu, „die tastbare Oberflächenbeschaffenheit täuschend ähnlich im Filmbild“ zu reproduzieren (FaK, S. 95), sondern auch dazu, das Verhältnis von Bildvordergrund und -hintergrund, von Figur und Grund sowie von Körperkontur und Umgebung zu gestalten.170 Die Konzentration auf die rein optische Sinneswelt bringt es außerdem mit sich, dass Gleichgewichts- und Muskelgefühle wegfallen. Darüber hinaus lässt sich die Kameraeinstellung für den Zuschauer nicht lokalisieren, sie verbleibt im Ungewissen und führt so häufig zu einer „Relativierung der Bewegung“ (FaK, S. 45) im Bild. Es ist nur folgerichtig, dass der Film dem Zuschauer bildlich nahe legt, seinen eigenen Sinnen nicht mehr zu vertrauen. Denn mit dem Ausfall der räumlichen Tiefe, der Nivellierung von Größen- und Formkonstanz und dem Wegfall von Gleichgewichts- und Muskelgefühlen geht einher, dass der Zuschau169
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Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Fläche als ideales Modell für „Ganzheiten“ im Sinne von gestalteten Seheindrücken gelten konnte. Die Übernahme von Begriffen aus der Feldphysik veränderte zwar nicht die Raumvorstellung, führte allerdings dazu, dass bspw. bei der Untersuchung von Wahrnehmungsvorgängen weniger räumliche Vorstellungen untersucht wurden, als das Sehfeld selbst. So hatte Edgar Rubin in seinem Aufsatz zu Figur und Grund bereits 1914 festgestellt: „Die von Katz näher untersuchte Berücksichtigung der Beleuchtung ist weniger vollständig bei dem Teil des Objekts, welcher als Hintergrund, als bei dem, welcher als Figur aufgefasst wird. Der als Figur aufgefasste Teil ruft unverhältnismäßig mehr Hilfen und Assoziationen hervor, als der als Hintergrund aufgefasste Teil.“ Rubin, E., Die visuelle Wahrnehmung von Figuren, S. 61.
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er seine räumliche Orientierung verliert. In seiner Studie über das Sehen von Bewegung hatte Max Wertheimer festgestellt, dass bestimmte Momente […] eine Verankerung und Einstellung auf eine bestimmte Raumorientiertheitslage [leisten]; durch stärkere Veränderung dieser Momente oder durch längeres Fehlen solcher Verankerungsmomente kann der Zustand des Verankertseins gelöst werden. Die Tatsache der Verankerung ist biologisch wichtig; es gehören, wenn man in einer bestimmten Raumorientiertheitslage eingestellt ist, relativ starke ‚Reize‘ dazu, sie zu lösen.171
Die filmischen Mittel bedingen die Lösung der Raumorientiertheitslage, die dem normalen Seheindruck zugrunde liegt. Um ein bestimmtes Wahrnehmungserlebnis zu vermitteln, müssen sowohl das Einzelfilmbild als auch der Film als Ganzes dem Zuschauer neue Verankerungsmomente bieten.172 In psychologischer Hinsicht erfüllt der Rahmen, in dem jedes Filmbild steht, diese Funktion.173 Er leistet die Einstellung des Zuschauers auf den im Film gezeigten Wirklichkeitsausschnitt. Für Stücke dieses Ausschnittes ergibt sich die Notwendigkeit von „Vergleichsmaßstäben“, „um die räumlichen Verhältnisse der dargestellten Situation einleuchtend wiederzugeben“ (FaK, S. 32). Darüber hinaus kann die Begrenztheit des Filmbildes, die gleichzeitig „ein Formungs- und Stilisierungsmittel“ (FaK, S. 97) ist, als Indiz dafür gelten, dass Arnheim das Filmbild als Einzelerscheinung analysiert, das eine starke Affinität zum Gemälde aufweist. Dieser Vergleich liefert einen weiteren Grund dafür, warum Arnheim die Bewegung im Bild als Gegenstand der Darstellung vernachlässigt174 (während sie als formales Mittel der Darstellung in sei171 172
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Wertheimer, M., Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, S. 93. Diese Funktionsbestimmung der Begrenzung setzt voraus, dass man „Filmbildbegrenzung und Sehfeldbegrenzung […] miteinander nicht vergleichen [kann], weil im faktischen Sehraum des Menschen eine Sehbildbegrenzung überhaupt nicht besteht“. Arnheim, R., FaK, S. 31f. Ganz in diesem Sinne merkte Arnheim in seiner Rezension des NapoleonFilmes von Abel Gance an: „Wir wissen heute, dass gerade die Beschränkung auf einen festen Rahmen die erste Voraussetzung für irgendwelche Bildwirkung ist […]. Die panoramaartige Riesenfläche [ist] für unser Auge, so wie es nun einmal konstruiert ist, ohne Änderung der Fixationsrichtung gar nicht übersehbar […]. Figuren und Staffage schwimmen hilflos und haltlos herum, fast keine Möglichkeit des Bilderaufbaus ist vorhanden.“ Arnheim, R., Vortrag über den ‚Napoleon‘-Film, S. 47. Erst 1934 widmete sich Arnheim in einem Aufsatz der Bewegung als filmisches Ausdrucksmittel. Arnheim, R., Bewegung im Film, S. 41.
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nen Ausführungen zur Montage durchaus in ihr Recht gesetzt wird), verfügt sie doch über die Möglichkeit, das Filmbild zu entgrenzen.175 Erst durch die Bildbegrenzung wird die Einzelaufnahme sowohl als strukturelle Einheit organisiert, in der „alle Linien und sonstigen Richtungen in einem gut ausbalancierten Verhältnis zueinander [stehen]“, als auch als Bild, das sich durch eine „gute Flächenverteilung“ (FaK, S. 98) auszeichnet.176 Arnheims Unterscheidung setzt experimentalpsychologische Forschungsergebnisse zum Sehen von Figuren voraus, wie sie von Edgar Rubin in seinem Aufsatz über Die visuelle Wahrnehmung von Figuren dargelegt wurden. Rubin hatte festgestellt, dass bei der Wahrnehmung von Figuren entweder die Fläche oder die Kontur dominiert. Davon leitete Rubin unterschiedliche Gestalterlebnisse ab.177 Arnheim greift auf diese Differenzierung zurück, gleichzeitig versieht er sie mit einer ästhetischen Wertigkeit. Seine fehlende systematische Ableitung der Begriffe aus einem Prinzip führt dazu, dass er mit ästhetischen und psychologischen Termini operiert, die zwar wechselweise gebraucht werden, aber nicht kongruent sind. „Linien“ werden analog zur Funktion von vektoriellen Größen bestimmt und nicht als malerische Begriffe. Hier deutet sich bereits eine „physikalische“ Definition von Ausdruck an, dem wiederum in rein malerischer Hinsicht die „gute Flächenverteilung“ entspricht. Diese dagegen korreliert mit einem Schönheitsideal, das sich eben nicht ästhetisch, sondern psychologisch, nämlich vom Seheindruck „guter Gestalten“178 ableiten lässt. 175
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„Ich habe also im Grunde den Film von der Malerei aus angefangen, und das ist natürlich sehr einseitig. Meine Beispiele in dem Buch sind ja alle auf Einzelszenen gestellt, und da bewegt sich gar nichts.“ Arnheim, R., Interview mit Thomas Meder vom 10./11.3.1993, AHAP. An dieser Stelle drängt sich Heinrich Wölfflins Unterscheidung vom Linearen und Malerischen förmlich auf. Charakterisierte bei Wölfflin dieses Begriffspaar bestimmte Stilepochen, so bedient sich Arnheim lediglich der Denotate, um Fläche und Kontur gegeneinander abzugrenzen. Dabei sind die Begriffe nicht mehr einfühlungspsychologisch konnotiert, sondern gestaltpsychologisch. Vgl. Wölfflin, H., Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 27. Rubin, E., Die visuelle Wahrnehmung, S. 61. Die ästhetischen Intentionen der Gestaltpsychologie manifestieren sich zum überwiegenden Teil in den „Prägnanztendenzen“. Diese setzen allerdings einer Erweiterung des von Wertheimer geprägten Begriffes der „Prägnanz“ voraus, die erst als Ergebnis von Untersuchungen Rauschs und Metzgers vorgenommen wurde. Da diese Forschungen erst nach 1933 durchgeführt wurden, können sie hier unberücksichtigt bleiben. Zur Neukonnotierung von Prägnanz vgl. Smith, B., Gestalt Theory, S. 61ff.
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Bezogen auf den Film als Ganzes, besteht die „Rahmung“ in der Auswahl des Bildformats. Der Seheindruck wird hier bewusst durch die Kombination von „Detailausschnitt“ und „Totalaufnahmen“ im Sinne von Umstrukturierungen gestaltet: Man könnte den psychologischen Schock, der hier dem Zuschauer versetzt wird, graphisch aufzeichnen: ein geschlossenes Ganzes ist gezeigt, der Zuschauer in Ruhe gewiegt worden; und plötzlich wird dies Ganze in seiner Struktur umgeworfen durch die unscheinbare, zum Bisherigen so gar nicht passende, sie verzerrende Änderung. (FaK, S. 101)
Bildausschnitte werden der Handlung entsprechend vom Zuschauer wahrgenommen, seine Aufmerksamkeit gerade durch Abweichungen vom normalen Seheindruck provoziert. Dabei stellen Großaufnahmen179 besonders prägnante Teile dar; im Hinblick auf das Ganze der Darstellung kommt ihnen eine metonymische Funktion zu („pars pro toto-Prinzip“, FaK, S. 104). Ihr Nachteil liegt darin, im fortlaufenden Film der Totalaufnahme als eines Korrektivs zu bedürfen, da sie selbst keine räumlichen Verankerungsmomente bieten. Der Rahmen tritt als imaginäre Grenze auf, die auch durch den Bildinhalt nicht aufgehoben werden kann; diese Grenze markiert das Terrain einer formalen Bildbetrachtung, die nicht in Richtung eines jenseitigen, historischen, geschichtsphilosophischen oder erkenntnistheoretischen Horizonts überschritten werden kann. Arnheims provokant hervorgebrachte These vom Film als Kunst erweist sich in ihrer Beweisführung als Exemplifikation einer Methode, die analog zur experimentalpsychologischen Untersuchung der Wahrnehmung das Filmerlebnis analysiert. Dabei wird die künstlerische Form selbst nicht diskutiert. In seinen Ausführungen unterscheidet Arnheim zwischen der einzelnen Einstellung als Ganzheit und dem montierten Film, von dem die herkömmliche Diskussion um den Eingriff in den Abbildungsvorgang ihren Ausgang nahm. Dass der Film nicht über eine raum-zeitliche Kontinuität verfügt, ist dem filmischen Mittel der Montage geschuldet. Im Gegensatz zum Filmbild, in dem der Zusammenschluss der Bildteile zu einem Ganzen vor allen Dingen als räumliches Nebeneinander untersucht werden konnte, wird durch die Montage die Verknüpfung von Teilen in einem zeitlichen Nacheinander gestaltet. Arnheim definiert die Montage ganz allgemein als „Aneinanderkleben von Aufnahmen mit ver179
Zur Großaufnahme vgl. Balázs, B., Der sichtbare Mensch, S. 83 und 97.
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schiedener räumlicher und zeitlicher Situation“ (FaK, S. 110).180 Zusätzlich dazu differenziert er zwischen der Montage im „eigentlichen Sinne“ und der „unbemerkten Montage“. Während diese „ein einheitliches Stück Wirklichkeit in sich verändert“, gruppiert jene disparate Wirklichkeitsstücke (FaK, S. 123). Dabei obliegt es ersterer, Trickeffekte zu erzielen, die dadurch zustande kommen, dass die formalen Mittel, durch die sie hervorgebracht werden, nicht wahrnehmbar sind. Gleichzeitig wird durch sie die Struktur der Wirklichkeit verändert. Im Rahmen seiner formalästhetischen Analyse filmischer Mittel, die den Realismus der Darstellung voraussetzt – und Realismus heißt hier, „dass die Charaktereigenschaften der verwendeten Mittel sauber und deutlich zur Anschauung kommen“ (FaK, S. 54) –, erklärt sich so, warum die Art der „uneigentlichen Montage“ für Arnheim nur von marginalem Interesse ist. Die Formen der Montage werden dadurch ergänzt, dass das Raumund Zeitkontinuum, das den Film charakterisiert, entweder unterbrochen werden kann oder das Zeitkontinuum innerhalb einzelner Szenen bewahrt wird, da zeitliche Inkohärenz hier zu einer Umstrukturierung der Handlung führen würde. Die psychologische Wirkung der Montage, die als technisches Hilfsmittel dem Bewegungseindruck von unbewegten Einzelbildern zugrunde liegt, war bereits von Max Wertheimer experimentalpsychologisch begründet worden (FaK, S. 121). Wertheimer war es in seinem Aufsatz über das Bewegungssehen noch darum gegangen, mit Hilfe des Stroboskops Rückschlüsse auf die menschliche Wahrnehmung zu erhalten.181 Dagegen führt Arnheim vor, wie eine naturwissen180
181
Obwohl sich Rudolf Arnheim – wie seine Filmkritiken belegen – nicht nur mit den Filmen Sergej Eisensteins auskannte, sondern seinen eigenen Worten zufolge 1930, als Eisenstein auf dem Rückweg von Mexiko nach Moskau einen Zwischenstopp in Berlin einlegte (und nicht bereits während Eisensteins Besuch bei Lewin und Köhler ein Jahr zuvor), auch seine persönliche Bekanntschaft machte, weist sein Verständnis der Montage wenig Übereinstimmendes mit der Eisensteins auf. Dieser beschrieb damit eine universelle Operation, die sowohl das „technische Zusammenkleben eines Films wie die filmische Repräsentation“, „die Strukturierung der filmischen spezifischen Narrativik“ als auch „die Intensivierung der semantischen Prozesse“ umfasste. Vgl. Bulgakowa, O., Sergej Eisenstein, S. 81. „Es muß nach neueren hirnphysiologischen Forschungen als wahrscheinlich angenommen werden, daß mit einer Erregung einer zentralen Stelle a eine physiologische Wirkung in gewissem Umkreis um dieselbe gesetzt ist. Werden zwei Stellen, a und b, in Erregung versetzt, so ergäbe sich beiderseits sol-
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schaftliche Methode, die den Einsatz technischer Hilfsmittel mit einschließt, zum Präzedenzfall für die ästhetische Darstellung werden kann. Im Rekurs auf die relativ kurze Geschichte der Montage, deren Anfänge noch ganz der Regietechnik des Theaters verhaftet waren, verweist Arnheim neben der räumlichen und zeitlichen Verknüpfung von Vorgängen auch auf die Herstellung gedanklicher oder lyrischer Zusammenhänge. Davon ausgehend, kritisiert er an Pudowkins Systematik filmischer Montage die Art und Weise der Einteilung, die sich „teils auf die Art des Schnitts, teils auf den Inhalt der Handlung bezieht“ (FaK, S. 114). Seiner Kritik ist inhärent, dass er durch die filmischen Mittel, zu denen auch die Montage gehört, Erlebnisse gestaltet sieht, deren typische Form nicht den Film an sich ausmacht, sondern eine „Ganzheit“ im Sinne der Gestaltpsychologen und die als Prinzip seine alternative Einteilung generiert. Zur Erinnerung: Lessing hatte die Malerei durch ihre Darstellung von Körpern bestimmt. Diese seien „Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren“. Dagegen hießen Handlungen, die das Wesen der Dichtung charakterisieren, „Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen“182. Für Lessing sind Raum und Zeit die Mittel, die die Form des Kunstwerks bestimmen; vor dem Hintergrund der Konnotation von Form als Gestalt ergänzt Arnheim diesen „Mittelkatalog“ durch das Prinzip des Schnitts und des inhaltlichen Zusammenhangs der Handlung. Zu klären bleibt dabei die Frage, inwiefern die beiden letztgenannten in Abgrenzung zu den Ausführungen Pudowkins zu eigenständigen Prinzipien der Montage werden können, ohne sich aufeinander zu beziehen oder sich zu widersprechen. Mit Bezug auf Wertheimers Arbeit Über das Sehen von Bewegung stellt Arnheim fest, dass wenn „Filmbildstücke durch Montage aneinandergeklebt [werden], so lässt sich, und gerade bei gut gelungener Montage, häufig beobachten, dass diese Stücke nun nicht einfach ‚additiv‘ nebeneinander stehen, sondern durch diese Zusammenstellung anders gefärbt wirken“ (FaK, S. 120). Betrachtet man den Film in formaler Hinsicht als Ganzes, dann regelt der Schnitt die räumlichen und zeitlichen Abstandsverhältnisse seiner Teile (Einzelfilmbilder), die bestimmten Reizanordnungen entsprechen. Da laut Wertheimer Bewegung aus kleinerem räumlichem Abstand resultiert183, lässt sich so beispielsweise im Hinblick
182 183
che Umkreiswirkung, der Umkreis ist für Erregungsvorgänge prädisponiert.“ Wertheimer, M., Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, S. 88. Lessing, G.E., Laokoon, S. 103. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 314.
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auf die Prinzipien des Schnitts bei der Montage von kurzen Stücken feststellen, dass die Handlung nicht nur als beschleunigte wahrgenommen wird, sondern auch als (inhaltlich) verdichtete. Hatte Wertheimer Unterschiede zwischen Simultan- und Sukzessivgestaltgesetzlichkeiten angedeutet184, so gestatten diese lediglich im Hinblick auf die Prinzipien des Schnitts Aussagen über mögliche Wirkungen. Durch die Gestaltung zeitlicher und räumlicher Verhältnisse werden komplexere Bedeutungszusammenhänge hergestellt, die zwar kontinuierlich im Sinne von Ganzheiten sind, nicht aber auf der Kontinuität von Raum und Zeit beruhen. Viel eher gehen sie auf „lokale Form, Richtung, Biegung, Größe, Vor und Zurück im Raum, Geschwindigkeit, Klarheit, Verschwommenheit, Festigkeit“ zurück „als Funktionen der jeweiligen Gestaltbedingungen“185. Diese psychologischen Kriterien korrespondieren mit den ästhetischen Möglichkeiten der Montage insofern, als diese aus dem „unkörperlichen, irrealen Charakter des Filmbildes“ resultieren (FaK, S. 268) und sich nicht aus der Illusion des wirklichen Raumeindrucks ableiten lassen. In Abgrenzung dazu erweist sich das von Arnheim aufgestellte vierte Klassifikationsmerkmal der Montage – das der inhaltlichen Beziehungen – als problematisch, da hier der Begriff der Gestalt, der zunächst nur formale Aspekte umfasst, zu einem inhaltlichen Thema aufgewertet wird. Dem widersprechen nicht nur die von Arnheim angeführten Beispiele, die entweder auch auf die Klassifikationsmerkmale von Schnitt, Raum und Zeit zurückführbar sind oder auf Formäquivalenzen, sondern auch seine, zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommene Relativierung des strikten Gegensatzes von Form und Inhalt dadurch, dass er aufzeigt, wie wenig von Rohstoff unverändert in ein Kunstwerk übernommen werden kann, wie vielmehr von der primitivsten Auswahl des Grundthemas bis hinauf zur subtilsten und speziellsten Einzelheit ein einziger Formungsprozeß vorhanden ist, innerhalb dessen man nur relative Unterschiede zwischen Inhaltlichem und Form machen kann. (FaK, S. 160f.)
Die terminologischen Unschärfen lassen sich darauf zurückführen, dass Form und Gestalt nicht voneinander abgegrenzt werden.186 So hatte be184 185 186
Ebd. Köhler, W., Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 191. In seinem späteren kunsttheoretischen Werk unterscheidet Arnheim in Anlehnung an einen Ausspruch des Malers Ben Shahn Form und Gestalt durch das Kriterium der Sichtbarkeit: „Form ist die sichtbare Gestalt des Inhalts.“ Arnheim, R., Kunst und Sehen, S. 93.
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reits Wolfgang Köhler geltend gemacht, dass im Deutschen „Gestalt“ und „Form“ gleichbedeutend gebraucht werden.187 Dies ändert jedoch wenig daran, dass die künstlerische Form zwar als Gestalt gedeutet wird, dass diese begriffliche Verschiebung allerdings auch dazu führt, dass Arnheim nun in Ausdrücken der Form über die Struktur redet. Während die Konnotierung der Form als Gestalt dazu führt, dass ihr allgemeiner optischer Eindruck als gestalteter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, bewirkt die Konnotierung der Gestalt als gestaltete Form die Hinwendung zu den formalen Mitteln, die Aussagen über ihre konkrete Eigenart zulässt. Arnheim passt in seiner Analyse des Films als Gestalt wohl seine Methoden, nicht jedoch seine Ausdrucksweise dem strukturellen Zusammenhang an, der der Organisiertheit von Ganzheiten entspricht. Denn im Sinne der Gestaltpsychologen ist die Gestalt ebensowenig die offenkundig gegebene Form wie ihr latenter Gehalt. Sie ist vielmehr das funktionale System, d.h. die Geschehensart – das gestaltete Sehen – , die beide erst hervorbringt.188 Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt im Kapitel Gehalt und Einfall. Arnheim leitet hier den Gehalt filmischer Motive aus der Schaffung von Kontrasten ab, die dann besonders wirkungsvoll sind, wenn sie durch die „optisch-formale Ähnlichkeit zwischen inhaltlich extrem kontrastierenden Dingen“ (FaK, S. 212) aufgezeigt wird. Auch hier ist evident, dass die sichtbare Form eines Gebildes nicht notwendigerweise Aufschlüsse über seine Struktur erlaubt, geschweige denn mit dieser gleichgesetzt werden kann. Neben den bereits genannten filmischen Mitteln verweist Arnheim auf die Möglichkeit, eine bewegte Kamera einzusetzen. Indem die Kamera den Helden begleitet, könne sie „die Welt vom Standpunkt eines Individuums“ (FaK, S. 133f.) aus zeigen. Ernst Mach hatte behauptet, dass „während der als Ganzes unbewegte Mensch nur begrenzte, örtlich individuelle, und in bezug auf seinen Leib orientierte Raumempfindungen kennt, haben die bei Lokomotion und Änderung der Orientierung auftretenden Sensationen den Charakter der Gleichmäßigkeit und Unerschöpflichkeit.“189 Der Zuschauer nimmt den (durch die Kamera vorgegebenen) Standort eines Subjekts ein, der ihm zum eigentlichen Veranke187 188
189
Köhler, W., Psychologische Probleme, S. 121. Dies mag auch die Begründung für die mangelhaften Ergebnisse hinsichtlich der Untersuchung des Gehalts der Filme liefern, die bspw. von Siegfried Kracauer konstatiert wurden. Vgl. Kracauer, S., Neue Filmbücher, S. 142. Mach, E., Die Analyse der Empfindungen, S. 155.
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rungsmoment wird, ohne dass die umfassende Raumvorstellung, die der Film vermittelt und die keiner weiteren Verankerungsmomente bedarf, von seiner körperzentrierten Wahrnehmung gestört wird. Arnheim unterscheidet erneut zwischen Filmmitteln, die dazu benutzt werden, um dem Zuschauer ein Bild der Wirklichkeit zu liefern und jenen „Tricks“, die „äußerlich nicht den Eindruck vermitteln: das ist Wirklichkeit“ (FaK, S. 135). Neben der unbemerkten Montage zählt er dazu den rückwärts laufenden Film. Des Weiteren verweist er auf die Möglichkeiten, die Zeit zu raffen und zu verlangsamen. Auf Verkleinerungen bzw. Vergrößerungen von Raum und Zeit mittels technischer Apparaturen hatte schon Mach hingewiesen.190 Er leitete daraus unterschiedliche räumliche und zeitliche Ordnungen (etwa die physikalische und die psychophysische) ab. Für Arnheim dagegen stellt der Film kein neues räumliches Ordnungssystem dar, sondern bestätigt die Aussagen der Gestaltpsychologen zur Struktur des psychophysischen Wahrnehmungsraumes.191 Diese divergierende Auffassung räumlicher Ordnungen kommt dadurch zustande, dass sich die Gestaltpsychologen weder auf den physikalischen noch auf den anatomisch-geometrischen Raum beziehen, sondern allgemein auf den „Funktionsraum“192 psychophysischer Prozesse. In diesem Sinne liefern die filmischen Mittel – Dehnung und Raffung von Zeit und Raum – Arnheim die Beweise für die Ganzheitlichkeit von Gestaltvorgängen als dynamischer Geschehensart, die sich (aufgrund der Isomorphie) sowohl im makroskopischen als auch im mikroskopischen Bereich nachweisen lässt und sowohl für die organische als auch die anorganische Natur zutrifft193: Bei diesen Aufnahmen hat sich herausgestellt, daß die Pflanzen eine Mimik haben, die wir nicht sehen, weil sie mit zu langsamen Zeiten rechnet, die aber sichtbar wird, wenn man Zeitrafferauf190 191
192 193
Mach, E., Bemerkungen über wissenschaftliche Anwendungen der Photographie, S. 133f. In diesem Sachverhalt offenbart sich einer der wesentlichen Unterschiede zwischen gestaltpsychologischem und phänomenologischem Ansatz. Während Wilhelm Schapp seinen Beiträge[n] zur Phänomenologie der Wahrnehmung die Worte voranstellt: „Ich hoffe nur, daß ich nichts schrieb, was ich nicht selbst sah“, geht es den Gestaltpsychologen nicht um den konkreten Darstellungszusammenhang einer sichtbaren Dingwelt, sondern um den (gestalthaften) Charakter der Wahrnehmung selbst. Schapp, W., Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, S. V. Köhler, W., Die physischen Gestalten in Ruhe, S. 241. Vgl. Köhler, W., Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 200.
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Rudolf Arnheim – Gestalt nahmen verwendet […]. Die Pflanzen waren plötzlich lebendig geworden und zeigten Ausdrucksbewegungen von genau derselben Art, wie man sie von Menschen und Tieren kennt […]. Es wäre immerhin möglich, daß zum Beispiel auch beim Verhalten anorganischer Stoffe ähnliche aufregende Entdeckungen bevorstehen. Einzelnes dieser Art ist sogar schon gelungen, so die höchst merkwürdigen Zeitrafferaufnahmen vom Wachsen von Kristallen und Eisblumen. (FaK, S. 137f.)
Die von Arnheim aufgeführten Mittel dienen nicht nur dazu, Gestaltvorgänge als Geschehensarten sichtbar zu machen, sondern können auch im Sinne der Bildung von Gestalten eingesetzt werden. Diese Anwendung findet etwa die Dehnung der Bewegung durch die Zeit: Indem sie nicht mehr als „Verlangsamung schneller Bewegungen, sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische“ (FaK, S. 138) wahrgenommen wird, kommt ihr eine neue Gestaltqualität in der Folge einer Umstrukturierung zu. Arnheim vervollständigt seinen Mittelkatalog durch den Gebrauch von Standphotos, Blendtechniken, der Simultanmontage, dem Einsatz von Speziallinsen und der Ausnutzung von Spiegeleffekten. Blendtechniken werden angewandt, um Teile gegeneinander abzugrenzen, sie sozusagen auszusondern, um Parallelitäten und Kontraste herzustellen. Werden mehrere Szenen gleichzeitig ineinander gezeigt, handelt es sich um den Vorgang des Übereinanderkopierens, der in seiner Wirkung der Simultanmontage – der Montage des Nebeneinanders innerhalb eines Bildes – entspricht. Unscharfe Einstellungen und Spiegeleffekte lassen sich zugunsten subjektiver Seheindrücke und optischer Täuschungen ausnutzen. In der bewussten Anwendung dieser Mittel liegt das künstlerische Potential des Films: Er [der Film, U.B.] kann aufrechtstellen, was liegt, und hinlegen, was steht; bewegen, was ruht, und stillstehen lassen, was sich bewegt. Er schaltet ganze Sinnesgebiete aus und gibt dadurch den anderen mehr Relief, macht aus ihnen kunstreiche Stellvertreter der Abwesenden; läßt Stummes reden und interpretiert dadurch das Reich der Töne. Er zeigt die Welt nicht nur, wie sie objektiv, sondern auch wie sie subjektiv aussieht. Er schafft neue Wirklichkeiten, in denen die Dinge sich verdoppeln, ihre Bewegungen und Geschäfte umdrehen, verzerren, verlangsamen oder beschleunigen […]. Er schafft ideeliche Brücken zwischen Vorgängen und Dingen, die in der Wirklichkeit nie beieinander gelegen haben. Er greift in die Struktur der Wirklichkeit ein, indem er aus leibhafti-
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gen Körpern und Räumen zappelnde, zerbrechende Gespenster macht. (FaK, S. 154)
An Arnheims zusammenfassender Darstellung der potentiellen Leistungen des Films als Kunst ist vor allen Dingen sein Konzept von Wirklichkeit und ihre objektive Beschaffenheit im Verhältnis zu ihrer subjektiven Wahrnehmung vor dem Hintergrund der Gestaltpsychologie interessant. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Erforschung von Wahrnehmungsfeldern durch die Gestaltpsychologen ihren Ausgang von Sinnestäuschungen nahm, von denen einerseits „die Subjektivität der Sinnesempfindungen“194 abgeleitet wurde und andererseits normative Kriterien für das Zustandekommen von Wahrnehmungserlebnissen. Zusätzlich dazu bedingt die Abhängigkeit „lokaler Bereiche nicht von lokalen Reizen allein, sondern von der Reizkonstellation“195, dass auch die durch die Empfindungen vermittelten Wirklichkeiten subjektiv sind. Ein Phänomen besitzt nicht objektiven Ding-Charakter, denn „indem ein Phänomen natürlicherweise unter einer bestimmten Einstellung entstand, hat es nur bestimmte, von dieser Einstellung aus festgelegte Eigenschaften“196. Diese subjektiven Abweichungen in der jeweiligen Wahrnehmung der Wirklichkeit sind allerdings nach Meinung der Gestaltpsychologen im praktischen Leben zu vernachlässigen. Sie spielen lediglich hinsichtlich der Untersuchung von jenen Gestaltkräften eine Rolle, die das konkrete Wahrnehmungserlebnis formen.197 Dem entspricht, dass der Diktion der Gestaltpsychologen zufolge nicht Dinge wahrge194 195 196 197
Koffka, K., Zur Theorie der Erlebnis-Wahrnehmung, S. 389. Köhler, W., Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 207 Koffka, K., Zur Theorie der Erlebnis-Wahrnehmung, S. 398. Sechzig Jahre später legitimiert Arnheim diesen Ansatz folgendermaßen: „Keineswegs dienten ihnen [den Gestaltpsychologen, U.B.] diese Beispiele von Gestaltorganisation [z.B. optische Täuschungen, U.B.] dazu, darzulegen, daß die Seele Welten heraufbeschwört, die keine Beziehung zu etwas außen Existierendem haben. Vielmehr ging es darum, verständlich zu machen, wie es der Seelentätigkeit gelingt, den Faktoren der äußeren Wirklichkeit gerecht zu werden, obwohl sie das von außen her Eingebrachte nach ihr innewohnenden Prinzipien verarbeitet.“ Die Replik von Michael Stadler und Peter Kruse auf Arnheims Aussage zeigt, dass die Diskussion darüber, ob vermittels der Gestaltpsychologie Aussagen über die transphänomenale physische Welt getroffen werden können, auch in den achtziger Jahren noch nicht abgeschlossen war. Rudolf Arnheim, Die verschwindende Welt, S. 196, und Stadler, M., und Kruse, P., Martin Luther, Wolfgang Köhler und die Wirklichkeit des Tintenfaßes.
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nommen werden, sondern perzeptive, d.h. aufgrund physikalischer Strukturen im sensorischen Bereich vermittelte Gestalten mit sichtbaren, primär strukturäquivalenten physikalischen Eigenschaften. Da diese Gestalten bis zu einem gewissen Grad transparent gegenüber der lokalen Beschaffenheit und ihrer Reizkonstellation sind, können wahrgenommene Gestalten nicht nur dynamische Vorgänge sichtbar machen, sondern koinzidieren zu einem großen Teil auch mit der Welt, wie sie ist.198 Indem allerdings das Sehen zu einem konstruktiven Vorgang aufgewertet wird, der physikalischen Gesetzen unterliegt, verbürgt es nicht länger die „objektive“ Erkenntnis der Wirklichkeit. Es zeigt sich, dass der Versuch, die begrifflich auf einen bestimmten, psychologisch konnotierten Vorgang reduzierte Subjekt-Objekt-Konstellation (die dem gestalteten Seherlebnis entspricht) in einen größeren erkenntnistheoretischen Rahmen zu überführen199, im Kontext der zwanziger Jahre lediglich dahingehend Aussagen über die Wirklichkeit zu Tage zu fördern vermag, als die (einseitige) Betonung der „Psychologie des Erkennens und des Erkennenden eine Relativierung des Existenzbegriffs mit sich bring[t]“200. Arnheims kontradiktorische Behauptungen, dass der Film zum einen keine „mechanisch reproduzierte Wirklichkeit“ (FaK, S. 23) sei und zum anderen die Welt zeige, wie sie „objektiv“ ist, gehen auf die Gemeinsamkeiten zwischen Film und menschlicher Wahrnehmung zurück, die beide selbstorganisierende Systeme sind und die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern sie aufgrund von eigenen Gesetzen konstruieren. Aufgrund dieser entscheidenden Gemeinsamkeit kann der Film als ein Phänomen betrachtet werden, an dem sich Gestaltvorgänge und -gesetze exemplarisch untersuchen lassen. Vor diesem Hintergrund überzeugt die 198
199
200
Vgl. Smith, B., in Anlehnung an Wertheimer und Koffka, Gestalt Theory, S. 47f. Ausführlich widmet sich Arnheim diesem Unternehmen in seinem Buch Anschauliches Denken. Von der Gestaltetheit des Sehens leitet Arnheim ab, dass „die Erkenntnisfunktionen, die man das Denken nennt, nicht den Seelenprozessen über und außerhalb der Wahrnehmung vorbehalten, sondern wesentliche Bestandteile der Wahrnehmung selbst sind“. Arnheim geht es jedoch nicht um die Entwicklung einer Erkenntnistheorie, sondern darum, die Begriffe Wahrnehmung und Anschauung den Einsichten gestaltpsychologischer Forschung entsprechend zu erweitern. Arnheim, R., Anschauliches Denken, S. 24. Eine ausführlich begründete Kritik an dieser Position leistet Holzkamp, K., Sinnliche Erkenntnis, S. 339ff. Arnheim, R., Psychologie, S. 231.
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Annahme, der Film sei realistisch. Arnheims eigentliches Argument besteht darin, aufzuzeigen, dass auch der Evokation von Wahrnehmungserlebnissen durch den Film psychologische Gesetze zugrunde liegen, in denen sich die dynamische Geschehensart sensorischer Prozesse in Formen ausdrückt, die Bestandteil der Umwelt sind. Der Film exponiert aus der Umwelt ausgesonderte Dinge und Vorgänge und „gestaltet“ sie nach dem Muster optischer Erlebnisse.201 Er hat auf diese Art und Weise direkten Einfluss auf ihre Wahrnehmungsbedingungen. Dass darüber hinaus die filmischen Mittel diesem Muster entsprechend auch künstlerisch ausgenutzt werden können, steht in keinem Widerspruch dazu. Es bliebe lediglich zu unterscheiden zwischen unbewussten Gestaltungsvorgängen und ihrer bewussten Ausnutzung im Sinne der Produktion von Wahrnehmungserlebnissen, die eine ästhetische Wirkung vermitteln, denn „was in der Wirklichkeit unvollkommen realisiert, nur angedeutet, mit anderem vermengt ist, das erscheint im Kunstwerk vollständig, vollkommen und reinlich von anderem abgeschieden“ (FaK, S. 175). Am Film lässt sich so beispielhaft demonstrieren, wie die Wahrnehmung funktioniert und nach welchen Gestaltgesetzen sie sich organisiert. Fragwürdig ist allein die Konnotation der ästhetischen Wirkung, die an einen bestimmten Ausdruckswert gebunden ist. Arnheim widmet sich diesem Problem ausführlich unter der Überschrift Seelische Vorgänge. Ausgehend davon, dass sich in der „Mimik des menschlichen Gesichts“ und der „Pantomimik des Körpers und der Gliedmaßen […] auf die direkteste und gewohnteste Art menschliches Denken und Fühlen“ (FaK, S. 173) ausdrücken, beschreibt Arnheim die letzten Entwicklungen des („naturalistischen“) Films als dahingehend, „das Mienenspiel immer mehr einzuschränken und den Schauspieler wie ein Requisit zu behandeln, das man charakteristisch auswählt und durch sein bloßes Dasein wirken lässt“ (FaK, S. 177). Zur Erinnerung: In seiner Dissertation hatte Arnheim die Physiognomik weitläufig als Zuordnung bestimmter Ausdruckswer201
Gertrud Koch sieht in dem der Gestaltpsychologie inhärenten Konstruktivismus eine Nähe zur ästhetischen Moderne: „What makes Gestalt theory compatible with aesthetic modernism is its inherent constructivism. Thus, analogous relations between the world of real objects and the world of perception are not established by means of images and imitation, but by similar structural principles governing both.“ Sie übersieht den entscheidenden Unterschied, der zwischen den rationalen Grundlagen des Konstruktivismus besteht, der der Natur feindlich gegenübersteht und den natürlichen Formprozessen, die Gestalten hervorbringen. Koch, G., Rudolf Arnheim, S. 171.
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te zu bestimmten Formen einzelner Gesichtsteile bestimmt. Indem Arnheim dem gestalteten Filmbild einen Ausdruckswert zuerkennt, erhebt er die Physiognomik zu einer allgemeinen Betrachtungsweise, die sich an der gestaltpsychologischen Wahrnehmungslehre orientiert und nicht mehr an einen konkreten Gegenstandsbereich – das Gesicht oder den Körper – gebunden ist. Damit geht einher, dass der spezifische Ausdruck, den die menschliche Mimik vermittelt, im Kontext des Gesamtfilmbildes neutralisiert werden muss. In seiner Dissertation kam Arnheim zu dem Ergebnis, daß ein Gesichtsteil nicht prinzipiell isoliert auf seinen Ausdruck hin betrachtet werden darf. Denn schon als bloße Form ist er so sehr von dem Ganzen, in dem er steht, abhängig, daß er durch Veränderungen anderer Gesichtsteile starke Veränderungen der Form und der Lage erleiden kann. Wenn solche Veränderungen schon figural möglich sind, ist klar, daß man auch bei der charakterologischen Beurteilung nicht vom einzelnen Gesichtsteil ausgehen darf.202
Übertragen auf den Film, folgt aus dieser Einsicht notwendigerweise, dass der Schauspieler zu einem „Requisit unter Requisiten“ wird, da er Teil eines Unterganzen – des Filmbildes – und von diesem Ganzen abhängig ist. In diesem Kontext sind seelische Zustände ebenso Wahrnehmungserlebnisse wie andere, optisch vermittelbare Gestalteindrücke und unterliegen denselben Gestaltgesetzen, die durch die Kunstmittel des Films bewusst ausgenutzt werden können. Nicht genug damit: Arnheim erhebt Ausdruckswerte zu einer generellen Wirkungsqualität des Films, die Bestandteil seiner Wahrnehmung ist und nicht mehr an die unmittelbare Darstellung des „Seelischen“ gebunden bleibt, die sich in Gefühlswerten äußert. Ausdruck ist nicht ästhetisch, sondern psychologisch konnotiert: als (Struktur)Eigenschaft von phänomenalen Gestalten. Dies bedeutet, dass nicht nur das Filmbild gestaltet ist, sondern alles Sichtbare und als solches das Sehen selbst zur Ausdrucksbewegung wird; folglich wäre die Physiognomik die ihr angemessene Betrachtungsweise. Für die Ausweitung des künstlerischen Gegenstandsbereiches vom Film zur bildenden Kunst, die Arnheims Entwicklung von einem der bedeutendsten Filmkritiker in der Weimarer Republik zum international renommierten Kunstwissenschaftler im Amerika der Nachkriegsjahre in 202
Arnheim, R., Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem, S. 113.
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groben Zügen charakterisiert, erweist sich seine weiterführende Beschäftigung mit dem Problem des Ausdrucks als grundlegend. Im Kontext der Gestaltpsychologie hatte Kurt Lewin Ausdruck „als einen psychophysischen Geschehensvorgang“ bezeichnet, dessen Untersuchung „nach den Kräften und Faktoren des Gesamtfeldes [fragt], aus dem gerade ein solches Geschehen resultiert“203. Inwiefern Arnheim diese psychologische Definition in Film als Kunst anwendet, wurde bereits ausgeführt. Nachzutragen bleibt, dass gerade hinsichtlich der Großaufnahme jenes Gesamtfeld wegfällt und die Gefahr besteht, dass ihr Ausdruck als Gestalteigenschaft einer ausgezeichneten Ganzheit wahrgenommen wird. Die Einbettung der Großaufnahme in die Totale dient dazu, das Ausdrucksgeschehen zu relativieren und zu kontextualisieren. Eine Modifikation der Lewinschen Theorie im Hinblick auf ästhetische Ausdrucksmomente unternimmt Arnheim erstmals in seinen Vasen-Studien. Im Umfeld dieser unveröffentlichten Skizzen bestimmt er Ausdruck als „Hörbarmachung/ Sichtbarmachung von Kraftwirkungen“204. Wenig später kommt er im Rückbezug auf das gestaltete Seherlebnis und auf der Grundlage der Isomorphie zu der Schlussfolgerung, dass dieser „physikalische“ Ansatz mit dem dynamischen Charakter von Wahrnehmungsvorgängen kongruiert: All percepts are dynamic, that is, possessed by directed tensions. These tensions are inherent components of the perceptual stimulus, just like the hue of a color or the size of a shape. But they have a unique property, not shared by the other components: being phenomenal forces, they illustrate and recall the behavior of forces elsewhere and in general. By endowing the object or event with a perceivable form of behavior, these tensions give it ‘character’ and recall the similar character of other objects or events. This is what is meant by saying that these dynamic aspects of the percepts ‘express’ its character.205
Unter der allgemeinen Fragestellung nach dem Zusammenhang zwischen Kunst und Sehen, die Arnheims interpretatorische Praxis als Kunstpsychologe charakterisiert, definiert er Ausdruck letztendlich als „Modi organischen oder unorganischen Verhaltens, die sich in der dynamischen Erscheinung von Wahrnehmungsobjekten oder -vorgängen offenba-
203 204 205
Lewin, K., Kindliche Ausdrucksbewegungen, S. 501. Vgl. Arnheim, R., Vasen, DLA. Arnheim, R., The Gestalt Theory of Expression, S. 53.
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ren“206 und die als solche ihr Äquivalent in der künstlerischen Darstellung haben. Es ist nur folgerichtig, dass Arnheim durch den Tonfilm die Existenz des Films als künstlerisches Ausdrucksmittel bedroht sieht. Der Tonzusatz vermag es, den Bildraum „wirklicher“ zu machen. Neben das rein optische Wahrnehmungserlebnis, das der stumme Film dem Zuschauer vermittelt, würde das akustische Erlebnis treten. Die Analyse des Filmbildes als gestalteter Wahrnehmung müsste um die Analyse des Geschehensablaufes als gestalteter Handlung erweitert werden. Zusätzlich zum Ton vernichten der Farbenfilm, der plastische Film und die Formaterweiterung „so ziemlich alle Gestaltungsmittel des Filmbildes […]: die Montage, den deutenden Gehalt der Einstellung, die dekorative Bildwirkung“ (FaK, S. 264). Die Montage diente der Verknüpfung von räumlich und zeitlich Disparatem zu Ganzheiten und war möglich aufgrund der Flächigkeit des Filmbildes. Analog dazu bezog sich die filmische Einstellung nicht nur auf die Gegebenheitsweise von Gestalten, sondern produzierte diese als das „bestimmte Zusammen“ und die „bestimmte Getrenntheit“ ihrer Teile. Die dekorative Bildwirkung beruhte auf spezifischen Gestaltqualitäten flächiger Gebilde. Plastischer Film und Formaterweiterung bringen es mit sich, dass der Bildrahmen den Charakter einer zwingenden Begrenzung verliert, das Filmbild sich dem wirklichen Raumeindruck annähert und nicht mehr als bewusste Komposition gelten kann. „Ist aber das Bild stark räumlich, so wird der Montageschnitt ein blutiger, gewaltsamer Eingriff in reale Räume“ (FaK, S. 268). Arnheims Argument, dass die ästhetischen Möglichkeiten des Filmbildes in seiner Flächigkeit zu suchen seien, beruht auf seiner Analogie von Fläche und (künstlerischem) Bild.207 Dabei werden die experimentalpsychologisch ermittelten hierarchischen Verhältnisse des Sehfeldes, die sich in der Wahrnehmung der Lagebeziehungen und der Form der Gestalten 206 207
Arnheim, R., Kunst und Sehen, S. 448. „Praktisch ist es aber trotzdem so, daß die gleichen Prinzipien der Flächenaufteilung, wie sie die Maler von alters her benutzen und wie die Fotografen sie übernommen haben, auch für den Film Geltung haben: beispielsweise gruppiert jede gute Filmeinstellung die Gegenstände des Bildes zu einfachen mathematischen Figuren, leitende Linien ordnen und vereinheitlichen die Vielheit des Gebotenen, die Flächen werden nach Größe, Form, Helligkeit zu einem Gleichgewicht ausbalanciert.“ Arnheim, R., Über den Film, S. 15, DLA.
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niederschlagen, in die „ästhetischen“ Wertigkeiten der Bildstruktur – ihren Ausdruck – übersetzt: Die Ausdruckskraft der Linie und Fläche, zumal der schief gerichteten, wird – nachdem der Expressionismus nachdrücklich auf sie hingewiesen hat – zumeist nicht mehr durch eine Verzerrung des Objekts selbst, sondern durch entsprechende Kameraeinstellungen zur Geltung gebracht. Wir wissen heute, dass es kaum ein Kompositionsprinzip, kaum eine Bizarrerie gibt, die man nicht, ohne dem Gegenstand Gewalt anzutun, durch bloße Kameraeinstellung erzielen könnte. Diese Verstärkung des Ausdrucks durch Beleuchtung und Einstellung – das ist wohl der Expressionismus von heute!208
Die Tendenz zu einer regelmäßigen, „guten Figur“ leitet sich aus der Eindringlichkeit der Bildanordnung ab, die durch die formalen Mittel des Films geschaffen wird. Der wirkliche Raumeindruck beraubt das Filmbild seines „Bildcharakters“, die physische Struktur des Raumes ist dominierend und lässt die Wahrnehmung eines „Bildes“ mit eigenen Gestaltqualitäten nicht mehr zu. In der Terminologie der Gestaltpsychologen bedeutet dies, dass der Zuschauer den Film nicht mehr als (flächige) Gestalt wahrnimmt, deren Gesetze sich aus den formalen Mitteln des Films ableiten und durch die die Wahrnehmung der Wirklichkeit umgeformt, anders aufgefasst und umzentriert, mithin „gestaltet“ wird209, sondern er erlebt sowohl das Einzelfilmbild als auch den Film in seiner Ganzheit lediglich als eine „schlechtere Prägnanzstufe“ des wirklichen Raumeindruckes. Den Aussagen der Gestaltpsychologen entsprechend hätte das zur Folge, dass er versuchte, aufgrund der „Tendenz zur prägnanten Form“ das Filmerlebnis der Wahrnehmungsgestalt wirklicher Ereignisse anzugleichen.210 Das entscheidende Argument dafür, dass der Film Kunst sei, besteht demnach in der Aufmerksamkeit, die er dem Zuschauer dadurch abnötigt, dass er ihm Wahrnehmungserlebnisse vermittelt, die nicht mit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit übereinstimmen. Die ästhetische Wirkung des Films beruht auf der Ausrichtung der perzeptiven Tätigkeit eines Betrachters auf das Filmbild und nicht auf die Wirklichkeit als den Bereich alltäglicher Erfahrungen. In psychologischer Hinsicht ist der 208 209
210
Ebd., S. 22. Zur Umzentrierung vgl. Wertheimer, M., Über Schlussprozesse im produktiven Denken, S. 180. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 318.
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Film dann Kunst, wenn die bewusste Gestaltung des Einzelfilmbildes dem Betrachter sinnvoll sowohl in seiner Eigenständigkeit als auch in Anbetracht des Filmes als Ganzem erscheint. Dabei sind die Eigenschaften des Filmbildes nicht beliebig wahrnehmbar, sondern das Wahrnehmungserlebnis selbst ist Produkt des Filmes in seiner Ganzheit. Dies schafft die Voraussetzungen für seine ästhetische Dimension: Der Film ist Kunst, da er über die entsprechenden Mittel verfügt, um Wahrnehmungserlebnisse bewusst zu gestalten. Dass sich Arnheim mit dem bloßen Postulat begnügte, ohne den Begriff der Kunst selbst kritisch zu hinterfragen, mochte seine Ursache in dem Mangel an kunsthistorischem Wissen haben, das sich Arnheim nachweislich erst zu einem späteren Zeitpunkt aneignete. Da jedoch der Film durch die Beschränktheit seiner Mittel nur ein geringes kunstgeschichtliches Wissen voraussetzte211, stand dies seiner Analyse nicht entgegen. Darüber hinaus weist gerade das Fehlen von traditionellen künstlerischen Gestaltungsmitteln – wie etwa dem Wegfall an räumlicher Tiefe, den fehlenden farblichen Gestaltungen und dem Ausfall des Lichtes als symbolischer Kategorie – den Film als „einfachen“ Untersuchungsgegenstand der Gestaltpsychologie aus. Auf der Grundlage einer strukturellen Analogie von Filmwahrnehmung und Alltagswahrnehmung stellte der stumme Film eine „optimale“ Anwendungsmöglichkeit gestaltpsychologischer Theoreme dar. Die Vergleichbarkeit beider Wahrnehmungsweisen basierte auf der Medialität des Sehens selbst: Gestaltpsychologischen Forschungsergebnissen zufolge gibt es kein unmittelbares Sehen im Sinne der exakten Reproduktion einer Reizvorlage, das Sehen ist immer schon ein gestalteter und somit ein durch die eigenen Strukturprozesse vermittelter Vorgang. Die Frage danach, was diese Strukturen konkret ausdrücken, beantwortete Arnheim in systematischer Form erst in seinem späteren kunstpsychologischen Werk unter Berücksichtigung traditioneller malerischer Mittel.
4.5. Maske Unter der Überschrift Charakterdeutung als Wissenschaft veröffentlichte Arnheim 1931 in der Weltbühne drei Aufsätze, in denen er an die Ergebnisse seiner Dissertation anknüpfte. War es ihm dort ganz allgemein um die Beurteilung graphologischer und physiognomischer Leistungen gegangen, so konfrontiert er nun seine These von einer nichtanalytischen 211
Vgl. Arnheim, R., Zauber des Sehens, S. 60.
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und begrifflich nicht systematisierbaren Erkenntnismethode mit der generellen Frage nach einem Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Methodenlehre. Für graphologische und physiognomische Tatbestände sei bestimmend, dass ihre konstitutionellen Faktoren […] nicht summativ, nur durch ein Pluszeichen verbunden, nebeneinander [stehen], sie sind vielmehr eingeschmolzen in eine Ganzheit, in deren Zusammenhang erst der nicht isolierbare Sinn des Einzelnen verstanden werden kann. Dies widerstreitet durchaus der uralten, klassischen Erkenntnismethode aller Wissenschaften; denn die erfasst die in der Wirklichkeit vorkommenden Einzeldinge – oder glaubte sie zu erfassen –, indem sie sie restlos in ihre Bestandteile zerlegt, diese Bestandteile in die betreffenden Kategorien einordnet und auf diese Weise jedem Gegenstand den Schnittpunkt der für ihn gültigen Relationen als nur ihm zugehörigen Platz im Begriffsnetz des wissenschaftlichen Weltbildes anweist.212
Die wissenschaftliche Gültigkeit des durch seine Zeitgenossen relativ weit gefassten Feldes der Charakterforschung schränkte Arnheim auf die Deutung der Handschrift und des Gesichts bzw. des menschlichen Körpers ein, da nur sie einen zu den Spannungsverhältnissen des Seelischen adäquaten „Niederschlag von Bewegungsformen“213 – sei es im Spiel der Muskeln oder in den Rundungen der Schrift – darstellen. Während sich Arnheim in seiner Dissertation ausführlich mit der Ausdrucksanalyse von Handschriften und menschlicher Mimik auseinander setzte, erweiterte er in seinem Roman Eine verkehrte Welt den Gegenstandsbereich physiognomischer Leistungen um das Ausdrucksmittel der Maske, die er als Abdruck des natürlichen Gesichtsausdrucks ihres Trägers versteht.214 In diesem Roman findet sich der Protagonist unvermutet in einer Welt wieder, in der die Nacht zum Tag gemacht wird, Arbeit das höchste Gut darstellt und dementsprechend die unterste Gesellschaftsschicht die Reichen bilden, die Menschen Masken und Handschuhe tragen und ansonsten unbekleidet sind. Das gestalterische Prinzip einer Umkehrung, 212 213 214
Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft I, S. 556f. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft II, S. 601ff. Arnheim widmet sich so einem Gegenstandsbereich, der zu den ältesten der Physiognomik zählte: Karl Bühler hatte in seiner 1933 erschienenen Ausdruckstheorie darauf verwiesen, dass gerade die Masken antiker Schauspieler Gegenstand der pseudoaristotelischen Physiognomik waren. Vgl. Bühler, K., Ausdruckstheorie, S. 15f.
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das dem Roman zugrunde liegt, lieferte die Gestaltpsychologie. Arnheim zufolge wird dieses durch die Maskenmacherin verkörpert, um die herum sich die Handlung entfaltet.215 In ihrem Sinne kommt der Maske ganz allgemein die Funktion zu, die Züge ihrer Träger zu verdeutlichen. Da sich ihre Selbstbilder jedoch zum größten Teil aus kollektiven Wunschvorstellungen speisen, die sich aus dem Stellenwert der Arbeit ableiten, ersetzt die Maske in den meisten Fällen den natürlichen Gesichtsausdruck durch ein von der Gesellschaft zuallererst produziertes und normiertes Identitätsmodell. Die Funktion dieser stereotypischen „Allerweltsmodelle“ ist politisch motiviert; sie besteht darin, etwas zu verbergen. Für den Protagonisten des Romans besitzt sie eine andere Funktion; ihn verleitet die Ablenkung vom natürlichen Ausdruck des Gesichts dazu, „das Gesicht des Körpers“216 (VW, S. 112) zu entdecken: Seele und Charakter saßen nicht nur im Gesicht, sondern sprachen sich allenthalben aus; ja über den ganzen Körper verteilt, schienen sie auseinandergelegter und waren daher in ihren einzelnen, oft gegensätzlichen Elementen deutlicher zu erkennen. Die größte Offenbarung aber waren die Hände […]. Was im starren Schädel an Gedanken sich unsichtbar bewegte, das führten die Hände in leibhaftiger Handlung vor, indem sie den leeren Raum zwischen Redendem und Hörer zur Bühne machten. (VW, S. 113)
Arnheims Formulierung erinnert nicht von ungefähr an die von Béla Balázs herausgearbeitete kulturgeschichtliche Bedeutung des Films: den menschlichen Körper wiederentdeckt zu haben.217 Die offenkundige Analogie zum Kino vergegenwärtigt auch die Tatsache, dass Maskenträger und Schauspieler eine Sprache der Mimik und Gebärden aufführen, die als ursprüngliche Ausdrucksbewegungen figurieren.218 Entsprechend 215
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„Mein Roman ist um das Maskenmachermädchen als die zentrale Hauptfigur komponiert. Sie verkörpert die Ansprüche der Gestalttheorie, deren Wesen optimistisch ist. Sie stellt diese den grauenhaften Verzerrungen der Diktaturen gegenüber.“ Arnheim, R., Brief an U.B. vom 19.10.1999. Alle folgenden Zitate aus Rudolf Arnheims Eine verkehrte Welt beziehen sich auf die 1997 in Hürth erschienene Ausgabe und werden mit dem Sigel VW abgekürzt, und durch die entsprechenden Seitenangaben im Haupttext kenntlich gemacht. Balázs, B., Der sichtbare Mensch, S. 53ff. Balázs’ Grundannahme einer Entgegensetzung von Geist und Körper ist mit Arnheims gestaltpsychologisch motivierten Überlegungen, die beiden ein glei-
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dem Wahrnehmungseindruck der „wirklichen“ Welt verkehrt Arnheim die Deutung des menschlichen Erscheinungsbildes: Dieses lässt sich nicht mittels physiognomischer Deutung der Mimik und Chironomie lesen, sondern der unbekleidete Körper bildet sein Ausdrucksmaterial. Arnheim hatte in seiner Dissertation an der zeitgenössischen Physiognomik kritisiert, dass sie ihren Ausgang von einzelnen Gesichtsteilen nehme und „die verschiedenen vorkommenden Arten von Stirnen, Nasen, Mündern feststell[e], den ihnen als Einzelstücken zukommenden Charakter bestimm[e] und von solchen Teilbeobachtungen aus den Gehalt des Ganzgesichts zu erfassen such[e]“. Dagegen hatte er nachweisen können, dass sich nicht die Formen einzelner Gesichtsteile oder Körperteile zueinander verhalten, sondern dem Gesicht bzw. Körper als Ganzheit ein bestimmter Ausdruck zukomme.219 Gleichwohl zieht er in Betracht, dass seine Forschungsergebnisse den täglichen Sehgewohnheiten nicht notwendigerweise entsprechen, da der weit verbreitete summative Ansatz zu einer „Dressur“ auf eine bestimmte Sehweise geführt habe.220 Erst wenn diese erkannt und die „Aufmerksamkeit ausgeschlossen und befreit von der gewohnten Betrachtung der Gesichter“ ist, kann sie „neue Welten des Ausdrucks“ entdecken (VW, S. 114). Analog zu der Entwicklung des Tonfilms, die es mit sich bringt, dass der Schauspieler zu einem „Requisit unter Requisiten“ wird, da er Teil eines Unterganzen – des Filmbildes – und von diesem Ganzen abhängig ist, muss auch das Gesicht zu einem Körperteil unter Körperteilen werden, wenn die menschliche Gestalt als Ganzheit wahrnehmbar sein soll. Dem Körper als „Ganzgestalt“ ist die Maske als „Ganzgesicht“ gegenübergestellt. In den wenigsten Fällen erfüllt die Maske diese, ihre eigentliche Aufgabe, nämlich Abbild von Charakterbildern zu sein, die ihr Urbild in der konkreten Anschauung der Person haben. Dass „ihre Masken so voller Ausdruck sind, obwohl ihnen das Wesentliche, Auge und Blick, fehlt“ (VW, S. 123), resultiert aus der theoretischen Notwendigkeit, den spezifischen Ausdruck der Augen zu neutralisieren, den bereits Lavater in seiner Physiognomik herausgestellt hatte.221 Arnheims Diskussion des Ausdrucksvermögens der Masken erinnert nicht von un-
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ches Formniveau zusprechen, nicht vereinbar. Ebd. und Matzker, R., Das Medium der Phänomenalität, S. 177ff. Arnheim, R., Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem, S. 96. Vgl. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft I, S. 558. Vgl. Lavater, J.C., Physiognomische Fragmente, S. 316f.
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gefähr an die von Lessing am Anfang seines Laokoon gestellte Frage, warum „der Künstler […] [Laokoons] Schreien nicht nachahmen woll[te]“, obwohl „das Schreien bei Empfindung körperlichen Schmerzes […] gar wohl mit einer großen Seele bestehen kann“222. Lessing führte als Ursache für die Beschränkung der Ausdrucksmittel an, „daß sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst, und von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind“223. Die bildhaften Momente der Maske suggerieren, dass ihr Vorbild die darstellende Kunst ist. Dies mag für die Gesamtanlage des Romans zutreffen, der sich weniger an der Literatur als an der bildenden Kunst bzw. dem Film orientiert, was noch zu zeigen sein wird. Es trifft jedoch nicht für die Analyse der Maske als Ausdrucksmittel zu, denn nicht die Unterscheidung zwischen dem Wesen des Maskenträgers und dem Schein der Maske bestimmt den Gehalt, sondern das Verhältnis von Teil und Ganzem der Maske als einer psychologisch konnotierten „Gestalt“. Aufgrund ihres starren und unveränderlichen Ausdrucks demonstriert die Maske in nicht zu überbietender Deutlichkeit die These der Gestaltpsychologen, dass Reize keine parallelen Reaktionen provozieren, sondern sich Gestalten selbst organisieren. Nicht ein bestimmtes Erlebnis evoziert den traurigen Ausdruck einer Maske, sondern die Trauer ist eine autochthone Gestaltqualität, die sich von der Maske als phänomenaler Gestalt ableiten lässt und mit entsprechenden sensorischen Prozessen korreliert. Vor diesem Hintergrund tragen Arnheims Ausführungen auch der Tatsache Rechnung, dass der unablässig umherschweifende Blick, den die Augen preisgeben, die Wahrnehmung des Subjekts dominiert.224 Da dieses Sehen in sich bereits Ausdrucksbewegung ist225, würde seine Fokussierung notwendigerweise eine Poetik der Sichtbarkeit erfordern, die nicht mehr die konkreten Anschauungsgebilde erkundet, sondern ausschließlich die Form der Wahrnehmung. Diesem Formalismus wider222 223 224
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Lessing, G.E., Laokoon , S. 16. Ebd., S. 26. Der Blick zerstört ebenso den optischen Gesamteindruck des Gesichts wie der Ton den des Films. So notierte Rudolf Arnheim am 19.10.1934 in sein Tagebuch (AAA): „Es war […] und es ist nicht mehr möglich, sich jener Gebärdensprache zu bedienen, die ganz unnaturalistisch eine große Szene zu einer konzentrierten Abfolge weniger, symbolischer Bewegungen zusammenzog. Hier hatte sich, man sieht es heute auch einem alten Durchschnittsfilm an, ein wirklich reiner optischer Stil herausgebildet.“ Boehm, G., Die Wiederkehr der Bilder, S. 17.
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spricht nicht nur die psychologische Grundlage der Gestalttheorie, sondern auch das paritätische Verhältnis von Ganzem und Teilen menschlicher Physiognomie. Dabei darf nicht vergessen werden, dass mit dem Auge auch eine Theorie des Bewusstseins verbunden ist, die die Fähigkeit zur Selbstreflexion impliziert. Diese philosophische Theorie ist unvereinbar mit der psychologischen Auffassung vom Bewusstsein „als ein[em] Teil der Realität […] als ein[em] mundane[n] Bezirk neben anderen, der mit diesen zusammenhängt“226. Das Interesse der Gestaltpsychologen am Bewusstsein beschränkte sich auf „Aktivitäten in dem Bereich des ‚nervösen Geschehens‘“227. Bewusstsein ist somit kein in einem modernen Sinne von der Natur künstlich abgegrenzter Bereich, sondern – in gegenteiliger Diktion – Ausdruck natürlicher Gestaltprozesse. Im Rahmen der Verkehrten Welt gestaltet Arnheim diesen Sachverhalt in der Figur des Maskenträgers, der sieht, ohne sich oder anderen beim Sehen zusehen zu können. (Diese Grundkonstellation erfährt auch der Kinobesucher, auch ihm ist die Möglichkeit genommen, mithilfe seines Blickes zu interagieren.) Folglich verliert er die Fähigkeit zur Distanznahme und Selbstreflexion. Hier überlagern sich die politischen Implikationen der Handlung und die gestaltpsychologischen Intentionen ihres Autors. Denn glaubt man Arnheims eigener Deutung des Romans, dann resultieren die gesichtslosen Menschen aus der Totalität des Regimes. Davon ausgenommen scheinen lediglich die Maskenmacherin und der Protagonist zu sein. Seine Reaktion auf den Erhalt einer Maske ist eindeutig gestaltpsychologisch motiviert: „Die Maske war sehr schön, zeigte wohltuende, klare Formen, ausgewogene Verhältnisse. War das mein Gesicht? Wohl kaum. Aber vielleicht, dachte ich, würde ich so ähnlich aussehen können, wenn ich das Beste verwirklichte, was in mir war“ (VW, S. 127). An die Stelle eines ihm selbst bewussten Seins tritt der ästhetische Schein, der nur Schein ist, da er sich aus dem psychologischen Gesetz zur guten Gestalt ableiten lässt und nicht von der Autonomie eines ästhetischen Bereiches gestützt wird. Folglich befähigt er zu keiner darüber hinausweisenden Erkenntnis. Hier deutet sich nicht nur die Übertragung der Tendenz zur guten Gestalt auf die Persönlichkeit an.228 226 227 228
Gurwitsch, A., Das Bewusstseinsfeld, S. 129. Keiler, P., Isomorphie-Konzept und Wertheimer-Problem, S. 101. Bereits 1914 hatte Gabriele Gräfin Wartensleben die Persönlichkeit psychologisch und mit Bezug auf Max Wertheimer, als Gestalt, aufgefasst und auf dieser Begriffsbestimmung ihr Buch Die christliche Persönlichkeit im Idealbild aufgebaut. Später forderte Wolfgang Köhler geradezu programmatisch die Über-
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Viel wichtiger im Kontext der vorangegangenen Ausführungen ist der Sachverhalt, dass das Sehen nicht länger eine Kategorie der Erkenntnis ist. Es wird zur schlichten Sinnesempfindung. Darüber hinaus enthüllt Arnheims Verkehrte Welt, dass nicht die menschliche Mimik den eigentlichen Gegenstand der Physiognomik bildet, sondern ihr starres Abbild, wie es die Maske zur Schau stellt. Da die Muskel- und Augenbewegungen des lebendigen Gesichts ständig neue Strukturzusammenhänge schaffen, mit denen sich der Ausdruck des Gesichtes permanent verändert, verleiht allein die Totenmaske den Zügen ihres „Trägers“ eine dauerhafte Gestalt. Während die ‚Charakterbilder in der Geschichte, hin und her gestoßen von den Stürmen der Meinungen, schwanken‘, sind ‚Totenmasken gradezu bestürzend wahr‘, da an ihnen nichts von dem zerstört vorliege, ‚was die Lebensenergien formten‘.229 Das Bild der Totenmaske tritt an die Stelle einer Hermeneutik des Lesens, ihr ewiger und eindeutiger Ausdruck an die Stelle wechselnder, historisch bedingter Gehalte. Arnheim führt so vor, wie der universale Deutungsanspruch der Gestaltpsychologie aufgrund seines Ausschlusses von Geschichte zum Stillstand führt, den nur der Tod ins rechte Bild zu setzen vermag. Mit dem Verzicht auf das Auge als Teil des Gesichtes geht einher, dass die Wahrnehmung wieder in den Körper eingebunden wird. Da „in Körper und Seele der gleiche Formtypus, das gleiche Formniveau, die gleichen Spannungsverhältnisse herrschen“230, tritt an die Stelle des Blicks als Selbstbezug der Körper. Die maskierten Bewohner der verkehrten Welt bedürfen seiner als notwendiges Korrelat einer ausdruckshaften (Selbst)Darstellung. Symbolisch wird diese Dimension durch das Lämpchen eingeholt, das jeder auf der Brust trägt und das ihre nächtliche Welt illuminiert. Zwar habe es „das irdische Leben von der Zwangsherrschaft der Sonne befreit und den Mittelpunkt der Welt aus der geistlosen Natur in den Menschen verlegt“ (VW, S. 52), als Blickfang und Blickbahn des Auges veranschaulicht es jedoch die Transzendenzunfähigkeit einer körpergebundenen Wahrnehmung, die die Dinge so präsentiert, wie sie jeweils erscheinen, ohne sie zu deuten. Aus den fehlenden Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis resultiert die Indienstnahme der „Körperkunst“
229 230
tragung des Begriffs der Gestalt – nicht nur auf die Persönlichkeit, sondern auch auf Figuren, Dinge, Worte, Sätze. Köhler, W., Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 201. Arnheim, R., Totenmasken, S. 74. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft II, S. 602.
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durch die Politik. Wie die „Körperkunst“ als Mittel zur Befestigung eines Herrschaftsanspruches eingesetzt wird, verdeutlicht Arnheim an der Friedensfeier, die als gymnastische Übung periodisch für die Bewohner abgehalten wird: Mich überraschte die Wirkung dieser Übungen. Ich hatte nicht gewußt, daß körperliche Handlungen so stark die Seele beeinflussen konnten. Unleugbar erzeugten die turnerischen Bewegungen das Gefühl, das sie ausdrücken sollten […]. Auch bereitete es mir eine wohlige Entspannung, in so voller Übereinstimmung mit den anderen Menschen mich zu bewegen, allen verbunden, des eigenen Wollens und Denkens überhoben, dem allgemeinen Tun vertraulich hingegeben. Ich fühlte mich leer, aber zufrieden, und so ähnlich fühlten, mehr oder weniger bewußt, wohl auch die übrigen Turner. (VW, S. 241f.)
Den gymnastischen Übungen geht das Anlegen von Einheitsmasken voraus: „Alle trugen die gleiche Maske, die ein schematisch vereinfachtes, versöhnlich lächelndes Gesicht zeigte“ (VW, S. 236). Die Desubjektivierung der Maskenträger korreliert mit der Entindividualisierung ihrer Körper. Folgt man den Ausführungen der Gestaltpsychologen, so verfügen Empfindungen über eine spezifische Struktur. Sie können demnach sowohl typisiert als auch in kinetische Vorgänge übersetzt werden, die die Turner aufgrund ihrer Muskelempfindungen nacherleben.231 In einem aristotelischen Sinne bewirkt dann die Nachahmung der turnerischen Bewegungen die Reinigung von Erregungszuständen. Arnheim modifiziert Aristoteles’ Katharsistheorie dahingehend, dass die Wirkung nicht aufgrund der Einfühlung in die bewegende Geschichte eines Handelnden zustande kommt,232 sondern auf dem isomorphen Strukturprinzip zwischen den formalen Bewegungen der Turner und ihrer psychischen Stimmung beruht. Die Empfindungen, die den Bewohnern der Verkehrten Welt auf diese Art und Weise vermittelt werden, entsprechen nicht ihren individuellen Erlebniswahrnehmungen, sondern reproduzieren einen vorgegebenen Gehalt. Ausdruck wird zu einer Inversionsbewegung verkehrt; die gymnastischen Übungen dienen nicht der Veräußerlichung eigenen Erlebens, sondern der Verinnerlichung eines fremdbestimmten und vereinheitlichten Identitätsmodells. Entsprechend reagieren der Protagonist und die anderen Turner: Sie fühlen sich „leer“ und „zufrieden“. 231
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Dass Gesten bestimmte Stimmungen erzeugen können, berücksichtigte bereits Lessing in seiner Schauspielertheorie. Aristoteles, Poetik, S. 19.
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Das Vorbild für diese Übungen lieferte offensichtlich die Realität faschistischer Massenveranstaltungen.233 Gleichwohl orientiert sich ihre literarische Darstellung eher an gestaltpsychologischen Prinzipien, als dass sie die historischen Ereignisse verarbeitet. Neben der geschlossenen Form des Romans, die seine inhaltlichen Konflikte neutralisiert, wird dies auch deutlich an der Schilderung des Tagesparadieses, eines locus amoenus, die den Roman beschließt und die „Totalität des Regimes“ konterkariert. Denn aus dem mangelnden Selbstbewusstsein der Bewohner der Verkehrten Welt, das durch ihre Masken ausgedrückt wird, folgt notwendigerweise ihre totale Auslieferung an das Regime. Im Widerspruch dazu entwirft Arnheim mit dem Tagesparadies einen Ort der Selbstfindung, an dem ein natürliches „Gesetz“ waltet, das sich von der Willkür politischer und sozialer Herrschaft radikal unterscheidet. Analog zu den Ausführungen Kleists, die besagen, dass die Besinnung auf den Verstand dem Menschen seine Unschuld geraubt habe, zweifelt auch der Ich-Erzähler daran, dass der „Mensch [sobald er] unter die Herrschaft seines Verstandes kommt“ (VW, S. 274), dem „Gesetz“ gehorchen kann. Während bei Kleist das Paradies durch ein „unendliches Bewusstsein“ wiedererlangt werden kann234, erfährt der Protagonist der Verkehrten Welt, dass nicht das Bewusstsein, sondern sein Verlust der Weg zur Erkenntnis des „Gesetzes“ sei. Dieses wird an einem von der „Wirklichkeit“ der verkehrten Welt „abgehobenen, utopischen Ort“ erkannt, der in klassischer Weise Natur und Liebesgeschehen verbindet.235 Die Darstellung der Liebe im Tagesparadies ist nicht mehr länger als innerpsychische Empfindung auf die Innenschau der Personen angewiesen, sondern wird durch das Verhalten der Mädchen beim „Wasser holen“ ausgedrückt. In dem Ritual der Wasser holenden Frauen, die damit ihrer Werbung um die Gunst der Männer Ausdruck verleihen, offenbart sich das „Gesetz“:
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So notierte Arnheim am 21.10.1934 in sein Tagebuch (AAA), dass „sich [der Sohn des Hauswirts, U.B.] über die, sehr wirksamen, Sprechchöre gewundert, das Revuemäßige der Veranstaltung – ein Verfahren, dessen Wirksamkeit Sekten, Heilsarmee etc. seit langem kennen. Beginn einer neuen künstlerischen Form des Meetings? Bilden sich an Stelle des bloß zusammenlaufenden Haufens Riten, die das Gemeinschaftserlebnis gestalten – Ausdruck einer sich bildenden kollektivistischen Kultur.“ Kleist, H.v., Über das Marionettentheater, S. 563. Vgl. Garber, K., Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis, S. 105.
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Sicher, als seien sie zum krönenden Teil ihrer Körper geworden, standen die Krüge auf den Köpfen der Mädchen. Und die Körper schienen unter der Last wie verwandelt. Sie hielten sich in prächtiger Geradheit aufrecht; und doch spielten, während sie sanft, aber bestimmt, die Stufen hinaufkamen, unter der Haut die Muskeln und Knochen in weichen Biegungen beständigen Ausgleichs. Die aufsteigenden Beine brachten eine Bewegung, die von Leib und Brust aufgenommen und zur Ruhe gebracht wurde, so daß der Kopf und der Krug sich kaum regten. (VW, S. 275f.)
Erst wenn die Mädchen ihren Willen nicht als elementare subjektive Kraft begreifen, sondern der Lösung der Aufgabe selbst unterordnen236, gelingt ihnen der Balanceakt. Erst dann veranschaulichen ihre Körper in idealer Weise jene Kräftekonfigurationen, die die Grundlage für Gestaltprozesse bilden und die ihr Pendant in jener natürlichen Umgebung des Tagesparadieses haben.237 Die Emotionen der Mädchen dienen so dazu, die Beziehungen zur umgebenden Welt auszudrücken. Dabei bezieht sich das „Gesetz“ auf die „Einheit der Welt“, deren Erscheinungen im Menschen als Sonderfall auftreten.238 Nun besagt der Ganzheitsanspruch der Gestaltpsychologen, dass jeder Teil einer Gestalt seinen Platz und seine Eigenschaft nur als Teil des Ganzen erhält. In den Stand der Unschuld zurückzufallen, bedeutet weder den eigenen Willen239 aufzugeben und sich seinen ungeordneten Empfindungen zu überlassen noch sich 236
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Die Experimentalpsychologie hatte längst mit dem Vorurteil vom Willen als einer elementaren psychischen Kraft aufgeräumt. Der Wille war zu einem „unselbständige[n] Moment der Frage nach den seelischen Kräften und Gesetzen überhaupt“ geworden. Lewin, K., Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie, S. 12. In einem 1979 mit Psychologie heute geführten Interview führt Arnheim die Wasserträgerinnenszene – deren Zeuge er während seiner Zeit in Italien wurde – als Schlüsselerlebnis für die Erkenntnis an, „daß die Elemente des Lebens sich noch selbst darstellten. Auf dem flachen Land konnte ich Frauen beobachten, die mit Krügen auf ihrem Kopf zum Brunnen gingen – so wie in biblischen Zeiten […]. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur lag offen zutage.“ Arnheim, R., Wir denken zu viel und sehen zu wenig, S. 26. Arnheim, R., Entthronung des Willens, S. 517. In Anlehnung an die Forschungen Kurt Lewins versteht Arnheim unter Willenshandlung die lapidare Erkenntnis, dass „zur Erreichung eines Ziels ein andrer Weg besser ist als der von den Situationsantrieben unmittelbar diktierte“. Ebd., S. 519.
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einer mythischen und irrationalen Weltsicht240 auszuliefern. Denn den Prämissen der Gestaltpsychologie zufolge sind die individuellen Empfindungen bereits geordnet und insofern sinnvoll. Der Welt selbst sind Ordnung und Sinn inhärent; sie bedarf nicht des Bewusstseins als einer sinnstiftenden und ordnenden Instanz. Der Stand der Unschuld, den Arnheim fordert, ist kein Zustand der Bewusstseinslosigkeit. Gleichwohl provoziert die Festlegung des Bewusstseins auf psychologische Erklärungsmuster beim Leser den Eindruck, dass hier die Errungenschaften der Aufklärung allzu bereitwillig zugunsten einer prästabilierten Harmonie der Dingwelt preisgegeben werden.
4.6. Literatur: Eine verkehrte Welt Arnheim schrieb seinen Roman Eine verkehrte Welt in den Jahren 1936 bis 1940. Obwohl sich in ihm autobiographische, zeitkritische und phantastische Motive überlagern, lässt sich die Frage nach der Struktur weniger aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit beantworten als durch den Hinweis auf die Gestaltpsychologie. Denn im Hinblick auf die Wirklichkeit der verkehrten Welt, die Arnheims nichtmimetischer Grundeinstellung zufolge nicht einfach als Umkehrung einer „richtigen“ vorgestellt wird, ist die Gattungsbezeichnung „phantastischer Roman“ insoweit irreführend, da der Handlung jene Unsicherheit fehlt, die der Konstruktion einer äußerlich unmöglichen Welt durch die ihr immanente innere Wahrscheinlichkeit des geschilderten menschlichen Seelenlebens zu eigen ist.241 Dem entspricht, dass die Idee des Buches, nämlich Lebensmodelle umzukehren242, sowie die Anlage des Romans fast vollständig im theoretischen Hintergrund der Gestaltpsychologie aufgehen. Wie der Strukturzusammenhang der bisher untersuchten bildhaften Gestalten ist auch 240
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Diese Intention machte Arnheim in seinem Artikel Flucht zu den Schachtelhalmen bei Gottfried Benn dingfest. Vgl. Apel, F., Wir gehen wie auf Köpfen. Apels Hinweis auf die lange Tradition einer verkehrten Welt als mythischer und literarischer Topos ist insofern irrelevant, da Arnheim seinen Einfall auf der Grundlage von Gestaltgesetzen umsetzt und nicht an literarische oder mythische Traditionen anknüpft. Anna Seghers veröffentlichte 1939 in der Neuen Weltbühne eine phantastisch anmutende Geschichte Reise ins Elfte Reich. Allerdings war der Gegenbegriff zu ihrer Erzählung von einem verkehrten Land die Realität der Emigranten; das Phantastische ihrer Erzählung ging somit vollständig im Allegorischen auf. Vgl. Seghers, A., Reise ins Elfte Reich, S. 76ff.
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der Zusammenhang des Romans durch ein Verhältnis von Ganzem und Teilen bestimmt. Da die Ganzheit mehr ist als die Summe der Teile, wird eine Einheit des Textes vorausgesetzt, die sich in der Abgeschlossenheit des Entwurfs einer – wenn auch verkehrten – Welt manifestiert. Sie baut sich allerdings nicht durch das Fortschreiten der Handlung auf. Für Arnheim ist „Handlung“ kein poetologischer Begriff, sondern ein psychologischer Sachverhalt, der das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ausdrückt. Ganz in diesem Sinne erläutert ein Bewohner der Verkehrten Welt dem Protagonisten, dass es nur „drei Arten von Handlungen gibt: angenehme, unangenehme und gleichgültige“ (VW, S. 79). Die Handlung wird durch Empfindungswerte (Lust und Unlust)243 als Wirkfaktoren des Verhaltens erklärt244, zwischen Handlung und Verhalten folglich nicht unterschieden. Im Strukturzusammenhang des Romans bedingt die Einbindung der Handlung in ein psychologisches Verhaltensmodell die Ersetzung des poetologisch konnotierten Begriffes durch eine „aufzählende Beschreibung von Themen“245, deren Bedeutung sich nicht in der Abfolge, sondern erst im Gesamtzusammenhang konstituiert. Arnheims Darstellung der verkehrten Welt zielt auf das „Gesetz“, mithin auf ein funktionales Prinzip, welches das Geschehen generiert. Analog zur Handlung, die nicht als ein den Roman bündelndes, ästhetisches Prinzip verstanden wird, sondern als Verhaltensweise, leitet sich auch der Konflikt des Protagonisten aus dem theoretischen Hintergrund der Gestaltpsychologie ab. Es wurde bereits erwähnt, dass sich der Sinn der Verhaltensweisen der Bewohner der verkehrten Welt dem Protagonisten über das Studium ihrer Körper erschließt. Bezogen auf die Selbstwahrnehmung des Protagonisten, gewinnt die Aussage der Gestaltpsychologen an Bedeutung, dass „für die Sinnhaftigkeit eines Herganges, also eines funktionellen Geschehenstypus, Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Bewusstsein nur sekundäre Bedeutung hat“246. So gibt es zwar einen Ich-Erzähler, trotzdem wird die Handlung weder vom 243
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Diese „elementaristische“ Motivation von Handlungen steht im Widerspruch zur Ablösung von Lust und Unlust als fundamentalen Faktoren durch „die psychischen Spannungssysteme und die Richtung der in ihnen wirksamen Kräfte“. Lewin, K., Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie, S. 14. Dass gerade diese Unterscheidungen den experimentalpsychologischen Untersuchungen von Handlungen im Allgemeinen zugrunde lag, belegen Lewins Ausführungen zur experimentellen Willenspsychologie. Ebd., S. 21f. Vgl. Arnheim, R., Brief an U.B. vom 19.10.1999. Köhler, W., Bemerkungen zur Gestalttheorie, S. 198.
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Standpunkt eines subjektivistisch-perspektivischen Verfahrens vermittelt, noch die psychische Disposition des Helden selbst thematisiert. Wie wird dann das Verhältnis des Protagonisten zur verkehrten Welt geschildert? Seine Wahrnehmungsperspektive ist am Positiv einer „richtigen“ Welt geschult und wird seinen Erlebnissen entsprechend im Verlauf der Handlung umgestaltet. Parallel dazu erfolgt seine Eingliederung in die Gesellschaft der Verkehrten Welt. Der Prozess der Umstrukturierung der Funktionen von Dingen und Sachverhalten, deren Erscheinungsweise dem Protagonisten aus der „wirklichen“ Welt geläufig ist, vollzieht sich nach jenem denkpsychologischen Muster, das Wolfgang Köhler an tierpsychologischen Versuchen aufzeigte.247 In Film als Kunst schreibt Arnheim der Umstrukturierung, die Prozesse der Wahrnehmung, Vorstellung und des Begreifens auszeichnet248, zwei wesentliche Wirkungen zu. Zum einen interpretiert er sie als „reine Willenshandlung“, die der Integration des Subjekts in seine Umwelt dient. Zum anderen als künstlerisches Mittel, indem nämlich „überraschende Kongruenzen der Form oder der Funktion ausgespielt“ werden, um eine komische Wirkung zu erzielen.249 Gerade dieser Sachverhalt vermag die Einsicht zu befördern, dass der Roman eher der Groteske zuzuordnen ist als der Phantastik. Freilich einer Groteske, deren komische Wirkung seit „Franz Kafka zu einer angstvollen Frage verstummt war“250. Denn sowohl Arnheims nichtmimetischer Ansatz, der in dem fehlenden Rückbezug der Verkehrten Welt auf einen realistischen Kontext aufscheint, als auch die thematische Bedeutungslosigkeit der Subjektivität und das Fehlen eines „Moments der Transgression“ widersprechen dem allgemeinen Konsens in Bezug auf die Grundstruktur phantastischer Werke.251 247
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Köhler, W., Intelligenzprüfungen am Orang, S.180ff., und Arnheim, R., FaK, S. 215f. Wertheimer, M., Über Schlussprozesse im produktiven Denken, S. 182. Arnheim, R., FaK, S. 214ff., und Arnheim, R., Entthronung des Willens, S. 518ff. Arnheim, R., Nachwort, in: Eine verkehrte Welt, S. 293. Vgl. Penning, D., Die Ordnung der Unordnung, S. 35ff. Allerdings machten es die zeitgeschichtlichen Umstände dem Autor der Verkehrten Welt nahezu unmöglich, von einer vertrauten Wirklichkeit auszugehen und diese schrittweise zu verfremden. Für Arnheim, der 1933 nach Italien emigrierte und von dort sechs Jahre später nach London, gab es zur Zeit der Entstehung des Romans nur in der Fiktion eine in sich konsistente und vertraute Welt. Dass diese gleichsam eine „verkehrte“ darstellte, legt auch existentielle und politische Gründe für die Abweichungen von traditionellen Gattungsmerkmalen nahe.
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Die Folie, vor der sich dem Roman groteske Züge nachweisen lassen, bildet allerdings nicht eine bestimmte, romantische Erzähltradition, sondern der Groteskfilm. Denn es handelt sich weniger um eine Verzerrung des Sinns als um die Verkehrung der Funktion von Bekanntem, Altvertrautem und Alltäglichem. Dies wird besonders deutlich im Kapitel Erziehungskino. Der Protagonist und die Maskenmacherin besuchen eine Filmaufführung mit dem Titel Heitere Abenteuer in der Kinderstube. Dem Protagonisten wird zunächst noch vorenthalten, dass es sich bei den Aufnahmen einer jungen Familie um dokumentarisches Material handelt, das ohne ihr Wissen angefertigt wurde, da in jedem bewohnten Zimmer der Stadt Aufnahmeapparate für Bild und Ton eingebaut seien.252 Gemäß dem Prinzip der Umkehrung erziehen nicht die Eltern ihre Kinder, sondern diese jene. Die Maskenmacherin begründet diesen Sachverhalt mit der „Vollkommenheit“ von Kindern, denen noch nicht „Gewohnheit und Zweck die Sinne zugehängt“ (VW, S. 136) haben. In diesem gar nicht so verkehrten Sinne spielten die Aufnahmen von Kindern auch in der „richtigen“ Welt als experimentelles Hilfsmittel für die Gestaltpsychologen, insbesondere für Kurt Lewin, eine große Rolle.253 Im Kontext der Gestaltpsychologie hatte sich Lewin auf die Untersuchungen des Willens, der Affekte und Handlungen spezialisiert. Um dem Spannungsgefüge zwischen der inneren Verfassung des Individuums und seiner Gesamtsituation gerecht werden zu können, übernahm Lewin aus der Physik den Begriff des Feldes und bestimmte ihn als strukturierten und gerichteten Handlungsraum.254 Dabei diente der Film Lewin dazu, die in ihm stattfindenden Prozesse zu veranschaulichen. Beispielhaft wurde dies in der Aufnahme von einem achtzehn Monate alten Kind vorgeführt, das versuchte, sich auf einen Stein zu setzen:
252
253
254
Vgl. Todorov, T., Einführung in die fantastische Literatur, S. 25ff., und Phantastik in Literatur und Kunst, hrsg. von C. W. Thomsen und J. M. Fischer, S. 11ff. Diese Methode wandte auch Philipp Lersch an, dessen 1932 veröffentlichte Studie Gesicht und Seele – abgesehen vom Einsatz neuer Techniken der Beobachtung (filmischen Aufnahmen) – ganz dem Irrationalismus Ludwig Klages verschrieben war. Vor Lewin hatten bereits Hugo Münsterberg und Wolfgang Köhler das Potential des Films erkannt, psychische Vorgänge durch die Filmaufnahme zu objektivieren. Vgl. Münsterberg, H., Das Lichtspiel, und Köhler, W., Intelligenzprüfungen am Orang. Vgl. Choi, Z., Der phänomenologische Feldbegriff bei Aron Gurwitsch, S. 14ff.
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Rudolf Arnheim – Gestalt Lewin wies darauf hin, daß das kleine Kind, um sein Ziel zu erreichen, sich herumdrehen musste. Dadurch erhielt seine Bewegung eine Richtung, die der Feldkraft entgegengesetzt war. Die positive Valenz in Richtung auf den Stein war so stark, daß es dem Kind schwerfiel, sich in eine der Feldkraft entgegengesetzte Richtung zu bewegen. So machte es energische, aber erfolglose Bewegungen in Richtung der Valenz. Mit seinen 18 Monaten konnte das Kind das Feld noch nicht umstrukturieren, so daß es eine allgemeine Bewegung vom Ziel fort als die bloß erste Phase einer allgemeinen Bewegung auf das Ziel hin hätte wahrnehmen können.255
Lewin betonte sowohl die Ganzeigenschaften des kindlichen Wahrnehmungsfeldes als auch den Einfluss der inneren Gesamtsituation des Kindes, seine herrschenden Willensziele und sonstigen Spannungssysteme.256 Für Arnheim gingen diese Faktoren in den allgemeinen Gestalteigenschaften dynamischer Geschehensprozesse auf, die immer auch Ausdruck von Kräften sind. Diese Aussage findet sich im Kontext des Hauskrieges in der Verkehrten Welt wieder. Auf die Bitte der Hausgemeinschaft an eine Nachbarpartei, ihre kriegerischen Übergriffe auf die Gastfamilie des Protagonisten zu unterlassen, antworten diese: „Wir tun, was uns lieb ist. Tut ihr, was euch lieb ist, und alles wird sich nach dem Maß der Kräfte ausgleichen“ (VW, S. 264). Der Konflikt wird weder als gesellschaftlich noch als geschichtlich bedingter geschildert, sondern auf ein psychologisches „Kräftespiel“ reduziert. Was Arnheim darüber hinaus an den Untersuchungen Lewins interessierte, waren vor allen Dingen die Aufnahmen natürlicher Ausdrucksbewegungen. Lewin hatte betont, dass der kindliche Ausdruck im Gegensatz zu dem des Erwachsenen „unbeherrschter, offensichtiger und in diesem Sinne durchsichtiger“257 sei. In seiner Rezension von Lewins Film Das Kind und die Welt hob Rudolf Arnheim darüber hinaus die groteske Wirkung kindlicher Ausdrucksbewegungen hervor: Erschreckend, fast schamlos wirkt beim Säugling die Hemmungslosigkeit des Ausdrucks: Müdigkeit und Unlust, gieriges, hingegebenes, gewalttätiges Saugen, Räkeln, Sattheit, Milchrausch – die Seele liegt noch außen, der ganze Körper bis hinunter in die gestikulierenden Zehen ist noch Gesicht. Eine erstaunliche Ähnlich255 256 257
Marrow, A.J., Kurt Lewin – Leben und Werk, S. 75f. Lewin, K., Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie, S. 10. Lewin, K., Kindlicher Ausdruck, S. 510.
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keit mit guten amerikanischen Grotesken […] drängt sich auf. Da ist die große Chaplinszene der Zweijährigen, die auf allen Vieren die Treppe heraufkrabbeln und zugleich den Ball festhalten will. Dieser schlicht anschauliche Kampf mit den Gliedern, dies ernsthafte Herumbeißen an einem Rätsel, dessen Lösung für die überragende Weisheit des Zuschauers so simpel ist – das ist ebenso lustig wie Chaplin und ebenso unheimlich gleichnishaft.258
Darstellungsmaterial ist die Physiognomie des Kindes, die seine vergebliche Anstrengung transparent werden lässt, die Treppe zu erklimmen. Lewin nannte diesen Sachverhalt den „Zusammenhang zwischen dem Ausdrucksgeschehen und den Kräften der momentan bestehenden Situation“259, wobei letztere das psychische Spannungssystem bilden. Die komische Wirkung kommt dadurch zustande, dass der Zuschauer durch die Unmittelbarkeit des kindlichen Ausdrucks und entsprechend des Gesetzes der Isomorphie an seiner Anstrengung partizipiert. Aufgrund seiner Fähigkeit zur Umstrukturierung, die er dem Kind voraus hat, ist er aber zugleich in der Lage, das Problem zu lösen. Die Spannung, die durch die Willensanstrengung des Kindes aufgebaut wird, entlädt sich im Lachen des erwachsenen Zuschauers.260 Ganz in diesem Sinn erläutert die Maskenmacherin dem Protagonisten, dass sie nicht ins Kino gehe „um glückliche Menschen zu belauschen. Glück langweilt, und nur Kummer erweckt Anteil. Aber es muss kleiner Kummer sein […] über den man lachen darf“ (VW, S. 133). Während im Kapitel Erziehungskino dieses Muster „theoretisch“ reflektiert wird, unternimmt Arnheim im nachfolgenden Kapitel Geduldamt den Versuch, es literarisch zu gestalten. Der Protagonist, der sich zwischenzeitlich in die Maskenmacherin verliebt hat, wartet ungeduldig auf eine Nachricht von ihr. Bei einem Besuch in der Maskenmacherwerkstatt erhält er die Nachricht, im Geduldamt vorstellig zu werden. Dort macht er die Bekanntschaft mit funktionslosen Treppen sowie Korridoren, die ins Leere führen, und wird Situationen ausgesetzt, die keinen anderen Zweck verfolgen, als den „seelischen“ Spannungsaufbau in der Psyche des Protagonisten und seine nachfolgende Entladung. Hier wird deutlich, dass Arnheim die bewusste Ausnutzung bestimmter Darstellungsmittel durch den Groteskfilm in eine inhaltliche Thematik übersetzt, um so auch beim Lesen eine komische Wirkung zu erzielen. 258 259 260
Arnheim, R., Babys, Jungen und Mädchen, S. 856. Lewin, K., Kindliche Ausdrucksbewegungen, S. 502. Vgl. Arnheim, Entthronung des Willens, S. 520.
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Nicht nur im Inhalt, sondern auch im Erzählstil selbst wird der Bezug zum Film transparent. Entgegen der allgemeinen Tendenz des modernen Romans ist bei Arnheim die Wahl seiner Form nicht gleichbedeutend mit einer Reflexion über das bürgerliche Individuum und seinen Konflikt zwischen einer äußeren und inneren Welt, seine existentielle Unsicherheit und Vereinsamung in einer sinnentleerten Welt.261 Auch hat das den Roman strukturierende Prinzip der Umkehrung nichts gemeinsam mit der im Kontext der Moderne entworfenen historisch-kritischen Gedankenfigur der Negation, der die Utopie einer anderen und besseren Welt inhärent ist. Dem runden Kosmos der Verkehrten Welt, der Entfaltung einzelner Motive, der gänzlichen Abwesenheit seelischer Themenkomplexe und der Aussparung der geschichtlichen Umstände entspricht weit eher die geschlossene Form der Novelle des 19. Jahrhunderts.262 Gerade die unmittelbare Verbundenheit mit der Natur, die Darstellung elementarer Kräfte, denen das Bedrohliche genommen wird, die Gestaltung einer ganzheitlichen Ordnung der Welt und die Konzentration auf das Äußere zeichnen Goethes Novelle aus263 und finden sich so auch in Arnheims Roman wieder. Bei Goethe gehen diese Eigenschaften vollständig in der Ausgestaltung der Motive auf, wobei sich die Handlung aufgrund der „sich ereigneten unerhörten Begebenheit“ entwickelt. Im Falle Arnheims generiert letztere das Prinzip der Umkehrung; die „Rahmenhandlung“ besteht in der Eingliederung des Protagonisten in die Wirklichkeit der Verkehrten Welt. Jene Eigenschaften dagegen attribuieren lediglich den recht allgemeinen Grundsatz der Gestaltpsychologen, dass das Ganze mehr sei als die Summe der Teile. Aus dem inhaltlichen Zusammenhang wird so ein funktionaler. Weitaus größere Übereinstimmungen weisen dagegen die Kompositionsprinzipien der Verkehrten Welt mit der „Kameraperspektive“ im 261 262
263
Vgl. Lukács, G., Theorie des Romans. Dies bestätigt ein Tagebucheintrag Arnheims vom 8.4.1946 (AAA): „In reading the galley-proofs of Verkehrte Welt I realized that there had been two main influences on the style in which I wrote that book: the Goethe of the Novelle and the kind of German which Dante’s Italian became in my own translation – which I was doing at that time.“ Der Einfluss von Dantes Göttlicher Komödie, die Arnheim passagenweise zu dieser Zeit übersetzte, beschränkt sich auf motivische Parallelen (z.B. zwischen Dantes irdischem Paradies und Arnheims Tagesparadies). Vgl. Goethe, J.W., Novelle, S. 491ff., und Benno von Wiese, Nachwort, ebd., S. 746ff.
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Groteskfilm auf. Ebenso wie „die Kamera […] nur Aufnahmeapparat“ war, den „man […] schön gerade mitten vor den Vorgang [stellte] und […] möglichst wenig [bewegte]“, ist auch die Erzählperspektive der Verkehrten Welt merkwürdig starr und unbewegt. Analog dazu, dass „die Groteskfilmperiode […] die Filmkunst vor der Entdeckung der Kamera und der Montage [ist]“ (FaK, S. 192), verzichtet auch der Autor des Romans auf subjektive Perspektivierungen und Montageprinzipien, die die Geschlossenheit seines Stils in Frage stellten. Auf den ersten Blick widerspricht der engen Verbindung zum Film Arnheims Differenzierung zwischen den verschiedenen künstlerischen Bereichen: „Der Filmkünstler kann nicht wie der Romanschriftsteller in das Innere der Handelnden, ins Psychische, und soll sich nicht, wie der Dramatiker, ins Wort flüchten. Er muß mit Oberflächen gestalten.“264 Diese Überlegung liefert scheinbar das Motiv für die Tatsache, dass die Bewohner der Verkehrten Welt im Dunkeln leben. Im Zuge dieser grundlegenden Disposition verschiebt sich der Fokus automatisch von der „sichtbaren Oberfläche“ zur erzählten Handlung. Inwieweit das von jedem Bewohner zu tragende Lämpchen dabei nur vordergründig auf das Innere der Figuren verweist, wurde bereits erläutert. Das „Psychische“ geht vollständig in Verhaltensstrukturen auf und referiert auf keinen darüber hinausweisenden Subjektbegriff. Dem entspricht, dass die Handlung nicht durch die Entwicklung des Protagonisten vorangetrieben, sondern durch jene Bilder bestimmt wird, die in den verschiedenen Stadträumen visualisiert werden. Diskontinuität zeichnet auch die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse aus, die weder genau bestimmt noch komplett vergegenwärtigt werden. Der Roman beginnt mit der Einreise des Protagonisten in die Verkehrte Welt; er endet damit, dass er zusammen mit der Maskenmacherin das Tagesparadies erlebt. Das Zeitempfinden der Verkehrten Welt kennt keine gemeinsame Zeit, da diese „keinen Anfang und kein Ende hat“ (VW, S. 39). Die Zeit ist relativ und dem jeweiligen Erlebnis angemessen; dementsprechend gibt es keine Vergangenheit, sondern nur individuell empfundene Gegenwart: „Die Leute spüren nur, was neben ihnen ist, und nur das erwärmt sie […] Was sie hören, sehen riechen, was sie bekämpfen und lieben, bewundern und verachten, ist immer nur der Nachbar. Alles Nahe erscheint groß, alles Ferne schrumpft“ (VW, S. 99). Arnheim überträgt das im Kontext der Wahrnehmungspsychologie entdeckte räumliche Gesetz der Nähe265 auf die zeitliche Ebene des 264 265
Arnheim, R., In welchen Punkten der Handlung soll Musik einsetzen?, DLA. Vgl. Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, S. 343.
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Romans, dessen Rezeption mit dem Wahrnehmungsvorgang gleichgesetzt wird. Nicht in der Verknüpfung von Ursache und Wirkung scheint die Darstellung der Zeit auf266, sondern nur im Augenblick. Deutlich wird dieser Sachverhalt auch in der Erfahrung der Hauptfigur, dass die in der Straßenbahn ausliegenden Bücher immer nur ein letztes Kapitel enthalten. Hier wird die Aufeinanderfolge von Ereignissen – und damit einhergehend Vergangenheit und Zukunft – fast schon programmatisch ausgeblendet. Arnheim gestaltet so nicht die lineare Kausalität gedanklich-sprachlicher Zusammenhänge, sondern orientiert sich offensichtlich an dem Muster simultaner bildlicher Zusammenhänge. Wie werden nun Räume dargestellt? Zunächst umfasst „Raum“ in der Verkehrten Welt zwei Pole: die Stadt, in die der Protagonist mit dem Zug einreist und das vor den Toren der Stadt gelegene Tagesparadies, das allerdings als Motiv erst am Ende des Romans aufgegriffen wird. Die Dunkelheit, in der die Menschen in der Verkehrten Welt leben, bringt es mit sich, dass der Raum nur durch ein „Hier“ bestimmt wird und ihm jegliche Horizonterfahrung fehlt. Analog zu der gestaltpsychologischen Unterscheidung zwischen Figur und Grund bedingt der Ausfall eines einheitlichen wahrnehmbaren „Grundes“ (der Stadt als Landschaft), dass sich das Interesse des Lesers auf jene vereinzelten lokalen Gebilde richtet, die vordergründig als Gestalten wahrgenommen werden und nicht in ihrer räumlichen Ausdehnung.267 Dem öffentlichen Raum der Stadt, der nur in der Darstellung einzelner Gebäude schemenhaft sichtbar wird, steht der private Raum der Bewohner der Verkehrten Welt gegenüber. Aufgrund seines nichtmimetischen Ansatzes war Arnheim an genauen topographischen Angaben und geometrischen Proportionen nicht interessiert. Überdies folgt aus den Lichtverhältnissen, dass Räume nicht durch ihr äußeres Erscheinungsbild charakterisiert werden, sondern durch die jeweilige Innenperspektive. Die Aufmerksamkeit wird so auf den Zweck der Räume bzw. ihre Funktion gelenkt. Dem entspricht die Bauweise der Häuser: Eigentlich läßt sich nicht behaupten, daß wir Baumeister die Häuser herstellen. Braucht eine Familie eine Wohnung, so kneten wir zwar, nach einem allgemeinen Schema, ein paar Räume zurecht. Aber damit liefern wir sozusagen nur den Rohstoff. Die Bewoh266 267
Vgl. Lessing, G.E., Laokoon, S. 103. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit demonstrierte Lewin in seiner ersten Veröffentlichung (1917) anhand der Kriegslandschaft. Vgl. Lewin, K., Kriegslandschaft.
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ner selbst formen sich ihre Behausung. Ist ein Zimmer zu klein, so schieben sie die Wände weiter auseinander. Ist eine Zwischenwand lästig, so stechen sie sie heraus. Wenn ein Kind geboren wird, kommen wir Baumeister wieder und fügen eine neue kleine Kammer an, die, je mehr das Kind sich bewegt und beschäftigt, durch die Benutzung von selbst ausgeweitet wird. Kommt eine zweite Familie, so bauen wir neben die erste Wohnung eine weitere. Kommt eine dritte, so steigen wir den Bewohnern auf die Köpfe und kneten ein neues Stockwerk. Und so geht es fort, soweit die Gesetze von Stütze und Last es erlauben. (VW, S. 59)
Die serielle Fertigungsweise, die auf der Grundlage einer Form möglich ist, erinnert an die neusachliche Architektur, in deren Kontext „das Haus […] nicht nur so gebaut [wird], daß es seinen Zweck als machine à habiter am besten erfüllt, sondern der Zweck liefert auch gleichzeitig die architektonische Grundvorstellung: ihm zuliebe ist das Haus gebaut“268. Auch in der Verkehrten Welt ist das Bauen ganz dem Zweck untergeordnet, ohne dass dieser jedoch zu einem ästhetischen Prinzip verklärt wird. Er erscheint dagegen aufgehoben in einem Prozess der permanenten Umgestaltung, den die Lebensumstände der Bewohner generieren.269 Bereits in der Weimarer Zeit galt Arnheims Kritik Le Corbusiers ästhetischer Zweckrationalität270, die das Wohnen auf die Verarbeitung von elementaren geometrischen Formen und die exakte Bestimmung ihrer jeweiligen Funktion durch die Anwendung konstruktiver Verfahrensweisen reduzierte. Dagegen betrachtete er das Haus als einen „Körper“271, den man nicht, „wie es früher geschah, als eine Maschine erklären kann, als eine Summe von Teilapparaten, die isolierte Funktionen haben und ab ovo gesetzmäßig vorgebildet sind“272. In der Verkehrten Welt wird der Raum als Organismus aufgefasst, der den Anforderungen seiner Bewohner entsprechend ausgedehnt und gestaltet wird. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Raum Teil des Wahrnehmungserlebnisses des Protagonisten ist. Da seine Raumorientiertheitslage am Positiv einer 268 269
270 271 272
Arnheim, R., Die Stuttgarter Werkbundausstellung, S. 640. Hier scheint die grundlegende Ablehnung des „summativen Denkens“ und eines „geometrischen Konstruktivismus“ auf, dem die Gestaltpsychologen die Annahme entgegensetzten, dass „process, flow, and distribution are both ontologically and epistemically primary, and that arrangements of fixed objects exist only within them.“ Ash, M., Gestalt Psychology, S. 176. Vgl. Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, S. 32ff. Arnheim, R., Die gute Form, S. 68ff. Arnheim, R., Charakterdeutung als Wissenschaft I, S. 558.
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„richtigen“ Welt geschult ist, empfindet er den Umgang mit dem Material, das selbst über keine feste Form verfügt, als subjektive Willkür: Ich war unvorsichtig genug zu gestehen, dass mich diese vollkommene Unterworfenheit der Dinge seekrank machte. Mir fehlte das feste Gesetz der Form, mit dem sich der Mensch einen Widerstand gegen seinen eigenen Willen schafft, eine Grenze seiner Freiheit und eine Zuflucht vor dem ewigen Wandel und der Unendlichkeit der Welt. (VW, S. 54)
Nicht nur die Dunkelheit bringt es mit sich, dass sich die Konturen der Gegenstände auflösen, auch fehlen den Räumen in der Verkehrten Welt Verankerungsmomente wie Fenster, Rahmen und Türen. Wertheimer hatte festgestellt, dass es „bei Erschwerung einer dauernden Verankerung […] zu Labilität, im Extrem zu Erscheinungen rein optischen SehSchwindels kommen [kann]“273. Die sich im Roman vollziehende Integration des Protagonisten in die Gesellschaft der Verkehrten Welt demonstriert die Änderung seiner Auffassungslage und damit seine Anpassung an ihre Verhältnisse. So endet der Roman mit seinem Bekenntnis, nie wieder in die andere Welt zurückzuwollen. Auf die Frage der Maskenmacherin, welche Welt er denn meine, antwortet der Protagonist ganz verwirrt: „Ich weiß nicht […] ich sprach ganz im allgemeinen.“ Das solcherart geäußerte „Bekenntnis zu den Prinzipien der Gestalttheorie“274 konterkariert erneut die phantastischen Züge des Romans. Merkmal phantastischer Architektur ist die Unbegreiflichkeit eines Kosmos, für den die Gesetze von Raum und Zeit ungültig sind.275 Zwar verhindern die räumlichen Entwürfe der Verkehrten Welt zunächst die Orientierung des Protagonisten, doch markiert ihre Anlage nicht einen Bereich des objektiv Unmöglichen. Sie sind vielmehr den menschlichen Wahrnehmungsbedingungen durchaus angemessen und erfordern lediglich die Umstrukturierung eines bereits durch andere Gegebenheiten organisierten Wahrnehmungsfeldes. Sowohl die „Unterworfenheit der Dinge“ unter die willkürliche Herrschaft des Menschen als auch der Mangel an Gemeinschaftsgefühl stehen im Gegensatz zu dem „Gesetz“ als einer natürlichen Ordnung, die der Protagonist im Tagesparadies erfährt:
273 274 275
Wertheimer, M., Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, S. 101. Arnheim, R., Brief an U.B. vom 19.10.1999. Holländer, H., Zur phantastischen Architektur, S. 405ff.
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Die Häuser zeichneten sich als dunkle Schatten vor dem grauen Grunde ab, und während ich mit erwachenden Augen ihre Umrisse verfolgte, empfand ich die willkürliche Unregelmäßigkeit dieser Gebäude als nicht angenehm. Nachdem ich erfahren hatte, wie unfriedlich und selbstsüchtig die Familien miteinander lebten, schienen mir die willkürlichen Grenzen der Behausungen den engen Eigensinn der Bewohner auszudrücken, deren jeder seine Wände so einrichtete, wie es seiner Laune und geringen Einsicht entsprach, ohne an das Ganze zu denken, als dessen Teil er lebte. Schief und gewunden liefen die Konturen, bauchten sich sinnlos aus oder verengten sich zu Höhlungen, nichts Benachbartes stimmte zusammen, und kein einzelnes fügte sich in eine große Form. (VW, S. 270)
Auch hier spiegelt sich Arnheims Grundauffassung wider, dass die äußere Form Ausdruck eines inneren Kräfteverhältnisses ist. In Arnheims Roman wird die Natur zu einer idealen Gestalt verklärt, an der sowohl gesellschaftliche als auch soziale Prozesse gemessen werden. Sie tritt als ästhetisches und ethisches Korrektiv zu der Unausgewogenheit der Feldkräfte auf, die den Alltag der Verkehrten Welt charakterisieren. Darüber hinaus weist sie auch als Horizonterfahrung auf die funktionelle Konzeption der Verkehrten Welt hin.276 Die Reduktion der Gestaltpsychologie auf einen in seinen wesentlichen Zügen vormodernen Pantheismus mag dem nur mittelbaren Gestaltungsmaterial der Literatur selbst geschuldet sein. A gestalt is the infinite complexity of reality itself and as such not accessible to words and concepts. Words and concepts can deal only with definite units and with one relationship at a time. The human eye looking at a picture, can organise simultaneously a multitude of factors. The intellect cannot do this. It can pick out structural factors, relate them to others, keeping in mind the gestalt-character of the object as an asymptotic aim, a warning sign, which may keep away the danger of to much atomising […]. And to apply gestalt-methods means nothing more than keeping the 276
„Thomas Mann spricht im Joseph vom ‚Kulissenprinzip‘, d.h. von der den Horizont vorläufig abschließenden Düne, die sich beim Näherkommen als durchaus nicht das Ende der Welt darstellt, sondern neue Kulissen freigibt. Die Identifizierung desselben Grundprinzips, etwa der großen Flut, des Paradieses, des großen Turmes mit immer neuen geschichtlichen Fakten zeigt die Versuche des Menschen, die Welt funktionell, nicht historisch zu verstehen.“ Arnheim, R., Notizbuch, DLA.
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Rudolf Arnheim – Gestalt relational net-work of one’s explanation closer to the gestaltstructure of the object than a ‘straight atomist would do’. There is no difference in principle, only in degree, between the two methods.277
Arnheim führt mit seinem Roman beispielhaft das Scheitern des Versuches vor, die Verkehrte Welt im Sinne einer „Gestalt“ literarisch auszubuchstabieren. Das relationale Beziehungsgeflecht, in das Arnheim die in der Verkehrten Welt verhandelten Themen einbindet, bleibt eindimensional und auf die Oberfläche der Erscheinungen beschränkt. Es wird weder in der Struktur des Romans reflektiert noch auf der Ebene der Handlung thematisiert. Während die Lichtverhältnisse in der Verkehrten Welt zunächst vorgeben, dass optische Prinzipien bei ihrer Gestaltung keine Rolle spielen, belegen die Anwendung des Gesetzes der Nähe, die temporale Grundauffassung und die aus ihr folgenden statischen Gegebenheiten, dass es die Gestalteigenschaften des Wahrnehmungsfeldes sind, die dem Entwurf einer verkehrten Welt zugrunde liegen. Gerade die grotesken Szenen des Romans verdeutlichen, dass Arnheim das Verhalten des Lesers mit dem Wahrnehmungserlebnis des Filmzuschauers gleichsetzt. Die Wahrnehmung wird so zu einem ästhetischen Paradigma, auf das Arnheim künstlerische Gestaltungen reduziert. Zugleich zeigt er in seiner Analyse des neuen künstlerischen Mediums Film mittels der Gestaltpsychologie, dass Sehen mindestens so sehr ein gestaltetender, d.h. produktiver, wie ein gestalteter, d.h. rezeptiver Vorgang ist. Arnheims wissenschaftliche Sozialisation in der Verhaltensforschung der zwanziger Jahre bringt es mit sich, dass er den rezeptionsästhetischen Ansatz, der sich in Film als Kunst als neue Form der Interpretation ankündigt und dem die Einsicht in die Natur der Wahrnehmung zugrunde lag, auf die Anlage und Handlung seines Romans überträgt. Mit der Gleichsetzung von klassischem Schönheitsbegriff und der empirischpsychologischen Wahrnehmung in der Gestaltung des Tagesparadieses als locus amoenus278 unterläuft Arnheim den Anspruch eines alternativen Erkenntnismodells. Diesen Anspruch hatte eine auf der sinnlichen Wahrnehmung beruhende Ästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sich reklamiert und sich gerade dadurch – wie die Untersuchung der Ausführungen Benjamins als auch Kracauers gezeigt hat – als spezifische Erfahrung der Moderne ausgewiesen. 277 278
Arnheim, R., Tagebucheintrag vom 15.5.1946, AAA. Zur ästhetischen Wertigkeit von locus amoenus und locus terribilis vgl. Kliche, D., Ästhetik und Aisthesis, S. 490.
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Dass Arnheims formale Wiedergabe der Verkehrten Welt dennoch eine neue Vorstellung vom Sehen zu transportieren vermag, enthüllt gerade die Dunkelheit, in der die Bewohner dieser Welt leben. Denn es ist nur konsequent, dass die „Gestalten“ als Abstraktionen der konkreten Phänomene und die Festlegung des Sehens auf einen funktional-physiologischen Prozess mit einer „dunklen“ Welt korrelieren, in der die Menschen lediglich über die Möglichkeit verfügen, ihren eigenen Körper279 als den Hort dieser unanschaulichen Prozesse zu beleuchten. Die Lichtverhältnisse demonstrieren, dass wichtig ist, nicht was gesehen wird, sondern wie gesehen wird. Bereits in Film als Kunst exemplifizierte Arnheim einen Begriff des Sehens, dessen Bedeutung sich nicht mehr länger in dem Sichtbarmachen der Gegenstände der Wirklichkeit erschloss, sondern im dynamischen Vollzug des Sehens und mithin auf das Konstruktive des Vorganges selbst abzielte. Im Unterschied etwa zur architektonischen Praxis der zwanziger Jahre leitet sich jener „Konstruktivismus“ nicht aus der ästhetischen Verabsolutierung eines Vernunftprinzips ab, sondern geht auf biologische Gesetzmäßigkeiten zurück, aufgrund derer sich natürliche Prozesse selbst organisieren. Daraus folgt in einem allgemeinen Sinne die Wiedereinbindung des menschlichen Seins in die es umgebende Welt. Mit dem Rekurs auf die Gestaltpsychologie ist allerdings auch eine Veränderung der Vorstellung dieser Welt verbunden, die Arnheims Roman „bildlich“ vorführt: Die konkrete Anschauung wird durch „Gestalten“ ersetzt. Diese treten an die Stelle einer mannigfaltigen Objektwelt und verdeutlichen so die strukturellen und funktionellen Zusammenhänge, die die Reduktion jener auf „Ganzgestalten“ und der Gegenstände auf „Teile von Ganzen“ mit sich bringt. Im Modell der Gestalt ist die Struktur des Sehens selbst aufgehoben, als das, was dem Auge verborgen ist. Im unbewussten Aufzeigen des Verlustes der Anschaulichkeit, der Wendung auf den menschlichen Leib und damit einhergehend der Verabschiedung eines Abbildideals, das für die Traktate über das Sehen Jahrhunderte lang prägend war, liegt die eigentliche Bedeutung der Gestalttheorie.
279
Maurice Merleau-Ponty wird in seiner 1945 erschienenen Phénoménologie de la Perception dem Leib „wieder“ eine ontologische Funktion zuweisen.
5. Quellenverzeichnis 5.1. Primärliteratur 5.1.1. Einzelveröffentlichungen (Es werden nur die Titel aufgeführt, die im Kontext der Arbeit berücksichtigt wurden.) Arnheim, Rudolf: Abstraction and Emphaty in Retrospect. In: Confin. Psychiat. 10 (1967). S. 1-15. Arnheim, Rudolf: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1972. Arnheim, Rudolf: Art and Visual Perception. London 1956. Arnheim, Rudolf: Bewegung im Film. In: Kritiken und Aufsätze zum Film. Hrsg. von Helmut H. Diederichs. München und Wien 1977. S. 41-46. Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form. Köln 1980. Arnheim, Rudolf: Eine verkehrte Welt. Hürth bei Köln 1997. Arnheim, Rudolf: Entropie und Kunst. Ein Versuch über Ordnung und Unordnung. Köln 1996. Arnheim, Rudolf: Experimentell-Psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem. Berlin 1928. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. Berlin 1932. Arnheim, Rudolf: Die gute Form. In: Jugend und Welt. Hrsg. von Rudolf Arnheim, E.L. Schiffer und C.L. With. Berlin 1928. S. 59-75. Arnheim, Rudolf: Die Idiotenkiste. In: Jugend und Welt. Hrsg. von Rudolf Arnheim, E.L. Schiffer und C.L. With. Berlin 1928. S. 324-326. Arnheim, Rudolf: Kunst und Sehen. Berlin und New York 1978. Arnheim, Rudolf: Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste. Köln 1996. Arnheim, Rudolf: Melancholy Unshaped. In: Towards a Psychology of Art. London 1966. S. 181-191. Arnheim, Rudolf: Neue Beiträge. Köln 1991. Arnheim, Rudolf: Neuer Laokoon. In: Kritiken und Aufsätze zum Film. Hrsg. von Helmut H. Diederichs. München und Wien 1977. S. 81112.
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Arnheim, Rudolf: Briefwechsel mit Ernst H. Gombrich, DLA. Arnheim, Rudolf: Briefwechsel mit Gret Palucca, DLA. Arnheim, Rudolf: Briefwechsel mit John Kennedy, AHAP. Arnheim, Rudolf: Brief an Professor Peter W. Guenther vom 24.9.1980, AAA. Arnheim, Rudolf: In welchen Punkten der Handlung soll Musik einsetzen? 3 Seiten, undatiert, DLA. Arnheim, Rudolf: Notizbuch, DLA. Arnheim, Rudolf: Tagebuch 1940, DLA.
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Danksagung Die vorliegende Untersuchung wurde vom Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin 2002 als Dissertation angenommen. Ich danke der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die diese Arbeit mit einem Stipendium großzügig gefördert hat. Mein weiterer Dank gilt den Mitarbeitern der Archives of American Art in Washington D.C., den Mitarbeitern der Archives of the History of Psychology in Akron und den Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, die mir bei der Recherche sehr behilflich waren. Besonderen Dank schulde ich Rudolf Arnheim.
Carsten Bäuerl
Zwischen Rausch und Kritik 1 Auf den Spuren von Nietzsche, Bataille, Adorno und Benjamin 2003, 409 Seiten, kart. € 45,ISBN 3-89528-412-2 Der Band „Zwischen Rausch und Kritik 1“ ist der Versuch, zwei unsere Kultur konstituierende Momente, nämlich den produktiven Rausch, wie er in Nietzsches Tragödienschrift als „dionysisch“ gefaßt wird, mit dem Begriff der Kritik, wie dieser vornehmlich von Adorno verstanden worden ist, spannungsgeladen zu fusionieren. Der dionysisch schaffende Rausch, als ästhetisch-ethisches Fundament der Postmoderne, wird dabei an den sinnlichen Leib des Menschen gekoppelt, der – wie bei Nietzsche und noch mehr bei Benjamins Surrealismusverständnis – durchaus nicht geistlos ist. Dem daraus folgenden Kulturverständnis ist eine Vernunft immanent, die der herrschenden Logik, Logistik und Ökonomie, sowie der Vereinzelung der Individuen, mit notwendig destruktiver Kritik begegnet. Adorno jedoch kann aus moralisch-kritischen Gründen nur für einen schlafenden Dionysos sprechen, weil die Gesellschaft und ihre Kunst zum einen durch ihr Leiden gekennzeichnet sind und zum anderen die Kulturproduktion des Rausches in präfaschistischen oder kulturindustriell hedonistischen Spielarten münden. So ist der dionysisch unruhige Schlaf Ausdruck im hermetisch autonomen Kunstwerk: Adornos Plädoyer für eine künstlerische, aber negative Avantgarde. Die Ethik wird, indem sie sich ihrem ästhetischen Moment entzieht, zur asketischen Negativität, und die Ratio tendiert zum borniert „sokratisch“-wissenschaftlichen Positivismus. Letzteres kritisieren Adorno und Nietzsche gemeinsam. Es geht um das Zusammenspiel von Negativer Dialektik (Adorno) und produktivem Rausch (Nietzsche), aus dem beide Momente nicht als beschädigte, sondern als gegenseitig befruchtete hervorgehen.