Bildung und Ausbildung in der Industriegesellschaft [1 ed.] 9783428401208, 9783428001200


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Bildung und Ausbildung in der Industriegesellschaft [1 ed.]
 9783428401208, 9783428001200

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Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund

Bildung und Ausbildung in der Industriegesellschaft

Herausgegeben von

Helmut Duvernell

Duncker & Humblot · Berlin

Bildung und Ausbildung in der Industriegesellschaft

INTERNATIONALE TAGUNG DER SOZIALAKADEMIE DORTMUND

Bildung und Ausbildung i n der Industriegesellschaft Herausgegeben von Prof. Helmut Duvernell

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

Vorwort Das Thema der 13. Internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund „Bildung und Ausbildung i n der Industriegesellschaft" ist von ebenso umfassender Bedeutung wie hoher Aktualität. Wenn der Status der Industriegesellschaft, den alle Völker der Welt heute erstreben, Wohlstand durch hochtechnisierte Wirtschaft bedeutet, so ist wirtschaftlicher Erfolg, ausgedrückt i n Produktionsziffern, Qualitätsgraden, Handelsbilanzen und Einkommensgrößen, m i t dem Stande der Bildung i n dieser Gesellschaft unlösbar verknüpft. Die Ausbildung von Fachkräften aller A r t ist i n einer immer mehr von der Wissenschaft geprägten Arbeitswelt von allergrößter Bedeutung, aber sie kann nur auf der Grundlage einer umfassenden und möglichst gründlichen Bildung von Erfolg sein. So ist Bildung i n der Industriegesellschaft heute nicht mehr Bestätigung eines sozialen Status, sie ist das Fundament der modernen Leistungsgesellschaft überhaupt, u m so mehr als diese Gesellschaft m i t ihrem hohen Bedarf an Spitzen- und Führungskräften sich i n einer Welt zunehmender internationaler Verflechtungen behaupten muß. Bildung ist also ein wirtschaftliches Erfordernis geworden und w i r d als solches nicht nur von den Industrienationen anerkannt. Bildung ist aber auch ein soziales Faktum ersten Hanges. Denn nichts verbürgt i n der von der Mobilität geprägten industriellen Gesellschaft mehr soziale Sicherheit i n den schnell wechselnden Lebenslagen des technischen Zeitalters als eine auf breiter Bildung basierende berufliche Leistungsfähigkeit. Mehr Bildung für mehr Menschen ist heute eine geradezu existentielle Notwendigkeit. Sie kann aber nicht nur aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gefordert werden. Bildung ist permanentes Ringen u m Wissen und Verstehen; sie ist die eigentliche Substanz des menschlichen Daseins und führt den Menschen zur Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dieser Weg muß i n einer freien Gesellschaft allen offenstehen. Anspruch auf Bildung ist Bürgerrecht. Von dem Gebrauch dieses Rechts w i r d es nicht zuletzt abhängen, ob und wieweit w i r unsere Zukunft i n Freiheit bewältigen werden. Die Sozialakademie Dortmund wollte als freie Lehr- und Forschungsstätte auf ihrer Internationalen Tagung 1966 allen Interessierten Ge-

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Vorwort

legenheit bieten, sich über den Stand von Bildung und Ausbildung i n der Industriegesellschaft zu informieren. Sie hat deshalb namhafte Referenten aus dem In- und Ausland eingeladen, das Thema unter den verschiedenen Aspekten zu behandeln. •Für ihre aufschlußreichen Ausführungen dankt die Akademie allen Referenten recht herzlich, insbesondere dem Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Prof. Dr. Paul Mikat, für sein grundlegendes Eröffnungsreferat. Die großzügige Unterstützung des Kultusministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Dortmund hat auch diesmal wesentlich zum Gelingen der Tagung beigetragen. Ebenfalls zu Dank verpflichtet ist die Akademie dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, durch dessen Entgegenkommen die Referate und Diskussionen nunmehr dem Interessentenkreis als Arbeitsmaterial zur Verfügung gestellt werden können. Außerdem möchte ich den Mitarbeiterinnen der Sozialakademie Dortmund, Frau A n t j e Huber und Frau Hildegard Opificius, meinen besonderen Dank für ihre wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Tagungsberichtes aussprechen. H. Duvernell

Inhaltsverzeichnis Eröffnung der Internationalen Tagung 1966

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I . Vorträge Kultusminister Prof. Dr. Paul Mikat, Düsseldorf: Bildung in der Industriegesellschaft

15

Prof. Dr. Walter Rest, Pädagogische Hochschule, Münster: Bildung und Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland

25

M. Goote, Generalinspecteur van het Onderwijs, Den Haag: Die Beziehungen von Bildung und Ausbildung aus niederländischer Sicht

37

Dr. Klaus Hagedorn, Acting Chief of Section for International Eelations in Education, Paris: Bildung und Ausbildung in den Entwicklungsländern

51

Prof. Dr. Gustav Korlen, Universität Stockholm: Neue Wege zur Bildung und Ausbildung in Schweden

63

P. W. Lowell, M. A. (Oxon.), Unternehmensberater, Marlow, Bucks.: Bildung und Ausbildung in Großbritannien

77

Prof. Dr. Pierre Grappin, Universität Paris-Nanterre: Die Bedeutung von Bildung und Ausbildung in Frankreich

89

Nationalrat Dr. Karl Kummer, Wien: Bildungsprobleme in Österreich

99

Prof. Dr. Friedrich Baerwald, Fordham University, New York: Die Entwicklung von Bildung und Ausbildung in den USA

113

Dr. Siegfried Jenkner, Universität Göttingen: Die Rolle von Bildung und Ausbildung in Osteuropa

125

Dr. Giacomo F. Maturi, Fordwerke Köln: Bildungs- und Ausbildungsprobleme ausländischer Arbeitnehmer

141

Dir. Dr. Paul Gert von Beckerath, Leiter der Personalabteilung der Farbenfabriken Bayer AG, Leverkusen: Bildung und Ausbildung aus der Sicht des Arbeitgebers 153 Bernhard Tacke, stellvertr. Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Bundesvorstand, Düsseldorf: Bildung und Ausbildung aus der Sicht der Gewerkschaften 165

8

Inhaltsverzeichnis

I L Diskussionen zu den Vorträgen Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Walter

Rest (Münster)

183

Diskussion zu den Vorträgen von Generalinspecteur M. Goote (Den Haag) und Prof. Dr. Walter Rest (Münster) 187 Diskussion zum Vortrag von Dr. Klaus Hagedorn

(Paris)

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Gustav Korlön

194

(Stockholm)

Diskussion zum Vortrag von P. W. Lowell t M. A. (Marlow, Bucks.) Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Pierre Grappin

(Paris)

Diskussion zum Vortrag von Nationalrat Dr. Karl Kummer Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Friedrich Diskussion zum Vortrag von Dr. Siegfried

Baerwald

Jenkner

Diskussion zum Vortrag von Dr. Giacomo F. Maturi

(Wien)

204 212 217 224

(New York) .. 232

(Göttingen) (Köln)

241 250

i n . Zusammenfassung der Tagungsergebnisse Professor Helmut Duvernell, Sozialakademie Dortmund: Zusammenfassung der Tagungsergebnisse

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Eröffnung der Internationalen Tagung 1966 Prof. Helmut Duvernell, Dortmund

Herr Minister, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren! Zu unserer diesjährigen Internationalen Tagung heiße ich Sie alle i m Namen der Sozialakademie recht herzlich willkommen. W i r freuen uns, daß Sie unserer Einladung so zahlreich gefolgt sind. Sie bestätigen uns damit, daß w i r auch i n diesem Jahr ein aktuelles und allgemein interessierendes Thema gewählt haben. W i r danken Ihnen für I h r Erscheinen und für das stete Interesse, daß Sie unseren Veranstaltungen entgegenbringen. Es hat sich i m Laufe der Zeit ein ziemlich fester Teilnehmerkreis gebildet, der sich mit uns verbunden fühlt i n dem Bemühen, auf gesellschaftspolitische Fragen, die das sich ständig verändernde Leben an uns stellt, eine A n t w o r t zu finden. Die meisten von Ihnen werden sich deshalb hier bereits wie zu Hause fühlen. Ihnen, Herr Kultusminister, sind w i r besonders dankbar dafür, daß Sie trotz der Belastungen des Wahlkampfes i n unserem Lande Zeit gefunden haben, das Eröffnungsreferat dieser Tagung zu übernehmen. W i r kennen Ihre Sachkunde auf diesem Gebiete und warten deshalb m i t Spannung auf Ihre Stellungnahme zum Tagungsthema. Sehr herzlich begrüße ich den Herrn Oberbürgermeister unserer Stadt. W i r werten Ihren heutigen Besuch sowohl als Zeichen der Verbundenheit der Stadt m i t unserer Akademie als auch Ihrer persönlichen Verbundenheit m i t uns. Mein Gruß gilt ferner den Vertretern der benachbarten wissenschaftlichen Institute sowie dem Leiter der Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates i n Bonn, Herrn Dr. Schöne. Ich danke Ihnen für I h r Erscheinen. Weiterhin begrüße ich die Repräsentanten unserer Wirtschaft, wohl von der Arbeitgeber- als auch von der Arbeitnehmerseite. freue mich über die Anwesenheit des Hauptgeschäftsführers der dustrie- und Handelskammer Dortmund, Herrn Dr. Keuneke,

soIch Inund

10

Eröffnung

seiner Mitarbeiter sowie des Geschäftsführers der Angestelltenkammer i n Bremen, Herrn Urbanek. Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß ich die zahlreichen Vorstandsmitglieder und Vertreter industrieller Unternehmungen hier nicht alle einzeln erwähnen kann. Dankbar registrieren w i r das rege Interesse, das unsere Tagung bei den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gefunden hat, und ich begrüße alle hier anwesenden Vertreter auf das wärmste. Mein Gruß gilt auch den Vertretern der beiden Kirchen, die sich mit unserer Arbeit durch regelmäßige Entsendung von jungen Theologen verbunden fühlen. Und schließlich möchte ich mich m i t besonderer Herzlichkeit Freunden und Förderern der Sozialakademie, vor allem aber ehemaligen Hörern zuwenden. W i r fühlen uns mit ihnen nicht durch das Studium verbunden, sondern w i r sind auch stolz darauf, sie das Ergebnis unserer Bildungsarbeit augenscheinlich machen.

den den nur daß

Es sei m i r noch gestattet, die Gattin unseres verstorbenen Kollegen Univ.-Prof. Dr. Dr. Hans Bayer recht herzlich willkommen zu heißen und ihr zu danken, daß sie sich nach dem Tode ihres Gatten mit unserem Institut auch weiterhin verbunden fühlt. Schließlich möchte ich nicht versäumen, den bereits anwesenden Referenten meinen Dank für ihre Teilnahme zu sagen und sie Ihnen gleichzeitig vorzustellen. Es sind schon eingetroffen Herr Prof. Baerwald von der Fordham-University i n New York, Herr Goote, Generalinspecteur aus Den Haag, Herr Prof. Korlen von der Universität Stockholm, Dr. M a t u r i von den Fordwerken i n K ö l n und Herr Prof. Rest von der Pädagogischen Hochschule i n Münster. Ihre Anwesenheit am heutigen Tage ist sicherlich ein Beweis dafür, wie sehr unser Thema Interesse findet. Auch die heutige Pressekonferenz hat seine Aktualität bestätigt; w i r waren alle daran interessiert, endlich einmal i n ein internationales Gespräch über dieses Thema zu kommen. W i r mußten es sogar ziemlich abrupt abbrechen, um i m Zeitplan zu bleiben. Aber ich kann Ihnen versichern, meine Damen und Herren, daß w i r das Gespräch fortsetzen werden. M i t der Bitte u m Nachsicht, falls die Reihenfolge meiner Aufzählung nicht dem Protokoll entsprechen und ich den einen oder anderen unbeabsichtigt übersehen haben sollte, möchte ich nun meine Begrüßung beenden. Zum Tagungsthema selbst sei nur soviel gesagt, daß w i r uns als Arbeiterausbildungsstätte ständig mit dem Verhältnis von Bildung und Ausbildung zu befassen haben. Je mehr unsere Gesellschaft zu einer Industriegesellschaft wird, desto mehr werden beide Begriffe inein-

Eröffnung

andergreifen. W i r werden uns daher fragen müssen, inwieweit eine umfassende Allgemeinbildung noch i n unsere Zeit hineinpaßt. Eine Allgemeinbildung rein humanistischer Prägung w i r d jedenfalls den wirklichen und drängenden Lebensfragen unserer Tage nicht mehr gerecht. Die Sozialakademie Dortmund kann aus der Erfahrung 19jähriger Lehrtätigkeit m i t nach Weiterbildung strebenden Arbeitnehmern bestätigen, daß die Bewährung i m Beruf und am Arbeitsplatz bereits einen Bildungsgrad darstellt. Diese Erkenntnis hat uns auch veranlaßt, das Beziehungsverhältnis von Bildung und Ausbildung zum Gegenstand unserer diesjährigen Tagung zu machen. W i r freuen uns, daß sie zustande gekommen ist und daß sich so viele qualifizierte Referenten zur Verfügung gestellt haben. Das läßt uns hoffen, daß unser diesjähriger wissenschaftlicher Forschungsbeitrag nicht hinter früheren zurückstehen wird. Ich eröffne die Internationale Tagung 1966 der Sozialakademie und bitte nunmehr Sie, verehrter Herr Minister, uns durch I h r Referat i n das Tagungsthema einzuführen.

I . Vorträge

Bildung in der Industriegesellschaft Von Kultusminister Prof. Dr. Paul Mikat, Düsseldorf

Unser gesamtes Bildungswesen steht heute vor der Aufgabe, die erzieherischen, bildungstheoretischen und bildungspolitischen Konsequenzen aus gesellschaftlichen Entwicklungen zu ziehen, die i n allen ihren Ausformungen von den Merkmalen der technischen Zivilisation geprägt sind. Die moderne Gesellschaft ist durch Universalität und Mobilität als ihre sozialpolitischen Strukturmerkmale bestimmt, sie begreift sich zugleich von den Prinzipien einer freiheitlich rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung her, i n ihr werden darüber hinaus die Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche und die zunehmende Spezialisierung aller gesellschaftlichen Funktionen immer wichtiger, und sie gesteht schließlich dem Menschen i m Zuge des sozialen Fortschritts immer mehr Freiheit zu, die sinnvoll erfüllt werden muß. Die Bildung des Menschen w i r d somit zur entscheidenden Herausforderung unserer Zeit. Die Kultusminister haben auf ihrer 100. Plenarsitzung i n Berlin am 5./6. März 1964 die Konsequenzen aus dieser Entwicklung gezogen und i n ihrer Erklärung entscheidende Aufgaben für den Ausbau des Schulwesens und dessen innere Gestaltung genannt: Anhebung des gesamten Ausbildungsniveaus der Jugendlichen durch vermehrte und verbesserte Schulbildung aller Art, Erhöhung der Zahl zu gehobenen Abschlüssen verschiedenster geführten Jugendlichen,

Art

Ausbildung jedes einzelnen bis zum höchsten Maß seiner Leistungsfähigkeit, Angebot von Ausbildungsmöglichkeiten, die stärker auf die Befähigung der einzelnen eingestellt sind; Maßnahmen, die Schüler i n diese ihnen gemäßen Bildungsgänge zu bringen (z. B. Beobachtungsstufe), Verstärkung der Durchlässigkeit unter allen bestehenden Schulen (z. B. horizontal, nicht vertikal gegliederte Schulorganisationen), Errichtung neuer, weiterführender Formen 1 . 1

Kulturpolitik der Länder 1963 und 1964, Bonn 1965, S. 34.

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Paul Mikat

Diese kultur- und schulpolitischen Aufgaben lassen sich i n Zukunft jedoch nur durchführen, wenn die Gleichrangigkeit der Kulturausgaben mit den Verteidigungs- und Soziallasten anerkannt wird. Weiterhin müssen innerhalb der Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden i m Rahmen gesamtgesellschaftlicher Notwendigkeiten sachgerechte Prioritäten geschaffen werden. Die m i t Recht geforderte Demokratisierung des gesamten Bildungswesens und die Förderung aller Begabungen verlangen diese Prioritäten. Es ist nicht mehr verantwortbar, daß sich Haushaltskürzungen — sei es i n den Kommunen oder den Ländern — i m Kulturetat auswirken. Es sind i n Zukunft 40 Prozent und mehr eines Landeshaushaltes für den Kultusbereich einzusetzen. Die Gesellschaft insgesamt muß sich dazu bereit finden, die notwendigen Investitionsmittel, Personal- und Sachausgaben für den Bereich des gesamten K u l t u r - und Bildungswesens bereitzustellen, die für die Sicherung der Zukunft erforderlich sind, selbst wenn dies zu einem gewissen Konsumverzicht i n der Gegenwart führen sollte. Wenn Prioritäten gefordert werden, sind konkrete Entscheidungen nicht zu umgehen. Bildungspolitik ist Sozialpolitik. Die k u l t u r - und schulpolitischen Entscheidungen, die heute gefällt werden, bestimmen die Zukunft des einzelnen und der Gesellschaft. Die soziale Bildungsgesellschaft der Zukunft beginnt i n den Schulstuben, den Ausbildungswerkstätten und den Hörsälen der Gegenwart. Zureichende Antworten können i m Blick auf dieses Ziel jedoch nur dann gegeben werden, wenn die geschichtliche Kontinuität menschlichen Denkens und Handelns immer wieder neu bejaht wird. Die Herausforderungen unserer Zeit, die sich angesichts der politischen, sozialen und wissenschaftlichen A u f gaben der Gegenwart und der Zukunft stellen, und die Verbindlichkeiten jener prägenden Ordnungen, die unsere geschichtliche Überlieferung bestimmen, müssen von uns gleichermaßen gesehen und i n gewandelter Gestalt weitergereicht werden. Tradition und Fortschritt sind keine Gegensätze. Es läßt sich nur das bewahren, was sich i m Anspruch der Zeit bewährt hat. Die Zukunft des einzelnen, die geistige und kulturelle Situation der Gegenwart, die politischen Aufgaben unserer Zeit, die sozialen Entwicklungen und die wirtschaftlichen Erfordernisse und Möglichkeiten lassen Bildung und Ausbildung zu einem gesellschaftspolitischen Faktum ersten Ranges werden. Die Bildung des Menschen ist unter den Bedingungen unserer Zeit- und Gesellschaftsstruktur kein Vorgang, der auf bestimmte Lebensabschnitte des Menschen eingeschränkt werden darf, sie ist vielmehr eine permanente Aufgabe und Herausforderung. A u f diese Herausforderung gilt es zu antworten. I n einer Denkschrift zur K u l t u r - und Schulpolitik heißt es hinsichtlich der

Bildung in der Industriegesellschaft

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Aufgabe der Bildung i n unserer Zeit: „Als Grundlage einer gesamtgesellschaftlich verantwortlichen Bildungsarbeit der Schule ergeben sich für die innere Gestaltung der Schule folgende Grundsätze, und zwar hinsichtlich a) der privaten und familiären

Situation:

Die Schule muß i n ihrer Erziehungsarbeit verstärkt der Muße Raum geben, damit sich Formen individuellen Tuns, Gestaltens und Erlebens entwickeln können, die es dem jungen Menschen möglich machen, auch i n einer technisch komplizierten Welt zu innerer Sammlung, zu sich selbst zu finden und die Freiheit zu bestehen, die i h m der soziale Fortschritt gewährt. Die Erziehung zur Freizeitgestaltung steht gleichrangig neben der Berufserziehung. b) der beruflichen Tätigkeiten

in der Gesellschaft:

Die Bildungsarbeit der Schule muß auf der Grundlage neuer didaktischer Vorüberlegungen stärker als bisher i m Bildungsprozeß selbst die Elemente der modernen Arbeitswelt als die Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung deutlich machen. c) der politischen

Aufgaben:

Die Atmosphäre der Schule und der Geist der Bildungsarbeit müssen bei Lehrern und Schülern so beschaffen sein, daß sie die jungen Menschen zum Verständnis und zur Bejahung der verpflichtenden Gemeinschaftsaufgaben hinführen und so zu jenen „öffentlichen Tugenden" erziehen, deren unsere Gesellschaft so dringend bedarf und die i n der Familie heute sowenig gepflegt werden 2 ." Diese Grundsätze schließen die Verpflichtung ein, möglichst vielen jungen Menschen ein größtmögliches Maß an Bildung aller A r t zukommen zu lassen. Die künftigen k u l t u r - und schulpolitischen Aufgaben dürfen sich nicht allein i n organisatorischen Umgestaltungen des Schulwesens erschöpfen, die damit jedoch nicht ausgeschlossen sein sollen. Es geht vielmehr u m eine Neuorientierung des Bildungsauftrages aller schulischen Institutionen, die i n der Vermittlung des Bildungsgutes, i n den Formen des erzieherischen Tuns und i m Selbstverständnis der Schule sichtbar werden muß. Die Gleichheit der Bildungschancen für alle jungen Menschen ist nur dann gegeben, wenn das Bildungswesen 2 Grundlagen, Aufgaben und Schwerpunkte einer künftigen Kultur- und Schulpolitik im Lande Nordrhein-Westfalen. Eine Denkschrift, Ratingen 1966, S. 23.

2 Tagung Dortmund 1966

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Paul Mikat

insgesamt i n seiner organisatorischen Verfassung allen Begabungen gerecht w i r d und i n seiner didaktisch-methodischen Gestaltung des Unterrichts alle Begabungen herausfordert. Der Unterricht vollzieht sich heute unter anderen Voraussetzungen als i n früheren Zeiten. Als Folge der Demokratisierung des gesamten Bildungswesens strömen heute neue Schichten der Gesellschaft i n die weiterführenden Schulen. Diese Schichten müssen i n der schulischen Unterrichtsarbeit aber anders angesprochen werden, sofern die schulische Förderung allen zukommen soll. So ist z.B. die Identität von Schule und Elternhaus heute nicht mehr i n dem Maße wie früher gegeben, und der Unterricht kann auf die ergänzende Funktion des Elternhauses als eine Bedingung schulischer Arbeit nur bedingt zurückgreifen. Weiterhin w i r d der junge Mensch heute i n einem viel stärkeren Maße als früher von der außerschulischen Wirklichkeit beeinflußt. Der Faszination, die i n den technischen Möglichkeiten der modernen Welt liegt, kann er sich nicht entziehen. Sie muß daher pädagogisch fruchtbar gemacht werden. Und schließlich hat sich das Selbstbewußtsein des Jugendlichen angesichts dieser Welt gewandelt. Das rezeptive Aneignen vorgegebener Inhalte bestimmt heute nicht mehr i n dem Maße die Schülerhaltung, wie dies früher unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen möglich und üblich war. Der Schüler begegnet heute der Schule und darüber hinaus seiner Umwelt m i t dem Anspruch, i n seinen Fragen — den Formen seiner Lebenserwartung und dem Recht seiner Lebensgestaltung — gehört und anerkannt zu werden. Erst wenn dies geschieht, wächst die Aufgeschlossenheit gegenüber der Schule und erwacht das Interesse an den schulischen Unterrichtsgegenständen 3 . Viele kritische Stimmen i n der Öffentlichkeit sehen häufig einzig i n der Unvollkommenheit der Lehrer den Grund aller schulischen Gebrechen, ohne nach den vielschichtigen Voraussetzungen zu fragen, die i n der Gesellschaft, ihrem Selbstverständnis und ihren Institutionen liegen. Denn i m schulischen A l l t a g und dem unterrichtlichen Geschehen treffen Gegebenheiten aufeinander, die unterschwellig vorhanden sind, aber erst i n der Schule sichtbar werden. Es sind dies unter anderem Mängel der institutionellen Verfassung der Schule selbst (Unterrichtsgestaltung, Lehrplan und anderes mehr), Probleme der Lehrerausbildung, die offene Frage der sozialpolitischen 3 Vgl. hierzu a. a. Basil Bernstein, Sozio-kulturelle Determinanten des Lernens. Mit besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sprache, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 4. Sonderheft „Soziologie der Schule", Köln/Opladen 1965, 3. Auflage, S. 52 ff.; Jan Hendrik van den Berg, Metabletica — Über die Wandlungen des Menschen. Grundlinien einer historischen Psychologie, Göttingen 1960.

Bildung in der Industriegesellschaft

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Stellung des Lehrers i n der Gesellschaft, das weitverbreitete Unbehagen gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen, das sich insbesondere bei vielen Lehrern i n einem Unbehagen gegenüber dem Staate äußert und bis i n die Unterrichtsgestaltung Konsequenzen hat; weiterh i n die Einstellung der Eltern zur Schule und zur schulischen Arbeit, ferner der Einfluß der „Miterzieher" außerhalb der Schule i m Bereich der Öffentlichkeit wie auch der familiären Verhältnisse, schließlich das Verhältnis der öffentlichen Meinung, zum Beispiel der Kommunikationsmittel, zur Schule und nicht zuletzt die Situation des vom Zivilisationskonsum geprägten jungen Menschen angesichts der Schule. Alle diese Gegebenheiten werden i n der schulischen Arbeit zwischen Lehrern und Schülern plötzlich existent. Es liegt daher nahe, i n vordergründiger Weise alle Ungereimtheiten der Schule als Personalprobleme zu kennzeichnen. Doch eine verkürzte Aussage charakterisiert oftmals auch nur die halbe Wahrheit. Und dies w i r d i n der öffentlichen Diskussion heute häufig übersehen. Die Schule als Institution w i r d von Menschen getragen, sie bestimmen den Geist, der die Schule prägt. Der Mensch aber bedarf der Aufmunterung, des guten Wortes, und gerade das w i r d heute unseren Lehrern oft versagt. Es spricht nicht für eine Gesellschaft, daß sie eine so wichtige Institution wie die Schule — unbeschadet aller berechtigten K r i t i k — mitunter zum öffentlichen Ärgernis degradiert, zugleich aber die Wichtigkeit der Bildung für die gesellschaftliche Zukunft betont. Realität und Deklamation dürfen so weit nicht geschieden sein. Es soll nicht verschwiegen werden, daß i n allen Schulen auch heute noch von der überwiegenden Mehrzahl der Lehrer die Verpflichtung ihres pädagogischen Auftrages gesehen und bejaht wird, und zwar nicht nur i n subjektiv eingeschränkter Weise, sondern auch i m Bewußtsein ihrer Verantwortung gegenüber der Gesamtheit. Manche kritische Bemerkung i n der bildungspolitischen Diskussion ist jedoch auch von der Sorge geleitet, daß i n unserem Gemeinwesen die Bildung als Grundrecht wohl rechtlich gewährleistet ist, aber nicht i n zureichendem Maße verwirklicht wird. Und es ist i n der Tat nicht zu leugnen, daß unsere Bildungsinstitutionen heute noch vielfach i n unserer Gesellschaft ein Eigendasein führen, daß ihr Selbstverständnis oftmals i n sich selbst beschlossen ist und keinen Ort i m Bewußtsein aller hat. Dieser Exklusivität schulischer Institutionen entspricht eine gesetzlichkeit, der Schüler, Eltern und Lehrer gleichermaßen worfen sind. Schulischer Erfolg ist nur dann sicher, wenn diese gesetzlichkeit anerkannt wird, ohne deren Begründung i m gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen kritisch zu befragen. 2*

EigenunterEigenProzeß Hierin

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Paul Mikat

liegt der „Modernitätsrückstand der deutschen Gesellschaft". Es ist uns noch nicht gelungen, der Schule als einer gesellschaftlichen Institution i m Bewußtsein aller Glieder unserer Gesellschaft den Ort zuzuweisen, der ihr innerhalb der Gesellschaft zukommt. Dieses zu verwirklichen, muß die Aufgabe einer verantwortungsbewußten K u l t u r politik sein, wenn der Übergang zur sozialen Bildungsgesellschaft gelingen soll. Es ist daher an der Öffentlichkeit — seien es die Kirchen, Parteien, Verbände oder die Kommunikationsmittel —, die Bildung als Grundrecht allen Menschen einsichtig zu machen und somit von der Gesellschaft her jene innere Reform voranzutreiben, deren die Schule um ihres Auftrages w i l l e n bedarf. W i r finden heute i n der deutschen Öffentlichkeit ein zunehmendes Interesse für die Bildung. Es bleibt jedoch zu fragen: W i r d dieses Interesse für den einzelnen auch aktualisiert? Oder faßt man bei uns die Bildung nicht immer noch als etwas auf, das man zu ganz bestimmten Zeiten und an ganz bestimmten Orten erwerben kann, und w i r d hier der Akzent nicht zu einseitig auf das Moment der Ausbildung gelegt? I n der modernen Gesellschaft sind aber Bildung und Ausbildung als unabdingbare Komponenten eines Gesamtgefüges zu verstehen. Die Existenz der Gesellschaft hängt vom rechten Verständnis dieser beiden Pole ab. Ausbildung ohne Bildung ist zwar möglich, aber eine solche Entwicklung wäre für die Gesellschaft gefährlich, denn es wäre eine Entwicklung ohne ethische Bezüge. Wie steht es — so muß man fragen — u m das Schicksal einer Gesellschaft, wenn Menschen i n die Apparaturen der Macht eindringen, die kein Verhältnis zum Ethos der Macht mehr haben? I n der modernen Gesellschaft w i r d mehr Macht freigesetzt als früher, und zwar aufgrund bestimmter wissenschaftlicher Möglichkeiten — und das keineswegs nur i m militärischen Bereich. Bildung ohne Ausbildung — nimmt man den Bildungsbegriff i m engeren älteren Sinne — könnte theoretisch ebenfalls denkbar sein. Auch das wäre höchst gefährlich für uns alle. Der einzelne bestimmt seine Position i n der Gesellschaft heute aufgrund seines Leistungsvermögens, d. h. seines Vermögens, i n einem speziellen Felde bestimmte Aufgaben schöpferisch oder auch einfach manuell zu bewältigen. Wer über dieses Vermögen nicht verfügt, der t r i t t gesellschaftlich wenig oder überhaupt nicht i n Erscheinung. Er fällt weitgehend aus und kann seine Bildung gesellschaftlich überhaupt nicht aktualisieren. I n unserer Zeit eines umfassenden geistigen und gesellschaftlichen Umbruches muß beachtet werden, daß die Schwierigkeiten, m i t denen die Universitäten und Schulen heute zu t u n haben, und das Unbehagen

Bildung in der Industriegesellschaft

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gegenüber diesen Institutionen nicht allein i n deren institutioneller Verfassung begründet sind. Sie sind vielmehr Ausdruck von Problemen, die i n der Gesellschaft selbst angelegt sind. Wer daher für das gesamte Bildungswesen Ruhe fordert und sonst nichts, geht an den Fragen der Zeit vorbei. Die Arbeit der Universitäten und Schulen bedarf — wie alle geistige Entwicklung — aber auch der Kontinuität. Es muß daher i n unserer Gesellschaft jener Raum einer wohlverstandenen Muße offen bleiben, der von gesellschaftlichen Sachzwängen nicht bestimmt ist. Wenn w i r auch sagen, die Bildungsarbeit der Schule muß auf der Grundlage neuer didaktischer oder pädagogischer Überlegungen die Elemente der modernen Arbeitswelt als die Bedingungen menschlicher Selbstverwirklichung stärker als bisher deutlich machen, so heißt das nicht, daß die spezifischen Elemente der Arbeitswelt damit schon i n die primären Bildungsstätten einfließen sollten. Je differenzierter, je spezialisierter die moderne Gesellschaft wird, desto notwendiger ist es, daß der Prozeß der Spezialisierung, dem der einzelne unterworfen wird, möglichst spät beginnt. Denn i n dem Maße, i n dem er den Freiheitsraum des Allgemeinen erlebt, w i r d er wahrscheinlich i n den Stand gesetzt, das Feld des Speziellen später i n Freiheit zu bestehen. Hieraus ergibt sich vielleicht eine ganz neue Funktionsbestimmung des humanistischen Gymnasiums. Der Vorteil etwa der Beschäftigung m i t den alten Sprachen liegt nicht darin, daß man logisches Denken nur durch dieses Medium erreichen könnte; aber ich glaube, daß eine lange Beschäftigung mit dem scheinbar Nutzlosen, m i t dem, was man nicht unmittelbar i n Nützliches umsetzen kann, i n dieser Gesellschaft notwendig ist. Je länger jemand i m Bereich des Freigestellten, des Zweckfreien belassen bleibt, desto souveräner w i r d er später dann den erbarmungslosen Prozeß des unmittelbaren Engagements bestehen. Schlecht wäre es u m unser Staatswesen bestellt, wenn nur noch Spezialisten, die von Anfang an ausgerichtet worden sind, an die Schalthebel der Macht kämen. Ich meine, w i r sollten dieser Frage angesichts der heutigen Entwicklung mehr Beachtung schenken. Es wäre töricht, den Prozeß der Spezialisierung abzulehnen; er ist eine der Existenzbedingungen der modernen Gesellschaft. I n dem Maße, i n dem unsere Gesellschaft zunehmend verwissenschaftlicht wird, w i r d der Prozeß der Spezialisierung unabdingbarer. Die Frage ist jedoch: Was geschieht i n dem Zeitraum, in dem der einzelne noch nicht funktional auf ein ganz bestimmtes Feld hingeordnet ist? Was i n allen Bildungsinstitutionen i m Vordergrund stehen muß, ist die Berufsfähigkeit, nicht die Berufsfertigkeit. Für eine K u l t u r - und

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Paul Mikat

Schulpolitik, die der Sachgerechtigkeit verpflichtet ist, kann es deshalb i n dieser Hinsicht keine Alternative geben. Sie ist nur zu leicht der Ausgangspunkt ideologischer Argumentationen. Wer die Diskussion unserer Tage über die Fragen der Bildung und die Organisation des Bildungswesens aufmerksam verfolgt, muß feststellen, daß sie sich oft i n einem merkwürdigen Entweder—Oder vollzieht, dessen Hauptmerkmale einseitige, wenn nicht gar falsche Alternativen sind. Es ist einleuchtend, daß bei diesem Stand der Diskussion die Sache selbst oftmals zu kurz kommt. Denn das „Entweder— Oder" ist Ausgangspunkt vieler Ausschließlichkeits-Ideologien, denen unterschiedliche Motivationen zugrunde liegen und die somit auf ihre Weise den Weltanschauungspluralismus unserer Gesellschaft nachdrücklich unterstreichen. Aber Ideologien sind meist wirklichkeitsfremd. Und dies ist i m Bereich der Bildung verhängnisvoll. Damit ist aber allen Ideologien, die bewußt oder unbewußt auf verborgene Vorbehalte und Vorurteile zurückgreifen, entschieden entgegenzutreten. Sie mögen innerhalb bestimmter Gruppeninteressen ihre Berechtigung haben und dort ihr Eigenleben führen; sie können aber keine zureichende Grundlage einer Bildungspolitik sein, die gesamtgesellschaftlich denkt und verantwortet werden soll. Die K u l t u r und Schulpolitik muß jetzt und i n Zukunft versachlicht werden und die Fragen angehen, die heute und morgen gestellt werden. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß für die Bildungspolitik Grundüberzeugungen nicht maßgebend sein sollen; ist es doch gerade ein Kennzeichen tragender Überzeugungen, daß sie den Blick für das Ganze öffnen. Verantwortliche Bildungsarbeit muß das allgemeine wie das Einzelinteresse berücksichtigen. Es kann natürlich durchaus sein, daß das allgemeine Interesse m i t dem konkreten Einzelinteresse i n Widerspruch gerät. Hier ist es Aufgabe der Staatsorgane, die divergierenden Interessenperspektiven gewissermaßen i n der Spitze zu kappen und einen Ausgleich herbeizuführen. Bestimmender Grundsatz verantwortlicher K u l t u r - und Schulpolitik muß es sein, i n den Forderungen des Tages zugleich die Verpflichtungen der Vergangenheit und die Möglichkeiten der Zukunft zu realisieren. Die K u l t u r - und Schulpolitik muß sich daher, fern von aller ideologischen Voreingenommenheit und allen Verfestigungen, immer wieder am Prinzip der Sachgerechtigkeit orientieren. Alle Fragen aus dem Bereich des Hochschulwesens, des allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulwesens, der Lehrerbildung, der Erwachsenenbildung und der allgemeinen Kulturpflege müssen zunächst i n der Konfrontation m i t der Sache selbst geklärt werden. Hierbei gilt es nicht, fertige Modelle und vorschnelle Lösungen zu

Bildung in der Industriegesellschaft

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dekretieren, sondern Akzente zu setzen, Wesentliches herauszustellen und Wege zu markieren; denn nur i n der Offenheit des Denkens und der Beweglichkeit des Handelns erschließt sich die Freiheit, die allein zu gültigen Entscheidungen führt. Angesichts dieser Fülle von Fragen und Aufgaben ist eine umfassende gesellschaftspolitische Bildungsplanung unerläßlich. Die Bedingungen der Gegenwart, i n der die gesellschaftlichen und personalen Verhältnisse den Abfolgen von Sachzwängen unterliegen, die i n ihrem Ablauf nur schwer gesteuert, wohl aber i n ihren Anfängen bestimmt und gerichtet werden können, machen vorausschauende Planung für das Wohl der Gesellschaft wie auch des einzelnen notwendig. Planung ist i n diesem Sinne die Verwirklichung von Freiheit i n unserer Zeit. Sie entwickelt Möglichkeiten, Alternativen und Modelle und schafft damit die Voraussetzungen künftiger Wirklichkeit. Glücklicherweise gibt es i n bezug auf die Hauptforderungen der Bildungspolitik keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten unter den Verantwortlichen. Das ist von außerordentlicher Bedeutung i n unserer pluralistischen Gesellschaft, i n der man nicht von vornherein m i t Übereinstimmung rechnen kann. Und es bedeutet zugleich eine Chance für eine allgemeine Realisierung der konkreten Forderungen, die sich ergeben. Grund dieser Übereinstimmung ist nicht etwa ein politisch gesteuerter Prozeß der Nivellierung, sondern die zunehmende Bedeutung der Sachzwänge. Bildungsplanung hat, wenn sie sich selbst recht versteht, die Gesamtheit gesellschaftlicher und menschlicher Möglichkeiten und vor allem die gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Bereiche zu beachten. Aufgabe der Bildungsplanung ist es, i n offener Vorausschau die Möglichkeiten künftiger — und das kann nur heißen — menschlicher Wirklichkeit zu entwerfen. W i r müssen aufhören, i n isolierten Ressortfeldern zu denken. Man kann ohne Bildungspolitik keine Sozialpolitik, keine langfristige Wirtschafts- oder Verteidigungspolitik betreiben, ebensowenig wie es eine Bildungspolitik ohne wirtschaftspolitische Bezüge gibt. Bildungspolitik ist Gesellschaftspolitik. Sie erfüllt ihre Aufgabe, wenn sie den gesellschaftlichen Erfordernissen und dem Recht des einzelnen auf bestmögliche Bildung und Ausbildung Rechnung trägt. Sie erfährt eine unmittelbare Konkretisierung aber auch i m politischen Handeln eines Volkes, wo sie sich zu bewähren hat.

Bildung und Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland

Von Prof. Dr. Walter Rest, Pädagogische Hochschule, Münster

Zur Problemstellung I n einer kleinen Marginalie zu einem Gemini-Unternehmen der Amerikaner beklagte eine angesehene deutsche Tageszeitung, daß der Pilot, der sich über zwei Stunden außerhalb der Kapsel i m Weltraum aufhielt und mit einer Geschwindigkeit von über 20 000 k m i n der Stunde die Erde umkreiste, nur ein „Halleluja" ausgerufen habe und alles andere, was dieser Mann sonst noch zu erzählen gehabt habe, völlig unverständlich oder nichtssagend gewesen sei. Die Zeitung zog daraus bedauernd den Schluß, daß man unter den Raumfahrern noch keinen Saint-Exupéry antreffen könne! Wenn ich davon absehe, daß das „Halleluja" den wohl überwältigenden Eindrücken gegenüber ein durchaus adäquater Ausdruck war, nämlich ein Preislied auf Jahve, den Schöpfergott, und darum Beachtung und Anerkennung verdient, und alles andere wohl dem Mann die Sprache verschlug, so ist diese Zeitungsnotiz doch sicherlich als typisch „deutsch" zu bezeichnen. Man wollte dem „ausgebildeten" Astronauten einen gewissen Mangel an „Bildung" bescheinigen. Homer und die Seefahrt, Stifter und die Ballonfahrt, ja, und Saint-Exupéry s einsamer Postflug über die Anden, das gehört zum Bildungsgut, und die Raumfahrt gehört erst dann der „Menschheit", wenn sie einmal nicht nur technisch, sondern auch sprachlich bewältigt sein w i r d ; denn i n der Dichtung vermenschlicht sich alles Geschehen, was sonst die Erlebniskraft übersteigt, und kann dann jedem Erdenbürger zu eigen werden: „Was bleibet, stiften die Dichter" (Hölderlin) — und nicht die Wissenschaftler und Techniker. So jedenfalls dachte und denkt auch heute noch der „Gebildete", der an der großen Tradition der deutschen Klassik und des Neuhumanismus festhält: Bildung, das ist Menschlichkeit, und Menschlichkeit findet ihren tiefsten Ausdruck i n der Sprachgestalt; Bildung— Menschenbildung—Sprachbildung ist diesem Verständnis nach ein und dasselbe. Ich bin weit davon entfernt, abschätzig von dieser Auffassung zu reden, aber ich muß doch wohl fragen, ob sie i m Zeitalter der technisch-industriellen Revolution so ausschließlich noch bestehen kann

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und uns heute überhaupt noch weiterbringt. Auch fürchte ich, daß sich hierbei nur noch die Deutschen aufhalten — und vielleicht auch die Russen. I n beiden Völkern hat ja die Distinktion „Bildung—Ausbildung" eine beachtliche Rolle gespielt. Noch heute steht i m A r t i k e l 121 des Grundgesetzes der UdSSR: „Die Bürger der UdSSR haben das Recht auf Bildung." U n d gemeint ist hier nicht nur das, was w i r m i t Schulbildung und Ausbildung verbinden, sondern i m klassischen Sinne unter „Bildung" verstehen. Ich bin gespannt, wie die Referenten dieser Tagung m i t ihrer Thematik fertig werden, die ihnen der Veranstalter gestellt hat. Ich vermute, daß es sehr schnell geht, indem sie legitimerweise sich auf den Standpunkt stellen, daß es keine Bildung ohne Ausbildung und keine Ausbildung ohne Bildung gebe.

Zur Situation in der Bundesrepublik Das deutsche Erziehungs- und Bildungswesen leidet nun aber schon mindestens ein halbes Jahrhundert an dieser scheinbaren Antinomie „Bildung—Ausbildung" und sucht sie zu überwinden. Man w i r d seinen derzeitigen Zustand nur verstehen, wenn man u m diese Bürde weiß, die man nicht einfach abwerfen kann. Daher mußte einleitend von ihr gesprochen werden. Theodor L i t t hat i n seiner Schrift „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt" (1955) die hier vorliegende Problematik zutreffend dargestellt und darin abschließend gesagt: „Wenn ein Geschlecht i n eine Entwicklung hineingeworfen ist, die m i t einem so atemberaubenden, so alle Voranschläge überrennenden Ungestüm vorwärts stürmt wie die uns m i t sich reißende, dann kann es sich nicht den Luxus leisten, seine Jugend i m Zeichen eines Ideals heranzubilden, das die als Treibkraft wirkenden Mächte entweder ignoriert oder diskreditiert, statt sie einer neuen Gesamtansicht sinnvoll einzuordnen. Ob und wie Menschlichkeit 4 auch unter den Bedingungen der modernen Arbeitswelt erhalten werden kann, das vermag nur zu entscheiden, wer diese Bedingungen zu erkennen imstande und anzuerkennen bereit ist." Hinter den folgenden Darlegungen steht also die Frage nach der gegenseitigen Integration von „Bildung und Ausbildung". M i t dieser Frage hat sich der i m Jahre 1953 begründete „Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen" immer wieder befaßt. Sie zieht sich als roter Faden durch alle seine Empfehlungen und Gutachten zur grundlegenden Neuordnung unseres gesamten B i l dungswesens. Es galt, die gefährliche Stagnation zu überwinden und die Dynamik der Entwicklung unserer Gesellschaft anzuerkennen, die neue Arbeitswelt mit dem Schulwesen zu verbinden und hierbei

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manche Tabus und ein Bündel von Ideologien abzubauen. Das ist ihm zwar schlecht bekommen, aber sein Werk gilt heute als der größte „Steinbruch", aus dem man die Reformen aufbaut. Kurz vor Beendigung seiner mühsamen Arbeit griff dann das Schlagwort von der deutschen „Bildungskatastrophe" u m sich und schien die Gemüter unserer „Wohlstandsgesellschaft", „Massengesellschaft", „Industriegesellschaft", oder wie immer man unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen nach einem totalen Zusammenbruch i m „Tausendjährigen Reich" bezeichnen w i l l , zu erschüttern. Es genügte die Feststellung, daß die Bundesrepublik nach einer Dokumentation der OECD aus dem Jahre 1958/59 mit ihren Aufwendungen für Erziehung und Wissenschaft i m Verhältnis zu seinem Bruttosozialprodukt i n der freien westlichen Welt weit zurückliegt. Hier eine kurze Skala: USA 4,5 v. H., Niederlande 4,2 v. H., Schweden 4,1 v. H., England 3,7 v. H., Frankreich 3,5 v. H., Italien 3,4 v. H., die Bundesrepublik Deutschland mit 2,7 v. H.! Dieses Verhältnis mag sich inzwischen günstiger gestaltet haben, aber es besteht kein Zweifel, daß unser Erziehungs- und Bildungswesen i n seiner Entwicklung nach wie vor zurückgeblieben ist. Es sollen damit die großen Bemühungen beim Aufbau eines fast ganz durch die Kriegsfolgen zerstörten Schulwesens nicht unterschätzt werden. Außerdem läßt sich die tatsächliche Reform mit finanziellen M i t t e l n allein nicht bewerkstelligen. Das beweist gleich ein Blick auf die gegebenen Verhältnisse.

Fakten, die zu beachten sind I n der Bundesrepublik sind i n der Regel alle Kinder und Jugendlichen vom 6. bis zum 18. Lebensjahr schulpflichtig. Rund 9 Millionen Schüler werden von 273 000 hauptamtlichen und hauptberuflichen Lehrern unterrichtet. 6,8 Millionen Schüler besuchen sogenannte „allgemeinbildende" Schulen, von diesen 6,2 Millionen die durch die Vollschulpflicht vorgeschriebenen acht Schuljahre. Rund 500 000 befinden sich auch noch i n einem 9. und 10. Vollschuljahrgang. Dazu kommen weitere 500 000 Schüler i n berufsorientierten Vollschuljahren, davon rund 250 000 an Hochschulen, und schließlich 1,6 Millionen i n teilzeitlichen Berufsschulen. I n der Grundschule (1. bis 4. Schuljahr) befinden sich ständig rund 3 Millionen Schüler, also fast die Hälfte aller Schüler überhaupt. I m 5. und 6. Schuljahrgang, wo die Mittelschulen (Realschulen) und das Gymnasium konkurrierend einsetzen, verbleiben mehr als drei Viertel aller Schüler (rd. 1,6 Millionen) i n der Volksschule, i m 7. und 8. Schul-

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jähr besuchen 1,2 Millionen immer noch die Volks- und Sonderschulen, 190 000 befinden sich auf der Mittelschule, 238 000 auf den Gymnasien. Da sich summa summarum 82 v. H. aller Schüler der allgemeinbildenden Schulen i n der Volksschule befinden, unterrichten hier 160 000 Lehrer, 17 000 unterrichten an den Mittelschulen, 43 000 an den Gymnasien, fast ebenso viele an Fach- und Berufsschulen, 10 000 unterrichten an Hochschulen. Alle diese Lehrer müssen ein akademisches Studium durchlaufen, für das i n der Regel die Reifeprüfung (Abitur) Voraussetzung ist. Es w i r d für das Niveau von Bildung und Ausbildung i n unserem Schulwesen von Bedeutung sein, ob weiterhin genügend akademisch gebildete Lehrer zur Verfügung stehen. Da w i r uns hier i n einem Engpaß befinden, erfüllt uns gerade dieses Problem m i t großer Sorge. Weiterhin ist zu beachten, daß i n der Bundesrepublik von 100 i m Erwerbsleben Stehenden sich 13 i m primären Sektor (Prototyp: Landwirtschaft) befinden, 49 i m sekundären Sektor (Prototyp: Industriewirtschaft) und 38 i m tertiären Sektor (Prototyp: alle Dienstleistungsberufe). Die Entwicklung i n einer Industriegesellschaft wie i n der Bundesrepublik zielt auf ein Anwachsen des tertiären Sektors ab. Die Maschine ersetzt zunehmend den Menschen, und die Folgen werden uns z. Z. hier i m Ruhrgebiet anschaulich vor Augen geführt. Zum Vergleich die Zahlen i n einer höchstentwickelten Industriegesellschaft wie den USA: 7 i m primären Sektor, 34 i m sekundären und 59 i m tertiären Sektor. Dagegen i n einer industriell unterentwickelten Gesellschaft, hier als Beispiel die Türkei: 75 i m primären, 10 i m sekundären und 15 i m tertiären Sektor. Es besteht wohl kein Zweifel, daß w i r uns nicht auf die Türkei h i n entwickeln, sondern auf die USA. Man darf daher m i t L u d w i g Neundörfer sagen, dem ich dieses statistische Material verdanke: „Zentral sind die Fragen, wer die Aufgaben i n der allgemeinen Bildung i n den Volks- und Berufsschulen trägt, wie eine optimale Ausbildung für dieses Lehramt bewerkstelligt werden kann, wie das Selbstverständnis der Lehrer i n diesen Schulen für ihre Aufgabe ist und welche Stellung man ihnen i n der Gesellschaft einräumt."

Schwierigkeiten bei der Reform des Bildungswesens I m Augenblick sieht es so aus, als suche man bei uns die Lösung i n der Mobilisierung der sogenannten Begabungsreserven. W i r benötigen i n der Tat mehr Abiturienten, vor allem weil w i r mehr Lehrer ausbilden müssen. Aber es ist zu bedenken, daß — wie der Kultursenator von Berlin, Carl-Heinz Evers, i n einem Vortrag vor der Walter-Raymond-Stiftung ausführte — die Abiturienten, die i n diesem Jahr ein

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Lehrerstudium beginnen, i m Jahre 2000 etwa 55 Jahre alt sind und dann noch volle zehn Jahre i m Dienst sein werden. Sie werden dann auch noch vornehmlich m i t der geistigen Ausrüstung operieren, die sie jetzt erhalten, und zwar an Schulen, die m i t ihrem Bildungsprogramm immer noch weitgehend von Vorstellungen bestimmt sind, die schon i n den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts als problematisch bezeichnet werden mußten. Das gilt für den Studienweg aller Lehrerkategorien. I m Bildungswesen kommen immer erst über eine längere Zeit kontinuierlich durchgeführte Reformen zur Auswirkung. M i t Geld und Neubauten ist das allein nicht zu schaffen. Es kommt ganz entscheidend auf das verfügbare menschliche Potential an. Universitäten lassen sich erweitern und neu gründen, und niemand w i r d die grandiosen Vorhaben, namentlich i m Lande Nordrhein-Westfalen, zur Entwicklung des Universitätswesens unterschätzen. Ob man aber die Lehrstühle nicht nur besetzen, sondern auch qualifiziert besetzen kann, ist eine andere Frage, und bis zur Habilitation ist ein weiter Weg, sie gelingt erst nach dem 35. Lebensjahr, wenn überhaupt. Es ist also richtig, was Neundörfer sagt, daß das zentrale Problem bei den Volks- und Berufsschulen liegt. Nur von hier aus läßt sich das gesamte Schulwesen i n seiner vollen Breite anheben. Aber das scheint man i n der Bundesrepublik nur sehr zögernd zu begreifen, und die Ausbildungsprobleme sind auch hier ganz erheblich. Ich selber habe die Pädagogische Akademie i n der Konzeption von C. A. Becker durchlaufen und lehre nun i m 20. Jahr an einer von dort aus entwickelten Pädagogischen Hochschule. K e r n des Studienprogramms ist noch immer die von Spranger und Becker konzipierte „Bildner-Hochschule". Dabei haben w i r das Glück, daß es sich u m eine geniale Konzeption handelt, aber w i r bilden i m Grunde noch immer Lehrer für eine Schule aus, die es schon jetzt nicht mehr geben dürfte und die es i m Jahre 2000 bestimmt nicht mehr geben wird. Das alte Bildungsziel, „volkstümliche oder volksorganische Bildung", geistert noch durch viele Klassen. W i r wissen das und haben daher ein schlechtes Gewissen. I n verschiedenen Bundesländern gibt es bereits eine erfreuliche Entwicklung, andere lassen sehr darauf warten. I n unserem Lande hier, i n Nordrhein-Westfalen, stützt sich unsere ganze Hoffnung auf die i m vergangenen Jahre erfolgte Neukonzeption einer wissenschaftlichen Pädagogischen Hochschule. Das hierzu erforderliche Status-Gesetz wurde von allen Parteien i m Lande gebilligt, und es steht zu hoffen, daß es für die Zukunft stabilisierend w i r k t . Aber gerade i n diesem Augenblick befindet sich unser Land i n einem finanziellen Engpaß, so daß w i r befürchten müssen, mitten i n der Entwicklung steckenzubleiben. Außerdem behindert diese Entwicklung die Hegemonie oder

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wissenschaftliche Monopolstellung der Universitäten. Auch das ist ein Zopf aus der Humboldt-Ära, den man weder i n unseren Nachbarstaaten kennt noch selbstverständlich i n den USA. Das „Placet" der Universitäten, ihr „Imprimatur", kommt nicht immer aus der Verantwortung, sondern ganz erheblich auch aus einem Sozialprestige-Denken. Dabei läßt sich doch nichts besser kontrollieren als wissenschaftliche Arbeit. Sie sollte i n Forschung und Lehre gefördert und anerkannt werden, wo immer sie von der Sache her gefordert erscheint und möglich ist. I m wissenschaftlichen Zeitalter gilt es, die Wissenschaft zu vergesellschaften, wo immer es zuträglich ist, und i n einer westlichen freiheitlichen Gesellschaft sollten nicht riesige Kombinate anziehend wirken, sondern ein weites Geflecht wohlstrukturierter Einrichtungen. Ich kann mich hier auf keinen geringeren Mann als James Conent berufen. Leider werden auch viele bereits als notwendig erkannte Entwicklungen an der zu bewältigenden Zahl der Studierenden scheitern. Was an Universitäten bereits seit langem ein kaum zu regulierender Notstand ist, nämlich die Überfüllung, droht auch die Lehrerbildung an den Pädagogischen Hochschulen zu ersticken. Überfüllung schlägt negativ vor allem bei der „Ausbildung" zu Buch. Also rettet man sich dann i n die „Bildung", die ja zuerst und vor allem immer auf „Selbstbildung" beruht. Z u ihr kann man auch noch i n Seminaren m i t 300 Hörern Wege aufzeigen, aber „Ausbildung" läßt sich da nur noch am Rande leisten. Erst nachdem w i r von diesen Imponderabilien gesprochen haben, läßt sich von der „Ausbildung" selber reden.

Von der „Bildung" zur „Ausbildung" „Ausbildung" verlangt gezielte Information, Programm, Kontrolle bei der Ein- und Ausübung und nachhaltiges Training. Der GeminiPilot i m Weltraum ist ein besonders eindrucksvolles Produkt der „Ausbildung". Man hat es bekanntlich dem Weltraumspaziergänger des ersten amerikanischen Unternehmens sehr übelgenommen, daß er sich für einen Augenblick einem gewissen „Raum-Rausch" hingab und nicht gleich auf Kommando wieder einsteigen wollte, wie es i m Simulierprogramm hundertfach eingeübt worden war. Vielleicht war dieser Mann auf den Spuren Saint-Exuperys? Einem anderen Piloten hat man nicht gestattet, die i m Wege stehenden Reste einer Plastikhülle abzustoßen, u m i m Rahmen des Rendezvous-Manövers das Anlegen i n eigener Initiative und Verantwortung durchzuführen. Für solche spontanen „schöpferischen" Aktionen bietet das Programm nur dann Möglichkeiten, wenn sich Unvorhergesehenes ereignen sollte. Dann allerdings erwartet man größte Mobilität und Umsicht. Ausbil-

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dung verlangt also eine hohe Disziplin, Möglichkeiten der Wiederholung und der Konzentration auf die Aufgabe. Das kostet allerdings auch i n kleinen Maßstäben Geld, kostet Zeit, kostet Gelegenheit, also entsprechende Einrichtungen. Hier werden also kybernetische Erwägungen auf einen innerschulischen Regelkreis akut. Das Erziehungs- und Bildungswesen i n den einzelnen Bundesländern hat, dank der Bemühungen der „Ständigen Konferenz der Kultusminister", i n den letzten Jahren eine relativ einheitliche Entwicklung genommen. Dennoch bestehen hinsichtlich des Tempos dieser Vereinheitlichung noch immer erhebliche Unterschiede. Die K u l t u r hoheit liegt ja bei den Ländern, die — trotz des Finanzausgleichs — ein unterschiedliches Interesse zeigen. Nicht selten ist das persönliche Verständnis und Engagement der jeweiligen Kultusminister für die Entwicklung entscheidend gewesen. Außerdem lassen sich i n den Stadtstaaten bestimmte Absichten leichter vorantreiben als i n den sogenannten Flächenstaaten. Es ist daher gar nicht leicht, einen zusammenfassenden Überblick der zur Zeit herrschenden Tendenzen zu geben. Man w i r d aber wohl folgende — ich wiederhole — Tendenzen feststellen können: 1. Die Durchführung des 9. Schuljahres, wo sie noch nicht erfolgt ist, w i r d nun allgemein schrittweise vorangetrieben und auch die Erprobung des 10. Schuljahres (Beschluß der Kultusministerkonferenz). 2. Man ist sich wohl darin einig, daß das 9. Schuljahr kein „verlängertes" 8. Schuljahr sein soll. Man bemüht sich daher u m ein neues Schulprogramm für die sogenannte Hauptschule (7. bis 9./10. Schuljahr) m i t gefächertem Unterricht, einer Fremdsprache, m i t fächerübergreifenden Unterrichtseinheiten und Vorhaben und, zum Zwecke der Hinführung zur Arbeitswelt, die Einführung einer sogenannten „Arbeitslehre" m i t praktischen, aber nicht speziell auf bestimmte Berufe abgestellten Tätigkeiten i n Werkstätten, und die Entwicklung eines neuen Schulstils i m Sinne der vom Deutschen Ausschuß empfohlenen „Jugendschule". 3. Recht unterschiedlich erscheint die Eingliederung des 5. und 6. Schuljahres („Förderstufe") als Stufe der Orientierung und Bewährung zur sicheren Ermittlung der Begabungsrichtungen. 4. Allgemein bemüht man sich u m eine größere Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen und Schulstufen, u m (bei Fehlentwicklungen) eine möglichst große Kontinuität sicherzustellen. 5. I m engen Zusammenhang hiermit kann i n einzelnen Bundesländern eine hochgradige Differenzierung der Höheren Schule fest-

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gestellt werden: Neben den klassischen Formen der Gymnasien, die zur allgemeinen Hochschulreife führen, werden Schulformen eingerichtet, die zur Fakultätsreife führen, die dann an den Hochschulen und Universitäten durch Zusatzexamen ausgeweitet werden kann, was wiederum den Hochschulen nicht geringes Kopfzerbrechen bereitet. 6. Errichtung eines weiten Geflechts von Aufbauzügen, sei es von der Hauptschule zur Realschule oder von der Realschule zur Höheren Schule. Entwicklung der Abendgymnasien und Errichtung von Instituten zur Erlangung der Hochschulreife. 7. Hiermit verbunden ein weiterer Ausbau des „Zweiten Bildungsweges", etwa über eine qualifizierte Fachschulreife zur Hochschulreife, auch Sonderinstitute, die zur Hochschulreife für Leute führen, die schon über einen Berufsabschluß verfügen (z. T. kirchliche und private Einrichtungen, die vom Staat gefördert werden). 8. Ein Sonderproblem ist die Neuordnung der Oberstufe der Gymnasien (alten Stils): Anstelle der reinen Fachstunden eine stärkere Betonung der Arbeitsgemeinschaften, Konzentration auf wenige Fächer und fächerübergreifenden Unterricht. 9. I m Bereich des beruflichen Ausbildungs- und herrscht Unsicherheit über die generelle Beibehaltung Systems (berufsbegleitend oder i n Vollschuljahren mit Lehrzeit). Hier w i r d wohl die weitere Entwicklung unseres lebens das abschließende Wort sprechen.

Schulwesens des dualen abgekürzter Wirtschafts-

10. A n den Hochschulen und Universitäten macht sich die eindeutige Tendenz bemerkbar, das Studium (Studiendauer) zu straffen. Das hat eine zunehmende VerSchulung zur Folge, das Hervortreten von „ K u r sen" mit Zwischenprüfungen, Vorexamina, Scheinen. I m Lehrkörper gewinnt der sogenannte Mittelbau (Assistenten, wissenschaftliche Räte, Lektoren usw.) immer größere Bedeutung. Durch die Überfüllung macht sich eine klare Scheidung von Berufsausbildung und Forschungsarbeit bemerkbar. 11. Gegen einen programmierten Unterricht (mit sogenannten Lernmaschinen, durch Mitschauanlagen, Fernsehen usw.) besteht bei weiten Kreisen der Lehrerschaft und auch der Eltern große Voreingenommenheit. Die einschlägige Industrie ist aber auf die Mitarbeit beider Gruppen angewiesen. Zudem ist die Kostenfrage zu bedenken. 12. Ein typisch deutsches Problem, nämlich die Zwergschule i n ländlichen Gebieten oder aufgrund der konfessionellen Probleme, scheint sich i m Sinne der zunehmenden Einrichtung von „Mittelpunktschulen" (ausgebaute Schulsysteme) nunmehr zu lösen. Allerdings ist hier noch mit einem hartnäckigen Widerstand der Kirchen zu rechnen.

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Dieser „Katalog", der nur einige Probleme vermerken konnte, m i t denen sich die Schulverwaltungen ebenso wie die Erziehungswissenschaften, vor allem auch die Forschung, so das „Institut für Bildungsforschung" der Max-Planck-Gesellschaft i n Berlin (Prof. Hellmut Becker), befassen, wäre noch durch einige recht schwierige speziell deutsche Angelegenheiten zu ergänzen: Die Anzahl der freien (privaten) Schulen m i t eigenen Schulprogrammen ist sehr gering. Entsprechend fehlt der pädagogische und vor allem didaktische Wettbewerb zwischen den Schulen. Das Übergewicht der Staatsschulen m i t staatlich normierten Schulprogrammen hat notwendig eine Nivellierung zur Folge. Die Vergiftung der K u l t u r p o l i t i k durch die Rivalität von konfessionellen und simultanen Schulen scheint abzuebben. Das gilt auch für die Lehrerbildung; aber hier bereitet die zur Behebung des Lehrermangels angelaufene Ausbildung nichtakademischer Fachkräfte allen große Sorge, die u m die Einheit des Lehrerstandes bemüht sind. Unentschieden ist die Entwicklung von der Halbtagsschule zur Tagesheimschule. Man führt i n verschiedenen Ländern Erprobungen durch. Unbestritten bleibt auch die Tatsache, daß unser gesamtes Schulwesen ein Berechtigungswesen ist: I m Berufsleben schaut man zuerst auf die Zeugnisse und erst dann auf die Möglichkeit der praktischen Bewährung. Daraus erklärt sich die eminente gesellschaftliche Bedeutung des Schulbesuches.

Von der „Ausbildung" zur „Bildung" Wenn man sich i m Jahre 1959 dem „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens" angeschlossen hätte, würde die Bundesrepublik heute über ein klar strukturiertes Schulwesen verfügen, das ebenso i m Dienst einer intensiven Ausbildung wie der Bildung stehen würde. I n der gesamten deutschen Bildungsgeschichte hat es keine Diskussion von solchem Ausmaße gegeben wie nach der Veröffentlichung dieses Planes. Heute weiß man, daß es sich u m eine i m wesentlichen progressive, i m ganzen aber recht konservative Planung handelte. Was i m Rahmenplan progressiv war, scheint sich weitgehend durchzusetzen, während die konservativen Elemente verloren gehen. Der allgemeine Trend geht auf „Ausbildung" Aber seitdem wissen w i r , daß selbst bei einer kybernetisch angelegten Schulung durch Lernprogramme und mittels technischer Geräte Bildungseffekte auftreten, die nicht intendiert, nicht programmiert waren. W i r können daher diese Entwicklung i n Ruhe abwarten. Es zeigt sich eben, daß die Lehre von der Wiedererinnerung Piatons, der memoria interior Augustins oder der transzendentalen Apperzeption 3 Tagung Dortmund 1966

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Kants kein Hirngespinst war. Der Mensch als bloßer „Roboter", der mechanisch m i t seinem gespeicherten Wissen operiert, ist eine Abart und nicht der Normalfall. Freiheit und Wissen, Denken und Verantworten, Handeln und Entscheiden sind der Menschennatur eingeborene Möglichkeiten, von denen er immer wieder Gebrauch machen wird. Man darf daher als Geschenk einer intensiveren Ausbildung die „Bildung" erhoffen. Es muß ja nicht immer gleich ein Saint-Exupéry sein. Vielleicht reift aber der Mensch unserer Gesellschaft erst später als i n früheren Zeiten zur Gebildetheit heran. Daher w i r d die „Erwachsenenbildung" i n zunehmendem Maße eine immer größere Rolle spielen. I n der rechten Anteilnahme an dem Angebot, das von den Einrichtungen der Volkshochschulen zur Verfügung gestellt wird, aber auch i m rechten Gebrauch der Massenmedien, w i r d sich dieser Prozeß, der nicht durch Leistungszeugnisse ausgewiesen wird, forsetzen. I m Gutachten des Deutschen Ausschusses „ Z u r Situation und Aufgabe der deutschen Erwachsenenbildung" heißt es daher zu recht: „Der Mensch ist ja nicht von der Natur fertig geprägt; er muß sich zu dem, was er eigentlich ist, i n einer ständigen Auseinandersetzung m i t der Welt und sich selbst, erst formen. Deshalb ist die Bildung, die niemals abgeschlossen werden kann, nicht ein Zusatz zur menschlichen Existenz, auf den man verzichten könnte; sie begründet vielmehr die Möglichkeit eines menschlichen Daseins ü b e r h a u p t . . . I n einer geschichtlichen Lage, i n der kein Pfad mehr verläßlich ist, hat er seinen eigenen Weg zu suchen; er hat ihn auch dann zu verantworten, wenn er glaubwürdigen Autoritäten einsichtig folgt. Wenn der Mensch nicht das Opfer der modernen Gesellschaft, sondern ihr Bürger werden w i l l , so muß er sich das Verständnis seiner selbst und der Welt, i n der er lebt, i n einer ständigen Bemühung erschließen. Ob i h m das gelingt, ob er i n diesem Sinne ,gebildet' ist, davon hängt sein eigener Wert ab; ob es genügend vielen Menschen i n genügendem Maße gelingt, davon hängen die demokratische Lebensform und die menschliche Zukunft ab." Vielleicht muß man zu dieser Einsicht herangebildet, also ausgebildet werden, was wiederum beweisen würde, daß man Bildung und Ausbildung gegenseitig integrieren muß und es menschlich widersinnig ist, i n dieser Beziehung additiv zu denken. „Bildung" und „Ausbildung" lassen sich nicht mehr voneinander trennen, das ist nicht neu, das war immer so, auch wenn man es nicht immer wahrhaben wollte.

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Literatur Litt,

Theodor,

Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, Bochum o. J. (Kamp's Taschenbücher Nr. 3).

Neundörfer , Ludwig, Die Stellung des Lehrers i n der gegenwärtigen Gesellschaft, Privatdruck, Frankfurt 1965. Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 5, Wirtschaft und Schule, darin Carl-Heinz Evers: Die Zusammenarbeit aus aktueller schulpolitischer Sicht, K ö l n und Opladen 1965. Die Empfehlungen und Gutachten des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen", Stuttgart 1955 ff.

Die Beziehungen von Bildung und Ausbildung aus niederländischer Sicht Von M. Goote, Generalinspecteur van het Onderwijs, Den Haag

Das Thema dieser Tagimg: „Bildung und Ausbildung i n der Industriegesellschaft" ist meines Erachtens besonders attraktiv und schwierig. Ich könnte auch sagen, daß es attraktiv ist, w e i l es schwierig ist. Wahrscheinlich hat denn auch die Sozialakademie Dortmund gerade aus diesem Grunde ein solches Thema gewählt. Daß die Behandlung dieses Themas zahlreiche Schwierigkeiten m i t sich bringt, ergibt sich bereits aus der Tatsache, daß nicht weniger als 13 Heferenten über dieses Sachgebiet sprechen und — wie ich erwarte — jeweils andere Schwierigkeiten nennen und andere Lösungen geben werden, u m diese Schwierigkeiten i n mehr oder weniger zweckdienlicher Weise auszuräumen. Und darin verbirgt sich nun wiederum das Attraktive. Nun, das Erkennen bestehender Schwierigkeiten zwingt uns zu einer tieferen Einsicht i n ihre A r t und i n ihr Wesen, während Lösungen oder diesbezügliche Möglichkeiten unsere Aussicht, unser Blickfeld erweitern. Dasselbe t u n w i r faktisch auch i m Unterricht. W i r stellen den Jugendlichen vor eine Reihe von Problemen, u m seine Einsicht zu prüfen, und helfen i h m auf diese Weise, seiner Aussicht auf die Zukunft möglichst weiten Raum zu geben. Es stellen sich sodann folgende Fragen: Welche Aussicht müssen w i r dem Jugendlichen bieten und, welche Einsicht ist dazu erforderlich? Welchen Beitrag können Bildung und Ausbildung hierzu liefern? Einer näheren Erörterung dieser Fragen möchte ich einige Bemerkungen vorausschicken. Ich wurde gebeten, dieses Thema „aus niederländischer Sicht" zu behandeln. Dies ist eine selbstverständliche Einschränkung, denn — so international w i r auch denken mögen — die Lebensgemeinschaft, i n der w i r den weitaus größten Teil unserer Existenz verbracht haben, bestimmt i n hohem Maße unsere Auffassungen. U n d dies gilt w o h l insbesondere für den Unterricht. Daher sind vergleichende Betrachtungen über den Unterricht oft gefährlich. W i r haben die Neigung, i n

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Komperativen zu qualifizieren, so wie gut und besser, wobei der Vergleich lediglich dem Ziel dienen kann, Übereinstimmungen und Unterschiede aufzuweisen. Hinzu kommt, daß jeder Niederländer die merkwürdige Neigung besitzt, den eigenen Landsleuten gegenüber ausschließlich die Mängel des niederländischen Unterrichts zu unterstreichen und gleichzeitig den Unterricht außerhalb der Landesgrenzen als Vorbild hinzustellen. Befindet sich derselbe Niederländer jedoch irgendwo i m Ausland i n einem Kreis von Bekannten aus anderen Ländern, dann ist seiner Meinung nach der niederländische Unterricht, wenn nicht vollkommen, so doch auf dem besten Wege, einigen Änderungen untergeordneter A r t i n einen Zustand der Vollkommenheit gebracht zu werden. Ich beabsichtige, bei meinen Betrachtungen von der niederländischen Gemeinschaft und von dem niederländischen Unterrichtssystem auszugehen, das sich i n vielen Punkten von den Systemen i n anderen europäischen Ländern unterscheidet. Sollte ich hierbei i n denselben Fehler verfallen wie der soeben skizzierte Niederländer, so darf ich Sie i m voraus u m Entschuldigung bitten. Eine andere Bemerkung betrifft den niederländischen Unterricht selbst. Vor einigen Jahren (1963) kam ein neues Gesetz zustande, das i n Kürze (1968) vollends i n Kraft gesetzt werden wird. Dieses Gesetz regelt den gesamten Unterricht — sowohl den allgemeinen Unterricht als auch den Berufsunterricht — i m Anschluß an die sechsjährige Elementarschule, allerdings m i t Ausnahme des Hochschulunterrichts, des Lehrlingswesens und des Sonderunterrichts (letzterer ist für geistig und körperlich behinderte Kinder bestimmt). Ich habe Ihnen allen ein Schema aushändigen lassen, auf dem Sie oben die noch bestehende Situation und darunter die neue Struktur finden. W i r leben i n den Niederlanden zur Zeit i n einem Übergangsstadium, da das neue Gesetz seine Schatten vorauswirft. Alte und neue Strukturen kommen nebeneinander vor. Es ist nicht real, die alten Formen als die wichtigen zu betrachten, u m so mehr als das Thema dieser Konferenz auf die Zukunft gerichtet ist. Ich bin daher bei meinen Betrachtungen von der neuen Struktur ausgegangen. Das Thema „Bildung und Ausbildung" geht von dem Gedanken aus, daß der junge Mensch i n und nach seiner Schulzeit m i t zweierlei A k t i vitäten konfrontiert wird. U m über die Beziehungen zwischen beiden sprechen zu können, werden w i r uns zuvor i n die Bedeutung und i n das Wesen jedes einzelnen der beiden zu unterscheidenden Begriffe vertiefen müssen.

Beziehungen von Bildung und Ausbildung aus niederländischer Sicht

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Wenn ich voraussetze, daß „Bildung" eine A k t i v i t ä t ist, i n der der Schüler i m Mittelpunkt steht, und „Ausbildung" den Beruf i n den Mittelpunkt stellt, habe ich zwar eine Richtlinie zur Unterscheidung, aber — wie sich zeigen w i r d — noch keineswegs eine deutliche A b grenzung der Bereiche, i n denen sich diese Aktivitäten abspielen. Ebensowenig kann ich m i r ein B i l d von der A r t dieser Aktivitäten machen. Da das soeben genannte neue Gesetz über den Sekundärunterricht (d. h. über den Unterricht nach Absolvierung der Elementarschule) diesbezüglich i n verschiedenen Punkten neue Möglichkeiten und Perspektiven bietet, möchte ich Ihnen i m Rahmen unseres Themas etwas über die Gründe dafür sagen. Zuvor darf ich einige einleitende Betrachtungen vorausschicken. Es liegt auf der Hand, bei der Unterscheidung der Begriffe „Bildung und Ausbildung" den alten, jetzt veralteten Gegensatz zwischen „allgemeinbildendem Unterricht" und „Fachunterricht" zur Sprache zu bringen. Dieser aus der griechischen K u l t u r stammende Gegensatz teilt die Menschen i n zwei Gruppen: die Freien, die Elite, auf der einen und die Masse auf der anderen Seite. Wie gesagt, dieser Gegensatz ist veraltet, aber es gibt noch viele, für die der allgemeinbildende Unterricht die Hauptstraße i m Unterricht ist, während sich der Berufsunterricht i n den Nebenstraßen abspielt. Der Begriff „allgemeine Bildung", verbunden m i t einem bestimmten Inhalt und mit bestimmten Fächern, hat bereits ein langes Leben und taucht zuweilen jetzt noch auf. Die allgemeine Bildung ist auf der Grundlage des griechischen Denkens auch das Bildungsideal i n der humanistischen und neohumanistischen Unterrichtskonzeption. Sie sieht das Individuum und seine harmonische Entfaltung zentral und negiert dabei die gesellschaftliche Situation, i n der es sich befindet. Der Nutzen oder die Anwendbarkeit des i m Unterricht Gelehrten ist irrelevant. Der Unterricht ist zweckfrei. Vor allem i m Gymnasium hielt man lange Zeit an dieser Denkweise fest, wenn auch i n der Entwicklung dieser Institution i m Laufe der Jahre die Praxis stärker war als die Lehre. So ist beispielsweise der Inhalt des Unterrichts, der sich anfänglich auf die sogenannten „humaniora", klassische Sprachen, Literatur, Kunst und Philosophie, beschränkte, auf die „realia", wie moderne Sprachen, Naturwissenschaften usw., ausgedehnt worden. Dies schließt nicht aus, daß es i m niederländischen Gymnasium noch viele gibt, für die die Utilität der Fächer als Ausgangspunkt nicht akzeptabel ist. Nun ist die humanistische Konzeption nicht die einzige gewesen, die richtungweisend für die A r t des allgemeinbildenden Unterrichts

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war. Auch diejenigen, die die Zielsetzung des Unterrichts primär als eine Vorbereitung des Jugendlichen auf die Gesellschaft sahen, haben ihren Anteil dazu beigetragen. Dabei legten sie den Nachdruck vor allem auf die Vielseitigkeit, die den allgemeinbildenden Unterricht kennzeichnen muß. Für sie stand der Nutzen i m Vordergrund. Obwohl letztere also i m Prinzip keinen Gegensatz zwischen allgemeinbildendem Unterricht und Berufsunterricht sahen, blieb i n ihrer Sicht dieser Unterricht andersartig und nicht allgemeinbildend. So finde ich sogar noch i n einem niederländischen Bericht aus dem Jahre 1957, der die Überladung des Unterrichts zum Gegenstand hatte, folgende Betrachtung: „Die Ausbildungs- oder Fachschule bildet für ein bestimmtes Fach oder einen bestimmten Beruf aus. Der an dieser Schule erteilte Unterricht ist jedoch an sich begrenzter als allgemeinbildender Unterricht, sonst wäre er kein guter Fachunterricht. Der Lehrplan w i r d ja großenteils durch spezifische Anforderungen bestimmt, die das zukünftige Fach oder der zukünftige Beruf stellen. I m guten Fachunterricht steckt vieles, das zur allgemeinen Bildung beitragen kann, jedoch niemals i n einem Verhältnis, das diesen Unterricht zu einem allgemeinbildenden und harmonischen Programm werden läßt." Soweit dieses Zitat, das meines Erachtens eine Ansicht darstellt, die nicht mehr an der Zeit ist. Das Merkwürdige ist, daß trotz der vorerwähnten sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte bezüglich der Zielsetzung die tatsächliche Konstruktion des allgemeinen Unterrichts i n den Niederlanden gewissermaßen i n beide Konzeptionen paßte. Sie findet eben bis heute ihre Form — wenn auch m i t Varianten — i n der kategorialen Schule. Zwei Faktoren kennzeichnen dieses kategoriale System: das feste Klassengefüge und das für alle Schüler i n gleicher Weise vorgeschriebene Programm, ein Programm, das i m übrigen m i t einem Abschlußexamen i n einer großen Anzahl von Fächern beendet wird. Also sozusagen ein festes Menü mit vielen Gängen, wobei nicht nach dem Appetit der Teilnehmer gefragt wird, oder — wie ein Rektor m i r einmal sagte: „Jeder Schüler muß unter dem Joch durchgehen." Die Entwicklung des niederländischen Unterrichtssystems i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und i n der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließt sich i n vielen Punkten den vorskizzierten Konzeptionen an. I m 19. Jahrhundert entsteht neben dem Gymnasium, das eine Vorbereitung auf ein Universitätsstudium gibt (für den Gelehrtenstand), die höhere Bürgerschule (für den Bürgerstand), jedoch

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ohne die Rechte des Gymnasiums. Für den Arbeiterstand galt die Elementarschule als ausreichend. Ich bemerke hierzu, daß die sechsjährige Elementarschule als Institut für abgeschlossenen Unterricht für bestimmte Gruppen noch i n ihrem heutigen Programm stets diese Erscheinungen aufweist, und das trotz der Tatsache, daß heutzutage fast allen Kindern i m Anschluß an die Elementarschule weiterer Unterricht zuteil wird. U m 1920 treten verschiedene Änderungen ein. Das Diplom der höheren Bürgerschule w i r d m i t dem Recht auf Zulassung zum Universitätsstudium verbunden (Medizin, technische und Naturwissenschaften). Darüber hinaus entwickelt sich aus dem Elementarunterricht ein Schultyp m i t vierjährigem Lehrgang für allgemeinen Unterricht (U. L. O. = erweiterter Elementarunterricht). Der Berufsunterricht w i r d gleichzeitig i n einem besonderen Gesetz, der „Nijverheidsonderwijswet" für Fachunterricht, geregelt. Die gesetzliche Regelung für den Berufsunterricht i n den Niederlanden besteht also noch keine 50 Jahre. Sie ist daher noch sehr jung. Trotzdem hat sie einen sehr großen und segensreichen Einfluß gehabt. Jedenfalls hat sie dem niederländischen Unterricht eine eigene Strukt u r gegeben, die von der i n den uns umgebenden Ländern i n Europa, m i t Ausnahme von Belgien, abweicht. Sie führte nämlich die Berufsfachschule m i t einem dreijährigen, an den Elementarunterricht anschließenden Lehrgang und parallel dazu das Lehrlingswesen ein. Die Elementarschule war für die Ausbildung zum Fachmann unzureichend geworden. Die Niederlande waren zu Beginn unseres Jahrhunderts hauptsächlich auf Landwirtschaft und Handel eingestellt, aber die Entwicklung von Handwerk und Industrie erforderte i n zunehmendem Maße geschulte Kräfte. I n dieser Periode kam die Regierung über den Berufsfachunterricht diesem Bedürfnis entgegen. A r t i k e l 1 des Fachunterrichtsgesetzes ist i n diesem Zusammenhang interessant und hat folgenden Wortlaut: „Fachunterricht hat die Zielsetzung, auf der Grundlage und i n Fortsetzung des allgemeinbildenden Unterrichts auszubilden zum usw." Also primär: Ausbildung, aber gleichzeitig auch allgemeine Bildung i n derselben Weise und i n denselben Fächern wie an anderen allgemeinen Schulen. Da die Berufsfachschule primär jedoch zum Fachmann ausbildete, nahmen die technischen Fächer so breiten Raum ein, daß die für die übrigen Fächer verfügbare Zeit minimal war.

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Es bedarf wohl keiner Erörterung, daß die bestehenden Unterrichtsformen und viele der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien nicht mehr i n diese Zeit passen. Professor K w a n t beschreibt i n seinem Buch: „Het Arbeidsbestel" (Ausgabe: Het Spectrum, Utrecht 1957) die heutige Gesellschaft als ein Arbeitsgefüge: „eine sozialökonomische Ordnung, worin verschiedene menschliche Aktivitäten anerkannt, aufgenommen, honoriert und beschützt werden, aber i n der sie zugleich ihre Freiheit verlieren." Die Aktivität, so sagt er, w i r d aufgenommen i n ein Quid-pro-quoVerhältnis und i n vielen Fällen überdies gesetzlich geregelt. Sogar die Wissenschaft w i r d nicht mehr u m ihrer selbst willen getrieben. Sie ist nicht mehr frei, sie muß angewandt werden. Sie liefert ihren Beitrag zur Arbeit, selbst zu der des einfachsten Arbeiters. Alle Arbeit steht i m Licht einer wissenschaftlichen Vernunft. Was ist i n dieser Welt die Aufgabe des Unterrichts? Er w i r d dem jungen Menschen helfen müssen, das Stadium des Erwachsenseins zu erreichen. Erwachsensein impliziert sowohl psychische als auch ökonomische Selbständigkeit, die den Menschen i n die Lage versetzt, sich selbst zu behaupten und bereit zu sein, sich selbst seiner Aufgabe und seiner Bestimmung zu widmen (N. Perquin, Paedagogiek, Ausgabe: Romen en Zonen, Roermond 1958). Das ist die Aussicht, die w i r dem jungen Menschen bieten müssen. Was werden Bildung und Ausbildung dazu beitragen können? Das von m i r eingangs erwähnte neue Gesetz, das den Unterricht i m Anschluß an die sechsjährige Elementarschule regelt, baut einerseits auf den bereits bestehenden Unterrichtsformen auf, aber bringt andererseits neue Ideen m i t sich. Es unterscheidet i n Übereinstimmung m i t dem bestehenden System eine Reihe von Schultypen, die teils dem allgemeinen, teils dem Berufsunterricht dienen. Das Gesetz spricht daher nicht mehr von „allgemeinbildendem Unterricht", sondern von allgemeinem Unterricht, d. h. dem nicht auf den Beruf ausgerichteten Unterricht. Ausgangspunkt der Gesamtregelung ist die Voraussetzung, daß der gesamte unter die Auswirkung dieses Gesetzes fallende Unterricht ein zusammenhängendes Ganzes bilden muß. Jede Schule ist Teil dieses Ganzen, eines Ganzen, das dem Schüler zur Verfügung steht. Allgemeiner Unterricht und Berufsunterricht werden i m gleichen Gesetz geregelt. Der Unterrichtsminister gab hierzu seinerzeit folgende Erläuterung: „ A u f den ersten Blick scheint die Vielförmigkeit des weiterführenden Unterrichts dessen Aufbau und Regelung i n einem Gesetz i m

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Wege zu stehen. Trotz der bestehenden Differenzen i n Lehrplänen ist angesichts der Zielsetzung des Unterrichts i n seiner Gesamtheit eine fundamentale Einheit i n diesem Unterricht vorhanden, die auch i n den Lehrplänen zum Ausdruck gelangen dürfte und der mehr Bedeutung zukommt als den Differenzen. Es ist ja doch die Zielsetzung des Unterrichts (in allen Teilen), die bereits i m Grundunterricht begonnene allgemeine Bildung zu vollenden und den jungen Menschen auf dieser Basis auf die Erfüllung einer Aufgabe i n der Gesellschaft vorzubereiten. Aus der Sicht dieser gemeinsamen Zielsetzung sind die Differenzen zwischen den verschiedenen Formen keine wesentlichen Differenzen, sondern nur Modalitäten, unter denen die einzelnen Schultypen die gemeinsame Zielsetzung des Unterrichts verwirklichen wollen." I m Sinne dieses Ausspruches gilt also ein allgemeines Ziel für alle Schulen, ungeachtet der Tatsache, ob sie allgemeinen oder Berufsunterricht erteilen. Naturgemäß hat jeder Schultyp eine eigene Zielsetzung, die Realisierung verlangt. Aber das besondere Ziel ist dabei eine Facette des allgemeinen Ziels, nämlich dem Schüler entsprechend seinem Wollen und Können eine Vorbereitung zu bieten, die ihm nach ihrem Abschluß helfen kann, als selbständiger Mensch am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Dies impliziert i m Hinblick auf den allgemeinen Unterricht, daß der gesellschaftlichen Entwicklung fortwährend Rechnung getragen werden muß, so daß Zielsetzung und Aufbau damit parallel verlaufen. Für den Berufsverkehr ergibt sich daraus, daß die Anforderungen des Berufs als solche nur ein Aspekt seiner Zielsetzung sein dürfen. Das B i l d der Berufswelt ist auch so komplex, so undeutlich und so veränderlich, daß schon aus praktischen Gesichtspunkten eine deutliche Ausrichtung auf bestimmte Berufe faktisch keine Lösung ermöglichen würde. I n einer Entwicklung, die jedem Teilnehmer am Gesellschaftsleben stets höhere Anforderungen stellt, w i r d der Unterricht danach streben müssen, jedem die Chance zu geben, den Endpunkt zu erreichen, der seinem Wollen und Können entspricht. Welche Möglichkeiten bietet hierzu die niederländische Struktur? Ich darf hierbei Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf den allgemeinen und sodann auf den technischen Unterricht lenken. Der allgemeine Unterricht kennt drei Haupttypen, und zwar den auf das Hochschulstudium vorbereitenden Unterricht (V. W. O.), zu dem auch das Gymnasium mit einem sechsjährigen Lehrgang gehört, und daneben den höheren allgemein weiterführenden Unterricht (hoger

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algemeen voortgezet onderwijs = H. A. V. O.) m i t einem fünfjährigen Lehrgang und den mittleren allgemein weiterführenden Unterricht (middelbaar algemeen voortgezet onderwijs = M. A. V. O.), der sich auf drei oder vier Jahre erstreckt. Das Gesetz schreibt vor, daß i m ersten Schuljahr dieser Schulen dieselben Fächer gelehrt und i n jedem Fach dieselben wöchentlichen Unterrichtsstunden erteilt werden müssen. Dieses erste Schuljahr, das auch wohl das „Brückenjahr" genannt wird, hat zum Ziel, den neu aufgenommenen Schüler i n erster Linie zu orientieren, i h m i n der neuen Situation zu helfen und i h n sodann zu „determinieren", d.h. einen Eindruck von i h m zu gewinnen, um ihn beraten zu können, welcher Unterricht für i h n — soweit dies dann beurteilt werden kann — am geeignetsten erscheint. Sie müssen sich dabei vorstellen, daß die genannten Schularten i n vielen Fällen i n einer Schulengemeinschaft zusammenarbeiten. Ein solcher Zusammenschluß verschiedener Schultypen findet i n den Niederlanden großes Interesse. I n den Schulen gleichen Typs w i r d allen Schülern i n den ersten drei Jahren des Lehrgangs dasselbe Programm geboten. Das bedeutet nicht, daß eine Schule eines bestimmten Typs vollkommen dasselbe tut wie eine andere Schule des gleichen Typs. Gewisse Unterschiede von Schule zu Schule sind möglich. I m allgemeinen werden jedoch alle Schüler einer bestimmten Schule an allen Unterrichtsfächern des Lehrplans teilnehmen. Anschließend t r i t t jedoch eine Veränderung ein. Der Schüler w i r d vor eine Wahl gestellt. I m Lyzeum ist diese Wahl noch traditionell. Er wählt zwischen den Abteilungen entweder des Gymnasiums oder des Athenäums — A oder B. Auch i n diesem Sektor bedeutet diese Wahl jedoch nicht, daß der Schüler weiterhin bis zum Abschlußexamen einer sehr breiten Skala von Fächern folgen muß. Das Abschlußexamen w i r d nämlich auf sieben Fächer beschränkt, von denen fünf innerhalb jeder Abteilung obligatorisch sind. Die beiden anderen stehen dem Schüler zur Wahl. A u f diese Weise w i r d der Schüler, der die Abteilung B (mathematisch-naturwissenschaftlicher Zweig) des Gymnasiums durchläuft, verpflichtet, seine Examen i n folgenden Fächern abzulegen: i n Niederländisch, Latein oder Griechisch, einer modernen Fremdsprache, Mathematik I und einem Fach der Naturwissenschaften. Er kann sodann noch zwei andere Fächer wählen, wobei i h m Griechisch oder Latein, eine andere moderne Fremdsprache, eine oder zwei Naturwissenschaften oder Mathematik I I zur Wahl stehen. Das Mathematikexamen w i r d nämlich i n zwei Teilen abgenommen, von denen ein Teil hauptsächlich Algebra, Goniometrie und Analyse und der andere Teil

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Stereometrie und analytische Geometrie umfaßt. Bei der Unterrichtsform H. A. V. O. ist die Wahl großzügiger. Der Schüler w i r d nach drei Jahren sechs Fächer wählen, die hauptsächlich sein Programm für die letzten beiden Jahre bestimmen. Zwar stehen i n diesen Jahren auch Fächer wie Leibesübung, Soziologie, Musik, Zeichnen, Handfertigkeiten und andere auf dem Lehrplan, aber i n diesen Fächern w i r d kein Examen abgenommen. Z u den sechs Fächern gehören obligatorisch Niederländisch und eine moderne Fremdsprache. Für die übrigen Fächer kann der Schüler seine Wahl treffen aus den beiden anderen modernen Fremdsprachen, Erdkunde, Geschichte, Ökonomie, Handelswissenschaften, Mathematik, Physik, Chemie oder Biologie. Das gleiche gilt für den Schüler des M. A. V. O. Dieser Regelung von Programm und Examen liegt der Gedanke zugrunde, daß w i r dem Schüler eine Wahl aus den gegebenen Möglichkeiten einräumen müssen, u m so der A r t seiner Intelligenz und seinem spezifischen Interesse entgegenzukommen. Wie sich aus der Aufzählung der Fächer ergibt, sind die Möglichkeiten begrenzt. Die Einförmigkeit des Unterrichts ist also zugunsten des Schülers preisgegeben worden. Die breite Basis der ersten drei Jahre w i r d i n den letzten Jahren eingeengt. Der Schüler erhält auf diese Weise Gelegenheit, die Fächer zu wählen, die i h m am meisten liegen bzw. die er i m Hinblick auf seine zukünftigen Studien bevorzugt. Der breiten Basis, die bisher die Examen kennzeichnete, stehen Konzentration und Vertiefimg gegenüber, die bei einer begrenzten Anzahl von Studienfächern erreicht werden können. Andererseits ist die Zahl der vom Schüler gewählten Fächer nicht so gering, daß Einseitigkeit Vorschub geleistet wird. Meines Erachtens bietet die Wahl zweierlei Vorteile. A n erster Stelle w i r d der Schüler mitverantwortlich für sein Programm. Dies schafft gewisse Verpflichtungen, die bei einem von oben auferlegten Programm nicht gegeben sind. Ferner w i r d der Schüler i n der Regel die Fächer wählen, m i t denen er am meisten vertraut ist und für die er Interesse hat. Und Interesse ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg i n Schule und Beruf. Paulsen wies i n seinem ungefähr i m Jahre 1880 geschriebenen Buch „Geschichte des Gelehrtenunterrichts" bereits darauf hin, daß die Überladung des Unterrichts nicht auf zu hohe Anforderungen an den Schüler, sondern auf ein zu breites Programm zurückzuführen sei. Es ist allgemein bekannt, daß Unlust bestimmte Tätigkeiten besonders ermüdend macht. Was man gern tut, fällt nicht schwer, so daß man daher zu höheren Leistungen fähig ist. Es liegt auch nicht i n der

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Absicht des niederländischen Schulwesens, geringere Anforderungen an den Schüler zu stellen. Infolge dieser Änderungen sind Begriffe wie allgemeine Bildung oder allgemeine Entwicklung aufgegeben und durch eine mehr persönlich ausgerichtete Bildung ersetzt worden; denn w i r wollen dem Jugendlichen ja zur Selbständigkeit verhelfen. Der technische Unterricht hat i n den Niederlanden vier Niveaus. W i r kennen den elementaren technischen Unterricht (mit drei- oder vierjährigem Lehrgang), der an den Elementarunterricht anschließt, den mittleren technischen Unterricht nach dreijähriger Absolvierung des M. A. V. O. oder der elementaren technischen Schule, den höheren technischen Unterricht nach dem fünfjährigen H. A. V. O. und den wissenschaftlichen technischen Unterricht auf Hochschulniveau. Man hat m i r wohl einmal die Frage gestellt, welchen Sinn diese verschiedenen Niveaus i n bezug auf die verschiedenen Berufe haben. Meiner Meinung nach gibt es hier keine direkte Relation. Ich habe bereits gesagt, daß die Erfordernisse des Berufs nur ein Aspekt i n der Zielsetzung des technischen Unterrichts sein können. Die wesentliche Bedeutung der Vierteilung liegt darin, daß w i r alle Jugendlichen, die eine Vorliebe für einen technischen Arbeitskreis haben, i n die Lage versetzen wollen, einen solchen Beruf auszuüben. Dabei ist es erforderlich, eine Reihe von Stufen zu unterscheiden, damit jeder das seinen Fähigkeiten entsprechende Niveau erreichen kann. Dies beinhaltet gleichzeitig, daß die Schüler, die dazu i n der Lage sind, nach Absolvierung beispielsweise einer technischen Elementarschule auf eine technische Mittelschule überwechseln können usw. Diese Regelung bietet einen zweiten Weg. Auch aus diesem Grunde ist eine Gliederung i n vier verschiedene Niveaus günstig. I n diesem Zusammenhang sei noch bemerkt, daß 50 v. H. aller Schüler der technischen M i t telschule zuvor die technische Elementarschule durchlaufen haben. 14 v. H. der Studenten an der Technischen Hochschule i n Delft sind Inhaber eines Diploms der höheren technischen Schule. Es ist daher die Aufgabe des technischen Unterrichts, eine Basis zu legen und damit dem Schüler zu helfen, die Richtung zu finden, i n der er sich am besten entfalten kann. Hierbei kann erwähnt werden, daß nicht nur Zukunftsaussichten für Konstrukteure vorhanden sind, sondern auch für Jugendliche, die sich für betriebswirtschaftliche, kaufmännische, administrative und Entwicklungsaspekte interessieren. Der Betrieb bietet i n jeder Richtung so viele Funktionen, daß sich irgendwo wohl eine Stelle finden läßt. Es ist die Aufgabe der technischen Schule, für die zugelassenen Schüler i m Rahmen der für den Lehrgang zur Verfügung stehenden

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Zeit eine allgemeine Grundlage für eine noch unbestimmte Funktion i n der gewerblichen Wirtschaft zu schaffen. Die Schule soll dem Schüler einige Einsicht i n die A r t und Weise vermitteln, i n der ein technisches Problem gelöst werden muß, und zugleich sein Interesse für die sozialen und allgemeinen Aspekte erwecken, die i m Zusammenhang mit dem Produktionsprozeß auftreten. Das Programm der Schule w i r d dabei auch eine Reihe von Varianten enthalten müssen, die dem Schüler zur Wahl stehen. Das neue Gesetz weicht auch i n seiner Terminologie von dem früheren Fachunterrichtsgesetz ab. Letzeres sprach von „ausbilden", das neue Gesetz spricht von „vorbereiten". Ausbilden hat zum Ziel, die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die für eine gute Berufsausübung erforderlich sind. Die Erfordernisse des Berufs sind primär. Vorbereiten ist ein weiterer Begriff mit dem Ziel, Einsicht i n die Möglichkeiten und die Charakteristik eines Berufssektors zu bieten, der aber zugleich der gesellschaftlichen Aufgabe i m weiteren Sinne Beachtung schenkt. „Vorbereiten" stellt den Schüler zentral. Unter diesem Gesichtspunkt liegt das unterscheidende Element des allgemeinen und des Berufsunterrichts weniger i n der Zielsetzung als vielmehr i n der Wahl der M i t t e l und Unterrichtsthemen. W i r könnten sagen, daß die i m allgemeinen Unterricht begonnene Differenzierung i m technischen Unterricht fortgesetzt w i r d und darin ihren Abschluß findet. Der Berufsunterricht ist für diejenigen der normale Abschluß der Schulbildung vor Eintritt i n die gewerbliche Wirtschaft, die keine Universität besuchen. Es handelt sich hierbei u m einen Abschluß, aber nicht u m einen Endpunkt: Bildung und Ausbildung nehmen kein Ende. Die Entwicklung der Technik und Wissenschaft schreitet i n einem so schnellen Tempo voran, daß jeder fortwährend wieder zu Anstrengungen und Studien gezwungen wird, u m m i t dieser Entwicklung Schritt halten zu können. Sowohl der allgemeine als auch der Berufsunterricht können nicht mehr tun, als dem Schüler — entsprechend seinem Wollen und Können — bei der Suche nach der Fachrichtung behilflich zu sein, die i h m Aussicht auf eine gute Entfaltung seiner Fähigkeiten bietet. Hierin liegt auch das Wesen der Differenzierung. Erst i n dem gewählten Beruf w i r d sich der Schüler auf der Grundlage des i h m zuteil gewordenen Unterrichts qualifizieren und anpassen können. Die Differenzierung bezweckt Anpassung des Unterrichts an den Schüler. Die dem Beruf inhärente Spezialisierung erfordert die Anpassung des Arbeitenden an den Beruf, I m Unterricht ist der Jugendliche noch frei, i m Beruf verliert die menschliche A k t i v i t ä t ihre Freiheit.

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Der technische Unterricht bildet also die Phase zwischen Bildung und Ausbildung. Die Ausbildung setzt eigentlich erst nach der technischen Schule ein. Dies schließt nicht aus, daß die Wahl, die der Schüler trifft, indem er eine technische Schule besucht, sowie die sodann von i h m i n der technischen Schule getroffene Wahl der Fachrichtung bereits die Berufswahl antizipieren. Aus diesem Grunde kann man sagen, daß i n der technischen Schule Bildung und Ausbildung Hand i n Hand gehen, wenn auch meines Erachtens der Nachdruck immer noch auf der Bildung liegt. Dies ist auch notwendig, w e i l die Schule nicht danach streben soll, dem Schüler allen Proviant für das ganze Leben mitzugeben. Das Ende der Schulzeit ist der Anfang eines neuen Lebensabschnittes. Vor kurzem hörte ich einen Vortrag, i n dem die These vertreten wurde, daß die Universität i n Zukunft lediglich ein Drittel ihrer Kapazität auf die Ausbildung zu einem akademischen Grad und zwei Drittel auf Applikationskurse für Universitätsabsolventen verwenden wird. Dies indiziert, daß die Schule ihren Unterricht sehr begrenzen kann und auf die Verehrung von Kenntnis und Wissen w i r d verzichten müssen. Die technische Elementarschule gilt i n der Gesamtheit des technischen Unterrichts als besonderes Problem. Die grundsätzliche Frage, die immer wieder aufgeworfen w i r d und die auch i n den Niederlanden selbst häufig zur Diskussion gelangte, stellt zur Debatte, ob der technische Unterricht für Schüler zwischen 13 und 14 oder zwischen 15 und 16 Jahren geeignet ist und ob der Schüler dadurch nicht zu früh vor die Berufswahl gestellt wird. Wie ich bereits i n meinen vorstehenden Ausführungen erwähnte, legte diese damals noch Fachschule genannte Schule ursprünglich den Akzent auf die Ausbildung. Seither hat sich jedoch vieles geändert. Ich möchte an erster Stelle bemerken, daß i m ersten Schuljahr ausschließlich allgemeiner Unterricht erteilt wird. Auch i m zweiten Schuljahr w i r d der größte Teil der verfügbaren Zeit für allgemeinen Unterricht aufgewendet. Dies gibt jedoch noch keine A n t w o r t auf die vorgestellte Frage. Die Aufgabe aller Formen des technischen Unterrichts liegt zwischen Bildung und Ausbildung. Vor dem Zeitpunkt, i n dem die Fachausbildung ihren Abschluß i m Betrieb findet, w i r d der Unterricht sich darauf schon i m voraus einstellen müssen. Das t u t der technische Unterricht. I m elementaren technischen Unterricht w i r d die Bildung die Hauptaufgabe sein müssen. Von der ursprünglichen Zielsetzung ist nur wenig übriggeblieben.

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Die Schüler, die i m Anschluß an die Elementarschule eine technische Elementarschule besuchen (fast 40 v. H. aller Jungen), sind i m allgemeinen sehr praktisch eingestellt, d. h. sie wollen wissen, warum sie bestimmte Fächer und bestimmte Unterrichtsthemen lernen müssen. Die technischen Fächer, i n denen Unterricht erteilt wird, sollen den Schülern die Anwendung der allgemeinen Fächer vor Augen führen. Dadurch gewinnen auch diese Fächer Bedeutung für die Schüler. Der Unterschied zwischen allgemeinem und Berufsunterricht liegt mehr i n den benutzten Mitteln als i n der Zielsetzung. I n diesem Sinne bilden i m elementaren technischen Unterricht die technischen Fächer in viel stärkerem Maße die didaktischen Hilfsmittel als i n anderen Formen des technischen Unterrichts. Der elementare technische Unterricht verläuft auch nicht parallel mit dem Lehrlingswesen. Er bereitet aber darauf vor und bildet die Basis, auf der das Lehrlingswesen aufbaut. Ein typischer Aspekt dieses Unterrichts liegt auch i n dem Umstand, daß darin große Intelligenzunterschiede vorkommen. Dieser Erscheinung w i r d Rechnung getragen. Die besten Schüler nehmen beispielsweise an einer Abschlußprüfung teil, i n der die theoretischen (allgemeinen) Fächer dominieren (Niederländisch, Fremdsprache, Mathemat i k und Naturkunde). Oft stellt sich auch heraus, daß die Elementarschule die Intelligenz des Schülers unterschätzt hat. Das Interesse, das der technische Unterricht anregt, führt oft zu überraschenden Entdeckungen. Ich möchte andererseits nicht verhehlen, daß die Entwicklung dieser Unterrichtsform noch viele Probleme stellt. Ich habe i n meinem Vortrag versucht, Ihnen aus dem Gesichtspunkt der niederländischen Unterrichtsstruktur ein B i l d einiger Beziehungen von Bildung und Ausbildung zu vermitteln. Meine Ausführungen sind gewiß nicht vollständig gewesen. Zusammenfassend glaube ich, daß w i r nicht sagen können, daß Bildung und Ausbildung Gegensätze sind. Ebensowenig können w i r sagen, daß Ausbildung erst nach Bildung kommt. I m allgemeinen Unterricht nimmt man die Berufswahl schon vorweg, indem man den Schüler entdecken läßt, i n welche Richtung seine Veranlagung geht. I m Berufsunterricht w i r d die Brücke zum Beruf geschlagen; Bildung und Ausbildung nähern sich. Die eigentliche Ausbildung ist eine A n gelegenheit, die sich i n der Ausübung des Berufs selbst abspielt. Aber auch dann w i r d die Ausbildung Elemente der Bildung mitbringen müssen. Der Mensch wählt seinen Beruf. Ebensosehr wählt der Beruf den Menschen. I n der Ausübung seines Berufs gehen Bildung und Aus4 Tagung Dortmund 1966

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bildung weiter, denn sie sind unzertrennlich. Wenn der Beruf genügend Stimulans i n sich trägt, erweckt er oft sogar Kräfte i m Menschen, derer er sich unter anderen Umständen nicht bewußt gewesen wäre. Der Sinn der Bildung und Ausbildung liegt ja i n der Anwendbarkeit von Wissen und Können. Es ist die Aufgabe unserer Gesellschaft, dem Beruf und den darin liegenden Erfordernissen i n hohem Maße menschliche Würde zu verleihen, denn nur dann w i r d es möglich sein, selbständige Menschen heranzuziehen.

Bildung und Ausbildung in den Entwicklungsländern Von Dr. Klaus Hagedorn, Acting Chief of Section for International Relations i n Education, Paris

Wahrscheinlich werden die Diskussionen über Spannungen zwischen den Begriffen „Bildung" und „Ausbildung" i n einem mitteleuropäischen Reservat geführt. Der Referent zum Thema „Bildung und Ausbildung i n Entwicklungsländern" braucht weder Humboldt noch Pestalozzi, noch Goethe oder M a r x als Interpretationshilfen. I m Dienst seines Themas w i r d er Bildung und Erziehung als Begriffe neutraler Natur verwenden und damit die Gesamtheit organisierter Lehr- und Lernprozesse bezeichnen. Nationale Unabhängigkeit heißt der unbestrittene Fetisch unserer Zeit. Was verschwunden schien, ist nach dem letzten Weltkrieg i n vielfältigen Formen zurückgekehrt und hieß ein D r i t t e l der Erdbevölkerung oder ca. 1 Milliarde Menschen Flaggen der Unabhängigkeit aufziehen. M i t 60 neuen Staaten ist die politische Erdkarte noch verwirrender geworden; Staaten, die i n den Augen der übrigen Welt labile Gebilde sind, die sich stets am Rande von Kriegen und Revolutionen bewegen. Die Mehrzahl dieser Länder verfügt nicht einmal über den bescheidenen Reichtum Ghanas, Nigerias oder Indonesiens. Sie sind arm, leben von äußerer Hilfe und scheinen zu schlecht versehen zu sein, u m jemals regelrechte Nationen werden zu können. Manche haben Hauptstädte, die keine Städte sind, und Regierungsminister, die nichts von Verwaltung verstehen. Oft sind ihre Regierungen die größte und einzige „Industrie" i m Lande und durchweg korrupt. Es fehlt das M i n i m u m an Kommunikationsmitteln und Transportwesen. Es fehlen vor allem Menschen, die i n der Lage wären, der unübersehbaren Schwierigkeiten des neuen Staates Herr zu werden. Ihre Grenzen zerstückeln ethnische Einheiten, spotten rationaler Ausnutzung vorhandener Energiequellen und Bodenschätze und verhöhnen jede Hoffnung auf absehbare nationale Identität. Dieses B i l d w i r d sich noch verschlechtern, ehe an Besserung zu denken ist. Viele neue Nicht-Staaten drängen auf Unabhängigkeit: Bechuanaland, Basutoland und Mauritius, Swaziland und Südarabien. Das frühere Britisch-Guayana ist soeben unabhängig geworden. Nach 4*

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UN-Berichten warten 50 Kolonialterritorien auf Unabhängigkeit, Sitz und Stimme i n den Vereinten Nationen und UN-Sonderorganisationen. Konfrontiert m i t diesen Fakten, gibt man zu, daß der Begriff vom „lebensfähigen Staat", wie ihn das 19. Jahrhundert erfand, unanwendbar geworden ist. Außerdem gehen Logik und Nationalismus selten Ehen ein. Nur internationale Organisationen, internationale Entwicklungsbanken, die Vereinten Nationen und UN-Sonderorganisationen, der Kampf u m loyale Stimmen i m Krieg der Ideologien und vor allem die wachsenden Summen bilateraler Entwicklungshilfe scheinen das Überleben der jungen, unabhängigen Staaten zu garantieren. Der industrialisierte Westen gibt jährlich 7 Milliarden Dollar an Entwicklungsländer. Die kommunistischen Staaten steuern 500 M i l lionen bei. Niemand bestreitet ernsthaft das Recht dieser Völker auf Unabhängigkeit oder schlüge Rückkehr zum Kolonialismus vor. Stimmt es also, daß diese Völker noch u m Generationen von tatsächlicher Selbständigkeit entfernt sind? Mauretanien ist praktisch ein mobiler Staat, dessen Nomaden ohne Pässe i n großen Kreisen durch Algerien und M a l i dem Wasser nachziehen. Jeder Staat braucht eine Hauptstadt. Mauretanien schuf seine Hauptstadt aus dem Nichts: Novakchott m i t 8000 Einwohnern, eine Reihe bemalter Kuben auf ödem Sandstreifen i n Küstennähe. Es w i r d behauptet, i n Laos gebe es lediglich 100 Menschen, die i n der Lage seien, Regierungsgeschäfte auszuüben. Der Regierungssitz Dahomeys ist größer als der Buckinghampalast und kostete 6 Millionen Dollar. Mauretanien hat ein Ministerium für Forsten und Wasserwirtschaft, aber keine Wälder und kaum Wasser. Dies ist ein Aspekt der Entwicklungsländer. Er w i r d von Nachrichtenproduzenten manchmal beschrieben, manchmal kommentiert und oft verspottet. Das B i l d w i r d verwirrender und für manchen Betrachter hoffnungslos, wenn man die sichtbare politische Oberfläche durchstößt, u m Ursachen für solche Zustände zu entdecken, zu definieren und, wenn möglich, positiv zu beeinflussen. Internationale Organisationen arbeiten an dieser Aufgabe seit Jahren. Eine unter ihnen, die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, ist i n der Lage, präzise Angaben über manche Ursachen vieler Entwicklungskrisen vorzulegen und darüberhinaus solide Pläne zur Lösung der Probleme anzubieten. A n Kenntnissen mangelt es also nicht mehr, das Problem ist bekannt, wenn auch nur wenigen, denn es ist allerdings weniger fotogen als goldene Betten schwarzer Stammesfürstinnen. Aber es ist ein Problem, dessen Ausmaße und drohende Konsequenzen Bürgern und Berufspolitikern i n entwickelten und unterentwickelten Ländern jenen Impetus geben sollte, den sie brauchen, u m nicht i n eitler, regionaler Nabelschau die besten Stunden zu verpassen.

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Ich spreche von den Analphabeten, jugendlichen und erwachsenen. Man muß die Zahlen wiederholen, u m ganz zu begreifen, was es heißt, daß heute mehr als die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder der Welt keine Schulen besuchen können. Man muß wissen, i n welchem Ausmaß i n manchen Ländern Bildungskapital vermehrt wurde, u m sich die ungeheure Vergeudung an Geistesgaben klarzumachen, die eben darin besteht, daß es nach wie vor mindestens 700 Millionen erwachsene Analphabeten auf der Erde gibt und außerdem etwa 1500 Millionen Menschen, die zur Not ihren Namen schreiben und einige simple Sätze buchstabieren können. Das ist alles, was sie gelernt haben. Analphabet sein heißt i n der Umgangssprache, abgeschnitten sein vom geschriebenen Wort oder nicht lesen und schreiben können. Das Gegenteil ist so definiert worden: Jemand, der ein wenig lesen und ein wenig vom Gelesenen verstehen kann und i n der Lage ist, kurze, einfache Sätze über sein tägliches Leben aufzuschreiben. Grundkenntnisse i m Rechnen gehören noch zu dieser Definition. I m 18. Jahrhundert wurde niemand Analphabet genannt, der wenigstens seinen eigenen Namen schreiben konnte. I m 19. Jahrhundert war die Erziehung höchstens rudimentär, sieht man von einigen hochkultivierten Ausnahmen ab. Elementarerziehung genügte, u m das Erbe an Fähigkeiten und traditionellen Techniken weiterzugeben. Das 20. Jahrhundert stellt neue und unerhörte Anforderungen. Ohne Erziehung bleibt diese Welt erwachsenen Menschen unverständlich. Lesen, Schreiben und einige Grundbegriffe der Arithmetik taugen zu nichts mehr. Man braucht weit mehr, u m die Welt oder wenigstens die zugeteilten Ausschnitte der Welt zu begreifen. Das ist das Minimum. I n der Mitte unseres Jahrhunderts gab es 700 Millionen Analphabeten. Die absolute Zahl der Analphabeten wächst unaufhörlich — u m 35 Millionen i n den letzten zehn Jahren —, obwohl eine relative A b nahme festzustellen ist. Diese Zahlen, die an sich schon erschreckend genug sind, werden noch erschreckender, wenn man die Statistiken weiterverfolgt. Der Prozentsatz der Analphabeten i n der Welt hat kaum abgenommen; waren es u m 1950 40—45 v. H., so gab es 1962 noch 38—43 v. H. Präziser: Afrika:

78—84 v. H. (1962)

Amerika:

18—20 v. H.

Arab. Staaten:

78—82 v. H.

Asien u. Ozeanien:

53—57 v. H.

Europa u. UdSSR:

3— 7 v. H.

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Nennenswerten Fortschritt gab es lediglich i n Europa und Asien, wenn man den Statistiken glauben w i l l . Meine Einschränkung ist berechtigt, da es sich ja ausschließlich u m Angaben aus Regierungsquellen handelt. Immerhin aber beweisen jene Zahlen, das Problem ist erst jetzt i n vollem Umfang sichtbar und zu seiner Lösung ist noch fast nichts getan: I n der Altersgruppe zwischen 15 und 44 Jahren finden w i r i n Afrika 94 Millionen, i n Amerika 34 Millionen, i n Asien und Ozeanien 243 Millionen und i n Europa 9 Millionen Analphabeten. Das heißt auch, heute erwacht mindestens ein Sechstel der Menschheit hungrig, u m sich hungrig wieder schlafen zu legen. Oder anders ausgedrückt, ein D r i t t e l der Menschheit muß m i t weniger als 500 Mark i m Jahr ausgekommen. Man denkt über die Ursachen des Hungers nach und findet, die Wurzel der Not heißt vor allem mangelndes Wissen. Fehlende Erziehung verhindert Nutzung der Naturkräfte, rationellen Ackerbau, Bekämpfung von Krankheiten, ausreichende Ernährung. Weil sie an diesem Mangel leiden, werden die Menschen krank und sterben. Sterben sie nicht, bleiben sie arm, w e i l sie arm geboren w u r den. Die Armen dieser Welt sind i n der Mehrheit: rund 2 Milliarden Menschen, die nur die Alternative kennen: lernen oder langsam verhungern. Ganz gleich, wie die historischen oder politischen Ursachen dieser Situation heißen mögen, die Weltkarte des Analphabetentums ist m i t der der Unterentwicklung identisch. Analphabetentum ist Ursache und Wirkung der Unterentwicklung. Analphabet ist derjenige Mensch, der seine wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht lösen kann. Aber da Staaten m i t hohem Prozentsatz an Analphabeten nicht i n der Lage sind, ihrer Bevölkerung die notwendigsten Erziehungseinrichtungen bereitzustellen, ist Analphabetentum ebensosehr eine Folge katastrophaler schulischer Verhältnisse. Außerdem wurden schulpflichtige Kinder i n Entwicklungsländern oft i n der von den Kolonialisten geerbten Sprache erzogen, die nicht Muttersprache war. Bemerkenswerte Investitionen der Kolonialherren mußten also oft an selbstverschuldeten Kultursperren verkümmern. Weiterhin leisten jene Länder häufig erbitterten Widerstand gegen jeglichen Erziehungsversuch. I n vielen Fällen müssen jene Menschen, die eine Schule besuchen konnten, ihr teuer erkauftes Wissen allzu schnell wieder verlieren, da sie es nirgendwo anwenden können. Es fehlen weiterbildende Institutionen und Arbeitsplätze. Motivationen ließen sich viele finden, aber wo ist der Lohn des Wissens? Vorläufig fehlt sehr oft noch der Anreiz, Opfer zu bringen, um lesen und schreiben zu lernen. Traditionen versperren den Weg zur Schule. Vor allem für Mädchen und Frauen, denn unter ihnen ist der Prozentsatz an Analphabeten besonders hoch.

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Schließlich wächst die absolute Zahl der Analphabeten alarmierend schnell, obwohl die Entwicklungsländer selbst große Opfer bringen. Doch das Ansteigen der Geburtenziffern steht i n keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten dieser Länder. Relatives und absolutes Analphabetentum ist also das Ergebnis widersprüchlicher Faktoren der Entwicklung i m allgemeinen und der Entwicklung des Erziehungswesens i m besonderen. Es hieße, die Situation nicht richtig verstehen, wenn man Analphabetentum dem Fehlen von Erziehungseinrichtungen zuschreiben wollte oder mangelhaften Schulsystemen. A n alphabetentum ist schließlich die Manifestation einer äußerst komplexen Reihe wirtschaftlicher, politischer, psychologischer und k u l t u reller Faktoren, die große Bevölkerungsgruppen bislang daran gehindert haben, am Fortschritt der Umwelt teilzunehmen. Daher kann Analphabetentum niemals durch einige erzieherische Maßnahmen beseitigt werden, indem man den Menschen etwa bloß elementare Kenntnisse i n der Kunst des Lesens, Schreibens und Rechnens vermittelt. Analphabetentum kann nur durch politische Entscheidungen beseitigt werden, Entscheidungen, die i n ganzer Kenntnis der Ursachen und Größe des Problems gefällt werden, u m jenen Menschen zu helfen, denen die fehlende Erziehung schmerzhaften Schaden zufügt. Regierungen können es heute nicht länger bei symbolischen Gesten und Wohltätigen Handgriffen bewenden lassen. Sie haben nur eine Wahl, entweder nichts zu t u n oder aber das Analphabetentum auszurotten. Der Generaldirektor der UNESCO erhielt vor wenigen Wochen vom Schah des Irans einen erstaunlichen Brief, dessen Inhalt mehr als eine dekorative Geste war. Der Schah teilte der UNESCO mit, daß er der Organisation 700 000 Dollar für ihren Kampf gegen das Analphabetentum zur Verfügung stellen werde. 700 000 Dollar oder 2,8 Millionen Mark stellen das Tagesvolumen des iranischen Militärbudgets dar. Der Schah fügte hinzu, es sei i h m durchaus klar, daß ganz andere M i t t e l benötigt würden, u m das Analphabetentum auszurotten. Aber er meinte auch, das Opfer eines Entwicklungslandes würde vielleicht von anderen Staaten nachgeahmt werden. Überdies sei er bereit, jährlich den gleichen Betrag an die UNESCO zu übergeben, wenn andere Staaten dem Beispiel seines Landes folgen würden. Man kann die Bedeutung dieser Tat nicht unterschätzen. Sie w i r d hinfort zum Schatz zitierter guter Taten gehören und als Mahnung und Beweis unübersehbar sein. Was w i r d die UNESCO mit diesen und m i t anderen Mitteln anfangen, die Mitgliedstaaten ihr übergeben? Was w i r d die Ausrottung des Analphabetentums annähernd kosten? I n den einzigen langfristigen Plänen zur Entwicklung des Erziehungswesens i n Afrika, Asien

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und Lateinamerika, die es bisher gibt, sind folgende Ziffern enthalten: I m Durchschnitt w i r d die Alphabetisierung von 1,15 Milliarden Menschen, die i n 70 Ländern leben, i n der Zeit zwischen 1965 und 1970 jährlich 12,8 Milliarden Dollar kosten. Diese Zahlen beziehen sich auf den Ausbau der Grundschul-, Sekundarschul- und Hochschulstufe. I n Afrika, Asien und Lateinamerika sind allein i n den nächsten fünf Jahren über zwei Millionen Lehrstellen neu zu schaffen und zu besetzen. Aber es geht nicht nur u m die Bekämpfung des Analphabetentums, es geht u m mehr, denn Bildung und Erziehung besitzen nicht mehr ihren Eigenwert, sie sind darüber hinaus von großer Bedeutung für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Einsicht, daß keine Entwicklung und kein wirtschaftlicher Wohlstand ohne leistungsfähiges Erziehungssystem möglich sind, gehört zur Grundlage aller UNESCO-Planungen. Die engen Beziehungen zwischen Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung sind bekannt. Man hat herausgefunden, daß m i t Ausnahme von drei Ländern (Puerto Rico, Uruguay und Venezuela) i n keinem Staat mehr als 10 v. H. Analphabeten leben, i n dem das Pro-Kopf-Einkommen über 500 Dollar jährlich liegt. M i t anderen Worten, ca. 90 v. H. der Bevölkerung eines Landes müssen Erziehung und Ausbildung haben, wenn ein Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 500 Dollar jährlich gewährleistet sein soll. Erziehung ist also kein Luxus, auf den Menschen armer Länder zur Not auch verzichten könnten, sondern ein erstrangiger Faktor für den Fortschritt von Wirtschaft und Gesellschaft. Oder: ohne Erziehung ist keine Entwicklung denkbar. Daraus folgt, daß den Entwicklungsländern m i t Kapitalhilfen allein keineswegs gedient ist. Investitionen i n das Erziehungswesen beanspruchen mindestens den gleichen Rang. Mißerfolge i n der Entwicklungshilfe sind oft auf die Nichtbeachtung dieser Zusammenhänge zurückzuführen. Es ist bekannt, daß die von Industrieländern ausgeworfenen Kapitalhilfen i n der Vergangenheit oft noch nicht einmal die Handelsverluste der Entwicklungsländer decken konnten. Westeuropa bringt rund 3 v. H. des Bruttosozialproduktes für B i l dungsaufgaben auf. Selbst wenn sie ihre Erziehungssysteme nur bescheiden erweitern wollten, müßten die Entwicklungsländer i n den kommenden Jahren die doppelte Summe aufbringen. Da man diesen Ländern kaum Konsumverzicht oder geringere Kapitalinvestitionen zumuten kann, müssen die Industrieländer i n den nächsten 20 Jahren M i t t e l zusteuern, die weit über das bisher Geleistete hinausgehen. Schließlich ist Geld vielerorts knapp, aber der Zwang zur Bildung von Prioritäten, die Interdependenz von Erziehungswesen, Wirtschaft und Gesellschaft sollten es verbieten, daß die Entwicklung des Er-

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Ziehungswesens i n manchen Teilen der Welt dem Zufall überlassen bleibt. Man sollte sich nicht erst durch weitere Krisen und Erschütterungen zu dieser Einsicht zwingen lassen. Selbst ein hochentwickeltes Land wie die Bundesrepublik Deutschland reagiert nicht unempfindlich auf die negativen Konsequenzen mangelnder Planung und willkürlich konkurrierender Kompetenzen. Droht einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland das, was engagierte Beobachter als Katastrophe bezeichnen, so müßte dieser Begriff potenziert werden, u m vorauszusagen, was i n der dritten Welt drohen kann. Sind die Ausmaße des Problems Analphabetentum auch fast unübersehbar, unbegreiflich und selbst noch i n den günstigsten Fällen erschreckend, so ist dies allein noch nicht das Schlimmste an der Sache, denn die Menschheit besäße heute durchaus die finanziellen und technischen Mittel, mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden. Der Generaldirektor der UNESCO, der es besser als viele andere wissen müßte, hat verschiedentlich behauptet, daß der Mensch i n der Lage wäre, das Analphabetentum innerhalb einer Generation auszurotten, wenn er wollte. Was also ernster ist, ist die Tatsache, daß die Not so ungleich verteilt ist und daß sie, weil sie i n denselben Gebieten vorherrscht, die man als unterentwickelt bezeichnet, und einen integralen Bestandteil dieser Unterentwicklung ausmacht, als eine der Ursachen und unmißverständlicher Beweis menschlicher Ungerechtigkeit erscheint. Diese profunde Ungerechtigkeit ist Skandal und Gefahr zugleich. Ein Skandal für jeden, der die Rechte des Menschen ernst nimmt; und eine Gefahr für den Frieden, der i n verschiedenen Erdteilen sowieso schon sehr bedroht ist. Wie scharf auch individuelle Interessenkonflikte oder Auseinandersetzungen zwischen Ideologien oder, noch schlimmer, Leidenschaften sein mögen, die einen Staat gegen andere aufbringen, diese Spannungsherde verblassen fast, wenn man sie mit der permanenten Bedrohung vergleicht, der die Zukunft der Zivilisation ausgesetzt ist wegen jener anderen radikalen materiellen und geistigen Unterschiede zwischen den Menschen, Unterschiede, die entweder die Ursache der Unterentwicklung sind oder durch Unterentwicklung aufrechterhalten werden. Die schlimmste Gefahr für den Frieden ist vielleicht die Aussicht, daß sich die Menschheit i n zwei scharf voneinander getrennte Lager spaltet, die weder guter Wille, sei er auch noch so groß, noch Toleranz oder Nächstenliebe jemals wieder zusammenbringen kann. Eine Teilung also zwischen Menschen, die Geschichte machen, und solchen, die Geschichte erleiden müssen, zwischen Menschen, die die Natur meistern und sich anschicken, den Mond zu besteigen, und solchen, die unausweichlicher A r m u t ausgeliefert bleiben und dem Zwielicht der Ignoranz. Man sollte nicht einwenden, die Mächtigen wären mächtig genug, die Reichen reich genug und die Gebildeten gebildet genug,

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um die Verantwortung für das Schicksal der Schwachen, Armen und Unwissenden auf sich zu nehmen, sie mit den Resten des Überflusses abzufinden. Kein Mensch und kein Volk sollte dazu verurteilt sein, sich von anderen die Zukunft diktieren lassen zu müssen. Freiheit und Menschenwürde verbieten diesen Weg. Ein anderer Weg w i r d seit Jahren diskutiert, von vielen verworfen und von manchen beharrlich begangen. Er wurde eröffnet durch eine der guten Ideen, welche die Staaten nach dem letzten Weltkrieg realisiert haben. Gewiß, die Vereinten Nationen und UN-Sonderorganisationen haben es i n den vergangenen zwanzig Jahren ihres Bestehens nicht leicht gehabt, Verfassungsaufträge v o l l zu erfüllen. Das w i r d i n voraussehbarer Zukunft kaum anders werden. Aber fast unbemerkt von der unterrichteten Öffentlichkeit haben diese Organisationen trotz aller Fehlleistungen und politischen Rückschläge weite Gebiete internationaler Zusammenarbeit erschlossen, Gebiete, auf denen sie schon heute nicht mehr von nationalen Instanzen ersetzt werden könnten. Was die UNESCO angeht, so spielt sich i n dem ihr zugeteilten Aufgabenkreis (Erziehung, Wissenschaft und Kultur) seit einigen Jahren ein unerhörter Vorgang ab. Unterentwickelte Staaten haben ihr Türen geöffnet, die i n der Bundesrepublik etwa dem Kultusminister von Nordrhein-Westfalen verschlossen bleiben würden, wenn er bei seinem bayerischen Kollegen vorspräche. Die UNESCO hat die Chance, Planung und Aufbau des Erziehungswesens i n zahlreichen Entwicklungsländern vom Nullpunkt aufwärts zu übernehmen. Was ebenso wichtig ist, die UNESCO besitzt, dank guter Mitarbeit vorzüglicher Fachleute aus Industriestaaten und Entwicklungsländern, die intellektuelle Kapazität zur Lösung der ungeheuren Erziehungsprobleme. Daher konnte der Generaldirektor dieser Organisation m i t Recht behaupten, das A n alphabetentum könnte i n einer Generation von der Erdkugel verschwinden, vorausgesetzt, entwickelte und unterentwickelte Länder würden gemeinsam die notwendigen Opfer aufbringen und sich m i t der notwendigen Entschiedenheit der Lösung des Problems verschreiben. So richtig allerdings die ständige Aufklärung und Unterrichtung sowie die aktive Mitarbeit der Bevölkerung ist, Entscheidungen fallen auch hier weder i n der Vollversammlung der Vereinten Nationen noch i n der Generalkonferenz der UNESCO, sondern dort, wo i n Staaten politische Macht versammelt ist. Banale Hinweise dieser A r t fördern manchmal den Abbau der schädlichen Gloriole allzu leicht verwundbarer Utopien, die den Vereinten Nationen nicht bekommen. Die Methode, die die UNESCO i m Auftrage ihrer Mitgliedstaaten ausgearbeitet hat und i n einigen ausgewählten Modellfällen (in A l gerien, i m Iran und i n Mali) bereits anwendet, wurde mit dem Be-

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griff „funktionelles Alphabetentum" beschrieben. Die drei genannten Staaten wurden nicht zuletzt auch deshalb unter den vielen Bewerbern vorgezogen, w e i l sie bestimmte Voraussetzungen erfüllten, die i n der ersten Phase dieses Programms wohl unerläßlich sind; sie haben nämlich eine gewisse Entwicklungsstufe bereits erreicht, verfügen über eine geschriebene Sprache und weisen verläßliche Strukturen nationaler Identität auf. Zur Einführung des funktionellen Alphabetentums i n diesen Staaten sind vorerst insgesamt etwa 3,8 Millionen Dollar vorgesehen. Übrigens ist hier ein erster Fall gegeben, daß so bedeutende Summen von internationalen Entwicklungsfonds, die gewöhnlich w i r t schaftlichen Investitionen vorbehalten waren, der Erziehung zugute kommen. I m Iran, der selbst 1,8 Millionen Dollar zu dem Projekt beisteuern wird, erfaßt das experimentelle Projekt zwei Gebiete: die erst kürzlich erschlossene, vornehmlich von der Landwirtschaft lebende Provinz Khuzistan und die Textilindustrie i n und u m Isfahan mit 26 000 Textilarbeitern, von denen 90 v. H. Analphabeten sind. M a l i erhält 1,1 Millionen Dollar und trägt selbst 2,3 Millionen bei, die i n zwei Projekten von jeweils fünfjähriger Dauer investiert werden. Das erste betrifft 100 000 Baumwoll- und Reisbauern i m Gebiet von Segou. Das zweite gilt der Produktionssteigerung der staatlichen Unternehmen i m Raum Bamakos. I n Algerien, das 1,5 Millionen Dollar aus internationalen Quellen erhält und 4,8 Millionen Dollar aufbringen muß, erfaßt der Plan zur Bekämpfung des Analphabetentums drei Projekte: das reiche landwirtschaftliche Gebiet Staovelis m i t seinen Weingärten, Olivenpflanzungen, Obst- und Gemüsegärten, i n dem etwa 5000 Landarbeiter leben. Die beiden anderen Projekte werden sich schließlich mit A n alphabeten zwischen 15 und 35 Jahren befassen, von denen 20 000 i m Arzew-Gebiet i n der Chemie- und Ölindustrie und weitere 50 000 i n der Stahl- und weiterverarbeitenden Industrie beschäftigt sind. Diese von der UNESCO und den betroffenen Staaten vorgesehenen Pläne sind deshalb bemerkenswert, w e i l man sich zum erstenmal nicht mehr auf den traditionellen Unterricht i m Lesen und Schreiben beschränkt. Erfahrung hat nämlich gezeigt, daß die Fähigkeit, lesen, schreiben und rechnen zu können, alleine von geringem Wert für Individuum und Gesellschaft ist. I n Algerien, Iran und M a l i werden Erwachsene m i t Hilfe funktioneller Erziehung Produktivität und Einkommen erhöhen, ihre Lebensbedingungen verbessern und eine größere Rolle i m Leben ihrer Gemeinschaft spielen können. Die Erziehungsprogramme sehen nicht nur Unterricht i m Lesen und Schreiben vor, sondern gleichzeitige Ausbildung technischer Fähigkeiten für Industrie und Landwirtschaft sowie Gemeinschaftserziehung. Die Experten-

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teams, die i n diesen Ländern arbeiten werden, setzen sich deshalb aus Erziehern und Fachleuten aus Industrie, Handel und Landwirtschaft zusammen. I m Verlauf der Versuchsprojekte w i r d man A u f schlüsse über die wirtschaftlichen Folgen der funktionellen Erziehung, ihren Einfluß auf soziale Strukturen und Bewegungen erhalten und schließlich auch herausfinden, welche Methoden der Alphabetisierung die besten sind. Ergebnisse der Erziehung sind kaum meßbar. Perfekte Systeme garantieren keine perfekten Resultate. Selbst wenn eine Schar neuer Treitschkes alle Geschichtsbücher für deutsche Schulen verfassen würde, könnte niemand m i t Sicherheit die braune Renaissance prophezeien. Der beste staatsbürgerliche Unterricht ersetzt keine vitale demokratische Regierung. I n dem was die UNESCO i n einigen Entwicklungsländern begonnen hat, liegt wie i n allen Unternehmungen dieser A r t Risiko. Es gilt, viele Antworten auf viele Fragen zu finden. Werden etwa die Textilarbeiter Isfahans mitmachen, selbst wenn man Prämien und Beförderung i n Aussicht stellt? Werden sie ihre Kinder i n die gleichzeitig errichteten Schulen und Lehrwerkstätten geben? Werden die Unternehmer zu Opfern bewegt werden können, selbst wenn ihnen niemand garantieren kann, daß ein alphabetisierter A r beiter auch produktiver wird? Das Risiko bleibt also auch hier, aber es hat nicht die nötige Kraft, u m stärkere Impulse zu paralysieren. Die katastrophale Gegenwart läßt es sich gefallen, unter der Summe vorerst nur denkbaren Fortschritts zu verschwinden. Es bleibt abzuwarten, ob auf diesem Wege Impulse entstehen, die Völker aus einem Zustand befreien werden, für den nicht nur Kolonialherren verantwortlich sind. Von internationalen Organisationen wurde hier ein Prozeß i n Gang gesetzt, dessen Auswirkungen schon heute i n den nationalen Erziehungssystemen industrialisierter Staaten spürbar geworden sind. Der Begriff Erziehung w i r d einen neuen Inhalt bekommen. Erziehung w i r d sich hinfort nicht nur i n einer begrenzten Lebensphase des einzelnen abspielen, sondern die gesamte Periode der Persönlichkeitsentwicklung umfassen. Das w i r d zur Folge haben, daß viele Grenzen, die heute noch die verschiedenen Typen und Phasen der Erziehung hermetisch voneinander trennen, verschwinden werden. Es gibt einen krassen Unterschied zwischen der Einzigartigkeit der Persönlichkeit des Individuums und seiner Bestimmung auf der einen Seite und der Verschiedenartigkeit der Methoden, die man zu seiner Erziehung gebraucht, auf der anderen. Handelte es sich lediglich u m verschiedene Wege, die i m Einklang m i t den verschiedenen Entwicklungsphasen des Menschen und seinen Ansprüchen eingeschlagen w ü r -

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den, so würde kein Schaden angerichtet. Hier liegt sogar ein unbestrittener Vorteil der gegenwärtigen Erziehung. Es manifestiert sich aber ein entscheidender K o n f l i k t als Folge des klassischen Erziehungssystems. A u f der einen Seite findet man einen denkenden, handelnden, glücklichen oder bangenden Menschen, der sich entwickelt oder i n seiner Entwicklung stehenbleibt und schließlich zurückfällt. Aber zum Zwecke der Erziehung werden die verschiedenartigsten Individuen zusammengebracht und gezwungen, ihre Ansprüche, so gut es eben geht, einander anzupassen, obwohl sie doch meistens unvereinbar sind. I n der Ausbildung und Erziehung, wie sie i n Schulen, zu Hause, i n der Fabrik, i n der Lehrlingswerkstatt und innerhalb der Gewerkschaften vermittelt werden, erhalten Hersteller, Verbraucher und Bürger eine Erziehung und Ausbildung, deren Ziele und Effekte nicht miteinander korrespondieren. Funktionelle und kontinuierliche Erziehung werden dazu beitragen, die verschiedenen Bildungsphasen miteinander i n Einklang zu bringen und zu einer harmonischen Einheit werden zu lassen, damit der einzelne Mensch nicht auch weiterhin i n Konflikten mit sich selbst befangen bleibt. Diese Erziehung w i r d vor allem einheitlich sein und zu Erziehungsprogrammen und -methoden führen, die die notwendigen Brücken schlagen zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was am Arbeitsplatz, i m kulturellen und sozialen Leben, zur allgemeinen Bildung und i n den unterschiedlichen Lebensbedingungen gebraucht wird, damit jedes Individuum seine Fähigkeiten entwickeln und praktisch verwirklichen kann. Es scheint, als wären solche Bemerkungen eher von Wünschen als Erfahrungen inspiriert. Dieser Schein trügt. Regierungen, die gefunden haben, daß internationaler K u l t u r p o l i t i k und also auch internationaler Erziehungspolitik ein prominenter Platz auf der Liste nationaler Prioritäten gebührt, handeln entsprechend. M i t ihrer Hilfe sind die UN-Sonderorganisationen vielfach bereits aus der Zone irrealer Deklamationen i n jene übergewechselt, i n der Bildungshilfe für Entwicklungsländer nicht mehr aus Sammelbüchsen bezahlt wird, sondern aus dem stetig wachsenden Fundus erziehungspolitischer Überzeugungen. Ein nächster wichtiger Schritt steht noch bevor. Er w i r d andere Folgen haben. Es gilt nämlich, den Komplex Erziehung und Bildung i n Entwicklungsländern aus dem Käfig Caritas und Utopie zu befreien, u m Jugendlichen und Erwachsenen zu erlauben, ohne allzu großen Schaden aus der alten Welt i n eine neue zu gehen, die zwar existiert, aber allzu häufig verschwiegen wird.

Neue Wege zur Bildung und Ausbildung in Schweden Von Prof. Dr. Gustav Korlen, Universität Stockholm Sie erwarten sicherlich von einem Germanisten, daß er anständigerweise i n einem Vortrag, wovon immer er handeln mag, an irgendeiner Stelle ein Goethe-Zitat anbringt. Ich möchte mich dieser Pflicht gleich am Anfang entledigen, und zwar indem ich an die Zueignung von Goethes Faust erinnere: „ I h r naht Euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt." So ist es i n der Tat, Herr Professor Duvernell, denn zu Beginn der schwedischen Bemühungen u m eine Wiederaufnahme der akademischen Beziehungen zwischen Schweden und Deutschland nach dem Kriege wurde i m Jahre 1948 von dem an der Universität L u n d gegründeten Münsterkomitee aus naheliegenden Gründen auch die Sozialakademie Dortmund miteinbezogen. Ich denke dankbar an die Gespräche zurück, die ich damals mit Ihnen, Herr Kollege Schmidt, und m i t Ihrem ehemaligen Akademieleiter, Prof. Lutz, geführt habe i n jenen ersten Anfangs jähren der Nachkriegsentwicklung, die von einer so außerordentlichen geistigen Vitalität und allgemeinen Reformfreudigkeit geprägt waren. Diese Gespräche sind eigentlich der Grund, warum ich mich so sehr über diese Einladung gefreut habe, sie haben überdies m i t meinem heutigen Thema zu tun. „Neue Wege zur Bildung und Ausbildung i n Schweden", das ist eine Formulierung, die i n Schweden nicht denkbar wäre. Der Vortrag würde höchstwahrscheinlich den Titel „Probleme der schwedischen Ausbildungsgesellschaft" bekommen haben. Wie kommt das? U m diese Frage zu beantworten, müßte ich eigentlich zuerst zwei einführende Vorlesungen halten; aber seien Sie beruhigt, so sehr werde ich Sie nicht strapazieren. Die erste würde von Semantik, die zweite von geistesgeschichtlicher Problematik handeln. I n der semantischen Vorlesung würden w i r feststellen, i n wie hohem Maße die moderne deutsche Sprachtheorie i m Recht ist, wenn sie — i n der Formulierung von Humboldt — von der Weltansicht einer jeden Sprache spricht, oder — i n der Formulierung des Bonner Germanisten Weisgerber — betont, wie sehr man davon ausgehen muß, daß es eine sprachliche Zwischenwelt gibt.

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Das bedeutet, auf unser Thema bezogen, daß Wörter wie Bildung und Ausbildung , Training und Education oder auch die von Ihrem K u l tusminister i n seinem glanzvollen Referat berufene Antinomie Kultur und Zivilisation Begriffe sind, bei denen es Übersetzungsprobleme gibt. W i r müssen uns darüber i m klaren sein, daß diese Begriffe mit äußerster Schärfe zu analysieren wären, was i m Grunde nur dadurch möglich ist, daß w i r so konkret wie möglich den realen Hintergrund festhalten. U m Ihnen ganz kurz die geistesgeschichtliche Problematik anzudeuten, sehe ich keinen besseren Weg, als erneut jenen deutschen Diplomaten zu strapazieren, den ich hier i n Dortmund bereits vor einem Jahr anläßlich der Schwedenwoche zitiert habe. Ein deutscher Diplomat also, wenn auch kein Gesandter, so jedenfalls ein geschickter, der i n den 50er Jahren Stockholm verließ, hat i n einem fingierten Brief an seinen Sohn die Summe seiner schwedischen Erfahrungen aus den 50er Jahren gezogen. „Mein lieber Sohn", so heißt es i n diesem Brief, „ D u fährst also bald nach Schweden und bittest mich, D i r eine Skizze des Landes an die Hand zu geben, wohlwissend, wie gefährlich ein solcher Versuch ist, zumal bekanntlich allzu deutliche Konturen die B i l d w i r k u n g beeinträchtigen. So w i l l ich nicht mehr tun, als einige Gedankensplitter aufzeichnen, die Geschautes, Gedachtes und Gelesenes aus meinen Stockholm-Jahren enthalten. Bitte, w i r f zunächst allen Plunder einer hybriden Vergangenheit unseres Vaterlandes über Bord, worunter auch der Unfug zu finden war, die Schweden seien höherrassig, rein germanisch und durch uns Deutsche erst zu einer Kulturnation gemacht worden. Nein, mein Lieber, sie sind Menschen wie w i r , m i t Vorzügen und Nachteilen, m i t einer alten K u l t u r und einer langen Geschichte, in der die Hanse eine große Rolle gespielt hat, wenngleich diese Hanse vornehmlich ein von Sentimentalitäten nicht gehemmtes Geschäftsunternehmen war. Umgekehrt hat auch nicht erst Gustav Adolf das Denkvermögen der Deutschen ans Licht gebracht, wie Eiferer bei uns beteuern. Und i n Schweden darf man ruhig darüber sprechen, daß die leeren Kassen — mehr noch als die Lehren Luthers — ebendenselben Schwedenkönig beutefreudig i n deutsche Lande ziehen ließen. Völkern und ihrer Geschichte ergeht es wie schönen Frauen, sie sind immer anders als ihr Ruf, und weder am deutschen noch am schwedischen Wesen soll jemals die Welt genesen." Nach dieser Einleitung, die ich hier zitiere, u m den allgemeinen Tenor und die grundsätzliche Haltung des Verfassers zu kennzeichnen, kommt dieser deutsche Diplomat aus der Schule von Rudolf Pechel

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auf eine Reihe von Vorzügen zu sprechen, die er i n Schweden entdeckt zu haben meint. Da ich aber i n der ehrenvollen Einladung, i m Rahmen dieser Tagung hier vor Ihnen zu sprechen, nicht den Auftrag erblicke, einen Propagandavortrag zu halten — ganz zu schweigen von dem möglichen Verdacht, daß ich hier einen Beitrag zur nordrheinwestfälischen Wahlkampagne liefern wollte —, übergehe ich füglich diese Abschnitte. Ich werde mich vielmehr bemühen, vor dem Hintergrund der europäischen Traditionen das Für und Wider möglichst objektiv abzuwägen. Wichtiger scheint es m i r daher für unser Thema zu sein, auf die geistesgeschichtliche Problematik hinzuweisen, die der Verfasser durch die folgenden Beobachtungen zumindest andeutet: „ D u wirst bisher schon gespürt haben, daß i n dem Lande, das D u nun besuchen willst, alles auf der reinen Vernunft aufgebaut ist. So ist es i n der Tat, und sie vergleichen ihre ratio gerne m i t der französischen clarté. Das stimmt natürlich nur sehr bedingt, denn die Franzosen leben aus dem Widerspruch i n sich selbst, sie sind Theoretiker der Vernunft und leben als Laizisten bewußt i m Schatten ihrer Kathedralen. I n ihnen überwiegt Pascal immer noch Descartes, und sie wissen, daß logisches Denken allein weder zu Ganzheit noch zu Vollendung führt. Sie haben sich also von jeher ein breites Tor i n die metaphysischen Bereiche offengelassen. Ganz anders die Schweden! Metaphysik ist für sie der Gottseibeiuns. D u triffst auf eine unheimlich große Anzahl von Moralisten, weil es so viele Atheisten gibt." Es wäre, meine Damen und Herren, gewiß sehr verlockend, aus dieser diplomatischen Korrespondenz weiterzuzitieren, zumal der nächste Abschnitt m i t dem vielversprechenden Satz beginnt: „ D u willst auch wissen, was ich von den Schwedinnen halte." Aber ich fürchte, daß ich damit den Rahmen unseres heutigen Themas endgültig sprengen würde. Man braucht sich nicht m i t allen diesen Feststellungen zu identifizieren, u m zu erkennen, daß hier eine grundsätzliche Problematik angedeutet ist, die i m Hintergrund einer Betrachtung des schwedischen pädagogischen Raumes beachtet sein w i l l . U m das Positive herauszustreichen, könnte man vielleicht behaupten, daß viele schwedische Akademiker und Intellektuelle ihren Ehrgeiz darin sehen, daß man mutatis mutandis das von ihnen behauptet, was Erich Kästner vor einigen Jahren i n Zürich für sich i n Anspruch nahm. „Unser Gast", so hieß es damals, und so könnte es auch heute heißen, „ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister, er ist ein Moralist, er ist ein Rationalist, er ist ein Urenkel der Aufklärung, spinnefeind jener unechten Tiefe, die i m Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, Untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens, nach 5 Tagung Dortmund 1066

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der Einfachheit i n Wort und Satz." — Schwedische Philosophen würden Sie vergeblich nach ihrer Auffassung von Heidegger fragen. Der Existentialismus ist m i t anderen Worten i n einem Lande, wo man unter zünftiger Philosophie fast nur die Logistik Wittgensteinscher Provenienz oder den Pragmatismus amerikanischer Prägung versteht, nicht existent. Für Heidegger und Schweden gilt gewiß auch der schöne Satz einer englischen Heidegger-Kennerin: „He is hopelessly untranslatable into English, some say even into German." M i t anderen Worten: A n Heidegger scheiden sich die Geister. Ich habe, meine Damen und Herren, i n dieser lockeren, vielleicht etwas leichtsinnigen A r t etwas von der grundsätzlichen geistigen Atmosphäre andeuten wollen, die i m Positiven und i m Negativen einem ausländischen Beobachter der schwedischen Verhältnisse sofort auffallen würde und die bei der folgenden gedrängten Übersicht über Struktur und Probleme der schwedischen Ausbildungsgesellschaft wohl irgendwie mitschwingen wird. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß sich Schweden seit 20 Jahren i n einem ununterbrochenen Prozeß der Ausbildungsexpansion und der pädagogischen Experimente befindet. Nach den bisherigen Ergebnissen der Diskussion frage ich mich, ob ich nicht doch einen anderen Titel für meinen Vortrag hätte wählen sollen, nämlich: Die Pädagogisierung der schwedischen Gesellschaft. Das wäre wahrscheinlich die adäquate Überschrift. Ich glaube, es gibt wenige Länder, wo die Pädagogisierung so weit fortgeschritten ist wie i n Schweden. Die drei entscheidenden Stationen hierbei waren: die Einführung der 9jährigen obligatorischen Grundschule; die Umgestaltung der darauf aufbauenden Oberschule, die i m Herbst 1966 i m ganzen Lande eingeführt w i r d und nach drei Jahren zum A b i t u r führen soll, sowie die Einführung des Nebenzweiges einer 2jährigen Fachschule, die auf der Grundschule aufbaut, und schließlich die Universitätsreform. Hier werde ich vor allem das Problem der Lehrerausbildung behandeln. Schweden ist das Land der Kommissionen, und so wurden auch diese Reformen i n einer Reihe von Kommissionen gründlich vorbereitet, zu deren wissenschaftlichen Erhebungen und Gutachten sich dann, wie es sich i n dem durchorganisierten Schweden versteht, alle irgendwie zuständigen und manchmal auch unzuständigen Gremien geäußert haben, von den schwedischen Gewerkschaften angefangen, bis zu der Schülergewerkschaft. Die Gewerkschaften zähle ich gewiß zu den i n hohem Maße zuständigen Gremien; die Schülergewerkschaft, offiziell Zentralverband der schwedischen Schüler genannt, rechne ich nur bedingt zu den zuständigen Gremien.

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Es fing alles kurz nach dem Kriege m i t einer Schulkommission an, deren Erfolge i n dem Reichstagsbeschluß von 1962 gipfelten, wonach das bisherige differenzierte dreigliedrige Schulsystem nach einer längeren Periode von Versuchen i n den 50er Jahren endgültig durch eine obligatorische 9jährige Grundschule ersetzt wurde. Hinter dieser Reform standen zweifellos nicht nur ausbildungspolitische Zielsetzungen, die namentlich von den Vertretern des W i r t schaftslebens stark gefördert wurden, sondern auch sozialpolitische Erwägungen. Der Staatssekretär i m schwedischen Kultusministerium hat vor kurzem i n einem zusammenfassenden Überblick darin sogar die entscheidende Triebkraft gesehen. Es habe sich u m das soziale Gerechtigkeitsgefühl gehandelt, u m die Auffassung, daß alle Jugendlichen ohne Rücksicht auf soziale oder regionale Herkunft das Recht auf eine Ausbildung hätten, die ungefähr der alten 9jährigen schwedischen Realschule entspricht. Das deckt sich fast haargenau m i t dem, was Sie, Herr Kollege Duvernell, i n Ihrer Einladungsschrift zu dieser Tagung festgestellt haben. Die neue Grundschule ist dreistufig, i n dreimal drei Jahre eingeteilt, was, wohlgemerkt, nichts m i t der Differenzierung zu t u n hat, sondern lediglich für die Lehrerausbildung von Bedeutung ist. I n den ersten drei Jahren unterrichten Lehrerinnen mit einer zweijährigen Seminarausbildung, die Klassenfrequenz liegt hier bei einem Maximum von 25 Schülern; i n den Klassen 4 bis 6 unterrichten Lehrer, die eine Ihrer Volksschullehrerausbildung entsprechende Ausbildung haben; und i n den Klassen 7 bis 9 unterrichten weitgehend Lehrer mit akademischem Staatsexamen. Die Frequenz i n den Klassen 4 bis 9 ist maximal 30 Schüler. I n der gesamten Grundschule herrscht die i n Schweden traditionelle Koedukation. Es liegt auf der Hand, daß diese konsequente Koedukation die Hinführung der Mädchen zu den traditionellen Frauenberufen, von der i n der bisherigen Diskussion die Rede war und die i n Schweden von den Leitbildern der Illustriertenpresse mit den raffiniertesten Methoden der Werbepsychologie unterstützt wird, doch weitgehend verhindert, zumal die schwedische Schule i n diesem Punkte sehr aktiv ist. — Man sollte auch unterstreichen, daß w i r keine konfessionelle Problematik haben, was unsere Lösungen natürlich außerordentlich erleichtert. Die Grundschule ist nun i n den ersten sechs Jahren völlig undifferenziert, und auch i n den Klassen 7 bis 8 werden die Klassengemeinschaften prinzipiell zusammengehalten, wenn auch während eines Teiles der Unterrichtszeit von insgesamt 35 Wochenstunden die Schüler i n Wahlfächern i n verschiedenen Gruppen zusammengeführt werden. So kann man z. B. i n der 7. Klasse als zweite Fremdsprache (nachdem 5*

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i n der 4. Klasse alle Schüler mit Englisch begonnen haben) Französisch oder Deutsch wählen, wobei es Sie vielleicht interessieren wird, daß sich ungefähr 30 v. H. für Französisch und 70 v. H. für Deutsch entscheiden. Man kann ferner i n den Klassen 7 und 8 zwischen einem mehr theoretischen und einem mehr praktisch ausgerichteten Lehrgang i n den Fächern Englisch und Mathematik wählen, was für viele schon eine Entscheidung bedeutet, aber nicht für alle. Eine grundsätzliche Differenzierung findet erst i m 9. Schuljahr statt. Hier kann der Schüler zwischen neun verschiedenen Ausbildungszügen wählen, worunter einige zur Oberschule und damit zum A b i t u r weiterführen. Dies ist wohl die radikalste Neuerung der schwedischen Schulreform, nämlich die erst i m 9. Schuljahr erfolgende Differenzierung. Sie war natürlich das heiße Eisen der schwedischen Schuldebatte. Von den Anhängern der späten Differenzierung wurden zunächst die sozialen Argumente angeführt, die Ihnen ja bekannt sind. Man kann ohne jede Übertreibung sagen, daß die alte schwedische Ausleseschule, sozial gesehen, völlig versagt hat. Es herrschte dann auch bei der Einführung der 9jährigen Grundschule i m Reichstag prinzipiell absolute Einmütigkeit. Der Direktor des schwedischen Reichsamtes für das Schulwesen, also unserer zentralen schulpolitischen Behörde, hat i n einer Broschüre (die, nebenbei gesagt, reizvollerweise auf Deutsch „Das Bildungsgemeinwesen" heißt, auf Schwedisch allerdings „Die schwedische Ausbildungsgesellschaft") geschrieben: „Der Beschluß zur Einrichtung der 9jährigen Grundschule wurde vom Reichstag einmütig gefaßt. Ein Widerstand gegen diese Reform wäre zweifellos einer A r t politischen Selbstmordes gleichzustellen gewesen." Man führte aber natürlich nicht nur soziale Argumente ins Feld, sondern die Anhänger einer möglichst späten Differenzierung beriefen sich auch auf pädagogische Gründe. Eine ganze Reihe von schulpädagogischen Untersuchungen, die i n den vorangegangenen Jahren unternommen wurden, scheint jedenfalls nicht dagegen zu sprechen — so muß man es vorsichtig ausdrücken —, daß zusammengehaltene Klassen bei einer die Schülerindividualität berücksichtigenden Gruppenpädagogik die begabten Schüler nicht — oder sagen w i r sicherheitshalber: kaum i n ihrer Entwicklung retardieren, während sie den weniger begabten dagegen wahrscheinlich förderlich sind. Viele meinen außerdem, daß sich die Disziplinprobleme, die i n Schweden z. T. beachtlich sind, i n zusammengehaltenen Klassen leichter meistern lassen als i n den von der negativen Begabtenauslese betroffenen Klassen der alten Volksschule. Z u diesen sozialen und pädagogischen Motiven kommt nun ein weiteres i m deutschen Sinne eminent bildungspolitisches oder richtiger

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bildungsideologisches Motiv. Ich zitiere wieder den Generaldirektor des Reichsamtes für das schwedische Schulwesen, der folgendes schreibt: „ A u f den ersten Blick mag es eigentümlich erscheinen, daß die Übertragung der strengen Spezialisierungen auf die schulische Arbeit i n zunehmendem Maße unmöglich wird, während sich immer mehr Menschen i n ihrer täglichen Arbeit weitgehend spezialisieren. Man könnte dieses Paradoxon so formulieren: Je mehr w i r zu Spezialisten i m Berufsleben werden, desto weniger Spezialisierung und desto mehr allgemeine Ausbildung haben die Grundschule und die Jugendschule zu vermitteln." Das t r i f f t sich, meine Damen und Herren, fast wortwörtlich m i t dem, was I h r Kultusminister gestern abend hier gesagt hat. Nur haben w i r i n Schweden die radikaleren Konsequenzen daraus gezogen. Die neue 3jährige Oberschule, bei uns für alle Zweige Gymnasium genannt, gliedert sich i n fünf Züge: einen humanistischen, einen gesellschaftswissenschaftlichen, einen wirtschaftlichen, einen naturwissenschaftlichen und einen technischen, wobei die Zahl der Fächer, die i n allen Zweigen gleich sind, wesentlich erhöht worden ist. I n der neuen Oberschule sind es rund 45 v. H. der Gesamtstundenzahl, früher waren es weniger als 30. Das aus der deutschen Bildungstradition Bedenklichste an der neuen schwedischen Oberschule ist wohl, daß die Stellung der klassischen Sprachen, die bei uns schon seit Anfang dieses Jahrhunderts wesentlich schwächer war als i n Deutschland — seit langem kann man z. B. bei uns Medizin und Jura ohne Latein studieren —, noch mehr erschüttert erscheint. W i r bekommen lediglich einen humanistischen Zweig, i n dem man mit zwei Jahren Latein auskommt. Dies dient i n erster Linie einer allgemeinen Orientierung über das klassische Erbe, was an sich durchaus zu begrüßen ist. W i r bekommen dafür ein ganz neues Fach, das gerade unter Sprachwissenschaftlern nicht unumstritten ist; es nennt sich „vergleichende Sprachkunde". Welche Ergebnisse dies bringen wird, ist noch nicht abzusehen. Es handelt sich darum, daß man i n einem Jahr drei Stunden pro Woche die Gemeinsamkeiten der europäischen K u l tursprachen semantisch analysieren soll. Wenn das geschickt gemacht w i r d und wenn w i r die richtigen Lehrbücher bekommen, dann hat dieses Fach einiges für sich, es könnte zu einem stärkeren Sprachbewußtsein führen, zur Erkenntnis, daß die meisten europäischen Sprachen i m Grunde sub specie latinitatis zu verstehen sind, daß w i r ein Erbe haben, das i n der Sprachwissenschaft als abendländischer Sprachenausgleich bezeichnet wird.

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Das sind Neuerungen, über die man immerhin verschiedener Meinung sein kann. Aber es gibt auch ausgesprochen sympathische Neuerungen i n der Oberschule. Dazu rechne ich z. B., daß man in den Lehrplänen nicht so sehr positivistisches Tatsachenwissen i n den Vordergrund stellt, sondern vielmehr die Bereitschaft zur selbständigen Arbeit, zum Suchen, daß man nicht so sehr, wenigstens nicht ausschließlich, wann und wo fragt, sondern auch weshalb und wie. Hier wäre auch der von Herrn Kollegen Rest betonte fächerübergreifende Unterricht zu nennen und vor allem die neue Zielsetzung des fremdsprachlichen Unterrichts zu unterstreichen, der neben den i n der Grundschule gelernten zwei Sprachen noch eine dritte umfaßt: Deutsch oder Französisch, je nachdem, was man i n der Grundschule als zweite Sprache gewählt hat; aber man kann auch Russisch, Spanisch oder Italienisch wählen. Es gilt schon für die Grundschule, daß die pädagogische Reformfreudigkeit, die bei uns zweifellos imponierend ist — einige würden allerdings „beunruhigend" sagen —, ihre schönsten Früchte i m Bereich des Fremdsprachenunterrichts gezeitigt hat. Wenn man heute erlebt, wie schon i n der 7. Klasse, also i m ersten Unterrichts jähr des Faches Deutsch, die deutsche Sprache tatsächlich die ganze Schulstunde gesprochen wird, und wenn ich das m i t meiner eigenen Schulzeit vergleiche, wo nach neun Jahren Deutschunterricht i m Würgegriff der am Latein erprobten grammatischen Methode die meisten von uns nicht i n der Lage waren, auch nur ein Wort deutsch zu sprechen, dann ist man nicht so leicht bereit, das Schlagwort der Konservativen i n unserem Lande von der „andauernden sogenannten Standardsenkung der Höheren Schule" so ohne weiteres hinzunehmen. Für die neue Oberschule sehen die Lehrpläne nun auch eine Zielsetzung vor, die viel stärker als bisher die Bildungsperspektive berücksichtigt. Das Studium literarischer Texte, bei uns lange i n der sträflichsten Weise vernachlässigt, das Studium von Texten der Landeskunde, die geschichtliche und politische Orientierung i m Bereich des fächerübergreifenden Unterrichts, all das steht nun eindeutig i m Vordergrund. Nicht ganz unbedenklich ist dagegen eine andere Neuerung der Oberschule. Das bisherige Gymnasium schließt mit einer Abiturprüfung ab, die w i r nur noch zwei Jahre erleben werden. Sie w i r d für das ganze Land zentral gesteuert m i t gemeinsamen schriftlichen A r beiten und mit mündlichen Prüfungen, die von sogenannten Zensoren überwacht werden, von denen ein erheblicher Teil Universitätslehrer sind. Das war auch für die Universität eine außerordentlich nützliche Einrichtung, weil sie den bei uns traditionell starken Kontakt

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zwischen Höherer Schule und Universität noch gefördert hat. Ich kann für mein Fach ohne weiteres bezeugen, daß ich Wesentliches für die Ausgestaltung der akademischen Ausbildung gelernt habe durch die vielj ährige Tätigkeit als Zensor an der Höheren Schule. Die neue Oberschule w i r d nun — das w i r d Sie überraschen — ohne eine derartige Abiturprüfung abschließen. Als Ersatz dafür sollen sog. Schulinspektoren und zentral gesteuerte schriftliche Standardisierungstests die Aufrechterhaltung des bisherigen Niveaus gewährleisten. Ob das gelingt, bleibt allerdings abzuwarten. Schon heute läßt sich jedoch trotz noch vorhandener Abiturprüfung der unerhörte Andrang zur höheren Ausbildung statistisch aufs eindrucksvollste belegen. Während 1945 5 v. H. eines Jahrganges das A b i t u r machten, waren es 1965 bereits über 20 v. H., und man rechnet für die 70er Jahre mit weit über 30 v. H. Oberschulabsolventen. Dazu kommen dann 20 v. H. i n den zweijährigen Fachschulen, deren A b schluß einen mittleren Rang einnimmt, etwa zwischen der deutschen mittleren Reife und dem Abitur. Der außerordentliche Zuwachs an Abiturienten usw. hängt natürlich auch bei uns damit zusammen, daß die sozialen Förderungsmaßnahmen sehr erheblich sind. Jedes Kind, das eine Höhere Schule besucht, erhält vom 16. Lebensjahr an eine Studienbeihilfe — bei Ihnen, glaube ich, „Pennälergehalt" genannt — von mindestens 75 Kronen pro Monat, Studenten erhalten 175 K r o nen pro Monat, wobei noch Studiendarlehen i n Höhe von 7000 Kronen hinzukommen können, die allerdings dann später zurückgezahlt werden müssen. Es besteht volle Schulgeld- und Lehrmittelfreiheit. Das bedeutet nun natürlich, daß der Andrang zu den Hochschulen und den Universitäten uns vor enorme Probleme stellt. Ich bin geneigt, noch ein zweites M a l Erich Kästner zu zitieren: „Das geht nicht mehr so weiter, wenn das so weitergeht!" Aber es muß ja gehen. Ehe ich Ihnen nun die schwedischen Reformvorschläge i n diesem Bereich erläutere, muß ich einiges über unsere schwedische Universitätstradition sagen. W i r haben zunächst nur zwei vollwertige und vollständige Universitäten i m alten Sinne, die von Upsala, 1477 gegründet, mit heute rd. 15 000 Studenten, und die 200 Jahre jüngere i m südschwedischen Lund, die heute rd. 13 000 Studenten hat. Sie wurde damals gegründet, u m aus der kurz vorher eroberten dänischen Bevölkerung anständige Schweden zu machen, was dann auch i n erstaunlich kurzer Zeit gelang, wenngleich an dieser Universität wie überhaupt i n Südschweden immer noch ein gerüttelt Maß an gesunder Skepsis gegenüber dem besteht, was man als nördliche Geschäftigkeit bezeichnet. Man könnte also auch sagen, daß die Südschweden die „Bayern unseres Landes" sind.

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Neben diesen alten Universitäten sind dann i m Rahmen der Ausbildungsexplosion schon vor längerer Zeit zwei neuere Universitäten entstanden, und zwar i n Stockholm und Göteborg, und dann natürlich eine ganze Reihe von Fachhochschulen, die ich hier nicht alle aufzählen kann. Seit kurzem haben w i r eine fünfte Universität i n Umeä i m Norden des Landes, die allein aus regionalen Gründen außerordentlich wichtig ist, w e i l gerade diese nördlichen Gebiete seit langem m i t akademisch ausgebildeten Lehrern nicht genügend versorgt gewesen sind. Aber auch die fünfte Universität w i r d nicht ausreichen, und w i r sind schon — Sie kennen das j a auch i n Deutschland — so weit, daß jede mittlere Stadt bei uns den Anspruch und den Ehrgeiz hat, eine Universitätsstadt zu werden. W i r haben dieses Problem zunächst so gelöst — es ist eine merkwürdige und nicht ohne weiteres sympathische Lösung —, daß jede Universitätsstadt eine Filiale einrichten wird, wo die Studenten den grundlegenden Unterricht erhalten. Das bedeutet für mich, daß ich zu den 600 Studenten, die ich jetzt habe, i n zwei Jahren i n der Stadt Linköping noch weitere 100 dazubekommen werde; für den schwedischen Finanzminister sicher eine günstige, für mich eine nicht ganz angenehme Lösung. Aber i m Grunde handelt es sich wahrscheinlich hier — u m ein deutsches Schlagwort zu verwenden — u m schleichende Universitätsgründungen. Was den allgemeinen Aufbau der schwedischen Universitätsverwaltung und die Struktur des schwedischen Universitätswesens betrifft, so gehen wir, historisch gesehen, auf deutsche Vorbilder zurück, und große Ähnlichkeiten sind natürlich immer noch da. Das bedeutet aber nicht, daß nicht auch sehr erhebliche Unterschiede vorhanden wären. Da wäre z. B. zunächst die Frage des Corporationsstudententums. Die alten schwedischen Universitäten haben sog. Landsmannschaften, aber man darf nicht meinen, daß dies etwas Ähnliches sei. Erstens handelt es sich hierbei u m obligatorische Einrichtungen; jeder Student muß einer Landsmannschaft angehören, und dann herrscht auch hier das Prinzip der Koedukation. Und vor allem: es wäre eine hoffnungslose Aufgabe, einem schwedischen Studenten oder gar einer Studentin den Sinn einer deutschen Mensur klarzumachen. Andererseits ist es vielleicht wichtig zu unterstreichen, daß der Verband schwedischer Studentenschaften eine außerordentlich starke Position erlangt hat; die schwedische UniversitätsVerwaltung ist wohl überhaupt stärker demokratisiert als die deutsche, so daß die Fakultäten keineswegs nur aus Ordinarien bestehen. I n meiner Fakultät sind z.B. eine Reihe von wissenschaftlichen Räten vertreten, was ich für eine sehr begrüßenswerte Einrichtung halte, zumal diese

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wissenschaftlichen Räte die Professoren i n der Verwaltung sehr entlasten können. Reformen, Änderungen der Studienpläne usw. sind unmöglich, ohne daß auch Vertreter der Studentenschaft an den jeweiligen Universitäten m i t herangezogen werden. Ein wesentlicher Unterschied — der wesentlichste vielleicht — besteht auch i n bezug auf den Studiengang. Man studiert seit Anfang unseres Jahrhunderts i n Deutschland nicht die Fächer nebeneinander, sondern ein Fach nach dem anderen. U m ein konkretes Beispiel zu geben: Man fängt m i t der Germanistik an, studiert sie zwei bis drei Semester, je nachdem welche Note man erreichen w i l l , denn man hat verschiedene, ganz genau bestimmte Studienforderungen, die zu verschiedenen Noten führen. Dann geht man zum nächsten Fach, sagen w i r Englisch, über, wählt noch das Fach Pädagogik für ein Semester und z. B. allgemeine Sprachwissenschaft oder Phonetik ebenfalls für ein Semester. Das bedeutet, daß dieses System an sich schon die Verschulung fördert. Es hat zweifellos auch erhebliche Vorzüge, aber ich übersehe auch hier nicht die Gefahren des schwedischen stark gebundenen Systems, zumal eine noch weitere Straffung — wie ich gleich zeigen werde — zu erwarten ist. Aber zunächst einige interessante und nicht unsympathische Züge unseres Systems. Dazu gehört z. B. die A r t und Weise, wie die Dissertation bei uns öffentlich verteidigt wird, eine Dissertation, die auch eine Habilitation sein kann, es hängt nämlich von der Qualität der Abhandlung ab, ob es zu einer Dozentur kommt oder nicht. Diese Dissertation, Ergebnis langer Studien — vom Staatsexamen an, das die Voraussetzung ist, bedarf es i m allgemeinen vier bis fünf Jahre weiterer Studien —, w i r d öffentlich verteidigt i n einer für unsere heutigen Verhältnisse j a nun langsam anachronistischen Feierlichkeit, i m Frack. Es gibt drei Opponenten: einen von der Fakultät ausersehenen, einen von dem Verfasser selbst gewählten (es versteht sich von selbst, daß die Opposition des ersten wesentlich strenger ist als die des zweiten Opponenten); dazu kommt noch ein dritter Opponent, der keine andere Aufgabe hat, als etwa 10 bis 15 Minuten puren Unsinn zu produzieren, das heißt also, daß der dritte Opponent der Hanswurst des schwedischen Universitätswesens ist, eine Einrichtung, die es meines Wissens i n keinem anderen Lande gibt—wenigstens nicht i n dieser sozusagen offiziellen Form. Eines der Tabus der deutschen Universitätsdebatte, nämlich die große Hauptvorlesung, spielt bei uns eine wesentlich geringere Rolle. W i r arbeiten mehr i n der Form von Gruppenunterricht und von Seminaren, wobei das Problem weitgehend nicht mehr existiert, wie diese Gruppen klein gehalten werden sollen; denn hier haben w i r

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ein ausgeklügeltes statistisches und bürokratisches Verfahren; w i r nennen es die Automation, d. h. daß automatisch, wenn die Anfängerzahl über eine gewisse Grenze gestiegen ist, eine zusätzliche Gruppe von 25 bis 30 Studenten eingerichtet und mehr Geld zur Verfügung gestellt w i r d für weitere Assistenten und wissenschaftliche Räte. Wichtig ist ferner die größere Durchlässigkeit auch bei dem akademischen Studium i n Schweden. W i r haben i n jedem Herbst große Gruppen von neu immatrikulierten Studenten, die nicht mehr so ganz jung sind. Da ist zunächst die Gruppe der Volksschullehrer und als zweite Hauptkategorie die Gruppe der verheirateten Frauen. Die Volksschullehrer können sich weiterbilden, und sie t u n das auch, wozu sie vom Staate beurlaubt werden, so daß das finanziell kein Problem ist. Die verheirateten Frauen gehen, nachdem die Kinder größer geworden sind, jetzt i n großen Scharen dazu über, eine akademische Ausbildung zu beginnen, sofern sie natürlich das A b i t u r besitzen (aber auch das A b i t u r kann nachgeholt werden). Das bedeutet, daß ich z. B. i n meinem Doktorandenseminar i m Laufe der Jahre eine ganze Reihe von älteren weiblichen Studenten gehabt habe, „schwedische Mikätzchen" sozusagen. Das ist eine ganz entscheidende Begabungsreserve (sie heißt bei m i r die Stockholmer Hausfrauengermanistik). Es ist ganz klar, daß unsere Schulen vor noch größerem Lehrermangel stehen würden, wenn nicht hier eine sehr große Kategorie von z.T. außerordentlich tüchtigen Frauen i m Alter von 30 bis 55 zur Verfügung stände. W i r haben, u m nun noch Zahlen anzuführen, jetzt insgesamt rund 70 000 Studenten, während w i r i m Jahre 1945, als ich mich habilitierte, etwa 15 000 hatten. 1961 waren von den neu immatrikulierten Studenten 24 v. H. Arbeiter- und Bauernkinder. Ihr Anteil ist heute sicher um einige Prozente gestiegen. I n den letzten Jahren arbeitete eine Lehrerausbildungskommission (denn bei dieser explosiven Entwicklung haben w i r natürlich auch i n Schweden den schon erwähnten erheblichen Lehrermangel) Vorschläge für eine neue Lehrerausbildung aus, die zu einer Straffung des Studiums, zu einer Studienzeitverkürzung — die offiziellen Studienzeiten bei uns waren bisher zweifellos manchmal erschreckend hoch —, also zu einer Straffung und stärkeren Planung des Studiums, führten (prinzipiell genau das, was Herr Kollege Rest auch für Deutschland unterstrichen hat), und zwar m i t einer differenzierten Lehrerausbildung; für die Grundschullehrer drei Fächer mit 2 plus 2 plus 2 Semestern, für die Oberschullehrer zwei Fächer m i t 4 plus 4 Semestern. A n schließend soll i n beiden Fällen dann ein Jahr Lehrerhochschule folgen.

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Diese Vorschläge, die ich für eine sehr günstige Lösung halte, weil sie für die Gymnasiallehrer zwei Jahre geplanter, straff organisierter Studienzeit bedeuten, aber dann noch zwei weitere Jahre freierer Studienzeit, sind nun auch von anderen Gremien befürwortet worden, von den Gewerkschaften, dem Verband der schwedischen Studenten, den Lehrerverbänden und von allen Fakultäten. Dann aber geschah das Ungeheuerliche! Die schwedische oberste Schulbehörde und die oberste schwedische Universitätsbehörde, Universitätskanzleramt genannt, haben sich dagegen geäußert; sie wollten eine Oberschullehrerausbildung von nicht vier, sondern von nur drei Jahren, und sie haben gesagt: Grundschullehrer und Oberschullehrer müssen dieselbe Ausbildungszeit haben. Das bedeutet, u m eine schwedische Zeitung zu zitieren, die sich ganz entschieden für die Schulreform eingesetzt hat, daß die Dominanz der Administratoren, sagen w i r ruhig, der Technokraten unserer Bürokratie auf Kosten der pädagogischen und theoretischen Qualitätsansprüche i n beunruhigender Weise sichtbar geworden ist. Wenn sie sich durchsetzen, gibt es zweifellos eine Katastrophe. Aber der Sturm der Entrüstung, der i n der schwedischen Öffentlichkeit ausgebrochen ist, scheint m i r nun doch erfreulicherweise die Hoffnung zu rechtfertigen, daß w i r i m Herbst vom schwedischen K u l tusminister eine Regierungsvorlage bekommen, die auf jeden Fall weniger deprimierend sein wird. Abschließend sollte ich vielleicht noch unterstreichen, daß das, was ich hier lückenhaft angedeutet und erläutert habe, nämlich die Explosion des Ausbildungswesens bei uns, sich eigentlich erst i m Anfangs Stadium befindet. Es w i r d noch hinzukommen das programmierte Lernen, das schon erprobt w i r d ; w i r haben bereits Sprachlaboratorien an den Universitäten und an vielen Schulen usw. Man w i r d ferner i n verstärktem Maße den Schulfunk heranziehen und die enormen Möglichkeiten des Schulfernsehens ausnützen müssen. Die Perspektive einer 11- bis 12jährigen Gesamtschule, Jugendschule genannt, mit differenziertem Oberbau gilt sicher für eine nicht gar so ferne Zukunft. Aber die Weiterentwicklung steht und fällt, glaube ich, mit der Frage der Lehrerausbildung. Wenn wir, wie zu hoffen bleibt, eine ausreichende theoretische Gymnasiallehrerausbildung erhalten, dann w i r d man künftig doch wohl nicht nur von Ausbildung, sondern auch von Bildung unserer Lehrer sprechen können. Das Grundübel und Hauptproblem der schwedischen Situation ist und bleibt aber unsere von geistlosen Technokraten beherrschte Bürokratie. W i r haben daher, u m an die eingangs angedeutete Problematik anzuknüpfen, allen Grund, ein Wort von Carlo Schmid zu beherzigen: „Wenn w i r i n unseren Schulen und Universitäten nur noch Ausbildung und keine Bildung mehr finden, so werden w i r eine Nation von

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Robotern." So könnte ich schließen, und hier schließt i n der Tat mein Manuskript. Aber, meine Damen und Herren, die bisherigen Diskussionsbeiträge haben bewiesen, daß es sich bei dieser Unterscheidung, zum Teil jedenfalls, nur u m Scheinprobleme handelt. Ich nehme daher dankbar den schönen Satz von Herrn Kollegen Rest auf: „Das Geschenk einer intensiven Ausbildung w i r d die Bildung sein." Wenn das zutrifft, und einiges spricht ja nun doch dafür, dann w i r d die Mehrheit der jetzt heranwachsenden jungen schwedischen Generation zweifellos nicht nur über eine bessere Ausbildung, sondern auch über einen höheren Grad an Bildung verfügen, als es bei früheren Generationen der Fall war.

Bildung und Ausbildung in Großbritannien Von P. W. Lowell, M. A. (Oxon.), Unternehmensberater, Marlow/Bucks.

Bitte entschuldigen Sie, daß ich i n einer Zeit, i n der es uns doch allen recht gut geht, daran gehe, Krisen aufzuzeigen. Die Probleme, die die beiden vorigen Generationen bedrückten — Wirtschaftskrisen, politische Krisen, Kriege —, scheinen doch heute nicht mehr vor der Tür zu stehen. W i r leben i m Wohlfahrtsstaat, uns geht es gut. „Keine Experimente", sagte Herr Erhard. „Noch nie habt I h r es so gut gehabt", sagte Macmillan und hat damit die Wahl gewonnen; und obwohl er die nächste Wahl dann verlor, ist dieser Spruch i m Unterbewußtsein des englischen Volkes haftengeblieben. Dies ist eine Zeit der Zuversicht, meint man — eine Zeit der falschen Zuversicht, meine ich. Ich denke hierbei nicht an die Wirtschaftskrisen, die Probleme politischer A r t , die w i r auch heute noch haben. Das sind normale Schwierigkeiten, normale Probleme geworden. Aber es gibt drei andere große Probleme, die m i t unserem Thema Bildung und Ausbildung, m i t Erziehung schlechthin zu t u n haben. 1. Technologisch stand England i n Europa bis 1939 an erster Stelle; diesem Umstand verdankten w i r die Führung i n Europa. Heute stehen w i r i n Europa nicht mehr an erster, nicht mehr an zweiter und vielleicht auch nicht mehr an dritter Stelle. I n der Industriegesellschaft von heute und morgen ist der technologische Stand, ob w i r es lieben oder nicht, das A und O der Existenz und der politischen und w i r t schaftlichen Vormachtstellung. 2. W i r nähern uns i n zunehmendem Maße einer Krise, die heute noch nicht v o l l erkannt w i r d ; es ist die Krise des Managements und der Verwaltung. W i r befinden uns i m betriebswirtschaftlichen Management, i n der Verwaltung nicht an erster Stelle. Vielleicht waren w i r das nie; aber heute ist diese Frage wesentlicher, als sie es früher war. Amerika hat hier ohne Frage die Vorrangstellung, und es erkennt, daß seine Vorrangstellung i n puncto Wirtschaftsverwaltung die Staatsverwaltung stützt. Aber die Krise i n der Staatsverwaltung w i r d eine viel größere werden als die i n der Wirtschaft; denn i n der Wirtschaft muß man letzten Endes den Erfolg berechnen. I m Staat dagegen

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besteht dieses unmittelbare Erfordernis nicht, da gibt es keine unmittelbare Erfolgsrechnung. Hier werden w i r i n einem Chaos enden, wenn w i r nicht rechtzeitig etwas unternehmen. Römische Verwaltung, preußische Verwaltung, englischer Secret Service, der ein ganzes Empire verwaltete, napoleonische Verwaltung, all diese Verwaltungsarten sind veraltet und nicht mehr i n der Lage, das zu bewältigen, was heute erforderlich ist. Für eine moderne Verwaltung fehlen die Struktur, die Formen, die empirischen Vorbedingungen, die Vorbereitungen. Ansätze gibt es zwar, von der Wirtschaft übernommene Ansätze i n Amerika, die Ecoles i n Frankreich. Es sind aber eben nur Ansätze, nicht mehr. I n England gibt es nichts, i n Deutschland ebenfalls nichts! 3. Eine weitere auf uns zukommende Krise w i r d noch weniger erkannt. Es ist die Krise i m Verkehrs- und Wohnwesen. Sie, die heute hier anwesend sind, werden diese Krise noch erleben. Nicht nur die verstopften Straßen, nicht nur die unzulänglichen Wohnformen! Man kann hier nur Negatives prophezeien, nämlich daß die Gebäude, die Städte, der Straßenverkehr i n 50 bis 100 Jahren ein normales Leben überhaupt nicht mehr ermöglichen werden. Drei Krisen also: die akute technologische, die kommende des Managements und der Verwaltung und die des Verkehrs- und Wohnwesens, die m. E. größte, aber noch fernste Krise. Die Schwierigkeit, das zu bewältigen, was auf uns zukommt, liegt i m Mangel an Bildung und Ausbildung i m heutigen Europa, aber wahrscheinlich ebenso i n der ganzen Welt überhaupt. Es gibt meiner persönlichen Meinung nach Ursachen i m englischen Erziehungssystem, die verhindern, daß bestimmte Prognosen gestellt und bestimmte Trends erkannt werden. Was w i r brauchen, ist ein gezielter Ausbildung sprozeß. Und das bedeutet: Weg m i t dem Gymnasium! Weg mit der alten humanistischen Universität! Weg m i t der rein akademischen Bildung! Völlig weg! Ich darf m i r erlauben, das zu sagen; denn ich b i n ein Produkt des Gymnasiums, ein Produkt der humanistischen Universität und ein Produkt der rein akademischen Erziehung. Ich b i n so stark ein Produkt dieser Erziehung, daß man es m i r nahelegte, am Ende meiner Oxforder Universitätsausbildung, die zu 99 v. H. aus Philosophie bestand, ein Tutor, ein lecturer i n Oxford zu werden. Gott sei Dank habe ich das Examen nicht bestanden! Nun werden die Akademiker sagen: Na ja, da sieht man, warum der jetzt so spricht. Aber seien Sie beruhigt, an einer zweitrangigen Universität hätte ich es immer noch geschafft. Nein, meine Ansicht resultiert aus meiner späteren Tätigkeit als Unternehmensberater i n Wirtschaft und Verwaltung. Es fiel m i r

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nicht leicht, mich dazu durchzuringen. Und ich sage auch nicht, daß diese scharfe Formulierung für alle Zeiten, alle Räume gültig sein soll. Weg m i t dem Gymnasium, weg m i t der humanistischen Universität und weg mit der rein akademischen Bildung, das hätte ich vielleicht vor 100 Jahren noch nicht gesagt, das würde ich vielleicht i n 100 Jahren auch nicht mehr sagen. Aber heute sage ich das. Heute in Europa, da fordere ich das. Was ist Bildung heute? Wenn Bildung definiert w i r d als kulturelles Vermögen, als kulturelles Interesse des Volkes — gut, daran ist nichts auszusetzen, aber darum geht es nicht. Es ist nicht das, was man normalerweise meint, wenn man von Bildung spricht. Denn normalerweise meint man eben das Gymnasium, die humanistische Universität, den rein akademischen Bildungsgang. Und diese Bildung erzeugt vom Leben distanzierte Menschen, die Akademiker, die sich entweder so isolieren, daß sie dem Faschismus nichts entgegnen können oder Salonbolschewisten werden und i n ihrer Armseligkeit zur Lösung der täglichen Probleme nichts beisteuern können. Man nennt ja Oxford auch „an ivory tower", aber Oxford ist noch gar nichts gegen das, was sich i n der philosophischen Fakultät i n Heidelberg tut. Ich hatte das Vergnügen, drei Stunden dem Seminar eines sehr kultivierten Professors i n Heidelberg beizuwohnen, i n dem w i r über die Auslegung der Hegeischen Philosophie stritten. Ich habe kein Wort verstanden, obwohl mein Deutsch nicht schlecht ist! Aber ich sage Ihnen, die anderen haben auch nichts verstanden, obwohl sie so taten, als ob. Was wollen diese „Knaben", die i n dem frühen Alter von 35 Jahren von den hohen Universitätsstufen herabkommen, werden? Eventuell Staatssekretär i m Verteidigungsministerium? Diese Zeiten sind vorbei! M i t der Bildung allein ist heute i n Europa nichts zu machen. Ich hatte einen Kameraden i n meinem College i n Oxford, der löste phantastisch die Kreuzworträtsel der „Times", er wußte alles über die mittelalterliche Geschichte i n England, und dann ging er ins Foreign Office. Wundert einen da noch der Fall Suez, der Fall EWG, der Fall der unterentwickelten Länder? Moderne Erziehung bedeutet, daß es den Universitäten nicht mehr erlaubt wird, ihre Lehren mit einem „ee" zu buchstabieren; sie bedeutet andererseits aber auch nicht, daß diese Universitäten sich nun auf die Ausbildung von Programmierern oder Steuerleuten für hochautomatisierte Steuerungswerke konzentrieren. Das meine ich nicht. Es ist allerdings nicht leicht zu sagen, wo heute die spezialisierte Berufsvorbereitung anfängt und die allgemeine Vorbereitung für das Leben aufhört. Fest steht jedoch, die Bildung muß gezielt sein. Ich frage Sie: Was ist z. B. gezielt an der philosophischen Fakultät der

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Universitäten? Höchstens doch, daß hier die späteren Lehrer und Dozenten für die philosophische Fakultät der Universitäten herangebildet werden. Mehr nicht. Lord Robbins ist es jetzt gelungen, die Vorrangstellung der zwei angesehensten englischen Universitäten, die ja immerhin noch vor den deutschen Universitäten i m 12. Jahrhundert gegründet worden sind, zu erschüttern. Robbins hat i n seinem berühmten Bericht zwei Schwerpunkte aufgezeigt, die akzeptiert wurden. Er ist Nationalökonom und hat i n seinem Bericht sehr stark komparativ gearbeitet. I m allgemeinen denkt man i n England heute noch so insular, daß man, wenn etwas Neues geschaffen werden soll, sich gar nicht umsieht, wie es woanders gemacht wird. I n bezug auf das Training Board fragte ich einmal beim Erziehungsministerium an: Sagen Sie, meine Herren, wie sind Sie auf diese Schlüsse gekommen? Welche Länder haben Sie sich angesehen? Darauf erklärte m i r ein hoher Beamter, man sei nach Frankreich gegangen und habe dort studiert, wie es den Franzosen gelungen sei, die Gelder für die Einrichtung aufzubringen. Hinsichtlich Inhalt und Stil hatte man keine Vergleiche angestellt. Der Beamte wußte auch einige Einzelheiten aus Amerika und aus Deutschland, aber nichts über Rußland oder über Skandinavien. Robbins nun hat komparativ gearbeitet, er hat quantitativ gearbeitet, aber darüber hinaus nicht die Imponderabilien vergessen, die quantitativ nicht zu erbringen sind, sondern auf mögliche andere Gesichtspunkte hingewiesen. Der erste wesentliche Punkt seines Berichtes ist der, daß eine Universität heute i n den meisten Fällen nicht mehr universal zu sein braucht. Es ist überholt, zu behaupten, daß man nur i n einem Rahmen, der jegliche Sparte der Bildung und der Erziehung bringt (siehe das Wort Universität), gebildet werden kann. Robbins fordert Erziehungsstätten, die i n bezug auf Quantität, Qualität und finanzielle Ausstattung seitens des Staates Universalcharakter haben, aber nicht mehr universal ausgerichtet sind, wie z. B. die Techniker-Colleges, die Royal Colleges of Arts, die von i h m geforderten, aber vom Staat nachher nicht anerkannten pädagogischen Institute. Das war der erste wesentliche Punkt, der Oxford und Cambridge i n mittelbarer Weise stark angriff. Die zweite wichtige Feststellung war die, daß die alte humanistische Auffassung (ich werde gleich zeigen, daß sie gar nicht stimmt), es dürfe nicht berufsmäßig, sondern nur allgemeinbildend geschult werden, ad acta gelegt werden muß. Zielen ist notwendig. Nicht zielen

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auf bestimmte Berufsarten, aber trotzdem zielen, und zwar auf das, was lebensnahe, lebensnotwendig, berufsnahe, berufsnotwendig ist. Womit fingen denn die Universitäten i m 12. Jahrhundert an, i n Bologna, i n Salerno, i n England? Das waren doch Trainingskurse für die Träger der Kirche. Nachdem der Papst i n Salerno seine Universität für die Kirchenträger errichtet hatte, begann der italienische Staat, seine Beamten i n Neapel zu schulen. Und dann kamen die Doktoren und die Juristen und schulten ihren Nachwuchs. War das Allgemeinbildung? Das war so stark gezielt, wie man es überhaupt nur verlangen kann. Hinzu kommt noch, daß die Theologen bis zu einem gewissen Grade, die Mediziner fast ausschließlich und die Juristen i n England teilweise das Praktikum m i t dem Academicum kombinierten. Aber dann erfolgte die „Verfeinerung". Die Bildung entartete. Sie wurde immer mehr abstrahiert — besonders hier i n Deutschland —, und das Ergebnis war eine Gruppe intellektuell hochentwickelter Menschen, von denen man annahm, daß sie für die höchsten Ämter reif wären. Und dann kamen sie i n die höchsten Ämter und richteten das größte Unheil an, das überhaupt nur denkbar war. Aber das war nicht der ursprüngliche Sinn der Universitäten, und das ist auch nicht mehr der Sinn der Universitäten heute i n England. I n Oxford haben w i r das Nuffield-College für soziale Studien, da haben w i r ein College for Research auf ähnlichem Gebiet, außerdem gibt es die Engineering-School i n Cambridge, die School of Economics i n London, die 10 neuen Technological Colleges, die Universitätsstatus erhalten haben, und ferner die hochinteressanten Experimente an der Universität von Sussex, die sich ganz konkret m i t Studien über Europa befassen und Vergleiche über Verwaltung und Wirtschaft anstellen. Diese Fortschritte haben w i r vor allem Lord Robbins zu verdanken. Er hat dazu beigetragen, daß w i r von der rein humanistischen Universitätsbildung mehr und mehr abkommen — man braucht ja auch heute für Oxford und Cambridge kein Latein mehr —, und es ist selbstverständlich, daß, wenn das Endstadium, die Universität, anders wird, auch das Schulwesen sich wandelt. W i r haben heute i n England, u m ein paar Zahlen anzuführen, außer den ungefähr 30 Universitäten 10 der neuen Colleges of Advanced Technology. Die deutschen Technischen Hochschulen sind sehr stark als Vorbilder bekannt, aber ich glaube doch, ohne völlig vertraut zu sein m i t dem Charakter unserer Colleges, daß diese sehr viel weiter gehen. W i r haben 25 regionale Colleges, 500 andere verschiedenartige Colleges, 41 Agricultural Colleges sowie eine Reihe von spezialisierten Anstalten. Allerdings — das möchte ich ganz klar ausdrücken — 6 Tagung Dortmund 1966

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haben nur die 10 Colleges of Advanced Technology Universitätsstatus erhalten. Ferner gibt es besondere Colleges of Arts, Aeronautics, Food, Heating, Ventilation, Refrigeration and Engineering; w i r haben auch ein College for Rubber, ein College for Foundry und ein College für Lederverkäufer. Diese Schulen haben keinen Universitätsstatus, aber es sind immerhin Colleges höheren Grades. Robbins wollte noch weitergehen als die Regierung. Er wollte, daß die pädagogischen Institute und eine Reihe von anderen spezialisierten Colleges Universitätsstatus erhielten. Aber er ist eben — wie die Pioniere alle — seiner Zeit voraus, und es w i r d eine Weile dauern, ehe seine Ideen sich völlig durchsetzen. Immerhin hat er erreicht, daß heute i n der pädagogischen Diskussion i n England die Universität nicht mehr als universal und nur allgemeinbildend angesehen wird. Ich habe ein Heft von der deutschen Walter-Raymond-Stiftung gesehen, da stand der schöne Satz: „Lernen für das Leben kann sich nur unter unmittelbarer Beteiligung des Lebens selbst vollziehen." Dieser Satz führt mich von dem Begriff „gezielt" zu dem Begriff „Ausbildung". Beide Begriffe ergeben einen Komplex. Trotzdem ist die Betonung sehr wesentlich, und nach meiner Auffassung ist der Begriff der Ausbildung der wesentlichste überhaupt. Ich meine — u m es wiederum etwas überspitzt zu formulieren —, daß das reine Lehren, also der rein theoretische Vortrag (siehe Katheder und Publik u m oder Sprecher und Hörer), abzuschaffen ist, und zwar vom Kindergarten an bis zum letzten Stadium des Ausbildungsprozesses, das bei der berühmten A d u l t Education i n England bis i n die 70er Jahre läuft. Hier spielt natürlich hinein, daß das Technologische, d. h. die Revolution der Teaching Aids — Fernsehapparat, Sprachenlaboratorium, programmiertes Lernen —, das Unterrichtswesen völlig verändern wird. Man könnte fast sagen, daß der Mensch das, was er nicht praktisch lernt, künftig nur noch technologisch lernen w i r d und nicht durch die Vermittlung irgendeines lieben Freundes oder langweiligen Gesellen oben auf dem Katheder. Neben dem technologischen Teil des Unterrichtes spielt das Projekt eine große Rolle. I n einer Primary School i n England w i r d z. B. ein Unterricht über die normannische Zeit für die 6-, 7-, 8jährigen abgehalten. Man benutzt eine Zeitung, i n der i n sensationeller Weise Tag für Tag die Geschichte der Normannen erzählt wird. Ich habe einmal

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solch eine Zeitung i m Bus gelesen, ich sah bloß die Zeile: War breaks out! Und ich dachte: U m Gottes willen, was ist denn los? Und dann sah ich, daß es sich u m eine Geschichtszeitung handelte. Aber man las sie, denn sie war aufregend! I n dieser Schule w i r d i n den Unterricht über die Normannen auch Mathematik eingebaut; man baut ein Schiff, und dabei w i r d das mathematische Pensum dieser Altersgruppe bewältigt. Es ist allumfassendes Projekt, i n dem die einzelnen A u f gaben, die das K i n d lösen muß, praktisch an den Mann gebracht werden. A u f sehr viel höherer Stufe steht natürlich die Sussex-Universität, die eine Fakultät für europäische Studien hat. I n dieser Fakultät werden i m First-degree-Studium (erstes Studium, wenn man auf die Universität kommt) etwa die heutigen Wirtschaftsprobleme i n Europa behandelt, wie z. B. die Tatsache, daß der Ausstoß einer einzelnen Stahlfirma i n Europa u m soviel kleiner ist als i n Amerika, i n England u m soviel kleiner als i n Europa. Man beschäftigt sich m i t der Produktivität des einzelnen Arbeiters, der Verwaltung der Staatskörper, der Mehrwertsteuer. W i r haben vor einigen Jahren einmal diskutiert, ob w i r die Mehrwertsteuer auch bei uns einführen sollten, aber viele Leute haben das abgelehnt. Nach meiner Erfahrung auf dem Kontinent habe ich m i r jedoch immer gesagt: Wenn die Franzosen etwas erfunden haben und die Deutschen es nachmachen, dann muß es gut sein. Und heute w i r d i n unseren Wirtschaftskreisen die Mehrwertsteuer wieder als sehr wichtig empfunden. Sie w i r d wahrscheinlich nächstes Jahr eingeführt werden. Die Fakultät für europäische Studien beschäftigt sich auch m i t Geschichte, aber nicht mehr i n dem Ausmaß, wie es früher der Fall war. Geschichte soll dazu dienen, die augenblicklichen Probleme der europäischen Staaten, ihre Wirtschaft, Verwaltung besser zu verstehen. Auch die Schüler der Höheren Schulen lernen am Projekt. I n einer Schule i n Seven Oaks steht ein Zentrum für technische A k t i v i t ä t , geleitet von einem Skandinavier namens Gerd Sommerhoff. Hier handelt es sich u m ein Experiment i n einer Staatsschule. Jedes K i n d muß für ein Jahr einen Nachmittag pro Woche i n dieses Zentrum gehen und praktisch basteln. Hier haben die 13- bis 14jährigen z. B. radiokontrollierte Flugzeuge und Boote gebaut, sie haben einen Windtunnel, sie haben einen Tank, u m diese Dinge auszuprobieren; sie haben einen Computer hergestellt, sie haben Maschinen gebaut, die einem Licht folgen, usw. I n diesem Zentrum dürfen die Jugendlichen nach diesem Pflicht jähr auch außerhalb der Schule weiterbasteln. So haben sie also neben dem theoretischen Unterricht auch praktische Anleitung, die Projektarbeit. 6*

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Für die Sprachen haben w i r übrigens heute 750 Sprachenlaboratorien i n England und 15 000 Fernsehapparate i n den Schulen. Zusätzlich zu der Projektarbeit — die m. E. erst ein ganz blasser Anfang ist — kommt dann das, was w i r einen sandwich-course nennen, insbesondere bei den technologischen Universitäten. Es ist ein Studium, das während des Berufes absolviert wird, i n den frühen 20er Jahren etwa, sechs Monate oder ein paar Jahre lang, aber während dieses Studiums muß praktisch gearbeitet werden. Diese Einrichtung hat den Vorteil, daß man sehr viel früher i m Leben i n interessante Tätigkeiten und zu Verantwortung kommt. Es ist immer die Ironie des Krieges — ich habe es am eigenen Leibe erlebt —, daß man m i t 21, 22 Jahren als Offizier viele Menschen leitet und eine Verantwortung trägt, die i n diesem Alter i n Friedenszeiten gar nicht möglich ist. Und das ist i n der modernen Industriegesellschaft ein Manko ersten Grades. Man muß früh i n die Verantwortung gestellt werden, u m sein Bestes geben zu können und u m zu wissen, was man noch lernen möchte und lernen muß. Ich halte es einfach für notwendig, daß man nach der Schule, die eine Kombination von Theorie und Praxis sein muß, eine Zeitlang hauptsächlich praktisch arbeitet. Ob man nun Arbeitsdienst tut, beim Friedenscorps ist oder seiner Wehrpflicht genügt, das ist von sekundärer Bedeutung. Sicher ist es schön und richtig, wenn man positive Arbeit leistet, die man auch weiterentwickeln kann, aber das Wesentliche ist, daß man praktisch arbeitet, daß man Verantwortung trägt und daß man sich durch das Praktische so entwickelt, daß man für weitere theoretische Ausbildung aufnahmefähig wird. Es ist ein Unding, daß man i n Deutschland heute bis i n die 30er Jahre studieren kann, ohne etwas Praktisches getan zu haben; das dürfte m. E. durch keinen Pfennig Staatsgeld unterstützt werden. Ein schöner Teil der praktischen Ausbildung, insbesondere für die englischen Hausmütter, ist das System der au-pairs, nicht nur weil es hübsche Mädchen sind, die den Vätern der gastgebenden Familien den langweiligen Familienrahmen etwas auflockern, sondern auch w e i l diese au-pair-Mädchen, i n Westeuropa insbesondere, das einzig Richtige tun, u m eine Sprache zu erlernen, nämlich sie sich i m Lande selbst aneignen. Ich b i n der Meinung, daß das Erlernen einer Fremdsprache auf der Universität des eigenen Landes überhaupt nicht gestattet werden dürfte. Es dürfte z. B. keinen englischen Sprachunterricht an deutschen Universitäten geben. Die Studenten sollen an englische Universitäten kommen, ins englische Alltagsleben eintreten, u m Englisch zu lernen. Nebenbei können sie natürlich Universitätskurse oder Abendklassen usw. besuchen. Aber Englisch in Heidelberg lernen? Evtl. noch von deutschen Lehrern? Und dafür Staatsgelder opfern? Die au-pairs lernen Englisch auf englische Staats-

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kosten, das ist doch wirtschaftlich viel sinnvoller, vom deutschen Staatsbudget aus gesehen. Und wer zwei Sprachen lernen w i l l , der muß eben erst nach England und dann nach Frankreich gehen, wie das die au-pairs ja auch tatsächlich tun. Kein Fremdsprachenunterricht i m eigenen Lande nach der Absolvierung der Schule! Das ist eine der praktischen Konsequenzen des Begriffes Ausbildung. Dieser Begriff Ausbildung als Kombination von Theorie und Praxis beinhaltet einen Prozeß. Man kann nicht mehr sagen: Jetzt Schluß m i t der Bildung, jetzt kommt der Beruf! Diese Grenze gibt es nicht mehr. Das Ganze ist ein ständiger Fluß, mal mehr Praktikum, mal mehr Theorie, aber selbst i n der Theorie Praktikum, und selbst i m Praktikum Theorie, so wie es ja auch die Arbeitnehmer aus der engeren industriellen Ausbildung kennen. I n diesen Prozeß müssen natürlich durch Sozialisierung der Erziehung alle einbezogen werden. I n England haben w i r seit 1964 die Industrial Training Boards gesetzlich verankert. Sie sind ein typisch englischer Kompromiß zwischen Staats- und Verbandswesen. Es wurde ein unabhängiger Ausschuß gebildet, der drei Ziele verfolgt: 1.) Kostenverteilung zwischen den Firmen, die ein Training durchführen, und denen, die es nicht tun, und zwar organisiert nach bestimmten Industrien. 2.) Steigerung der Trainingsquantität und 3.) Steigerung der Trainingsqualität. Über Erfahrungen kann man heute noch nicht sprechen, aber es gibt bereits Industrial Training Boards für 8,5 Millionen Arbeitnehmer von Industrien, wie z.B. Wolle, Eisen und Stahl, Hoch- und Tiefbau, Engineering, Schiffsbau, Elektrizität, Gas, Wasser, Keramik, Glas, Möbel, synthetische Fasern, Teppiche und Strickwaren. Der Wool Board hat 1964 1,25 Millionen £ für Training ausgegeben plus 14 000 £ Staatszuschuß. Der Wool Board erhebt 1,5 v. H. der Lohnsumme von den einzelnen Firmen und verteilt dieses Geld an die, die ein Training durchführen, abzüglich der eigenen Kosten. Über verschiedene Institute des Staates und der regionalen Verwaltungen w i r d erreicht, daß Trainingsmöglichkeiten höherer Qualität und stärkeren Ausmaßes geschaffen werden, die allen Firmen zur Verfügung stehen. Man verspricht sich außerordentlich viel von dieser Neuerung. Zusätzlich zu der Lehrlingsausbildung der Firmen, zusätzlich zu den verschiedenen hier erwähnten Möglichkeiten, die weit über das normale Ausbildungsalter hinausführen, haben w i r dann noch das bekannte, außerordentlich fundierte A d u l t Education-System i n England. I n den Jahren 1963 und 1964 wurden dafür 130 Millionen £ (1430 Millionen DM) an öffentlichen M i t t e l n für laufende Ausgaben und 38 Millionen £ (418 Millionen DM) für Investitionen ausgegeben.

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Bestimmte Abteilungen unserer Universitäten befassen sich m i t dieser A d u l t Education. W i r haben ferner die sehr berühmte Workers' Educational Association. Man sagt, daß der Umschwung zur sozialistischen Regierung unmittelbar nach 1945 i n sehr großem Ausmaß auf dem Erfolg der tagtäglichen Kleinarbeit der A d u l t Education Association beruhte, die sehr stark bildete, und zwar i n sozialistischer Richtung, obwohl sie an sich unpolitisch ist. Dann gibt es eine ganze Reihe von nationalen Organisationen, wie z. B. die National Federation of Women Institutes (Frauenverbände), die einen pädagogischen Einfluß ausüben und die dafür auch Kommunalgelder bekommen. Der Staat veranstaltet rund 8000 Evening Instructions (Abendkurse); außerdem gibt es Kunstschulen usw. W i r haben Kommunalzentren für A d u l t Education, Dorf-Colleges, ein Jugendbildungswesen, das vom Staat subventioniert wird. 30 Residence Colleges dienen Wochenendkursen oder auch Wochenkursen und Jahreskursen, wie z. B. das berühmteste A d u l t Education College Ruskin i n Oxford, auf das man nur kommen kann, wenn man schon längere Zeit Arbeitnehmer i n der Industrie war. Man kann durch diese A d u l t Education auch Diplome erwerben, u m i m Beruf aufzusteigen oder den Beruf zu wechseln. Sehr nützlich für diesen erzieherischen Prozeß ist das englische Bibliothekswesen, das ganz durch öffentliche Gelder erhalten wird. Jedes Dorf hat eine Bibliothek, die kleinen Dörfer i n Form eines Busses, der wöchentlich vorbeikommt; aber jede etwas größere Stadt hat eine eigene Bibliothek, i n der man jedes Buch erhalten kann. Nicht, daß dort jedes Buch immittelbar vorhanden ist, aber Sie brauchen nur hineinzugehen und sagen: Ich möchte die chinesischen Werke von Soundso, oder ich möchte den Konfuzius, oder ich möchte Goethes Faust auf deutsch, und dann füllen Sie ein Ticket aus, das geht dann bis an ausländische Universitäten, wenn es sein muß. W i r hatten i n unserer Familie ein au-pair-Mädchen aus der Schweiz, das sich sehr für die Inkas interessierte. Ich betrachtete das zunächst immer als einen typischen Fall von verleiteter Bildung. Sie hat dann unsere Schreibmaschine benutzt, u m ein Buch über die Inkas abzuschreiben, das sie durch die B i bliothek unseres kleinen Ortes erhielt; man schaffte es aus einem anderen europäischen Staat herüber und gab es ihr unentgeltlich, bis sie es abgeschrieben hatte. Und dann zeigte sie mir, daß es keine reine Laune war, denn sie packte ihre Koffer und ging nach Peru, u m dort archäologisch zu arbeiten. A u f diese Tätigkeit hat sie sich mit Hilfe des unentgeltlichen englischen Bibliothekswesens vorbereitet. Ich komme nun zum Schluß. Ich möchte noch kurz skizzieren, was m i r als das Wesentlichste des gezielten Ausbildungsprozesses erscheint,

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und zwar an der Entwicklung der gebildeten Personen i n den westeuropäischen Staaten. Bis zum 5. Lebensjahr — ich glaube, es w i r d m i r keiner widersprechen — ist das Leben doch praktisch. Und ab 25 Jahren ist es dann auch wieder praktisch. Und dazwischen ist es leer. Sie sehen, worauf ich hinaus w i l l . W i r haben es hier m i t Extremen zu tun, nur Praxis oder nur Theorie. Es sollte aber, meine ich, i m Praktischen gelehrt und i m Theoretischen praktiziert werden, z. B. zwischen 5 und 15 Jahren durch Projektarbeit; zwischen 15 und 25 sollte das Praktikum überwiegen; von 25 bis 45, also i n den wesentlichsten Jahren i m Beruf, ist etwas Theorie nötig, und dann, wenn man älter wird, muß die Theorie zunehmen, damit man dem technischen Zeitalter gewachsen bleibt. Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassend sagen: Ich bin ein Gegner der reinen Bildung. Ich bin der Meinung, die Zeit ist heute falsch interpretiert, wenn man nur i m alten Sinne gebildet wird. Natürlich gehört Bildung dazu, u m das Leben richtig zu bewältigen, das ist selbstverständlich. Aber das rein humanistische Gymnasium, die rein humanistische Universität, die rein akademische Erziehung sind fehl am Platz. W i r brauchen einen gezielten Ausbildungsprozeß, gezielt aufs Leben, eine Kombination von Ausübung und Instruktion als einen ständigen Prozeß, der während des ganzen Lebens andauert und zu bestimmten Zeiten etwas mehr praktisch, zu anderen etwas mehr theoretisch ist. Zum Schluß ist man natürlich leicht versucht, zu sagen: Selbstverständlich, wenn w i r unsere Probleme gelöst haben, dann werden w i r wieder gebildete Humanisten werden. Aber ehrlicherweise kann ich das nicht! Ich glaube nicht, daß w i r wieder darauf zurückkommen! Ich glaube allerdings, daß w i r auf eine Zeit zusteuern — soweit w i r diese Zeit überhaupt überleben werden —, i n der dann wieder die Voraussetzung für eine echte K u l t u r gegeben ist, und das ist Muße. Besteht heute noch Muße i n echtem Sinn? Ohne diese Voraussetzung kann man aber nicht kultiviert leben. Und wenn man nicht kultiviert leben kann, wie kann man sich bilden? Aber wenn die Muße wiederkommt und man wieder selektiv arbeiten und leben kann, was ist dann der Inhalt von K u l t u r und Bildung? Ganz früher war es eine Religiosität, dann war es ein individueller Humanismus. Was w i r d es später sein? Meines Erachtens nicht das, was es war. Es w i r d sich organisch ergeben, man kann es nicht voraussagen. Vielleicht w i r d es eine A r t schöpferische Gemeinschaftlichkeit. Zunächst aber gilt es jetzt, die Probleme der Industriegesellschaft durch einen gezielten Ausbildungsprozeß zu bewältigen.

Die Bedeutung von Bildung und Ausbildung in Frankreich Von Prof. Dr. Pierre Grappin, Universität Paris-Nanterre I n Frankreich wie i n sämtlichen industrialisierten Ländern sind die Wirkungen der sozial-ökonomischen Wandlungen i m Bildungswesen seit einigen Jahrzehnten spürbar geworden. Vielleicht geschah das i n unserem Lande m i t einiger Verspätung gegenüber Ländern wie England und Deutschland. Denn i n Frankreich herrschte die Agrarwirtschaft länger vor als i n anderen Ländern. Als ich noch i n der Volksschule war, sagte uns der Lehrer, unser Vaterland sei ein wohlausgeglichenes Land, denn dort lebe über die Hälfte der Bevölkerung auf dem Lande. Die Produktionsverhältnisse seien derart, daß das Land sozusagen gegen allzu große und allzu schnelle Schwankungen gefeit sei. Unser Lehrer hielt eine solche Lage für sehr vorteilhaft, zumal i m Vergleich zu Nachbarländern wie England oder Deutschland. I n dieser Lage entwickelte sich i m Laufe des letzten Jahrhunderts ein Bildungswesen, das, auf einer humanistischen Tradition fußend, vor allem unabhängige, freiheitsliebende Staatsbürger aus Kindern des Mittelstandes heranbilden sollte. Für die Fachbildung interessierte man sich i n den französischen Bildungsanstalten wenig. Das ist nun allerdings i n den letzten Jahrzehnten anders geworden. Aber dennoch darf man sagen, daß der humanistische Einschlag i n unserer Bildung i n den allgemein verbreiteten mittleren und Höheren Schulen i n Frankreich noch sehr stark ist. Unser Bildungsideal, das Bildungsideal der meisten Franzosen, bleibt doch von diesem Humanismus stark bestimmt. A u f der anderen Seite kann man aber darauf hinweisen, daß zu Napoleons Zeiten schon die erste Ingenieurschule, die Ecole polytechnique, i n Frankreich gegründet wurde. Soweit ich weiß, kann sie als die erste Ingenieurschule moderner Prägung betrachtet werden. I n der fachmännischen Bildung von Ingenieuren war Frankreich zu dieser Zeit bahnbrechend. Die Ecole polytechnique besteht heute noch, sie steht an der Spitze unserer Ingenieurschulen, und zwar beinahe noch i n derselben Form wie zur Zeit ihrer Gründung. Sie ist aber keine Fachschule i m engeren Sinne; denn die polytechniciens, also die Schüler, die nach einer sehr schweren Eignungsprüfung auf diese Schule

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kommen, sind fast ausnahmslos Mathematiker. Und der Unterricht an der Schule ist auch ganz überwiegend mathematischer Art. Erst i n den letzten zwei Jahrzehnten hat man angefangen, andere Fächer stärker zu berücksichtigen. Seit etwa 10 Jahren bekommen die polytechniciens sogar literarische und geschichtliche Vorlesungen. Das war eine große Neuerung für eine Institution, die sich früher ausschließlich m i t Mathematik und den Nebenfächern Physik, Chemie usw. beschäftigt hat. Wenn jetzt Literatur und Geschichte sowie eine allgemeine Betrachtung über den Sinn der Geschichte eingeführt worden sind, so ist dies ein Zeichen dafür, daß auch hier ein Bedürfnis nach allgemeinerer Bildung bestanden hat. Die Frage, Fachbildung oder Allgemeinbildung, w i r d i n Frankreich auch heftig diskutiert. Was für junge Menschen sollen w i r heranbilden? Solche, die ein Gebiet vollkommen beherrschen, ein einziges möglichst eng abgestecktes Gebiet? Oder solche, die doch eine allgemeinere Bildung genossen haben? Sollen die angehenden Ingenieure z. B. neben ihrem Fachwissen auch etwas humanistische Bildung haben? Sollen auf der anderen Seite die Studenten der philosophischen Fakultät vor allem das pflegen, was w i r früher Rhetorik nannten, also die Fertigkeit, sich gut auszudrücken? Eines scheint m i r klar: I n der heutigen Welt braucht man eine sehr große Anzahl gut ausgebildeter Fachleute, Techniker. Das kann heute auch i n Frankreich kein vernünftiger Mensch bestreiten. Was i n Goethes Wanderjahren vor anderthalb Jahrhunderten prophezeit wurde, und zwar durch den Bergingenieur Montan, erwies sich als eine gute Vorhersage. Montan sagte: „Mach ein Organ aus D i r ! " Das war sein Losungswort i n Sachen Bildung und Erziehung. Und dieses Wort beherrscht auch unser Jahrhundert. Nicht zufällig ist das Wort Organisation zusammen m i t dem Wort Rationalisierung sozusagen das Motto sowohl der Produktion als auch der Verwaltung i n unserer Zeit. Und ganz gleich, auf welchem Posten er steht, i n der Produktion oder i n der Verwaltung und sogar i n der Schule, jeder fühlt sich heute doch als ein kleines Teilchen i m großen Räderwerk. Wenn w i r es unter diesem Gesichtspunkt betrachten, wäre das moderne Bildungsideal, dieses kleine Teilchen so zu formen, daß die ganze Maschine möglichst reibungslos läuft. Das heißt, die Leute so heranzubilden, daß sie sich leicht einbauen lassen. Jeder kann aus eigener Erfahrung eine ganze Menge von Beispielen anführen, die klar zeigen, wie die Spezialisierung der Bildung, des Wissens, des Unterrichts, der Erziehung sich immer weiter entwickelt. Ein kleines Beispiel aus meinem Fachgebiet: Es gab früher für die französische

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Literatur an der Universität i n Paris zwei ordentliche Professoren — heute sind es 12! Und der Zeitpunkt ist nahe, an welchem jeder Professor über seinen Lieblingsautor lesen wird. Das nenne ich jedoch eine Spezialisierung, sagen wir, eine Einengung des Wissens, der Erziehung, die keine positiven Folgen m i t sich bringen kann. Aber diese zunehmende Spezialisierung, die Vorherrschaft des FachmannTypus m i t all seinen Stärken, all seinen Ansprüchen können Sie i n Frankreich genauso gut wie i n irgendeinem anderen industriell entwickelten Land beobachten. Ein Mensch solcher Prägung empfindet aber über kurz oder lang einige Mängel, auch wenn er sich i m sozialen Gebilde gut einbauen läßt. Er empfindet sonderbarerweise einen Mangel an Mitteilungsmöglichkeiten; denn seine Bildung hat i h m i n der Regel die allgemeine Mitteilungsmöglichkeit kaum vermittelt. Deswegen ist i n den letzten Jahren bei uns immer wieder gefordert worden, daß eine Fachbildung auch allgemeinere Elemente erhalten soll. Wenn ich von Mitteilungsmöglichkeit spreche, dann meine ich das natürlich i m allgemeinsten Sinne. Ich glaube, daß ein reines Fachwissen eben diese Mitteilungsmöglichkeit nicht mit sich bringt. Dazu ein einfaches Beispiel: Ein Gespräch unter Fachkollegen kommt sehr selten über seine sehr engen Grenzen hinaus. Ins eigentliche Gespräch kommt man ab und zu, jedoch über andere Themen, dabei kann es sich sowohl u m Briefmarkensammeln als auch u m Politik handeln, aber kaum u m Fachthemen. Ich möchte hier die Behauptung wagen, daß dies auch für die Verhältnisse zwischen den Völkern gilt. Bei Völkern mit starken gemeinsamen Wirtschaftsinteressen bestehen auch nicht viele Möglichkeiten zu echten Gesprächen, wenn nicht die zur wirklichen A n näherung gehörenden anderen Elemente vorhanden sind. Aber das war nur eine Bemerkung am Rande. Was die Bildung junger Menschen betrifft, können w i r i n Frankreich heute feststellen, daß die natürlich unumgängliche Fachbildung eine Erweiterung erfordert, und zwar i n einem doppelten Sinne: einmal i n Richtung auf ein Grundwissen literarisch-künstlerischer A r t , welches ihnen ermöglicht, sich richtig, treffend, interessant auszudrükken. Letzten Endes spielt die Beherrschung wenigstens der Muttersprache, wenn schon nicht von Fremdsprachen, für die Ausdrucksmöglichkeiten und das Gesamtbild eines kultivierten Menschen doch eine grundlegende Rolle. Hier ist Fachausbildung allein zu wenig. Wenn i n der heutigen philosophischen Betrachtung die Forschungen über die Eigentümlichkeit der Sprache eine große Rolle spielen, so deshalb, glaube ich, w e i l eben solche Reflexionen über Ausdrucksmög-

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lichkeiten, über Sprache dem Wesen unserer Industriegesellschaft entsprechen; denn diese Gesellschaft sucht nach Ausdrucksmitteln, sowohl auf sprachlichem wie auf künstlerischem Gebiete. Die Formulierung des Empfundenen, des Gedachten, die Wiedergabe gewonnener Eindrücke bilden jedenfalls notwendige Elemente für einen modernen gebildeten Menschen. Und der Weg dahin führt eben über Studien, Übungen, die eher ins Literarische, Künstlerische hinausgehen als ins Technische. Wichtig ist aber auch eine andere Erweiterung, die mit der Kommunikation i m Gesellschaftsleben zu t u n hat. Es ist heute klar, sowohl i n Frankreich wie i n irgendeinem anderen industrialisierten Land, daß die fachmännisch ausgebildeten, von den Massenmedien mit bewegten Bildern aus aller Welt gefütterten jungen Menschen das Verhältnis zur Gemeinschaft, i m nationalen wie auch internationalen Sinne, nicht ohne weiteres finden. I n dieser Richtung gibt weder die humanistische noch die fachmännische Bildung das Nötige. Sozialpolitisches Wissen tut i n der heutigen Bildung not. I n Frankreich sind w i r i n diesem Punkte i n einer eigenartigen Lage gewesen. I n der Schule — von der Volksschule bis zur Universität — gibt es gar kein sozialpolitisches Fach, hat es nie eins gegeben. Und doch vermittelte uns unsere Schule früher, auch die Grund- und M i t telschule, politische Begriffe. Während meiner Schulzeit geschah das auf eine ganz eigenartige Weise, die Sie vielleicht verwundern wird. Ich denke da vor allem an meinen Lateinlehrer und an meinen Geschichtslehrer. Warum an den Lateinlehrer? Weil w i r es hier mit lateinischen Texten zu t u n hatten, die politischer A r t waren. Und beim Geschichtslehrer, nun, da ergab sich das von selbst. Die lateinischen Texte — das ist das Eigentümliche i n Frankreich — empfanden w i r nicht als fremd, und zwar aus einem geschichtlichen Grund: Die Denker und die Redner der Französischen Revolution arbeiteten nach lateinischem Muster. Die Republik, die i n Frankreich damals gegründet wurde, hatte etwas Lateinisches an sich, und w i r empfanden eine Kontinuität sozusagen von Cato bis i n unsere Zeit. Die Dritte Republik, i n der ich erzogen wurde, hatte eben auch noch diesen alten antiken Einschlag; die politischen Begriffe wurden uns auf einem heute vollkommen unmöglichen Wege vermittelt. Mein Sohn z. B. empfindet diese Kontinuität durchaus nicht mehr, einmal, w e i l der Unterricht sich geändert hat, und zum anderen natürlich, w e i l auch unsere Situation anders geworden ist. W i r haben also politischen Unterricht an sich nie gehabt. Die französischen Universitäten wehren sich dagegen, und doch empfinden w i r i n zunehmendem Maße das Bedürfnis nach diesem sozialpolitischen

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Grundwissen. Aber wie das vermittelt werden soll, diese Frage bleibt bei uns irgendwie i m Dunkeln, w i r d nie i n aller Deutlichkeit beantwortet. Deswegen zitiere ich hier einen deutschen Kollegen. Das Zitat entnehme ich dem Bericht über eine Sitzung des Oberaudorfer Kreises, den ich kürzlich bekam. Vor diesem Kreis sagte Prof. Brenner i m Oktober 1965: „Die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der neuesten Zeit, die Wandlung der sozialen Struktur der Gesellschaft, die veränderten Beziehungen der Völker zueinander verlangen zu ihrer Beherrschung durch die gebildeten Menschen nicht nur die berufliche Bildung der Fachleute; sie verlangen ein, wenn auch nur beschränktes Wissen aller Studenten u m die Wandlung sowie Einsicht und Verständnis für die neuen Positionen, i n denen sich Menschen und Völker i n der neuesten Zeit gegenüberstehen, und für deren Folgen i m Leben der einzelnen Persönlichkeit, der Volksgemeinschaft oder Völkerfamilie!" Und er fährt i m folgenden Absatz fort: „Diese weltweiten Veränderungen lassen die fachliche Ausrichtung der Universität auf Forschung und Lehre allein nicht mehr genügend erscheinen. Sie verlangen neben der fachlichen Lehre besondere Bildungsmethoden, und diese Bildungsaufgabe hat das Ziel, den Akademiker an ein persönlich verantwortungsbewußtes, urteilsfähiges Verhalten gegenüber der neuen Situation heranzuführen." Diese Sätze entsprechen ganz meiner Auffassung. A u f den französischen Schulen w i r d diese allgemeine sozialpolitische Bildung auf eine recht unsystematische Weise gegeben. Diese für meine Begriffe höchst wünschenswerte Allgemeinbildung aller Studierenden haben w i r bei weitem noch nicht. I n den Mittelschulen können die Geschichtslehrer einiges vermitteln i n der Form der sogenannten éducation civique — ein Begriff, der sich kaum ins Deutsche übertragen läßt. A u f den Universitäten geschieht i n dieser Richtung nichts. Alles bleibt den verschiedenen konfessionellen oder politischen Jugendverbänden überlassen. Ich gehöre aber zu den Hochschullehrern, die solche Informationen sozialpolitischer A r t sehr begrüßen würden. Ich meine, daß sowohl Schüler wie Studenten, überhaupt alle jungen Menschen, die nach Bildung streben, zu eigenständigen, gefestigten Persönlichkeiten erzogen werden sollten, die sowohl ihrer eigenen Volksgemeinschaft sozial verpflichtet sind, als auch i m internationalen Bereich verständnisvoll und tolerant wirken möchten. Sie sollten mindestens ein beschränktes Wissen von den gewandelten sozialen Strukturen, von den veränderten Beziehungen der Völker untereinander haben. Eine solche Bildung entspricht nicht nur den Erziehungsidealen einiger Lehrer, sondern auch den Interessen der Wirtschaft und der Verwaltung.

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Es ist m i r i n den letzten Jahren aufgefallen, wie oft z. B. Unternehmer sich an mich gewandt haben, u m Namen von jungen Menschen zu erfahren, die i n den Werken angestellt werden könnten, nicht als Fachleute, sondern zu mehr allgemeinen Positionen, die m i t Menschenführung zu t u n haben. Dazu reicht natürlich Bildung allein nicht aus. Aber die Unternehmer haben m i r gegenüber immer wieder betont, daß die beste Bildung für solche Positionen am ehesten die traditionelle sei, die man i n den philosophischen Fakultäten erwirbt. Es hat mich sehr beeindruckt, wie groß das Bedürfnis nach Zusammenarbeit zwischen Industrie und Universität ist, und zwar i n beiden Richtungen. Und diese Zusammenarbeit betrifft — ich muß das wiederholen — weniger die fachlichen Gebiete als das allgemein kulturelle. I n den letzten Monaten allein sind drei oder vier Unternehmer an mich herangetreten mit der Bitte, den Mangel an Allgemeinbildung bei ihrem Führungspersonal, ihren Ingenieuren zu beheben, sowohl i m Hinblick auf soziale als auch internationale politische Probleme. Es w i r d also jetzt bei uns offen anerkannt, daß Kurse oder Arbeitsgemeinschaften über solche Themen für diese neuartigen Gruppen gebildet werden müssen. Wer i n der Praxis steckt, möchte doch Gelegenheit haben, darüber nachzudenken, wie seine tägliche Arbeit sich i n einen größeren Bereich einbauen, i n andere größere Zusammenhänge eingliedern läßt. Er empfindet wahrscheinlich, jetzt zitiere ich Ihren Kultusminister Mikat, „wie sehr eine lange Beschäftigung m i t dem scheinbar Nutzlosen für die Führungsposition der Gesellschaft wichtig ist." I n Frankreich haben w i r i n den letzten Jahren einen neuen Begriff geprägt, ich kann Ihnen das passende deutsche Wort nicht sagen; w i r sprechen von „recyclage". Das bedeutet, daß ein Ingenieur, der z. B. i n einem chemischen Werk arbeitet, nach 6, 7 oder 10 Jahren praktischer Arbeit wieder i n ein Forschungsinstitut geschickt w i r d zu Bildungskursen von mehr oder minder langer Dauer, damit er auf den neuesten Stand des Wissens gebracht wird, also m i t seinem Schulwissen nicht mehr hinter der Forschung herhinkt. Diese recyclage beschränkt sich aber nicht auf die Fachbildung, sondern umfaßt auch allgemeine Bildung, nämlich sozialpolitische internationale Information. Auf uns alle, ob Fachleute oder nicht, stürmt doch tagtäglich eine solche Fülle von Informationen ein, daß w i r das Bedürfnis nach einer Reflexion empfinden, aber einer Reflexion i n einer ruhigeren Atmosphäre. Diese Möglichkeit bietet die recyclage. Hier möchte ich einen weiteren Gedanken anknüpfen: Das Verhältnis zwischen Bildung und Berufsarbeit sollte anders gestaltet werden. Die fachmännische Bildung erfordert immer mehr Jahre, immer mehr

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Mühe, w i r d jeden Tag komplizierter, und man hört, daß i n einigen Jahren keiner sein Studium unter 30 Jahren w i r d abschließen können. Das ist aber ein falscher Schluß, jedenfalls so wie ich die Dinge sehe; denn die wachsende Zeit, die für die persönliche und die fachliche Bildung benötigt wird, braucht nicht restlos i n die jungen Jahre zu fallen! Ausbildung und Bildung müssen nicht vor der Aufnahme einer Berufsarbeit beendet sein. Ich würde es jedenfalls für viel vernünftiger halten, wenn eine große Zahl junger Menschen mit einer nicht vollkommen abgeschlossenen Ausbildung i n eine berufliche Tätigkeit geht, sich darin bewährt und nach mehr oder weniger langen Jahren, je nach persönlichem Bedürfnis, von neuem die Möglichkeit bekommt, ihr Studium wiederaufzunehmen. Diese Verbindung von Bildung und Arbeit ist für mich jedenfalls ein Kennzeichen, ein Zug unserer Zeit. Schon heute und erst recht i n Zukunft darf man nicht mehr sagen: Erst kommt die Bildung und dann die Berufsarbeit. Denn die Dinge verändern sich so schnell, daß Bildung, Ausbildung und praktische Arbeit immer enger verbunden werden müssen. Dazu müssen Privatwirtschaft und Staat allerdings Verhältnisse schaffen, die eine Wiederaufnahme des Studiums ermöglichen. Ein junger Fachingenieur z.B., der von seinem Werk zur Wiederaufnahme des Studiums geschickt wird, darf das natürlich nicht an der Höhe seines Lohnes spüren. Hier müßten staatliche Maßnahmen einsetzen. Leider kenne ich bis dato keinen Staat, der an so etwas gedacht hat. Ich habe mich i n den Ausschüssen, die sich m i t der Neugestaltung des Bildungswesens bei uns befassen, immer wieder bemüht, einen solchen Standpunkt durchzusetzen. Ich meine, hier zeichnet sich eine Entwicklungslinie ab, die für die künftige Welt etwas Grundlegendes bedeutet. Vor allem muß auch den Arbeitern endlich die Möglichkeit gegeben werden, ihre Bildung zu verbessern und die Weiterbildung zu genießen, die für die moderne Welt nötig sein wird. B i l dung ist i n unserer Welt eine permanente Aufgabe; sie entspricht der technisch bedingten Mobilität unserer Gesellschaft. I n Frankreich ist man teilweise an solche Probleme herangegangen. W i r sprechen von „promotion des adultes". Seit etwa 10 Jahren bestehen bei uns einige Institute, die sich m i t einer solchen ständigen Weiterbildung befassen. Aber die Grundlage, auf der sie arbeiten, ist sehr beschränkt. Jemand sagte hier i n der letzten Diskussion, eine solche Lösung, daß einer gleichzeitig arbeitet und sich weiterbildet, gehe über das Leistungsvermögen des einzelnen. Ich glaube das auch. Das Problem kann nur dann gelöst werden, wenn bessere Bedingungen zur Weiterführung der Studien für junge Berufstätige geschaffen werden.

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U m noch ein Wort darüber zu sagen, i m heutigen Frankreich sind die Schulen i n der Entwicklung weitgehend hinter den Bildungsbedürfnissen zurückgeblieben. Diese Bedürfnisse sind i n den letzten 20 Jahren so stark gestiegen, daß unsere französischen Bildungsanstalten — ich glaube, man kann das offen sagen — auf kaum einem Gebiet der Bildung m i t der gesellschaftlichen Entwicklung der Nachkriegsjahre Schritt halten können. Die einzige Ausnahme bilden die Volksschulen, die i n der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und schon vorher so stark entwickelt worden sind, daß sie den heutigen Anforderungen genügen. Das gilt aber nicht für die Mittelschulen und Hochschulen aller Art. W i r befinden uns i m Moment mitten i n einer Schul- bzw. Hochschulreform. Die Franzosen waren bis jetzt ausgesprochene Verfechter der allgemeinen Bildung; die jetzige Reform legt den Akzent auf die Fachbildung. Ich persönlich halte das, wie Sie sich nach meinen Worten denken können, nicht für richtig; ich b i n überzeugt, daß das Bedürfnis nach einer besseren Allgemeinbildung i n wenigen Jahren wieder spürbar wird. Eine Schul- oder Hochschulreform sollte eher erst nach einigen Experimenten durchgeführt werden. Außerdem ist m i r vollkommen klar, daß die an der Schule heute gestellten Forderungen so groß sind, daß kaum ein Bildungssystem als hinreichend gut erscheinen wird. Man darf auch — und das muß einen jeden Redner auf diesem Gebiet bescheiden machen — eine Tatsache nicht übersehen, die alle anderen Probleme i n den Schatten stellt, das ist der enorme Zuwachs an jungen Menschen, die nach mehr Bildung verlangen. Dieser Zuwachs ist so groß, daß man nicht weiß, wie man damit fertig werden soll. N u r eine Zahl dazu: Es gibt heute an den französischen Universitäten rund 360 000 Studierende. I m Jahre 1938, also i m letzten „normalen" Vorkriegsjahr, hatten w i r auf sämtlichen Mittelschulen — auf Gymnasien, Realschulen, Berufsschulen der mittleren Sparte, auf allen Schulen also zwischen Volksschule und Universität — nicht einmal eine so große Zahl von Schülern. A l l e i n dieser Vergleich zeigt, i n welcher Entwicklung der Bildungsverhältnisse w i r uns befinden. Und es kann also keinen Wunder nehmen, wenn man von einer Krise der Schule spricht. W i r erleben hier eine Mutation, und zwar eine grundlegende, die Wandlung vom alten Schulbetrieb zum Massenunterricht. Eine solche Mutation kann weder mühelos noch reibungslos vor sich gehen. Zusammenfassend möchte ich sagen, daß i n Frankreich auch die fachmännische Ausbildung i n den letzten Jahrzehnten besonders betont worden ist und weiter gefördert wird, daß heute aber der Drang nach allgemeiner Bildung wächst. Diese Bildung, die Bildung zum

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Menschen des 20. Jahrhunderts, ist auch Aufgabe der beruflichen Erzieher. Sie soll aber i n einer möglichst offenen Form geschehen. Die jungen Menschen müssen die Überzeugung gewinnen, daß der Mensch i n der technisch entwickelten Gesellschaft zwar über immer mehr M i t t e l zu seiner persönlichen Entwicklung verfügt, von denen er auch Gebrauch machen darf, daß er auf der anderen Seite jedoch ebenso ein Gefühl für die Solidarität aller Menschen i n dieser Gesellschaft entwickeln muß.

Bildungsprobleme in Österreich Von Nationalrat Dr. K a r l Kummer, Wien

A u f der ganzen Welt werden immer mehr Anforderungen an den einzelnen Menschen gestellt, die von i h m mehr Leistung, aber auch mehr Bildung sowohl i m allgemeinen als i m besonderen, i n fachlicher Hinsicht verlangen. U m die Bildungsprobleme i n Österreich zu verstehen, ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß diese für uns besonders schwierig sind. Der Restbestand eines großen Reiches hat noch immer nicht die Vergangenheit, schon gar nicht die Folgen zweier Weltkriege zu überwinden vermocht. Dazu kommt noch, daß zwischen den beiden Weltkriegen Österreich besonders von innerpolitischen Schwierigkeiten ergriffen wurde, die letzten Endes zu dem unglückseligen Bruderkrieg von 1934 führten. Der Nachholbedarf i n unserem Lande ist daher besonders groß, aber auch besonderer A r t und bedarf besonderer Anstrengungen, u m i h n zu überwinden. Das Leben i n unserer Industriegesellschaft w i r d immer komplizierter und verlangt daher, wie ich bereits betont habe, von jedem Menschen mehr Allgemeinbildung und bessere Fachausbildung. Die zur Erhaltung und Steigerung des Lebensstandards notwendige Produktionsausweitung erzwingt eine wachsende Technisierung und Automatisierung. U m die erforderlichen Maschinen und Apparate erfinden, erzeugen, einsetzen und i n Betrieb halten zu können, ist eine immer größer werdende Zahl von hochgebildeten Fachleuten Voraussetzung. Der Generalsekretär der I . A . , Morse, hat bereits vor Jahren darauf hingewiesen, daß die Automation immer mehr Fachleute und weniger Hilfsarbeiter verlangen wird. Auch der wirtschaftliche Konkurrenzkampf auf den Weltmärkten w i r d m i t geistigen Waffen geführt und immer mehr durch Erfolge der Wissenschaft und Forschung entschieden. Aber nicht nur die Wirtschaft erfordert mehr und höher gebildete Mitarbeiter, auch der Bürger eines demokratisch regierten Staates braucht höhere Bildung, u m trotz der zunehmenden Kompliziertheit des sozialen und politischen Lebens und der wachsenden Abhängigkeit aller Lebensbereiche von politischen Entscheidungen nach eigener Ein7*

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sieht aktiv und mitbestimmend am politischen Leben Anteil nehmen zu können. Das von m i r geleitete Institut für Sozialpolitik und Sozialreform i n Wien hat daher i n Erkenntnis der Situation auf dem Gebiete der B i l dung bei seiner 12. Wiener Sozialen Woche i m Herbst vergangenen Jahres das Thema „Die Bedeutung der Bildung i n der industriellen Gesellschaft der Gegenwart" zur Diskussion gestellt. Ich möchte vorausschicken, daß sich das Bundesministerium für Unterricht — w i r haben ja, zum Unterschied der Bundesrepublik Deutschland, ein zentrales Unterrichtsministerium — i n Österreich der schwierigen Aufgabe unterzogen hat, i m Jahre 1965 erstmalig einen Bildungsbericht herauszugeben. I n allerletzter Zeit wurden vom OECD-Planungsbüro des Bundesministeriums für Unterricht sehr umfangreiche Erhebungen und Untersuchungen durchgeführt, die i n einem umfassenden Bericht alle jene Gebiete der Bildung umfassen, die erforscht w u r den und die vor allem den Bedarf an Bildungseinrichtungen bis 1975 aufzeigen. Das Wesentliche dieses OECD-Berichtes ist die Erziehungsplanung und das Wirtschaftswachstum i n Österreich. A u f der von m i r erwähnten Tagung bezeichnete der Referent des Themas „Die Bildung als Faktor des Wirtschaftswachstums", Prof. Hans Seidel vom Wirtschaftsforschungsinstitut i n Wien, die Bildungsökonom i k als einen neuen Zweig der Nationalökonomie. Vor allem aber erhielt die Bildungsökonomik von der Wachstumstheorie her starke Impulse. Unter Ausbildung w i r d i n diesem Zusammenhang die Vermittlung und der Erwerb jeder A r t von Wissen und Fertigkeit verstanden, die i m Berufsleben nutzbringend verwertet werden können. Dazu gehören nicht nur besondere Berufskenntnisse, sondern auch A l l gemeinwissen sowie die Fähigkeit, logisch denken und komplexe Situationen erfassen zu können. Von der herkömmlichen Auffassung ausgehend, daß die Einsatzmengen der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, einschließlich des Bodens, den Umfang der Produktion bestimmen, wurde mit den Hilfsmitteln der mathematischen Statistik zu quantifizieren versucht, welchen A n t e i l diese Produktionsfaktoren am Wirtschaftswachstum der einzelnen Länder i n bestimmten Perioden hatten. Fast alle diese Untersuchungen ergaben, daß die rein mengenmäßige Vermehrung von Arbeit und Kapital nur einen Teil, und zwar nur einen kleinen Teil, des Wirtschaftswachstums zu erklären vermag. I n vielen Ländern blieben etwa zwei D r i t t e l der Wachstumsrate des Brutto-Nationalproduktes ungeklärt. Man hat zunächst für die Restgröße die wenig aussagende Bezeichnung „technischer Fortschritt" gewählt und hat angenommen, daß dieser technische Fortschritt eben m i t einer konstanten jährlichen Rate wächst. Doch i m Laufe der Zeit setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch, daß diese Restgröße

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auf die Qualität der Arbeit, damit der Arbeitskräfte und damit auf Fähigkeiten und soziale Verwaltungsweisen zurückzuführen ist, die ihrerseits wiederum durch Schulung und Erziehung bestimmt werden. Ich glaube, daß dies eine sehr wesentliche Erkenntnis ist, daß die B i l dung selbst heute zu den Produktionsfaktoren gehört. Eine weitere Erkenntnis hat sich auch bei uns immer mehr durchgesetzt. Soll die Demokratie richtig funktionieren — und gerade w i r Österreicher können über dieses Kapitel sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der unmittelbaren Gegenwart ein Lied singen —, so ist dazu notwendig die politische Bildung des Volkes, denn — auch dies wurde auf der bereits genannten Tagung bereits festgestellt — Demokratisierung des Staates und Bildung bedingen einander. Daher w i r d bereits m i t aller Intensität an einigen Fakultäten unserer Hochschulen Politik als Wissenschaft gelehrt, was an Ihren Hochschulen schon längere Zeit der Fall ist. Ich muß eingestehen, daß diesbezüglich noch sehr viel i n Österreich fehlt. Österreich gehört zu jenen Ländern, die sich zwar für die demokratische Regierungsform entschieden haben, aber die dazu gehörige notwendige politische Erziehung nicht m i t eingeführt haben, m i t Ausnahme einiger Ansätze, die ich bereits angedeutet habe. Es würde i n diesem Zusammenhang zu weit führen, auf ein konkretes Ordnungskonzept Österreichs einzugehen, da, wie ich glaube, jedes Land für sich gerade dieses Konzept erarbeiten muß. Ich w i l l mich vielleicht nur noch am Rande als Politiker damit auseinandersetzen, welche Fähigkeiten die Männer auszeichnen sollen, die Politik betreiben. Sie müssen vor allem über das Wissen verfügen, das der Beruf der Politik erfordert. Dazu gehört Kenntnis der Naturordnung i n den wesentlichen Zügen und geistiges Format. Dazu gehört aber auch das Fachwissen für den Bereich, i n dem der Politiker die geistige Ordnung i n die politische umsetzen muß. Nicht minder wichtig ist ein gewisser Stand sittlichen Charakters des Politikers, der i h n zum reifen Menschen macht, denn nur dieser kann die öffentlichen Belange so wahrnehmen, wie es das allgemeine Wohl erfordert. Es müßte über die politische Bildung — und nicht nur über die des Politikers, sondern des Wählers, des ganzen Volkes — i n diesem Zusammenhang noch sehr viel ausgesagt werden, doch ist es nicht meine Aufgabe, grundsätzlich zu diesen Fragen Stellung zu nehmen, sondern nur insofern, als sie Österreich betreffen. Es ist, glaube ich, keine Frage, daß die industrielle Gesellschaft von heute ein Bildungsdefizit aufweist. Auch für Österreich muß ein solches festgestellt werden. W i r müssen von dem Grundsatz ausgehen, daß jeder Mensch das Recht auf Bildung hat, denn durch sie w i r d er geistig geprägt und persönlich bereichert. Bildung und Ausbildung, Wissen

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und Fertigkeiten zählen zu den wichtigsten Voraussetzungen des sozialen Fortschrittes und damit des sozialen Aufstieges, eines vermehrten Sozialprestiges und damit einer freien Entfaltung. Nach der Friedensenzyklika Papst Johannes X X I I I . , PACEM I N TERRIS, „steht es den Menschen kraft des Naturrechtes zu, an der geistigen Bildung teilzuhaben." Sie haben daher auch einen Anspruch, sowohl eine Allgemeinbildung als auch eine Fach- und Berufsausbildung zu empfangen, wie es der Entwicklungsstufe des jeweiligen Staatswesens entspricht. N u n zum Konkreten. I n Österreich sind die nach A r t . 4 Abs. 6 unserer Bundesverfassung von Gemeinden, von Ländern und vom Bund erhaltenen allgemeinen und berufsbildenden Schulen jedermann zugänglich. Auch die Hochschulen, deren Besuch i n vielen anderen Ländern eher als ein verpflichtendes Privileg denn als generelles Recht betrachtet wird, stehen jenen offen, die an einer dazu qualifizierten Höheren Schule die Reifeprüfung abgelegt haben. Einen Numerus clausus i n den Schüler- und Hörerzahlen gibt es nicht. Für die öffentlichen Schulen besteht Schulgeldfreiheit; der Besuch der Hochschulen, deren Studiengebühren i m internationalen Vergleich überaus niedrig sind, w i r d den sozialbedürftigen Studierenden, die einen günstigen Studienerfolg nachweisen können, seit 1963 durch die Gewährung staatlicher Studienbeihilfen noch bedeutend erleichtert. W i r kennen sogar einen Rechtsanspruch auf Studienbeihilfen, der sich allerdings praktisch kaum ausgewirkt hat. Trotzdem müssen w i r feststellen, daß Kinder aus bäuerlichen und Arbeiterkreisen, obwohl Voraussetzungen und Chancen gleich hoch sind, unter den Besuchern der übrigen Schüler und Hörer viel zu schwach vertreten sind. Das elterliche Milieu spielt, nach Untersuchungen von Prof. Rosenmayr, eine große Rolle, obwohl einseitige Privilegien, Stände und Klassen beseitigt sind. I n kultureller und bildungsmäßiger Hinsicht ist noch eine gestufte Sozialstruktur aufrechterhalten geblieben. Dem versucht man vor allem durch eindringliche Bildungswerbung und Elternberatung zu begegnen, aber auch durch den Neubau von Schulen und Internaten, durch bessere Verkehrsbedingungen und durch Vergabe von Stipendien, auch an Lehrlinge und an Mittelschüler. Die Gesellschaft des industriellen Zeitalters stellt an das Bildungsund Ausbildungswesen i n qualitativer und quantitativer Hinsicht immer höhere Ansprüche, denn der Bildungsstand der Bevölkerung ist eine der Grundlagen für ihre Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten und damit die Grundlage der modernen Gesellschaft überhaupt. Daher ist i n allen Ländern i n den letzten Jahren der Bedarf an wissenschaftlich ausgebildeten Fachkräften, insbesondere an Naturwissenschaftlern, an Technikern, sprunghaft angestiegen. I n der Zeit von 1951 bis 1961 ist die Zahl der wissenschaftlich ausgebildeten Fachkräfte, insbesondere

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der Techniker, u m 44 v. H. gestiegen. Während i n der gleichen Zeit die Anzahl der i n Wirtschaft und Verwaltung beschäftigten Akademiker, wie aus dem bereits erwähnten OECD-Bericht hervorgeht, nicht erheblich gestiegen, die Zahl der Diplomingenieure sogar zurückgegangen ist. Es stagniert die Entwicklung auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Forschung. Es fehlt an langfristiger Planung und Vorbereitung, zu der auch Forschung und Entwicklung gehören. Erst dieser Tage wurde dies i m Parlament festgestellt. Es ist des öfteren bereits i n Österreich versucht worden, einen Forschungsrat gesetzlich zu etablieren, doch ist es bisher zu einem Gesetz deshalb nicht gekommen, weil immer wieder die Gefahr bestand, daß auch die wissenschaftliche Forschung nach dem bisherigen Koalitionssystem i n Österreich nach einem Proporz orientiert würde, der ihr nur schaden könnte. Gott sei Dank gibt das eben dieser Tage i n Österreich beschlossene Budget 1966 der Bildung, der Wissenschaft und dem Unterricht den Vorrang, i n der bisherigen Budget-Geschichte der Zweiten Republik erstmalig. Die Ansätze für die Forschung i m Budget wurden beachtlich erhöht und kommen vielfach auch indirekt der Forschung zugute. Ich nehme an, daß auch i n nächster Zeit eine gesetzliche Regelung der Forschungsförderung Platz greifen wird. Eine gesetzliche Regelung muß aber langfristig sein, w e i l die Verteilung solcher Budgetmittel eines geregelten Verfahrens bedarf. Es besteht i n Österreich derzeit ein, wenn Sie wollen, illegaler Forschungsrat, der nur von Wissenschaftlern besetzt ist. I n der letzten Zeit wurde auch ein sogenanntes parlamentarisch-wissenschaftliches Gespräch eingeführt, das die parlamentarische Arbeit befruchten soll, wie das i n England gang und gäbe ist. W i r vertreten i n Österreich den Standpunkt, daß sich gerade die Forschung und damit die Lehr- und Lernfreiheit aus jeder Parteipolitik heraushalten muß, denn die Freiheit der Wissenschaft und Forschung ist für alle eine Existenzfrage. Die Forschungsförderung muß sich auch zum Grundsatz der Projektförderung bekennen, und es muß die Anregung für bestimmte Forschungsprojekte aus den interessierten Kreisen der Wissenschaft und Forschung selbst kommen. Abzulehnen wäre auch ein schädlicher Zentralismus. Wie auf allen Gebieten macht sich auch i n der Wissenschaft eine starke Spezialisierung bemerkbar. Waren früher einmal die Gelehrtenstube und die Universität die einzigen Pflegestätten der Forschung, so gibt es heute eine große Zahl von Instituten außerhalb der Schulen, die sich m i t Forschung befassen. Es sind dies vor allem die kooperativen Forschungsinstitute. Ob eine Teilung etwa der Forschungsarbeit auf den Hochschulen und i n der Industrie und Landwirtschaft sinnvoll ist, w i l l ich dahingestellt sein lassen; die Meinungen gehen darüber jedenfalls auseinander. Die Gliederung nach Grundlagenforschung und

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angewandter Forschung ist unbrauchbar, weil zweifellos diese Forschungsarten miteinander verflochten sind. Viele sprechen einer Differenzierung zwischen der Hochschulforschung und der i m Bereich der Wirtschaft und Landwirtschaft das Wort. Ich bin nicht dieser Auffassung, weil ich glaube, daß eine weitgehende Verzahnung dieser zwei Bereiche auch sinnvoll wäre, u m eine gegenseitige Befruchtung herbeizuführen. Eine Teilung dieser Bereiche würde daher dazu führen, daß neben den rein wissenschaftlichen Erkenntnissen auch noch anderes an Bedeutung gewinnen würde. Ob dies der Wissenschaft dienlich ist, mag, wie gesagt, dahingestellt bleiben. I n kurzer Zeit w i r d auch i n Österreich ein Gesetz i n K r a f t treten, das die Forschung auch von steuerlicher Seite insofern begünstigt, als Spenden an wissenschaftliche Institute als Abzugsposten gelten; denn es ist notwendig, daß auch die W i r t schaft speziell zur Finanzierung der Forschung beiträgt. Es ist anzunehmen, daß m i t einer solchen steuerlichen Begünstigung auch die Forschungsfreudigkeit der Wirtschaft wächst. Wirtschaft und Verwaltung bedienen sich i n Österreich des noch vorhandenen Potentials an gut ausgebildeten Kräften i n unzureichendem Maße. Sie bieten zu wenig attraktive Aufgaben und zu geringe Aufstiegschancen. Insgesamt gesehen, beträgt der Aufwand für Forschung und Entwicklung i n Österreich derzeit nur etwa 0,3 v. H. des Brutto-Nationalproduktes, während er i n der Bundesrepublik Deutschland 1,9 v. H., i n der Schweiz 1,4 v. H., i n Frankreich 1,5 v. H., i n Schweden 1,6 v. H. und i n Großbritannien und i n den Vereinigten Staaten sogar 4 v. H. beträgt; i n diesen Ländern liegen diese Sätze vielleicht heute noch höher. Es wundert uns daher nicht, wenn gerade jüngere und tatkräftige Wissenschaftler ins Ausland gehen. Gerade i n der Bundesrepublik sind viele Österreicher beschäftigt. Es wurde bei uns schon seit langem darüber Klage geführt, daß w i r m i t großer Mühe und Aufwand Akademiker ausbilden und sie dann ins Ausland ziehen lassen. Nach Schätzungen, die teils von Verbänden, teils von öffentlich-rechtlichen Körperschaften angestellt wurden, bleibt die Zahl der i n Österreich i n Forschung und Entwicklung beschäftigten rund 2000 Wissenschaftler und Techniker weit hinter der Zahl der i m Ausland auf diesem Gebiete arbeitenden Österreicher zurück. I n der Erkenntnis, was uns droht, sind w i r bestrebt, die internationale Konkurrenz auch auf den Gebieten der Wissenschaft, Forschung und Entwicklung zu bestehen, und werden den fachlich und intellektuell hochgeschulten Kräften i n weit höherem Maße als bisher zukunftsträchtige Forschungs- und Entwicklungsaufgaben stellen müssen. Für die 70er Jahre, die von schwachen Geburtsjahrgängen beherrscht sind, ergibt sich nach dem OECD-Bericht i m Vergleich der Anzahl der aus den Hochschulen Österreichs voraussichtlich hervorgehenden Akademiker m i t dem bis dahin gestiegenen Bedarf ein

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Defizit von mehreren tausend. Die paradoxe Situation ist also die, daß i n Österreich die Gesellschaft ihren latenten Bedarf an der das Wirtschaftswachstum fördernden Arbeit wissenschaftlich praktizierender Kräfte nicht wahrgenommen hat zu einer Zeit, da er noch durch Eindämmung der Emigration — wenigstens zum Teil — gedeckt werden konnte und eine gewisse Vorsorge für die Zukunft hätte getroffen werden können. Aber die Dämmerung beginnt bereits dem hellen Tag zu weichen. Dies zeigt das eben beschlossene Budget, und das zeigen der bereits erwähnte Bildungsbericht des Unterrichtsministeriums für 1965 und das äußerst umfangreiche OECD-Konzept, das, wie bereits gesagt, bis i n das Jahr 1975 vorausgreift. Damit ist zunächst die Absicht ausgesprochen, i n Zeitabständen dem Bildungsdefizit durch analytische Unterlagen und Konzepte zu steuern. Dazu kommt, daß w i r das 9. Schuljahr eingeführt haben, das m i t September dieses Jahres bereits einsetzen soll. W i r haben dieses 9. Schuljahr den Polytechnischen Jahrgang genannt; es ist eine heue Schulart des allgemeinbildenden Pflichtschulwesens. Hierzu möchte ich noch einiges zur Erläuterung sagen. Dieses 9. Schuljahr ist nicht, wie ursprünglich gedacht, als allgemeinbildendes Schuljahr einzuschalten, sondern soll der künftigen Erlernung eines Berufes dienen. Es ist also als berufsbildend anzusehen. Diese Schulen sind bestimmt, jene Schüler aufzunehmen, die i m 9. Jahr der allgemeinen Schulpflicht nicht i n weiterführende Schulen, sondern i n das Berufsleben eintreten wollen. Das Bundesministerium für Unterricht hat sehr weitgehende und umfangreiche Vorbereitungen getroffen, wie es nötig war. Trotzdem geraten w i r bei der praktischen Verwirklichung dieses 9. Schuljahres i n erhebliche Schwierigkeiten, die bis zur Stunde noch nicht behoben sind, und zwar aus Mangel an Schulgebäuden und an Lehrern. Über die Lehrervorsorge fehlen noch genaue Unterlagen, da nicht endgültig klargestellt ist, wie hoch die Zahl der am 1. 9.1966 tatsächlich zur Verfügung stehenden Junglehrer sein wird. Da zu diesem Zeitpunkt freiwerdende Berufsschullehrer zur Verfügung stehen werden, und zwar wegen Ausfall eines Berufsschuljahres, ist mit einer gewissen Entlastung zu rechnen, denn es kommen ja dieses Jahr keine Lehrlinge i n die Berufsschulen. So werden hier also einige Lehrer frei, deren Zahl jetzt noch nicht festgestellt werden kann. A u f 20 000 bis 22 000 Schüler der Polytechnischen Lehrgänge kommen 1000 Lehrer i m engeren Sinne. Es ist aber m i t 40 000 bis 45 000 Schülern zu rechnen. I n den Städten, namentlich i n Wien, spielt diese Frage weniger eine Rolle, wohl aber auf dem Lande. Dazu kommt, daß die Unterschiede sehr weitgehend sind. I m allgemeinen können w i r feststellen, daß i n Österreich die Schulpflicht v o l l erfüllt wird. Allerdings sind von 4375 Volksschulen nur 584 v o l l organisiert, d. h. daß die Schü-

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ler jedes Jahrgangs eine eigene Klasse bilden. Es gibt neben diesen vierklassigen Schulen noch 892 einklassige, 903 zweiklassige, 619 dreiklassige und 1377 Volksschulen m i t 4 und mehr Klassen für 8 Schuljahre. Ich bitte zu beachten, daß das hauptsächlich unsere Bundesländer, vor allem die Gebirgstäler betrifft, wo also die Klassen konzentriert werden müssen. Trotzdem ist die Bildungschance keine schlechte, und w i r können m i t einiger Genugtuung feststellen, daß w i r i n Österreich doch eine Bildungsgesellschaft haben. Dies geht daraus hervor, daß aus einklassigen Volksschulen begabte Kinder m i t Erfolg i n Höhere Schulen übertreten, w e i l der Lehrer über eine ausgezeichnete Methode verfügte. Aber nicht nur der quantitative Ausbau der allgemeinbildenden Höheren Schulen ist ein Problem, das zur Lösung drängt; auch die geistige Entwicklung des Inhalts und inneren Umfangs einer höheren Allgemeinbildung, und damit der Lehrplan, die Stundenzahl, sowie die Unterrichtsgestaltung sind Fragen, die auch an unseren allgemeinbildenden Höheren Schulen einen neuen Lehrplan, eine Neuregelung der Vorschriften für Prüfung und Klassifizierung und eine neue Dienstpragmatik für den Lehrerstand erfordern. Uns ist bewußt, daß w i r großen Schwierigkeiten gegenüberstehen. Die Formen unserer früheren Mittelschulen beruhen auf den genialen Entwürfen der Begründer des österreichischen humanistischen Gymnasiums. Meine Damen und Herren, w i r i n Österreich können uns einfach von dieser klassischen Form der Mittelschule nicht trennen, wenn es auch notwendig geworden ist. I m Laufe der Entwicklung kamen andere Typen der Mittelschulen dazu. Es werden auch diese Mittelschultypen einer Umformung bedürfen. Die Erfahrung zeigt, daß ein Teil der Schüler, die die allgemeinbildenden Schulen besuchen, nicht die Absicht haben, das Studium an einer Universität oder anderen Hochschulen fortzusetzen. Sie streben einen B-Posten i n einer staatlichen Dienststelle oder eine gehobene Stellung i n Handel und Wirtschaft an. Ihnen könnte man vielleicht ein 9. oder sogar ein 8. Gymnasialjahr ersparen und eine Bescheinigung über die Ablegung einer kleinen Reifeprüfung aushändigen. Damit gäbe es einerseits auch für weniger Begabte, die durch Fleiß und Nachhilfe i n die Oberstufe gekommen sind, eine Möglichkeit, einen Schulabschluß zu erhalten, und andererseits bliebe der Hochschule mancher Student erspart, der eine Reifeprüfung nur m i t letzter Mühe und unter Anwendung äußerster Milderungsgründe erreicht hat. Nochmals zu unseren Hochschulen zurück. Der Nachholbedarf ist ein ungeheuer großer. Die Zahl der Hörer an unseren Hochschulen ist i n den letzten 10 Jahren, also von 1956 bis 1966, sprunghaft angestiegen. I m folgenden einige Zahlen. I m Wintersemester 1955/56 waren es 19 486 Hörer, i m Wintersemester 1960/61 bereits 39 028, und

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diese Zahl ist 1964/65 auf 48 813 gestiegen. Not besteht vor allem an Schulraum, an Lehrmitteln, an der Ausgestaltung der Laboratorien, an Professoren, Assistenten und wissenschaftlichen Hilfskräften. Der Ausbau des Hochschulwesens hält m i t der Vermehrung der Studentenzahl auch nicht annähernd Schritt. Während i m Zeitraum von 1955/56 bis 1963/64 die Anzahl der Studierenden u m rund 150 v. H. zunahm, konnte das Lehrpersonal u m nur 13 v. H., das wissenschaftliche Personal u m 22 v. H. vermehrt werden. Das Verhältnis zwischen der Zahl der inskribierten ordentlichen Hörer und der Zahl der ordentlichen und außerordentlichen Professoren beträgt z. B. an der Universität Wien 47:113, das Verhältnis der Studierenden zu den Assistenten und wissenschaftlichen Hilfskräften ist 10:25. I n beiden Fällen verschlechterte es sich also u m das Zweieinhalbfache. Die Betreuung der Studierenden, die für ein rasches, rationelles und erfolgreiches Studium von ausschlaggebender Bedeutung ist, w i r d immer schwieriger. Es ist einfach weder den Professoren noch den Assistenten möglich, sich dieser großen Zahl von Studierenden persönlich anzunehmen. Dazu kommt noch, daß die i m Staatshaushalt vorgesehenen Planposten für Lehrkanzeln nicht v o l l besetzt werden können. So sind z. B. i n Wien von 179 Lehrkanzeln nur 143 besetzt, somit 36 unbesetzt. Das zieht sich fast durch sämtliche Hochschulen Österreichs, so daß 119 Lehrstühle unbesetzt sind. Eine Besserung ist gegenüber früher insofern eingetreten, als noch 1954 von 429 Lehrkanzeln 112 unbesetzt geblieben sind. Auch die Anzahl der Hochschulen ist i n Österreich i n den letzten Jahren gestiegen. So kam zu den bereits bestehenden Universitäten eine i n Salzburg, und demnächst w i r d i n Linz ein neuer Typus einer Hochschule errichtet, nämlich für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Nach dem bereits des öfteren erwähnten OECD-Bericht ist der Bedarf i n den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern am größten, an zweiter Stelle bei den Philosophen, an dritter Stelle bei den Medizinern; nur bei der juristischen Fakultät bestehen günstige Verhältnisse. Für die nächste Zeit ist eine Novellierung des Studienbeihilfegesetzes geplant, u m den seit 1963 geänderten Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen. Dem Ansteigen der Hörerschaft zufolge muß auch dem Bau von Studentenheimen Rechnung getragen werden. Nach einer neuesten Untersuchung sind an den Hochschulstädten 4693 Heimplätze für männliche und 864 für weibliche Studierende vorhanden. Der zusätzliche Bedarf beträgt für männliche 6255 und für weibliche 2096. Es stehen also insgesamt 5557 Heimplätze zur Verfügung, wovon 4728 für Inländer und 829 für Ausländer bestimmt sind. Es geht daraus hervor, daß besonders für die weibliche Jugend vorgesorgt werden muß, aber auch für die Ausländer. Bedenken Sie, daß

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bei uns i n Österreich das Ausländerproblem eine große Rolle spielt. A n der Universität Innsbruck, namentlich aber i n Wien und i n Graz, wo vor allem Studenten aus dem Osten i n erhöhtem Ausmaß zu verzeichnen sind, an all diesen Hochschulen ist es unbedingt erforderlich, daß gerade auch den Heimplätzen für diese Ausländer größeres Augenmerk zugewendet werden muß. Vom Studentenunterstützungsverein Akademikerhilfe ist der Bau eines internationalen Studentenheimes geplant. Unsere Hochschulen leiden bereits unter einem kaum mehr erträglichen Mangel an Raum und Lehrkräften, doch w i r d diese Belastung noch steigen. Es ist zu erwarten, daß die Zahl der österreichischen Studenten, die 1954/55 noch 20 000 betrug, von 50 000 i m Studienjahr 1963/64 auf mehr als 70 000 i m Jahre 1975 steigen wird. Selbst diese hohe Zahl w i r d voraussichtlich nicht genügen, u m die bis dahin stark gestiegene Nachfrage nach Hochschulabsolventen laut OECD-Bericht zu decken. Es müssen daher ab sofort — das zeigt ja auch das heurige Budget — die größten Anstrengungen unternommen werden, um die baulichen Erweiterungen durchzuführen, u m die Ausstattung der Institute und Laboratorien grundlegend zu verbessern und den Personalstand zu vermehren. Der Nachholbedarf ist daher auf diesem Gebiete besonders groß. Bisher standen nicht einmal die für eine den Unterrichtsbedürfnissen entsprechende Ausgestaltung der Hochschulen erforderlichen M i t t e l zur Verfügung, geschweige denn für eine großzügige Förderung der Hochschulforschung. Allerdings w i r d sich die Situation weitaus bessern, da bereits i m Budget 1966 mehr M i t t e l vorhanden sind und auch für das Jahr 1967 vorgesorgt wird. Bei uns kommen auf einen ordentlichen oder außerordentlichen Professor fünfmal soviel Studenten wie i n der Schweiz. Solche Vergleichszahlen ließen sich beliebig vermehren. Während es bisher an einem fundierten Plan für die Entwicklung des Hochschulwesens fehlte, liegt ein solcher nunmehr i n dem bereits des öfteren genannten OECD-Bericht vor. Wenn eine 4prozentige Steigerung des jährlichen Brutto-Nationalproduktes pro Kopf der Erwerbstätigen erreicht werden soll — und diese Steigerung ist bei Aufrechterhaltung der heute vorhandenen W i r t schaftsentwicklung und damit zur Vermeidung von sozialen und politischen Schwierigkeiten notwendig—, dann müßte bis 1980 der Bestand an Akademikern i n Österreich u m etwa zwei D r i t t e l zunehmen. Dies entspräche einem jährlichen Zuwachs von 7000 bis 8000 Akademikern. Derzeit schließen ungefähr 2500 Studenten jährlich ihr Studium m i t Erfolg ab. E i n Bedarf besteht i n erster Linie an Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, Nationalökonomen, aber auch an Lehrern und Professoren, wie ich bereits ausgeführt habe. Allerdings muß dazu gesagt werden, daß solche Vorausberechnungen,

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besonders auf so lange Zeit, problematisch sind, denn wer kann heute schon eine wirklich echte, verläßliche Voraussage für das Jahr 1975 machen? Trotzdem muß i n einer Bildungsgesellschaft, zu der w i r immer mehr hinstreben, die Bildung geplant, der notwendige Einsatz materieller M i t t e l vorausberechnet werden, um dadurch Fehlinvestitionen zu vermeiden. Allerdings kann man bei einer solchen Vorberechnung nur von bestehenden Situationen ausgehen, die sich leicht ändern können. Eine Bildungsgesellschaft w i r d aber nicht nur von den Bildungseinrichtungen geprägt. Gleiche Bedeutung haben Presse, Film, Rundfunk und Fernsehen. Es ist die große Aufgabe der Käufer dieser Publikationsmittel, wirksam dafür einzutreten, daß die Produkte und Produktionen dieser Medien hochwertig sind und nicht i n die Kategorie Schmutz und Schund fallen. Nicht der Ruf nach Zensur, sondern das Nichtkaufen, Nichtbesuchen, Nichthören, also der persönliche Protest gegen Minderwertiges, kann hier Abhilfe schaffen. Derzeit ist i n Österreich sowohl die Sanierung als auch die Neuorganisation unseres Rundfunk- und Fernsehwesens aktuell und beschäftigt das Parlament. Erstmalig wurde, besonders von den neutralen Zeitungen, ein Volksbegehren organisiert, das mehr als 830 000 Unterschriften trägt — also ein Vielfaches von dem, was an Unterschriften notwendig war — und vor allem die Entpolitisierung des Rundfunk- und Fernsehwesens durch die Einsetzung eines Generalintendanten fordert. Darüber geht zwischen den Parteien nun schon sehr lange die Diskussion, und wahrscheinlich w i r d dieses Gesetz, das noch immer i m Parlament beraten wird, mit Mehrheit beschlossen werden. I n Österreich ist es nicht gelungen, dem Schmutz und Schund auch durch gesetzliche Maßnahmen zu begegnen. I n dieser Richtung sind i n der kommenden Zeit Verschärfungen zu erwarten. Ist es richtig, daß die „Neue I l lustrierte" aus K ö l n auf einen Anhieb deshalb 160 000 neue Leser gewann, weil sie rigoros und ohne Zimperlichkeit auf Sex umschwenkte? Diese Zeitschrift w i r d auch i n Österreich viel gelesen. Was für die gute Zeitschrift gilt, gilt auch für Rundfunk und Fernsehen, nämlich, daß sie teurer werden müssen, wenn sie Gutes bieten sollen. Die Fernsehgebühr beträgt derzeit ö. S. 50,— pro Monat, die Rundfunkgebühr, auf den Tag umgerechnet, 30 Groschen und wurde seit 15 Jahren nicht mehr geändert. Auch ein Erfolg der Koalition. Ein Bericht über das Bildungsproblem i n Österreich wäre unvollständig, würde man nicht auch die gewerbliche Berufsausbildung erwähnen. Unsere gewerbliche Berufsausbildung besteht, man könnte sagen, seit 100 Jahren und beruht auf der betrieblichen Ausbildung der Lehrlinge, die m i t dem Besuch einer Berufsschule verbunden ist. Daher ist ein neues Berufsausbildungsgesetz, das von der Gewerbeordnung

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losgelöst werden soll, i n Vorbereitung. Auch die Liste der sogenannten Lehrberufe ist veraltet, so daß es darum geht, einen neuen Katalog der Lehrberufe zu erstellen. Es werden hier starke Änderungen zu erwarten sein. A n dieser neuen Liste der Lehrberufe arbeiten derzeit die Sozialpartner. Auch die Errichtung eines berufskundlichen Institutes ist beabsichtigt; vorgesehen ist auch die Erstellung von Berufsbildern und Ausbildungsnormen i n Zusammenhang mit der Festsetzung der Lehrzeitdauer. Die Ergebnisse der Lehrlingsprüfungen sind bei uns derzeit denkbar schlecht. Daher ist an die Einführung von Z w i schenprüfungen gedacht; ebenso soll es möglich sein, einen Beruf außerhalb des herkömmlichen Gewerbes, des Handels und der Industrie zu erlernen. I n Österreich haben die Gewerkschaften wie auch karitative Einrichtungen eigene Lehrwerkstätten errichtet. Auch ist i n Zusammenhang m i t der Reform unseres gesamten Schulwesens an eine Reform der Berufsschulen und der berufsbildenden Mittelschulen gedacht. Ich habe versucht, Ihnen i n groben Umrissen, soweit es meine Zeit gestattet, ein B i l d von den Bildungsproblemen i n Österreich zu entwerfen, und möchte am Schluß sagen: Menschen m i t idealistischer Lebensphilosophie stellen die Macht der Ideen über die Gewalt der Tatsachen. I n der Praxis aber bezeichnen sie immer wieder die Überwindung oder Eindämmung der Gewalt der Tatsachen vom Standpunkt ihrer Idee aus als politisch unmöglich, während sich die Vertreter des Materialismus u m theoretische Erwägungen nicht kümmern, sondern, wenn sie von der Richtigkeit einer Sache überzeugt sind, sich unter allen Umständen für deren Realisierung einsetzen und damit ihre Vorstellung politisch möglich machen. Ich bekenne offen, daß uns allzu lange der M u t gefehlt hat, das unmöglich Scheinende möglich zu machen. Ich glaube, w i r sind jetzt auf dem Wege, uns nicht schrecken zu lassen, w e i l w i r von der entscheidenden Bedeutung der Bildung überzeugt sind. W i r haben bereits einen Weg eingeschlagen, auf dem Bildung und Bildungswerbung geplant und gezielt werden. Es ist aber auch notwendig, die Erkenntnis i n alle Volksschichten zu tragen, daß die Bildungschance für jeden gleichzeitig eine Lebenschance bedeutet, daß es ärgste Verschwendung für den einzelnen und für die Gesellschaft bedeutet, eine vorhandene Begabung ungenützt verdorren zu lassen. Eine Untersuchung i n Österreich ergab, daß w i r über genug begabte Kinder verfügen, u m die für die Sicherung unserer Zukunft notwendigen Fachleute heranbilden zu können. Wenn ich richtig orientiert bin, ergab ein Begabungstest unter den Volksschülern i n Baden-Württemberg, daß der größte Teil der als begabt ermittelten Schüler und Schülerinnen aus Landwirtsund Landarbeiterfamilien, aus Handwerker- und Facharbeiterfamilien

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stammt. Als Haupthemmnisse für die geringe Ausschöpfung dieser Begabungen auf dem Land wurden durch spezielle Befragungen der Eltern festgestellt: 1. ungünstige Verkehrsverhältnisse, 2. Unsicherheit der Eltern bei der Einschätzung der Leistung und Begabung ihrer Kinder, 3. Bildungsscheu und mangelnde Achtung vor der Bildung bei den Eltern, 4. Unkenntnis der möglichen Bildungswege und 5. ein soziales Minderwertigkeitsgefühl. Ich glaube, daß diese Untersuchung i n Baden-Württemberg auch für Österreich zutreffen würde. M i r sind nur keine ähnlichen einschlägigen Untersuchungen bekannt. Die Bildungswerbung müßte ebenfalls aufzeigen, daß B i l dungsinvestitionen wirtschaftlich nicht nur tragbar sind, sondern auch hohen Ertrag abwerfen. Gerade Österreich ist ein Beispiel für eine jährliche negative Lizenzbilanz. Die Eingänge aus Patenten und Lizenzen betrugen i m Jahre 1954 60 Millionen Schilling, die Ausgänge 99 Millionen Schilling. Das ergibt einen Passivsaldo von 39 Millionen Schilling. 1963 waren die Eingänge 110 Millionen Schilling, die Ausgänge 382 Millionen Schilling, damit der Passivsaldo 272 Millionen Schilling; er hat sich demnach i n nicht einmal zehn Jahren versiebenfacht. Das Bild, das ich über die Bildung i n Österreich zu entwerfen hatte, ist für uns nicht erfreulich. Aber ich habe Ihnen ehrlich aufgezeigt, woran es fehlt. Aus der Erkenntnis, daß die Gesellschaft der Zukunft die Bildungsgesellschaft sein wird, haben w i r bereits Maßnahmen ergriffen, und es sind auch bereits Mängel und Defizite ausgemerzt worden. Als Kleinstaat sind w i r der Überzeugung, daß höhere Bildung kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, ja ein Erfordernis der Staatsräson und ein Gebot der Vernunft ist. Es gibt daher für uns auch keine annehmbare Alternative, denn auch für uns bedeutet die Bildungsgesellschaft die Chance für ein besseres Leben.

Die Entwicklung von Bildung und Ausbildung in den USA Von Prof. Dr. Friedrich Baerwald, Fordham University, New York

I m bisherigen Verlauf dieser Internationalen Tagung hat sich die Frage ganz klar herausgeschält, ob i n der heutigen Industriegesellschaft der Bildung oder der Ausbildung der Vorrang gebühre. E i n Bericht über den Stand dieser Problematik i n den Vereinigten Staaten beginnt daher zweckmäßig m i t der Feststellung, daß i n Amerika heute das Primat der Bildung über die Ausbildung allseits, gerade auch von der Wirtschaft, anerkannt wird. Letzteres geht schon daraus hervor, daß die großen amerikanischen Stiftungen nicht allein die wissenschaftliche Forschung auf institutsmäßiger oder individueller Basis fördern, sondern auch erhebliche Geldmittel zur Verfügung stellen, um die Methoden des Unterrichtes zu überprüfen und zu verbessern. Der frühere Präsident der Harvard University, James Conant, von Haus aus Naturwissenschaftler, hat sich i n den letzten Jahren hauptsächlich m i t Strukturproblemen des amerikanischen Schulwesens befaßt. Auch der Vizeadmiral Hyman Rickover, auf dessen Drängen h i n die amerikanische Atom-U-Boot-Streitkraft zurückzuführen ist, hat sich intensiv und sehr kritisch mit dem gegenwärtigen Stand der amerikanischen Erziehung befaßt. Der Vorrang der Bildung über die Ausbildung hat allerdings auch viel m i t dem Wesen der Vereinigten Staaten als einem Einwanderungsland zu tun. Als die Industrialisierung dort vor etwa 100 Jahren einsetzte, steigerte sich der Bedarf an Facharbeitern sehr rasch. Er konnte nur dadurch befriedigt werden, daß man europäischen Arbeitern, die i n ihrer Heimat eine Lehre hinter sich hatten, verhältnismäßig hohe Löhne anbot. Dies traf vor allem auf das Baugewerbe — etwa Steinmetzen — und auf die Metallindustrie zu. Amerikanische Arbeitgeber konnten sich also darauf verlassen, daß eine genügende Anzahl von gelernten Arbeitern ihren Weg durch die damals weitgeöffneten Türen i n die Neue Welt finden würden. Sie hatten daher wenig Interesse daran, Einrichtungen zu schaffen, die etwa dem europäischen, insbesondere dem deutschen Lehrlingswesen i n Großbetrieben entsprechen. Während der amerikanischen Wirtschaftskrise i n den 30er Jahren wurde der Ausbildung eines Facharbeiternachwuchses überhaupt keine 8 Tagung Dortmund 1966

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Aufmerksamkeit geschenkt, und die Jugendlichen waren damals — wie auch heute wieder — die Altersgruppe, die i n Amerika am meisten von der Arbeitslosigkeit betroffen war. Selbstverständlich machte sich dann i n der Kriegswirtschaft ein sehr empfindlicher Mangel an Facharbeitern bemerkbar. Das amerikanische öffentliche Schulwesen war auch von den Bedürfnissen eines Einwanderungslandes bestimmt. Die Kinder der Neuankömmlinge sollten bewußt zu amerikanischen Staatsbürgern erzogen werden. Von hier stammt auch noch die bis heute fortdauernde Sitte, daß jeder Schultag damit beginnt, daß Lehrer und Schüler ihre Treue zu den Vereinigten Staaten feierlich i n einer vorgeschriebenen Formel bekunden. Während der Unterrichtsstunden ist überall die amerikanische Flagge gehißt. Bildung, gerade auf der Volksschulebene, war und ist noch heute auch politische Erziehung m i t der Absicht, einen allgemeinen Konsensus überparteilicher A r t über die Grundsätze der amerikanischen Demokratie i n dem Bewußtsein der Schüler zu erwecken. Die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland i n der westlichen Welt den zweiten Rang i n der Industrialisierung gleich nach den Vereinigten Staaten innehat, verführt vielerorts zu der Annahme, daß demnach auch viele gesellschaftliche Strukturen der beiden Länder sich gleichen. Dies ist jedoch ein Irrtum, und ein besonders großer, soweit es sich u m die hier behandelten Probleme der Bildung und Ausbildung handelt. Tatsächlich ergeben sich schon Schwierigkeiten bei dem Begriff der Bildung selbst. Was dieser bedeutet, ist i m deutschen Kulturbereich völlig klar. I m englischen und m i t h i n auch i m amerikanischen Sprachgebrauch gibt es jedoch keinen entsprechenden Begriff. Durchweg w i r d hier von „education", also Erziehung, gesprochen. Ausbildung kann jedoch ganz klar i m Englischen m i t „training" übersetzt werden, vor allem i m Sinne von Anlernung. Was man i m deutschen Kulturbereich „humanistische Bildung" nennt, ist m i t der englisch-amerikanischen „Liberal Arts Education" des 18. und 19. Jahrhunderts weitgehend identisch. Sie wurde vor allem i n den Colleges von Oxford und Cambridge und den diesen nachgebildeten amerikanischen Institutionen vermittelt. Wie i n England erfolgte auch i n Amerika die Vorbereitung für diese Colleges nicht i n öffentlichen Höheren Schulen, die es damals kaum gab, sondern i n privaten Preparatory Schools für die Altersstufen von etwa 13 bis 17 Jahren. Daß nur eine hauchdünne Oberschicht diese humanistische Bildung erwerben konnte, liegt auf der Hand, wenn es auch zutrifft, daß schon

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i m 18. Jahrhundert an den berühmten Universitäten zahlreiche Stipendien für arme, aber begabte Studenten zur Verfügung standen. Während nun i n England erst i n den letzten Jahrzehnten diese Exklusivität der höheren Erziehung gelockert worden ist, setzten sich i n den Vereinigten Staaten demokratische Tendenzen i m höheren Unterrichtswesen schon früher durch. Ursprünglich konnte man i n den Vereinigten Staaten wie auch i n England nur den Magister-Titel erwerben (M. A.). Vor etwa 100 Jahren begannen nun amerikanische Studenten, die ein College absolviert hatten, i n wachsender Zahl, vor allem an deutschen Universitäten zu studieren und dort einen Doktor-Titel zu erhalten. Allmählich bauten sich daraufhin eine große Anzahl von amerikanischen Colleges zu Universitäten aus, indem sie „Graduate Schools" einrichteten — Schulen für Studenten, die von Colleges „graduiert" wurden und sich nunmehr einem Fachstudium widmen wollten. Nur i n solchen Schulen kann man auch heute die Magister- und Doktorwürde erlangen. Gleichzeitig m i t dem Ausbau vieler — wenn auch keineswegs aller — Colleges zu Universitäten, setzte nun auch eine Ausdehnung nach unten i m Erziehungswesen ein. Ursprünglich beschränkte sich die Rolle des Staates i n der Erziehung fast ausschließlich auf die Volksschule. Dem englischen Vorbild folgend, galt eine Erziehung darüber hinaus als Privatsache, und ihr dienten denn auch die humanistisch orientierten „Preparatory Schools" und „Colleges". Erst u m die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begannen die Städte, i n größerem Umfange „ H i g h Schools" einzurichten. Allmählich wurde dann auch die Schulpflicht — i n ländlichen Bezirken oft und vor allem für Neger nur unvollkommen durchgeführt — vom 14. auf das 16. Lebensjahr heraufgesetzt. Heute ist es so, daß von allen Jugendlichen erwartet wird, daß sie mindestens 10 Jahre lang zur Schule gehen. M i t dieser Expansion und Demokratisierung des öffentlichen Schulwesens gingen Änderungen des Zieles und der Methoden der Erziehung Hand i n Hand. Führend war i n dieser Hinsicht der amerikanische Erziehungsphilosoph John Dewey, der jahrzehntelang an der einflußreichen „School of Education" an der Colombia University die Ausbildung von Lehrern bestimmte. Unter dem Einfluß der angloamerikanischen Philosophie des Pragmatismus und Positivismus wandte sich Dewey gegen alle autoritären Erziehungsmethoden, vor allem auch — und m i t Recht — gegen das „Eintrichtern" und die zwangsweise Auferlegung eines von außen her kommenden Wissens auf die Kinder. A n deren Stelle forderte er eine Erweckung der Selbstbetätigung der Kinder, ihre aktive Teilnahme am Lehrvorgang. 8*

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Hieraus ergaben sich i m Laufe der Zeit grundlegende Änderungen der Lehrziele und Methoden. Ihnen fiel die klassische Bildung auf den Höheren Schulen m i t wenigen Ausnahmen zum Opfer. I n New York wurde die einzige öffentliche Höhere Schule, i n der Latein noch Pflichtfach war, schon vor 25 Jahren geschlossen! Daß die von Dewey empfohlenen Methoden gerade auf dem Gebiete des neusprachlichen Unterrichtes, wo sie — wie meine Erfahrung an der Musterschule i n Frankfurt beweist — sehr fruchtbar sein könnten, nicht angewandt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Der neusprachliche Unterricht — etwa i n Französisch, Deutsch oder Spanisch — i n den amerikanischen Schulen ist, wie ich leider bei meinen Universitätsstudenten immer wieder feststellen mußte, eine reine Zeitverschwendung. Es dürfte also klar sein, daß trotz einer gewissen Ähnlichkeit des Aufbaues tiefgreifende Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Bildungs- und Schulwesen bestehen. Wenn gesagt werden muß, daß beide sich i n einer Krise befinden, so muß doch betont werden, daß ihre Ursachen völlig andersartig sind, worauf aber hier nicht weiter eingegangen werden kann. Wie schwer es fällt, gültige Vergleiche zwischen Verhältnissen i n den Vereinigten Staaten und i n Deutschland anzustellen, sei an einem Beispiel gezeigt, das für das Thema dieser Tagung besondere Bedeutung hat. Eine vom Kongreß eingesetzte Kommission, die sich m i t den Auswirkungen der Automation zu befassen hat, veröffentlichte i m Februar 1966 ihren ersten Bericht. I n i h m heißt es auf Seite 21 — ich übersetze: „Japan und Westeuropa verfügen über weit fortgeschrittene industrialisierte Wirtschaften. Aber die Struktur ihres Erziehungswesens ist der unsrigen weit unterlegen, und so könnte man annehmen, daß hochgradig automatisierte Wirtschaften so gelenkt werden können, daß sie auch m i t den verschiedenartigsten Erziehungssystemen operieren können." Anscheinend hat diese Kommission sich lediglich m i t dem Aufbau des Erziehungswesens, insbesondere auch m i t dem Prozentsatz der Jugendlichen, die eine sogenannte Höhere Schule i n Amerika besuchen, befaßt, nicht aber m i t den Ergebnissen dieser Bemühungen u m die Erziehimg. Es ist aber eine Tatsache, daß i n den Vereinigten Staaten jährlich Hunderttausende von Wehrpflichtigen zurückgestellt werden, weil sie nicht die Lesefertigkeit erreicht haben, die dem Klassenziel der sechsten Stufe der Grundschule entspricht. Eine der Hauptaufgaben des i m Jahre 1965 eingeleiteten Feldzuges gegen die A r m u t ist es daher, durch Sondermaßnahmen und Betreuung dieses Defizit zu be-

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heben und damit die Chancen der Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Ehe w i r weiter auf Probleme der Bildung und Ausbildung i n den Vereinigten Staaten eingehen, ist es angebracht, die völlig andere Struktur des Erziehungswesens i n den USA ganz klar herauszustellen, andernfalls würden unsere Erörterungen gleichsam i n der L u f t hängenbleiben. Hauptgrund der so hohen Selbsteinschätzung amerikanischer Erziehungseinrichtungen ist die unbestreitbare Tatsache, daß i n den USA ein viel höherer Prozentsatz i m A l t e r von 14 bis 18 Jahren eine „Höhere" Schule besucht, als das i n Westeuropa der Fall ist. Daß darüber hinaus nicht weniger als 29 v. H. der Bevölkerung zwischen 18 und 24 Jahren eine akademische Unterrichtsanstalt (College, University) besuchen, gibt zu weiterer Selbstbeglückwünschung Anlaß. Tatsächlich entspricht diese große zeitliche Ausdehnung der Erziehung den objektiven Erfordernissen einer fortgeschrittenen Wirtschaft. Die Nachfrage nach ungelernten Arbeitern geht ständig zurück, während für die Einstellung von Arbeitern und Angestellten immer höhere Ansprüche an die Vorbildung gestellt werden. So wäre der starke Besuch von Höheren Schulen außerordentlich eindrucksvoll, wenn diese auch nur i n etwa den Oberschulen europäischer A r t entsprächen. Das aber ist nicht der Fall. Der vierjährige Collegekursus, der die Absolvierung der Höheren Schule voraussetzt, gibt den Studenten i n etwa einen Bildungsinhalt, der m i t dem Abschluß einer europäischen Oberschule vergleichbar wäre. Diese Unterschiede werden auch i n der Praxis von den Unterrichtsbehörden auf beiden Seiten des Ozeans anerkannt. Den Absolventen einer europäischen Oberschule werden i n Amerika ohne weiteres die beiden ersten Jahre des College geschenkt. Andererseits müssen amerikanische Studenten, die europäische Universitäten besuchen wollen, nachweisen, daß sie erfolgreich ein College besucht haben. Diese Vergleiche mußten vorausgeschickt werden, um die außerordentliche Bedeutung zu verstehen, die von amerikanischen Arbeitgebern der schulischen und akademischen Vorbildung der Arbeiter und Angestellten zugemessen wird. Wie schnell sich hier die Verhältnisse geändert haben, geht aus einem Vergleich der Jahre 1952 und 1965 hervor. Schon i m Jahr 1952 waren 46,1 v. H. der weißen Erwerbsbevölkerung Absolventen von Höheren Schulen, während die Zahl der nichtweißen Oberschulabgänger nur 17,4 v. H. betrug. I m Jahre 1965 waren die Ziffern auf 69,5 v. H. bzw. 37,5 v. H. angestiegen. Schon i m Jahre 1952 hatten 8,6 v. H. der Weißen und 2,6 v. H. der Nichtweißen einen vierjährigen Collegekursus hinter sich. I m Jahre 1965 betrugen die Prozente schon 12,2 und 7,0. Gerade i m gegenwärtigen Jahrzehnt verdoppelt sich aber die Zahl der Studenten i n Colle-

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ges und Universitäten, so daß i n etwa fünf Jahren die letztgenannten Prozentsätze ganz erheblich größer sein werden. Setzt man nun, wie es i m amerikanischen Sprachgebrauch üblich ist, Erziehung und Bildung gleich, so ist die Schlußfolgerung unausweichlich, daß es u m die Bildung i n den Vereinigten Staaten, trotz aller Mängel i m Schul- und akademischen Betrieb, immer besser bestellt sei. Dies ist auch tatsächlich so. I m folgenden werden w i r dies nach zwei Richtungen h i n untersuchen. Einmal werden w i r die zentrale Bedeutung des Erziehungswesens i n der amerikanischen Gesellschaft schlechthin behandeln, andererseits aber die enge Verbindung zwischen der schulischen Bildung und dem Berufsschicksal der Amerikaner. Es entspricht amerikanischen Denk- und Sprechgewohnheiten, wenn das Erziehungswesen manchmal auch als „Erziehungsindustrie" bezeichnet wird. Als solche spielt sie eine stets wachsende Rolle i n der amerikanischen Beschäftigungsstruktur. I m Jahre 1964 waren nicht weniger als 5 Millionen Lehrer, Professoren und Verwaltungsangestellte i n dieser Industrie beschäftigt. Die Zahl der Grund- und Oberschüler überstieg 41 Millionen, die Zahl der Studenten an den Colleges und Universitäten hatte die Fünf-Millionen-Grenze bereits überschritten. Als Vergleichszahl sei erwähnt, daß die gesamte zivile Erwerbsbevölkerung i m gleichen Jahre 74,2 Millionen betrug. Ein weiteres Wachstum des Erziehungssektors muß als sicher angenommen werden. Gleichzeitig wandelte sich die wirtschaftliche und soziale Stellung der Lehrer und Professoren. I m Pionierzeitalter des 19. Jahrhunderts wurde großer Wert auf die rasche Entwicklung der Grundschulen, vor allem auch i n neuen Siedlungsgebieten, gelegt. Aber der Unterricht i n diesen Schulen galt ganz überwiegend als typischer Frauenberuf. Bis i n die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren Frauen auch i n den Großstädten i n den Grund- und Oberschulen i n der Mehrzahl i m Lehrkörper vertreten. Erst i n den 50er Jahren wurde man sich auch darüber klar, daß eine erhebliche Anhebung der Lehrergehälter stattfinden müsse. Auch heute gibt es aber noch sehr starke regionale Unterschiede. Die höchsten Gehälter werden i n den wohlhabenden Vorstädten gezahlt, wodurch es den Schulverwaltungen der Großstädte oft schwerfällt, hochqualifizierte Kräfte sich zu erhalten. Ursprünglich waren Professoren an Colleges und Universitäten verhältnismäßig gut besoldet. Sie gerieten jedoch i n der Kriegs- und Nachkriegszeit i m Vergleich zu anderen Berufen ziemlich stark ins Hintertreffen. Auch hier ist jedoch inzwischen erhebliche Abhilfe geschaffen worden. Daß das Ansehen der Lehrer und Professoren innerhalb der amerikanischen Gesellschaft sehr stark gewachsen ist, hängt aber m i t

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einer Entwicklung zusammen, die i n den Vereinigten Staaten m i t Recht als „Kulturexplosion" bezeichnet worden ist. Hierzu haben eine Anzahl von Umständen beigetragen. Die großen Errungenschaften der modernen Technik, die ohne die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft unmöglich gewesen wären, haben i m Bewußtsein weiter Kreise Verständnis und Achtung für rein theoretische und geistige Beschäftigungen geweckt. Dann kam der Sputnik-Schock, der i n den Vereinigten Staaten glücklicherweise die i m Verlauf des Zweiten Weltkrieges rasch um sich greifende Selbstüberschätzung auf ein vernünftiges Maß zurückschraubte und den Wert der Erziehung und Wissenschaft wieder stark i n den Vordergrund rückte. I n den Präsidentschaftswahlen von 1952 und 1956 wurde A d l a i Stevenson i n weiten Volkskreisen m i t dem Wort „Eierkopf" lächerlich gemacht. Später jedoch wurde er ganz allgemein hoch geschätzt als das Sinnbild eines wirklich gebildeten Amerikaners. Als Präsident Kennedy sich m i t einer großen Zahl von Beratern an den amerikanischen Universitäten umgab, wurde er deswegen nicht kritisiert, während Franklin Roosevelt i n den 30er Jahren beschuldigt wurde, sich einen „Gehirntrust" geschaffen zu haben. Die Kulturexplosion hat aber auch rein objektiv materielle Ursachen. Die Umwälzung i m Verlagswesen, insbesondere die Massenproduktion von Taschenbüchern, hat die schöne und auch die wissenschaftliche Literatur i n einen viel größeren Umlauf gebracht, als dies je vorher der Fall war. I n der Schallplattenindustrie finden nicht nur populäre Schlager reißenden Absatz, sondern i n großem Umfang auch klassische Musik. Hier hat zweifellos auch der Rundfunk seit mindestens einer Generation erzieherisch gewirkt. Zum B i l d dieser Entwicklung gehören auch das Aufkommen von Zimmertheatern, eine gewisse Dezentralisation des Theater- und Kunstbetriebes und die stärkere Selbstbetätigung der Jugend als Volkslied-, Balladensänger und Gitarrenspieler. Ohne zu Fragen des Niveaus Stellung zu nehmen, kann nicht geleugnet werden, daß kulturelle Bestrebungen i n den Vereinigten Staaten eine Massenbasis gefunden haben. Der großen und immer noch wachsenden Bedeutung des Erziehungswesens entspricht auch das Ansteigen der Ausgaben. Zwischen 1956 und 1964 haben sich i n den Vereinigten Staaten die Ausgaben der Länder und Gemeinden für Schulen von 13 Milliarden Dollar auf 26 Milliarden Dollar verdoppelt. Aber diese gewaltigen Ziffern stellen nur einen Teil der jährlichen Aufwendungen für Schulen, Colleges und Universitäten dar. I n diesen Beträgen sind beispielsweise nicht die rein privat aufgebrachten M i t t e l für konfessionelle Grund- und Oberschulen enthalten, die über 10 v. H. der Schulpflichtigen betreuen.

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Ferner sind außer Ansatz die Ausgaben aller Colleges und Universitäten, die private Stiftungsanstalten sind, und hierunter fallen gerade die großen, weithin bekannten Universitäten sowie viele andere, die mehr örtliche oder regionale Bedeutung haben. Professor Fritz Machlup von der Princeton University hat i n seinem Buch „The Production and Distribution of Knowledge i n the USA", das 1964 von der Princeton University Press veröffentlicht wurde, die Gesamtausgaben für Grund- und Oberschulen für das Jahr 1963 auf 48 Milliarden Dollar, die der Colleges und Universitäten auf 25 Milliarden Dollar geschätzt. Wenn auch gewisse methodische Zweifel an den Berechnungen von Machlup angebracht erscheinen, so ergibt sich doch aus den hier wiedergegebenen Zahlen der außerordentliche Umfang und zugleich auch die große finanzielle Belastung durch die Erfordernisse des amerikanischen Bildungswesens. Hiermit aber kommen w i r zu dem zweiten Punkt, der uns beschäftigen soll, nämlich den Verflechtungen von Bildung, beruflicher Laufbahn und auch dem Einkommen der Amerikaner. Es t r i f f t tatsächlich i n einem wörtlichen Sinne zu, daß Bildung als Erziehung sich i n den Vereinigten Staaten bezahlt macht, vor allen Dingen dann, wenn man den Maßstab eines Gesamtlebenseinkommens während einer beruflichen Tätigkeit von etwa 40 Jahren anwendet. Wenn bisher nur von Erziehung die Hede war und nicht von Ausbildung, so hat das seinen Grund darin, daß es ein Lehrlingswesen i m europäischen Sinne i n den USA einfach nicht gibt. I m Baugewerbe, i m Druckereiwesen und i n einigen Zweigen der Elektroindustrie findet man zwar Arbeiter, die offiziell als Lehrlinge bezeichnet werden, aber ihre Gesamtzahl erreicht nach Statistiken der amerikanischen A r beitsverwaltung noch nicht einmal 200 000. Diese Erwerbszweige sind sehr stark gewerkschaftlich organisiert, und bis vor kurzem hatten viele Bezirksorganisationen einen sogenannten „Vater-und-Sohn"-Aufbau. Das heißt, daß praktisch Lehrlingspositionen nur für Söhne oder Neffen von Gewerkschaftsmitgliedern zur Verfügung standen. Als vor einigen Jahren m i t der Integration von Negern auch i n gelernte Berufe Ernst gemacht wurde, ergaben sich i n diesen Berufszweigen neben den üblichen auch die besonderen Schwierigkeiten, die sich aus diesen traditionellen Monopolpositionen i m Arbeitsmarkt ergaben. Von entscheidender Bedeutung ist aber, daß der überwiegende Teil der Erwerbsbevölkerung keine Lehre durchmacht. Insbesondere gibt es keine Lehrlinge i n kaufmännischen und Einzelhandelsunternehmungen. Neben den bereits erwähnten und zahlenmäßig begrenzten Lehrlingspositionen für Facharbeiter i n einigen Gewerbezweigen gibt es

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allerdings i n wachsendem Umfang eine systematische Ausbildung des Führungsnachwuchses. U m aber eine solche Eingangsstellung als „executive trainee" zu erhalten, muß der Anwärter nicht nur ein College absolviert haben, sondern sich unter den besten 10 Prozent der Studenten befinden. Großfirmen senden jährlich Vertreter zu den Colleges und Universitäten, die solche Studenten m i t Spitzenleistungen einem eingehenden Interview unterziehen. Darüber hinaus werden i n vielen Fällen auch noch psychologische Tests gemacht. Naturgemäß handelt es sich bei diesen Managementlehrlingen nur u m eine verhältnismäßig geringe Anzahl von jungen Menschen. Für die große Masse der Jugendlichen kommt es darauf an, die Höhere Schule zu absolvieren. Es sei nochmals betont, daß dies immer mehr die Conditio sine qua non wird, u m überhaupt eine einigermaßen aussichtsreiche Berufslaufbahn einzuschlagen. Wenn man nun die eingangs herausgestellten Begriffe verwenden w i l l , so kann man sagen, daß i n den Vereinigten Staaten die Bildung als Erziehung die Bedingung ist, ohne die eine Ausbildung überhaupt nicht stattfinden kann. Da jedoch jährlich Hunderttausende von jungen Menschen, die das A l t e r von 16 Jahren erreicht haben, aus der Höheren Schule ausscheiden, so erweist sich das Schulsystem als eine Auskämmungsmaschinerie, die schon vor der Eingliederung i n das Berufsleben eine große Anzahl von tatsächlich oder vermeintlich ungeeigneten Jugendlichen aussortiert. Daß sich hieraus tiefgreifende soziale Spannungen ergeben, liegt auf der Hand. Ausbildung als Training oder Anlernung findet dann am Arbeitsplatz selbst statt. Dem entspricht auch die tarifmäßige Behandlung der Anfänger. Diese werden zunächst für sechs Wochen auf Probe eingestellt und nach dem untersten Tariflohn bezahlt. Innerhalb dieser Zeit stellt sich dann heraus, ob der Jungarbeiter oder Angestellte lernfähig ist. Nach Ablauf dieser kurzen Probezeit erfolgt dann die feste Einstellung. Da aber nach der amerikanischen Praxis der K ü n digungsschutz außerordentlich beschränkt ist und eigentlich nur bei größeren Entlassungen die schon länger angestellten Betriebsangehörigen berücksichtigt, besteht für den Arbeitgeber kein besonderes Risiko. Wenn nun einesteils das Abgangszeugnis der Höheren Schule gleichsam eine Eintrittskarte zum Arbeitsmarkt ist, so genügt es andererseits nicht für einen weitgreifenden Aufstieg. Wer mehr als routinemäßige Arbeit leisten w i l l , muß zumindest ein College besuchen. Auch die Einkommenschancen für den Besucher dieser ersten Stufe der akademischen Ausbildung verbessern sich ganz außerordentlich. So kommt es, daß immer mehr junge Leute sich dazu entschließen, nach Beendigung der Höheren Schule noch für

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weitere vier Jahre ein College zu besuchen. Während i m Jahre 1940 nur 34 v. H. der Absolventen von Höheren Schulen auf ein College gingen, waren es i m Jahre 1965 bereits 54 v. H. I n Zahlen ausgedrückt: Von 2 688 000 Oberschülern gingen 1442 000 auf ein College. Selbstverständlich vollenden nicht alle diese jungen Menschen den Collegekurs. Aber i m Jahre 1961 hatten Angestellte, die mindestens für ein Jahr ein College besucht hatten, bereits ein mittleres Jahreseinkommen von 6235 Dollar. Ein Arbeiter hingegen, der weniger als acht Jahre Grundschule hatte, verdiente nur 2090 Dollar. Der letztere Betrag liegt u m etwa 1000 Dollar unter dem Mindesteinkommen, das i n den Vereinigten Staaten verfügbar sein muß, um aus dem Armutssektor der Wirtschaft herauszukommen. Die überragende Rolle der Bildung als Erziehung i n den Vereinigten Staaten liegt somit auf der Hand. Daß sich hieraus Chancen für eine gute Entwicklung des allgemeinen Kulturniveaus ergeben, ist zutreffend. Andererseits ist aber die enge Verbindung zwischen dem Schulsystem und der Struktur der Beschäftigung auch ein Faktor, der neue Probleme aufwirft. Obwohl i m amerikanischen Erziehungswesen ein Geist der Ungezwungenheit vorherrscht, sind doch amerikanische Schüler und Studenten „schwergeprüfte" Menschen. Die Absolvierung der verschiedenen Schulen ist nicht von einem Schlußexamen abhängig, sondern von Noten, die i n den einzelnen Fächern für jedes Semester erzielt wurden. Diese werden dann zu einem Index verarbeitet. Geringe Leistungen, die Jahre zurückliegen mögen, drücken nun den Index herunter, und ein niedriger Index kann dazu führen, daß ein Oberschulabsolvent überhaupt nicht i n ein College aufgenommen wird. Das gleiche wiederholt sich beim Übergang vom College zur Universität, die allein die höheren akademischen Diplome einschließlich des Doktorgrades verleihen kann. Die amerikanische Schüler- und Studentenschaft steht deshalb — trotz der an sich viel geringeren Anforderungen — unter ständigem Druck, was auch psychologische Folgen hat. Die enge Verbindung zwischen Bildung und Berufslaufbahn führt deshalb schon i n den B i l dungsvorgang gleichsam einen „Kampf ums Leben" ein. Fernerhin ergibt sich die Gefahr, daß sich i n den Vereinigten Staaten die offene Demokratie i n eine verkrustete Diplomokratie verwandelt. Es ist deshalb sehr erfreulich, daß i n dem eingangs erwähnten Bericht der Kongreßkommission auch die Frage angeschnitten wird, ob man auf diesem Wege i n den Vereinigten Staaten weitergehen soll. Vor allem w i r d vorgeschlagen, Jugendlichen, die wegen ihrer Erziehungslücken keine Arbeit i n der gewerblichen Wirtschaft finden können, i n gemeinnützigen Betrieben, die an chronischem Personal-

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mangel leiden, einfache Beschäftigungen zuzuweisen, wofür sie dann den gesetzlichen Mindestlohn (im Augenblick 1,50 $ pro Stunde) erhalten würden. Auch denkt man daran, solche Jugendlichen als Helfer für alte Menschen einzusetzen, so daß diese oft vereinsamten Personen weiter i n ihrer eigenen Wohnung verbleiben können und nicht i n die geschlossene Fürsorge übernommen werden müssen. Naturgemäß tauchen hier viele praktische Probleme auf. Wichtig ist aber, daß man beginnt, sich von der Vorstellung wieder zu befreien, daß junge Menschen, welche die High School nicht bis zum Abschluß besucht haben, i n der Wirtschaft der Gegenwart i n Amerika überhaupt nicht verwendungsfähig sind. Obwohl i n den letzten Jahren die Bundesregierung i n Washington erstmalig Beträge zur Förderung des öffentlichen Schulwesens i n den Einzelstaaten zur Verfügung gestellt hat, bleibt dort die bereits geschilderte wachsende Finanzbelastung durch Ausgaben für die Erziehung auf den Schultern der Einzelstaaten und Gemeinden. Allerdings übersteigt der Wehrhaushalt i n den USA bei weitem die Ausgaben sämtlicher Staaten und Städte für öffentliche Erziehung. Solange diese Proportionen bestehen, w i r d das amerikanische Erziehungsideal einer Massenbildung trotz aller bisherigen Fortschritte dennoch nur unvollkommen verwirklicht bleiben.

Die Rolle von Bildung und Ausbildung in Osteuropa Von Dr. Siegfried Jenkner, Universität Göttingen

Das m i r gestellte Thema ist sehr weit gefaßt und läßt sich i m Rahmen eines Einzelvortrages nur unter erheblichen Eingrenzungen behandeln. Ich werde i m folgenden lediglich auf die Probleme von Bildung und Ausbildung i n der kommunistischen Bildungskonzeption eingehen und hierbei das Schwergewicht auf die Theorie der polytechnischen B i l dung legen, nicht aber die praktische Organisation des Bildungswesens i n den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas i m einzelnen behandeln. Diese Einengung läßt sich sachlich mit dem Hinweis rechtfertigen, daß die kommunistische Bildungskonzeption ja die verbindliche Grundlage für das Erziehungssystem i n allen diesen Ländern bildet. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß diese Konzeption i n den einzelnen Ländern z. T. sehr unterschiedlich i n die Praxis umgesetzt wird. Eine detaillierte Behandlung der verschiedenen Formen würde jedoch den m i r gesetzten zeitlichen Rahmen sprengen; außerdem fühle ich mich für diese Fragen weniger kompetent. Ich b i n kein Erziehungswissenschaftler und erst recht kein Fachmann für Fragen der Schulorganisation; ich bin Sozialwissenschaftler und habe mich m i t der kommunistischen Bildungskonzeption beschäftigt, w e i l sie mich als Teil der kommunistischen Ideologie interessiert und w e i l man gerade an i h r gewisse Wandlungen der Ideologie gut studieren kann. Soviel zur Eingrenzung des Themas. Eine zweite Vorbemerkung noch zum Gebrauch der Begriffe Bildung und Ausbildung. Ich werde sie i m folgenden verwenden i m Sinne von Allgemeinbildung und Berufs- und Fachausbildung, womit ich nicht nur dem allgemeinen (deutschen) Sprachgebrauch folge, sondern auch — wie ich hoffe — den Intentionen der Veranstalter entspreche, die doch wohl gerade die Probleme der allgemeinen und speziellen Anforderungen an den Menschen i n der Industriegesellschaft auf dieser Tagung behandeln wollen. Genau u m diese Akzentuierung und Problematik ging und geht es auch i n den vergangenen und gegenwärtigen Diskussionen innerhalb der kommunistischen Erziehungs- und Arbeitswissenschaft i n Osteuropa; und über diese Diskussionen möchte ich i m folgenden spre-

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chen. Dazu ist es allerdings notwendig, einen kurzen Rückblick auf die Bildungskonzeption von M a r x zu werfen, denn nur von dieser Grundlage der kommunistischen Bildungskonzeption her ist es möglich, die gegenwärtigen Auseinandersetzungen zu verstehen. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert läßt sich charakterisieren m i t der Auflösung der überkommenen Wirtschafts- und Sozialordnung durch den beginnenden Industriekapitalismus. Die neue großbetriebliche und maschinelle Produktionsweise führte zu einer fortschreitenden und sich ins Extrem steigernden volkswirtschaftlichen, innerbetrieblichen und beruflichen Arbeitsteilung. Sie zerstörte die von handwerklicher Tätigkeit und Einheit von Arbeits- und Lebensraum geprägte alte Arbeitsordnung und -einstellung und sprengte durch neue soziale Differenzierungen das bisherige ständische Ordnungsgefüge und -bewußtsein. I n der großbetrieblichen maschinellen Güterproduktion sah sich der Arbeiter einer völligen Fremdgesetzlichkeit unterworfen. Die noch vom Handwerker geforderten Arbeitsfertigkeiten und dispositorischen Fähigkeiten wurden nicht mehr beansprucht und verkümmerten. Der Aufschwung der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, und deren Anwendung i n der Technik trieb die Rationalisierung und Spezialisierung, die Zerlegung der Arbeitsvorgänge und Teilung der Arbeitsfunktionen immer weiter voran. I n der zeitgenössischen Literatur, Sozialphilosophie und Pädagogik wurde diese Entwicklung vorwiegend negativ beurteilt. Man sprach von einem „Zivilisationsverderben" (Pestalozzi), das den Menschen zu einem einseitigen, verkümmerten Geschöpf mache; und man stellte als bewußte Gegenwehr gegen diese „Verstümmelung der menschlichen Natur" (Litt) durch Rückbesinnung auf die griechische Antike das Idealbild der allseitig und harmonisch entwickelten Persönlichkeit auf. Dieses Ideal wurde zur Grundlage der zeitgenössischen Emanzipationsbestrebungen, und es ist für das Verständnis der Marxschen Lehre entscheidend wichtig, zu erkennen, daß Marx völlig i n der Tradition dieses humanistisch-klassizistischen Menschenbildes stand. Auch er ging von einer ursprünglichen Vielseitigkeit des Menschen aus, die durch die Entwicklung der Arbeitsteilung immer mehr zerstört w i r d : „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt", schrieb er 1845 i n der „Deutschen Ideologie", „hat jeder einen bestimmten, ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der i h m aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer, H i r t oder kritischer Kritiker, und er muß es bleiben, wenn er die M i t t e l zum Leben nicht verlieren w i l l 1 . " 1 K a r l Marx und Friedrich Engels: Werke. Berlin (Ost) 1956 ff. (im folgenden zitiert: MEW). 3. Band, S. 33.

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Zwei Jahre später sah er die Eigenart der Arbeitsteilung darin, „daß sie die Spezialisten, die Fachleute und m i t ihnen den Fachidiotismus erzeugt 2 ." So wurde für M a r x die Arbeitsteilung überhaupt, „diese entfremdete und entäußerte Gestalt der menschlichen Tätigkeit", wie er sie nannte, m i t all ihren individuellen und sozialen Konsequenzen zum Zentralproblem seiner Anthropologie und Geschichtsphilosophie. Sein Ziel war die Aufhebung dieser Arbeitsteilung und der m i t ihr verbundenen „Entfremdung", die Herstellung eines Zustandes, „wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich i n jedem Zweige ausbilden kann", wo er — u m das von Marx nicht ganz glücklich gewählte B i l d wieder aufzunehmen — die Möglichkeit hat, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer, H i r t oder K r i t i k e r zu werden, wie ich gerade Lust habe 3 ." Man sollte gewiß diese Schilderung nicht zu wörtlich nehmen, w o h l aber die dahinterstehende Idee eines nicht spezialisierten Individuums, das — aus dem Zwang der Spezialisierung befreit und wieder Herr seiner selbst — die Totalität der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten tatsächlich realisieren kann. Die entscheidende Frage ist nun natürlich: Wie läßt sich dieses Persönlichkeits« und Bildungsideal verwirklichen? I n der Beantwortung dieser Frage unterscheidet sich Marx allerdings radikal von den meisten zeitgenössischen K r i t i k e r n und Reformern, die meinten, man könne das Ideal nur durch Abwendung von der Berufs- und A r beitswelt überhaupt erreichen (so Humboldt) oder durch Rückkehr zu vorindustriellen Arbeits- und Lebensformen (so z. B. Goethe, Fourier, Proudhon). M a r x meinte, daß es nicht ausreiche, am Rande der arbeitsgeteilten Welt ein pädagogisches Gegengewicht zu errichten, sondern daß es gelte, alle Menschen von den schädlichen Wirkungen der Arbeitsteilung zu befreien. Das sei aber auch nicht möglich, indem man das Rad der Geschichte zu vorindustriellen Arbeits- und Lebensformen zurückdrehe. Für i h n gab es nur die Lösung „nach vorn", über die Weiterentwicklung der industriellen Produktionsweise. Diese Produktionsweise war aber gerade durch eine immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung gekennzeichnet — wie ließ sich da die Arbeitsteilung aufheben? Marx sah die Lösung dieses Dilemmas i n der Annahme einer bestimmten technischen Entwicklung, i n einer „technischen Vision": i n der 2 8

Marx: Das Elend der Philosophie. M E W 4, S. 157. Deutsche Ideologie, M E W 3, S. 33.

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„automatischen Fabrik". Er glaubte, i n der Entwicklung des Maschinenwesens Tendenzen erkennen zu können, die einen „dialektischen Umschlag" für die menschliche Arbeit bedeuteten. M a r x war i n der zeitgenössischen ökonomischen Literatur auf Beschreibungen von Produktionsprozessen gestoßen, die w i r heute zwar lediglich als Vor- und Frühformen vollmechanisierter und automatisierter Produktion bezeichnen würden, die aber schon deutlich Auswirkungen auf den A r beiter erkennen ließen. So schrieb z. B. der englische Nationalökonom Andrew Ure 1836: „Nach dem automatischen System werden die Fähigkeiten des Arbeiters nur einer angenehmen Übung unterworfen . . Da seine Tätigkeit darin besteht, die Arbeit eines wohlgeregelten Mechanismus zu überwachen, kann er sie i n kurzer Zeit erlernen; indem er seine Leistungen von einer Maschine auf eine andere überträgt, wechselt er seine Tätigkeit und entwickelt er seine Ideen, indem er über die allgemeinen Ideen nachdenkt, welche aus seiner und seiner Kollegen Arbeit resultieren 4 ." Marx war sich der Bedeutung dieser Überlegungen sofort bewußt. Die Übernahme der unterteilten Arbeit durch komplexe Maschinensysteme eröffnete die Möglichkeit, einerseits den Arbeiter aus der Unterordnung unter die Arbeitsteilung zu befreien, andererseits aber die Arbeitsteilung unter den Maschinen innerhalb des vollautomatischen Systems immer weiter voranzutreiben. Damit sah Marx sein Hauptproblem gelöst: „Was die Arbeit i n der mechanisierten Fabrik kennzeichnet, ist, daß sie jeden Spezialcharakter verloren hat. Aber von dem Augenblick an, wo jede besondere Entwicklung aufhört, macht sich das Bedürfnis nach Universalität, das Bestreben nach einer allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar. Die automatische Fabrik beseitigt die Spezialisten und den Fachidiotismus 5 ." Die Entspezialisierung der Arbeiter war nach Marx' Ansicht durch die moderne automatisierte Industrie nicht nur möglich, sondern auch für diese Industrie selbst notwendig geworden: „Durch Maschinerie, chemische Prozesse und andere Methoden wälzt sie beständig m i t der technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der A r beiter und die gesellschaftlichen Kombinationen des Arbeitsprozesses u m . . . Die Natur der großen Industrie bedingt daher Wechsel der Arbeit, Fluß der Funktion, allseitige Beweglichkeit des A r b e i t e r s . . . " und sie macht es zu einer „Frage von Leben und Tod", „das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Teilfunktion 4 Andrew Ure: Philosophie des manufactures ou économie industrielle. Bd. 1. Bruxelles 1836. Zitiert nach Marx, Das Elend der Philosophie. M E W 4, S. 156. 5 Das Elend der Philosophie. M E W 4, S. 157.

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durch das total entwickelte Individuum (zu ersetzen), für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind 6 ." Diese Entwicklung sah Marx allerdings durch die kapitalistische Eigentumsform behindert; hier ist die Stelle, wo seine anthropologischen und technologischen Überlegungen i n seine Revolutionstheorie übergehen. Dieser Teil seiner Lehre steht hier jedoch nicht zur Diskussion, vielmehr interessieren nur die Konsequenzen für die Frage nach Bildung und Ausbildung. Unter den konkreten Erziehungsforderungen, die M a r x erhoben hat, verdienen hier vor allem zwei unsere Aufmerksamkeit: 1. die Forderung, den Unterricht mit produktiver Arbeit zu verbinden, 2. die Forderung nach polytechnischer Bildung. M i t der Forderung, den Unterricht mit produktiver Arbeit zu verbinden — von Marx und Engels erstmals i m Kommunistischen Manifest ausgesprochen 7 — werden die Grundsätze der Aufhebung der Arbeitsteilung auf das Gebiet der Erziehung angewendet: Die Aufhebung der Klassenherrschaft bedeutet, daß künftig alle Menschen einer produktiven Tätigkeit nachzugehen haben, also auch i m Erziehungsprozeß mit der Sphäre der materiellen Produktion vertraut zu machen sind. Deshalb sollen bereits die Schüler und Schülerinnen (vom 9. Lebensjahr an) praktisch arbeiten — wobei aber stets daran gedacht werden muß, wie sich Marx und Engels die Arbeit der Zukunft vorstellten: sie w i r d „statt M i t t e l der Knechtung M i t t e l der Befreiung der Menschen . . . indem sie jedem einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen Fähigkeiten, körperliche wie geistige, nach allen Richtungen hin auszubilden und zu betätigen, und i n der sie so aus einer Last eine Lust wird 8 ." Unter der m i t produktiver Arbeit verbundenen Erziehung verstand Marx drei Bereiche: 1. geistige Erziehung, 2. körperliche Erziehung, 3. polytechnische Erziehung 9 . 6 7

8

Kapital I. M E W 23, S. 511 f. Nr. 10 der praktischen Maßregeln. Vgl. M E W 4, S. 481 f.

Engels: Anti-Dühring. MEW 20, S. 274.

0

Marx: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen. M E W 16, S. 194 f. 9 Tagung Dortmund 1966

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Der Begriff „polytechnisch" war seit Ende des 18. Jahrhunderts als Bezeichnung einer Schulgattung für die mittlere und höhere technische Laufbahn bekannt und bezeichnete eine allgemeine naturwissenschaftlich-technische Grundbildung und die Verbindung von theoretischen Studien mit der Praxis. Marx ging aber über das zeitgenössische Verständnis polytechnischer Bildung insoweit hinaus, als er sie nicht nur als eine spezielle Vorbereitung für eine begrenzte Gruppe technischer Führungskräfte ansah, sondern als einen wesentlichen Bestandteil der allgemeinen Erziehung für alle. Damit verlor die polytechnische B i l dung zugleich ihren berufsbezogenen Charakter und wurde für M a r x zur idealen Vorbereitung des aus der Arbeitsteilung befreiten „berufslosen" Menschen, der imstande ist, „das gesamte System der Produktion zu überschauen und von einem zum anderen Produktionszweig überzugehen". Aufgabe der polytechnischen Erziehung war es, „die allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätze aller Produktionsprozesse" mitzuteilen. Hierunter verstand Marx ein allgemeines naturwissenschaftliches Grundstudium und die Anwendung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse i n dem neuen Wissenschaftsgebiet der Technologie. Diese naturwissenschaftlich-technologische Bildung sollte einmal den allgemeinen Bildungshorizont des einzelnen erweitern und dank ihres wissenschaftlichen Charakters der Aufhebung des für Marx wichtigsten Moments der Arbeitsteilung dienen: der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit. Sie sollte es zum anderen m i t einer „Einweisung i n den praktischen Gebrauch und i n die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige" ermöglichen, die dem Menschen verbleibenden unspezialisierten Tätigkeiten rasch zu begreifen und auszuführen und deshalb auch ohne Schwierigkeiten zwischen den verschiedenen Produktionsbereichen wechseln zu können. Soviel i n Kürze zur Marxschen Bildungskonzeption. Es ist hier nicht möglich, sie einer ausführlichen kritischen Würdigung zu unterziehen, nur soviel sei gesagt: Zunächst kommt man aus der Distanz einer hundertjährigen Erfahrung nicht umhin, die Klarheit der Analyse des „automatischen Systems" anzuerkennen und die Weitsicht, mit der Marx auf dem Prinzip der Automation eine ganze Theorie des sozialen Wandels aufbaute. Bemerkenswert ist vor allem, wie deutlich Marx die Konsequenzen der Automation für die Arbeitsweise und -qualifikation des Fabrikarbeiters voraussah. Die allgemeine Übereinstimmung seiner Prognosen m i t den Ergebnissen neuerer einschlägiger Untersuchungen ließe sich vielfältig belegen; ich möchte hier nur ein Beispiel anführen. I n seiner Untersuchung „Die Zukunft des Menschen i n der industriellen Arbeitswelt" kommt Helmut Schelsky zu dem Ergebnis, daß „ . . . der Arbeiter

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gegenüber dem automatisierten Produktionsvorgang aus der Rolle eines Lückenbüßers herausgetreten ist i n die Rolle eines einen universalen mechanischen Vorgang überwachenden und kontrollierenden Zuschauers. Damit w i r d auch seine Tätigkeit i n gewissem Sinne wieder ,universaler'. Handarbeit w i r d i n Kopfarbeit verwandelt, die feste Zuordnung zu einem örtlichen Arbeitsplatz w i r d weitgehend abgeschwächt; i n einer A r t rotierender Arbeitsplatzstruktur innerhalb des ganzen Produktionsbereiches werden die Disponibilitätschancen des Arbeiters wesentlich verstärkt. Die Auswechselbarkeit der einzelnen Tätigkeiten ist sehr hoch 10 ." Soweit Schelsky, dessen Darstellung bis i n die Formulierungen hinein der Marxschen Prognose gleicht. Dieser Wandel der Arbeitsqualifikationen i m Gefolge der Automation ist nach den Worten Diebolds „ein Prozeß zur volleren Entwicklung des ganzen Menschen 11 ." Muß man also einerseits anerkennen, daß Marx wichtige Tendenzen der industriellen Entwicklung und die m i t ihnen verbundenen B i l dungsfragen richtig vorausgesehen hat, so darf man andererseits nicht übersehen, daß er die Bedeutung dieser Tendenzen i m einzelnen überschätzte und durch die einseitige Verabsolutierung zu Schlußfolgerungen gelangte, die von der tatsächlichen Entwicklung nicht bestätigt worden sind. Vor allem überschätzte Marx die vereinheitlichende W i r kung der Automation auf die Gesamtheit der Produktionsprozesse und damit auch die Nivellierung der Anforderungen und die Austauschbarkeit der Arbeitenden. Außerdem beachtete Marx zu wenig, daß die Automation zwar einerseits Spezialisten freisetzt, andererseits aber neue, anders- und höherqualifizierte Spezialisten erfordert. Die Entspezialisierung ist nur eine Tendenz der technischen Entwicklung, neben ihr läuft — i n entgegengesetzter Richtung — noch eine zweite, die zu immer neuen Spezialisierungen führt. Die Marxsche Prognose des „berufslosen", allseitig entwickelten und tätigen Individuums hat sich also nicht erfüllt. Diese Diskrepanz zwischen Prognose und Wirklichkeit mußte die marxistische Gesellschaftslehre von dem Augenblick an i n erhebliche Schwierigkeiten bringen, als man versuchte, die Theorie i n die Praxis umzusetzen. Dabei traten die Konflikte besonders i n der Bildungspolitik zutage. Die ganze wechselvolle Geschichte des sowjetischen Erziehungswesens i n den zwanziger und dreißiger Jahren ist von hier aus zu verstehen 12 . 10

In: Soziale Welt. Göttingen, 13 (1962), S. 101. John Diebold: Die automatische Fabrik. Nürnberg 1954, S. 230. Vgl. hierzu vor allem: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917. Dokumente und Texte. Hrsg. von Oskar Anweiler und Klaus Meyer. Heidelberg 1961. Oskar Anweiler: Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära. Heidelberg 1964. 11 12



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Zunächst versuchten die Bolschewisten nach der Machtergreifung 1917, die kommunistische Gesellschafts- und Bildungskonzeption sofort zu verwirklichen. Das fand seinen Ausdruck u. a. darin, daß das gesamte berufliche Schulwesen aufgelöst und eine einheitliche polytechnische Arbeitsschule geschaffen wurde, die das Parteiprogramm von 1919 ausdrücklich auf die Ausbildung „allseitig entwickelter Mitglieder der kommunistischen Gesellschaft" verpflichtete. Dieses Experiment mußte allein schon deshalb scheitern, weil die von Marx selbst geforderten Voraussetzungen nicht erfüllt waren: ein hoher Stand industrieller Produktion und ein entwickeltes Schulwesen. Rußland stand erst am Anfang der Industrialisierung und hatte eine Analphabetenquote von etwa 70 v. H. Angesichts dieser Lage war es zunächst einmal notwendig, den Prozeß der Industrialisierung nachzuholen und eine Phase fortschreitender Arbeitsteilung und Spezialisierung zu durchlaufen. Auch das Erziehungswesen wurde ganz i n den Dienst des wirtschaftlichen Aufbaus gestellt: man brauchte möglichst schnell angelernte Kräfte für die Massenberufe und Spezialisten für Führungsaufgaben i n allen Wirtschaftsbereichen. Das führte zu einer strikten Arbeitsteilung auch i m Schulwesen, zur fortschreitenden Professionalisierung der polytechnischen Arbeitsschule und zum Wiederaufbau des beruflichen Schulwesens. Dieser Entwicklung fiel schließlich der polytechnische Unterricht ganz zum Opfer; 1937 wurde er offiziell abgeschafft, da er die rasche Spezialisierung nur hemmte. Ideologisch wurde diese völlige Abkehr von der Marxschen Konzeption dadurch abgesichert, daß man den Kommunismus lediglich als Fernziel proklamierte, dem die Periode des „Aufbaus des Sozialismus" vorgeschaltet sei. M i t dieser von Stalin entwickelten Lehre wurde die Realisierung der kommunistischen Prinzipien zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben und von den aktuellen beruflich-technischen Ausbildungserfordernissen getrennt. Diese Konzeption galt für die Sowjetunion i n den dreißiger und vierziger Jahren, und sie wurde nach dem Kriege auch i n den sowjetisch besetzten Ländern Osteuropas übernommen, wo sie bis zum Ende der fünfziger Jahre Anwendung fand. Der Aufschub der kommunistischen Zukunftsverheißungen konnte auf die Dauer aber nicht unbegrenzt bleiben, wenn das Regime seine Glaubwürdigkeit nicht einbüßen wollte. So wurde dann i n der Sowjetunion seit Beginn der fünfziger Jahre behauptet, die sowjetische Gesellschaft sei auf dem Wege des „schrittweisen Überganges vom Sozialismus zum Kommunismus". Seit 1959 befindet sich die Sowjetunion nach ihrem ideologischen Selbstverständnis i n der „Phase des entfalteten Aufbaus des Kommunismus", und das Parteiprogramm der KPdSU von 1961 verheißt i n seinem

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Schlußsatz: „Die heutige Generation der Sowjetmenschen w i r d Kommunismus leben."

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im

Aus diesen Postulaten erwächst für die Bildungspolitik die Verpflichtung, die kommunistischen Bildungsprinzipien wieder i n die Unterrichtsziele und i n den Lehrbetrieb einzubeziehen. Diese Wiederbelebung des kommunistischen Zukunftsideals auch auf dem Gebiete der Erziehung führte etwa ab Mitte der fünfziger Jahre zu einer neuen Bestandsaufnahme der Marxschen Vorstellungen über Erziehung und Bildung. Ich überblicke die Entwicklung vor allem i n der Sowjetunion und i n Mitteldeutschland, da ich hier die Originalbeiträge lesen kann. Bei den übrigen Ländern bin ich auf die spärlichen Übersetzungen angewiesen; nach diesen zu schließen, hat sich i n diesen Fragen lediglich i n Polen eine nennenswerte Diskussion entwickelt. Dabei wurden zunächst völlig unbefangen und ohne kritische Überprüfung die Grundsätze der Aufhebung der Arbeitsteilung und des Arbeitswechsels als Voraussetzungen für die allseitige Entwicklung des Menschen übernommen. Doch auch i n der auf die Bestandsaufnahme folgenden Diskussion u m die Richtigkeit und Anwendbarkeit der „klassischen" Marxschen Position w i r d diese von einer Reihe von Autoren nachdrücklich verfochten. Zur Begründung w i r d vor allem behauptet, daß die Marxschen Vorhersagen der technologischen Entwicklung v o l l und ganz eingetroffen seien: Bei der Tätigkeit i n den vollautomatisierten Produktionsstätten seien körperliche und geistige Arbeit untrennbar miteinander verbunden, und es sei möglich, diese Tätigkeiten „ i m beliebigen Wechsel innerhalb der gesamten automatisierten Industrie der sozialistischen Länder" auszuüben 13 . Dieser Beschäftigungswechsel soll aber nicht nur auf benachbarte Berufe desselben Produktionsbereiches oder einander ähnlicher Tätigkeitsgebiete beschränkt sein — die Marxsche Forderung nach allseitiger Entwicklung w i r d i m vollen Wortsinne übernommen. Die allseitig entwickelte Persönlichkeit w i r d dadurch charakterisiert, daß sie nicht mehr an ein enges Fachgebiet gebunden ist, sondern „es gegen ein beliebig anderes vertauschen kann 1 4 ". Als Beispiel w i r d ein Leningrader Schlosser erwähnt, der zugleich Geschichtslehrer i n

13 S. G. Strumilin: Kommunizm i razdelenie truda (Kommunismus und A r beitsteilung). In: Voprosy filosofii (Fragen der Philosophie). Moskva, 17 (1963) Nr. 3. Zitiert nach der Übersetzung in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge (im folgenden zitiert: SGB). Berlin 1963, S. 1320 f.

14

Strumilin, a. a. O., S. 1324.

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einer Schule ist 1 5 . I n diesem Sinne beschreibt ein mitteldeutscher Autor den Menschen der kommunistischen Gesellschaft: „So zeichnen sich Menschen ab, die nicht nur nicht an einen bestimmten Beruf zeit ihres Lebens gebunden sind, sondern die einen eigentlichen Beruf i m heutigen Sinne des Wortes gar nicht mehr haben. Die Menschen i n der kommunistischen Gesellschaftsordnung erscheinen als produktiv arbeitende, aber Berufslose' Menschen, eben als total entwickelte und sich total betätigende Individuen 1 6 ." Diese Wiederbelebung des klassischen Marxschen Ideals ist aber i n der kommunistischen Arbeits- und Erziehungswissenschaft durchaus nicht unwidersprochen geblieben, vielmehr gibt es seit Beginn der sechziger Jahre — und zwar nach meiner Kenntnis hauptsächlich i n der Sowjetunion — eine lebhafte Diskussion u m den Realitätsgehalt dieses Ideals. Die K r i t i k e r haben vor allem bei einem praktischen Problem angesetzt: bei der Schwierigkeit, das Prinzip des freien und beliebigen Arbeitswechsels m i t der umfassenden Produktions- und Arbeitskräfteplanung einer zentralgeleiteten Wirtschaft kommunistischen Typs i n Einklang zu bringen. Es w i r d darauf hingewiesen, daß ein unbeschränkter Arbeitswechsel der Steigerung der Arbeitsproduktivität widerspreche; und i n einem Diskussionsbeitrag heißt es eindeutig: „Deshalb sind Versuche, solche Übergänge auch i n der heutigen mechanisierten Produktion zu praktizieren, utopischer Natur 1 7 ." Immer wieder w i r d betont, daß die klassische universalistische Auffassung der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit zu unproduktiver „Alleswisserei" und zum „Dilettantismus" führe, daß „eine hochproduktive Arbeit vom Menschen der kommunistischen Gesellschaft eine große Menge an Kenntnissen und Fähigkeiten auf einem bestimmten, eng begrenzten Gebiet verlangt", und daß er deshalb „nicht auf mehreren Gebieten ein gründlich ausgebildeter Spezialist sein könne 1 8 ".

v . j . El'meev: Vsestoronnee razvitie liönosti predpolagaet uniötoSenie razdelenia truda mezdu ljud'mi (Die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit setzt die Beseitigung der Arbeitsteilung zwischen den Menschen voraus). In: Vop. fil. 16 (1962) Nr. 10. Zitiert nadi der Übersetzung in SGB 1963, S. 320. 16 Gotthold Krapp: Marx und Engels über die Verbindung des Unterrichts mit produktiver Arbeit. Berlin (Ost) 1958, S. 181 f. 17 G. P. Kozlova und Z. I. Fajnburg: Izmenenie charaktera truda i vsestoronnee razvitie öeloveka (Die Wandlung des Charakters der Arbeit und die allseitige Entwicklung des Menschen). In: Vop. fil. 17 (1963) Nr. 3. Zitiert nach der Übersetzung in SGB 1963, S. 1335. 18 A. V. Andreev und J. V. TimoSkov: Razdelenie truda i ob§öestvennye gruppy pri kommunizme (Arbeitsteilung und gesellschaftliche Gruppen im Kommunismus). In: Vop. fil. 16 (1962) Nr. 10. Zitiert nach der Ubersetzung in SGB 1963, S. 432 f.

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Alle diese kritischen Beiträge laufen darauf hinaus, die bisherigen beiden Grundbedingungen für die Entwicklung des Menschen i m Kommunismus — Aufhebung der Arbeitsteilung und Ersetzung durch den Wechsel der Tätigkeit — zurückzuweisen und auch den Kommunismus als eine Ordnung zu beschreiben, i n der weiterhin eine Arbeitsteilung zwischen den Menschen besteht. Auch i m Kommunismus w i r d sich nach Meinung der K r i t i k e r die Arbeitsteilung weiterentwickeln und vertiefen, und man kann, wie es i n einem Beitrag heißt, „ i m Hinblick auf die kommunistische Gesellschaft nicht davon sprechen, daß die Arbeitsteilung verschwinden und daß zu utopischen Schemata übergegangen wird, nach denen der Mensch der kommunistischen Gesellschaft verschiedene Arbeitsarten abwechselnd ausführt 1 9 ". Man kann dieser Ablehnung der „utopischen Schemata" durchaus zustimmen; die innerkommunistische K r i t i k hat sehr deutlich die schwachen Stellen der klassischen Konzeption aufgedeckt. Dazu sollte vielleicht noch bemerkt werden, daß diese K r i t i k nicht etwa i m geheimen, sondern ganz offen i n den führenden wissenschaftlichen und ideologischen Zeitschriften geäußert wurde. Es ist i m Rahmen dieses Vortrages leider nicht möglich, einer sehr interessanten Frage nachzugehen: W i r d durch diese K r i t i k nicht das Gebäude des Marxismus-Leninismus unterminiert? Sind diese „utopischen Schemata" nicht von Marx und Engels entworfen und später von Lenin bestätigt worden? Es sei nur soviel gesagt, daß man sich bei diesem für kommunistische Ideologen höchst delikaten und auch brisanten Problem aus der Affäre zu ziehen versucht, indem man sagt: Marx, Engels und Lenin haben ihre Aussage gar nicht so gemeint, wie sie jetzt von einigen Leuten dargestellt werden. Nicht die Klassiker haben sich geirrt, sondern einige Interpreten, die sie falsch verstanden haben. Dieser Ausweg ist i n der Sache natürlich höchst anfechtbar, aber er leistet i n der innerkommunistischen Diskussion immerhin die wichtige Aufgabe, die Autorität der Klassiker zu wahren. Aber gleichgültig, wem man nun den V o r w u r f des Utopismus macht, die Aufgabe bleibt bestehen, das Menschenbild und die Bildungskonzeption des Kommunismus neu zu formulieren, und zwar unter Verzicht auf das allseitig entwickelte und tätige Individuum. Den Ansatzpunkt für die neue Konzeption liefern die allgemeinen Erfahrungen des technischen Fortschritts. Diese sind — darüber herrscht bei den kommunistischen Autoren Einigkeit — keineswegs eindeutig und gestatten keine uneingeschränkte Prognose i n einer bestimmten Richtung. Sie führen vielmehr zu der Erkenntnis, daß der Andreev/TimoSkov,

a. a. O., S. 432.

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technische Fortschritt widerspruchsvoll vor sich geht. So heißt es z. B. i n einer sowjetischen Analyse, der repräsentativer Charakter zugesprochen werden kann: „Einerseits drängen die Erfolge und der weitere wissenschaftlich-technische Fortschritt die menschliche Persönlichkeit zur Aneignung vielfältiger Kenntnisse und Entwicklung universeller F ä h i g k e i t e n . . . A n dererseits bewirkt der immer komplizierter werdende gesellschaftliche Produktionsprozeß, der kolossal anwachsende Umfang unseres Wissens notwendigerweise eine Spezialisierung der Tätigkeit jedes Individuums und erfordert folglich auch konkrete Fachkenntnisse. Ohne das ist eine praktische Tätigkeit des Menschen unmöglich 20 ." Der technische Fortschritt führt wohl zur Verringerung der Unterschiede zwischen vielen Tätigkeitsarten; insbesondere die Automatisierung nivelliert die Arbeiten i n verschiedenen Produktionsbereichen und nähert sie einander an. A n die Stelle enger Spezialberufe treten Berufe „breiten Profils", wie es i n der sowjetischen Terminologie heißt. Doch diese Beseitigung eines engen Professionalismus bedeutet nicht den Verzicht auf Spezialisierung. Die berufliche Arbeitsteilung bleibt also weiterhin bestehen, aber sie ändert sich insofern, als sich der Inhalt der Tätigkeit des i n einem konkreten Produktionszweig beschäftigten Arbeiters ändert. I n immer größerem Umfang t r i t t neben die körperliche Arbeit — und zum Teil an ihre Stelle — die geistige Tätigkeit; die neue Technik stellt erhöhte Anforderungen sowohl an das Spezialwissen als auch an das allgemeine naturwissenschaftlich-technische Verständnis. Außerdem spielen Aufmerksamkeit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit eine immer größere Rolle i n der Arbeit. Aufgrund dieser Erkenntnisse erhält die Forderung nach Vereinigung von körperlicher und geistiger Arbeit einen neuen Sinn. Die bisherige Auffassung, diese Vereinigung durch Ausübung verschiedener körperlicher und geistiger Tätigkeiten zu realisieren, w i r d von den kommunistischen Arbeitswissenschaftlern als „schematisch" zurückgewiesen. Nur eine enge Spezialisierung ermöglicht es — so w i r d argumentiert —, geistige und körperliche Arbeit zu verbinden, Wissen und Können miteinander zu verknüpfen. Ein tatsächlicher Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen — wie ihn Marx vor Augen hatte — w i r d nunmehr nur noch i m Rahmen eines mehr oder weniger engen Tätigkeitskreises für möglich gehalten. I n der Praxis soll dies vor allem durch das Erlernen eines zweiten Spezialberufes innerhalb desselben Fachgebietes geschehen. 20 A. K. Kurylev: O vsestoronnem razvitii liCnosti pri kommunizme (Über die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit i m Kommunismus). In: Vop. fil. 15 (1961) Nr. 11. Zitiert nach der Übersetzung in SGB 1962, S. 473.

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Diese Einschränkung des Arbeitswechsels i m Produktionsbereich erfährt aber eine gewisse Kompensation durch Einbeziehung des Wechsels zwischen beruflicher Tätigkeit und gesellschaftlicher Freizeitbeschäftigung. Dazu werden gezählt: die Mitarbeit i n gesellschaftlichen Organisationen, die vielfältigen Formen der Weiterbildung und des Selbststudiums, die Teilnahme an künstlerischer Laientätigkeit u. a. m. Aus alldem w i r d deutlich, daß i n der kommunistischen Theorie die allseitige Entwicklung des Menschen und die berufliche Arbeitsteilung nicht mehr als krasser Gegensatz gesehen werden; vielmehr gilt heute die Auffassung, daß „die Beherrschung des Fachgebiets i n der automatischen Produktion für sich selbst schon Merkmal der hochentwickelten und vielseitigen geistigen Potenzen des Menschen" ist 21 . A n die Stelle der „allseitig entwickelten Persönlichkeit" t r i t t der „vielseitig gebildete Fachmann": I n der kommunistischen Gesellschaft soll „jeder Mensch... vor allem ein hochqualifizierter und vielseitiger Spezialist und Meister seines Faches sein 22 ". M i t dieser Wandlung des kommunistischen Bildungsideals erhält auch die polytechnische Erziehung eine neue Funktion. Trug sie i n der klassischen Konzeption den Charakter einer eigenständigen, der Beruf serziehung bewußt entgegengesetzten Disziplin, so w i r d sie jetzt zum „unentbehrlichen Bestandteil der beruflichen Ausbildung 2 3 ". Die kommunistische Erziehungswissenschaft sieht heute die von der technischen Entwicklung geforderte Vorbereitung vielseitig einsatzfähiger Fachleute vor allem durch eine „organische Verbindung der beruflichen und der polytechnischen Ausbildung 2 4 " gewährleistet. M i t dieser neuen Konzeption der polytechnischen Erziehung kann der Gegensatz zwischen allgemeiner Bildung und beruflicher Ausbildung, der auch i n der marxistisch-kommunistischen Bildungstheorie als Erbe des Neuhumanismus lebendig war, als überwunden gelten. M i t der Verbindung von polytechnischer und beruflicher Bildung öffnet sich auch die kommunistische Pädagogik der Erkenntnis, daß es „keine 21

N. Kristosturjan: Vsestoronnee razvitie rabotnika proizvodstva (Die allseitige Entwicklung des Produktionsarbeiters). In: Kommunist. Moskva, 40 (1963) Nr. 7, S. 56. 22 I. Suderevskij: Obscestvennoe razdelenie truda v period razvernutogo stroitel'stva kommunizma (Gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Periode des entfalteten Aufbaus des Kommunismus). In: Socialistiöeskij Trud (Sozialistische Arbeit). Moskva, 8 (1963) Nr. 1, S. 13 f. 23 R. A. Medwedew: Uber die dialektischen Wechselbeziehungen zwischen der Allgemeinbildung, der polytechnischen Bildung und der Berufsausbildung in der sowjetischen Schule. In: Probleme der Schulentwicklung nach dem X X I I . Parteitag der KPdSU. Vergleichende Pädagogik, Folge 1. Berlin (Ost) 1962, S. 131. 24 A. F. Protopopow: Unterrichten — Bilden — Erziehen in der Berufsschule. Aus dem Russischen. Berlin (Ost) 1960, S. 14 f.

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wirkliche Vermenschlichung ohne Verberuflichung und keine Verberuflichung ohne ernsthaft vorbereitende Ausbildung" gibt 2 5 — wobei eine ernsthafte Vorbereitung eine solche zur „breiten beruflichen Befähigung" ist. Meine Damen und Herren, es ist Ihnen aus meinen Ausführungen wahrscheinlich schon deutlich geworden (und ließe sich detailliert nachweisen), daß die neuere kommunistische Analyse des technischen Fortschritts i n allen wesentlichen Punkten m i t den Erkenntnissen der westlichen technischen und Sozialwissenschaften übereinstimmt. Beide konstatieren sowohl Tendenzen zur Nivellierung und Austauschbarkeit der Tätigkeiten als auch zur stärkeren Spezialisierung.. Beide sprechen von einer neuen Universalität des Arbeiters; diese w i r d jedoch nicht als Aufhebung jeglicher beruflicher Arbeitsteilung verstanden, sondern vor allem als geistige Aufwertung und breitere Profilierung spezialisierter Tätigkeiten. Auch die Folgerungen für die Bildungsanforderungen sind i n Ost und West die gleichen: man braucht ein Mehr an theoretischem Wissen und allgemeinem technischen Verständnis — jedoch ohne Verzicht auf eine solide Vermittlung spezieller beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten. Eine sinnvolle Vorbereitung auf das Arbeitsleben kann unter diesen Umständen nur i n einer „organischen Verbindung" von polytechnischer und beruflich-spezieller Unterweisung bestehen. Sowohl kommunistische wie westliche Sozialwissenschaftler sehen i n dem Wandel der Qualifikationsanforderungen Chancen für eine „vollere Entwicklung des ganzen Menschen". Bei der neuformulierten kommunistischen Konzeption der polytechnischen Bildung handelt es sich also u m einen Komplex von Erkenntnissen und Forderungen, der i n allen fortgeschrittenen Industrieländern unabhängig von der gesellschaftlichpolitischen Ordnimg i m wesentlichen übereinstimmt und an dem nichts spezifisch kommunistisch Ideologisches ist. I n diesem Zusammenhang w i r d i m Westen oft von einer „Entideologisierung" i m kommunistischen Bereich gesprochen. Da aber die neue Konzeption weiterhin als „kommunistisch" deklariert w i r d und die Marxschen Prinzipien zumindest als Leerformel beibehalten werden, scheint es m i r sinnvoller zu sein, hier statt von Entideologisierung von einer Pragmatisierung der kommunistischen Ideologie zu sprechen. Meine Damen und Herren, von dem m i r gestellten Thema habe ich nur einen verhältnismäßig engen Teilbereich behandelt. Vor allem muß ich um Nachsicht bitten, daß ich weniger über die Bildung und 25 René Hubert : S. 325.

Grundriß der allgemeinen Pädagogik. Meisenheim 1956,

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Ausbildung selbst als über einige ihrer Voraussetzungen gesprochen habe. Diese Akzentuierung war jedoch bewußt gewählt, einmal deshalb, weil m i r diese Seite der Problematik für das Verständnis dessen, was i n Osteuropa geschieht, besonders wichtig erscheint, und zum anderen deshalb, weil man über die praktischen und organisatorischen Fragen des kommunistischen Bildungswesens bei uns verhältnismäßig viel lesen und hören kann, kaum aber über die von m i r angeschnittenen pragmatischen Wandlungen i n der Bildungskonzeption. I m übrigen stehe ich Ihnen i n der Diskussion für die ausführliche Behandlung praktischer Fragen gern zur Verfügung.

Bildungs- und Ausbildungsprobleme ausländischer Arbeitnehmer Von Dr. Giacomo F. Maturi, Fordwerke, K ö l n

Die Statistiken des Internationalen Arbeitsamtes zeigen hinsichtlich des Beschäftigtenstandes nicht nur große Unterschiede zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern, sondern auch eine stark divergierende Tendenz. I m Zuge der zunehmenden Industrialisierung besteht bei den Industrieländern ein immer stärkerer Mangel an Arbeitskräften, bei den Entwicklungsländern dagegen eine immer größere Arbeitslosigkeit. Diese Arbeitslosigkeit w i r d eigentlich erst durch die Bemühungen u m den industriellen Aufbau richtig sichtbar. Sie verwandelten den vorherigen ruhigen, primitiven, aber doch irgendwie idyllischen Zustand i n eine dramatische Situation, i n der viele Menschen nicht die Möglichkeit haben, einer ständigen Beschäftigung nachzugehen, die ihre Familien ernährt. Das hat natürlich eine starke Abwanderung von Arbeitskräften i n die Industrieländer zur Folge. Diese Bewegung erfolgt zum Teil spontan aufgrund der unterschiedlichen Freizügigkeitsbestimmungen, oder sie w i r d aufgrund von Anwerbevereinbarungen zwischen den verschiedenen Staaten offiziell organisiert. Die spontane Auswanderung hat den Vorteil, daß sie sich nach und nach vollzieht und die Eingliederung erleichtert. Allerdings sind hier die Schwächsten immer sehr stark benachteiligt, und es können sowohl für die Aufnahmeländer als auch für die Abgabeländer peinliche Situationen und soziale Probleme entstehen. Die organisierte offizielle Vermittlung, wie w i r sie i n der letzten Zeit für Deutschland haben, hat wiederum den Nachteil, daß sie sehr schnell vor sich geht. Jede Organisation ist i n Gefahr, zu versagen, wenn sie sich mit Menschen beschäftigt. Es ist ganz klar, daß i m Vordergrund dieser Vermittlungstätigkeit arbeitsmarktpolitische Ziele stehen, d. h. daß die Wirtschaft diese Entwicklung bestimmt und beeinflußt. Der Mensch, den man i n das Land hereinholt, w i r d i n erster Linie als Arbeitskraft betrachtet. Aber dann merkt man, daß er zugleich ein neues Mitglied der ihn aufnehmenden Gesellschaft wird. Und nun

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entsteht eine ganze Reihe von Problemen, die man nur dann ohne größere Schwierigkeiten lösen kann, wenn man vorher entsprechende Maßnahmen getroffen hat. Hier erhebt sich die Frage nach der Bildung und Ausbildung dieser großen Masse von ausländischen Arbeitnehmern. Wie viele es sind, zeigt die Tatsache, daß allein i m vergangenen Jahr, also 1965, über eine Million Arbeiter aus den südeuropäischen Ländern i n die mittelund westeuropäischen Industriestaaten gekommen sind. I n den letzten fünf Jahren sind mehr als sechs Millionen Arbeiter aus den südeuropäischen Ländern und aus Übersee i n die europäischen Industriegebiete eingewandert. Die Frage nach der Bildung und Ausbildung dieser Arbeitnehmer beschränkt sich nicht nur auf eine Bestandsaufnahme, d. h. auf die Feststellung, wie hoch der Bildungsgrad dieser Leute ist, wieviel Jahre sie die Schule besucht haben, ob sie einen Beruf erlernt haben oder nicht. Neben dem Wunsche, diese Menschen sinnvoll zu beschäftigen, besteht auch das Bedürfnis, sie i n die aufnehmende Gesellschaft einzugliedern. Und dazu ist es ohne Frage notwendig, nach Möglichkeiten zu suchen, u m ihre Bildung und Ausbildung zu fördern. Diese Notwendigkeit ergibt sich einfach aus den sozialen Unterschieden zwischen den Herkunftsländern und den Beschäftigungsländern. Die ausländischen Arbeiter, die w i r mit einem Verlegenheitsausdruck „Gastarbeiter" nennen, müssen gefördert werden, denn sie sind nicht nur heute hier i n der Bundesrepublik, i n der Schweiz, i n Frankreich, i n Belgien und i n anderen Ländern, sondern sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach — man kann sogar sagen, m i t Sicherheit — auch i n den nächsten Jahren hier unbedingt notwendig sein. Hinzu kommt der steigende Bedarf an Fachkräften i n der Industrie. Wenn also Mißstände vermieden werden sollen, die die Bevölkerung i n den Aufnahmeländern belästigen und die auch für die ausländischen Arbeitnehmer nicht angenehm sind, so muß eine Eingliederung erfolgen. Ein weiterer Grund ist das Problem der Rückkehr, auf das ich später noch eingehen werde. „Gastarbeiter", dieser Ausdruck wäre, wie Herr Prof. Duvernell schon sagte, nur für ein Gastverhältnis auf eine kurze, beschränkte Zeit angebracht. Wer aber einen Blick i n die vergangenen Jahre w i r f t und realistisch i n die Zukunft schaut, der weiß, daß dieses Wort hier wirklich nicht zutreffend ist. Es ist nämlich schon mehr als 10 Jahre her, daß man i n Deutschland einen Mangel an Arbeitskräften festgestellt und Anwerbevereinbarungen getroffen hat, zunächst mit Italien, Ende 1955, später, i m Jahre 1960, mit Griechenland und Spanien, noch später m i t der Türkei, mit Portugal und — i n einem beschränkten Rahmen — auch m i t Tunesien und Marokko. Diese Anwerbever-

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einbarungen sehen vor, daß die deutsche Arbeitsverwaltung i n diesen Ländern Anwerbekommissionen und Vermittlungsstellen errichtet, die inzwischen seit mindestens sechs Jahren m i t Hochdruck arbeiten. Fast jedes Jahr kamen über 200 000 ausländische Arbeiter auf diesem offiziellen Weg nach Deutschland. Wurde dadurch nun die Lücke am Arbeitsmarkt geschlossen? W i r wollen zunächst die Statistiken heranziehen. Nach den letzten Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sind bisher 1 300 000 ausländische Arbeitnehmer nach Westdeutschland gekommen. Gestern meldeten Fernsehen und Hundfunk, daß es i n der Bundesrepublik zur Zeit 100 000 Arbeitslose, aber 620 000 unbesetzte Arbeitsplätze gibt. I m Herbst ist die Situation meistens noch gespannter, so kamen z. B. i m vergangenen Herbst auf 84 000 Arbeitslose mehr als 700 000 Stellenangebote. Das bedeutet, daß die Lücke am Arbeitsmarkt keineswegs kleiner geworden ist. Die erste Zahl, also die der Arbeitslosen, ist sicherlich hieb- und stichfest; was aber die offenen Stellen angeht, so glaube ich, daß sie der Wirklichkeit nicht entsprechen. Es gibt eine ganze Zahl von Firmen, gerade von mittleren und kleinen, die ihren Bedarf gar nicht melden, weil sie wissen, daß sie entweder keine oder nicht die gewünschten Arbeitskräfte bekommen können. Es gibt viele, die sich noch davor scheuen, Ausländer zu beschäftigen, weil sie nicht entsprechend darauf vorbereitet sind, und deshalb lieber eine gewisse Beschränkung i n ihrer Tätigkeit i n Kauf nehmen. Wenn w i r nun aber die bisherige Entwicklung betrachten, dann können w i r sagen, daß das Experiment m i t der Ausländerbeschäftigung durchaus geglückt ist. I n den Betrieben hat man die Erfahrung gemacht, daß man, wenn man sich etwas Mühe gibt, m i t ausländischen Arbeitern genauso gut arbeiten kann. Viele deutsche Firmen rechnen damit, die noch bestehenden Lücken auch weiterhin m i t ausländischen Arbeitern auszufüllen. Mehrere Faktoren deuten darauf hin, daß der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften i n den nächsten Jahren noch steigen wird. Die Statistiken zeigen, daß die erwerbstätige Bevölkerung der Bundesrepublik i n den nächsten Jahren (mindestens bis 1975) zurückgehen wird. U n d außerdem befindet sich die Wirtschaft i n der Bundesrepublik Deutschland weiterhin i n einer gewissen Expansion. Trotz der einsetzenden Stabilisierungsphase hält der Trend der wachsenden Investitionen noch an. Die Bundesrepublik ist weitgehend auf Export angewiesen, und da werden noch starke Anstrengungen gemacht. Die Zahl der verfügbaren einheimischen Arbeitskräfte ist heute aus mehreren Gründen reduziert. Einmal sind jetzt die geburtenschwachen

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Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge i n den Produktionsprozeß gekommen. Zum anderen dauert die Ausbildung der jetzigen jungen Generation allgemein sowohl aufgrund der besseren Verhältnisse i n den Familien als auch aufgrund der Notwendigkeit einer stärkeren Spezialisierung länger. Und drittens werden durch die Bundeswehr, das ihr zugeordnete zahlreiche Hilfspersonal sowie durch diejenigen Wirtschaftsunternehmen, die für die Verteidigung produzieren, viele Kräfte gebunden. Ein weiterer Faktor, der für die Ausländerbeschäftigung symptomatisch ist (auch für die Funktion und die Stellung der Ausländer i n unserer Gesellschaft), ist die Änderung der Beschäftigungsstruktur. I n jedem hochindustrialisierten Land versuchen die Arbeitnehmer, ihre Positionen ständig zu verbessern. Deshalb ist es kein Wunder, daß heute i n der Bundesrepublik Arbeitsplätze vorhanden sind, die man nicht mehr mit Einheimischen besetzen kann. Es handelt sich um Hilfsarbeiterpositionen i n den Betrieben wie i m Haushalt, i n Pflegeanstalten, i n der Müllabfuhr usw. Da h i l f t es auch nichts, den Leuten den Arbeitsplatz durch höhere Löhne interessant zu machen. Hier ist m. E. ganz einfach ein institutioneller Bedarf, der nur mit den ausländischen Arbeitern gedeckt werden kann. Parallel zu diesem Bedarf an Hilfsarbeitskräften i m Sektor der Dienstleistungen (im weitesten Sinne des Wortes) steigt aber — wie schon erwähnt — ständig der Bedarf an Fachkräften. Und das ist der Grund, warum man nun ernstlich an die Ausbildung oder Weiterbildung der Ausländer denkt. Ich glaube, daß diese Entwicklung keine vorübergehende ist, sondern daß sie immer mehr den Charakter der Stabilität und Dauerhaftigkeit annehmen wird. Diese Einwanderungs- bzw. Auswanderungswelle ist m. E. nicht m i t den Auswanderungswellen der Vergangenheit zu vergleichen, sondern sie erfolgt i m Rahmen der ständig wachsenden europäischen Integration. Die Staaten decken untereinander ihren jeweiligen Bedarf an Gütern und an Arbeitskraft. Diese Mobilität w i r d m. E. bleiben; und deshalb sollten die ausländischen Arbeiter nicht als Fremde unter uns wohnen. Adam Smith sagte einmal, daß von allen Frachtstücken der Mensch am schwierigsten von einem Ort zum anderen zu befördern sei. I n der Tat könnte man hier die Frage stellen, ob es nicht besser wäre, die Arbeit zu den Menschen zu bringen, anstatt umgekehrt. M i t anderen Worten: Ist es gut, diese Millionen von Arbeitern i n die Industrieländer zu bringen? Oder wäre es nicht besser, wenn die Industrieländer dort Fabriken bauten, wo diese Menschen zu Hause sind? Man kann diese Frage sicherlich nicht mit wenigen Worten beantworten. Es gibt wirtschaftliche und auch soziale Überlegungen ver-

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schiedenster A r t , die dafür oder dagegen sprechen. Man kann aber i n diesen Ländern ohne ausreichende Infrastruktur j a nicht einfach Fabriken errichten. Diejenigen, die die Arbeit gerne an die Menschen heranbringen möchten, befürchten oft eine gewisse Ausnutzung i m fremden Land, es fällt sogar das Wort von der modernen Sklaverei. Aber es wandern ja auch Menschen aus höherentwickelten Ländern aus. Auswanderung ist eine Folge der inneren Einstellung des Menschen, der etwas Neues sehen w i l l und der i n der Fremde auch viel Neues lernt. Ich persönlich habe aufgrund meiner ständigen Arbeit unter ausländischen Arbeitern die Erfahrung gemacht, daß sich die Opfer, die diese Auswanderer i n der Zeit ihrer Arbeit i m Ausland auf sich nehmen, reichlich bezahlt machen. Gerade i m Hinblick auf Bildung und Ausbildung bieten sich ihnen große Vorteile. Es steht fest, daß die Menschen, die einige Jahre i m Ausland gearbeitet haben, eine ganze Reihe neuer Erfahrungen sammeln, von denen auch die Abgabeländer profitieren. Meines Erachtens ist es überhaupt richtig, die Beweglichkeit der Menschen zu fördern. Für ältere Leute mag das eine ganze Menge Härten bedeuten, aber die jüngere Generation hat davon großen Nutzen. Der Zusammenprall von Menschen m i t verschiedener Mentalität, m i t verschiedener Erziehung, mit anderen religiösen Ansichten usw., von Menschen, die aus ganz anderen klimatischen Verhältnissen kommen und dementsprechend andere Gewohnheiten i n ihrem Alltagsleben haben, bringt natürlich eine Reihe von kleinen und großen Problemen m i t sich. Aber die eigentliche Ursache der K l u f t , die heute hier i n Deutschland wie auch i n der Schweiz z.B. die ausländischen Arbeitnehmer von der einheimischen Bevölkerung trennt, ist der Unterschied i n der Bildung und Ausbildung, der die Gegensätze immer schärfer werden läßt und dann zu Maßnahmen führt, wie sie i n der Schweiz vor kurzem getroffen worden sind. Es handelt sich natürlich auch darum, Vorurteile zu überwinden; denn es gibt eine ganze Menge von Vorurteilen, die unsere Begegnung schon am Anfang vergiften und den täglichen Umgang, das Schließen von Bekanntschaften und Freundschaften praktisch unmöglich machen. Sie schaffen eine Mauer des Mißtrauens und der Geringschätzung. Aber es handelt sich nicht nur u m Vorurteile, es handelt sich u m tatsächliche Unterschiede. Die Unterschiede i n der Bildung und Ausbildung sind deshalb so entscheidend, w e i l sie auf der einen Seite Minderwertigkeitskomplexe und auf der anderen Seite eine gewisse Überheblichkeit hervorrufen. Glücklicherweise ist die Ausländerbetreuung hier i n Deutschland gut; sowohl die öffentlichen Stellen als auch die Wohlfahrtsverbände und 10 Tagung Dortmund 1966

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andere Organisationen geben sich große Mühe, den Ausländern vom Augenblick der A n k u n f t an zu helfen. Aber es handelt sich dabei mehr um Anpassungshilfen, die man dankbar annimmt, w e i l man sie braucht, die man aber i m Grunde nicht genügend schätzt, w e i l man sich nie gerne betreuen läßt. Man möchte lieber m i t einem gewissen Selbstbewußtsein auftreten und Selbstverantwortung i m Leben übernehmen. Dazu ist man nur leider nicht imstande. Hier müssen Bildung und Ausbildung einsetzen, u m diese Menschen zu Persönlichkeiten zu machen, die ihr Schicksal meistern, sowohl als vollwertige Mitarbeiter am Arbeitsplatz wie als Staatsbürger. Bei der Förderung der Bildung und Ausbildung handelt es sich zunächst u m die Sprache, denn die Sprache ist ja das Tor, das es ermöglicht, i n die neue Gesellschaft einzutreten und Kontakte herzustellen. Ferner ist die Allgemeinbildung zu heben, die erst das Verständnis für die organisierte Gesellschaft erweckt, und dann natürlich die Berufsausbildung, die einen sinnvollen Einsatz am Arbeitsplatz möglich macht. Man kann sich vorstellen, daß die Abgabeländer ihre Landsleute m i t gemischten Gefühlen i n die Industrieländer wandern sehen. Sie möchten sie am liebsten behalten, u m gerade mit der jüngeren Generation den Prozeß der Industrialisierung i m eigenen Land so stark wie möglich zu forcieren. Aber sie haben nicht genügend Arbeitsplätze für all diese Leute. Und deshalb schickt man sie eben ins Ausland. Man ist dort geneigt, den Nutzen, den die Industrieländer aus diesen Arbeitskräften ziehen, überzubewerten. Daneben aber hat man ständig Angst, daß die 400 000 Italiener z. B., die i n der Bundesrepublik beschäftigt sind, eines Tages i n einen Zug verfrachtet und zurückgeschickt werden könnten. I m vergangenen Jahr hat man m i t der Schweiz böse Erfahrungen gemacht. Die Schweiz hat zunächst einmal eine zehnprozentige Reduzierung der ausländischen Arbeiter durchgesetzt. Das war keine wirtschaftliche Überlegung, sondern eine rein politische Entscheidung. Zu einer Zeit, als gerade sehr viele italienische Arbeiter, die seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten i n der Schweiz beschäftigt sind, aus ihrem Urlaub i n Italien zurückkehren wollten, hat man sie an der Grenze aufgehalten. Einige wenige, die ohne Kenntnis der Situation über die Grenze gekommen waren, wurden mit Handschellen i m Polizeiwagen zurückgeschickt. Sie können sich denken, wie die Italiener das beurteilen. Sie sagen: Unsere Leute waren gut genug, jahrelang an Straßen, an Baustellen oder sonstwo zu arbeiten; jetzt w i l l man sie plötzlich nicht mehr und schickt sie uns i n dieser groben Weise zurück. Man muß wissen, daß die Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer nicht ohne Schwierigkeiten verläuft. Ob sie nach zwei, drei oder nach

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fünf Jahren zurückkommen, immer ist es problematisch, sie wieder aufzunehmen und einzugliedern. Das kann unter Umständen — wie bereits geschehen — gewaltige Auswirkungen auf die soziale und auf die politische Situation dieser Länder haben. Denn die Teilnehmer dieser neuen internationalen Wanderungsbewegung brechen — i m Gegensatz zu den Auswanderern früherer Zeiten — meistens die Brücken hinter sich ab. Sie gehen aus ihren Städten oder Dörfern auf Sizilien, i n Anatolien, i n Spanien, i n Griechenland m i t einem starken Ressentiment fort, m i t Mißtrauen, ja, manchmal m i t einer Haßliebe zum Heimatland und m i t dem festen Vorsatz, womöglich nie mehr zurückzukehren. Die gefühlsmäßigen und die familiären Bindungen sind natürlich sehr stark, und so kehren viele trotzdem zurück, nachdem sie etwas Geld erspart und sich neue Kenntnisse angeeignet haben. Aber i n den meisten Fällen — ich spreche hauptsächlich von den jüngeren Leuten — ist die Heimkehr eine solche Enttäuschung, daß sie wiederum fortgehen, entweder i n die Industriestädte des eigenen Landes, überwiegend aber wiederum ins Ausland. Man muß sich vor Augen halten, daß i n den Gebieten, wo die Anwerbung erfolgt — und das sind ja nicht die Industriegebiete — kein sozialer Fortschritt zu bemerken ist. Alles stagniert, es blieb eine kaum lebensfähige Gesellschaft zurück. Die tauglichen Kräfte zogen weg, und nach und nach gingen auch die Handwerker fort. Zurück blieben die alten Leute, Kinder und Frauen. Daher die Unmöglichkeit einer Entwicklung dieser Gebiete während der Zeit, i n der ihre Väter und Söhne i m Ausland sind. Und daher auch die Enttäuschung, wenn sie zurückkehren. Aus diesem Grunde haben viele Abgabeländer eine Auswanderung auf Zeit ins Auge gefaßt. Die Türkei hat z. B. versucht, i n die A n werbevereinbarungen eine Klausel einzubauen, wonach die türkischen Arbeiter nur zwei Jahre i n der Bundesrepublik bleiben und dann i n die Heimat zurückkehren sollen. Aber bis heute hat man nicht den M u t gehabt, auf dieser Klausel zu bestehen. Man freut sich, daß die Leute länger draußen bleiben. Gleichzeitig hegt man aber immer noch die Hoffnung, daß sie einmal zurückkehren, und zwar möglichst, wenn sie i n den Industrieländern gebildet und ausgebildet worden sind. Dieses sehr aktuelle Problem der Rückkehr soll demnächst auf einem Kongreß der OECD i n Athen von den betroffenen Regierungsstellen und Organisationen erörtert werden. Einen Lösungsversuch macht man zur Zeit i n Sardinien. Sardinien ist eines der Entwicklungsgebiete Italiens, wo die Regierung sich bemüht, sowohl die Entwicklung der Landwirtschaft als auch der Industrie zu forcieren. Aber es w i r d den Leuten da unten allmählich klar, daß man die nötigen Kräfte

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nicht mehr i m Lande hat. Anfang Studientagung ein Plan entwickelt, dinien zu lenken, Kontakte m i t den und ihre Wiedereingliederung schon

März wurde nun dort auf einer u m die Auswanderung aus SarAuswanderern aufrechtzuerhalten vor ihrer Rückkehr vorzubereiten.

Sind diese Pläne eine Illusion, oder läßt sich etwas davon erwarten? Persönlich bin ich sehr skeptisch, denn Erfolge sind m. E. nur möglich, wenn man gewisse Eingriffe i n die Freiheit der einzelnen vornimmt. Der freie Mensch entscheidet nach seinem Vorteil. Trotz der starken Fluktuation, die heute festzustellen ist, b i n ich der Ansicht, daß die große Mehrzahl der Auswanderer i m Ausland bleibt — zumindest verbringen sie dort die beste Zeit ihres Lebens — und den Aufbau des eigenen Landes nur indirekt beeinflussen wird. Ich glaube, man muß das Problem der Bildung und Ausbildung i n den Heimatländern unserer ausländischen Arbeitnehmer mehr beachten. Das ist ja gerade die Hauptursache der Rückständigkeit dieser Länder: der Mangel an Bildung und beruflicher Ausbildung, der Mangel an rationellem Denken, das die Voraussetzung für eine technische Betätigung, für das richtige Verständnis der Industriearbeit ist, der Mangel an wirtschaftlichem, politischem und demokratischem Denken. M i t diesem Problem der Bildung und Ausbildung muß man zu Hause fertig werden. Es wäre eine Illusion, die Lösung dieser Probleme von der Rückkehr der Auswanderer zu erwarten. Wie ist nun die tatsächliche Situation hinsichtlich der Bildung und Ausbildung der ausländischen Arbeitnehmer? Die Anwerbung zielt auch auf Facharbeiter aus den südeuropäischen Ländern ab, man bekommt aber vorwiegend, wie zu erwarten ist, Hilfsarbeiter. Die Statistiken der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung bezüglich des Anteils an Facharbeitern unter den ausländischen Arbeitern sind nicht recht klar. Man schätzt, daß bei den Spaniern und Griechen die 6-v. H.-Grenze sehr optimistisch ist, bei den Türken liegt der A n t e i l etwas niedriger, bei den Italienern kann man etwa m i t 12 v. H. rechnen. Diese Zahlen sind allerdings nach deutschen Vorstellungen nicht ganz korrekt. Es handelt sich hier i n den meisten Fällen u m Arbeiter, die eine gewisse Qualifikation auf irgendeinem Gebiete haben. Die meisten dieser Facharbeiter sind aus dem Baugewerbe, es sind Maurer. Aber Sie werden verstehen, daß ein Süditaliener, der von sich behauptet, Maurer zu sein, keineswegs die Ausbildung eines deutschen Handwerkers besitzt, der hier eine offiziell anerkannte Prüfung abgelegt hat. Weiterhin ist es m i r nicht gelungen, eine Statistik über die berufliche Herkunft der ausländischen Arbeitnehmer zu finden. Durch eine Umfrage habe ich ermittelt, daß rund 65 v. H. dieser Arbeiter aus

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der Landwirtschaft kommen, und zwar aus einer meistens sehr p r i m i tiven Landwirtschaft. Wer von Ihnen bisher nur an die Adria gefahren ist, der kann sich nicht vorstellen, wie die Landwirtschaft auf den südlichen Apenninen, auf den spanischen Hochebenen oder auf den griechische Inseln, geschweige denn i n Anatolien noch heute betrieben wird. Es ist eine Landwirtschaft, wie sie noch vor 1000 Jahren üblich war. Selbst wenn man da und dort einen Traktor oder eine landwirtschaftliche Maschine sieht, das verschlägt nichts bei der großen Masse. Sie können sich vorstellen, welche Voraussetzungen diese Menschen für die Arbeit i n der Industrie mitbringen. Z u den 65 v. H. aus der Landwirtschaft kommen 15 v. H. aus dem Handwerk. Auch hier handelt es sich i m allgemeinen u m Autodidakten, die i m besten Falle das Handwerk von einem Nachbarn abgeguckt haben, die also keine systematische Ausbildung haben. Sie sind unter Umständen sogar kleine Künstler, kleine Genies, eignen sich aber wenig für Team-Arbeit, für eine Gemeinschaftsarbeit nach festen Maßgaben. Oft schätzen diese südländischen Handwerker ihr Können sehr hoch ein und schauen m i t einer gewissen Geringschätzung auf deutsche Facharbeiter, die nur dann tätig werden können, wenn sie m i t allen möglichen M i t t e l n ausgerüstet sind, während die Südländer oft glauben, m i t ihren Fingerspitzen Wunder zu wirken. Weitere 10 v. H. der ausländischen Arbeitskräfte sind Intellektuelle oder Halbintellektuelle; das sind Schüler, Studenten, Volksschullehrer, Angestellte, frühere Offiziere, Selbständige, die sich von einer Arbeit i m Ausland eine Besserung ihrer Situation versprechen. Diese Leute sind sehr problematisch, w e i l sie aus sozialen Verhältnissen kommen, die sich m i t den stark organisierten und zuverlässigen Verhältnissen der deutschen Gesellschaft schlecht vergleichen lassen. Aber aus diesem Kreis kann man u. U. bei entsprechender Führung gute Leute heranziehen, die auch eine verantwortliche Arbeit übernehmen können. Die letzten 10 v. H. sind Menschen, die vorher nur von Gelegenheitsarbeiten gelebt haben, oder Jugendliche, die überhaupt erst ihre erste Beschäftigung aufnehmen. Ich habe auch versucht, aufgrund von Interviews festzustellen, wie nun der Bildungsgrad dieser Leute ist. Danach haben 50 v. H. nur drei Jahre lang eine Schule besucht. Es sind also keine Analphabeten, man nennt sie aber, z. B. i n Süditalien, die „sogenannten Alphabeten". Sie können zwar Buchstaben aneinanderreihen, jedoch kaum einen Brief schreiben oder die Zeitung lesen, es sei denn die großen Titel der Sportzeitungen. Weitere 30 v. H. haben fünf Jahre Schulbesuch aufzuweisen. 15 v. H. kommen aus Mittelschulen oder aus Höheren Schulen. Das ist ein

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interessanter Prozentsatz, und ich möchte sagen, daß man sich in deutschen Betrieben viel zuwenig Mühe gibt, diese Menschen herauszufinden und sinnvoller einzusetzen. Die übrigen sind Analphabeten. Bezüglich der politischen Einstellung muß man sagen, daß diese Menschen i n ihrem Lande kaum Kontakt mit der Politik gehabt haben, und wenn, dann mehr i n Form einer Protesteinstellung als einer politischen Mitarbeit an den demokratischen Einrichtungen. Das ist sehr aufschlußreich für die Beurteilung der psychologischen Grundeinstellung dieser Leute, die meistens von einem tiefen Mißtrauen geprägt ist, welches dann u . U . aufgrund der größeren Objektivität, die man hier vorfindet, i n das andere Extrem, nämlich unbegrenztes Vertrauen i n die deutschen Einrichtungen, umschlägt. Selbst diejenigen, die i n ihrer Heimat radikalen Bewegungen angehört oder mit solchen Bewegungen sympathisiert haben, verlieren hier allgemein jedes politische Interesse. Gewisse politische Betätigungsformen der Ausländer werden meist überschätzt. Die Lässigkeit, die die meisten Südländer, die hierher kommen, auf dem politischen Felde an den Tag legen, erstreckt sich auch auf den religiösen Sektor. Sie praktizieren nicht so viel, weil ihr Praktizieren viel mehr aus der Tradition und aus dem Familienleben zu verstehen ist. Trotzdem glaube ich, daß all diese Menschen zutiefst religiös sind. Welche Möglichkeiten für Bildung und Ausbildung bestehen nun i m Aufnahmeland? Und welche Aufgaben und Möglichkeiten hat das Herkunftsland? Ich möchte zunächst sagen, daß eine sehr breite Schicht der ausländischen Arbeitnehmer nur schwer für echte Ausbildung zu gewinnen ist. Deshalb muß man die Maßstäbe sehr tief unten ansetzen. Man muß systematisch anfangen m i t einer gründlichen Einführung i n das Betriebsleben und i n das Gesellschaftsleben. Das ist zunächst eine Aufgabe der Betriebe selbst und dann der Betreuungsorganisationen und — ich würde sagen — auch der vielen Bildungsstätten, die es hier i n Deutschland gibt, von der Volkshochschule bis zu vielen anderen Einrichtungen, die ich gar nicht alle aufzählen kann. Nach dieser grundlegenden Einführung i n die Struktur des Betriebes und i n die Struktur der Gesellschaft — diese kann sowohl i m Betrieb wie i n den Wohnheimen ganz gut gegeben werden — sollte eine gute Einarbeitung erfolgen. Also zunächst sozialpädagogische, dann arbeitspädagogische Bemühungen. A u f diese Einarbeitung müßte dann ein Anlernen oder ein Umlernen, je nachdem, erfolgen. Ich kenne Firmen, die zur Ergänzung der Grundbildung dieser Leute

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Sonderkurse i n Rechnen, Schreiben, i n der Muttersprache wie auch i n Deutsch durchführen, damit die Ausländer eine Grundlage für weitere Ausbildungsmaßnahmen erhalten. Das Wichtigste ist der Sprachunterricht. Die Beherrschung der Sprache erschließt neue Horizonte, gibt überhaupt erst die Möglichkeit, private Beziehungen aufzunehmen, Bekanntschaften und Freundschaften zu schließen und das Mißtrauen abzubauen. Der Mensch, der die Sprache nicht beherrscht, lebt i n einer ständigen Unsicherheit und i n einem ständigen Mißtrauen. Der Sprachunterricht hat sehr oft zu Mißerfolgen geführt. Aber ich glaube, es besteht kein Grund zur Ratlosigkeit. Man muß sich nur der psychologischen Einstellung dieser Leute etwas anpassen und den Sprachunterricht so gestalten, daß er Früchte trägt. M i t ein bißchen Gefühl dafür ist auch ohne Berücksichtigung der allermodernsten Methoden ein sehr beachtlicher Erfolg zu erzielen. Der Sprachunterricht darf natürlich nicht rein grammatikalisch sein, indem man den Leuten erklärt, was ein Zeit- und was ein Eigenschaftswort ist. Das sind Dinge, die sie nicht verstehen. Man muß den Sprachunterricht so wirklichkeitsbezogen wie möglich gestalten, und was noch wichtiger ist, er muß inhaltsbezogen sein. Ich habe selber Experimente miterlebt, Verbindungen von Sprachunterricht m i t Fahrschule, m i t Koch- und Einkaufskursen oder m i t einem ganz spezifischen Ausbildungsinhalt, z. B. m i t einer Ausbildung für Kranführer, Schweißer usw. Sobald die Sprache mit einem interessanten Inhalt oder mit neuen Chancen i m Berufsleben verbunden wird, führt der Unterricht zu Erfolgen. I m Anschluß an den Sprachunterricht kann die Spezialausbildung für höhere Tätigkeiten — noch keine Facharbeiterausbildung — erfolgen. Und schließlich, wenn die Ausländer genügend Sprachkenntnisse haben und m i t dem Leben, m i t der Arbeit i n einem modernen Betrieb vertraut sind, setzt dann die systematische Ausbildung ein, die die Ausländer nun natürlich gemeinsam m i t ihren deutschen K o l legen theoretisch wie praktisch absolvieren sollten. Man w i r d i n nächster Zeit auch von der Ausbildung von Ausländern zu Vorgesetzten sprechen. I n Firmen, i n denen ein ganzer Teil der Belegschaft aus Ausländern besteht, ist es unbedingt notwendig, auch Ausländer i n Führungspositionen zu stellen. Denn nur dadurch läßt sich eine differenzierte Struktur der Masse der Ausländer erreichen, die sich dann nicht mehr als ein geschlossener Fremdkörper i n unserer Gesellschaft fühlen, sondern imstande sind, sich einzugliedern und das Schicksal m i t den auf gleichen Stufen arbeitenden und lebenden

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Deutschen zu teilen. Wer das Zeug hat aufzusteigen, w i r d auf seiner Stufe anerkannt werden und sich seinen deutschen Kollegen ebenbürtig fühlen. N u n zu den Aufgaben der Herkunftsländer. Ich sagte schon, daß diese Länder sich nicht darauf beschränken dürfen, Vorteile von der Rückkehr der Auswanderer zu erwarten, sondern daß sie m i t einer systematischen Ausbildungsarbeit ansetzen müssen. Sie sollte vom vollständigen Besuch der Grundschule ausgehen, Kurse zur Ergänzung der Schulbildung für Erwachsene umfassen, eine berufliche Schulung bis zur Ausbildung von Facharbeitern, die sich evtl. i m Ausland spezialisieren können, einschließen, und sie sollte auch einen Unterricht i n der Sprache des Landes miteinbeziehen, i n das die Auswanderer gehen wollen. Und nicht zuletzt sollten diese Länder die Auswanderungswilligen unmittelbar vor der Abfahrt ausreichend informieren und vorbereiten. Gerade hier w i r d viel versäumt. Man müßte i n den Ländern, die auf die Auswanderung angewiesen sind, auch Vorurteile abbauen, u m die Rückkehr des Auswanderers leichter zu machen. Denn i n diesen Ländern herrscht eine ausgesprochene Verachtung gegenüber demjenigen, der weggezogen ist. Man sagt: Ja, das kann ja auch nur ein armer Strolch sein, denn er mußte j a weggehen! Deshalb müßte man die Auswanderung i n ein neues Licht stellen, sie nicht mehr sehen als eine Bewegung aus reiner Not, sondern als eine Bewegung aus Unternehmungslust; eine Bewegung aus der Freude auf das Neue, das man anderswo erleben und kennenlernen kann. Das erfordert natürlich eine Koordinierung der Bemühungen auf internationaler Ebene, sowohl i n der Anwerbung als auch i n der Betreuung der Leute i m Ausland, i n der Aufrechterhaltung der Kontakte m i t der Heimat und i n der Eingliederung i m Falle einer Rückkehr. Augenblicklich sind w i r aber hauptsächlich m i t dem Problem der Eingliederung hier i m Lande befaßt, und ich glaube, daß das beste Mittel, der beste Weg, u m diese ausländischen Arbeitnehmer hier einzugliedern, die Förderung ihrer Bildung und Ausbildung ist.

Bildung und Ausbildung aus der Sicht des Arbeitgebers Von Dir. Dr. Paul Gert von Beckerath, Leiter der Personalabteilung der Farbenfabriken Bayer A G Leverkusen

Die unternehmerische Betätigung auf dem Gebiete der Wirtschaft strahlt auf fast alle anderen Gebiete der Gesellschaft aus. Die industrielle Tätigkeit ist i n ihrer Erscheinungsform so umfassend, daß man sich daran gewöhnt hat, unsere heutige Gesellschaft eine „Industriegesellschaft" zu nennen. Das dieser Gesellschaft besonders eigentümliche Wesen liegt i n ihrer Dynamik, i n ihrem immerwährenden Drängen nach neuen Entwicklungen. Das Sinnen auf Neues, noch nicht Dagewesenes, setzt Forschung voraus, den Einsatz von Kenntnissen und Fertigkeiten, von gebildetem Geist und erworbenem Können. Es ist nicht immer so gewesen, daß sich aus der wirtschaftlichen Tätigkeit heraus die konstante Notwendigkeit zur Bildung ergeben hat. Solange man — und das geschah noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts — einem Gesellen, der i n eine Zunft aufgenommen werden sollte, einen Eid abforderte des Inhalts, daß er „nichts Altes ab- und nichts Neues aufkommen lassen" dürfte, hatten w i r es m i t einer statischen W i r t schaftsordnung zu tun, bei der ein einmal erworbener Stand an Fertigkeiten und Kenntnissen sorgsam gehütet und bewahrt wurde; wobei es nicht auf eine Veränderung des erzeugten Gutes und die Ausweitung seiner Produktion, sondern höchstens auf seine Verfeinerung ankam. Aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert kennen w i r jedoch bereits eine Definition, die i n treffender Weise den Ausdruck findet für eine ganz andere Epoche, für eine ganz andere Form wirtschaftlicher Betätigung. I n dieser Definition heißt es über das Wesen der Industrie wie folgt: „Industrie ist mehr als Fleiß; Fleiß ist beständig und i m Objekt beschränkt; Industrie ist Selbständigkeit, Industrie ist Vielerfahrenheit, Umsichtigkeit, Erfindungsreichtum; sie ist verbesserungssüchtig, neuerungssüchtig, ist bestrebt, i n gleicher Zeit durch Anwendung besserer M i t t e l mehr zu arbeiten, d. h. sie ist bestimmt durch Kraft- und Zeitökonomie; sie ist zeitorientiert, ist aufklärungssüchtig — und damit ein Feind der Verdummung."

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W i r könnten nach meiner Meinung all das, was heute so häufig über die Dynamik der Wirtschaft festgestellt wird, nicht plastischer, eingängiger und auch nicht kürzer formulieren. Es bedarf keiner längeren Darlegung, daß eine Wirtschaft, die durch die soeben zitierten Attribute gekennzeichnet wird, nach einem anderen Menschen verlangt als eine Wirtschaftsform, welche sich der Erhaltung des einmal Bestehenden, der Konstanz der Verhältnisse, verschworen hat. Ein kurzer Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Bildung, wie er sich i n der Mitte des vorigen Jahrhunderts i n deutlicher Weise abgezeichnet hat, sei m i r gestattet. Franz Schnabel hat i n seiner vierbändigen Deutschen Geschichte i m 19. Jahrhundert die enge Verflechtung zwischen diesen beiden Lebensgebieten dargestellt. A u f unternehmerischer Seite treten i m 19. Jahrhundert eine große Anzahl von Repräsentanten für die Notwendigkeit der Bildung zur Entwicklung der Industrie ein. Die Entwicklung der Industrie i m vorigen Jahrhundert ist unlösbar verknüpft mit den sich ausbreitenden Bildungsbestrebungen für das gesamte Volk; es gibt i n der stürmischen Ausbreitung und Entwicklung der Technik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Parallelen für eine solche Verknüpfung von Industrie und Bildung. W i r wollen festhalten, daß es der unternehmerisch tätige Mensch ist, der die Dinge i n Bewegung setzt und der durch seine rastlose Tätigkeit die Verhältnisse u m sich herum und seine eigenen Lebensbedingungen dauernd umformt. Es ist der Mensch, der sich das Instrumentarium für seine Arbeit schafft, ein Instrumentarium, das immer komplizierter wird. Es ist der Mensch, der daraufhin gebildet werden muß, m i t diesem verfeinerten Instrumentarium arbeiten zu können. I n dieser dynamisierten Welt muß er sich bewähren, er muß ihr gewachsen sein; denn es läßt sich keine statische Lebensform, wie es sie einmal gegeben haben mag, mehr zurückrufen. Was die Dynamik, mit der w i r es zu t u n haben und unter deren Gesetzen „die Forschung von heute der Umsatz von morgen ist", praktisch bedeutet, kommt darin zum Ausdruck, daß i n der chemischen Industrie Produkte, die vor 15 Jahren noch gar nicht da waren, heute bereits 50 v. H. der Produktion ausmachen. Kennzeichen der zukünftigen Entwicklung w i r d sein, daß die Veränderung der Verhältnisse immer schneller werden wird. Die Forschungsintensität, die i m Durchschnitt der gesamten chemischen Industrie bei 3 bis 4 v. H. des Umsatzes liegt und zu Aufwendungen für Forschungskosten von 1,1 Mrd. D M i m Jahre 1964 geführt hat, liegt z. B. bei der pharmazeutischen Industrie zwischen 5 bis 10 v. H.

Bildung und Ausbildung aus der Sicht de

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I n anderen Industrien, wie z. B. dem Maschinenbau, liegt der Forschungsaufwand bei 0,7 v. H. und bei der Stahlindustrie bei 0,9 v. H. des Umsatzes. Es kommen noch zwei Dinge hinzu, die unsere Situation kennzeichnen: Der Mensch hat sich eine künstliche Welt geschaffen, deren höchster Ausdruck i m „Gang" des Astronauten durch den Weltraum liegt. „Es steht sich", u m m i t Heisenberg zu sprechen, „der Mensch zum ersten M a l i n der Geschichte nur noch sich selber gegenüber". Der Mensch ist aus den Zusammenhängen m i t der Natur herausgetreten. Das andere Kennzeichen unserer Situation möchte ich darin sehen, daß w i r ständig dabei sind, zum Zwecke der Vervielfachung unserer Möglichkeiten Organisationen zu schaffen, die ihrer Konstruktion nach und hinsichtlich der Aufgabe ihrer Führung an Komplexität nichts mehr zu wünschen übriglassen. W i r stehen also unaufhörlich vor der zu bewältigenden Aufgabe, Fähigkeiten bereithalten zu müssen für die Lösung von Problemen, die laufend neu entstehen, die w i r Menschen selber fortwährend neu schaffen. W i r fanden kürzlich eine Mitteilung, wonach i m Jahre 1960 i m Kanton Basel rund 42,7 v. H. der berufstätigen Männer nicht mehr i n ihrem ursprünglichen Beruf tätig waren. Aus dem Unternehmen, i n dem ich selber tätig bin, darf ich Ihnen nach einer neuen Zählung sagen, daß rd. 54 v. H. der i n der Produktion tätigen männlichen Lohnempfänger (ausschließlich der Handwerkerbetriebe) vor ihrem E i n t r i t t i n die chemische Industrie einen anderen Beruf erlernt bzw. ausgeübt haben. Darunter sind Bäcker und Konditoren, Landwirte, Maler und Anstreicher, Bauhandwerker, Schreiner, Friseure und Bergleute besonders stark vertreten. Diese wenigen Ziffern zeigen, daß w i r uns i n einem erheblichen Strukturwandel unserer Wirtschaft und der i n ihr vertretenen Tätigkeiten befinden, über deren Ursachen hier i m einzelnen nicht zu sprechen ist. Ich möchte darauf hinweisen, daß sich i n der chemischen Industrie — und ich glaube, daß meine Ausführungen u m so wirklichkeitsnaher sind, je mehr sie spezifische Beispiele berücksichtigen — der Anteil der ungelernten Arbeitnehmer stark verringert hat, während die Anzahl der angelernten Arbeitnehmer (bei höheren Anforderungen an ihre Qualifikation) gestiegen ist. Eine Übersicht über die Ausweitung des Lehrberufes Chemie- und Physiklaborant zeigt, daß dieser i n der Bundesrepublik seit dem Jahre 1955 bis zum Jahre 1965 von 3831 auf 7130 angestiegen ist. I m Lehrberuf des Meß- und Regelmechanikers, einge-

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führt 1960, sind i n der kurzen Zeit von 5 Jahren 1034 Lehrbriefe vergeben worden. Lassen Sie mich weiter darauf verweisen, daß das Verhältnis von Angestellten zu Arbeitern, das i m Jahre 1892 i n den Farbenfabriken Bayer A G noch 1:14 war, heute 1:1,8 beträgt. Voraussetzung einer gedeihlichen Entwicklung industrieller Tätigkeit ist i n unserer Zeit das Vorhandensein einer ausreichenden Anzahl hochqualifizierter Wissenschaftler. So erwartet man z.B. i n den USA, i n denen i m Jahr 1963 1,2 Millionen Wissenschaftler tätig waren, schon für 1970 einen Bedarf von 2 Millionen dieser hochqualifizierten M i t arbeiter i n den verschiedensten Tätigkeitsgebieten. Der Bedarf an Chemikern w i r d i n den USA für 1970 m i t ca. 170 000 angegeben, während der Bestand 1960 nur ca. 104 000 betragen hat. Es handelt sich also u m eine Steigerung u m ca. 70 v. H. i n zehn Jahren. Diese Beispiele sind ein gültiges Zeichen dafür, wie eine dynamisierte Wirtschaft die Situation des Menschen verwandelt. Der Bildungsbedarf der Wirtschaft ist — auch wenn nicht alle Sparten der W i r t schaft i n gleichem Maße bildungsintensiv sind, wie zum Beispiel die chemische Industrie — ganz gewaltig gestiegen; und er w i r d weiter steigen. Eine Übersicht nach dem Stande vom 1. 9.1965 für die chemische I n dustrie der BRD weist aus, daß rund 34 v. H. aller Betriebe die fachliche Ausbildung ihrer Arbeitnehmer betreiben. Es entfallen auf 100 Beschäftigte rund 4 Lehrlinge, d. h. es werden insgesamt 18 742 Lehrlinge ausgebildet, die sich wie folgt verteilen: 37 v. H. naturwissenschaftlich-chemische Berufe 38 v. H. technische Berufe 25 v. H. kaufmännische Berufe. Die Ausbildungsintensität eines einzelnen Unternehmens mag dadurch gekennzeichnet werden, daß bei den Farbenfabriken Bayer A G allein i m naturwissenschaftlichen Bereiche, also ohne Kaufleute, Handwerker und sonstige Ausbildungsberufe, seit dem Jahre 1937 rund 4500 Lehrlinge ausgebildet und zu einer Abschlußprüfung gebracht wurden. W i r entnehmen einem Gutachten des Bundesarbeitsministeriums über die zeitnahe Berufsausbildung die Feststellung, daß „die Entwicklung charakterlicher Fähigkeiten zu Gewissenhaftigkeit und Selbstsicherheit gegenüber technischen Änderungsprozessen i m Mittelpunkt stehen müsse . . . Der technisch-elementaren Schulung des Denkens und der Förderung der Einsichtsfähigkeit i n technische und betriebliche Zusammenhänge kommt eine wichtige Bedeutung zu".

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I n diesen Ausführungen w i r d deutlich, daß w i r es nicht m i t einer Anerziehung von rein technischen Fähigkeiten zu t u n haben, wenn w i r heute von Ausbildung sprechen. Die i n unserem Lande üblich gewordene Unterscheidung von Bildung und Ausbildung läßt sich heute keineswegs mehr aufrechterhalten. Jede Form von Ausbildung hat bildenden Charakter. Der Sinn des Lernens besteht i n der Schulung des Gehirns, und wer eine bestimmte Sache gelernt hat, w i r d auch i n der Lage sein, etwas anderes zu lernen. Somit ist das Lernen an sich für das Individuum — ohne den momentanen Nutzen unbedingt i m Auge zu behalten — eine i m ganzen fördernde Angelegenheit. Meines Erachtens ist das Faktum des Veraltens der Berufe kein Argument für eine Verkürzung der Lehrzeit i m Sinne einer rein zweckgerichteten Anlernung. Je breiter die Ausbildung, desto wendiger und geschickter w i r d der Mensch i n allen Situationen sein. Der Auffächerung i n eine große Anzahl von Spezialberufen steht während der Lehrzeit die Vermittlung einer breiten Grundausbildung gegenüber. Beim Vorhandensein einer Vielzahl von Spezialberufen weiß man nie, wann diese veralten, d. h. wann sie durch neue ersetzt werden müssen. Die Bundesrepublik steht i n ihrer gegenwärtigen Entwicklung unter einer besonderen Pression. I m Gegensatz zu anderen Staaten, wie z. B. den USA, den Niederlanden und Frankreich, kann sie nicht damit rechnen, daß i n den kommenden Jahrzehnten ihre Erwerbsbevölkerung auf dem normalen Wege, d. h. durch jugendlichen Nachwuchs, zunehmen wird. Der Qualifikationsstand der Erwerbsbevölkerung w i r d daher nicht gleichsam von selbst durch Verjüngung zunehmen. Wie i m zweiten Sachverständigengutachten (1966) festgestellt wird, kann dieser Nachteil nur ausgeglichen werden, wenn die BRD dafür sorgt, daß die Qualität der Grundausbildung steigt und die Weiterbildung der Erwachsenen ausgedehnt wird. Aber auch die Tatsache, daß i m Gegensatz zu früheren Zeiten die Fortschritte i n Wissenschaft und Technik rasch zu einer Veralterung des an den Hoch- und Fachschulen erworbenen Wissens führen, zwingt die Industrie dazu, ihre Mitarbeiter durch Vorträge, Kurse und laufend großzügig ergänzte Bibliotheken ständig weiterzubilden. Ich möchte nunmehr zur Durchführung der Ausbildung einige Bemerkungen machen. I n der Bundesrepublik w i r d i m allgemeinen die Berufsausbildung seit Jahrzehnten i m Betriebe durchgeführt. Es erfolgt also die Ausbildung seitens der Wirtschaft i n eigener Verantwortung, wobei der Staat nur insofern eingeschaltet ist, als er die i m Rah-

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men der Selbstverwaltung der Wirtschaft geschaffenen Ordnungsmittel anerkennt und die Beobachtung allgemeiner Grundsätze vorschreibt. Gegenüber allen K r i t i k e r n dieses Systems muß doch wohl daran festgehalten werden, daß sich das dynamische Geschehen der Wirtschaft, von dem eingangs die Rede gewesen ist, i m Betriebe und nicht i n der Schule abspielt. Die Schule kann die Unmittelbarkeit der betrieblichen Arbeit und des betrieblichen Lebens nicht ersetzen, selbst dann nicht, wenn sie m i t entsprechenden Werkstätten versehen wäre. Der Betrieb als Standort der ständig i n Bewegung befindlichen Praxis ist allein i n der Lage, aus dem Arbeitserlebnis heraus berufliches Können und Wissen, Berufserfahrungen und Berufseinsichten aus erster Hand zu vermitteln und auch das vielfältige menschliche Zusammenspiel der Gemeinschaft praktisch zu demonstrieren. Es gibt aber noch einen weiteren wesentlichen Gesichtspunkt, der aus der pädagogischen Erfahrung stammt, nämlich daß die Ausbildung durch das Selbertun, durch praktische Mitarbeit, Kräfte freilegt. Die funktionale Erziehung von innen heraus ist viel wirkungsvoller als alle intentionalen Bemühungen von außen her. Die Überzeugung von der Richtigkeit und Berechtigung des Systems betrieblicher Berufsausbildung entbindet keineswegs davon, ständig an seiner Vervollkommnung zu arbeiten. So möchten w i r meinen, daß das Hauptgewicht der Arbeit darin zu sehen sein wird, die Berufsausbildung zeitgerecht zu gestalten, ständig die Berufsordnungsmittel unter die Lupe zu nehmen und auch den M u t zu Einschnitten zu haben, dort, wo sie sich als notwendig erweisen. Es w i r d immer wieder notwendig sein, die Berufsausbildung insgesamt aus der Sicht der weiteren technischen Entwicklung zu sehen, damit bereits heute die Ausbildung so breit angelegt wird, daß die Fähigkeiten und das Können der Ausgebildeten den i n Zukunft an sie gestellten Anforderungen genügen können. Ein besonderes Problem i n diesem Zusammenhang dürfte die Frage der Ausbildung der Ausbilder sein. I h r Gewicht ergibt sich einmal aus der Sicht der Dynamik der Verhältnisse und der ständig neu auftretenden fachlichen Probleme und zum anderen aus der zunehmenden Schwierigkeit der pädagogischen Aufgaben. W i r zitieren aus einem Bericht der Bundesregierung „Jugend 1964", der eine Umfrage des EMNID-Institutes zur Grundlage hat, wonach 67 v. H. der Jugendlichen die Umstände i m Betrieb und das Betriebsklima als sehr gut bzw. eher gut als schlecht bezeichneten; 19 v. H. haben mit „teils — teils" geantwortet, und nur 9 v. H. haben das Betriebsklima als negativ bezeichnet. Ihre Zufriedenheit m i t dem unmittelbaren Vorgesetzten haben 66 v. H. (gut oder sehr gut) bekundet, und

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nur 8 v. H. fanden das Verhältnis schlecht. 70 v. H. der Lehrlinge haben auf eine entsprechende Frage geantwortet, daß sie den gleichen Beruf wieder wählen würden; 15 v. H. waren m i t der Berufswahl unzufrieden. Zur Frage der Qualität der Ausbildung weise ich h i n auf das Ergebnis der Lehrabschlußprüfungen, deren höchste Ausfallquote i n den Jahren von 1950—1961 bei 11,7 v. H. gelegen hat, d. h. es haben 88,3 v. H. der Prüflinge ihr Abschlußexamen bestanden, wenn man den ungünstigsten Fall betrachtet. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal anknüpfen an eine frühere Bemerkung, indem ich unterstreiche, daß es sich bei der Ausbildung keinesfalls u m eine Vermittlung rein fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten zum alleinigen Zwecke der ökonomischen Nutzung handeln kann und darf. Die industrielle Berufsausbildung hat neben der fachlichen Ausbildung eine erzieherische Aufgabe. Der Industriebetrieb hat i n der heutigen gesellschaftspolitischen Sicht eine wesentliche Funktion als Lebensraum und Betätigungsfeld. Der Sinn aller Bemühungen erfüllt sich erst dann, wenn es gelingt, nicht nur den tüchtigen Fachmann, sondern auch den wertvollen Mitmenschen heranzubilden, der i m Betrieb nicht nur mitarbeitet, sondern auch mitlebt. Die moderne industrielle Gesellschaft kann den menschlichen und sachlichen Anforderungen, die sich aus dem fortschreitenden Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden i m gesamten W i r t schaftsprozeß ergeben, nur gerecht werden, wenn jede i n einem jungen Menschen angelegte Begabung i m Rahmen aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur freien Entfaltung gebracht wird. Die moderne Wirtschaft fördert i n diesem Sinne die Demokratisierung unserer Gesellschaft i n starkem Umfange. Vielfältige Erfahrungen aus der Praxis ließen sich anführen, wonach der Mensch die i h m i m Betrieb gebotenen Möglichkeiten des Aufstiegs auf der Stufenleiter mittels der Aneignung von Wissen und Fähigkeiten durchaus erkannt hat und nutzt. Viele Beispiele zeugen für die vorhandene Bereitschaft, erhebliche Opfer an Zeit und auch an Mitteln für die eigene Weiterbildung zu bringen. Der Betrieb ist zu einem Symbol für die Mobilität unserer Gesellschaftsordnung geworden; er ist ein M i t t e l dieser Mobilität. Es besteht eine enge Verflechtung von Bildung und Wirtschaft, die sich i n dem Angewiesensein der Wirtschaft auf die von der Schule vermittelte Bildungskapazität ausdrückt. Diese Bemerkung zielt ab auf die von der Volksschule i n den Betrieb eintretenden Jugendlichen. Sie zielt aber auch ab auf die i n den Mittel- oder Höheren Schulen vermittelten oder nicht vermittelten Kenntnisse auf bestimmten Gebieten, wie

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z. B. i n den Naturwissenschaften. Unterlassungssünden wirken sich notwendigerweise später auf den Stand der Industrie aus. Lassen Sie mich nun noch einige Ausführungen zum speziellen Gebiet der Erwachsenen-Weiterbildung machen. I m Jahre 1907 bemühte man sich i n meiner Firma bereits u m das Problem, dem einzelnen zu zeigen, „an welcher Stelle des Werkes er steht und wie seine Arbeit sich i n den Fabrikationsgang einreiht". Die Erkenntnis von der Schwierigkeit für den einzelnen, einzusehen, wie sich die Teile eines Unternehmens zusammenfügen, ferner die für den einzelnen nicht mehr selbständig zu beantwortende Frage nach dem Sinnzusammenhang der arbeitsteiligen Funktionen (die „Grenzen der Arbeitsteilung", u m einen bekannten Buchtitel zu zitieren) führten zu entsprechenden Maßnahmen. Hinzu kommt, daß Generationen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, die das Wachsen eines Unternehmens mitgemacht haben, und neue Generationen i n das Berufsleben eintreten, die die Entwicklung nicht mehr aus der eigenen Erfahrung kennen. Dieses bedingt, daß an die Stelle des empirischen Erarbeitens die Systematisierung der Arbeitsvorgänge treten muß. Was nicht aus eigener Erfahrung gewonnen werden kann, muß methodisch durch die „Lehre" vermittelt werden. Die vielfach erhobene Forderung nach dem Mitdenken i m Arbeitsprozeß setzt die Kenntnis der Zusammenhänge voraus. Das Mitdenken ist für das Ganze schon deshalb wichtig, damit ein routinemäßiges A r beiten, das aber nicht mehr zeitgemäß, ja sogar nachteilig ist, unterbunden wird. Wie vieles mag nur deshalb so gemacht werden, „ w e i l es immer so gemacht worden ist". Das der modernen Wirtschaftsführung zugrunde liegende rationale, also auf der Anwendung von Vernunftsprinzipien beruhende, Verfahren bedingt die Einwirkung auf den Menschen, sich entsprechend zu verhalten. Diese verschiedenen Formen der Erwachsenen-Weiterbildung haben die Information zum Ziele. Sie vermitteln aber auch Fertigkeiten und Kenntnisse, welche unmittelbar angewandt werden können. Erwachsenen-Weiterbildung ist i n erheblichem Umfange eine Frage der angemessenen Vermittlung von Kenntnissen. Es entfällt der „Unterricht"; an seine Stelle t r i t t die Form der Arbeitsgemeinschaft und das Diskussionsgespräch am runden Tisch. Das Deutsche Industrie-Institut hat i n einer Erhebung einmal zusammengestellt, i n welchem Umfang und welcher Form Weiterbildungsmaßnahmen der Wirtschaft erfolgen. Aus diesem Bericht möchte ich einiges anführen. Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen:

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1. als Leistungen der Betriebe, 2. als Leistungen überbetrieblicher Einrichtungen a) schulischer Institutionen und b) i n Form von Voll- und Teilzeitlehrgängen, 3. als Leistungen außerbetrieblicher Einrichtungen, die m i t der W i r t schaft kooperieren. Alle diese Leistungen der Wirtschaft für die Weiterbildung sind berufsbezogener A r t , d. h. sie dienen der beruflichen und menschlichen Entwicklung durch berufsbezogene wie personale Bildungshilfen. I n zunehmendem Maße zeigt sich, daß ursprünglich ausschließlich fachliche Weiterbildungskurse auch zusätzlich personale Bildungshilfen beinhalten. Hinsichtlich der Bildungsinhalte und Bildungsziele zeigt sich eine Differenzierung nach den Verantwortungsbereichen der Teilnehmer. I n gesteigertem Maße werden i n den Kursen für den Führungskräftenachwuchs und die Führungskräfte selber personale Fortbildungshilfen zu Problemen der Menschenführung, der Wirtschafts- und Sozialkunde angeboten. Aus dem Arbeitsring Chemie, der sozialpolitischen Spitzenvereinigung der chemischen Industrie, möchte ich hier folgendes beispielhaft anführen: Der Arbeitsring hat i m Verlaufe von 11 Jahren mehr als 9000 Führungskräfte i n den verschiedensten Veranstaltungen (wie Meistertreffen, Meister-Auf bautreffen, Seminare für junge Akademiker, Lehrausbildertreffen, Treffen von Werksärzten, Betriebsleitertreffen usw.) zusammengerufen. Die erheblichen materiellen Aufwendungen für diesen Zweck wurden allein aus Mitteln der Industrie getragen. Diese Veranstaltungen haben den Zweck der Wissens- und Kenntniserweiterung, welche es den Führungskräften — einem jeden an seinem Platze — ermöglichen soll, der ihnen gestellten Aufgabe i n vollkommener Weise gerecht zu werden. Es ist jedoch nicht das Wissen allein, das den Menschen zur besseren Bewältigung seiner Aufgabe befähigt. Es gehört dazu auch i n nicht minderem Umfange ein selbstkritisches Verhalten hinsichtlich des eigenen Auftretens. Die an die zumeist von Praktikern gehaltenen Vorträge sich anschließenden ausgiebigen Diskussionen ermöglichen es den Teilnehmern, von ihren sachlichen und persönlichen Schwierigkeiten zu sprechen. Der Austausch von Erfahrungen während der offiziellen Diskussionen, aber auch die persönlichen Gespräche am Rande der Veranstaltungen geben Gelegenheit zu wertvollen Einsichten. Sie bestätigen die alte menschliche Erfahrung, daß das Bewußtmachen eigener Sorgen i m Gespräch bereits der halbe Weg zu ihrer Behebung sein kann. Als ein Ziel der Erwachsenenbildungsarbeit für die Führungskräfte sehen w i r die Herbeiführung einer bewußten Einstellung zum eigenen 11 Tagung Dortmund 1966

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Führungsverhalten an. Der Betrieb als Arbeits- und Lebensraum des Menschen umschließt eine große Anzahl von pädagogischen Ansätzen, auf die es hinzuweisen gilt, die wahrgenommen werden müssen.

Zusammenfassung Es ist das Wort geprägt worden, daß i n unserer Zeit Bildungspolitik Sozialpolitik sei. Ich glaube, Ihnen mit meinen Ausführungen, ohne von dieser Absicht ausgegangen zu sein, Beispiele dafür gegeben zu haben, wie sich das i n der betrieblichen Praxis darstellt. Wesensbestandteil der unternehmerischen Bildungsarbeit ist es, die Problematik und Komplexität des wirtschaftlichen und technischen Bereiches sowie die Beziehungen dieses Bereiches zur Gesellschaft zu verdeutlichen. Sie soll dem jungen wie dem erwachsenen Menschen H i l fen geben für die Entwicklung sachlicher und menschlich-charakterlicher Qualitäten, die i h m Integration und Aufstieg i n die Ordnungen des Betriebes, des Unternehmens, der Wirtschaft erleichtern. Ist Bildung ein auf den gesamten Menschen gerichteter Prozeß, so ist die Bildungsarbeit der Wirtschaft ein Teilbereich der ganzen Bildung. Der Mensch steht vor der Aufgabe, die technisch-ökonomische Welt, i n die er hineingestellt ist, zu begreifen und zu meistern. Er muß daher Einsichten i n die technischen, betriebs- und volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge erhalten. Diese Welt aber t r i t t dem Menschen am eindrucksvollsten an seinem Arbeitsplatz i n Betrieb und Unternehmen gegenüber. Die Wirtschaft muß sich daher der Aufgabe unterziehen, i h m ihre Situation vom Arbeitsplatz her zu verdeutlichen. Wenn diese Aufgabe den eigenen Mitarbeitern gegenüber besteht, so besteht sie auch gegenüber den i n anderen Lebensbereichen tätigen Menschen. Als ein Beispiel hierfür erwähne ich die bestehenden A r beitskreise Schule-Wirtschaft, die es sich auf Wunsch der Pädagogenschaft zum Ziele gesetzt haben, Informationsmöglichkeiten für die Schule über betriebliche und allgemein wirtschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln. I n der Bundesrepublik bestehen zur Zeit rund 100 derartige Arbeitskreise. Sie sind freiwillige Zweckverbindungen zwischen Lehrern und Vertretern der örtlichen Unternehmen und Verbände. Die Industrie ist nach Zahl der betroffenen Personen und nach Umfang der geleisteten Bildungsarbeit wohl der größte Bildungsraum der Gesellschaft. I n rund 170 000 Ausbildungsbetrieben bilden rund 500 000 Fachkräfte ca. 740 000 Lehrlinge und Anlernlinge aus. Dabei w i r d jeder zweite industrielle Lehrling i n betriebseigenen Lehrwerkstätten ausgebildet. Freiwillig und ohne Belastung der Steuerzahler

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kommt die Wirtschaft der Verpflichtung nach, dem Nachwuchs eine qualifizierte Berufsausbildung zu vermitteln und i h m so eine berufliche Chance für die Zukunft zu sichern. Der finanzielle Aufwand der W i r t schaft ist statistisch noch nicht erfaßt. A u f Schätzungen beruhende Annäherungswerte ermitteln einen jährlichen Gesamtaufwand der Unternehmen allein für die Facharbeitergrundausbildung von rund 1 Milliarde DM. Ich habe Ihnen m i t meinen Ausführungen sagen wollen, daß ein großer Teil der heute bestehenden Bildungsbedürfnisse seinen Ursprung i n der modernen wirtschaftlichen Betätigung hat. Die Wirtschaft hat aufgrund ihrer Struktur das Bedürfnis nach einem besonderen „Leistungstyp". Beide Fakten bedingen, daß ein großer Teil der Bildungsbedürfnisse von der Wirtschaft selber erfüllt werden muß. Dieses w i r d eingesehen, und es w i r d auch zunehmend danach verfahren. W i r müssen uns jedoch vor einem I r r t u m hüten: Bildung ist letzthin ein persönliches Anliegen, d. h. sie läßt sich nicht aufzwingen. Demnach läßt sich Bildung auch nur aus eigenem Antrieb erwerben. Bildung ist kein Besitz, sondern ein Prozeß, der i n Gang gebracht und von jedem einzelnen selber vollzogen werden muß. Das aber ist nur möglich aufgrund der eigenen Interessen und Fähigkeiten, die außerordentlich verschieden sein können. Es kommt also darauf an, den jungen Menschen begierig auf Bildung zu machen, ihn auf den Weg zu bringen, so daß er selber gehen lernt. Man muß das Lernen lernen, denn es ist nichts damit erreicht, Freizeit, M i t t e l und Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, wenn der einzelne mit diesen Möglichkeiten nicht umzugehen versteht. I n der Nutzung der heute vielfältig gegebenen Bildungschancen, i n ihrer Verwendung zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Allgemeinheit ist jeder seines eigenen Glückes Schmied. Persönliches Engagement, Fleiß, Ausdauer und auch die Bereitschaft, zumutbare Opfer an Zeit und Geld zu bringen, sind erforderlich. So unverzichtbar dieser persönliche Einsatz ist, wenn Bildung verbreitet und vertieft werden soll, so unentbehrlich ist es auch, daß Staat und Gesellschaft die Voraussetzungen schaffen, u m diese Ziele verwirklichen zu können. Es ist jedoch ein Irrtum, und dieses möchte ich aus der Sicht der A r beitgeber noch einmal besonders betonen, daß es nur eines Mehr an freier Zeit für Arbeitnehmer bedürfe, u m Bildung zu ermöglichen. Meine Ausführungen haben es, so glaube ich, deutlich gemacht, i n welchem Umfange die moderne Wirtschaft bildungsintensiv und bildungsabhängig ist. Gerade diese Tatsache verpflichtet dazu, daß die deutsche Unternehmerschaft ihren Beitrag zur Lösung der bildungsli»

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politischen Aufgaben unserer Zeit leistet. Es geschieht dieses auf den verschiedensten Wegen, wie z. B. durch: Information und Beratung über mögliche Bildungs- und Aufstiegschancen, Entsendung zur Teilnahme an den verschiedensten Bildungsveranstaltungen, die entweder von den Betrieben selbst oder anderen B i l dungsträgern durchgeführt werden, unter teilweiser oder ganzer Freistellung von der Arbeit, Bereitstellung von Lehrräumen, von Lern-, Lehr- und Informationsmaterial, Gewährung von Spenden, Darlehen und Stipendien, Aufbau eigener und Beteiligung bei der Errichtung und Durchführung anderer Bildungseinrichtungen. Die Unternehmer werden den ihnen hiernach zufallenden A n t e i l an der Gemeinschaftsaufgabe der Bildungsförderung auch i n Zukunft erfüllen und an die technische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung anpassen. Bessere und breitere Bildung ist das Gebot unserer Zeit. Die deutschen Arbeitgeber werden als eine Gruppe unserer Gesellschaft i m Rahmen der wirtschaftlich gegebenen Möglichkeiten ihr Bestes tun, u m zur Lösung dieser dem Staat, der Gesellschaft und dem einzelnen gestellten Aufgabe beizutragen.

Bildung und Ausbildung aus der Sicht der Gewerkschaften Von Bernhard Tacke, Stellv. Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Bundesvorstand, Düsseldorf

I n den voraufgegangenen Vorträgen und Diskussionen dieser Tagung ist sicher aufgezeigt worden, welche grundlegende Bedeutung der Bildung i n der Industriegesellschaft beizumessen ist. Sie ist nicht nur Träger des gegebenen technischen Fortschritts; sie ist auch, wenn w i r Bildung richtig verstehen, die entscheidende Voraussetzung, die technischen M i t t e l und Möglichkeiten und die von ihnen auf die Menschen und die Gesellschaft ausgehenden Wirkungen zu ordnen und zu beherrschen. U m es vorweg zu betonen: Bildung und Ausbildung sind nicht ohne weiteres identisch. Sprechen w i r von Ausbildung, dann meinen w i r das Mitteilen von Fertigkeiten und Kenntnissen, die uns i n die Lage versetzen, den uns aufgegebenen Zweck zu erfüllen. So bedeutet Ausbildung auch, wie Carlo Schmid 1 ) andeutet, das „Erlernen einer gewissen Zucht, ohne die eine sichere Beherrschung dieser Fertigkeiten an den wachsenden Faktoren der Wirklichkeit" nicht möglich ist. Bildung aber ist mehr. Sie bedeutet nicht nur, Kenntnisse zu vermitteln und zu erwerben, u m den richtigen Handgriff zu beherrschen und auf „richtig gestellte Fragen richtige Antworten zu geben". B i l dung ist ein fortwährendes Mühen des Menschen, sich und seine Umwelt zu entwickeln und zu formen m i t dem Blick „auf die Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens", wie es das Grundsatzprogramm des DGB meint. Das bedeutet auch die ständige Frage nach dem Sinn unseres Tuns. W i r sehen uns heute einem Stand der technischen Entwicklung gegenüber, der den Menschen i n einem nie für möglich gehaltenen Ausmaß von der gegebenen Natur unabhängig gemacht hat. Noch nie zuvor standen dem Menschen die Kräfte der Natur so zur Verfügung wie heute. Der Mensch ist heute i n der Lage, Stoffe und Kräfte aus der Natur zu entwickeln, die seinen Wirkungsbereich i n den bisher unzugänglichen Weltenraum ausdehnen. Von dieser Entwicklung ist 1

Prof. Dr. Carlo Schmid:

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der Mensch selbst nicht mehr ausgenommen. Die Physiker und Biologen dringen i n die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Lebens vor. Sie sind dabei, auf Fragen, die vor einigen Jahren noch nicht gestellt werden konnten, A n t w o r t zu geben. Und der englische Nobelpreisträger L o r d Todd hält es für denkbar, „daß w i r bereits 1985 an der Schwelle von Entwicklungen stehen, deren Möglichkeiten für die Lenkung und Änderung von lebenden Organismen m i t all ihren unausdenkbaren Folgen für die Menschheit noch gar nicht zu ermessen sind 2 ". Die Biotechnik sieht i n dem menschlichen Körper „das anpassungsfähigste Selbstregelsystem, das es gibt", dessen Erforschung dazu beitragen könnte, „Menschen und Maschinen einander anzupassen 8 ." Dieser Blick i n eine nicht mehr ferne Zukunft und die Erfahrungen einer 200 Jahre anhaltenden industriellen Revolution beweisen, daß der Mensch, u m den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein, nicht nur der Ausbildung, sondern auch einer Bildung bedarf, die i h n befähigt, die Zusammenhänge so zu erkennen, daß die Gegebenheiten ihren auf den Menschen bezogenen Sinn behalten. W i r werden sicher i n immer stärkerem Maße vor die Frage gestellt, ob die Techn i k (d. h. die Methoden und die Verfahren, eine Leistung oder ein Ergebnis zu erzielen) der Sinngebung des Lebens noch gerecht wird. I n dem Maße, wie die Beziehung des Bildungsniveaus zum Fortschritt der Wissenschaft und der Technik erkannt wird, erweisen sich die überkommenen Bildungssysteme und Bildungsvorstellungen als unzureichend. Aufgrund dieser Einsicht w i r d nicht nur i n der Bundesrepublik, sondern i n allen Industriestaaten nach neuen Wegen gesucht. Die Bundesrepublik befindet sich — wie es heißt — vergleichbaren Kulturnationen gegenüber i n einem Bildungsrückstand. Dieser Rückstand w i r d vor allem demonstriert an Zahlenvergleichen über Lehrer, Abiturienten, Hochschulen, Studenten und Wissenschaftler. Es ist zweifellos statistisch erwiesen, daß w i r zahlenmäßig i m Rückstand sind. M i t absoluter Sicherheit läßt sich daraus aber kaum ablesen, daß der Ausbildungs- und Bildungsstand unseres Volkes gegenüber anderen Industrievölkern insgesamt rückständig wäre. Es w i r d schwer sein, hier echte Vergleiche anzustellen. Betrachten w i r das Bildungsniveau der „Masse des Volkes" und ihre soziale und wirtschaftliche Leistung, dann, so möchte ich sagen, halten w i r einem Vergleich stand. 2

Lord Todd, FRS, Alexander Robertus: Die Auswertung unserer heutigen Erkenntnisse, in „Unsere Welt 1985", München 1965, S. 24. 5 Kenedi, R. M.: Die unbegrenzten Möglichkeiten der Biotechnik, in „Unsere Welt 1985", S. 68.

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Die gegenwärtige Bildungssituation der Bundesrepublik ist, wie ich aus dem Programm ersehe, Inhalt eines eigenen Vortrags gewesen. Die wesentlichen Fakten sind Ihnen deshalb sicher bekannt. Wie diese zu beurteilen und welche bildungspolitischen Maßnahmen zu treffen sind, darüber gehen die Meinungen erheblich auseinander. Voraussetzung erfolgversprechender Reformen ist, daß sie sich nicht nur an vermeintlichen Tatsachen orientieren. Was als unbefriedigender Tatbestand festgestellt wird, hat sicher Ursachen. Diese gilt es zu erkennen und zu beseitigen. Daß zum Beispiel der Prozentsatz studierender Arbeiterkinder i n der Bundesrepublik über Jahre hinweg unverändert blieb, ist eine Tatsache, die aber nicht von ungefähr kommt. Hier einfach den Schluß ziehen zu wollen, Arbeitereltern brächten weiterführenden Schulen und erst recht den Universitäten kein Interesse entgegen, verkennt Ursache und Tatbestand. Es ist deshalb abzulehnen, i n den Prozentsätzen einen ausreichenden Gradmesser für die Bildungsfreudigkeit der Arbeiterschaft i n ihrer Gesamtheit zu sehen, wie man es i n einseitig geführten Diskussionen glaubhaft machen w i l l . Grundlagen bildungspolitischer Entscheidungen können nur Gesamtanalysen sein, die den Gesamtkomplex objektiver und subjektiver Faktoren erfassen. M i t dem Bildungsverhalten der Arbeiter ist ein für die Verhältnisse i n der Bundesrepublik bildungspolitisches Problem ersten Ranges angesprochen, das angesichts der offensichtlichen Verkennung der hier wirksamen Faktoren etwas ausführlicher darzustellen m i r gestattet sei. Damit bietet sich gleichzeitig die Gelegenheit, Strukturfragen unseres bestehenden Bildungssystems aus der Sicht der Gewerkschaften kritisch zu untersuchen. Vorweg sei hervorgehoben, daß die Diskussion u m den „Bildungsnotstand" Einsichten vermittelt hat, deren späte Entdeckung für sich spricht. Waldemar v. Knoeringen stellt fest, daß noch vor 10 Jahren jene wie Rufer i n der Wüste erschienen, die auf die schicksalhafte Verflechtung von Industriegesellschaft und Wissenschaft, von Demokratie und Bildung hingewiesen haben 4 . Z u diesen Rufern gehörte zweifellos der DGB, der auf all seinen Kongressen seit 1949 nach einer besseren, intensiveren und umfassenderen Bildung gerufen hat. Es kommt sicher der Bildungssoziologie das Verdienst zu, aufgezeigt zu haben, daß ein an sich offenes Schulsystem keineswegs zwangsläufig zur Folge hat, daß gleiche Chancen tatsächlich gegeben sind. Recht jungen Datums ist ebenfalls die Erkenntnis, daß die statistisch nachgewiesene Unterrepräsentanz der Arbeiterkinder an den weiter4

v. Knoeringen , Waldemar: Mobilisierung der Demokratie.

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führenden allgemeinbildenden Schulen ein sozial unbefriedigender Zustand ist. Und schließlich, u m das B i l d abzurunden, auf der Suche nach noch unerschlossenen Begabungsreserven wurde der Nachweis erbracht, daß es weit mehr begabte Arbeiterkinder gibt, als man bisher einzugestehen bereit war. Vor noch gar nicht langer Zeit war der Grundtenor ein anderer. Wie war es möglich, daß dieses Umdenken so lange auf sich warten ließ? W i r d bedacht, daß die allgemeine Grundschulpflicht i n Deutschland erst 1919 eingeführt wurde, so sind die auf eine Neugestaltung der Volksschuloberstufe hinzielenden Bemühungen als ein beträchtlicher Fortschritt zu werten. Andererseits darf nicht verkannt werden, daß die überkommene Volksschule noch weit ständischen Vorstellungen entspricht, wie überhaupt die Dreigleisigkeit unseres allgemeinbildenden Schulwesens noch unverkennbar die Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Als Schule für die unteren sozialen Schichten gedacht, hat sich der Charakter der Volksschule bis heute insofern erhalten, als ihr Abschluß m i t keinen weiterführenden Berechtigungen ausgestattet ist. Dieses hat zur Folge, daß dem Volksschüler von vornherein eine Vielzahl von Berufen verschlossen ist; er hat die geringste Wahlbreite. Dabei ist zu bedenken, daß i n der Bundesrepublik immer noch rd. 70 v. H. aller Schüler ihren schulischen Bildungsweg m i t der Volksschule abschließen. Die i n der Entwicklung begriffene Hauptschule w i r d nur dann eine Aufwertung der bisherigen Volksschule nach sich ziehen, wenn sie von vornherein als weiterführende Schule angelegt ist. I n diesem Zusammenhang ist die Frage von Interesse, wie es zu der Minderbewertung der Volksschule gekommen ist. Daß für die Arbeiter als Angehörige der unteren sozialen Schicht die Volksschule für gut befunden wurde, hat Ursachen, die weit zurückreichen. Es ist nicht so sehr das neuhumanistische Bildungsideal, als vielmehr eine heute auch noch nicht überwundene Geringschätzung manueller Arbeit, die eine bis i n die Antike zurückreichende Tradition hat und i m Neuhumanismus i n besonderer Weise wieder aufgelebt ist. Nicht körperlich zu arbeiten, sondern vermeintlich zweckfreiem Tun hingegeben zu sein, war der Vorzug des freien Mannes. „Wer frei von Geschäften, w i r d weise", so sagt das Buch SIRACH (38, 24) von den Schriftgelehrten. I n dieser Tradition stehend, hat auch das christliche Mittelalter zwischen „knechtlichen Künsten" (artes serviles) und „freien Künsten" (artes liberales) unterschieden und den Vorrang des Geistigen erneut betont. I n der Praxis sah es so aus, daß an die Stelle der Handarbeit i n den alten Mönchsorden die Beschäftigung m i t der Wissenschaft trat und die durch die Ordensregel gegebene Verpflichtung zur Handarbeit auf die neue Institution der Laienbrüder über-

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tragen wurde. Erfuhr diese Einschätzung der Handarbeit durch das aufstrebende Bürgertum i m ausgehenden Mittelalter und später durch die Wirtschaftspolitik der absoluten Fürsten auch gewisse Korrekturen, so blieb der Vorrang geistiger Tätigkeit unbestritten. M i t dem aufkommenden Industriezeitalter wurde die Minderbewertung der manuellen Arbeit auf den Industriearbeiter übertragen. Es erstand jene soziale Schicht, jener „Vierte Stand", der als eine Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung empfunden wurde. Der sich anbahnenden sozial-revolutionären Arbeiterbewegung wirksam zu begegnen, dazu mußte auch die Schulpolitik dienen. Erinnert sei an jenes preußische Regulativ von 1854, das die einklassige Elementarschule zur Normalschule erklärte und einen lediglich auf Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen beschränkten Lehrstoff billigte. Die Bildung der „untersten Klasse der bürgerlichen Gesellschaft", wie die Arbeiterschaft i n jener Zeit eingestuft wurde, hatte hinter politischen Rücksichten zurückzustehen. Die Selbsthilfebewegung wurde als Umsturzversuch gebrandmarkt. Daß den dem kapitalistischen System ausgelieferten Arbeitern keine andere Wahl blieb, wurde übersehen. Bis i n die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ohne jeden sozialpolitischen Rückhalt einem von W i l l k ü r beherrschten Arbeitsmarkt preisgegeben, hatten die damaligen Arbeitergenerationen sich mit einem M i n i m u m an Schulbildung zufriedenzugeben. Ihre Lebensbestimmung war es nach gängiger Ansicht nun einmal, körperlich zu arbeiten. Was bedurfte es da der Bildung? Es ist angebracht, sich diese Zeit i n Erinnerung zu rufen, wenn heute vom Verhältnis der Arbeitnehmer zur Bildung gesprochen wird. Daß heute noch für viele Arbeiter das Gymnasium und die Universität fremde Welten sind, i n die sie, nur weil sie Arbeiter sind, „nicht hineingehören", hat konkrete Ursachen. Vom ersten Jugendschutzgesetz i m Jahre 1839 bis zur obligatorischen Einführung der achtjährigen Vollschulzeit vergingen immerhin 80 Jahre. Ein heute fast vergessenes historisches Dokument ist das „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter i n Fabriken von 1839", das i n § 1 bestimmte: „Vor zurückgelegtem neunten Lebensjahr darf niemand i n einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden." Anführen ließe sich ferner die Reichsgewerbeordnung m i t ihren Bestimmungen über die Beschäftigung von 12- bis 14jährigen; eine Entwicklung, unter die erst die Weimarer Reichsverfassung einen Schlußstrich setzte. Die heute als Ausdruck mangelnder Bildungsfreudigkeit bezeichnete Distanz der Arbeiterschaft zum weiterführenden Bildungswesen muß auf diesem historischen Hintergrund gesehen werden. Die bis

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i n unsere Zeit hinein geübte Vernachlässigung der Volksschule w i r k t sich dahin aus, daß große Teile der heutigen Generation von Arbeitereltern noch kein persönliches Verhältnis zu einer qualifizierten Schulbildung haben. Für Generationen von Arbeitern war die Volksschule der gemäße Bildungsweg; diese Vorstellung w i r d erst heute langsam überwunden. Vergessen sollte man auch nicht, daß bis i n unsere Zeit die Einkommensverhältnisse i n vielen, vor allem kinderreichen Arbeiterfamilien die Eltern auf möglichst frühen Verdienst der heranwachsenden Kinder drängen ließen. Wenden w i r uns einem zweiten Aspekt zu: I n dem Zeitraum von 1893—1963 ist der Anteil studierender Arbeiterkinder von 0,1 v. H. auf 5,9 v. H. angestiegen. Für eine höhere Quote besteht ein sehr entscheidendes Hindernis: eine Inanspruchnahme der gebührenpflichtigen und teuren Bildungswege war und ist den Beziehern niedriger Einkommen aus eigenen M i t t e l n so gut wie unmöglich. Als erster deutscher Staat führte Preußen 1888 die Schulgeldfreiheit an den Volksschulen ein; das Reich folgte erst 1919 (Artikel 145 Reichsverfassung). Für die weiterführenden Schulen brachte erst die Weimarer Reichsverfassung eine gewisse Erleichterung dadurch, daß sie eine Förderungspflicht der Gebietskörperschaften für den Besuch von Mittelund Höheren Schulen begründete (Artikel 146, I I Reichsverfassung). Dem Weimarer Vorbild folgten Jahrzehnte später die Länder der Bundesrepublik, ohne daß zunächst eine allgemeine Studienförderung zustande kam. Es bedurfte erst eines unvertretbaren Ausmaßes von Werkarbeit der Studierenden, bis sich Bund und Länder 1957 zur Errichtung der Studienförderung nach dem Honnefer Modell zusammenfanden. Drei Jahre zuvor hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund bereits i n der Stiftung Mitbestimmung ein eigenes Studienförderungswerk geschaffen, das sich der Förderung begabter Arbeitnehmer und begabter Kinder von Arbeitnehmern widmet. I n den 11 Jahren ihres Bestehens hat diese Stiftung 1385 Studierende aus Arbeiterfamilien mit einem Aufwand von insgesamt 7 520 000 D M durch Stipendien voll unterstützt. Studienbeihilfen sind aufwendige, aber sinnvolle Investitionen. A u f diese verzichten zu wollen, hätte zur Folge, daß den Arbeitnehmern die Hochschulen wieder verschlossen würden. Andererseits ist es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar, wenn auch weiterhin von generellen Studienhonoraren abgesehen wird, wie es i n letzter Zeit auf Studententagen häufiger gefordert worden ist. A n dem Leistungsprinzip sollte auch bei Bedürftigkeit unbedingt festgehalten werden. Der förderungswürdige Studierende muß wissen, daß sein Anspruch auf eine Förderung durch die Gesellschaft ihn dieser gegen-

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über i n gleicher Weise verpflichtet. Die Förderungsträger wiederum sollten sich angelegen sein lassen, die Studienbeihilfen so zu bemessen, daß sie kostendeckend sind und einen angemessenen Lebensunterhalt sicherstellen. Ferner sollte jedes begabte Arbeitnehmerkind fest mit einer Förderung rechnen können. Ich habe nicht die Absicht, alle Faktoren i m einzelnen aufzuführen, die das Bildungsverhalten der Arbeitnehmer bestimmen. M i r kommt es vielmehr vor allem darauf an, deutlich zu machen, wie sehr unsere Bildungspolitik sich der Tatsache gegenübergestellt sieht, Versäumnisse von Generationen wettzumachen, die darin gründeten, daß der Arbeiter als Mensch minderen Ranges angesehen wurde. Solange noch der Nachweis erbracht werden muß, daß „die Arbeiterschaft mündig geworden ist", ist scheinbar diese Rangordnung noch nicht geändert. Schulorganisatorische Maßnahmen allein werden nicht ausreichen, jene i n Jahrzehnten unter dem Zwang der Verhältnisse entstandenen Verhaltensweisen auszuräumen, deren soziale Problematik i n ihrer ganzen Tragweite erst heute i n das allgemeine Bewußtsein zu dringen beginnt. Das Unbehagen, m i t dem der geringe Anteil studierender Arbeiterkinder registriert wird, berechtigt zumindest zu der Annahme, daß die offenen und verdeckten Bildungsbarrieren zunehmend als Ärgernis empfunden werden. Z u offensichtlich w i r d der Widerspruch zu dem Grundrecht auf Bildung. A r t i k e l 2 des Grundgesetzes sichert jedem Bürger die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu. Diese verfassungsrechtliche Norm ist unmittelbar geltendes Recht und verpflichtet den Staat als den obersten Garanten des Verfassungsrechtes. Es ist i m besonderen seine Aufgabe, alle Maßnahmen zu treffen, die die Gewährleistung verfassungsrechtlicher Grundsätze sichern. Auch heute ist es ein nicht mehr bestrittener bildungspolitischer Grundsatz, jedem Begabten den seinen Anlagen entsprechenden B i l dungsaufstieg zu ermöglichen. I n einer Gesellschaft, i n der nicht mehr soziale Herkunft und Vermögen, sondern m i t Berechtigungen ausgestattete Bildungsabschlüsse die Lebenschancen verteilen, entspricht es der sozialen Gerechtigkeit, einem jeden die Möglichkeit des Bildungsaufstiegs zu bieten. Von einem Staatswesen, dem kraft Verfassung die Aufsicht über das gesamte Schulwesen zusteht, w i r d erwartet, daß nicht nur die notwendigen Bildungseinrichtungen geschaffen, sondern auch Hindernisse, die i n der sozialen Stellung, i n der wirtschaftlichen Lage und i n dem Wohnsitz liegen, ausgeräumt werden. Was insbesondere das Angebot an Bildungseinrichtungen betrifft, muß es so beschaffen sein, daß den vielfältigen Begabungsrichtungen und den unterschiedlichen Begabungsentwicklungen weitgehend entsprochen wird. Diese Momente sind neu i n der Bildungspolitik. Ihnen

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zugrunde liegt die Erkenntnis, daß es nicht genügen kann, relativ früh erkennbare Begabungen allein zu fördern; den gleichen Anspruch haben Begabungen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt entwickeln. Ebensowenig ist es vertretbar, bestimmte Bildungswege vorrangig zu behandeln. Noch bis vor wenigen Jahren konzentrierten sich die Maßnahmen auf die weiterführenden allgemeinbildenden Schulen. I n dieser Bevorzugung schlug sich eine bestimmten Bildungsabschlüssen, nämlich der mittleren Reife und dem Abitur, entgegengebrachte soziale Wertschätzung nieder. Demgegenüber bleibt eine vergleichbare Begabtenförderung den i n eine Berufslehre eintretenden Volksschülern aufgrund ihrer bereits vollzogenen Berufsentscheidung vorenthalten. Wer in der Volksschule blieb, aus welchen Gründen auch immer, galt als unbegabt i m Sinne des für die weiterführenden allgemeinbildenden Schulen als verbindlich angesehenen Bildungskanons und verdiente deshalb keine entsprechende Förderung. A n dem Vorrang bestimmter Bildungsabschlüsse w i r d nach wie vor festgehalten, auch wenn nach dem Zweiten Weltkrieg einige Einbrüche erzielt werden konnten. I n sozialer Hinsicht als sehr problematisch angesehen werden muß die den Kindern i m Alter von 10 bzw. 11 Jahren abverlangte Entscheidung über den einzuschlagenden B i l dungsweg. Hier entscheidet sich auch heute noch, welche Ebene und Breite der Berufswahl dem Heranwachsenden einmal zugängig sein werden. Unter dem Gesichtspunkt des Sozialaufstiegs ist der über das Gymnasium führende Weg der bedeutendste. Er führt i n gerader Linie zu einem Bildungsabschluß, der i n der Bundesrepublik m i t einer einmaligen Breite der Berufswahl ausgestattet ist. Damit kommt dem A b i t u r i n unserem bestehenden Bildungssystem sozusagen die soziale Schlüsselstellung zu. U m die m i t einem weiterführenden Bildungsabschluß gegebenen beruflichen Einstiege auch begabten Volksschülern zu ermöglichen, wurde — neben möglichen Übergängen von der Volksschule zur Realschule und zum Gymnasium — i n den letzten Jahren i m Bereich des berufsbildenden Schulwesens ein neuer Bildungsweg entwickelt, für den die Bezeichnung „Zweiter Bildungsweg" aufgekommen ist. Der Zweite Bildungsweg w i l l — hierin liegt seine soziale Bedeutung — berufstätigen Jugendlichen und Erwachsenen, denen nicht vergönnt gewesen ist, den ersten Bildungsweg zu gehen, ebenfalls den Zugang zu qualifizierten Bildungsabschlüssen einschließlich der vollen Hochschulreife eröffnen. Abgesehen von Kollegs und Abendgymnasien, die mehr gymnasiale Sonderformen sind, stellen die ausschließlich berufsbezogenen Ein-

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richtungen des Zweiten Bildungsweges m i t ihrer Stufenfolge von weiterführenden Abschlüssen einen völlig neuen Ansatz i m deutschen Schulwesen dar. Dennoch kann von gleichen Bildungschancen nur m i t erheblichen Einschränkungen gesprochen werden. Als Forderung steht immer noch an, was der Deutsche Gewerkschaftsbund 1961 i n seinen „Leitgedanken zum Zweiten Bildungsweg" wie folgt äußerte: „Der berufsbezogene Bildungsweg w i r d erst dann Wirklichkeit sein, wenn neuartige Abschlüsse... den Abschlüssen i m ersten Bildungsweg als gleichwertig anerkannt werden." M i t dem Zweiten Bildungsweg ist das Stichwort für die Berufsbildung gegeben. I n der Bundesrepublik sind schulische und betriebliche Berufsbildung nicht weniger der K r i t i k ausgesetzt als die allgemeinbildenden Schulen und die Hochschulen. Die Gründe liegen auf der Hand. Die von den wirtschaftlichen Strukturwandlungen ausgehenden Wirkungen verändern die Berufsinhalte und m i t ihnen die Berufsbilder. Für die Berufsbildung ergibt sich daraus die Forderung, i n hohem Maße anpassungsfähig zu sein. Das Gegenteil trifft jedoch zu. Schulisches wie betriebliches Bildungswesen weisen eine Starre auf, die Reformmaßnahmen geradezu erzwingen. So läßt es sich i n keiner Weise rechtfertigen, daß immer noch für Berufe ausgebildet wird, die später nicht ausgeübt werden. Sicher trifft es zu, daß die technisch-wirtschaftlichen Prozesse i n ihren Auswirkungen auf die Berufsstruktur wenig bestimmbar sind. Es lassen sich jedoch Trends feststellen, die die sich anbahnenden Entwicklungen rechtzeitig erkennen lassen. Hierzu bedarf es allerdings einer intensiven Berufsforschung, an der es bisher i n der Bundesrepublik gefehlt hat. Aus der Fülle der hier anstehenden Probleme sei das der Berufsschule angesprochen. Diese ist für die meisten Jugendlichen überhaupt die Endstation ihrer Schulbildung. Der Berufsschule kommt damit i n unserem bestehenden Bildungssystem eine Bedeutung zu, die gar nicht überschätzt werden kann. Von allen Schulzweigen hat sie wohl den umfassendsten Bildungsauftrag. Sie muß die Wissenslücken beheben, die die Volksschule gelassen hat. Sie soll dem Lehrling das theoretische Rüstzeug seines Berufes vermitteln, und sie soll aus dem Heranwachsenden einen Staatsbürger machen, der die wesentlichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht nur zu beurteilen und überschauen vermag, sondern sich auch zu eigenem selbstverantwortlichen Handeln bereit findet. Diesen Erwartungen kann die Berufsschule i n ihrer überkommenen Form einfach nicht nachkommen. Bei ihrem Charakter als Teilzeitschule vereinigen sich Mißstände der allgemeinen Bildungssituation und führen zu katastrophalen Ergebnissen. Versagerquoten von 30 v. H. i n Lehrabschlußprüfungen (so i n Essen 1966) lassen sich nicht einfach m i t dem

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Desinteresse der Schüler erklären. Schwerwiegender dürften institutionelle Mängel, wie der eine wöchentliche Unterrichtstag und der durch den akuten Lehrermangel bedingte Stundenausfall, sein. Wie sehr die betriebliche Berufsbildung selbst von führenden Unternehmungen als reformbedürftig angesehen wird, beweisen Maßnahmen (z. B. der von der Firma Krupp entwickelte Stufenplan), die rigoros m i t den bestehenden Formen brechen. U m so weniger ist zu verstehen, daß die Bundesregierung sich bis heute noch nicht zu einer einheitlichen Regelung des Berufsbildungsrechts bereit gefunden hat. Bis i n das Jahr 1919 zurück reichen die Bemühungen u m ein „umfassendes Berufsausbildungsgesetz". Ein i m Jahre 1927 erstellter Entwurf ist i n der Weimarer Republik nicht mehr Gesetz geworden. Seit 1948 bemühen sich der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Gewerkschaften u m ein solches Gesetz. 1959 legte der Deutsche Gewerkschaftsbund sogar einen eigenen Gesetzentwurf vor. Der vom Deutschen Bundestag zum 1. 2.1963 erwartete Regierungsentwurf ist m i t dem Hinweis hinausgeschoben worden, daß ein genauer Termin „angesichts der Komplexität der Materie" noch nicht angegeben werden könne. Wie dringend aber die Reform der Berufsbildung ist, wies bereits ein 1952 der Ständigen Konferenz der Kultusminister vorgelegtes „Gutachten zur Berufsausbildung der deutschen Jugend" nach, i n dem es heißt: „ . . . alles, worum w i r uns heute politisch, w i r t schaftlich und kulturell bemühen, verliert seinen Sinn, wenn i n 20, 30 oder 50 Jahren nicht mehr die Menschen da sind, die das bisher Geschaffene und Geleistete fortzuführen imstande sind". Dieser Ausschuß sah sich aber schon damals zu der Feststellung genötigt, „daß eine zeitgemäße Gestaltung und Ordnung der Berufserziehung zu den wichtigsten innerpolitischen Aufgaben gehört, die z. Zt. einer Lösung h a r r e n . . . " , wobei „das Verständnis dafür nur vereinzelt zu finden" sei. Ungeachtet dessen, glaubte der Bundeswirtschaftsminister 1952 auf eine Anfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes doch auf „die bewährten Einrichtungen" hinweisen zu müssen, die sich i n Industrie und Handel entwickelt hätten; was einzelne Unternehmen nicht hinderte, diese „bewährten Einrichtungen" aufzugeben und ganz neue Wege zu gehen, die die zuständigen Kammern nachträglich nur gutgeheißen haben. I m Gegensatz zu der Praxis der Berufsbildung, wie sie sich i n der Mehrzahl der Betriebe findet, steht auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände m i t der Ansicht, daß „die beste Existenzsicherung eine breite Basis der Berufsausbildung" ist. Wenn das wirklich die Uberzeugung der B D A ist, dann ist der Widerstand gegen als notwendig erkannte Reformen nicht zu verstehen.

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Bei der Reform unseres beruflichen Bildungswesens stoßen w i r auf eine fast einheitliche Abwehrfront der Handwerkskammern, Innungen, Industrie- und Handelskammern und der Unternehmerverbände. Man wehrt sich zunächst gegen die Ausweitung und Intensivierung des gesamten Berufsschulwesens. Nach wie vor geht es darum, den Lehr- und Anlernling möglichst früh und möglichst lange i n der praktischen Berufsarbeit zu haben. Wenn bei einer Lehrlingslossprechungsfeier, an der ich i m Frühjahr dieses Jahres teilgenommen habe, vom Innungsobermeister erklärt wurde, daß man i m großen ganzen m i t den praktischen Leistungen der Lehrlinge zufrieden sein könne, daß aber die allgemeine und theoretische Bildung sehr zu wünschen übrig lasse, dann war das wohl zunächst ein Eingeständnis, daß man hier kaum genug getan hat. Die Schlußfolgerung, die aber daraus gezogen wurde, sprach für sich: Der Innungsobermeister empfahl den Meistern, sich der Lehrlinge doch mehr und besser anzunehmen, denn sonst würde man die Lehrlinge doch noch zwei Tage i n der Woche zur Schule schicken müssen und hätte sie noch einen Tag weniger i m Geschäft. Der Hauptgeschäftsführer einer großen Industrie- und Handelskammer, m i t dem ich eine wenig freundliche Korrespondenz führte, schrieb vor nicht allzu langer Zeit i n einer großen bundesrepublikanischen Zeitung 5 , daß die Berufsbildungsarbeit die Wirtschaft vor große und z. T. neue Aufgaben stelle, auf die sich die Wirtschaft selbst ernstlich vorbereite. Es bedürfe dazu keiner neuen Gesetze. Die Forderungen der Gewerkschaften aber bedeuteten nur, „daß der erweiterte Machtanspruch der Gewerkschaften auf dem Rücken unserer i n das Berufsleben hineinwachsenden Jugend ausgefochten werden soll". Das also ist es, was das Handwerk und die Industrie- und Handelskammern dazu veranlaßt, die Berufsbildung aus der Perspektive des vorigen Jahrhunderts zu sehen, als es noch keine Gewerkschaften gab, die sich u m den gesamten Fortschritt kümmerten. Wie könnte es auch anders sein, als daß die Gewerkschaften bei all ihrem Tun nur ihren Machtanspruch i m Sinn haben. I n mehreren Spitzengesprächen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände haben w i r bisher versucht, für die künftige Entwicklung des beruflichen Bildungswesens eine einheitliche Basis und eine gemeinsame Empfehlung zu erarbeiten. M i t dem Hinweis auf ihre nur begrenzte Zuständigkeit und die völlig divergente Lage i m beruflichen Bildungswesen haben sie unsere Versuche bisher 5 Albrecht, Karl: Die Berufsausbildung liegt in guten Händen, in „Die Welt" vom 2. 10. 1965.

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scheitern lassen. Ich w i l l auch darauf hinweisen, daß sich nach 1948 noch alle Bundesarbeitsminister mit der Reform des beruflichen Bildungswesens befaßt haben. Keiner der gewesenen Arbeitsminister ist bisher mit einem entsprechenden Gesetzentwurf durchgekommen. Auch sie scheiterten an dem massiven Widerstand der von m i r genannten Gruppen. Es ist aber nicht allein ein Widerstand gegen die Entwicklung einer besseren allgemeinen und theoretischen Berufsausbildung, man wehrt sich auch und insbesondere gegen einen größeren staatlichen und gewerkschaftlichen Einfluß. Der immer stärkere Zug zur Liberalisierung unserer sozialen und ökonomischen Entwicklung macht vor dem Bildungswesen und vor allem vor dem beruflichen Bildungswesen nicht halt. Was nützen aber alle Reformvorschläge für unser Bildungswesen, wenn es i n völliger Verkennung der „Freiheit auch i n der Bildung" den subjektiven Auffassungen der wirtschaftlichen Gruppen überlassen bleibt, die Bildung nach ihrem Gutdünken zu entwickeln. Bildung ist ein fortwährender Prozeß. Ein bestandenes Examen bzw. ein Zeugnis kann nicht Endpunkt der Bildung sein. Wer glaubt, m i t einem einmal erworbenen Schulwissen und dem, was er bei seinem Meister gelernt hat, ein ganzes Leben auszukommen, sieht sich schon bald eines anderen belehrt. Auf einem erreichten Bildungsniveau stehenbleiben zu wollen bedeutet, den Anschluß zu verlieren. Es ist nicht der gebildet, der Schule, Prüfungen und Zeugnisse nachweisen kann, sondern der die geistigen Fähigkeiten erworben hat und sie immer wieder erwirbt, die an ihn herangetragenen Aufgaben selbständig zu lösen. Lebenslang zu lernen ist demzufolge heute eine Forderung, der sich keiner entziehen kann, sofern er i m Beruf und als Staatsbürger bestehen w i l l . Der Bildungsökonom Friedrich Edding hat diesen Sachverhalt i n folgende Sätze gekleidet: „Wer i n diese Welt geboren ist, muß zunehmend mehr bildungsbedingte Fähigkeiten als seine Vorfahren erwerben und sich mehr als frühere Generationen auch als Erwachsener fortbilden. Er muß dies tun, u m sich i m Wandel aller Verhältnisse orientieren und behaupten zu können. Das industrielle System läßt i h m keine Wahl. I n der Eigengesetzlichkeit der vom Menschen umgeschaffenen Welt, i n den Leitbildern des modernen Menschen und i n den daraus hervorgegangenen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassungen w i r k t eine Logik, die zu immer größeren geistigen Anforderungen i n Produktion, Verteilung, Verwaltung, Verteidigung und Wissenschaft zwingt." Nun erfüllt sich unser Leben nicht nur i m Beruf. Jeder von uns weiß, daß er auch als Staatsbürger gefordert ist. Dies um so mehr, als es von uns abhängt, ob der zweite Gehversuch einer deutschen Demokratie von Dauer sein wird. Eine fundierte staatsbürgerliche

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Bildung ist deshalb unerläßliche Voraussetzung für das Funktionieren und den Bestand einer so schwierigen Staatsform, wie sie die freiheitliche Demokratie darstellt. Das Schicksal der Weimarer Republik hat gezeigt, daß die freiheitliche Demokratie sich nur verwirklichen läßt, wenn die Bürger sie innerlich bejahen und die ihnen gegebene Verantwortung zu tragen bereit sind. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die erste deutsche Demokratie durch die Wirtschaftskrise und die innenpolitischen Spannungen unerhörten Zerreißproben ausgesetzt gewesen ist. Es dürfte aber unbestritten sein, daß es letztlich fehlendes demokratisches Bewußtsein gewesen ist, das zu ihrer Beseitigung geführt hat. Man sollte sich auch heute nicht darüber täuschen, daß unsere jetzige Staatsordnimg und -form noch nicht fest i n unserem Volke verankert ist. Gerade i n letzter Zeit mehren sich Anzeichen dafür, daß autoritäre und extreme Elemente Wiederaufleben und wirksam werden. Ihnen gegenüber heißt es, wachsam zu sein und den Anfängen zu wehren. Verteidigen kann man aber letztlich nur, was man als gültige Form und Ordnung einer Gesellschaft anerkennt. So, wie w i r Form und Ordnung unseres Familienlebens als die uns gemäße betrachten und sie immer wieder gegen zerstörende Kräfte verteidigen, so muß auch die freiheitlich-demokratische Gemeinschaft von uns bejaht, geformt und verteidigt werden. Dazu bedarf es einer wachsenden staatsbürgerlichen Bildung. Diese staatsbürgerliche Bildung ist der beruflichen und der allgemeinen Bildung gleichwertig, wenn nicht gar vorrangig angesichts der staats- und weltpolitischen Situation. Nicht ohne Grund hat sich der Deutsche Gewerkschaftsbund von Anfang an so entschieden für die staatsbürgerliche Bildung eingesetzt. Vor 17 Jahren, auf dem Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, erklärte man sich dafür, immer mehr „verläßliche Demokraten für die junge Republik" heranzubilden. Man darf es uns abnehmen, daß w i r seitdem der staatsbürgerlichen Bildung innerhalb der gewerkschaftlichen Schulungs- und Bildungsarbeit einen großen Raum gegeben haben und viele Erfahrungen sammeln konnten. Diese Erfahrungen sind es, die uns veranlassen, die staatsbürgerliche Bildung zu forcieren. Das, was bis heute geschehen ist, w i r d den Erfordernissen nicht gerecht. Aber auch m i t dieser Forderung stoßen w i r auf Hindernisse und Schwierigkeiten, die eigentlich nicht gegeben sein dürften, wenn man den sogenannten Bildungsnotstand ernst nimmt; es sei denn, man lokalisiert diesen Bildungsnotstand nur auf das „höhere Schulwesen" 12 Tagung Dortmund 1966

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und die Wissenschaft und betrachtet die berufliche und allgemeine Bildung der „Masse des Volkes" für ausreichend. Es sollte heute eigentlich als selbstverständlich anerkannt werden, daß die Gewerkschaftsbewegung ein Bildungsträger ist. Dem ist aber nicht so. Auch heute noch gelten die Gewerkschaften nach Ansicht führender Arbeitgeber 8 als Institutionen, i n denen „oft recht einseitig die Ausbildung von Gewerkschaftsfunktionären" betrieben wird. So wundert es einen dann nicht, daß man die Forderung des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach einem bezahlten Bildungsurlaub ablehnt. Warum fordern w i r diesen bezahlten Bildungsurlaub? 1. Der Bedarf an beruflicher, allgemeiner und staatsbürgerlicher Bildung (der bei den Gebildeten mehr spezielle Kenntnisse betrifft) liegt bei der großen Zahl von Menschen, die mit 14 Jahren i n das Berufsleben eintreten und nachher keine „Schulbank mehr drücken", auf der Hand. 2. Wenn diese Arbeitnehmer systematisch i n die Bildung eingeführt werden und ihr Bildungswille aktiviert wird, so muß man dem genauso selbstverständlich Rechnung tragen wie den Bedürfnissen unseres höheren Schulwesens und der Wissenschaft. 3. Die berufliche und staatsbürgerliche Bildung des Arbeitnehmers ist genausowenig ein Freizeithobby wie die Bildung i n den Höheren Schulen, an den Universitäten und wissenschaftlichen Instituten. (Damit soll nicht gesagt werden, daß die freie Zeit für den Arbeitnehmer völlig bildungsfrei sein soll.) 4. Unsere Erfahrungen beweisen, daß die Aktivierung der Bildung, besonders für den Erwachsenen, über geschlossene Zeiträume von 14 Tagen, 3 Wochen und länger zu größeren Erfolgen führt. Wäre das nicht der Fall, dürften wohl auch die vielen Kurse und Seminare anderer Bildungsträger fragwürdig sein. W i r erleben aber einen ständigen Ausbau dieser Kurse und Seminare, gerade auch der Bildungsträger der Arbeitgebervereinigungen. 5. Die bisherigen Bemühungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Gewerkschaften kommen über ein begrenztes Ergebnis nicht hinaus. Die finanziellen Belastungen und die „Freistellung von der Arbeit" setzen die Grenzen. Dabei werden vom Deutschen Gewerkschaftsbund und den Gewerkschaften insgesamt über 12 v. H. ihrer Einnahmen für Bildungszwecke aufgewendet. 8 Dr. Kr enge l: . . . Nr. 6/1966.

in keiner Weise annehmbar, in „Der Arbeitgeber",

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6. Da die Kosten für die Bildung i n den Schulen, Universitäten und wissenschaftlichen Instituten ja nicht völlig zu Lasten des zu Bildenden gehen, ist nicht einzusehen, daß der Arbeitnehmer, der — wenn Sie so wollen — verspätet zur Bildung kommt, sie nun völlig aus seiner Tasche bezahlt und nur i n seiner Freizeit erhält. Es ist auch hier das Gleichheitsprinzip anzuwenden. 7. Unsere Forderung nach einem bezahlten Bildungsurlaub beinhaltet keinen kollektiven Zwang zur Bildung. Es soll dem Arbeitnehmer ein Anrecht auf diesen Bildungsurlaub gegeben werden, aber er soll nicht verpflichtet sein, sich zu bilden. Es w i r d deshalb auch klar umrissen, für welche Bildungszwecke der Urlaub von der beruflichen Arbeit gewährt werden muß. Ich w i l l es m i r versagen, hier auf alle, vor allem von der Arbeitgeberseite vorgebrachten Einwendungen gegen den Bildungsurlaub einzugehen. Sie betreffen hauptsächlich zwei Dinge, die übrigens bei allen gewerkschaftlichen Forderungen an die Arbeitgeber für die Ablehnung entscheidend sind, nämlich die Zeit und das Geld . Es ist die Zeit, die der Arbeit verloren geht, und das Geld, das der Arbeitgeber zahlen soll. Dabei ist bisher zumindest von uns nicht gefordert worden, daß der Arbeitgeber für die Gesamtkosten der Bildung des Arbeitnehmers aufkommen soll. Es ist aber die Frage zu stellen, ob hinter diesen vordergründigen Ablehnungen nicht noch ein tieferer Grund liegt, der die gesamte Bildungsbewegung belastet. Man sollte nicht vergessen, daß von dem Augenblick an, i n dem die Bildung ihre Exklusivität einbüßt, d.h. zum Allgemeingut des Volkes wird, die Gesellschaft eine durchgreifende Strukturänderung erfahren muß. Der gebildete Mensch w i r d die Reste ständischen Denkens und Verhaltens abwerfen. Er w i r d sich nicht mehr einfach dem Stand zuordnen lassen, i n den er „hineingeboren" wurde. Er w i r d kraft seiner Bildung seinen Platz i n der Gesellschaft verlangen, und zwar nicht nur was sein Ansehen, sondern auch was seine Position und Entlohnung betrifft. Es w i r d dann endgültig vorbei sein m i t „dem dummen Arbeiter, der treu und brav seine Pflicht tut". Und es ist die Frage, ob ein Arbeiter, der das nicht mehr ist, gewünscht werden kann. Zum Schluß möchte ich nur noch verweisen auf die „Grundsatzerklärung zum Erziehungs- und Bildungswesen" des DGB von 1958, die „Leitgedanken zum 9. und 10. Schuljahr" sowie die Erklärungen zur Lehrerbildung und zu den Fragen der Hochschulreform. Eine umfassende, alle Bereiche des kulturellen Lebens berücksichtigende Stellungnahme ist 1963 i n den „Kulturpolitischen Grundsätzen" des

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Grundsatzprogramms des DGB erfolgt. Die Entwürfe des bereits erwähnten Berufsausbildungsgesetzes und eines Ausbildungsbeihilfegesetzes beweisen außerdem, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund es auch an konkreten — und wie ich meine — realisierbaren Vorschlägen nicht hat fehlen lassen. U m die Reform des deutschen Bildungswesens stände es sicherlich besser, wenn wenigstens die Hälfte von dem, was bisher an Erklärungen, Gutachten und Programmen auf dem Bildungsmarkt erschienen ist, verwirklicht würde. Ich werde das Gefühl nicht los — verzeihen Sie m i r diesen Ausdruck —, daß es zu viele gibt, die sich i n der Erforschung unserer Bildungssituation erschöpfen, und zu wenige, die bereit sind, das Erforschte zu realisieren.

I L Diskussionen zu den Vorträgen

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Walter Rest (Münster) Prof. Helmut Duvernell (Dortmund):

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die Diskussion und möchte gleich u m Beiträge bitten.

Rechtsanwalt Dr. Karl Göckmann (Schwerte): Ich b i n sehr beeindruckt von den beiden bisherigen Vorträgen, habe aber — noch unter dem Eindruck einer Schulpflegschaftsversammlung, an der ich gestern i n einer Oberschule i n Schwerte teilgenommen habe — die Frage: Was t u n all die vielen Pädagogen, von denen w i r heute morgen gehört haben, um die pädagogisierte Gesellschaft — ich habe diesen Ausdruck hier zum erstenmal gehört — zu verwirklichen? Als Vater und als Kommunalpolitiker habe ich den Eindruck, daß die Pädagogen selbst zu wenig tun, u m unsere Gesellschaft von den bildungspolitischen Notwendigkeiten zu überzeugen, die uns hier vor Augen geführt worden sind. Prof. Dr. Walter Rest (Münster): Ich nehme an, Sie denken an die Schwierigkeiten, die jetzt durch die Kurzschuljahre und den großen Andrang der Schüler auf die Oberschulen entstanden sind. Diese Schwierigkeiten dürfen nicht auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden, da bin ich völlig Ihrer Meinung. A u f der anderen Seite müssen Sie aber bedenken, daß die Lehrer Menschen sind, die auch nur eine bestimmte Quantität an K r a f t zur Verfügung haben. Wenn sie überfordert werden und dann erklären: Das geht zu weit, w i r werden jetzt auf stur schalten, so ist das natürlich schockierend, w e i l man sagt: Wo bleibt eure pädagogische Verantwortung i m Hinblick auf das Kind? I m übrigen bestehen noch sehr unterschiedliche Auffassungen über schulische Ziele. Ein Vater, der seine Kinder von der Grundschule

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Diskussion zum Vortrag von Walter Rest

i n die Höhere Schule hinüberführt, erfährt dort allzu leicht, daß die Ausbildung das Primäre ist und nicht die Förderung jedes einzelnen Kindes nach seiner Eigenart und Begabung. Was heißt überhaupt Begabung, nicht wahr? Ich glaube, daß die Kollegen aus Amerika und Schweden darüber noch viel sagen werden. W i r verstehen hier Begabung doch i n einem sehr eingeengten intellektuellen Sinn. Es war wahrscheinlich ein ganz großer Fehler, daß w i r nicht das 5. und 6. Schuljahr als wirkliche Prüfungszeit für die Begabungsrichtung unserer Kinder durchgesetzt haben, die heißumstrittene Förderstufe; denn erst i n diesen Jahren kann man wirklich über die Begabungsrichtung eines Kindes etwas aussagen und auch nur i n einer zweijährigen intensiven Beobachtung, u m dann dem K i n d einen u m so sicheren und leichteren Weg i n die weiterführenden Schulen zu weisen, die seiner Begabung und nicht seinem sozialen Herkommen entsprechen.

Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Ich möchte etwas aufgreifen, was ich als sehr ernstes Problem innerhalb der Industriegesellschaft ansehe. Wie w i r aus dem Referat gehört haben, ist das Elternhaus verpflichtet, sich an der Ausbildung der Kinder zu beteiligen. Aber wie soll das i n den Arbeiterfamilien geschehen, deren Kinder i n die Höhere Schule kommen? Wie sollen Eltern ihren Kindern i n Fächern helfen, die sie selbst nicht beherrschen? Ich b i n selbst Pflegschaftsvorsitzender gewesen, als ich noch Kinder auf der Schule hatte, und empfinde es einfach als ein Versagen der Gesellschaft, wenn man dem Elternhaus etwas aufbürdet, was es nur sehr bedingt erfüllen kann. Deshalb würde ich gerne einmal hören, wie man diese Probleme lösen w i l l , denn w i r wollen doch möglichst qualifizierte Kräfte heranbilden. Heute ist es aber so, daß das K i n d aus einem gebildeten Elternhaus von vornherein eine günstigere Position hat als die Kinder aus Arbeiterfamilien, obschon diese ihrer Anlage nach oft weit höher qualifiziert sein können.

Prof. Dr. Walter Rest (Münster): Das führt natürlich i n sehr differenzierte Probleme unserer Gesellschaft hinein. Es ist selbstverständlich, daß — wie Schelsky einmal gesagt hat — das Elternhaus m i t i n die Schule geht. Wenn das nicht der Fall ist, ist der Schüler ganz erheblich benachteiligt. Dies müßte viel stärker berücksichtigt werden, nicht i n dem Sinne, daß das Elternhaus befähigt wird, die Nachhilfe zu leisten, sondern dadurch,

Diskussion zum Vortrag von Walter Rest

daß der Lehrer die Situation des Elternhauses kennt und das K i n d entsprechend anspricht. (Einwurf: Ganztagsschule!) Ja, aber die Ganztagsschule ist wieder ein Gesellschaftsproblem, denn sie stößt i n weiten Schichten unseres Volkes auf Widerstand, weil es viele Familien gibt, die ihre Kinder mittags zu Hause haben wollen und nicht begreifen, daß sie viel mehr von ihren Kindern hätten, wenn diese u m 16 oder 17 Uhr ohne Hausaufgaben heimkämen. Sie könnten sie dann wahrscheinlich auch den ganzen Samstag und natürlich Sonntag u m sich haben und sich ihnen viel intensiver w i d men. Ob sie das aber wiederum wollen oder ob sie nicht froh sind, daß die Kinder einige Stunden i n der Schule sind, das ist noch eine offene Frage. Die Ganztagsschule w i r d sich m. E. nur langsam durch Versuche und vorbereitende Aufklärung einführen lassen. Wehe dem Kultusminister, der das von oben herunter dekretieren würde. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Aber man muß auch mal M u t haben, nicht wahr? M u t auch zu unpopulären Maßnahmen, wenn man erkannt hat, daß man hier weiterkommt. W i r wollen ja nicht die alte Gesellschaft bewahren, sondern w i r wollen i n eine neue, bessere Gesellschaft hineinwachsen. Bernd Hartig (Düsseldorf): Herr Prof. Rest, sind Sie nicht der Meinung, daß sich i n unserem gesamten Schul- und Bildungswesen der Demokratisierungsprozeß möglichst rasch vollziehen muß, u m die Mitarbeit der Eltern zu erreichen bzw. all derjenigen, die an der Bildung und Ausbildung interessiert sind?

Prof. Dr. Walter Rest (Münster) Schon, aber w i r leben i n einer freiheitlichen Demokratie. Sie können die Eltern nicht zwingen, daß sie abends zu den Besprechungen erscheinen und daß sie sich bereit erklären, den Forderungen der Schulpolitiker und der Pädagogen zu entsprechen, etwa i m Hinblick auf eine solche Ganztagsschule, i n der eine größere Demokratisierung stattfinden könnte. Über nichts glaubt ja jeder so zuständig sprechen zu können wie über Erziehung und Bildung, weil w i r alle irgendwie i n diesen Prozeß selbst miteingespannt sind. Da den Beweis zu

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führen, welcher der richtige Weg ist, scheint m i r sehr schwierig. I n einer Gesellschaft, die ja auch eine wissenschaftliche Gesellschaft wird, wie es der Minister gestern nachdrücklichst ausführte, müßte man sich eigentlich der Erziehungswissenschaft unterstellen, aber das ist sehr schwer, w e i l w i r alle ja von Natur aus auf Bildsamkeit angelegt sind und i m gegenseitigen Erziehungsprozeß vielleicht das Entscheidende überhaupt geschieht. Das, was die Lehrer hinzufügen, ist ja nur noch ein Akzidens. Darin liegt die Schwierigkeit. Wenn w i r hier ein praktisches Problem hätten, irgendeine lösungsbedürftige Situation, dann würden Sie erleben, daß jeder seine Meinung darüber hat, von der er sich nicht abbringen läßt, auch nicht von einem Fachmann, der i h m sagt, daß man es so auf keinen Fall machen kann. Das ist das Problem. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Das würde also nach den Ausführungen des Ministers bedeuten, daß sich nicht nur die Pädagogen monokausal verhalten, sondern anscheinend auch die Eltern. Ich glaube, daß diese Fragen zunächst einmal genügen. W i r werden die Diskussion nach dem Referat von Herrn Goote fortsetzen. Ich danke Ihnen, Herr Kollege Rest, recht herzlich für Ihre A n t worten. W i r haben uns i n diesem Fragenkomplex noch ziemlich i m technischen Vorraum aufgehalten und sind nicht direkt i n die Problematik des Tagungsthemas eingestiegen. Dennoch gehören die hier aufgeworfenen Fragen sicherlich i n den Rahmen unserer Tagung. Ohne die Erkenntnis, wie eine Problematik entsteht, w i r d man auch das Problem selbst nicht erfassen.

Diskussion zu den Vorträgen von Generalinspecteur M. Goote (Den Haag) und Prof. Dr. Walter Rest (Münster) Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Meine Damen und Herren! Ich glaube, w i r beginnen am besten gleich mit der Diskussion, dam i t w i r die Zeit ausnutzen können. Wer möchte den ersten Diskussionsbeitrag liefern? Prof. Dr. Walter Rest (Münster): Ich habe eine Frage an Herrn Goote. Sie hatten i n den Niederlanden bisher auch eine 4jährige Grundschule und, darauf aufbauend, eine 2jährige allgemeine Schule; danach begann die Differenzierung i n die verschiedenen Richtungen. Wie viele Jahre umfaßt die holländische Grundschule jetzt? Generalinspecteur M. Goote (Den Haag): Die Grundschule beträgt i n den Niederlanden 6 Jahre. Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): Ich möchte eine Frage stellen, die für mich die Gretchenfrage dieser ganzen Diskussion sein w i r d : Wie groß ist die Prozentzahl der A b i t u rienten i n den Niederlanden? Generalinspecteur M. Goote (Den Haag): Etwa 18 v. H. eines Jahrganges gehen aufs Gymnasium, 10 v. H. machen das Abitur. Horst Draheim (Dortmund): Wie ist die soziologische Gliederung, also zu welchen beruflichen Schichten gehören die Eltern der Abiturienten?

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Generalinspecteur M. Goote (Den Haag): Ich kann Ihnen jetzt die statistischen Zahlen nicht nennen. Aber wenn sie meinen, ob die Arbeiterkinder i n gleicher Weise vertreten sind wie die der anderen Schichten, dann muß ich Ihnen sagen, daß sie auch i n den Niederlanden die kleinste Gruppe unter den Abiturienten sind. Man muß jedoch wissen, daß es auch andere Wege zum Hochschulstudium gibt. Ich habe Ihnen gesagt, daß 14 v. H. der Studenten an technischen Hochschulen z. B. kein A b i t u r haben. M i r erscheint es wichtig, mehrere Wege offenzuhalten. Beim Gymnasium, da ist eben der Zulauf aus den gebildeten Familien am größten.

Otto Semmler (Düsseldorf): Herr Prof. Rest, ist es nicht vielleicht doch so, daß w i r i n der Bundesrepublik, obwohl es ja gestern Herr Minister Mikat etwas anders darstellte, i m Bewußtsein der Gesellschaft noch Reste der Ständeschulen haben? Ist nicht sowohl die Bezeichnung der Schulen noch darauf zurückzuführen als auch ihr Inhalt? Ich meine, daß w i r bis heute kein horizontales Schulsystem haben, daß allen Begabten ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft die gleichen Chancen bietet. Die Tagesheimschule z. B. müßte man stärker als Angebot zur Verfügung stellen. I n Nordrhein-Westfalen gibt es nur ein Ganztagesgymnasium; dort jedoch ist der Anteil der Arbeiterkinder ganz erheblich höher als i m Landesdurchschnitt. Man kann sicherlich auch etwas mehr tun, u m die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit besserer Bildung zu überzeugen. Es ist aber nicht damit getan, daß man mehr Kinder i n weiterführende Schulen schickt, sondern man muß auch Inhalt und Form dieser Schulen entsprechend ändern, eben den modernen Verhältnissen anpassen. Die Eltern w i r d man m. E. durchaus für eine fortschrittliche Schule gewinnen. Besonders aber die berufliche Bildung — den Eindruck hat man manchmal — w i r d i n der Bildungsdiskussion der Bundesrepublik gerne vergessen. Das mag daran liegen, daß diese berufliche Bildung noch nicht recht als öffentliche Aufgabe verstanden wird, daß man sie bis heute eigentlich immer noch der Wirtschaft zurechnet, da die Berufsschule ja nur einen ganz kleinen Teilbereich darstellt und gar nicht die entscheidende Stätte der Berufsausbildung ist. Aber selbst i n diesem Teilbereich ist ein ziemlicher Notstand festzustellen. W i r haben hier einen ganz erschreckenden Lehrermangel. Der DGB hat vor einigen Jahren eine Erhebung durchführen lassen; da wurden i m

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Bundesdurchschnitt etwa 6 Stunden gegeben. Normalerweise müßten es mindestens 8, eigentlich sogar 10 oder 12 Stunden sein. Hier ist der Notstand also sehr viel größer noch als i n anderen Schulbereichen. Leider ist bei uns auch die Berufsforschung, die die Voraussetzung für die Reform der Berufsausbildung ist, noch ein Stiefkind der Wissenschaft. Man beginnt erst jetzt m i t Experimenten, wie z. B. der Stufenausbildung. Und eine letzte Bemerkung noch. Es ist ja heute i n beiden Vorträgen von der permanenten Bildung gesprochen worden. Dazu gehören aber Bildungseinrichtungen und auch ein Bildungsurlaub, damit die A r beitnehmer überhaupt die Möglichkeit bekommen, sich weiterzubilden. Denn sicherlich ist die Weiterbildung für alle Arbeitnehmer äußerst wichtig; sie müssen sich alle auf neue Anforderungen, neue Gegebenheiten einstellen.

Prof. Dr. Walter Rest (Münster): Ich habe mich m i t L u d w i g Neundörfer ganz eindeutig dazu bekannt, daß Hauptschule und Berufsschule das zentrale Problem für die Gesundung unseres gesamten Schulwesens sind. Ich wußte nicht, wo hier i n unserer Diskussion Akzente auftauchen würden, sonst hätte ich ja statistisches Material i n großer Zahl mitbringen können. Ich wollte nur aufzeigen, wie komplex die Sache ist. Es ist leicht zu sagen: Man muß das und das ändern. Aber dazu braucht man die entsprechenden Schulräume mit Werkstätten, Aufenthaltsräumen und dergleichen — der ganze Stil der Schule muß sich wandeln —, und dazu gehören auch ausgebildete Lehrer. Ich habe ja gesagt, daß w i r i m Augenblick nicht genügend Lehrer ausbilden und daß ich ein ganz schlechtes Gewissen habe i m Hinblick auf die Schule des Jahres 2000, die dann wohl von Studenten geführt werden muß. Zur Tagesheimschule gehören nun tatsächliche Erfahrungen. Und deswegen, glaube ich, ist es richtig, daß man Experimente anstellt, stufenweise und vor allen Dingen dort, wo es nahezuliegen scheint, also i n Industriestädten. Sie haben vollkommen recht, i n unserem Schulwesen sind eindeutige Reste des ständischen Denkens vorhanden; aber ich glaube, daß sie i n der Gesamtentwicklung abgebaut werden, so traurig es auch ist, daß der Prozentsatz der studierenden Arbeiterkinder immer noch so gering ist. Ich leugne gar nicht, daß dies ein öffentlicher Skandal ist. Aber wo liegen die Gründe für diese Tatsache? Man kann ja nicht sagen, das rührt von der Bosheit der Gesellschaft her, sondern da sind

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die Wege nicht bereitet worden, die Bildungswerbung ist nicht recht i n Gang gekommen. I n der heutigen Schulsituation braucht ein Kind, u m durch die Schule zu kommen, unbedingt das Elternhaus. Daran ist nicht zu zweifeln. Die gesamte Gesellschaft geht i n die Schule. Wenn ihre Kinder ins erste Schuljahr kommen, dann gehen Vater und Mutter mit ins erste Schuljahr. Und wenn sie nicht mit hineingehen (ich meine das natürlich geistig), dann leiden die Kinder darunter. Ein sehr anregender Franzose, André Malou, hat gesagt: Es w i r d höchste Zeit, daß w i r Elternschulen einrichten, damit die Eltern i n der Lage sind, m i t ihren Kindern Schularbeiten zu machen. Die Frage nach der Berufsforschung muß ich leider weitergeben. Der Bildungsurlaub ist natürlich eine Forderung, über die i m sozialpolitischen Bereich entschieden werden muß. Aber es sollte auch gleich dazu gesagt werden, wie der Bildungsurlaub fruchtbar zu machen wäre. Ruth Gamb (Düsseldorf): Ich habe einige Fragen an beide Referenten. Zunächst geht es m i r u m ein Sonderproblem, nämlich die Bildung und Ausbildung der Mädchen. Hier werden unverzeihliche Sünden begangen. Ich erlebe m i t großer Sorge, daß man die jungen Mädchen, getreu dem Leitbild der bürgerlichen Frau der Jahrhundertwende, dazu veranlaßt, i m Hinblick auf eine baldige Heirat von einer ordentlichen Bildung und Ausbildung abzusehen. Wie sollen diese jungen Mädchen aber später ihre Kinder vernünftig erziehen und ihnen bei ihren Problemen zur Seite stehen? Ich möchte gerne wissen, was w i r hier t u n können; denn w i r stellen doch fest, daß i n unserer Zeit die Erziehung unseres Nachwuchses mehr und mehr i n die Hände der Frau gelegt wird. Wenn w i r zulassen, daß die Mädchen sich mit einer „Schmalspurausbildung" begnügen, dann schädigen w i r doch die Gesellschaft schlechthin. Zweitens möchte ich etwas über die allgemeine Einstellung der Eltern zu den Bildungsfragen sagen. Ich glaube, daß es nicht immer böser Wille, Phlegma oder gar Unfähigkeit ist, wenn Eltern hier versagen. Ich möchte eher behaupten, daß heutzutage eine steuerlich begünstigte Mammutwerbung den Menschen i n unserer Gesellschaft beibringt, was sie zu besitzen haben, u m anerkannt zu werden. Es haben sich dadurch gewisse Verbrauchsnormen herausgebildet, die den Menschen oft den letzten Pfennig aus der Tasche ziehen. Das führt, meine ich, nicht zuletzt dazu, daß viele Eltern sich nicht so sehr u m die Bildungsprobleme ihrer Kinder kümmern, w e i l sie mehr nach

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bestimmten materiellen Gütern trachten als nach einer gediegenen Bildung und Ausbildung für ihre Kinder. Wie kurzsichtig viele Eltern i n dieser Beziehung sind, zeigt m i r u. a. die Tatsache, daß sie die 5-Tage-Woche für die Schulen wünschen, ohne gleichzeitig die Ausbildung i n einer sog. Tagesheimschule zu fordern. Wenn ohne die Einführung einer solchen Schule der Unterricht auf 5 Tage beschränkt würde, dann wäre das, so meine ich, ein bildungspolitischer Ausverkauf. Hier möchte ich übrigens aus meiner praktischen Erfahrung eine Empfehlung geben. Der Begriff Heim bedeutet i n unserer Bundesrepublik etwas Diskriminierendes. Daher sollte man einfach von Tagesschulen sprechen. Es könnten sich sonst manche Eltern scheuen, ihr K i n d i n eine solche Tagesheimschule zu geben. Als letztes noch eine Bemerkung zu der Feststellung, die Industrie sei für ein Grund jähr eher zu gewinnen als das Handwerk. Ich bezweifle das. Ich glaube auch nicht, daß der Handel einverstanden sein würde. Industrie und Handel werden immer arbeitsmarktpolitische, wirtschaftliche Belange i n den Vordergrund stellen. Wenn das nicht der Fall wäre, dann hätten w i r z. B. i m Handel nicht i m Augenblick den großen Kampf u m die Aufspaltung der Berufsbilder (zweijährige und dreijährige Ausbildung). Hier geht man nicht vom bildungspolitischen, sondern ausgesprochen vom arbeitsmarktpolitischen Effekt aus. Gerade i m Handel aber geht es wieder u m die weiblichen Jugendlichen, die hier 80 v. H. ausmachen. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Herzlichen Dank für Ihren Beitrag, der eine ganze Reihe von Problemen unserer Industriegesellschaft enthält. Ich glaube, daß unsere beiden Referenten gerne bereit sind, darauf zu antworten. Würden Sie beginnen, Herr Goote? Generalinspecteur M. Goote (Den Haag): Ich möchte etwas zur Ausbildung der Mädchen sagen. Sie haben i n Holland dieselben Möglichkeiten wie die Jungen. Eine andere Frage ist, warum sie von diesen Möglichkeiten nicht i n demselben Maße Gebrauch machen. Bei uns wächst jedoch jetzt der Prozentsatz der Mädchen an den Gymnasien. Es gibt immer mehr Berufe für Frauen. Speziell i n den Niederlanden verrichtet die Hausfrau jedoch meistens keine Arbeit nebenher, sie bleibt i n ihrer Familie. Viele Studentinnen brechen wegen Heirat ihr Studium ab.

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Aber Sie haben recht. Die Möglichkeiten sollten von den Mädchen mehr genutzt werden. Wenn ein K i n d geboren wird, und es ist ein Mädchen, dann sagt der Mann zu seiner Frau: Es ist eine Tochter, Mathematik braucht sie nicht. Kommt das K i n d i n die Elementarschule, dann sagt der Lehrer: Mathematik, das kannst du als Mädchen nicht verstehen. Und später lernt sie das auch nicht mehr. Aber ich habe eine Untersuchung durchgeführt, und da stellte sich heraus, daß die Mädchen i n Mathematik meistens besser waren als die Jungen. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Ich fürchte, w i r kommen i n Zeitdruck. Aber ich möchte doch Herrn Prof. Rest noch u m seine Stellungnahme bitten. Prof. Dr. Walter Rest (Münster): Zur Mädchenerziehung zunächst: Ich glaube, daß beide Geschlechter gleichwertig, gleichberechtigt, jedoch nicht gleichartig sind, und daß sich daher auch eine Unterschiedlichkeit i n der Erziehung ergibt. Ich werde mich meinem Kollegen aus Holland anschließen und sagen: Die schulischen Möglichkeiten müssen für beide Geschlechter offen sein, denn es hat sich ja immer wieder herausgestellt, daß Mädchen Leistungen vollbringen, die der Vorstellung nach spezifisch dem Manne zukommen — und umgekehrt. Aber das ist nicht die Regel, von der her ein Schulwesen aufgebaut werden muß. Die Schule darf nicht nur starr sein. Dann bedenken Sie bitte, daß w i r i n unserer Gesellschaft einen Zuwachs an Dienstleistungen haben, deren Würde man sicherlich anheben muß. Das ist aber nicht Aufgabe der Schule, sondern Sache der Gesellschaft. Dienstleistung, i m engsten humanen Sinne gemeint, wie etwa die Tätigkeit der Krankenschwester, scheint m i r eine Aufgabe zu sein, die viel spezifischer für die Frau ist als für den Mann. Daß i m übrigen die Mädchenerziehung i n der Bildungsgeschichte des deutschen Volkes ganz sträflich vernachlässigt worden ist, ist ja eine bekannte Sache. Ich glaube auch, daß unser ganzes Bildungsprogramm i m Hinblick auf den Menschen anders konzipiert werden muß, damit der einzelne die Aufgabe erkennt, die er i n dieser Gesellschaft, die auf ständige Gegenseitigkeit angelegt ist, zu erfüllen hat. Wenn das nicht geschieht, dann bleiben w i r i n der Konsumgesellschaft stecken. Tatsächlich erreichen w i r durch die Massenmedien z. B. jetzt aber doch, daß viele junge Familien wissen, daß die Entscheidung über das

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Wohl und Wehe ihrer Kinder nicht erst i n der Schule fällt, sondern i n den ersten sechs Lebensjahren, entscheidend sogar schon i n den ersten vier Lebensjahren. Das w i r d auch eine Aufgabe der Schule sein, Jungen und Mädchen darüber zu informieren, daß die A r t und Weise, wie Kinder i n die mitmenschliche Situation einbezogen werden, bestimmend ist, ob all die Möglichkeiten, die i n ihnen liegen, zur Entfaltung kommen. So gibt es z. B. nicht nur angeborenen Schwachsinn, sondern erworbenen Schwachsinn aufgrund der Vernachlässigung der Kinder i n den ersten Lebensjahren. Die Erziehung i n diesen ersten Jahren hat also ganz besondere Bedeutung, darauf baut dann alles andere auf .Man könnte eine ganze Menge von Problemen ausräumen, wenn das stärker erkannt würde. Zur Tagesheimschule — nun, die Pädagogen wollten wohl gerne etwas Nestwärme i m Wort anklingen lassen. Heim sieht aber nach Verwahrung aus, und gerade das soll j a die Tagesheimschule nicht sein; sie soll nicht verwahren, sondern eine Konzentration ermöglichen, die dringend notwendig ist. Ich bin also m i t Ihrem Vorschlag einverstanden. Z u Ihrer letzten Bemerkung: Ich habe gerade die Entstehung des Hauptschulgutachtens, an dem ich sehr beteiligt war, und des Berufsschulgutachtens miterlebt. W i r haben Verhandlungen sowohl m i t A r beitgebern als auch m i t Arbeitnehmern geführt. Dabei wurde von den Vertretern der Industrie betont, daß man die jungen Leute bis zum 16. Lebensjahr verwahre, d. h. beschäftige, ohne sie an die kostbaren Geräte und Apparate heranzulassen, deren Ausfall den Betrieb i n nur drei Minuten z. B. 30 000 Mark oder noch mehr kosten kann. Deswegen wäre es der Industrie lieb, wenn die Jugendlichen i n einer Vollschulzeit noch reifen und zur Mündigkeit geführt würden. So war der grundlegende Tenor bei der Industrie, während der Handwerker gerne schon den Lehrling hat, der da läuft und diese oder jene kleine Arbeit verrichtet. Beim Handel ist es ähnlich, da haben Sie selbstverständlich recht. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Schönen Dank, meine Damen und Herren. Ich denke, daß die beiden letzten Beiträge sehr aufklärend gewesen sind. Entschuldigen Sie, daß w i r die Diskussion so abrupt abbrechen müssen, aber unsere Zeit ist leider um.

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Diskussion zum Vortrag von Dr. Klaus Hagedorn (Paris) Prof. Helmut Duvernell (Dortmund):

Meine Damen und Herren! W i r wollen nun m i t Herrn Dr. Hagedorn diskutieren. Ich möchte aber vorschlagen, daß w i r vielleicht erst einmal m i t Fragen beginnen und dann zu kritischen Stellungnahmen übergehen.

Lorenz Kirmeier (Redenfelden): Ich wüßte gerne, wieviele Leute aus den Entwicklungsländern Sie zu Lehrkräften ausbilden und wieviele Lehrer Sie überhaupt i n diese Länder entsenden. Wieviele werden beispielsweise nach Ghana geschickt?

Dr. Klaus Hagedorn (Paris): Es gibt ein hervorragendes Buch, i n dem Sie diese Angaben finden, das Handbuch der Erziehung (World Survey of Education), das i n Französisch und Englisch herausgegeben wird. Sie finden darin ganz genaue Angaben über die erzieherischen Verhältnisse i n 120 Staaten dieser Erde. Ich selbst bin leider nicht i n der Lage, Ihnen auch nur annähernd zu sagen, wieviel Stipendiaten etwa m i t UNESCO-Mitteln von Ghana nach England geschickt werden, wieviel Lehrer mit UNESCO-Gehältern an ghanaischen Schulen, Universitäten oder technischen Erziehungseinrichtungen arbeiten. Ich kann Ihnen noch nicht einmal sagen, wieviel Lehrerbildungsanstalten die UNESCO i n Ghana unterhält. Ich würde meinen, es sind vielleicht ein Dutzend, ich weiß es nicht ganz genau. Vielleicht akzeptieren Sie meine Entschuldigung. Wenn ich diese Frage präzise beantworten sollte, dann müßte ich ein Gehirn wie eine Bibliothek haben, denn ebenso könnten Sie ja verlangen, daß ich über das Erziehungswesen i n Mali, Venezuela oder Indonesien Auskunft gebe. Da muß ich kapitulieren.

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Heinz Reichardt (Göttingen): Wenn ich Sie recht verstanden habe, ist zur Erreichung einer gewissen Bildung i n den Entwicklungsländern zunächst einmal ein gewisser Stand der Industrialisierung nötig, und zum anderen eine schreibfähige Sprache. Wie geht man n u n eigentlich i n den Ländern vor, i n denen diese Voraussetzungen nicht gegeben sind?

Dr. Klaus Hagedorn (Paris): Ich habe Ihnen vier Beispiele angeführt — Ghana, Mali, Iran und Algerien —, i n denen die UNESCO m i t den großen Projekten eines funktionellen Alphabetentums begonnen hat. Warum? Weil i n diesen Staaten schon eine gewisse Industrialisierung, eine gewisse Sozialstruktur besteht, w e i l der Bildungsgrad hier relativ höher ist als i n vergleichbaren afrikanischen, arabischen, latein-amerikanischen oder asiatischen Staaten. Was die Prioritäten angeht, zuerst Industrie oder zuerst Bildung, so hat man sich über diese theoretische Frage eigentlich sehr, sehr lange gestritten. Man ist früher oft davon ausgegangen, daß das Volksschulwesen die Grundlage aller Bildimg ist. Und dann hat man Volksschulen aufgebaut, Lehrer i n Schnellkursen ausgebildet und alle schulpflichtigen Kinder eingeschult. Nachdem aber die ersten Absolventen die neuen Volksschulen verließen, standen sie vor einem Vakuum. Sie vergaßen das Lesen und Schreiben schnell wieder, denn sie hatten keine Bücher, u m zu lesen. Es gab keine weiterführenden Schulen, es gab auch keinen Arbeitgeber, der ihnen etwa das Erlernen von Lesen und Schreiben honoriert hätte. So waren diese Versuche, die i n den ersten Jahren i n der internationalen Entwicklungshilfe, aber auch i n der nationalen Entwicklungshilfe gemacht worden sind, zum größten Teil nicht von Erfolg gekrönt. Deswegen versucht man heute, auf die verschiedenen Faktoren, die für die wirtschaftliche, die kulturelle und die soziale Entwicklung eines Landes wichtig sind, gleichzeitig einzuwirken, und zwar zunächst i n solchen Gebieten, i n denen — wie ich sagte — bereits gewisse Strukturen vorhanden sind. I n Algerien etwa, wo es schon Industrie gibt, betreibt man jetzt eine Alphabetisierung, die sich direkt auf die tägliche Arbeit bezieht, d.h. man bringt den Menschen ein Wissen bei, das sie i n ihrer jeweiligen Arbeitssituation gebrauchen können. Gleichzeitig werden Volksschulen eingerichtet für die Kinder dieser Arbeiter, die — so hofft man — durch den möglichen Aufstieg ihrer Eltern angeregt werden. Man erhofft sich auch Rückwirkungen auf 1*

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die Mütter, damit sie ihre Kinder überhaupt i n die Schule schicken, was i n vielen Fällen heute nicht geschieht, weil das K i n d als Arbeitskraft eben viel, viel wertvoller ist als als Schüler, der zunächst nichts zur Erhöhung des Lebensstandards beiträgt. Es gibt noch viele Faktoren, die hier hineinspielen und die die Ursache dafür sind, daß dieses funktionelle Alphabetentum auf einer bestimmten Stufe eingesetzt w i r d und daß man die Frage der Priorität, erst Industrialisierung oder erst Alphabetisierung, nicht so einfach m i t Für oder Wider beantworten kann. Jene Länder, die bisher noch keine geschriebene Sprache besitzen, sind i n der Tat ein sehr großes Problem. Aber auch hier gibt es Lösungen. Einige meiner Kollegen reisen z. Z. i m Auftrage von M i t gliedstaaten (vor allen Dingen i m Auftrage der betroffenen Staaten) i n diesen Ländern herum, um zu registrieren, was an oraler Tradition vorhanden ist. Nach Auswertung dieses Materials w i l l man versuchen, zusammen m i t den Behörden des Landes eine Schriftsprache zu konstruieren. Das w i r d Jahre dauern, aber die Projekte laufen i n verschiedenen Ländern schon. Es gibt auch einen deutschen Fachmann i n Westafrika (wir haben ja i n Deutschland eine lange Tradition i n diesen Dingen), der sich damit beschäftigt hat, das vorhandene orale Material in einer Schriftsprache zusammenzufassen, die m i t den bereits vorhandenen Schriftsprachen kommunizieren kann. Karl-Heinz Pradel (Wattenscheid): Sie sagten, es genügt nicht allein, lesen und schreiben zu können. Was nützt es, wenn ich lesen kann und keine Bücher habe. Aber Lesen und Schreiben ist ja nur ein Weg, Bildung zu erlangen. Die heutige Technik bietet auch andere Wege, z. B. den über den Rundfunk. Kann man i n den Entwicklungsländern nicht hiervon Gebrauch machen? Ich nehme an, die Einrichtung eines Rundfunksenders verursacht nicht allzuviel Kosten. Man braucht dann weiter nichts als ein paar Rundfunkempfänger, für jedes Dorf, für jede Siedlung einen. Die Rundfunkempfänger brauchen noch nicht einmal m i t einem elektrischen Stromnetz versorgt zu werden, sondern man kann sie als Transistoren m i t Batterien speisen. Dr. Klaus Hagedorn (Paris): Vor einigen Jahren hat die UNESCO den Weltverband der Radiotechniker gebeten, ihr ein preiswertes Empfangsgerät zu konstruieren. Die Wissenschaftler haben dann ein solches Gerät gebaut, das für

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4 Dollar gekauft werden kann und i n Zukunft sogar noch billiger werden wird. Die UNESCO stellte allen 120 Mitgliedstaaten die Konstruktionspläne dieses Radioempfangsgerätes zur Verfügung, und dann setzte der Run der Firmen (darunter AEG und Grundig sowie japanische und amerikanische Firmen) um die Aufträge aus den Entwicklungsländern ein, die Empfangsgeräte für Schulfunkprogramme bestellten. Die Massenkommunikationsmittel spielen i n der Erziehung tatsächlich eine immer größer werdende Rolle, und zwar nicht nur das Radio, sondern auch das Fernsehen. I h r afrikanischer Kollege w i r d Ihnen sicherlich bestätigen, daß i n vielen afrikanischen Gemeinden bereits Bildungsprogramme existieren. I n den latein-amerikanischen und asiatischen Ländern gibt es einen regelmäßigen Schulfunk, w e i l man eben ganz genau weiß, daß die fehlenden Lehrer i n den nächsten 10 oder 20 Jahren nicht herangebildet werden können. Man kann sich ja ungefähr ausrechnen, wann etwa ein Staat wie Nicaragua i n der Lage sein wird, seinen Bedarf an Volksschullehrern, technischen Lehrern, Berufsschullehrern, Gymnasiallehrern und Hochschulprofessoren zu decken. Deswegen also zunächst einmal der Rückgriff auf den Schulfunk. Die UNESCO bemüht sich aber nicht nur um die technische Seite des Schulfunks, sondern auch u m die Zusammenstellung von Lehrplänen. Sie schickt Lehrer aus Deutschland, Frankreich, England, Japan oder Australien i n die Entwicklungsländer, die die Regierungen bei der Einrichtung eines solchen Schulfunkprogrammes beraten. Es gibt bereits viele Schulfunkklassen i n allen Entwicklungsländern. Die Schüler, vom Enkel bis zum Großvater, sitzen unter einem Baum vor einem Lautsprecher und malen mit einem Stöckchen oder m i t dem Finger die Zeichen auf den Boden, die vom Radio angegeben werden. Besser sind natürlich schon diejenigen dran, die sich ein Holzstück m i t Ruß geschwärzt haben und dann die Buchstaben aufschreiben. Papier und Bleistift sind oft noch großer Luxus. Die UNESCO ist sich völlig darüber i m klaren, daß diese Schulfunkklassen nur Aushilfsmaßnahmen sind; denn der Lehrer kann nie auf die Dauer durch einen Lautsprecher ersetzt werden. Es ist eine Hilfskonstruktion, die i n den nächsten 10 oder 20 Jahren großen Wert besitzt, aber dann doch so schnell wie möglich ersetzt werden muß. Der Einsatz von Massenmedien ist aber nicht nur auf die Entwicklungsländer beschränkt. Polen z. B., das nun wirklich kein unterentwickeltes Land ist, richtet gerade mit Hilfe der UNESCO eine Fern-

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sehuniversität i n Warschau ein. Die Erfahrungen, die i n Polen gemacht werden, können den Entwicklungsländern übermittelt werden; sie lassen sich i n vielen Fällen trotz der Bedenken vieler Berufsphilologen tatsächlich übertragen. Ruth Gamb (Düsseldorf): Ich hatte des öfteren Gelegenheit, mich m i t Kollegen aus Entwicklungsländern zu unterhalten, m i t Afrikanern und auch m i t Kollegen aus dem vorderasiatischen Raum. Sie haben m i r immer wieder gesagt, daß ihnen m i t diesen M i t t e l n allein nicht gedient ist. Sie brauchen Menschen, die ihnen an Ort und Stelle bei dieser Erziehungsaufgabe helfen. Deshalb hätte ich gerne einmal Auskunft über die Entwicklungshelfer und die Erfahrungen, die man bis jetzt m i t ihnen gemacht hat. Dr. Klaus Hagedorn (Paris): Das wäre einen Sondervortrag wert. Es ist nicht einmal einfach, die Erfahrungen, die eine von vielen internationalen Organisationen gemacht hat, zusammenzufassen. Die UNESCO als eine überstaatliche internationale Organisation speist z. Z. einen großen Teil des gesamten Erziehungswesens i n Algerien und i m Kongo. Das ist nicht sehr bekannt; es ist ja auch nicht so spektakulär wie andere Dinge, die i n Algerien oder i m Kongo passieren. Unser erstes Problem ist: Woher bekommen w i r die Lehrer? Als das Notprogramm für Algerien anlief, war ich noch an einer Außenstelle des Auswärtigen Amtes i n Bonn. Damals wurde auch die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, Lehrer für dieses Notprogramm zur Verfügung zu stellen. Es wurde der klassische Kanal benutzt, die Kultusministerkonferenz, die die Ausschreibung der UNESCO an alle 11 Kultusministerien weiterleitete. Diese gaben sie dann an die Lehrerbildungsanstalten, die Universitäten, vor allen Dingen auch an die Schulen selbst weiter, u m Interessenten zu ermitteln. Es kamen aus der Bundesrepublik damals 32 Bewerber. Man hatte ihnen Formulare zugeschickt, w o r i n auch nach den Motiven der Bewerbung gefragt wurde. Schon aus der Lektüre dieser Motive ergab sich, daß viele der Lehrer ungeeignet waren, abgesehen davon, reichten die Sprachkenntnisse meistens nicht aus. M i t anderen Worten, es blieben von den 32 nur 2 Lehrer übrig, die die UNESCO ins Ausland vermitteln konnte. Außerdem hat die Bundesrepublik Deutschland ja selbst einen zu großen Lehrermangel, als daß sie viele Lehrer an die Entwicklungsländer abgeben könnte. Wenn Sie sich m i t dem

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Goethe-Institut etwa i n Verbindung setzen oder m i t dem deutschen akademischen Austauschdienst, dann w i r d man Ihnen sagen, wie schwer es ist, deutsche Lehrer für solche Auslandsposten zu gewinnen. Und leider haben andere europäische Länder einen ebenso großen Lehrermangel. Die Erfahrungen, die w i r m i t der Vermittlung von Lehrern ins Ausland gemacht haben, betreffen meistens englische, französische oder spanische Kollegen. Dabei tauchen auch politische Probleme auf, denn jeder, der i n ein solches Land geht, nimmt natürlich — ob er w i l l oder nicht — i m Rucksack seine politischen Überzeugungen mit. Das spielt eine Rolle, auch wenn die internationalen Verträge zur Neutralität verpflichten. Die UNESCO schickt — vom Volksschullehrer bis hinauf zum Universitätsprofessor — Lehrer aller Bildungssysteme i n die Entwicklungsländer. Diese Länder haben das Recht, einen Lehrer anzunehmen oder zurückzuweisen. Sie haben auch das Recht, den Vertrag, der meistens zwei Jahre läuft, jederzeit zu kündigen, wenn ihnen der Lehrer aus irgendeinem Grunde nicht gefällt. Aus Nigeria z. B. wurden i m Gefolge der politischen Unruhen einige UNESCO-Professoren ausgewiesen; sie hatten dummerweise m i t der Gruppe koaliert, die dann die unterlegene war. Die Kollegen haben m i r nach ihrer Rückkehr gesagt, daß man dort unten — anders als i n Europa, wo man sich meist nicht zu engagieren braucht — als Lehrer gezwungen ist, Farbe zu bekennen, d. h. täglich i n den Auseinandersetzungen m i t den Schülern, m i t den Studenten Stellung zu beziehen und diese hinterher auch wirklich zu verteidigen. Die Erfahrungen, wenn ich das zusammenfassend sagen darf, sind eigentlich teils gut und teils schlecht, wie eben alle Erfahrungen auf dem Gebiete der Auslandsarbeit. Die Zahl der von der UNESCO ins Ausland geschickten Fachkräfte w i r d i n der Zukunft wahrscheinlich konstant bleiben, denn dieses Reservoir ist i n allen Ländern sehr begrenzt. Und wenn ich Fachleute sage, dann meine ich nicht nur Lehrer, sondern auch Ingenieure und Wirtschaftler. A u f der anderen Seite werden die Entwicklungsländer ja mehr und mehr i n den Stand kommen, Fachkräfte aus ihren eigenen Reihen zu rekrutieren. Ich hoffe, daß diese A n t w o r t Ihnen genügt. Ich könnte natürlich eine Reihe von konkreten Fällen zitieren, wo ganz besonders gute Leistungen erzielt wurden, und auch andere, wo eine solche zweijährige Mission völlig danebenging. Aber das würde wohl zu weit führen. Walter Schluck (Herne): Ich sehe gerade i n den Entwicklungsländern ein besonders schwerwiegendes Problem i n der Mentalität der Völker und i n ihrer Reli-

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gion. Ich denke insbesondere an die vielen neuen Staaten, deren verschiedene Stämme gegeneinanderstehen. Dort ist doch die Bildungsarbeit ganz besonders erschwert. Was kann die UNESCO hier tun? Dr. Klaus Hagedorn (Paris): Zunächst einmal gibt es meiner Meinung nach bei den großen Weltreligionen eigentlich nichts, was einen Fortschritt i m Bildungs- und Erziehungswesen verhindern könnte. Wenn Sie die Stammeskulte meinen, so kann man sie häufig nicht mehr als Religion bezeichnen, aber sie sind auch nicht nur Aberglaube; hier spielen meist Traditionen und mystische Überlieferungen eine Rolle. Auch diese sind a priori noch kein Beweis dafür, daß eine Ausbildung, eine Erziehung i m wahrsten Sinne des Wortes nicht möglich ist. Sie verhindern sie nicht, aber natürlich erschweren sie sie sehr oft. Erziehung und Ausbildung ist eben überhaupt schwierig. Pädagogen werden Ihnen bestätigen, daß selbst das kultivierteste Zuhause noch keinen guten Schüler garantiert, manchmal sogar das Gegenteil, gar nicht zu reden von der Schule, ob es sich nun u m eine Volksschule oder u m eine Höhere Schule handelt. Ich w i l l m i t dieser Feststellung nur gegen ein Vorurteil angehen. Religiöse Bräuche sind keine Feinde der Erziehung; sie sind oft Hindernisse, die man aber durchaus durch Aufklärung abbauen kann. Natürlich muß man m i t solchen Hindernissen rechnen. I n vielen arabischen Staaten z.B., u m einen Kulturkreis zu nennen, der uns relativ naheliegt, ist es eben undenkbar, daß die Frau ohne Schleier i n der Öffentlichkeit erscheint oder gewisse Berufe ausübt. Aber i n der Bundesrepublik ist die Frau i m Berufsleben ja auch an vielen Stellen diskriminiert, wenngleich nicht so benachteiligt wie die arabischen Frauen, die zum Teil noch i m Harem leben. Man hat aber begonnen — durch die spärlichen Einsätze von Frauenorganisationen, die es i n den arabischen Ländern gibt —, diese Traditionen abzubauen, d. h. nicht zu zerstören, sondern durch bessere zu ersetzen. Man nimmt den Frauen ihre häuslichen Arbeiten nicht ab, weist ihnen aber doch bessere Aufgaben zu, die es ihnen dann erlauben, ihrem Clan gegenüber eine neue Rolle zu spielen. Sie werden etwa i n Zirkeln zusammengefaßt, wo sie etwas über eine gesunde Lebensweise lernen. So fängt man an, die traditionelle Rolle der Frau i n den arabischen Familien allmählich zu ändern, u m ihnen mehr Selbstvertrauen zu geben. Selbstverständlich ist das schwer. I n der Erziehungsabteilung der UNESCO w i r d tagtäglich die Frage diskutiert: Wie soll eigentlich der Mensch aussehen, den w i r erziehen

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wollen? Und m i t welchen M i t t e l n soll das geschehen? Diese Frage ist fast nicht zu beantworten. I n einer solchen Organisation wie der UNESCO w i r d die Erziehungspolitik überwiegend noch von Leuten aus dem Westen gemacht. Was für eine A r t Erziehungsideal wollen w i r nun den Entwicklungsländern geben, die ja, u m unseren Vorstellungen folgen zu können, einen Teil ihrer eigenen alten Vorstellungen von der Gesellschaft (also auch religiöse Überlieferungen) aufgeben müssen, u m dafür etwas anderes — nach unserer Meinung Besseres — einzutauschen? Die Franzosen sprechen immer von der UNESCO-Ideologie (im Französischen ist dieses Wort nicht so belastet wie bei uns i m Deutschen). Diese UNESCO-Ideologie, die i m Augenblick von den Franzosen selbst bestimmt wird, ist aufgebaut auf der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Hinter dieser allgemeinen Erklärung der Menschenrechte existiert die Idealform eines Menschen, den zu erziehen die UNESCO sich sehr große Mühe gibt, und zwar sowohl i n den Entwicklungsländern als auch i n den bereits entwickelten Ländern. Aber das ist eine sehr, sehr allgemeine Antwort, die ich Ihnen da gebe. Bernard Osei-Kwaku (Kumasi/Ghana): Ich stimme m i t Herrn Dr. Hagedorn überein: Ohne Erziehung ist Entwicklung undenkbar. I n Ghana haben w i r nur eine Monokultur. Seit unserer Unabhängigkeit, also seit 1957, haben w i r versucht, eine leichte Industrie aufzubauen. Aber w i r haben noch kein richtiges Bildungs- und Ausbildungswesen, und ohne diese beiden ist das undenkbar. Der Umgang m i t modernen Maschinen setzt Kenntnisse voraus. Die allgemeine Bildung hat i n Ghana einige Fortschritte gemacht, aber w i r haben noch sehr viel Analphabetentum. Die Regierung versucht, dagegen anzugehen durch eine Volksbildung, die von den Wohlfahrtseinrichtungen geleitet wird. Ernst Urban (Bad Kissingen): Ich habe zwei Fragen: 1. Wäre es i n den Entwicklungsländern möglich, durch programmierten Unterricht die fehlenden Lehrer zu ersetzen? 2. Besteht nicht die Gefahr, daß aus der Notlage heraus i n den Entwicklungsländern Bildungssysteme entstehen, die später nicht mehr zeitgerecht, aber schwer zu beseitigen sein werden, w e i l sie dann schon eine gewisse Tradition haben?

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Dr. Klaus Hagedorn (Paris): Die erste Frage ist schnell beantwortet. Es überrascht oft Besucher von Entwicklungsländern, daß sie dort modernere Einrichtungen, modernere Lehrpläne vorfinden als i n den entwickelten Ländern selbst. Es w i r d aber nur an wenigen Stellen (an manchen Universitäten, bevorzugten Lehrerbildungsanstalten, Höheren Schulen) m i t den bisher recht spärlichen Einrichtungen des programmierten Unterrichtes — Lernmaschinen usw. — experimentiert. Es könnte natürlich sein, daß man Experten trifft, die mehr darüber wissen als w i r i n der Bundesrepublik etwa, wo m i r neulich ein Herr aus Düsseldorf erzählte, daß man dem programmierten Unterricht recht skeptisch gegenüberstände, weil man festgestellt hätte, daß i n Amerika diese Maschinen i n irgendwelchen Nebengelassen verstauben. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Die UNESCO hat eine eigene große Abteilung für programmierten Unterricht. Die Entwicklungsländer haben ein Recht darauf — das ist der große Vorteil einer solchen Organisation —, sich aus den vielen Töpfen, die die Mitgliedstaaten bilden, das Beste herauszusuchen. Und die UNESCO bemüht sich, ihren Mitgliedstaaten das Beste an Wissen, das Beste an Erfahrungen zu vermitteln. Eine Einschränkung muß ich allerdings machen, damit Sie m i r hinterher nicht vorwerfen, daß meine Organisation das „Sesam-öffnedich" für alle Bildungsprobleme gefunden hätte. Die UNESCO kann tatsächlich nur eine sehr, sehr kleine Auswahl von Faktoren berühren. Sie hat ein Zweijahresbudget von 100 Millionen Dollar, also ein Budget, wie es etwa der Stadt Krefeld zur Verfügung steht. Dieses Budget muß für die Arbeit i n 120 Mitgliedstaaten ausreichen. I m Hintergrund dieser Arbeit steht aber immer die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit, das ist wirklich wichtig. Die UNESCO hofft, daß sie durch die Beseitigung von Unterentwicklung und A n alphabetentum zu einer friedlicheren Entwicklung innerhalb der großen Völkerfamilie beiträgt. Niemand kann natürlich garantieren, daß die Methoden, von denen ich Ihnen hier einige geschildert habe, den gewünschten Erfolg haben werden. A u f der anderen Seite w i r d Ihnen aber jeder bestätigen, daß es z. Z. keine besseren Einrichtungen gibt als diese großen übernationalen Organisationen, u m solche Aufgaben m i t Gründlichkeit und i n diesem Ausmaß überhaupt durchzuführen. Ihre zweite Frage war, ob die UNESCO es nicht riskiert, ein B i l dungswesen zu schaffen, das evtl. nicht zeitgerecht ist. Man hat m i r i n Deutschland erzählt, daß das Erziehungswesen eines jeden Landes sowieso immer etwa 10 Jahre hinter der Entwicklung herhinkt. Vielleicht werden Sie m i r sagen: Das hat sehr viel Gutes; denn Erziehung

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soll nicht immer wie die Mode auf dem letzten Stand sein. Dies berücksichtigend, komme ich zu der Feststellung, daß das, was die UNESCO an Erziehungssystemen i n den Entwicklungsländern aufbaut, praktisch die Essenz aller Erfahrungen aus dem Erziehungswesen der entwickelten Länder ist. Hier kommt die Interdependenz zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern zum Vorschein. W i r sitzen tatsächlich jetzt i n einem Boot, denn die Erfahrungen, die w i r hier machen, sind nicht mehr nur unser Besitz. Fehler, die hier auftreten, werden — da können Sie sicher sein — i n potenziertem Maßstab auch i n den Entwicklungsländern erscheinen. M i t anderen Worten, dort werden keine alten Systeme am Leben erhalten; dort werden die modernsten Systeme eingeführt, wie die UNESCO sie etwa aus Deutschland, Amerika, Japan, Australien, Lateinamerika oder Asien exportieren kann. Die Zeiten nämlich, wo der Afrikaner genau das gleiche lernte wie der englische Student i n Oxford, sind — soweit ich sehe — inzwischen vorbei; auch i n den ehemaligen französischen Kolonien sind die Schulbücher längst keine getreuen Kopien der Bücher des ehemaligen Mutterlandes mehr. Dank unserer großen Organisationen w i r d das Beste aus allen Erziehungssystemen i n die Entwicklungsländer übermittelt. Prof. Helmut Duvernell (Dortmund): Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, w i r haben unseren Heferenten genügend ausgequetscht. Ich möchte unsere Diskussion m i t der Feststellung schließen, daß dieses Referat unbedingt i n unsere Tagung hineingehört hat. Insbesondere Ihre Ausführungen über die Störung des Weltfriedens, die sich aus dem Kontrast von Alphabeten und Analphabeten ergeben kann, haben uns den weiten Rahmen der Bildungsproblematik gezeigt. Meinen herzlichen Dank für I h r Referat, das ein wesentlicher Beitrag zu unserer Tagung war. Gleichzeitig möchte ich mich aber auch bei Ihnen allen für die Diskussion bedanken, die zur Vertiefung beigetragen hat. W i r können sagen, daß sich dieser Nachmittag gelohnt hat.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Gustav Korl6n (Stockholm) Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund):

Meine Damen und Herren! Wenn ich darum gebeten habe, diese Diskussion leiten zu dürfen, dann deshalb, weil ich heute meinen ganz besonderen Dank abstatten möchte — nicht nur dafür, daß Sie, Herr Kollege Korlen, auf unsere Anfrage so schnell reagiert haben und nun hier bei uns sind. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, Ihnen vor allem für die unendliche Mühe zu danken, die Sie i n jener trostlosen Nachkriegszeit aufgewandt haben, um uns Studierenden der Universität Münster sowohl materiell als auch ideell zu helfen, zu danken für die Großzügigkeit, m i t der die Sozialakademie i n Schweden nach einem Besuch, den ich damals i n L u n d habe machen dürfen, i n die Hochschulen miteingeordnet wurde, worauf i n meinem Assistentenzimmer für einige Jahre die ach so begehrte Schwedenspeisung verteilt worden ist. Wenn Sie i n Ihre Heimat zurückkommen, dann sagen Sie bitte all denen, die damals an dieser Hilfe beteiligt waren, daß es i m heutigen Deutschland noch eine ganze Reihe von Menschen gibt, die ihre großzügige Unterstützung nicht vergessen haben. Die schwedische Hilfe betrug immerh i n ein Sechstel dessen, was das große Amerika uns gegeben hat. Was das für den einzelnen an Opferbereitschaft bedeutet hat, können Sie vielleicht ermessen, wenn Sie die Einwohnerzahl bedenken. Lassen Sie mich noch ein kurzes Wort darüber sagen, wie es zu den Beziehungen zwischen Schweden und der Sozialakademie kam. Durch meinen Kontakt m i t dem früheren Rektor der Universität Münster, Herrn Prof. Lehnartz, gehörte ich als damaliger Landesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes zu den ersten deutschen Studenten, die ein Auslandsstipendium erhielten. Ich war dann also vier Wochen i n L u n d sowie i n Stockholm und Upsala. I n L u n d hatte ich den Auftrag, einen Vortrag über Arbeiterbildung i n Deutschland zu halten. Hierbei kam ich auf die Sozialakademie zu sprechen, und das hat dazu geführt, daß der damalige Leiter der Sozialakademie, Prof. Lutz, ebenfalls nach Lund eingeladen wurde.

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Ich freue mich sehr, daß durch Ihren Besuch, verehrter Herr Kollege Korlen, der Kontakt nach so vielen Jahren wiederaufgelebt ist. W i r sind, glaube ich, nun sehr neugierig, noch mehr zu erfahren von jenem Land, das ich — das darf ich Ihnen sagen — die ganzen 19 Jahre lang hier i n der Akademie immer wieder kräftig herausgestrichen habe. Wer möchte das Wort haben? Bert Hartig (Düsseldorf): Ich möchte mich gerne den Dankesworten von Herrn Prof. Schmidt anschließen, denn ich habe an der Schwedenspeisung i n jenem kleinen Zimmerchen ebenfalls teilgehabt. Ich war damals i m dritten Studiengang. Ich glaube, w i r haben dem Referat von Herrn Prof. Korlen entnehmen können, daß die allgemeine Förderung i n Schweden der Auslese vorgezogen w i r d ; ich finde da gewisse Parallelen zu dem B i l dungs- und Erziehungswesen i n der Tschechoslowakei. Ich hatte i m September vergangenen Jahres Gelegenheit, mich dort etwas intensiver umzusehen. Neben der 9jährigen Grundschule und der 3jährigen Oberschule gibt es dort die Fachoberschule, die m i t dem A b i t u r abschließt; darüber hinaus kann der Berufstätige m i t normaler Ausbildung aber auch später noch eine Oberschule besuchen, u m das A b i t u r nachzuholen. Ich möchte Sie nun fragen, Herr Prof. Korlen: Gibt es auch i n Schweden diese Fachoberschule, wo man das A b i t u r zugleich m i t einer beruflichen Ausbildung erhält? Und hat Schweden auch Oberschulen für Werktätige, wo man das A b i t u r nachholen kann? Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): A u f die erste Frage würde ich antworten: Meines Wissens nein! Zur zweiten Frage: W i r haben eine Reihe von Institutionen, wo man auch i n anderer Weise A b i t u r machen kann. Ein sehr wichtiger Weg, der i n Schweden eine große Tradition hat, ist die Briefschule. Sie ist aus zwei Korrespondenzinstituten entstanden, die zusammengelegt worden sind. Die Briefschule hat ihren Sitz i n Malmö. Sie betreibt m i t staatlicher Förderung eine außerordentlich weitverzweigte Ausbildungsarbeit, und es ist eine imponierende Zahl von jungen und älteren Menschen, die auf diese Weise A b i t u r gemacht haben. Ich glaube, es war ein A k t der höchsten Gerechtigkeit, daß vor einigen Jahren die Universität Lund dem damaligen Leiter des Korrespondenzinstitutes den Ehrendoktor verlieh.

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Lothar Bödecker (Dortmund): M i r drängt sich die Frage auf, ob diese niedrigen Klassenfrequenzen, von denen Sie sprachen, bei dem erwähnten Lehrermangel echte oder nur angestrebte Klassenfrequenzen sind. Wenn es echte Frequenzen sind, dann würde es mich allerdings wundern, daß Sie von Lehrermangel sprechen. Zweitens wüßte ich gerne, wie Sie m i t dem Leistungsgefälle innerhalb der Klassen fertig werden. Differenzieren Sie i n den Fächern, oder haben Sie überhaupt differenzierte Klassen, d . h . gleichaltrige Kinder i n verschiedenen Leistungsklassen?

Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): Also die Klassenfrequenz beträgt i n den drei ersten Klassen maximal 25, i n den übrigen Klassen 30 Schüler. Das sind nicht Idealforderungen, es sind Tatbestände. Trotzdem herrscht Lehrermangel. Vor 10 Jahren noch haben viele schwedische Zeitungen vor einem sog. Humanistenüberschuß gewarnt, man hat eben nicht m i t diesem enormen Andrang zu einer gehobenen Ausbildung gerechnet. Man glaubte z.B. nicht, daß so viele die zweite Fremdsprache wählen würden, die ja nicht obligatorisch ist. Aber die überwiegende Mehrheit aller Grundschüler wählt i m 7. Schuljahr entweder Deutsch oder Französisch. W i r werden also wahrscheinlich auf lange Sicht unter keinen Umständen mit einem Lehrerüberschuß zu rechnen haben. W i r nehmen dankbar an, daß sehr viele deutsche Akademiker für einige Zeit nach Schweden kommen und als Hilfslektoren den Deutschunterricht i n erheblichem Maße anregen. Auch i n den naturwissenschaftlichen Fächern ist ein Lehrermangel vorhanden. Das hängt damit zusammen, daß die Mathematiker, Chemiker und Physiker bei uns meistens nicht den Lehrerberuf wählen, sondern i n die Industrie gehen, wo sie viel besser verdienen, obgleich die schwedischen Lehrer vergleichsweise nicht schlecht bezahlt werden. N u n kommt das heiße Eisen! Zunächst habe ich ja unterstrichen, daß sechs Jahre lang überhaupt nicht differenziert wird. Auch i n den Klassen 7 und 8 werden die Klassengemeinschaften zusammengehalten, aber i n einigen Wahlfächern gibt es Differenzierungsmöglichkeiten. Erst i m 9. Schuljahr findet die grundsätzliche Differenzierung i n verschiedene Züge statt, was gleichzeitig natürlich eine ziemlich klare Differenzierung nach Begabungsrichtungen bedeutet.

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Wichtig ist wohl die Frage der Differenzierung i m 7. und 8. Schuljahr. Während der Versuchs jähre nannte man das Modell unserer jetzigen Schule „Einheitsschule". Da hatten w i r nämlich allgemein noch das differenzierte System, i n dem nach sechs gemeinsamen Grundschuljahren i n der Klasse 7 nach Begabung differenziert wurde. Das hat man nun aufgehoben m i t den Begründungen, die ich hier angeführt habe und m i t denen ich mich nicht i n jeder Einzelheit identifizieren möchte. Es ist und bleibt, glaube ich, ein großes Problem, und erst die Zukunft w i r d endgültig zeigen, ob die Schulreformatoren recht hatten oder nicht. W i r befinden uns, um noch ein wichtiges Schlagwort der schwedischen Debatte zu zitieren, i n einem Stadium der fortlaufenden Schulreformen, und es ist ganz klar, wenn die Ergebnisse nach einigen Jahren deutlich machen, daß die Differenzierung i n den Klassen 7 und 8 vielleicht doch stärker einsetzen muß, daß man dann — glaube ich — daraus die Konsequenzen ziehen wird. Aber ich b i n nicht sicher, ob es dahin kommt. Es gibt eine starke Gruppe, die auch noch das 9. Schuljahr verhältnismäßig undifferenziert sehen möchte. Das Begabungsgefälle ist ab 7. Klasse ziemlich deutlich erkennbar. Es ist schon vorher da, das ist klar, aber es w i r d wohl später akzentuierter. Es w i r d aber bei uns ausbalanciert, d. h. daß man durch eine starke pädagogische Gruppenarbeit auf die Schülerindividualität Rücksicht nimmt. Das bedeutet, daß nicht alle Schüler i n der 7. Klasse genau dasselbe lesen und lernen, sondern daß die Lehrbücherfrage eine große Rolle spielt. W i r haben ja eine enorme Experimentierfreudigkeit gerade hinsichtlich der Lehrbücher. Es wäre reizvoll, Ihnen zu zeigen, was alles lediglich i m Bereich des Deutschunterrichts an neuen Anfängerbüchern und an guten Textbüchern vorhanden ist für die Oberstufe, die durch den Schulfunk z. B. sehr genau über die moderne Literatur der Gruppe 47 usw. orientiert wird. Hinzu kommt noch das programmierte Lernen. W i r haben sog. Lern- und Lehrpakete, m i t denen sich sehr viel Differenzierung erreichen läßt. Aber ich w i l l gerne zugeben, daß sehr viele schwedische Lehrer i n diesem von Ihnen angeschnittenen Punkt K r i t i k üben.

Heinz Reichardt (Göttingen): Herr Prof. Korlen, mich würde interessieren, ob Sie i n Schweden Versuche mit der Fünftageschule gemacht haben. Bei uns i n der Bundesrepublik w i r d — mehr oder weniger versteckt — die Frage laut nach dem freien Samstag für die Schulkinder. Und zweitens, wie steht es i n Schweden mit Ganztagsschulen oder Heimschulen?

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Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): Die pädagogische Experimentierfreudigkeit bedeutet natürlich, daß w i r auch m i t der Fünftageschulwoche Versuche machen, d. h. daß sie i n gewissen Schulbezirken schon eingeführt ist. Und ich glaube, prophezeien zu können, daß w i r über kurz oder lang i n ganz Schweden die ötägige Schulwoche bekommen werden. Das setzt allerdings voraus, daß ein Ausgleich gefunden wird, und das ist i n unserem Land vielleicht verhältnismäßig einfach. Der Schultag ist zwar bei uns ohnehin länger, die Schule hört u m 15 oder 16 Uhr auf. (In einer Mittagspause w i r d i m ganzen Land eine kostenlose Schulspeisung verabreicht.) Aber w i r haben die großen Sommerferien — von Anfang Juni bis Ende August. Ich habe Herrn Kollegen Duvernell gerade gesagt, daß diese langen Sommerferien eigentlich ein überraschendes Beispiel dafür sind, daß auch i m reformfreudigen Schweden gewisse Traditionen wirksam sind. Denn woran liegt es, daß w i r so lange Sommerferien haben? Es kommt daher, daß die Höhere Schule i n unserem ländlichen Schweden vor 100 Jahren weitgehend von Bauernkindern besucht wurde, die i n den Sommerferien i n ihre Heimatorte zurückkehren mußten, u m bei der Ernte behilflich zu sein. Das ist tatsächlich der Grund. Nun gibt es nicht nur i n Deutschland Tabus; das Tabu Nr. 1 oder, sagen wir, die „Heilige K u h " der schwedischen Schuldebatte, das sind eben die langen Schulferien. Eine demoskopische Untersuchung hat gezeigt, daß sowohl Kinder wie Eltern gegen die Kürzung der langen Sommerferien sind. Trotzdem werden w i r nicht daran vorbeikommen, wenn w i r die Fünftageschule einführen; denn w i r wollen ja nun doch nicht den Standard sinken lassen. So wie die Urlaubszeiten für die Industrie usw. liegen, ist das i m Grunde auch kein großes Problem. Denn was machen die Kinder i n den langen Sommerferien? Sie arbeiten! Es ist nicht so wie zu meiner Zeit, daß man monatelang gar nichts getan hat. Außerdem gibt es ziemlich lange Ferien zu Weihnachten, kürzere dagegen zu Ostern. Die zweite Frage betraf die Heimschule oder Heimtagesschule. Ich habe soeben schon gesagt, daß die Schulzeit bei uns sowieso länger ist. Diese Frage haben w i r also bei uns i n der Form nicht diskutiert, wohl aber hat man häufig, u m die Begabten zu fördern, die zu Hause gar keine Hilfe haben, einen gewissen Nachhilfeunterricht i n der Schule gefordert. Ich glaube, daß Ansätze dazu jetzt auch schon i n den Schulversuchen vorhanden sind. Heimschulen i m Sinne von Internatsschulen gibt es dagegen nur an ganz wenigen Orten, und zwar für Diplomatenkinder, für Kinder

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aus geschiedenen Ehen und für Kinder, deren Eltern Auslandsschweden sind. I n einer solchen Internatsschule hat z.B. i n diesem Jahr der Kronprinz sein A b i t u r gemacht.

Karin Dorsch (Dortmund): Sie haben wahrscheinlich i n Schweden auch Schüler, die den A n forderungen der Grundschule nicht ganz gewachsen sind. Gibt es bei Ihnen auch Sonderschulen? Wie sind die Aussichten dieser Kinder, und begegnet man diesen Schulen ebenfalls m i t solchen Ressentiments, wie das teilweise bei uns leider noch der Fall ist?

Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): Ich b i n hier ein bißchen überfordert. Aber ich habe zuwenig Kontakt mit Lehrern, die hier miterrichten, als daß ich Ihre Fragen beantworten könnte. Aus einigen Gesprächen habe ich den Eindruck, daß das Problem das gleiche ist wie i n Deutschland. Mehr kann ich hierzu nicht sagen.

Heinz Seifert (Osnabrück): W i r haben hier an der Sozialakademie von Herrn Prof. Schmidt gehört, daß es ähnliche Einrichtungen wie die unsrige auch i n Schweden gibt. Ich habe das i n Ihren Ausführungen leider vermißt. Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): Ja, das haben Sie m i t Recht vermißt. Es ist wichtig, daß Sie die Frage stellten. Eine vergleichbare Einrichtung haben w i r i n Schweden nicht. Wohl gibt es Heimvolkshochschulen, die bei uns eine lange Tradition haben. Hier i m Bereich der Volksbildung handelt es sich immer u m Bildung und nicht u m Ausbildung; es war immer ein ganz klares Ziel der Volksbildungsarbeit, daß sie das Musische — das scheinbar Nutzlose i m Sinne von Herrn Kultusminister Mikat — fördern sollte. U m noch einmal auf meine geistige Heimat zurückzukommen, ein Lunder Philosoph, der wohl vom deutschen Idealismus herkam und dem die Volksbildungsarbeit bei uns sehr viel verdankt, hat vor vielen Jahren den schönen Satz geprägt: Es gibt Dinge, die nützlicher sind als das Nützliche. Ich glaube, das wäre das Leitwort für die schwedische Volksbildungsarbeit. 14 Tagung Dortmund 1966

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Dann gibt es neuerdings die Sozialhochschulen bei uns. (Bis vor einigen Jahren hatten w i r nur eine, nämlich i n Stockholm.) Sie haben den Status einer wissenschaftlichen Hochschule und setzen gewisse Vorprüfungen voraus, aber nicht ein vollständiges Abitur. Gerade i n einer Dienstleistungsgesellschaft — ich habe heute zum erstenmal diesen Terminus kennengelernt, der offensichtlich identisch ist mit dem, was w i r Schweden die Service-Gesellschaft nennen — sind die Sozialhochschulen außerordentlich wichtig, weil die fürsorgerischen Berufe so sehr an Bedeutung gewonnen haben. Aber diese Schulen decken sich i n ihren Aufgaben natürlich nur teilweise mit der Sozialakademie. Karl Schaudinn (Gladbeck): Herr Prof. Korten, w i r haben gehört, was Sie auf dem Bildungssektor i n Schweden alles leisten. Aber wie schaffen Sie das überhaupt? Wie finanzieren Sie das? Bei uns scheitern die meisten Bildungswünsche an der Geldfrage. Prof. Dr. G. Korlen (Stockholm): Schweden ist ein Land, das von zwei Weltkriegen verschont geblieben ist. Es ist auch ein Land, das weniger von der Spannung zwischen Ost und West berührt wird, ein Land, wo die Neutralität sicher manches kostet, aber der Wehretat doch nicht so vorrangig ist wie anderswo. Die Steuern sind bei uns hoch. W i r bekommen dafür natürlich auch allerlei. Sie haben ja gehört, daß es Schulspeisungen, Studienbeihilfen usw. gibt. A u f das Bildungs- und auch Ausbildungswesen w i r d sehr viel Gewicht gelegt. Bis vor einigen Jahren wurden dafür 3 v. H. des Bruttosozialproduktes aufgewandt, heute sind es 6 v. H. Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Ich habe soeben den Vorsitzenden der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Sozialakademie gesehen, Herrn Schackmann, den ich i n unseren Reihen herzlich begrüßen möchte. Das erinnert mich daran, daß dieser Abend noch nicht zu Ende ist, obwohl w i r diese Diskussion jetzt schließen müssen. Ich danke Ihnen allen dafür, daß Sie die lange Zeit heute durchgestanden haben. Immerhin ist das ein Kompliment für Sie, verehrter Herr Kollege Korlen.

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W i r haben bei unseren vorwiegend wirtschaftspolitischen Tagungsthemen sehr lange keine Gelegenheit gehabt, einen Germanisten einzuladen. Aber „Bildung und Ausbildung i n der Industriegesellschaft", das fällt ja i n Ihren Bereich. Ich freue mich sehr, daß ich Sie hier begrüßen und Ihnen danken durfte — nicht nur für I h r hervorragendes Referat und die Diskussion, sondern noch einmal für Ihre großzügige Hilfe i n der Nachkriegszeit. Gute Heimkehr und hoffentlich ein frohes Wiedersehen i n einigen Jahren!

Diskussion zum Vortrag von P. W. Lowell, M. A. (Marlow, Bucks.) Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund):

Herr Lowell, meine Damen und Herren! Lassen Sie mich damit beginnen, daß ich i n drei Punkten m i t Ihnen übereinstimme, worauf dann ein Dennoch und eine Frage kommen. Ich bin dem humanistischen Gymnasium gegenüber genauso eingestellt wie Sie, obwohl ich darauf eine Klasse übersprungen und als Endergebnis summa cum laude erzielt habe. Ich werde es mein Leben lang immer bedauern, anstatt Französisch und Russisch, Griechisch und Hebräisch gelernt zu haben. Ich habe festgestellt, daß dieses humanistische Gymnasium weltfremd macht; das Praktischste dabei war für mich vielleicht der Nachhilfeunterricht, den ich aus finanziellen Gründen vom 13. Lebensjahr an geben mußte. Der Grund, warum ich i n Quarta den humanistischen Zweig gewählt habe, war der, daß m i r der Klassenlehrer so wohlgesonnen war. Sonst hätte ich mich damals wohl auch schon anders entschieden. Zum zweiten habe auch ich es als sehr wohltuend empfunden, nach diesem humanistischen Gymnasium Arbeitsdienst und Wehrdienst zu absolvieren. Insbesondere i m Arbeitsdienst, diesem halben Jahr i n der Begegnung m i t einfachen Menschen und der körperlichen Arbeit, konnte man den übertriebenen Ballast, der i m A b i t u r verlangt wurde, abwerfen. Desgleichen erscheinen m i r — wenn man, wie Sie gesagt haben, gesund bleibt — die Leitung eines Kampftrupps vor Moskau, die Führung einer Einheit beim Rückzug i n Sizilien und ähnliche Dinge i n einem Lebensalter, wo man sonst eine solche Verantwortung nicht bekommt, als außerordentlich gute Grundlage für den weiteren Lebensweg. Die dritte Übereinstimmung betrifft die Universität. Nun, ich bin dorthin dank der acht Jahre Wehr- und Kriegsdienst erst i n einem Lebensalter gekommen, wo man gemeinhin nicht mehr an der Universität, sondern die Universität studiert. Was da an Vorlesungen auf uns herniederging, das konnte man Gott sei Dank i n Büchern nachlesen, man brauchte nicht unbedingt hinzugehen. Dadurch gewann ich die Zeit, nebenbei noch eine Lehrerausbildung durchzumachen, mich poli-

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tisch zu betätigen und außerdem noch andere Dinge zu hören, die m i t meinem Fachgebiet gar nichts zu tun hatten. Unvergeßlich ist m i r nur die Begegnung m i t meinem verehrten Lehrer Müller-Armack, dessen Theorie der sozialen Marktwirtschaft ja eminent praktisch war. Jetzt kommt aber das Dennoch. Sie haben am Schluß eine Kompromißformel zu finden versucht, aber Ihre Aussage vorher war doch sehr pointiert. Und darauf möchte ich Ihnen sagen: Ich b i n sehr froh, daß meine Studien nicht nur gezielte Ausbildung waren. Wenn das ganze Leben so sehr gezielt ist, wenn alles überlegt ist, dann fehlt m i r etwas Wichtiges. Ich denke gerne an jene nicht zur Ausbildung gehörenden Vorlesungen i n neuester Geschichte bei Erich Stier, Georg Schreiber oder Hans Raumer, an die Übungen i n Zeitungswissenschaft bei Walter Hagemann oder an die Vorlesungen Sauers i n Rechtsphilosophie. Und nun kommt die Frage: Meinen Sie, daß w i r aufgrund der Überlegenheit der USA und der Sowjetunion jetzt gezwungen sind, derartig gezielt vorzugehen, daß für das, was ich als besonders angenehm empfunden habe, gar keine Zeit mehr bleibt? Wenn dem so wäre, würde m i r das leid tun. Ich möchte Sie doch sehr bitten, noch einige Worte dazu zu sagen. P. W. Lowell, M. A. (Marlow, Bucks.): I m Prinzip bin ich i n diesem Punkt m i t Ihnen völlig einig. Man muß natürlich auch etwas Unwesentliches tun, man muß andere Sparten kennenlernen, sich m i t anderen Dingen beschäftigen. Auch i n England läßt der gezielte Ausbildungsprozeß solche Möglichkeiten offen. I n den neuen Universitäten, wie z.B. i n Sussex, ist das sehr viel stärker der Fall, als es je zuvor i n Oxford und Cambridge war; denn obwohl Oxford und Cambridge außer i n Medizin und Jura nicht gezielt waren i n Hinblick auf eine Lebensaufgabe, waren sie sehr spezialisiert. Heute w i r d weniger stark spezialisiert, aber stärker gezielt. Es ist aber — zur Zeit zumindest — sehr viel richtiger, i m gezielten Rahmen auch andere Dinge zu tun, als i m ungezielten Rahmen allgemeinbildend zu wirken. Ich glaube, darin sind w i r uns wohl auch einig. Die echte Frage, die sich nach Ihren Ausführungen ergibt, ist nicht die Frage nach dem Entweder—Oder, sondern nach dem Wieviel und Warum. Sie meinten ganz richtig, daß w i r heute i n Europa wieder A n schluß finden müssen. Dann kam die Frage, zu der ich eigentlich nicht Stellung nehmen wollte, denn ich bin m i r selber nicht ganz klar über die A n t w o r t : Sind w i r jetzt gezwungen, eine gewisse Zeit — sagen w i r

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die nächsten 25 Jahre — stärker gezielt auszubilden, als w i r es an und für sich für richtig halten? Aber selbst dann würden w i r die allgemeinbildenden Dinge nicht völlig beiseiteschieben, sie würden nur stärker zurückgedrängt, als es vielleicht sonst der Fall wäre. Dies ist m. E. letzten Endes eine Quantitätsfrage. Man muß i m Rahmen eines großen Wirtschaftsplanes an diese Dinge herangehen. Die französische Planiücation, die von Erhard m i t dem Wort Vorausschau übersetzt wird, versucht ja heute, solche Probleme zu lösen. Bei aller Schönheit der sozialen Marktwirtschaft, die es i n Deutschland ja noch niemals gegeben hat — Deutschland war unmittelbar nach dem Krieg gelenkter, als es England heute ist (wir haben i n den sozialen Wohnungsbau oder i n die Werften nie so eingegriffen, wie Erhard das immer wieder getan hat, und w i r haben nicht soviel subventioniert) —, bei aller Schönheit dieser M a r k t wirtschaft also soll man angesichts der Tatsachen ruhig öffentlich darüber diskutieren, welches die wesentlichen Elemente der W i r t schaftslenkung sind. Aber das ist ja auch ein Merkmal der Staatslenkung heute, daß eine Devise verkündet wird, praktisch aber alles ganz anders läuft. Ein wesentliches Moment der Wirtschaftslenkung ist natürlich die gezielte Ausbildung. W i r müssen, u m mithalten zu können, auf einen technologischen Stand, auf ein Niveau des Managements zusteuern, das ganz erstklassig ausgebildete Technologen und Betriebswirte erfordert. Ob deren Ausbildung noch einen großen Teil Unwesentliches verträgt oder nicht, das ist eine pädagogische Streitfrage. Viele werden sagen: Sie müssen einen großen Teil Unwesentliches tun, damit sie sich dann stärker auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können. Das ist ein innerer Ausgleich. Man kann dagegen auch formulieren, daß die Aufnahmefähigkeit des einzelnen zuviel anderen Ballast einfach nicht zuläßt. Meines Erachtens liegt die Lösung i m Examen. Sie müssen, u m den technologischen und den betriebswirtschaftlichen Stand zu erreichen, bestimmte Examina verlangen, praktisch wie auch theoretisch; und ich glaube, daß i n diesen Examina i m letzten Stadium das Unwesentliche wegfallen muß. Ich meine, man sollte i n den nächsten 25 Jahren i m ersten Studienjahr der mehr theoretischen Ausbildung — so macht man es auf den englischen Universitäten — Allgemeines verlangen und nichts Spezialisiertes. Oder man könnte auch das i m berufstechnischen Sinne nicht Wesentliche die ganze Zeit über lehren, aber i m Examen nicht verlangen. Rainer Merz (Freiburg): Auch ich glaube, daß „De vita Caesarum" i m Urtext zu lesen, heute sinnlos ist. M i t Ihrem gezielten Ausbildungsprozeß ist es vielleicht

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möglich, andere Nationen wieder einzuholen. Aber es besteht ja nicht nur die Frage des wirtschaftlichen, des technologischen Wettbewerbs. Es gibt nämlich auch noch das Problem der Bewältigung der Freizeit. Und dies habe ich i n Ihrem Referat vermißt. M i t einem gezielten Ausbildungsprozeß werden w i r nicht i n die Lage versetzt, die Freizeit zu bewältigen. P. W. Lowell, M. A. (Marlow, Bucks.): Ich glaube, daß diejenigen, die i n der Lage sind, überhaupt Freizeit richtig zu gestalten, auch von den Möglichkeiten Gebrauch machen, die i n einem Ausbildungsprozeß und später i n der A d u l t Education vorhanden sind. Sie werden von sich aus an Kursen, Vorlesungen usw. teilnehmen, die es ihnen ermöglichen, die Freizeit sinnvoll zu gestalten. Z u dieser Gestaltung kann man nicht gezwungen werden. Wer zwanglos aus seiner Freizeit etwas machen w i l l , w i r d auch zwanglos das Notwendige dazu lernen. Lothar Bödecker (Dortmund): A n sich entzündet sich meine Diskussionsfreudigkeit am Widerspruch, und es gibt eine Menge von Punkten, die mich auch hier zum Widerspruch reizen. Ich möchte Ihnen aber i n einem Punkt recht geben, nämlich darin, daß gezielt ausgebildet werden muß. Ich habe bisher nie so recht gewußt, wohin ich eigentlich wollte, w e i l das Bildungsangebot so groß ist, daß es für den einzelnen sehr schwer ist, sich für eine bestimmte Richtung zu entscheiden. Aber wenn man sich dann entschlossen hat, dann ist es wiederum schwierig, herauszufinden, was zu lernen sinnvoll ist, und abseits liegenzulassen, was wenig sinnvoll ist. Und nun habe ich Sie so verstanden, daß jedem gezeigt werden soll, was er sinnvollerweise lernen sollte, wenn er ein gewisses Ziel erreichen w i l l . Ich stimme Ihnen i n dieser Beziehung voll zu. Es gehen uns m. E. sehr viele Energien dadurch verloren, daß w i r soviel suchen und nicht recht wissen, was w i r eigentlich t u n sollen. Wenn w i r das wüßten, dann hätten w i r auch mehr Muße und könnten uns mehr i m humanistischen Sinne bilden. P. W. Lowell, M. A. (Marlow, Bucks.): Ich möchte Ihnen dafür danken, daß Sie nicht gesagt haben: Hier steht einer, der w i l l das K i n d m i t dem Bade ausschütten. Das hatte ich erwartet, aber das hat niemand gesagt; insofern brauche ich Ihnen auch nicht zu erklären, daß das nicht meine Absicht war.

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Zweitens möchte ich Ihnen noch sagen, daß m. E. ein ganz wesentlicher Teil dieses gezielten Ausbildungsprozesses eine lebensnahe menschliche Haltung ist. Ich hatte auch erwartet, daß von der Disziplin gesprochen würde, die sich aus der alten humanistischen Bildung ergibt. Darauf wollte ich Ihnen antworten, daß das keine echte, gesunde Disziplin mehr ist. Bestimmte Dinge sind — auch i n Deutschland — überspitzt, denken w i r nur an die Titelsucht. Ich habe einmal i n einer Vorlesung boshaft gesagt: Sind denn alle Doktoren solche Flaschen, daß sie ein Etikett brauchen? Diese A r t von Disziplin und Respekt, die i n die westeuropäische Bildung hineingekommen ist, ist doch ganz falsch. Das ist das, was die Amerikaner phoney nennen. Die neue Generation i n England spricht eine ganz andere Sprache, eine direkte Sprache; sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, über die man frei spricht. Und das ist kerngesund. Das ergibt sich aus einem gezielten Ausbildungsprozeß, der lebensnahe und lebensfreudig ist und der dazu dient, nicht nur den Beruf zu bewältigen, u m Geld zu verdienen, sondern die wirklichen Probleme der heutigen Industriegesellschaft zu lösen. Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Ich danke Ihnen, Herr Lowell, und allen an der Diskussion Beteiligten zum Abschluß recht herzlich und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß Sie von diesem Vortrag nicht nur das Bonmot „Flasche mit Etikett" behalten. Ich glaube, daß Ihre A r t zu sprechen, Herr Lowell, irgendwie verwandt ist m i t der des Mannes, der Sie uns namhaft gemacht hat, Uwe Kitzinger. Bitte, grüßen Sie i h n recht herzlich.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Pierre Grappin (Paris) Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund):

Meine Damen und Herren! W i r sollten der Anregung folgen, die Herr Prof. Grappin gegeben hat, nämlich i n der Diskussion ruhig Einzelfragen über die Verhältnisse i n Frankreich zu stellen. Mich persönlich würde eine neue Bildungsstätte i n Paris interessieren, von der ich gelesen habe. Sie soll junge Leute, die hier Rechtswissenschaft, Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, Sprachen usw. studieren, m i t derartig hervorragenden Qualifikationen entlassen, daß sie dann als Bewerber bei den internationalen Organisationen, UNO, EWG usw., wenig ernsthafte Konkurrenz haben, weil es diese Vielseitigkeit i n der Ausbildung sonst kaum gibt. Hier handelt es sich zweifelsohne u m ganz gezielte Ausbildung, denn wer an diese entscheidenden Stellen gelangt, das ist ja nicht ohne Bedeutung. Sollten Sie dieses Institut kennen, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie uns darüber einmal etwas sagen könnten. I m übrigen möchte ich die Anwesenden nun u m weitere Diskussionsbeiträge bitten.

M. Goote (Den Haag): Ich frage mich immer, was allgemeine Bildung eigentlich ist. Warum kann ein Fach wie Thermodynamik oder Elektrotechnik keine allgemeine Bildung sein? Die allgemeine Bildung ist doch das, was man aus dem Erlernten macht. Was macht das aus, welche Fächer das gewesen sind? Ob das eine Sprache war, Soziologie oder Thermodynamik, das bleibt sich gleich. Es sind alles nur M i t t e l zum Denken, Mittel, eine Weltanschauung zu bekommen. Der Mensch ist doch nicht das, was er i n der Schule gelernt hat. Jemand hat einmal gesagt: Meine allgemeine Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn ich alles vergessen habe, was ich je gelernt habe — i n Schulen und nachher.

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Ich denke, das ist das Wichtigste. Und daher verstehe ich nicht, daß ein Ingenieur sich mehr allgemeine Bildung wünschen soll. Prof. Dr. Pierre Grappin (Paris): A u f die erste Frage nach diesem Wunder-Institut i n Paris möchte ich sagen, es handelt sich wahrscheinlich u m das Institut d'Etudes Politiques. Das ist ein Institut der Universität Paris, i n dem tatsächlich sowohl gezielte Fachbildung — sagen wir, auf politisch-sozialer Ebene — gegeben w i r d als auch eine ziemlich weitgehende Information. Der Unterricht umfaßt Rechtswissenschaft, Ökonomie, neuere Geschichte und zwei bis drei Fremdsprachen. Die Ergebnisse sind, glaube ich, i n der Tat gut. Natürlich kann man einwenden, daß die Studenten hier rhetorisch gedrillt werden, aber auf internationaler Ebene ist das von großem Wert. Zur internationalen Verständigung gehört sehr viel Formulierungskunst, denn wenn man von einer Nation zu einer anderen sprechen soll, dann ist vielleicht die A r t der Aussage das Wichtigste oder jedenfalls etwas sehr Wichtiges. Bei diesem Institut d'Etudes Politiques können sich übrigens auch fremde Studenten einschreiben. Nun zu dem Beitrag unseres verehrten Kollegen Goote. Sicherlich kann ein sehr intelligenter Mann, der z. B. Chemiker ist, auch seine Berufsausbildung zur Grundlage seiner allgemeinen Bildung machen, dazu gehört vielleicht keine besonders gezielte und organisierte B i l dung. Aber eines fällt m i r doch auf; ich erwähnte es vorhin nur flüchtig: Ich habe eine sehr allgemeine Bildung genossen. Aber wenn ich heute den ganzen Tag gearbeitet habe, Facharbeit geleistet habe, dann bin ich nicht mehr i n der Lage, die allgemeinen Informationen zu bekommen, die ich nötig hätte. Ich glaube, das werden wohl die meisten heutzutage so empfinden. Es gehört eine besondere Überlegung, eine besondere Mühe dazu, sich bei der Unmenge von Nachrichten wirklich zu informieren. Aber diese allgemeine sozialpolitische Information ist für alle, auch für die Lehrer, wohl nötig, wenn w i r den Anspruch erheben wollen, nicht gerade m i t der ganzen Welt, aber doch m i t unserer weiteren Umwelt zu leben. Den Satz, den Sie über die Allgemeinbildung brachten, kenne ich sehr gut; er stammt von einem Politiker aus der Generation meines Vaters. Es war Herriot, der sagte: „ L a culture générale c'est ce qui reste, quand on a tout oublié." Aber ich glaube, eine solche Formulierung entspricht eher den Verhältnissen des vorigen Jahrhunderts als den unsrigen heute. Schon aus rein technischen Gründen, denn es ist heutzutage—davon bin ich überzeugt—schwieriger, ruhig alles auf sich zukommen zu lassen und es sich dann anzueignen, als es früher war.

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Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Ich hoffe, es w i r d den derzeitigen Teilnehmern unseres Lehrganges ein Trost sein zu hören, daß die Allgemeinbildung übrigbleibt, wenn man alles vergessen hat. Vor der Abschlußprüfung ist das ein irgendwie wohltuender Satz, nicht wahr? Wer möchte nun das Wort?

Erwin Hoff mann (Bochum): Herr Prof. Grappin, ich hatte vor zwei Jahren Gelegenheit, die staatliche Lehrlingsausbildungsstätte i n Clermont-Ferrand kennenzulernen. Dort wurden 900 bis 1000 Lehrlinge i n den verschiedensten Berufszweigen (Maschinenschlosser, Bauschlosser, Schneider, Maurer usw.) ausgebildet. Haben Sie i n Frankreich m i t dieset A r t Ausbildung gute Erfahrungen gemacht? Ich könnte m i r denken, daß es für den Lehrling sehr schwer ist, wenn er, isoliert vom Betrieb ausgebildet, erst nach A b schluß der Lehre i n den Betrieb kommt und sich sofort m i t den Verhältnissen abfinden muß, denen er dort ausgesetzt ist. Prof. Dr. Pierre Grappin (Paris): Ich habe wenig Erfahrung auf diesem Gebiet. Es besteht bei uns Schulzwang bis zum 16. Lebensjahr, so daß niemand unter 16 Jahren i n den Betrieb kommt, sondern i n Ausbildungszentren, i n die centres d'apprentissage, wie sie bei uns heißen. Die Trennung zwischen dem staatlichen Schulwesen und den Industriewerken, die Ausbildungszwecke kaum verfolgen, ist sehr groß. I n einem nationalisierten Werk, wie es Renault z. B. ist, gibt es allerdings Ausbildungsstätten für Lehrlinge. Der beträchtliche Unterschied zwischen Privatbetrieben und nationalisierten Werken ist ein Charakterzug der französischen Wirtschaft, den Sie immer wieder beobachten können. Ich halte es für falsch, aber die Privatunternehmer kümmern sich kaum u m die Ausbildung. I n Clermont-Ferrand werden allerdings die Michelin-Werke wahrscheinlich auch eigene Ausbildungsstätten haben, ich nehme es wenigstens an, genau weiß ich es nicht. Michelin ist ein sehr großes Unternehmen, sehr i n sich geschlossen. Aber die meisten Privatunternehmer, auch große oder größere, kümmern sich u m Ausbildung und Weiterbildung der Arbeitskräfte kaum, w e i l eben alles vom Staat finanziert wird. Sie halten es für praktischer, daß die jungen Leute

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auf Kosten des Staates ausgebildet werden. Diese A r t Ausbildung ist aber leider nicht mein Fach. Ich kann hier keine genaueren Auskünfte geben. Ruth Gamb (Düsseldorf): Mich interessiert die Beziehung zwischen den Begriffen Bildung und Ausbildung. Einerseits kann ein Mensch doch auch schon dann gebildet sein, wenn er noch keine Ausbildung hat. Andererseits schlagen w i r wiederum alles, was w i r an zweckgebundener Ausbildung genießen, dann zum guten Schluß zu unserer Allgemeinbildung. Ich meine daher, w i r sollten nicht zu sehr zwischen Bildung und Ausbildung differenzieren. Die Bildung eines Menschen hängt nicht unbedingt von einem sehr hohen Grad fachlicher Ausbildung ab, sie kann sich aber durchaus auch aus fachlicher Ausbildung ergeben. Man eignet sich auf bestimmten Gebieten ein Wissen an, die Verwendimg dieses Wissens aber ist i n meinen Augen erst Bildung. Dann hätte ich noch eine Frage. Sie sagten, Herr Prof. Grappin, daß an den französischen Schulen und Hochschulen — m i t Ausnahme der Volksschulen — zu wenig über politische Bildung gesprochen wird. Mich würde nun interessieren, wie sich die politische Bildung i n den Volksschulen abspielt, was man unter Anpassung an die ständige politische Entwicklung versteht? Mein Vater war Saarländer, er hat m i r erzählt, daß die Schulbücher den französischen Kindern früher beibrachten: Les Allemands sont des boches. Und i n den deutschen Schulbüchern stand das Entsprechende gegen die Franzosen. Hier müßte sich also viel geändert haben, wenn die politische Bildung i n den französischen Volksschulen der laufenden Entwicklung angepaßt ist. Ich hatte kürzlich Besuch von einem Mädchen aus dem 8. Schuljahr. I m Gespräch erfuhr ich, daß ihre Klasse i m Geschichtsunterricht bei Bismarck stehengeblieben ist. Deshalb würde es mich einmal interessieren, welche A r t Unterricht die französischen Kinder heute bekommen und ob es Möglichkeiten gibt, die auch für uns realisierbar wären. Prof. Dr. Pierre Grappin (Paris): Herr Kollege Goote sagte, ein Mensch ist nicht, was er i n der Schule gelernt hat. Ich würde sagen — das wäre vielleicht i n Ihrem Sinne—: Er ist, was er tut, und wie er das tut. W i r sprechen etwas abstrakt von Bildungsverhältnissen, aber derselbe Bildungsgang hat ja natürlich ganz andere Wirkungen, je nach den Individuen. Arbeit und B i l dung, das kann nicht getrennt werden.

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Was unsere Volksschule betrifft, so habe ich gesagt, sie kann ungefähr ihre Aufgabe meistern, weil sie viel stärker entwickelt wurde als unsere Mittelschulen. Ich meinte das rein materiell und fachlich. Was die politische Erziehung angeht, so war sie, als ich i n der Volksschule war, natürlich sehr französisch-national, alles fußte auf der Französischen Revolution! Alles! A l l e Anekdoten, alle Bilder, die sich uns einprägen sollten, all das hing mit der Französischen Revolution zusammen. Unsere musikalische Erziehung etwa war nicht wie die der deutschen Kinder. Sie war i n unserer Dorfschule sehr begrenzt. W i r lernten nur zwei Lieder: „ L a Marseillaise" und „ L e chant du départ". Diese konnten w i r sehr gut, w i r konnten sie von Noten ablesen, interessant war aber nur der Inhalt dieser Lieder. M u sik war für uns uninteressant, jedenfalls für meine Schullehrer. Das Geschichtsbild, das uns i n der Volksschule vermittelt wurde, war ausgesprochen französisch-national, aber ein Schulbuch, i n dem die Deutschen als „boches" bezeichnet wurden, habe ich nie zu Gesicht bekommen. Natürlich wurde die Redewendung sehr oft benutzt, auch von meinem Vater, der zwei Jahre lang vor Verdun gestanden hat und auch zweimal sehr schwer verwundet wurde; das war gang und gäbe zu jener Zeit. Aber, daß man das i n Büchern gedruckt hätte, kaum! Unsere alte Volksschule war jedenfalls i n ihrer Ausrichtung einheitlich und ausgesprochen klar. Da war die Französische Revolution und die zivilisatorische Mission Frankreichs und schließlich der eitle Punkt, die Kolonien. Heute w i r d es wohl anders aussehen, aber wie, kann ich Ihnen kaum sagen; denn die Volksschullehrer sind keine so einheitliche Gruppe mehr wie früher. Die Lehrer, die ich hatte, waren, menschlich gesehen, sehr gute Volksschullehrer, viele waren begabte Söhne aus dem Bauernstand. Heute ist es bei uns so — ich weiß nicht, wie es i n Deutschland ist—, daß der Beruf Volksschullehrer gar keine Anziehungskraft mehr ausübt. Gar keine! Dadurch ist der Stand bei uns wahrscheinlich ziemlich gesunken. Aber die geschichtlichen, politischen Grundbegriffe, die den Kindern heute vermittelt werden, sind sehr stark international orientiert, soweit ich das nach den amtlichen Richtlinien beurteilen kann, die ich zu lesen bekomme. Die amtlichen Richtlinien über die grundsätzliche politische Bildung, die unsere Volksschullehrer unter dem Namen „Instructions civiques" bekommen, haben so ungefähr dieselbe Tendenz wie i n Deutschland, also Förderung des Gemeinschaftssinnes, angefangen vom Familienkreis bis zu den Vereinten Nationen. So kann man zweifellos sagen, daß unsere Volksschule sich stark gewandelt hat.

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Hilde Kleine-Frölke (Stuttgart): Ich finde, Bildung und Ausbildung werden bei uns — und auch i n anderen Ländern, das haben w i r ja gehört — noch zu sehr m i t Kindheit und Jugend verbunden. Dabei wissen w i r alle, daß Bildung ein immerwährender Prozeß ist. Es hat mich gefreut, von Herrn Prof. Korlén aus Schweden zu hören, daß man hier der Frau nach der Heirat und Kindererziehung die Möglichkeit zum Studium gibt. Sie, Herr Prof. Grappin, haben nun die Weiterbildung der Berufstätigen erwähnt. Die ärztliche Wissenschaft hat uns mehr Lebensjahre beschert, w i r leben heute länger. I m Durchschnitt erreichen die Männer 60, die Frauen sogar 73 Jahre. Das bedeutet aber, wenn w i r die letzten 20 Jahre unseres Lebens nicht vegetieren, sondern sinnerfüllt leben wollen, daß der Mensch heute eine möglichst breite Grundausbildung und Weiterbildungsmöglichkeiten haben sollte; er muß mobil bleiben und auch i n einen anderen Beruf überwechseln können. Ich hätte also gerne etwas mehr gewußt über die Erwachsenenbildung i n Frankreich. Welche Möglichkeiten bestehen dort, sagen wir, i n Volkshochschulen oder i n Abendseminaren für den erwachsenen Menschen? Prof. Dr. Pierre Grappin (Paris): I n der Erwachsenenbildung hinken wir, glaube ich, i n Frankreich ziemlich nach. Die Möglichkeiten sind nicht sehr groß bei uns. Seit einigen Jahren werden staatliche Gelder für diese „promotion des adultes", also die Weiterbildung der Erwachsenen, gegeben, aber sie geschieht nur sehr sporadisch, hier und da. Volkshochschulen, wie es sie i n Deutschland oder Dänemark gibt, besitzen w i r kaum. Unsere Gewerkschaften legen viel weniger Wert darauf als z. B. die deutschen Gewerkschaften. So existieren nur wenige Ausbildungsstellen für Erwachsene i n einzelnen Städten. Dafür wachsen i n den letzten Jahren die Möglichkeiten der Weiterbildung über Fernunterricht. Der Fernunterricht erfolgt als enseignement par correspondance, also über Briefschulen, und i n der letzten Zeit über das Fernsehen. Das w i r d ziemlich stark entwickelt, aber, wie gesagt, nicht so methodisch wie i n vielen anderen Ländern. Sie sprachen vom Berufswechsel. Ich persönlich würde eine solche Möglichkeit sehr schätzen. Ich habe jetzt alles gesehen, was man machen kann. Ich würde nun gerne Architekt werden. Schade, daß ich i n meiner Jugend keine polytechnische Bildung genossen habe!

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Ich würde das jetzt sehr begrüßen. Aber wie läßt sich so etwas machen? Sie erleben i n Deutschland sicherlich genau wie wir, welche Probleme z. B. schon die Umschulung der Bergarbeiter m i t sich bringt. Aber darauf abzielen sollte man. Ich bin sehr dafür, daß man mehr als nur einen einzigen Beruf ausüben kann. Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Ich möchte mich dafür bedanken, daß zu so später Stunde noch so viele Beiträge gekommen sind. Ihnen, Herr Kollege Grappin, sei gedankt für Ihre Bereitschaft, zu uns zu kommen. Ich bin der Auffassung, daß w i r eine deutsch-französische Freundschaft i n der Form brauchen, wie sie Konrad Adenauer vertritt, wenn w i r i n Europa gedeihen wollen.

Diskussion zum Vortrag von Nationalrat Dr. Karl Kummer (Wien) Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Meine Damen und Herren! Immer, wenn zu unserem Institut ein Referent aus Schweden oder aus Österreich kommt, denke ich ein wenig neidisch an die soviel glücklicheren außenpolitischen Verhältnisse dieser Länder. Insbesondere Österreich kann ich nur immer wieder dazu beglückwünschen, daß es i h m als einzigem Land der Welt gelungen ist, die Russen zu einem freiwilligen Abzug zu bewegen. Ich glaube, das w i r d es nie wieder geben. Trotz der großen Verschiedenheit der äußeren Situation sind aber die Probleme auf dem Bildungssektor — so stellen w i r etwas überrascht fest — die gleichen wie bei uns: der Kampf u m das 9. Schuljahr, der Lehrermangel, die einklassige Landschule, das Sonderabitur usw. Diese völlige Übereinstimmung der Probleme erklärt vielleicht, warum gerade i n Wien das einzige Institut Europas steht, das ebenfalls den Namen „Sozialakademie" trägt. W i r haben es lange nicht mehr besucht, aber vielleicht können Sie uns zu Beginn der Diskussion ein wenig darüber erzählen, wie es z. Z. i n der Sozialakademie Wien aussieht. Dr. Karl Kummer (Wien): Ich glaube doch, daß Ihre Akademie hier, die w i r ja vor Jahren auch einmal besucht haben, sich von der unsrigen unterscheidet. Unsere Sozialakademie ist allgemeinbildend, sie umfaßt Stenographie, Rhetorik, Geschichte, Wirtschaftsgeographie, Sozialversicherung und Arbeitsrecht. Die Vorlesungen erfolgen i n einem lOmonatigen Internatskurs vor Betriebsräten, Vertrauensleuten der Gewerkschaften, Funktionären, die von den Gewerkschaften ausgewählt werden und die sich einer Aufnahmeprüfung unterziehen müssen. Ich glaube, zu der Zeit, i n der Sie i n Wien bzw. i n Mödling waren, gab es diese Aufnahmeprüfung noch nicht. Aus den ersten Kursen — w i r haben 1949 begonnen — gingen ungemein fähige Leute hervor. Wenn ich nur einige Beispiele nennen darf: der letzte sozialistische Innenminister,

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der jetzige Fernsehdirektor Freund, der Vorsitzende der Personalvollvertretung der Eisenbahner, der Vizepräsident der Arbeiterkammer, der Präsident der Arbeiterkammer Vorarlberg und noch viele andere führende Leute; sie alle kamen aus der Sozialakademie. Aber nach einigen Jahren verschlechterte sich das Niveau der A b solventen, und daher wurde die Aufnahmeprüfung eingeführt. Sie ist sogar inzwischen mehrfach verschärft worden, u m das zu erreichen, was heute an Mehrleistung gefordert werden muß. Ansonsten hat sich diese Einrichtung, die immer noch unter der gleichen Leitung steht, sehr bewährt. Es sind jährlich 35 Teilnehmer i m Internat, die von ihrer Arbeit beurlaubt sind. So hat sich i n den bisherigen 17 Jahren schon eine große Zahl von Absolventen ergeben. Wenn man zu Kongressen und Tagungen kommt, trifft man immer wieder auf Sozialakademiker. Sie haben alle Jahre einmal eine Zusammenkunft, auf der Erfahrungen und Meinungen ausgetauscht werden, aber auch die Geselligkeit gepflegt wird, u m die Zusammengehörigkeit zu festigen. Z u kritisieren wäre allerdings, daß es keine Nachkurse gibt; gerade für die älteren Jahrgänge wäre das wichtig. Die Zeit bleibt ja nicht stehen. Es ergibt sich überall Neues, die Gesetze z. B. ändern sich usw. I n den ersten Jahren sind solche Kurse veranstaltet worden, die sozusagen den Nachholbedarf gedeckt haben. Leider ist das jetzt nicht mehr der Fall. Es müßte wieder eingeführt werden; denn je länger man m i t solchen Kursen wartet, desto schwieriger w i r d es, weil dann natürlich der Stoff viel umfangreicher geworden ist. Soviel also über die Sozialakademie Wien. Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Herzlichen Dank! Ich würde sagen: Nochmal die gleichen Probleme. Darf ich nun u m Wortmeldungen bitten? Adolf Sander (Hannover): Herr Dr. Kummer, Sie sprachen vorhin von einer wünschenswerten Entpolitisierung i n Rundfunk und Fernsehen. Ich wüßte gerne, wie Sie das gemeint haben. Dr. Karl Kummer (Wien): Diese Forderung datiert aus der Zeit, wo die große Koalition der beiden großen Parteien noch bestand. Anfangs gab es noch kein Fernsehen, sondern nur Hörfunk. Der Hörfunk unterstand einem Direktor, 15 Tagung Dortmund 1966

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der gleichzeitig Generaldirektor der Rundfunk-Gesellschaft war. Er gehörte der österreichischen Volkspartei an. Rundfunk und Fernsehen sind bei uns i n Österreich i n einer GmbH organisiert, deren Gesellschaftsrechte einzig der Staat innehat, d. h. daß alles nach dem Proporz geht. Der Generaldirektor also ist von der österreichischen Volkspartei, der technische Direktor von der Sozialistischen Partei und ein dritter Direktor wieder von der österreichischen Volkspartei. Als nun i m Laufe der Entwicklung das Fernsehen dazukam, zeigte sich die österreichische Volkspartei „an den paar tausend Fernsehteilnehmern, die es da geben w i r d " , nicht allzusehr interessiert. Sie überließ also die Direktorstelle dem von m i r bereits genannten Schüler der Sozialakademie, Freund. Dieser gehört der Sozialistischen Partei an. Nun war das Direktorenverhältnis 2 zu 2. Es gibt zwar ein D i r i gierungsrecht des Generaldirektors bei Stimmengleichheit, aber davon wurde noch niemals Gebrauch gemacht. Man sprach jetzt vom „schwarzen Hörfunk" und vom „roten Fernsehen". Als sich dann herausstellte, daß das Fernsehen immer mehr an Bedeutung gewann, gerade auch als Propagandamittel, wachten beide Parteien m i t großer Eifersucht darüber, daß i m Programm nicht mehr von der anderen Seite gezeigt wurde. Tatsächlich war es aber so, glaube ich — da haben die neutralen Zeitungen recht gehabt —, daß sich die politische Besetzung ausgew i r k t hat. Und deshalb wollte man durch ein Volksbegehren den Hörfunk wie auch das Fernsehen entpolitisieren, und zwar durch die Bestallung eines Generalintendanten, der die letzte Entscheidung i n der Programmgestaltung haben sollte. Dieser Generalintendant sollte keiner politischen Partei angehören. (Er durfte sogar nach dem Gesetzentwurf auch i n den letzten fünf Jahren keiner politischen Partei angehört haben.) Nach dem Gesetz sind bei uns für ein Volksbegehren 200 000 Stimmen notwendig. Es wurden — das ist ganz interessant — vor Abschluß dieses Volksbegehrens Wetten abgeschlossen, wie viele Stimmen erreicht würden. Die Schätzungen bewegten sich zwischen knapp 200 und 600 000 Stimmen. Tatsächlich sammelte man 830 000 Unterschriften. Das liegt nun schon zwei Jahre zurück. Zur Zeit der Koalition waren die Sozialisten nicht dazu zu bringen, das Volksbegehren anzuerkennen, w e i l sie verschiedene Gefahren darin sahen. Es gab großen Streit zwischen den Parteien, ob über dieses Volksbegehren verhandelt werden sollte oder nicht. Die österreichische Volkspartei stellte sich nämlich auf den Standpunkt, daß man 830 000 Wählerstimmen — es waren ja nur Österreicher zugelassen, die auch das Wahlrecht haben — nicht einfach übergehen könne. Es wurde dann

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noch unter der Koalition ergebnislos verhandelt. Nach dem 6. März, also nach den letzten Wahlen, brachte die österreichische Volkspartei einen Initiativantrag ein; darauf kam ein Gegeninitiativantrag von den sozialistischen Abgeordneten. Bis dato hat man i n einem Unterausschuß ohne Erfolg verhandelt, weil keine der Parteien von ihrem Standpunkt abgegangen ist. Wie Sie wissen, stellt die österreichische Volkspartei jetzt die Regierung allein. Es gibt also eine echte Opposition i m Parlament, und zwar „keine obstruktive", wie die Sozialisten sagen, sondern eine konstruktive; aber diese konstruktive Opposition ist noch nicht allzusehr spürbar, auch i n dieser Frage nicht. I n dem zuständigen Ausschuß — er mußte eigens dafür eingesetzt werden — ist es zu keiner Einigung gekommen, es wurde mit Mehrheit abgestimmt. Und nun w i r d der Gesetzentwurf auch i m Parlament wahrscheinlich demnächst, wenn i m letzten Augenblick nicht doch noch ein Kompromiß zustandekommt, m i t Regierungsmehrheit beschlossen werden.

Ernst Urban (Bad Kissingen): Birgt aber die Entpolitisierung von Rundfunk und Fernsehen nicht die Gefahr i n sich, daß diese Medien als M i t t e l der staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung zu existieren aufhören, einfach deshalb, weil der neutrale Generalintendant i n Rundfunk und Fernsehen politische Probleme überhaupt vermeidet oder so darstellt, daß keiner Partei weh getan wird.

Dr. Karl Kummer (Wien): Der Sinn der Entpolitisierung ist, daß Rundfunk und Fernsehen für eine Partei, also einseitig, nicht ausgenützt werden. Und diese Gefahr besteht zweifellos eher, wenn der Leiter des Rundfunks, der Leiter des Fernsehens einer bestimmten Partei angehört, als wenn er eine neutrale Persönlichkeit ist. Man glaubt also, daß der Generalintendant diese Institutionen, die allen dienen sollen, neutralisieren wird. Eine Gewähr dafür gibt es natürlich nicht. Es w i r d viel — wenn nicht alles — von der Person abhängen, die Generalintendant wird.

Herbert Schmidt (Bremen): Herr Dr. Kummer, Sie sagten, daß das 9. Schuljahr berufsbildend sein soll. I n der Bundesrepublik sehen w i r i m 9. Schuljahr ein berufs15*

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findendes Jahr und erst i m 10. Schuljahr ein berufsbildendes. Soll dieses 9. Schuljahr i n Österreich tatsächlich schon berufsbildend sein, so daß es das erste Lehrjahr ersetzt? Dr. Karl Kummer (Wien): Diese Frage kann ich gleich m i t „nein" beantworten. Das 9. Schuljahr ersetzt das erste Lehrjahr nicht. Es ist aber trotzdem nicht berufsfindend, sondern berufsbildend. Es ist sozusagen die Vorbereitung auf den künftigen Beruf, ganz gleich, welcher A r t der Beruf sein wird. Der Schüler braucht sich während des Schuljahres noch nicht zu entscheiden, welchen Beruf er ergreifen w i l l , sondern die Lehrpläne — sie sind noch nicht fertiggestellt — werden mehr allgemein auf den Beruf bezogen sein. Es denkt kein Mensch i n Österreich derzeit an das 10. Schuljahr. Denn w i r sind noch lange nicht fertig m i t dem 9. Schuljahr. Die Schwierigkeiten habe ich j a aufgezählt. Willi Dahlhoff (Mayen): Herr Dr. Kummer, ich möchte Sie fragen, ob Österreich Erfahrungen m i t der Ganztagsschule hat. Ich halte sie für notwendig, besonders für ländliche Gebiete, wo den Kindern i m Elternhaus nicht bei den Aufgaben geholfen wird. Dr. Karl Kummer (Wien): Sagen Sie m i r bitte, was Sie unter einer Ganztagsschule verstehen. M i r ist nämlich dieser Begriff nicht geläufig. WilU Dahlhoff (Mayen): Ganztagsschulen sind Schulen — hier i n Deutschland gibt es erst einige Versuche —, i n denen die Kinder mittags verpflegt werden und dann unter Aufsicht des Lehrers ihre Schularbeiten machen. Dr. Karl Kummer (Wien): Solche Schulen gibt es auch bei uns. W i r nennen sie nur Internatsschulen. Aber diese Schulen sind Ausnahmen. Sie sind für Fürsorgefälle geschaffen worden, d.h. für Kinder, die zu Hause nicht betreut werden können. Diese Schulen gibt es nicht auf dem Lande, sondern i n den Städten. Als allgemeine Einrichtung bestehen sie nicht.

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I n der letzten Zeit sind aber von einigen Herren der Arbeitsämter Vorschläge gekommen, die Schüler der 9. Klasse, also des polytechnischen Jahrganges, halbtagsweise zu beschäftigen. Infolge des Lehrermangels soll der Lehrplan für das 9. Schuljahr nur 25 Wochenstunden umfassen, also ungefähr 4 Stunden am Tage. Danach sind die Schüler, die dann schon 15 Jahre alt sind, vollkommen sich selbst überlassen. Das ist zweifellos ein Problem. Andererseits ist es aber auch ein Problem, sie halbtags zu beschäftigen. Es besteht die Gefahr, daß sich die Industrie, der Handel und das Gewerbe gerade dieser jungen Kräfte bemächtigen und sie bis zu einem gewissen Grade ausbeuten würden. Außerdem ist ja i n Österreich jede Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen, die schulpflichtig sind, verboten. Hier w i r d es noch längerer Diskussionen bedürfen. Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Ich möchte noch einmal auf die Massenkommunikationsmittel zurückkommen. Mich würde interessieren, welchen Einfluß die österreichischen Gewerkschaften oder die Arbeiterkammern auf diese Institutionen haben, etwa i n Form einer Zugehörigkeit zu einem Bundfunkoder Fernsehrat. Dann hätte ich eine zweite Frage: Welche Bedeutung haben heute noch i n Österreich die Meisterlehre und die Industrielehre, gesehen auf dem Hintergrund der Berufsschulen oder der Gewerbeschulen, die ja auch i n Österreich bestehen? Sieht man dort auch die Entwicklung auf sich zukommen, daß diese Lehren mehr zurückgehen und das Schwergewicht i n ausgebaute Berufsschulen gelegt werden müßte? Meine dritte Frage wäre: Bestehen i n Österreich Institutionen des sogenannten Zweiten Bildungsweges, und wenn ja, welche? Dr. Karl Kummer (Wien): Zur ersten Frage: Es besteht ein Beirat beim Rundfunk und Fernsehen, i n dem die Arbeiterkammern und der Gewerkschaftsbund vertreten sind. Es steht ihnen dort ein gewisser Einfluß auf die Programmgestaltung zu. Was die Meister- und Industrielehre anbelangt, so muß man sagen, für Österreich haben sie noch immer den weitaus größeren Vorzug. Es wenden sich die Industrie und besonders das Gewerbe mit Vehemenz dagegen, daß diese Meisterlehre durch andere Einrichtungen ersetzt wird, etwa durch Lehrwerkstätten. Ich habe erwähnt, daß

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solche Lehrwerkstätten bestehen; sie sind entstanden i n der Zeit, wo ein Überangebot an Lehrlingen — besonders an weiblichen Lehrlingen — bestand. Damals wurden diese Lehrwerkstätten vom ÖGB und auch von der Caritas errichtet. Das Bestreben der Industrie- und der Gewerbevertretung ging dann dahin, sie abzuschaffen, w e i l inzwischen sogar ein Mangel an Lehrlingen eingetreten ist. Aber das ist nicht gelungen. Nur Neugründungen ist ein gewisser Riegel vorgeschoben. Ihre dritte Frage betraf den Zweiten Bildungsweg. Da haben w i r die sogenannten Arbeitermittelschulen. Sie sind jetzt i n das allgemeine Oberschulwesen eingegliedert worden. Wer also das A b i t u r nachholen w i l l , kann an Abendkursen teilnehmen und das Examen dann an einer öffentlichen Anstalt ablegen. Dieser Zweite Bildungsweg steht allen offen. Daneben gibt es sehr verzweigte Bildungsmöglichkeiten bei den Volkshochschulen, den Kammern und anderen Institutionen. Walter Schluck (Herne): Sie sagten, daß die Chancen und Voraussetzungen i n Österreich für alle Menschen gleich sind. Sind sie aber wirklich gleich? Ich meine, der Zweite Bildungsweg bedeutet doch für den Arbeiter eine besondere physische und finanzielle Belastung. Dr. Karl Kummer (Wien): Ich möchte noch eines nachtragen: Es gibt bei uns die sogenannte Berufsreifeprüfung. Ohne das A b i t u r zu haben, kann man als ordentlicher Hörer die Hochschule besuchen, wenn man diese Berufsreifeprüfung abgelegt hat. Eine Reihe von Hörern der Sozialakademie z. B. legen diese Berufsreifeprüfung ab und erwerben dann einen akademischen Titel. Ich muß aber sagen, daß diese Prüfung nicht leicht ist. Ich kann Ihnen hier nicht i m Detail angeben, was alles gefordert wird. Es w i r d aber Latein verlangt, und das ist die Klippe, an der viele scheitern. Natürlich bedeutet dieser Weg eine physische Anstrengung; es gehört viel Energie und Willenskraft dazu. Eine finanzielle Belastung entsteht dagegen nicht — außer vielleicht durch Fahrtkosten, aber das spielt i n einer Stadt kaum eine Rolle. A u f dem Lande gibt es gewisse Internate. Hier ist die finanzielle Frage von Bedeutung. Aber es gibt Stipendien von der Arbeiterkammer. Von staatlicher Seite gibt es bisher nur für Hochschüler Studienbeihilfen; es ist aber daran gedacht,

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jetzt auch für die Oberschüler Studienbeihilfen einzuführen. Konkrete Vorschläge liegen allerdings noch nicht vor. Aber sehen Sie, ich glaube, man kann schon davon sprechen, daß dieser Bildungsweg allen offen steht. Natürlich muß man die Begabung und den Willen dazu haben und zu Opfern bereit sein. Ohne Opfer geht es nicht, sie sind jedoch nicht finanzieller A r t . Rolf Johanning (Berenbostel, Han.): Sie sprachen davon, daß Sie i n vielen Gebirgsdörfern noch einklassige Schulen haben. Hat das die gleichen Ursachen, die vorige Woche der „Spiegel" meinte, als er über die einklassigen Volksschulen i n Bayern schrieb: „ Z u jedem Dorf die Kirche, zu jeder Kirche die Schule?" Oder haben Sie jetzt auch den Trend zur Mittelpunktschule wie einige unserer Bundesländer? Ich meine, nur wenn mehrere Ortschaften zusammengefaßt und vollklassige Schulen errichtet werden, ist eine gute Ausbildung gewährleistet. Dr. K a r l Kummer (Wien): W i r sind uns noch nicht ganz klar darüber, wie das Problem der einklassigen Schule gelöst werden soll. Ich glaube, Dorf — Kirche — Schule, das ist hier nicht das Problem. Bei uns ist die Lage i n den einzelnen Bundesländern sehr verschieden. Vorarlberg z. B. kennt die Hauptschule m i t Zweigschulen i n der weiteren Umgegend. Natürlich streben w i r generell auf dem Dorf eine ausgebaute Schule an. Wie das mit dem polytechnischen Jahrgang wird, ob man i h n irgendwo konzentriert, das ist noch eine offene Frage. Aber jedenfalls wünschen w i r die mehrklassige Volksschule auch auf dem Lande. Es ist aber vor allem eine Frage der Lehrerausbildung. Ob es gelingt, die Zahl der Lehrer zu vergrößern und genügend M i t t e l aufzubringen, u m auch die notwendigen Schulen zu bauen, das ist unser Problem. Prof. Dr. Herbert Schmidt (Dortmund): Ich darf Ihnen nun dafür danken, daß Sie sich so lebhaft an der Diskussion beteiligt haben. Ihnen, Herr Dr. Kummer, spreche ich meine Anerkennung dafür aus, daß Sie die Redezeit genau eingehalten haben. Dadurch hatten w i r genügend Zeit zu einer so umfangreichen Diskussion. Ich glaube, wenn Sie mitten i n der Arbeitsperiode des Parlaments den Weg von Wien hierher gefunden haben, so ist das eine hohe Auszeichnung für uns, für die w i r besonders zu danken haben.

Diskussion zum Vortrag von Prof. Dr. Friedrich Baerwald (New Jork) Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Meine Damen und Herren! Ich glaube, w i r haben selten Gelegenheit gehabt, über amerikanisches Erziehungs- und Bildungswesen i n so lebendiger und so ehrlicher Form informiert zu werden, also nicht etwa i n dem Sinne: Alles ist bei uns am besten! Dadurch haben w i r sicherlich eine gute Diskussionsgrundlage. Wer möchte sich jetzt als Eisbrecher betätigen? Herbert Schmidt (Bremen): Ich habe eine Frage zum Punktsystem. Stimmt es, daß man sich seine erworbenen Punkte aufheben kann? Eine Studentin beispielsweise, die i n das Berufsleben übergeht oder aber eine Familie gründet, kann sie ihre Punkte behalten und später darauf aufbauen? Prof. Dr. Friedrich Baerwald (New York): I n den Vereinigten Staaten sinkt das Durchschnittsalter, i n welchem die Leute heiraten, immer mehr. Ich glaube, daß es für Mädchen jetzt schon ungefähr bei 19 Jahren liegt. Viele amerikanische Mädchen besuchen natürlich die Oberschule und selbstverständlich auch das College, um einen Abschluß zu bekommen. Aber die meisten gehen vor ihrer Heirat i n das Berufsleben, dann w i r d i n rascher Folge eine Familie aufgebaut. Sobald aber die Kinder so weit sind, daß das jüngste schon i n den Kindergarten geschickt werden kann, t r i t t die amerikanische Frau wieder v o l l ins Erwerbsleben ein. Der Prozentsatz der Berufstätigen ist viel größer bei den amerikanischen Frauen zwischen 35 und 55 Jahren als bei den 20- bis 30jährigen. Die Frau zwischen 45 und 55 Jahren ist i n Amerika durchweg berufstätig. M i t den Punktzahlen ist das so: Sie können jederzeit ihr Studium wieder aufnehmen, aber dann müssen sie, wenn sie nichts verlieren

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wollen, wieder auf dasselbe College oder auf dieselbe Universität gehen. Gehen sie woanders hin, dann werden ihnen immer nur 9 Punkte angerechnet. Sie müssen also praktisch wieder von vorn anfangen. Man muß immer 120 Punkte erreichen.

Rudolf Lenz (Gelsenkirchen): Herr Professor, ich habe drei Fragen: 1. Da die allgemeine Schulpflicht bis zu 16 Jahren geht und für mittellose Eltern sicherlich eine ziemliche Belastung ist — welche M i t t e l stellt der Staat ihnen zur Verfügung? Besteht bei Ihnen Lehrmittelfreiheit? 2. Bei der starken Mechanisierung und Automatisierung i n Ihrer Industrie — wie bilden Sie die Arbeitnehmer i n den Betrieben weiter, und wie schulen Sie evtl. durch die Automation freigesetzte Arbeitnehmer um? 3. Wie ist i n den USA das Verhältnis der Privatschulen zu den von den Staaten eingerichteten Schulen?

Prof. Dr. Friedrich Baerwald (New York): Die erste Frage läßt sich sehr leicht beantworten. A n den öffentlichen Schulen i n den Vereinigten Staaten, die von den Kommunen getragen werden, besteht absolute Lehrmittelfreiheit. Die Schulbücher werden von der Schule gestellt, sie brauchen nicht etwa von den Kindern selbst gekauft zu werden. Darüber hinaus, da es sich ja hier u m sogenannte Tagesheimschulen handelt, w i r d auch an die bedürftigen Kinder ein Mittagessen verabreicht. Das ist auch das einzige warme Essen, das diese Kinder bekommen. Dann betrachten sich ja Grundschule und auch Oberschule i n Amerika, anders als das vielleicht hier der Fall ist, als gemeinnützige Anstalten. Es gibt also sehr viele Elternabende; jede Schule hat einen Elternverein, der sehr oft tagt, und jede Schule hat auch eine Schulschwester sowie Lehrer, die für Beratungen freigestellt sind. Es w i r d sehr viel Sozialarbeit an den Schulen geleistet. Weiterhin können begabte Schüler zweifellos auch studieren, weil an allen Universitäten, ob sie nun öffentlich oder privat sind (die meisten sind privat), viele Stipendien aus Stiftungsmitteln vergeben werden. Das ist kein besonderes Problem.

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Die zweite Frage betraf die Berufsumschulung. Das ist vielleicht ein zu feierliches Wort. Der amerikanische Arbeitgeber geht sowieso meistens von der Voraussetzung aus, daß ein Arbeiter umgeschult, daß er i m Betrieb zu einer neuen Arbeit angelernt werden kann, wobei allerdings i n sehr mechanischer Weise angenommen wird, daß ein 40jähriger schon zu unbeweglich geworden ist, u m sich noch auf eine neue Arbeit einzustellen. Problematisch ist die Lage also für die Leute, die i n diesem Alter ihre Stelle verlieren. Ich habe i n Amerika sehr oft darauf hingewiesen, daß die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Deutschland M i t t e l für die Umschulung bereitstellt. Es hat aber Jahre gedauert, bis 1962 ein Bundesgesetz über die Umschulung von Leuten erlassen wurde, die durch Automation oder Stillegung von Industrien freigesetzt worden sind. Jetzt können sie aus Sondermitteln eine Umschulung erfahren. W i r haben allerdings festgestellt, daß ungeheure Verwaltungskosten dabei entstanden sind und daß die Ergebnisse bisher eigentlich außerordentlich unbefriedigend waren. Das Problem ist m. E. zu spät erkannt worden. Bei der Umschulung, die dann eingeleitet wurde, bestand kein rechtes Verhältnis mehr zwischen dem neuen Beruf, der erlernt wurde, und den Berufschancen, die sich ergaben. Die Vereinigten Staaten leiden ja darunter, daß die Arbeitsvermittlung i n Staaten aufgespalten ist. Es gibt keine Bundesbehörde wie hier, und deswegen funktioniert auch der Ausgleich zwischen Mangel- und Überschußgebieten am Arbeitsmarkt sehr schlecht. Man kann einen Arbeitslosen nicht zwingen, außerhalb seines alten Wohnplatzes eine Arbeit anzunehmen. Das sind furchtbare Selbstbeschränkungen. N u n zu Ihrer dritten Frage. Sie ist außerordentlich weitreichend, und ich kann sie leider hier nur ganz kurz behandeln — i m Verhältnis zu der Bedeutung, die sie hat. Tatsächlich herrscht eine gewisse Spaltung i m Erziehungswesen. Einerseits ist es ungeheuer demokratisch, jedem offen und m i t Lehrmittelfreiheit ausgestattet. Andererseits bestehen aber zwei parallele private Schulsysteme. Das erste ist das weitausgedehnte System der Konfessionsschulen. Sie sind überwiegend katholisch, aber es gibt auch lutherische und andere Schulen. Das System umfaßt Grundschulen und Oberschulen. Diese Anstalten müssen lOOprozentig aus privaten M i t t e l n gespeist werden, weil aufgrund der amerikanischen Verfassung keine Regierungsstelle eine konfessionelle Tätigkeit unterstützen darf (mit Ausnahme der Tatsache, daß diese Unternehmungen steuerfrei sind). I n den katholischen Grund- und Oberschulen und auch i n den Colleges und Universitäten w i r d eine große Anzahl von Schülern — ungefähr

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4 Millionen — unterrichtet. Aber man ist sich darüber klar, daß eine weitere Ausdehnung dieses Systems gar nicht in Frage kommt, weil einfach die M i t t e l dazu fehlen. Heute werden höchstens 50 v. H. der katholischen Kinder i n katholischen Grundschulen aufgenommen. Daneben gibt es eine ganz andere A r t von Privatschulen. Sie sind den englischen Public Schools nachgebildet. Diese englischen Public Schools (wörtlich: öffentliche Schulen) sind — das ist die wunderbare Unlogik der Engländer — reine Privatschulen. Die berühmtesten Beispiele sind Harrow und Eton. Auch i n Amerika gibt es ganz exklusive Privatschulen; dort heißen sie meistens „Preparatory Schools". Präsident Roosevelt zum Beispiel ist i n eine solche Privatschule gegangen, die von einem anglikanischen Geistlichen gerade gegründet worden war. Sie war so exklusiv, daß ehemalige Schüler ihre Söhne sofort nach der Geburt dort anmeldeten, damit sie später nur ja nicht abgewiesen wurden. Es gibt i n Amerika jetzt mehr und mehr Privatschulen, und zwar w e i l die weiße Bevölkerung — das ist leider Tatsache — i n Städten wie Washington, New York oder Philadelphia i n sehr starkem Maße ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen zurückzieht, seitdem diese auch für die Farbigen offen sind. Die Privatschulen nehmen alle möglichen Einschränkungen vor, sie existieren hauptsächlich für die Kinder der oberen Mittelklasse. (Eine ausgesprochene Oberklasse gibt es i n Amerika nicht, wohl aber eine obere Mittelklasse.) Diese Schulen sind z. T. pädagogisch ausgezeichnet. Sie verlieren nicht wie die allgemeinen Oberschulen durch Massenandrang an Niveau, und sie sind sehr ehrgeizig. Sie lancieren ihre Absolventen i n die Prestige-Universitäten, so daß von ihnen bereits entscheidende Einflüsse ausgehen, vor allem auf die Machtverhältnisse i n Amerika. Denn wenn ein K i n d i n solch einer Schule aufgenommen wird, dann ist es sozusagen auf dem Wege, i n eine dieser großen Universitäten hineinzukommen, deren Professoren und Absolventen einen Vorrang bei der Besetzung von Führungsstellen i n Wirtschaft, Rechtswesen und Regierung haben. Bei den großen Deklamationen, die man manchmal über das demokratische Schulwesen i n den Vereinigten Staaten und das undemokratische Schulwesen, z. B. Frankreichs, hört, bleibt die Tatsache stets unberücksichtigt, daß es ja zwei Schulsysteme gibt, das öffentliche und das private. Ernst Urban (Bad Kissingen): Herr Prof. Baerwald, Sie sagten, daß die amerikanischen Universitäten eine Auswahl aus den 100 wichtigsten Büchern zusammengestellt und diese zur Pflichtlektüre der Studenten gemacht haben. Vielleicht

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könnten Sie darauf noch etwas näher eingehen. Erstens kann ich m i r nur sehr schwer vorstellen, insbesondere bei schwierigen grundlegenden Werken, daß man sich aus einem Auszug schon ein B i l d des Gesamtwerkes machen kann; und zweitens, wonach erfolgt die Auswahl? Welches Werk w i r d als wichtig angesehen? Ich bestreite nicht, daß diese Zusammenstellung sehr nützlich sein kann. Aber wäre vielleicht i m Sinne der Bildung weniger hier nicht mehr? Wäre es nicht sinnvoller, lieber 20 Werke ganz durchzuarbeiten, als nur Auszüge aus 100 Werken zu lesen?

Prof. Dr. Friedrich Baerwald (New York): Es handelt sich hier nicht u m ein Lesebuch, wie w i r das z. B. auf dem Gymnasium gehabt haben, sondern tatsächlich u m 100 kleine Bücher, die jeweils Auszüge aus einem Werk enthalten. Wenn die jungen Studenten an die Universität kommen, müssen sie sich das ganze Paket kaufen und i n sehr kurzer Zeit beweisen, daß sie es auch wirklich gelesen haben. Wie w i r d das nun i n Amerika gemacht? Die Studenten werden von jungen Inspektoren, welche die Abteilungen der Klassen zu betreuen haben, einer Prüfung unterzogen. Es kommt hier also mehr auf die Quantität als auf die Qualität an. I n Amerika gibt es ein Institut, wo man Schnell-Lesen lernen kann — 1000 Worte i n einer Minute. Man sagt, daß Kennedy auch einen solchen Kursus mitgemacht habe. Er galt als ein Mann, der unglaublich viel i n kurzer Zeit lesen konnte. Ob aber bei dieser Methode immer alles verstanden wird, das ist natürlich eine ganz andere Frage. Ich habe ja betont, daß man sich i n Amerika sehr u m die Allgemeinbildung bemüht. Ob dieser Weg nun gerade ideal ist, weiß ich nicht. Sie müssen berücksichtigen, daß es sich eben auch an den guten Universitäten heute u m einen Massenerziehungsprozeß handelt. Ich möchte hier erwähnen, daß i m amerikanischen Fernsehen jeden Sonntagnachmittag ein Wettstreit zwischen verschiedenen Colleges stattfindet. Da werden i n rascher Folge die tollsten Fragen auf allen möglichen Gebieten gestellt und zum größten Teil ganz gut beantwortet. Aber das ist selbstverständlich eigentlich nicht Bildung, sondern Anhäufung von Wissen. Man vergißt oft, einen Unterschied zu machen zwischen dem Verstehen und der Beherrschung irgendwelcher Dinge. Immerhin muß man anerkennen, daß das Bestreben nach Bildung vorhanden ist.

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Diethard Wiencke (Espelkamp, Mittwald): Sie sprachen über die Lehrlingsausbildung, speziell i n den D r u k kereien und i m Baugewerbe, und i m Zusammenhang damit von dem außerordentlich großen Einfluß der amerikanischen Gewerkschaften. Nach Ihrer Meinung haben die amerikanischen Gewerkschaften hier ein Monopol, gegen das Sie sich gewandt haben. Ich habe allerdings nicht ganz verstanden, warum. I n meinen Augen sind die amerikanischen Gewerkschaften ein Kartell, das den M a r k t beeinflussen w i l l und dem es immerhin gelungen ist, bei steigender Automation und Mechanisierung Arbeitsplätze zu erhalten. Prof. Dr. Friedrich Baerwald (New York): Trotz der Gefahr, daß ich aus meinem Fachgebiet abgleite, w i l l ich Ihre Frage kurz beantworten. Sie müssen eine sehr starke Unterscheidung machen zwischen den Fachgewerkschaften und den Industriegewerkschaften. Sie sind zwar an der Spitze zusammengeschlossen, aber i n der Praxis besteht ein sehr großer Unterschied. Wenn ich das Wort Monopolisierung gebraucht habe, dann meinte ich das i n einem ganz speziellen Sinne, nämlich daß i n einigen stark durchorganisierten Zweigen der gewerblichen Wirtschaft i n Amerika (z. B. i m Druckerei- und i m Baugewerbe) die Gewerkschaft bestimmt, wer überhaupt Lehrling werden kann. Und dagegen wende ich mich. Ich bin nicht dafür, daß man das einer Organisation überläßt, vor allen Dingen nicht, wenn sich, wie es i n Amerika der Fall ist, gewisse Familiendynastien herausbilden. Ich b i n gar nicht dagegen, daß ein Sohn der Nachfolger seines Vaters i m Beruf oder i m Geschäft wird, aber die Einengung widerspricht den Grundsätzen der offenen Gesellschaft, die w i r doch irgendwie auch m i t der Demokratie identifizieren. Daß andererseits jede Gewerkschaft, ob das nun eine Industriegewerkschaft oder eine Fachgewerkschaft ist, auf dem Arbeitsmarkt einen monopolartigen Effekt hat, das ist ja ganz selbstverständlich. Den soll sie ja auch haben; denn wenn die Gewerkschaft nicht einen Lohn vereinbaren kann, der über dem des freien Marktes liegt, dann hat sie ja, wirtschaftlich gesehen, keinen Sinn. Ruth Gamb (Düsseldorf): Vielleicht kann man eine Erklärung für die Haltung der amerikanischen Gewerkschaften finden. Als i n Amerika die automatischen Setzmaschinen und die vollautomatischen Druckmaschinen ihren Ein-

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zug hielten, überfiel die Drucker und Setzer ein Grauen, und die Gewerkschaft sah sich gezwungen, aus Gründen des Schutzes ihrer Mitglieder eine A r t Monopol aufzubauen, um nicht eine größere Zahl von Lehrlingen i n diesem Beruf zuzulassen, als tatsächlich gebraucht wurden. Vielleicht werden auch w i r eines Tages an solchen Maßnahmen nicht ganz vorbeikommen. Sicherlich bedeutet dieses Zulassungsmonopol eine Einschränkung der freien Wahl des Arbeitsplatzes und des Berufes, auf der anderen Seite aber vielleicht eine sich aus der Marktsituation ergebende Lenkung des Arbeitskräftezustroms zu diesen Berufszweigen. Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): W i r müssen uns davor hüten, i n Diskussionen über Verhältnisse i n Ländern, die auch noch räumlich sehr weit von uns liegen und von denen w i r eigentlich nur gelegentlich durch Presse und Literatur etwas erfahren, unsere deutschen Vorstellungen hineinzuprojizieren. Ich habe i n meinen Vorlesungen schon öfter darauf hingewiesen, daß w i r bei Vergleichen etwa m i t den Vereinigten Staaten über Automatisierung nicht vergessen dürfen, daß Amerika ja gar nicht dieses historische Gepäck einer alten, bis ins einzelne ausgebauten Handwerksorganisation und eines differenzierten Lehrlingswesens kennt. Und darum hat Kollege Baerwald natürlich betont, daß es den Amerikanern auf eine möglichst breite Allgemeinbildung ankommt (die ja i m Unterschied zu unserem Land auch starke technisch-naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Einschläge hat), damit man eine Grundlage für gewisse Anlerntätigkeiten gewinnt, die m i t dem Wechsel der Produktionen zusammenhängen. Ich gebe i m übrigen der Kollegin Gamb darin recht, daß die gewerkschaftlichen Maßnahmen i m Bau- und Druckereigewerbe i n Amerika unter rein schutzpolitischen Gesichtspunkten evtl. zu sehen sind und daß auch w i r bei fortschreitender Rationalisierung und Automatisierung durchaus zu ähnlichen Maßnahmen kommen können. Herbert Schmidt (Bremen): Ich stimme m i t Ihrer Auffassung nicht überein, obwohl ich selbst Gewerkschaftssekretär bin. Ich glaube, es kann nicht angehen, daß eine Gewerkschaft den E i n t r i t t von Lehrlingen i n irgendeiner Form kontrolliert. Damit hat sie meiner Meinung nach nichts zu tun. Wenn es um Qualitätsmaßstäbe, u m Beschränkungen der Zahlen geht, dann ist das i n Ordnung. Aber es würde zu weit gehen, wenn die Gewerkschaft sagen kann: Der ist m i r genehm und der nicht!

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Prof. Dr. Friedrich Baerwald (New York): Ich möchte nochmals betonen, daß ich dieses Problem vom soziologischen Standpunkt aus betrachte. Selbstverständlich gibt es keine Gewerkschaftssatzung und keinen Tarifvertrag, worin steht, daß nur Söhne, Neffen, Freunde usw. von Gewerkschaftsmitgliedern Lehrlinge i n der oder der Branche werden können. Hier haben w i r wieder den Gegensatz zwischen der formalen und der realen Struktur. Ich spreche von dem, was tatsächlich geschieht. Das Bestreben, die Lehrlingszahlen i n gewissen Gewerben klein zu halten, ist natürlich nichts Neues; das haben w i r schon seit Jahrzehnten. Ein Beispiel erhellt vielleicht die Lage: I m Augenblick erscheinen i n der Stadt New York mit ihren 8 Millionen Einwohnern überhaupt nur noch drei Tageszeitungen. Drei andere Tageszeitungen mußten i m Juni ihr Erscheinen einstellen, weil sie den vorherigen Konkurrenzkampf einfach nicht durchhalten konnten, auch nicht als sie sich zusammenschlossen. Bei diesem Zusammenschluß erhob sich selbstverständlich der Streit, welche Angestellten der alten Zeitungen i n die neue übernommen werden sollten. Es ergab sich da ein Stellenverlust für 2000 Angestellte. Die Gewerkschaft wurde vor schwierige Entscheidungsprobleme gestellt. Sollte sie für eine stete Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Gehälter kämpfen oder u m die Arbeitsplätze? I n diesem Falle sind nun allerdings alle drei Betriebe geschlossen worden. Sie sehen, es gibt außerordentlich ernste Situationen. Hinsichtlich des Unterschiedes zwischen Theorie und Praxis möchte ich aber noch eines sagen: I n Amerika gibt es eine ungeheure Literatur akademischer, theoretischer A r t über das Tarifvertragswesen und über die A r t und Weise, wie man Tarifverträge abschließen soll. Es gibt Institute an Universitäten ,die sich nur m i t industrial relations, also m i t Fragen des Tarifvertragswesens, beschäftigen. Hier erfolgt eine sogenannte gezielte Ausbildung; junge Leute studieren hier zwei Jahre lang, wie man einen Tarifvertrag abschließt. Aber dann, wenn sie i n die Praxis hineinkommen, merken sie, daß letzten Endes der Präsident der Vereinigten Staaten den Lohn i n der Stahlindustrie festsetzt und daß das auch i n der Automobilindustrie der Fall ist und i n allen übrigen kritischen Industrien. Das sollte natürlich nicht so sein; der Lohn sollte von den Sozialpartnern ausgehandelt werden, aber das geschieht nicht. Ich habe i n meiner eigenen Lehrtätigkeit, die auch diese Fragen umfaßt, immer davon abgesehen, meinen Studenten diese ungeheure Literatur aufzuzwingen, weil Theorie und

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Praxis hier so auseinanderklaffen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie eine Überspezialisierung sich selbst widerlegen und völlig ohne Resultate bleiben kann. Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Ich nehme an, daß die Diskussionsfreudigkeit jetzt erschöpft ist. Allen, die an der Diskussion teilgenommen haben, und natürlich Ihnen, Herr Kollege Baerwald, möchte ich recht herzlich danken.

Diskussion zum Vortrag von Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen) Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Meine Damen und Herren! Ich denke, w i r werden den Vorschlag von Herrn Dr. Jenkner annehmen und ihn konkrete Fragen über das sowjetische Bildungswesen beantworten lassen. Wer möchte den Anfang machen?

Lorenz Kirmeier (Aschaffenburg): Herr Dr. Jenkner, ich hatte Gelegenheit, m i t einer Schülerin aus Ungarn zu sprechen. Sie sagte mir, daß an den ungarischen Höheren Schulen hauptsächlich Kinder von Funktionären sind, also nicht überwiegend Arbeiterkinder. Ferner würde mich interessieren, wie i n Rußland die Schulbildung aufgeteilt ist; i n Schweden sind das z. B. drei Stufen zu je drei Klassen. Könnten Sie dazu vielleicht etwas sagen?

Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft ist es i n den Ostblockländern tatsächlich so, daß von dem alten proletarischen Ideal nicht mehr allzuviel übriggeblieben ist. Das ist ja auch ganz selbstverständlich, denn diese alte proletarische Schicht ist sozusagen i n die Führungspositionen hineingewachsen. Verwunderlich scheint m i r eher, daß man i n verschiedenen Ländern gelegentlich versucht hat, wieder zu proletarischen Prinzipien zurückzukehren und die Auswahl nach der sozialen Herkunft zu bestimmen. Aber damit hat man eigentlich immer wieder Schiffbruch erlitten; es ist also nie gelungen. Typisch ist die Auflösung der Arbeiter- und Bauernfakultäten i n Mitteldeutschland, die ihren Zweck erfüllt haben und heute überholt sind. 16 Tagung Dortmund 1966

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Was speziell die Sowjetunion anbetrifft, so gibt es heute keinerlei soziale Beschränkungen mehr für die Aufnahme i n Höhere Schulen, und seit der Aufhebung der Sperre kommen natürlich auch wieder bevorzugt die Kinder i n die Höhere Schule und zur Universität, die vom Elternhaus her eine größere Starthilfe haben. W i r haben also drüben dasselbe Erscheinungsbild wie hier. Ihre zweite Frage betrifft den Aufbau des Schulwesens i n der Sowjetunion. Die Schulpflicht beträgt seit der großen Reform i m Jahre 1958 acht Jahre (vorher waren es nur sieben). Die Grundschule ist die 8klassige — wie es heißt — unvollständige polytechnische Mittelschule; darauf baut sich dann eine vollständige polytechnische Mittelschule auf. Diese umfaßte bis 1958 10 Jahre, wurde dann aber i m Zuge der Reform auf 11 Jahre verlängert und vor zwei Jahren wieder auf 10 Jahre reduziert. Sie schließt mit dem Reifezeugnis ab, also m i t der Berechtigung zum Universitätsstudium. Als Besonderheit ist zu vermerken, daß die Schüler i n den zwei Schuljahren, die über die Schulpflicht hinausgehen, zugleich mit dem A b i t u r eine berufliche Fachqualifikation erwerben müssen. Das ist eine Neuregelung seit der Reform von 1958, die das Ziel hatte, die polytechnische Erziehung i n der Schule wiederzubeleben. I n den 30er und 40er Jahren war die Mittelschule — also die Oberschule nach unseren Begriffen — ausschließlich darauf spezialisiert, die Schüler für das Universitätsstudium vorzubereiten. I m Zuge der zunehmenden Spezialisierung hatte man den ganzen polytechnischen Ballast über Bord geworfen. Jetzt ist man aber wieder darauf zurückgekommen. Dies Prinzip w i r d i n seiner ganzen Schärfe auch i n Mitteldeutschland durchgeführt, während die Entwicklung i n den anderen Ostblockstaaten längst nicht so krass war. Rumänien zwar hat das sowjetische Modell von 1958 ziemlich radikal übernommen, aber Ungarn und auch Polen waren sehr viel zurückhaltender. Die Tschechoslowakei wählte einen mittleren Weg; man übernahm wohl den polytechnischen Unterricht, ohne ihn allerdings allzu stark auf die Berufspraxis zu beziehen. Es scheint kein Zufall zu sein, daß gerade Ungarn und Polen das sowjetische Beispiel am wenigsten übernommen haben. Man wollte wohl — entsprechend dem national-kommunistischen Weg — nicht sklavisch dem sowjetischen Vorbild folgen. Ich habe keine neueren Nachrichten über Rumänien, aber ich vermute, daß man dort i n absehbarer Zeit aus ähnlichen Überlegungen heraus auch Änderungen treffen wird. Die Verbindung der Vorbereitung zum A b i t u r m i t einer Berufsausbildung geht i n verschiedenen Formen vor sich. So gibt es einmal den

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Weg über die polytechnische Mittelschule, wo die Schüler i n der traditionellen Form Ganztagsunterricht haben, und zwar ein Viertel davon (vor 1963 sogar ein Drittel) als Produktionsunterricht, also praktische Beufsausbildung. Ein anderer Weg, auf den immer stärkeres Gewicht gelegt wird, ist der, daß man nach der Grundschule i n einen Beruf geht und das A b i t u r durch Abend- oder Fernunterricht erwirbt. Mehr als die Hälfte der Abiturienten gehen heute schon diesen Weg. Eine dritte Möglichkeit besteht über technische Fachschulen, die auch — und das unterscheidet sie von unseren — alle durchlässig sind. Gleichzeitig m i t einer mittleren technischen Qualifikation vergeben sie das A b i t u r und ermöglichen damit das Universitätsstudium. Man kann also auf allen diesen Bildungswegen zum A b i t u r und zur Universität kommen. Das scheint m i r ein besonders wichtiges Merkmal i n allen Ostblockstaaten zu sein. Es ist eins der gemeinsamen Grundprinzipien. Für diejenigen, die nur acht Klassen absolvieren und dann i n die Praxis gehen, gibt es sogenannte technisch-berufliche Lehranstalten, die je nach dem angestrebten Beruf i n zwei- bis dreijährigen Kursen, z. T. auch als Abend- oder berufsbegleitende Schulen, eine bestimmte Qualifikation vermitteln. Dieses Berufsschulwesen, wie w i r es nennen würden, ist relativ unterentwickelt, so daß die Mehrzahl der jungen Leute i n der Produktion selbst ausgebildet wird. Es herrscht also ein ganz anderes System als bei uns. Die Berufsschule ist nicht verbindlich für alle; nur ein relativ kleiner Teil — etwa ein Viertel — erhält auf diesem Wege seine berufliche Ausbildung. Die anderen werden während der praktischen Arbeit i n Lehrbrigaden zusammengefaßt und nehmen an kurzfristigen Lehrgängen der allerverschiedensten A r t teil. Sie werden nicht i n dem Sinne ausgebildet, wie das bei uns der Fall ist. I n den Lehrbrigaden erwerben sie bestimmte abgestufte Qualifikationen, also des 5., 4., 3., 2. oder 1. Grades etwa. So können sie sich schrittweise i n immer neuen Lehrgängen verbessern.

Karl-Heinz Pradel (Wattenscheid): Meine Frage gilt dem, woran es uns am meisten mangelt, nämlich dem Geld. Ich nehme an, daß es i n den östlichen Ländern Lehrmittelund Schulgeldfreiheit gibt, aber wie sieht es mit der Lebenshaltung während der Schulzeit und während des Studiums aus? Gibt es Stipendien, und wie hoch sind sie? Müssen die Eltern zum Unterhalt der Studierenden beitragen? Wie sieht die finanzielle Lage der Studierenden aus? 16*

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Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Es besteht vollständige Schulgeld- und Lehrmittelfreiheit i n allen Ländern, soviel m i r bekannt ist. Vielleicht wissen einige von Ihnen, daß i n der Sowjetunion von 1940 bis 1956 auf der Oberschule und auf der Universität Schulgeld erhoben wurde; aber das ist wieder abgeschafft worden. Das Stipendienwesen ist sehr ausgebaut. Ich weiß nicht, wieviel Prozent der Studenten Stipendien erhalten, aber es ist ein sehr großer Teil, und zwar heute — jedenfalls gilt das für die Sowjetunion — ausschließlich nach Leistungsgesichtspunkten. Die Höhe des Stipendiums w i r d nach den Ergebnissen von Zwischenprüfungen bemessen, die während des Studienjahres stattfinden. Wenn man schlecht abschneidet, bekommt man ein geringeres Stipendium, als wenn man gut abschneidet. Die Stipendien sind für unsere Verhältnisse bescheiden. Ich war jetzt i n der Tschechoslowakei und habe mich dafür interessiert. Auch dort sind sie relativ niedrig, wenn man die allgemeine Kaufkraft betrachtet. Man muß aber berücksichtigen, daß die Studenten sehr b i l l i g leben können, w e i l sie zum großen Teil i n Studentenheimen wohnen, die nur eine minimale Anerkennungsgebühr — anders kann man das kaum bezeichnen — erheben. Auch das Essen i n der Mensa ist sehr billig. I n der Tschechoslowakei bemerkte ich allerdings die Einflüsse westlichen Lebensstandards. Die Studenten suchen sich dort Beschäftigungen, u m sich gewisse teure Dinge leisten zu können.

Willi Dahlhoff (Mayen): Sie sagten soeben, daß es i n den Ostblockstaaten verschiedene Wege zum A b i t u r gibt. Bestehen aber auch Möglichkeiten zum Hochschulstudium für einen Familienvater, der nur die Volksschule besucht und danach einen praktischen Beruf erlernt hat? Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Nein, der Weg zur Universität oder zu einer der zahlreichen Fachhochschulen führt über das Abitur. Aber es gibt Möglichkeiten, zum A b i t u r zu kommen, indem man z. B. i n eine Abendoberschule geht, auch wenn man i m fortgeschrittenen Alter steht. Natürlich ist das für den Familienvater sehr schwierig; das Fern- und Abendstudium ist überhaupt schwer. Die Ausfallquote war hier am Anfang, als man noch über wenig pädagogische Erfahrungen verfügte, erschreckend

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hoch. Man hat eigentlich — ich habe m i r das von Pädagogen sagen lassen — überhaupt noch keine eigene Erwachsenenpädagogik entwickelt. Wer m i t 20 oder mehr Jahren noch einmal auf die Schulbank zurückkehrt, w i r d dem Schullernbetrieb nochmals unterworfen, ähnlich wie das bei uns der Fall ist. Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Welche Bedeutung haben heute die i n der Sowjetunion bestehenden Fernlehrinstitute? Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Sie haben eine sehr große Bedeutung. Wie schon gesagt, etwa die Hälfte der Abiturienten geht aus dem Fern- und Abendunterricht hervor, wobei der Fernunterricht überwiegt. Fernstudium heißt, daß man den größten Teil des Jahres auf irgendeinem Arbeitsplatz steht und m i t der entsprechenden Schule, Universität oder Fachhochschule — jede Fachhochschule, jede Universität hat ihre eigene Fernlehrabteilung — schriftlich i n Verbindung steht. Es ist genau vorgeschrieben, wie viele Wochen i m Jahr man dann an das Institut geholt wird, u m i m Direktunterricht zu lernen. Dafür bekommt man aber einen vollbezahlten Bildungsurlaub. Da man m i t dem reinen Fernunterricht schlechte Erfahrungen gemacht hat, geht man jetzt dazu über, mehr und mehr zu kombinieren, so daß die Studierenden u. U. dann i m letzten Studienjahr völlig von der Arbeit freigestellt werden — bei Fortzahlung des vollen Gehaltes —, u m das Studium zu beenden und das Examen abzulegen. Da gibt es also eine vielfältige Form von Lehrgängen, je nach dem Charakter der einzelnen Berufe und der einzelnen Gebiete; i n der Landwirtschaft z. B. erfolgt das Studium i n der Winterzeit. Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Es ist für uns besonders interessant, das zu hören. Da w i r jetzt i n Deutschland ja auch eine sehr lebhafte Diskussion über Fernlehrinstitute, über Fernsehkollegs usw. haben. Das Bayerische Fernsehen entwickelt z. B. gerade das sog. Telekolleg als einen Versuchsballon. Lothar Bödecker (Dortmund): W i r leben heute i n einer Zeit der Antagonismen; w i r haben ein Konfessionsproblem, Amerika kennt sein Rassenproblem, und i m Weltmaßstab gibt es das sog. Ost-West-Problem. Diese Grundsätze sind so

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stark, daß sie zu Lebensfragen geworden sind, und es scheint mir, daß es aus dieser Situation nur einen Ausweg gibt, und zwar den der praktischen Ausübung der Toleranz. Toleranz sollte ein Bildungsideal sein, aber davon habe ich i n den Vorträgen, die hier bisher gehalten wurden, noch nichts gehört. Jeder weiß, wie es bei uns i n dieser Hinsicht aussieht. Ich möchte nun fragen: Wie ist es damit i m Osten bestellt? Hat man dort erkannt, daß dies eine Frage auf Leben und Tod ist, und hat man daraus Konsequenzen gezogen?

Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Ich habe über den ganzen Komplex der sittlichen Erziehung des kommunistischen Menschen, i n den diese Frage ja hineingestellt werden müßte, hier nicht gesprochen. Nur soviel: Toleranz i n dem Sinne, wie w i r sie auffassen, nämlich als Teil des Bildungsinhalts überhaupt, gibt es dort nicht. Man kann aber i n dem Zusammenhang sagen, daß die Völkerfreundschaft sehr betont wird, daß sie schon sehr früh den Kindern nahegelegt wird, und zwar i n einer — wie m i r scheint — ziemlich naiven Weise. Die Praxis, vor allem die der ausländischen Studierenden i n der Sowjetunion, zeigt den einigermaßen zweifelhaften Erfolg dieser Bemühungen. Zum moralischen Antlitz des kommunistischen Menschen — wie es immer so schön heißt — gehört aber auch etwas, das dem Toleranzgebot strikt widerspricht, nämlich der unversöhnliche Haß gegenüber allen Klassenfeinden der Sowjetunion. Es muß natürlich einschränkend gesagt werden, daß dieser Haß sich i n der Wirklichkeit wiederum so unversöhnlich nicht äußern kann; aus praktisch-politischen Gründen geht das nicht. Es ist da eine sehr pragmatische Wendung i n dieser Ideologie eingetreten, nämlich die Entwicklung der Koexistenz, ganz aus der nüchternen Einsicht, daß man zusammenleben muß, daß man die Weltrevolution gar nicht mehr machen kann, w e i l die atomare Gegenmacht gleichrangig ist und ein derartiges Abenteuer m i t dem Verlust oder m i t der Zerstörung auch des eigenen Systems enden würde. Hier sind die Sowjets sehr pragmatisch geworden, und daß es ihnen wirklich ernst ist, beweisen, glaube ich, die Auseinandersetzungen m i t den chinesischen Kommunisten, die ja gerade dieses Koexistenzdenken erbittert zurückweisen.

Rudolf Lenz (Gelsenkirchen): Die sozialistischen Staaten behaupten von sich, eine klassenlose Gesellschaft zu sein. Aber der Jugoslawe Djilas hat ja von der neuen herrschenden Klasse der Wirtschafts- und Parteifunktionäre gespro-

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chen. Hat diese neue Klasse schon ein gewisses Bildungsprivileg erobert? Schließt sie sich als Kaste ab? Welche besseren Möglichkeiten hat sie gegenüber der übrigen Bevölkerung?

Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Darüber ließe sich natürlich ein ganzes Referat halten. Bei der Vielschichtigkeit des Problems ist es schwierig, eine A n t w o r t i n aller Kürze zu geben. Vielleicht fange ich bei der Bildungsreform 1958 an. Sie wurde von Chruschtschow damit begründet, daß gewisse Kreise der Sowjetgesellschaft ihre Kinder von der praktischen Arbeit fernhielten, was dem kommunistischen Ideal widerspräche. Diese Begründung war das Ergebnis heftiger Diskussionen, die Mitte der 50er Jahre stattfanden, nachdem die Wiedereinführung des Schulgeldes eine gewisse soziale Auslese an den Oberschulen und an den Universitäten ergeben hatte. Minderbemittelte standen vor dieser Barriere, gerade i n der schlechten Nachkriegszeit, während die Kinder aus den Kreisen der Funktionäre und der Intelligenz größere Chancen hatten. Ob die praktische A r beit während der Schulzeit die beabsichtigten Früchte trägt, ist dennoch einigermaßen zweifelhaft. Sie w i r d von denen, die später eine akademische Laufbahn oder Intelligenzler-Tätigkeit aufnehmen, einfach i n Kauf genommen. Auf der anderen Seite hat man allerdings viele materielle Hilfen gegeben, damit die soziale Situation des Elternhauses keine Rolle mehr spielt. Von Bedeutung bleibt natürlich immer noch der B i l dungsstand des Elternhauses, die häusliche Atmosphäre, die den K i n dern gewisse Vorteile gibt, so wie w i r das hier ja auch haben. Man kann natürlich feststellen, daß es i n der Sowjetunion und i n anderen sozialistischen Ländern jetzt wieder Schichten gibt, die sich durch ihr soziales Prestige, durch ihr Einkommen, durch die A r t ihrer Tätigkeit von anderen sozialen Schichten unterscheiden. Ob man dafür den Klassenbegriff gebraucht, das hängt davon ab, wie man ihn definieren w i l l . Sicher ist, daß auch die Sowjetgesellschaft eine SchichtenGesellschaft geworden ist, wobei gerade das Bildungsniveau eine außerordentliche Rolle spielt. Insofern ist das Ideal der klassenlosen Gesellschaft nicht verwirklicht worden, wobei es aber zweifelhaft erscheint, ob es i n dem Sinne gemeint war, daß jeglicher soziale Unterschied verschwinden sollte. Die Frage ist nur, ob sich aus einer Schicht bestimmte Herrschaftsansprüche ableiten lassen, die dann politisch relevant werden. Erst dann kann man m. E. von einer Klassen-

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bildung sprechen. Und das scheint m i r hier etwas zweifelhaft zu sein. Natürlich haben Leute i n bestimmten Funktionen auch bestimmte Befugnisse. Die einen haben eben die Möglichkeit, Befehle zu erteilen, die anderen müssen diese Befehle akzeptieren. Aber ich glaube nicht, daß die Manager der sowjetischen Wirtschaft, die Intelligenzler i n den führenden Positionen schon eine selbständige Macht darstellen. Sie sind immer der gesamten sozialen Kontrolle ausgesetzt, und auch die sowjetischen Staatsangestellten werden stark kontrolliert, so daß ihr Status i m höchsten Grade unsicher ist. Sie können aus ihren Stellungen sehr schnell herausfliegen, die ganze soziale Stufenleiter, die sie mühsam hinaufgeklettert sind, m i t einem Schlage wieder herunterfallen. Das zeigen die periodischen Säuberungsaktionen, wie w i r sie augenblicklich i n Jugoslawien erleben. Das Bemühen dieser Schicht geht natürlich dahin, ihren Status zu sichern, aber es hat bisher noch zu keinem Erfolg, zu keinen w i r k l i chen Resultaten geführt. Die dienstliche Stellung der Staatsangestellten bis i n die höchste Stufe hinein ist also höchst unsicher. Und diese Unsicherheit scheint es m i r nicht zu gestatten, hier von einer Klasse i m traditionellen Sinne zu sprechen. Adolf Sander (Hannover): Es sei m i r gestattet, eine Bemerkung zu machen, ehe ich zu meiner Frage komme. Da w i r hier über Bildung und Ausbildung i n der Industriegesellschaft diskutieren, habe ich eigentlich auch einen Referenten aus dem Ostblock erwartet. Ich bedaure sehr, daß dies nicht möglich war, aber w i r haben ja gehört, welche Schwierigkeiten hier bestehen. Die Information über die Bildungsstrukturen und über die Bildungsinhalte, insbesondere i n Mitteldeutschland, sind i m H i n blick auf eine Wiedervereinigung für uns von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Aber Herr Dr. Jenkner hat es verstanden, uns nicht nur das Bildungssystem des Ostblocks zu schildern, sondern auch ein gewisses Verständnis dafür zu erwecken. Er hat darüber hinaus viele Probleme aufgezeigt, die Ost und West gemeinsam haben. Nun aber zu meiner Frage. Ist Ihnen bekannt, ob irgendein westeuropäisches Land auf dem Bildungssektor Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Ostblock verwertet? Dr. Siegfried Jenkner (Göttingen): Zur Beantwortung dieser Frage fühle ich mich nicht sehr kompetent. Das östliche Bildungswesen w i r d hier sehr eifrig studiert, i n

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Bochum z. B. von Prof. Auweiler, der ja als der Fachmann auf diesem Gebiete bei uns i n der Bundesrepublik angesehen werden kann. Hier und an verschiedenen anderen Stellen — i n Marburg z. B. auch — w i r d sehr intensiv gearbeitet. Direkt verwertet werden Ostblockerfahrungen aber eigentlich noch nicht. M i r ist auch nicht bekannt, daß das i n anderen Ländern der Fall wäre. Ich habe gehört, daß i n der Erwachsenenbildung die tschechoslowakische Sozialistische Akademie neuerdings sehr eng mit einschlägigen französischen Institutionen zusammenarbeitet. Außerdem haben die Tschechoslowaken jetzt Kontakt mit amerikanischen Universitäten und machen i m Rahmen der UNESCO gemeinsame Untersuchungen, empirische Erhebungen und Studien. Ich könnte m i r vorstellen, daß das sozusagen unter der Hand auch anderswo gemacht wird. Auch zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei bahnt sich eine gewisse Zusammenarbeit an. Aber inwieweit schon eine Zusammenarbeit praktische Auswirkungen hat, sowohl hüben wie drüben, das entzieht sich meiner Kenntnis. Prof. Dr. Franz Deus (Hattingen): Ich glaube, w i r sind am Ende der Diskussion. Das ist auch bei der Schwierigkeit des Themas und bei der fortgeschrittenen Zeit durchaus verständlich. Ihnen, Herr Kollege Jenkner, und allen Diskussionsteilnehmern, die hier mitgewirkt haben, meinen recht herzlichen Dank für die intensive Arbeit. Das w i l l schon etwas heißen, nach einem so ausgefüllten Tag wie dem heutigen noch eine solche Diskussion zu führen.

Diskussion zum Vortrag von Dr. Giacomo F. Maturi (Köln) Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund): Meine Damen und Herren! Herr Dr. M a t u r i hat uns i n sehr anschaulicher Weise die Situation der ausländischen Arbeitnehmer dargestellt. Dafür müssen w i r i h m dankbar sein, denn das, was w i r aus der Presse und aus manchen Publikationen bisher darüber erfahren haben, ist ziemlich unzulänglich. Neben den Problemen der Automatisierung, der Entwicklung der Atomenergie, der Großwirtschaft ist die Ausländerbeschäftigung ein Fragenkomplex von großer Bedeutung. Leider müssen w i r die Diskussion bis 12 Uhr beendet haben. Ich darf sie daher ohne weitere Vorrede sogleich eröffnen. Wer möchte das Wort haben? Dr. Erich Dudziak (Dortmund): Ich habe festgestellt, daß die ausländischen Arbeiter, insbesondere die Spanier, keinerlei Lust haben, die deutsche Sprache zu erlernen. W i r haben Sprachkurse vom Deutschen Gewerkschaftsbund eingerichtet, die nach kurzer Zeit einschliefen. Selbst als w i r nachher diese Stunden als Überstunden mit Lohnzuschlag bezahlt haben, wurden sie nicht ausgenutzt. W i r haben ferner eigene Arbeitnehmergruppen gebildet und den Ausländern, die hinreichend Deutsch verstanden, um die Anordnungen des Meisters auszuführen, die Vorarbeiterfunktion zugebilligt. Auch hier haben w i r festgestellt, daß der Wille zum Aufstieg, von einigen Ausnahmen abgesehen, recht gering ist. Es mag daran liegen, daß — i m Gegensatz zur Meinung des Referenten — fast alle ihren Aufenthalt i n Deutschland als nur kurzfristig ansehen. Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht, daß etwa die Hälfte der spanischen Arbeiter nach einem Jahr unseren Arbeitsplatz wieder verläßt. 25 v. H. gehen nach anderthalb Jahren, weitere 15 v. H. nach zwei Jahren; nur der Rest von etwa 10 v. H. bleibt länger als zwei Jahre bei uns. Selbst die Möglichkeit, als Erstmann oder Vorarbeiter eine Neubauwohnung oder — wenn gewünscht — eine billige ältere Wohnung zu erhalten, hat den Drang zu höheren Arbeitsplätzen nicht gesteigert.

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Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund): Vielen Dank für Ihren Beitrag, Herr Dr. Dudziak. Als Angehöriger eines namhaften Unternehmens haben Sie bereits Erfahrungen sammeln können. Vielleicht nimmt Herr Dr. M a t u r i gleich hierzu Stellung. Dr. Giacomo F. Maturi (Köln): Ich möchte die Erfahrungen von Herrn Dr. Dudziak i n dem Sinne bestätigen, daß, wenn der Sprachunterricht als isolierte Ausbildungsoder Bildungsmaßnahme aufgefaßt wird, meistens ein sehr geringer Erfolg festzustellen ist. Wenn dagegen der Sprachunterricht i m Rahmen der systematischen Bildung und Ausbildung dieser Leute erfolgt, dann trägt er auch Früchte. Ein praktisches Beispiel: I n K ö l n hat das Jugendsozialwerk i n Zusammenarbeit mit mehreren Firmen i m vergangenen Jahr nicht weniger als 100 Sprachkurse für Ausländer abgehalten, und zwar für gemischte Ausländergruppen. Diese Gruppen wurden auch nach dem Bildungsniveau differenziert; es gab Kurse für Anfänger, Kurse für Fortgeschrittene, Kurse für Hilfsdolmetscher. A n diesen 100 Kursen haben 2300 ausländische Arbeiter teilgenommen, und von diesen haben 1380 den Abschluß erreicht. I n bezug auf die Frage der Fluktuation ist es m i r nicht ganz klar, ob Sie nur von einer rein betrieblichen Fluktuation sprechen oder von einer Fluktuation von Deutschland nach Spanien. Die offiziellen Statistiken besagen, daß mindestens 30 v. H. der ausländischen Arbeiter über drei Jahre i m Bundesgebiet beschäftigt sind. Bei diesen Zahlen der Bundesanstalt muß man noch berücksichtigen, daß viele Ausländer, die weniger als drei Jahre i n Deutschland waren, unter Umständen zum zweiten, ja auch zum dritten Male nach Deutschland kommen. Daraus ergibt sich, daß i n Wirklichkeit weit mehr als 30 v. H. über drei Jahre i m Bundesgebiet tätig sind. Die Bereitschaft, gebotene Chancen wahrzunehmen, hängt m. E. sehr davon ab, ob diese Chancen i n der richtigen Form geboten werden. Eine große Firma i n K ö l n hat z. B. 100 Ausländern, die für eine Meisterausbildung vorgesehen waren, deren Schulbildung aber nicht ganz ausreichte, die Möglichkeit geboten, einen Ergänzungskursus mitzumachen. Das Interesse für diesen Kursus war enorm. Ich habe selber gestaunt, m i t welcher Beständigkeit, welchem Fleiß diese ausländischen Arbeiter hier mitgearbeitet haben. Natürlich muß man immer mit einem gewissen Prozentsatz an Versagern rechnen. Man sollte aber vor allem Gruppen bilden, die an der Ausbildung tatsächlich interessiert sind und die ein gleiches

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Bildungsniveau haben. Ferner muß die Ausbildung gezielt und auch richtig beschränkt werden, d. h. man muß die Kurse auf 8 Wochen, 12 Wochen begrenzen und dann zu einem Abschluß kommen. Später kann man dann sehen, ob und wie es weitergeht. Wenn man diese Aspekte berücksichtigt, ist m. E. die Mutlosigkeit, die aus Ihren Worten klang, nicht ganz berechtigt. Man muß sich natürlich von vornherein vor Augen halten, daß nur eine Elite (ich schätze 20 v. H.) der ausländischen Arbeiter für echte Ausbildungsmaßnahmen empfänglich ist. Aber unsere Gesellschaft ist ja so stark differenziert, daß w i r nicht nur Facharbeiter, nicht nur Meister, sondern auch Leute brauchen, die die allerletzten Arbeitsplätze besetzen. Dr. Erich Dudziak (Dortmund): Die Ausbildung sollte vor allem arbeitsplatzbezogen, betriebsbezogen sein. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund): I n dieser Hinsicht geschieht eine ganze Menge, das kann ich aufgrund meiner eigenen Untersuchungen sagen. Ich möchte hier die psychologischen Eignungsdienste erwähnen, die sich ganz besonders u m die Feststellung spezifischer Eignung bemühen. Es hat sich bei uns i n der Bundesrepublik herumgesprochen, daß beispielsweise die Italiener sich besonders gut für Gruppenarbeit, für Präzisionsarbeit eignen, während die Spanier mehr Einzelgänger sind, die aber auch sehr verantwortungsbewußt, sehr selbständig arbeiten. Ernst Urban (Bad Kissingen): Verschiedene Länder, wie z. B. Spanien oder Italien, industrialisieren sehr stark. Ich nehme nun an, daß die Rückwanderer, die m i t Industrieerfahrung aus Deutschland kommen, i n diesen Ländern größere Chancen haben als ihre Landsleute, die nicht i m Ausland waren. Kann dies dazu führen, daß die inländische Industrie deshalb darauf verzichtet, größere Ausbildungsvorhaben durchzuführen, weil sie ihren Bedarf an geeigneten Fachkräften durch die Rückwanderer decken kann? Dr. Giacomo F. M a t u r i (Köln): Ich habe schon gesagt, daß ich diese Hoffnung — von Einzelfällen abgesehen — für illusorisch halte. Die ausländischen Arbeiter, die meistens nicht aus den Industriegebieten kommen, hegen bei ihrer

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Rückkehr nicht den Wunsch, als Sizilianer etwa i n Mailand oder T u r i n tätig zu sein. Sie wollen i n ihre Heimat. Und wenn sie schon den Zug besteigen und nach dem Norden fahren, dann berechnen sie ihre Chancen sehr genau. Dabei stellen sie dann fest, daß sie i n Norditalien weniger verdienen und nicht die gleiche Betreuung vorfinden wie i n K ö l n oder i n Dortmund, und dann bleiben sie i m Zug und fahren bis Köln. Ich habe da Erfahrungen gemacht mit einer Gruppe von 30 Mann, die von einer Automobilfirma hier i n Deutschland i m Frühjahr 1963 geschlossen zu F I A T gezogen ist. Die Leute schrieben zwei Monate später, daß sie auf den Knien hierher kommen würden, nicht weil sie bei F I A T schlecht behandelt würden, sondern weil das Leben für sie dort teurer war als hier i n Deutschland, wo sie i n einem Wohnheim der Firma gelebt und derartige Betreuungshilfen erhalten hatten, daß sie fast ihren gesamten Lohn nach Hause schicken konnten. Rudolf Lenz (Gelsenkirchen): Herr Dr. Maturi, ich möchte drei Fragen an Sie richten: 1. Wie beurteilen die ausländischen Arbeitnehmer ihre Ausbildung i n den deutschen Unternehmen? 2. Ist nicht die Bildung bzw. die Schulbildung mehr Sache des abgebenden Landes, während es Sache des aufnehmenden Landes ist, für die Ausbildung am Arbeitsplatz und die Eingliederung i n die neue Gesellschaft zu sorgen? Was t u n die abgebenden Länder hinsichtlich der Schulbildung? 3. Ist die i n unseren Städten oft zu beobachtende Gruppenbildung der ausländischen Arbeitnehmer nicht darauf zurückzuführen, daß diese Arbeitnehmer sich ganz bewußt abkapseln, daß ihnen die Bereitschaft fehlt, sich m i t den deutschen Verhältnissen, m i t der deutschen Sprache vertraut zu machen? Dr. Giacomo F. Maturi (Köln): Zu der ersten Frage, wie die Ausländer ihre Ausbildung i n deutschen Betrieben beurteilen, möchte ich sagen: Es ist ganz klar, daß diejenigen ausländischen Arbeiter, die sehr geringe Voraussetzungen mitbringen, nicht imstande sind, die Chancen richtig einzuschätzen und wahrzunehmen. Aber wie schon erwähnt, gibt es einen Prozentsatz, eine Gruppe von mindestens 20 v. H., die bewußt danach strebt, so lebhaft wie möglich am Leben des deutschen Betriebes teilzunehmen, mitzuwirken, Verantwortimg zu tragen. Ich möchte sogar sagen,

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es gibt eine ganze Reihe von Ausländern, die darunter leiden, daß unter den Deutschen eine gewisse Reserve herrscht und daß man auch einem tüchtigen, gut ausgebildeten Ausländer lieber einen mäßigen Deutschen vorzieht. Das soll nicht als Vorwurf aufgefaßt werden, aber das kommt aus der Einstellung gegenüber allem, was fremd ist. A u f jeden Fall schätzt diese Gruppe von Ausländern die Möglichkeit sehr, Erfahrungen i n deutschen Betrieben zu sammeln oder eine Ausbildung zu genießen. Dieser Vorteil w i r d sehr oft sogar überschätzt, man glaubt, nun weiß Gott was i n der Heimat anfangen zu können. Zur zweiten Frage: Tatsächlich versäumen die Herkunftsländer i n bezug auf die Schulbildung viel. Und ich möchte dafür plädieren — ich habe das auch schon an anderer Stelle getan —, daß die Regierung der Bundesrepublik Deutschland bei der Formulierung oder Revidierung von Anwerbevereinbarungen die Forderung stellt, daß die Arbeiter besser ausgewählt, besser ausgebildet werden und daß man sogar für bestimmte Gruppen schon i n der Heimat mit dem Sprachunterricht des Landes, für das sie vorgesehen sind, beginnt. Hier i n Deutschland haben w i r i m Fernsehen die Sendung „Benvenuti i n Italia", also einen Italienisch-Kursus für Deutsche, Französisch-Kurse usw. Ich finde, daß die Italiener, Spanier oder Griechen noch viel mehr Grund haben, so etwas zu machen, denn bei ihnen handelt es sich ja nicht darum, Touristen 100 Worte Italienisch, Spanisch oder Griechisch für den Urlaub beizubringen, es handelt sich wirklich u m das Schicksal von Millionen von Landsleuten. Ich kann m i r durchaus vorstellen, daß mit Kursen über Rundfunk und Fernsehen, wenn sie i n der richtigen Form gebracht werden, ein gewisser Erfolg zu erzielen ist. Man sollte vor allem, wie ich schon sagte, die Einstellung gegenüber der Auswanderung verbessern. Wenn eine Katastrophe i n der Schweiz oder i n Belgien passiert, bei der Hunderte von italienischen Arbeitern i n Mitleidenschaft gezogen sind, dann geht eine Welle des Mitleids durch ganz Italien. Aber man sollte diese Auswanderer nicht nur bemitleiden, sondern auch achten. Schließlich schicken sie eine ganze Menge Geld nach Hause und gleichen, indem sie unsere Währung hoch halten, das aus, was i m Lande u. U. schlecht gemacht wird. Ich bin unbedingt dafür, daß die Abgabeländer viel mehr tun. Sie haben die Möglichkeit dazu. Ein italienischer Journalist hat vor kurzem einen großen A r t i k e l geschrieben, worin er feststellte, daß die italienische Regierung, die ein Auswanderungsbüro i m Außenministerium unterhält, budgetmäßig nicht einmal 1,50 D M für jeden auswandernden Italiener i m Jahr ausgibt. Das ist eine Schande, kann man nur sagen, wenn man das mit dem vergleicht, was jeder Auswanderer nach Hause schickt.

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Und nun zum dritten Punkt — der fehlenden Bereitschaft. Diese fehlt vor allem bei den Leuten, die die Zusammenhänge nicht erfassen. Deshalb ist es sehr wichtig, die Leute i n das Betriebsleben und i n das Gesellschaftsleben richtig einzuführen, und nicht so, wie es oft i n deutschen Betrieben geschieht. Das sage ich aus eigener Erfahrung, wenngleich m i t einem gewissen Verständnis wegen der raschen A n werbung, Vermittlung und Einstellung dieser Leute. Man telefoniert z. B. m i t Istanbul oder m i t Athen: Morgen 50 Leute! Jawohl! Alles i n Ordnung! Sie werden vom Bahnhof abgeholt. Und dann fragt man sich: Ja, wo brauchen w i r eigentlich Leute? 10 i m Preßwerk, 20 i n der Montage, 10 i n der Reinigung — i n Ordnung! Also die ersten 10 i n die Reinigung, die z w e i t e n . . . So kann man aber m. E. keine Leute einstellen! Und so kann man auch nicht Interesse erwecken. Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund): W i r danken Herrn Dr. M a t u r i sehr für seine freimütigen Äußerungen. Ich möchte auch unterstreichen, daß die entsendenden Länder mehr t u n müßten. Umgekehrt kann man sagen (ich konnte das bei meinen praktischen Untersuchungen feststellen, u. a. auch bei Ford, wo ich einmal etwa 5 Monate war), daß w i r i n unseren Betrieben äußerst geschickte Italiener und Spanier antreffen, die sich i n die kniffligsten Arbeitsgänge eingearbeitet haben. Manfred Gommert (Frankfurt): Sie haben i n Ihrem Vortrag, Herr Dr. Maturi, die erforderlichen Maßnahmen aufgezeigt, aber leider fehlen uns zur Durchführung vieler dieser Maßnahmen die entsprechenden Lehrkräfte. Der Staat, die Gewerkschaften und auch die Wirtschaft haben nicht die erforderlichen Leute zur Verfügung. M i r ist bekannt, daß die Ford-Werke sich moderner Ausbildungs- und Lehrmethoden bedienen. Ich möchte daher fragen, ob Sie schon Erfahrungen m i t programmierter Unterweisung der ausländischen Arbeitskräfte haben. Ich denke insbesondere an Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und ähnliche Dinge, wo sich ja immerhin visuelle Hilfsmittel anbieten. Dr. Giacomo F. Maturi (Köln): W i r haben zwar ein großangelegtes Programm für die Einführung, Bildung und Ausbildung von Ausländern, aber ohne Verwendung von programmierten Lehrtechniken.

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Prof. Dr. Herbert Scholz (Dortmund): Es tut m i r leid, die Diskussion jetzt schließen zu müssen. Zum Abschluß hat der holländische Generalinspecteur, Herr Goote, noch einmal um das Wort gebeten. M. Goote (Den Haag): Ich muß leider heute noch nach Holland zurück. Aber bevor ich gehe, möchte ich Ihnen doch sagen, wie sehr ich mich gefreut habe, diese Tagung miterleben zu können. Ich bin schon auf vielen internationalen Konferenzen gewesen, aber ich glaube kaum, daß eine Tagung so gut war wie diese. Das ist nicht nur ein Kompliment, das ist die Wahrheit. Wenn ich auch hier über Bildung und Ausbildung gesprochen habe, so bilde ich m i r doch nicht ein, alles davon zu wissen, sondern ich muß selbst noch lernen und mich weiterbilden. Die zwei Pole unseres Lebens, von denen ich gesprochen habe, sind Einsicht und Aussicht. Bildung und Ausbildung eröffnen uns die Aussicht, daß w i r einmal freie Menschen werden. Was ist denn Freiheit? W i r wollen immer frei von anderen Menschen sein, aber ich meine, die wirkliche Freiheit bedeutet, frei zu werden vom eigenen Ich, und dann finden w i r die Zeit, auch an andere zu denken. Das ist vielleicht das letzte Ziel von Bildung und Ausbildung. Ich danke allen herzlich, die dazu beigetragen haben, diese Tagung angenehm zu machen. Ich kehre m i t den besten Erinnerungen an diese Tagung nach Holland zurück. Leben Sie wohl und auf Wiedersehen!

I I I . Zusammenfassung der Tagungsergebnisse

Zusammenfassung der Tagungsergebnisse Von Prof. Helmut Duvernell, Sozialakademie Dortmund Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die diesjährige Internationale Tagung der Sozialakademie Dortmund hat sich mit einem Thema beschäftigt, das — wie w i r gesehen haben — überall auf der Welt diskutiert w i r d und das wie kein zweites aktuell ist. W i r haben es gewählt, weil unsere Akademie als Arbeiterbildungsstätte i m besonderen ein Ort ist, an dem das Verhältnis von Bildung und Ausbildung i n seiner modernen Bedeutung klar wird. Ich habe i n meinen Begrüßungsworten bereits meiner Freude darüber Ausdruck gegeben, daß es uns auch i n diesem Jahr wieder gelungen ist, hervorragende Referenten für unsere Tagung zu gewinnen. Die hier gehaltenen Vorträge waren vielseitig und zeigten eine Fülle von Aspekten zum Thema auf. I m Gegensatz zu den Erfahrungen früherer Tagungen fiel jedoch die weitgehende Übereinstimmung i n den Auffassungen ins Auge, vor allem i m Grundsätzlichen. Diese Übereinstimmung hat es m i r leicht gemacht, nach Ergebnissen dieser Tagung zu suchen. Ich möchte i m folgenden nun zunächst die wichtigsten Gesichtspunkte, die hier hervorgetreten sind, i n Form von 8 Thesen aufzeigen, um sie hernach noch einmal mit den entscheidenden Argumenten zu untermauern, die unsere Referenten gebracht haben: 1. Bildung und Ausbildung erscheinen als die entscheidende Grundlage für die zukünftige Entwicklung aller Staaten. Sowohl die bedeutenden Industrienationen als auch die kleinen Staaten und die Entwicklungsländer sind sich i n dieser Erkenntnis einig. Die wirtschaftliche und die politische Vormachtstellung der mächtigen Länder sind das Ergebnis ihrer technologischen Überlegenheit und des entsprechenden Angebots an gebildeten und ausgebildeten Arbeitskräften. 2. Die moderne industrielle Gesellschaft — Ziel aller Staaten der Erde — ist eine Leistungsgesellschaft, gekennzeichnet durch Mobilität und Universalität. I n ihr darf die Bildung nicht elitär sein. Sie muß vielmehr möglichst vielen ein — wie Herr Minister Mikat es ausgedrückt hat — begabungsakzentuiertes Angebot unterbreiten, u m möglichst alle Talente i n dieser Gesellschaft fruchtbar zu machen. 17*

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3. Bildung und Ausbildung müssen zeitnahe sein. Sie dürfen nicht an vergangenen Idealen orientiert werden, sondern müssen auf die moderne Gesellschaft zugeschnitten sein. 4. Bildung kann i n unserer Zeit nur noch verstanden werden als eine permanente Aufgabe für jedermann, als ein den Fluß der Entwicklung ständig begleitendes Bemühen u m Wissen und Verstehen. 5. Die Lebensfähigkeit der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, i n der alle das gemeinsame Geschick mitgestalten, ist daran geknüpft, daß die Bürger dieser Gesellschaft durch Bildung und Ausbildung so mündig werden, daß sie die Probleme ihrer Zeit verstehen können und politische Entscheidungen mitverantworten wollen. 6. Die Trennung von Bildung und Ausbildung ist überholt. Bildung und Ausbildung sind keine Alternativen mehr, sondern sich konkret bedingende Faktoren. Die Grenze zwischen beiden ist fließend geworden. 7. Die Bildungskonzeptionen von Ost und West stimmen trotz formaler Übernahme der Marx-Engelsschen Bildungskonzeption i m Osten weitgehend überein. Die Entfaltung des Menschen kann i n allen Industriegesellschaften nicht losgelöst von der modernen Arbeitswelt erfolgen. 8. A m Problem der Entwicklungsländer w i r d deutlich, daß Bildung und Ausbildung keine Aufgabe nach der Lösung sozialer Fragen sind, sondern die Voraussetzung für die Lösung dieser Fragen überhaupt. Die Not der Entwicklungsländer und die sich daraus möglicherweise ergebenden Gefahren begründen auch i m Bereich der Bildungspolitik die Notwendigkeit der internationalen Solidarität. Welche Argumente wurden nun zur Unterstützung dieser einzelnen Thesen vorgebracht? Betrachtet man den von allen Referenten als selbstverständlich vorausgesetzten Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, Lebensstandard und gesellschaftlichem Niveau, so war hier zunächst die Frage zu stellen, i n welchem Ausmaß die wirtschaftliche Entwicklung von der Bildung abhängig ist. Aus dem Referat von Dr. Kummer aus Wien konnten w i r entnehmen, daß nach amerikanischen Untersuchungen etwa zwei D r i t t e l der Wachstumsrate des Sozialprodukts nicht auf den vermehrten Einsatz von Arbeit und Kapital plus Boden zurückzuführen sind, sondern auf den technischen Fortschritt, d. h. auf die Qualität der Arbeit, die ihrerseits von der Schulung und Bildung der Arbeitskräfte abhängt. Ebenso wie Dr. Kummer wies Herr Lowell aus England darauf hin, daß der Kampf auf den Weltmärkten heute m i t

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geistigen Waffen geführt, d. h. durch die Erfolge von Wissenschaft und Forschung entschieden wird. Lowell führte das Absinken der britischen Vormachtstellung eindeutig auf den Verlust an technischer Überlegenheit zurück. Er zeigte noch einen anderen interessanten Gesichtspunkt auf, der für die Entfaltung und den Erfolg einer Gesellschaft von großer Wichtigkeit ist: die Bedeutung einer heute vielfach fehlenden modernen Staatsverwaltung , i n der Menschen m i t einer fundierten lebensnahen Bildung Erfolge vorausberechnen und nicht dem Zufall überlassen. Professor Baerwald aus Amerika unterstrich diesen Gedanken, als er von Kennedy sprach, der mit seiner Person unter Beweis gestellt habe, wie ein gut ausgebildeter Absolvent einer amerikanischen Universität große Aufgaben bewältigen kann. Gerade i n seinem Referat wurde deutlich, wie sehr der wirtschaftliche Erfolg, aber auch die soziale Sicherheit einer Gesellschaft vom Entwicklungsstand der Technik und dem Angebot an entsprechend gebildeten und ausgebildeten Kräften abhängen. Kultusminister Prof. Dr. Mikat, der dankenswerterweise das Eröffnungsreferat hielt, hält es für erforderlich, daß 40 v. H. unseres Landeshaushalts i n Bildungsaufgaben investiert werden — selbst bei Konsumverzicht; und Prof. Rest erinnerte daran, daß die Rückständigkeit i m deutschen Schulwesen, insbesondere aber i n der Lehrerbildung, schon heute zu einem Nachhinken unseres Landes hinter den westlichen Kulturnationen geführt hat. Er konstatierte die größte Reformbedürftigkeit i n der Volks- und Berufsschule. Prof. Grappin aus Paris unterstützte die These von der Bildung als Grundlage der modernen Gesellschaft schließlich noch m i t einem weiteren Argument: Die stärker werdenden internationalen Verflechtungen, so sagte er, verlangen mehr als bisher umfassende Bildung und eine sich ständig verbessernde berufliche Ausbildung. Die unter These 2 herausgestellte Stellung der Bildung i n einer Leistungsgesellschaft wurde von Prof. Mikat eindeutig unter dem Gesichtspunkt der zeitbedingten Entwicklung gesehen. Nicht die früher übliche Identifizierung von Besitz und Bildung, sondern eine an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientierte Bildungspolitik, die das ganze Volk umfaßt — Demokratisierung der Bildung und Förderung der Begabten —, ist zeitgemäß. Prof. Mikat stellte eine Reihe von konkreten Forderungen auf: Anhebung des Bildungsstandes, mehr höhere Abschlüsse, Erzielung eines Höchstmaßes an Leistungen, individuelle Förderung, ein durchlässigeres Bildungssystem und neue weiterführende Formen von B i l dungseinrichtungen, um alle Begabungsreserven auszuschöpfen.

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Diese Forderung nach Mobilisierung aller Begabungsreserven wurde ganz energisch unterstützt von Herrn Dr. von Beckerath aus Leverkusen, der aus der Sicht des Arbeitgebers heraus auf den zunehmenden Bedarf an ausgebildeten und besser ausgebildeten Kräften hinwies. Er bezeichnete die Industrie als den größten Bildungsraum der Gesellschaft, i n dem die These gilt, daß die Forschung von heute der Umsatz von morgen ist. Der Betrieb sei Symbol und M i t t e l für die Mobilität unserer Gesellschaft. Als stellvertretender Vorsitzender des DGB betonte indessen Herr Tacke, daß die unerschlossenen Begabungsreserven i n der Bundesrepublik immer noch ein Problem ersten Ranges seien. I n den letzten 70 Jahren ist der Prozentsatz studierender Arbeiterkinder hier nur von 0,1 auf 5,9 v. H. gestiegen. Höhere Schulen und Universität seien für viele Arbeiterfamilien immer noch „fremde Welten", i n die sie „nicht hineingehörten". Herr Tacke hielt insbesondere auch eine Reform der deutschen Volksschule für notwendig, aus der noch 70 v. H. aller Kinder entlassen werden. Sie entspreche noch der Gesellschaftsstruktur des vorigen Jahrhunderts und vergebe keinerlei weiterführende Berechtigungen. Prof. Korlen aus Schweden war i n der glücklichen Lage, darauf hinzuweisen, daß einige dieser Forderungen i n seinem Lande bereits verwirklicht sind. Schweden befindet sich seit über 20 Jahren i n einem ununterbrochenen Prozeß der Bildungsexpansion. Prof. Korlen unterstrich besonders die i m schwedischen Schulsystem herrschende doppelte Zielsetzung ausbildungspolitischer und sozialpolitischer A r t , die dazu geführt hat, daß die schwedischen Kinder heute acht Schuljahre lang zusammenbleiben. Allen Kindern werden während dieser Zeit zwei Fremdsprachen geboten. Die Anhebung des allgemeinen Bildungsstandes ist i n Schweden heute schon so weit gediehen, daß allen Kindern ohne Rücksicht auf ihre soziale oder regionale Herkunft eine der alten neunjährigen Realschule entsprechende Bildung gewährt wird. Die Notwendigkeit einer sozialpolitischen Bildung wurde besonders von Prof. Grappin unterstrichen. Generalinspecteur Goote berichtete, daß man auch i n den Niederlanden die bestehenden Bildungseinrichtungen für unzureichend hält und dabei ist, neue Formen einzuführen, die vor allem die alte Klassenaufteilung des Schulwesens — Gymnasium, höhere Bürgerschule, Volksschule für die Arbeiter — beseitigt. Jedes K i n d soll nach der heutigen holländischen Auffassung sowohl zu ökonomischer als auch zu psychologischer Selbständigkeit geführt und auf seine Aufgaben i n der modernen Gesellschaft vorbereitet werden. Von Prof. Baerwald hörten w i r über die Anhebung des Niveaus der amerikanischen Schule. Amerikanische Jugendliche, die keine weiter-

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führenden Schulen besuchen, haben heute keine Chancen i n Aufstiegsberufen mehr. Der Grad der Bildung steht, wie man i n wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellt hat, i n einem direkten Verhältnis zu den Einkommenserwartungen. M i t These 3 — dem modernen Bildungsideal — beschäftigte sich insbesondere Herr Lowell, der die Abschaffung des humanistischen Gymnasiums, der humanistischen Universität und der rein akademischen Bildung forderte. Das Ergebnis dieser A r t von überholter Bildung, so sagte er, seien vom Leben distanzierte Menschen, die i m praktischen, wirtschaftlichen und politischen Leben nichts vollbrächten, obwohl man sie für die höchsten Staatsämter für geeignet hielte. Herr Lowell unterstützte die Forderung des englischen Nationalökonomen Robbins nach neuen Erziehungsstätten, die quantitativ und qualitativ Universitätscharakter haben, aber spezialisiert sind. Diese Hochschulen sollen nicht auf bestimmte Berufsarten, sondern auf das Lebensnotwendige abgestellt sein. Eine für alle Zeiten und alle Räume gültige Ausbildung, erklärte der englische Referent, gibt es nicht. Nicht ganz so kraß äußerte sich Prof. Korlen. Immerhin sind i n Schweden die alten Sprachen sehr eingeschränkt worden. Bereits seit 1906 kann man i n diesem Land ohne Lateinkenntnisse Medizin und Jura studieren. Die Frage des humanistischen Gymnasiums und seiner notwendigen Neuorientierung klang auch i n den Referaten von Prof. Mikat, Prof. Grappin und Herrn Goote an, während Prof. Rest für die Bundesrepublik vor allem eine Neukonzeption der Volksschuloberstufe forderte. Besonderes Gewicht auf eine zeitnahe Ausbildung legte natürlich Herr von Beckerath als Vertreter der Wirtschaft. Die Dynamik der Wirtschaft, so sagte er, bedingt heute immer schnellere Veränderungen, und daher gilt es, Fähigkeiten bereitzuhalten für Lösungen und Aufgaben, die laufend neu entstehen. Er forderte eine möglichst breite Ausbildung als Grundlage für den Umgang m i t einem immer komplizierter werdenden Instrumentarium, während Herr Tacke die Notwendigkeit einer stärkeren Anpassung der schulischen und betrieblichen Bildung an die veränderten Berufsinhalte und Berufsbilder sowie die Notwendigkeit einer Berufsforschung hervorhob. Zu These 4 hob Kultusminister M i k a t besonders hervor, daß B i l dung nicht etwas sein kann, das an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten abgeleistet wird. Prof. Grappin wies auf die ständig wachsenden Anstrengungen hin, die diese permanente Aufgabe, sich zu bilden, dem Menschen heute auferlegt. Er schloß daraus, daß i n Zukunft die Verteilung Bildung — Beruf anders ausfallen müsse als heute, d. h. daß die Jugendlichen nicht zu früh beruflich tätig werden

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sollen, wie auch daß die Berufstätigen Möglichkeiten zu ständiger Weiterbildung brauchen. Die außerordentliche Bedeutung der Erwachsenenbildung kam auch i n den Referaten von Prof. Rest, Herrn Lowell und Prof. Korlen zum Ausdruck. Herr Lowell und Prof. Korlen gaben eindrucksvolle Beispiele für die Möglichkeiten auf diesem Gebiet. Prof. Baerwald sprach sogar von der „Kulturexplosion", die i n Amerika nach dem Sputnik-Schock erfolgte und die sich i n Riesenauflagen allgemeinbildender und wissenschaftlicher Taschenbücher, starkem Absatz an Schallplatten m i t klassischer Musik, zahlreichen Zimmertheatern und kulturellen Veranstaltungen manifestiert. Vom „lebenslangen Lernen" war auch i m Referat von Herrn Tacke die Rede. Der moderne Mensch, so sagte er, müsse mehr bildungsbedingte Fähigkeiten erwerben als seine Vorfahren, und er müsse sich darüber hinaus als Erwachsener ständig weiterbilden. Nicht Prüfungen und Zeugnisse seien entscheidend, sondern die geistige Fähigkeit, Aufgaben selbständig zu meistern. Die Notwendigkeit der Erwachsenen-Weiterbildung unterstrich auch Herr von Beckerath aus seinem Erfahrungsbereich heraus. Er ging noch besonders auf die Weiterbildung der Führungskräfte ein, denen neben dem Wissen auch personale Bildungshilfen gegeben würden. Die Bedeutung der Bildung für die demokratische Gesellschaft — These Nr. 5 — wurde ebenfalls von Prof. Baerwald, aber auch von Prof. Mikat, Herrn Goote, Dr. Kummer und Prof. Rest hervorgehoben. I n Amerika, so führte Prof. Baerwald aus, war Erziehung von Anfang an immer zugleich Erziehung zum rechten Verhalten i n der Gesellschaft, d. h. i n der offenen demokratischen Gesellschaft. Auch i n Europa w i r d heute die Notwendigkeit einer solchen Erziehung bejaht. Demokratie und Bildung bedingen einander, so drückte es hier beispielsweise Dr. Kummer aus. Prof. Rest brachte noch ein besonderes Argument. Ein Mensch, so sagte er, der i n unserem Zeitalter nicht abseits stehen w i l l , ist gehalten, sich ständig weiterzubilden, u m nicht ein Opfer der gewaltigen Informationsmittel zu werden, die alle irgendwie gesteuert sind und denen gegenüber man stets mündig, d. h. „gebildet" und „gut ausgebildet", bleiben muß. I n den beiden Schlußreferaten kam zum Ausdruck, daß auch die Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer diese Bedeutung der Bildung für den Bestand des Staates durchaus sehen. Herr von Beckerath sprach von der gesellschaftspolitischen Funktion des Betriebes, der nicht nur den tüchtigen Fachmann, sondern zugleich den wertvollen Mitmenschen heranbilden müsse. Die moderne Wirtschaft, so konstatierte er, fördere die Demokratisierung der Gesellschaft, weil sie auf Erschließung aller Begabungen dränge. Herr Tacke hielt die

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staatsbürgerliche Bildung für ebenso wichtig wie die berufliche oder allgemeine Bildung, wenn nicht sogar angesichts der weltpolitischen Situation für vorrangig. Er verwies auf den großen Umfang der staatsbürgerlichen Bildung innerhalb der gewerkschaftlichen Schulungsarbeit. Ein besonders interessanter Punkt der Tagung — These Nr. 6 —, i n dem sich übrigens die Meinungen der Referenten nicht völlig deckten, war das Verhältnis von Bildung zu Ausbildung . Während Herr Lowell aus England einer starken Spezialisierung auf der Hochschule das Wort redete, praktische Tätigkeit unmittelbar nach der Schule, kürzere Studien und möglichst frühe Eingliederung der jungen Menschen i n die Berufswelt forderte — er sprach vom „gezielten Ausbildungsprozeß" —, stellte Prof. Mikat den Freiheitsraum heraus, der i m Zeitalter der zunehmenden Spezialisierung notwendig sei, „wenn w i r nicht zu Robotern werden wollen". Der Prozeß der Spezialisierung, so sagte Prof. Mikat, sollte möglichst spät beginnen. Je länger ein Mensch vom Speziellen unbelastet sei, desto souveräner würde er. Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Gesellschaft verpflichte uns, die Zeitspanne möglichst lang zu halten, i n der der einzelne noch nicht funktional auf das Spezielle hingerichtet sei. Zur Berufswelt gehöre auch das geistige Vermögen, zu überstehen. Die Mehrzahl der Referenten sah jedoch i n Bildung und Ausbildung keine Alternative mehr. Trotz des schwedischen Schlagwortes von der „Ausbildungsgesellschaft" wurde i m Referat von Prof. Korlen nur zu deutlich, wie sehr hier die Bildung i m Vordergrund steht. Das kam besonders i n dem von i h m angeführten Zitat zum Ausdruck, daß es „Nützlicheres gibt als das, was nützlich ist". I n Frankreich w i r d laut Prof. Grappin seit Jahren die Frage diskutiert, ob Fachausbildung allein für eine volle Entwicklung der Persönlichkeit ausreichend ist. Dr. Kummer wies auf die erhöhten A n forderungen hin, die an den modernen Menschen gestellt werden, die i h m mehr Leistung, aber auch mehr Bildung abverlangen, und Prof. Rest stellte fest, daß die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung heute eigentlich nur noch i n Deutschland und Rußland gemacht wird, obwohl beide praktisch schon ineinander überfließen. I n Holland geht man i n den Höheren Schulen dazu über, die Skala der Examensfächer zugunsten einer Vertiefung einzuschränken, während umgekehrt die technischen Lehranstalten nach dem neuen niederländischen Schulgesetz i n ihrem Unterricht nicht nur Verständnis für die Technik, sondern auch für die sozialen und allgemeinen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wecken sollen. Prof. Mikat hob schließlich noch hervor, daß Bildung ohne Ausbildung heute unmöglich ist, da

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der Gebildete nur über seine Leistung gesellschaftlich i n Erscheinung treten kann. Ausbildung ohne Bildung wäre aber gefährlich, denn die Zukunft der Gesellschaft als Ganzes könne nicht garantiert werden durch Abrichtung hochqualifizierter Leute ohne ethische Handlungsbezüge. Dieser Gesichtspunkt wurde auch bei Herrn von Beckerath deutlich, als er von der erzieherischen Aufgabe sprach, die jede industrielle Ausbildung mitbeinhalte. Es soll sich hier keinesfalls u m Vermittlung rein fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten zum alleinigen Zweck der ökonomischen Nutzung handeln, sondern um die Schulung des Denkens und der Einsichtsfähigkeit i n die Zusammenhänge der arbeitsteiligen Wirtschaft, damit der Mensch die technisch-ökonomische Welt begreift, i n der er lebt und die i h m am eindringlichsten am Arbeitsplatz gegenübertritt. Ebenso betonte Herr Tacke die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Bildung und Ausbildung als Voraussetzung für das Bestehen des Menschen i n unserer technischen Welt. Als besonders aufschlußreich erwies sich i m Hinblick auf die hierzulande nicht allzu bekannte Bildungsproblematik des Ostens das Referat von Dr. Jenkner, der uns die unter These 7 konstatierte Übereinstimmung der westlichen und der östlichen Bildungskonzeption darlegte. Das Ideal des unspezialisierten, allseitig entwickelten Individuums hat sich i n unserer industriellen Wirklichkeit nicht aufrechterhalten lassen. Die Analyse des technischen Fortschrittes hat i n Ost und West die gleichen Ergebnisse gezeigt: Tendenzen sowohl zur Nivellierung und Austauschbarkeit von Tätigkeiten als auch zur stärkeren Spezialisierung. Man spricht von der neuen Universalität des Arbeiters, nicht i m Sinne einer Aufhebung der Arbeitsteilung, sondern einer geistigen Aufwertung und breiteren Profilierung spezialisierter Tätigkeiten. So setzt die Berufsausbildung heute i n Ost und West mehr Bildung voraus, worunter i m Osten allerdings vorwiegend polytechnische Bildung verstanden wird. Immerhin w i r d auch i m Westen i n der breiten Ausbildung durchaus ein Faktor der Bildung gesehen. „Bildung als ein Geschenk der Ausbildung", wie es hier Prof. Rest formuliert hat. Die weltweite Bedeutung des Bildungsproblems kam wohl am besten i n den Vorträgen von Dr. M a t u r i und Dr. Hagedorn zum Ausdruck. Dr. Maturi befaßte sich mit den Bildungs- und Ausbildungsproblemen ausländischer Arbeitnehmer. Er wies darauf hin, daß die meisten zur Zeit hier tätigen ausländischen Arbeitnehmer ungelernte A r beiter und vielfach sogar Analphabeten seien. Sie könnten daher zunächst nur als Hilfsarbeiter eingesetzt werden. Da die modernen

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Industrieländer aber i n immer stärkerem Maße qualifizierte Arbeitskräfte benötigten, werde die Forderung nach Bildung und Ausbildung auch für die ausländischen Arbeitnehmer zu einem vordringlichen Problem. Dr. Maturi zeigte jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten auf, die einer erfolgversprechenden Ausbildung ausländischer Arbeitnehmer zur Zeit noch entgegenstehen. Das Haupterschwernis sieht er i n der starken Fluktuation zwischen Aufnahmeland und Heimatland. Ausbildungsmaßnahmen könnten nur bei einer entsprechend langen Beschäftigungsdauer durchgeführt werden. Die für die Ausbildung erforderlichen M i t t e l würden sich sonst nicht rentieren. Die Bildung selbst müßte nach Dr. M a t u r i bereits schon i m Heimatland einsetzen, und zwar i n der Schule beginnen und anschließend durch Kurse — vor allem Unterricht i n der Sprache des Gastlandes — fortgesetzt werden. Die für Bildung und Ausbildung erforderlichen Maßnahmen sollten zwischen Abgabe- und Annahmeländern stärker koordiniert werden, als es bisher der Fall gewesen wäre. Demgegenüber sprach Dr. Hagedorn über die Situation der Entwicklungsländer. Seine Zahlenangaben überzeugten uns eindrucksvoll von der Richtigkeit der unter Ziffer 8 angeführten These, daß soziale Probleme heute durch Bildungs- und Ausbildungskampagnen gelöst werden müssen, und zwar m i t energischer Hilfe der westlichen industriellen Welt. Kapitalhilfen allein nützen den Entwicklungsländern nichts. Sie haben, wie Dr. Hagedorn berichtete, i n den vergangenen Jahren oft noch nicht einmal die Handelsverluste dieser Länder gedeckt. Notwendig sind Bildungsinvestitionen, u m i n all diesen Staaten Menschen heranzubilden, die befähigt sind, unüberwindbar scheinende Schwierigkeiten zu meistern. Mangelndes Wissen verhindert heute nicht nur die Nutzung der Naturkräfte, sondern auch einen rationellen Ackerbau, die Bekämpfung von Krankheiten und die Errichtung von ausreichenden Arbeitsplätzen. Es hat sich herausgestellt, daß der wirtschaftliche Entwicklungsgrad m i t dem Bildungsniveau Hand i n Hand geht, ein Pro-Kopf-Einkommen von 500 Dollar jährlich ist nur dann zu erreichen, wenn 90 v. H. der Bevölkerung i n den Genuß von Bildung und Ausbildung kommen. Augenblicklich liegt jedoch die Zahl der Analphabeten i n A f r i k a und i n den arabischen Staaten bei etwa 80 v. H., i n Ozeanien bei 55 v. H., i n Amerika dagegen verzeichnet man knapp 20 v. H. und i n Europa 3 bis 7 v. H. Das größte Problem bildet die ungeheure Ungerechtigkeit, die darin liegt, daß die Not so ungleich verteilt ist. Man kann, so sagte Herr Dr. Hagedorn, unterscheiden zwischen Menschen, die Geschichte machen, und solchen, die Geschichte erleiden. Hieraus ergibt sich eine permanente Bedrohung für die zivilisierte Welt, Gefahren, die nicht mehr

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aus den Auseinandersetzungen u m nationale Interessen entstehen, sondern aus dem Gegensatz arm und reich. Nur wenn w i r bereit sind, auf dem Felde der Wirtschaftshilfe und der Bildungshilfe den Grundsatz der internationalen Solidarität walten zu lassen und wirksame Opfer zu bringen, w i r d es auf die Dauer möglich sein, eine friedliche Welt zu entwickeln. Diese Welt w i r d bestimmt sein vom Menschenbild, das sich die jeweilige Gesellschaft macht. Die Tagung hat bewiesen, daß ein gedanklich konstruiertes, rein theoretisches Menschenbild nicht ausreicht. So ideal auch das klassisch-humanistische B i l d vom Menschen ist, es läßt sich nicht für alle Zeiten erhalten. Denn der Mensch steht i m Leben und bleibt auf das Leben bezogen. Das Leben ist aber nicht konstant, sondern befindet sich i n einer fortlaufenden Entwicklung und Veränderung. So hat jedes Jahrhundert sein i h m gemäßes Menschenbild. Das industrielle Zeitalter verlangt einen anderen Menschen als das handwerkliche und agrarwirtschaftliche. Ausbildung t r i t t immer mehr i n den Vordergrund. Prof. Korlen sprach, wie schon gesagt, von der Ausbildungsgesellschaft — und Herr Lowell wies darauf hin, daß an die Stelle der Allgemeinbildung immer mehr ein gezielter Ausbildungsprozeß trete. Man w i r d aber nicht übersehen dürfen, daß Bildung nicht durch Ausbildung ersetzt werden kann. Das wurde besonders deutlich i n den Ausführungen von Prof. Mikat, als er davon sprach, daß auch die Beschäftigung mit dem scheinbar Nutzlosen notwendig ist — vor allem für die Menschen, die Führungspositionen i n der Gesellschaft einnehmen. Es wäre eines tieferen Studiums wert gewesen festzustellen, was der Nutzen einer Bildung ist, die dem zeitgemäßen Menschenbild gerecht w i r d : Warum der Mensch gebildet sein soll — oder besser — sein sollte. Hier am Ende der Tagung kann nur m i t wenigen Worten darauf eingegangen werden. Bildung von Menschen — nicht i n einem materiellen, sondern i n einem ideellen Verständnis — ist nur dann sinnvoll, wenn sie bestrebt und geeignet ist, den einzelnen Menschen zu seiner Selbstverwirklichung zu führen — wie es z. B. Fichte verstanden hat m i t seinem Postulat: Werde, was D u bist! W i r d Bildung so verstanden, dann ist sie nur scheinbar nutzlos, auch wenn sie sich nicht unmittelbar i n materiellen Gütern niederschlägt; sie ist vielmehr von höchstem Nutzen, weil sie dem Sinn menschlicher Existenz dient, ja ein menschliches Leben erst möglich macht. So w i r d auch die Ausbildungsgesellschaft ohne Allgemeinbildung nicht auskommen, wenn sie überleben w i l l . Eine solche Bildung kann und muß unter Umständen sogar geplant oder gezielt sein — sie darf

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nur nicht bei der reinen Spezialisierung enden. Diese Erkenntnis greift bei allen Völkern immer mehr durch. Die Referate unserer Tagung sind dafür ein Beweis. Das sachgerechte Denken führt zum Abbau ideologischer Verhärtungen und gibt den Weg frei zu einem neuen Menschenbild, das die Verschiedenheit der Völker und der Menschen zurücktreten läßt und das verbindende Gemeinsame hervorhebt: die gegenseitige Achtung vor der individuellen Würde eines jeden Menschen.