Bildung - Eindruck und Ausdruck der Religion: Eine systematische Analyse von Schleiermachers Bildungsverständnis aus fundamentalethischer Perspektive. Dissertationsschrift 9783161597480, 9783161597497, 3161597486

Dass Bildung und Religion zusammengehören, ist begründungsbedürftig geworden. Vielfach scheint Religion als ein altertüm

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion
1.1 Die Bildungsbedürftigkeit der Religion
1.2 Die religiöse Dimension der Bildung
1.3 Die kritische und normative Dimension von Bildung
1.4 Ziel und Vorgehen der Studie
I Die Bedeutung von Bildung in Schleiermachers Verständnis von Sein und dessen Gegebenheitsweise im Gefühl
2 Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung
3 Sein und Bildung
3.1 Der höchste Gegensatz im Sein
3.1.1 Der Gegenstandsbezug von »Natur« und »Vernunft«
3.1.2 Die verschiedenen Formen des Geeinigtseins
3.1.3 Die unterschiedlichen Grade des Geeinigtseins
3.2 Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein
3.3 Bildung innerhalb des Seins
4 Gefühl und Bildung
4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls
4.1.1 »Leibliches« und »sittliches« Gefühl
4.1.2 »Religiöses« Gefühl
4.1.3 Die einheitliche Grundgestalt des Gefühls
4.1.4 Das Verhältnis von Gefühl und Wissen
4.1.5 Das Verhältnis von Gefühl und Transzendenz
4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls
4.2.1 Das »Andeuten« des religiösen Gefühls
4.2.2 Das »Ahnden« des religiösen Gefühls
4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre
4.3.1 In der Ethik
4.3.2 In den Reden
4.3.3 In der Einleitung der Glaubenslehre
5 Fazit: Sein und Gefühl unter der Bestimmung von Bildung
5.1 Gefühl und Sein
5.2 Bildung als Bestimmung des Seins
5.3 Bildung als Bestimmung des Gefühls
II Gebildetes Menschsein und die Bedeutung der Religion
6 Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion
7 Gebildetes Zusammenleben
7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter
7.1.1 Das Vorgebildetsein der Güter
7.1.1.1 Das ursprüngliche Organisiertsein
7.1.1.2 Das ursprüngliche Symbolisiertsein
7.1.2 Die Interaktionsformen der Güter
7.1.2.1 Die Interaktionsformen des Organisierens
7.1.2.2 Die Interaktionsformen des Symbolisierens
7.1.3 Das organisierende Zentrum der Güter
7.1.3.1 Schleiermachers Verständnis der Tugend
7.1.3.2 Schleiermachers Lehre vom »Gemeingeist«
7.1.4 Der ursprüngliche Richtungssinn der Güter
7.1.4.1 Der Richtungssinn des Organisierens
7.1.4.2 Der Richtungssinn des Symbolisierens
7.1.5 Kritische Analyse von Schleiermachers Konstruktion der Güterlehre
7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung
7.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung
7.2.1.1 Ausdifferenzierung des Organisierens
7.2.1.2 Ausdifferenzierung des Symbolisierens
7.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten
7.2.2.1 Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des übertragbaren Handelns
7.2.2.2 Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des individuellen Handelns
7.2.2.3 Der Gemeingeist der Gesamtgesellschaft
7.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs
7.2.3.1 Der Transzendenzverweis sozialer Gebilde
7.2.3.2 Der Wahrheitsausdruck sozialer Gebilde
8 Gebildeter Mensch
8.1 Die Bedingungen für die Bildung des einzelnen Menschen
8.1.1 Das individuelle Bestimmtsein des Menschen durch Temperament, Talent und Neigung
8.1.2 Die übertragbaren Handlungsvermögen des Menschen: Leibeskräfte, Sprachsinn und Gesichtssinn
8.1.3 Das organisierende Zentrum des Bildens: Gesinnung und Gemeingeist
8.1.3.1 Die Gesinnung als Liebe und Weisheit
8.1.3.2 Der Gemeingeist als Sinn und Geist des Ganzen
8.1.4 Der ursprüngliche Richtungssinn: Die Bestimmung des einzelnen Menschen
8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung
8.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung
8.2.1.1 Der Gesichtssinn und seine Bildung
8.2.1.2 Der Sprachsinn und seine Bildung
8.2.1.3 Die Glieder des Leibes und ihre Bildung
8.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten
8.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs
8.2.3.1 Der Transzendenzverweis individuellen Lebens
8.2.3.2 Der Wahrheitsausdruck individuellen Lebens
9 Gebildete Erziehung
9.1 Die Bedingungen pädagogischer Hilfestellung
9.1.1 Der vorgegebene Prozess und seine Bestimmung
9.1.2 Die Grundformen pädagogischen Handelns
9.1.3 Die Gesinnung des Lehrers und die Sitte der Gesellschaft
9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung
9.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung der Hilfestellung
9.2.1.1 Verfeinerungen des pädagogischen Handelns
9.2.1.2 Die Ausdifferenzierung der Schularten und die Rolle des Staates
9.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten
9.2.2.1 Die Förderung der Berufs- und Rechtsfähigkeit
9.2.2.2 Die Förderung der Liebesfähigkeit und der Bildung des Gewissens
9.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs: Transzendenzverweis und Wahrheitsausdruck der Erziehung
9.3 Güterspezifische Hilfestellungen bei der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft
10 Schluss: Die gegenwärtige Relevanz von Schleiermachers Bildungsverständnis
10.1 Vielheit ohne Einheit – ein Problem im Diskurs um Bildung und Kompetenzen
10.2 Der antwortende Charakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension
10.3 Der Symbolcharakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension
10.4 Impulse von Schleiermachers Bildungsverständnis für die Gestaltung von Schule
Literaturverzeichnis
1. Quellen und Hilfsmittel
2. Sekundärliteratur
Register
1. Personenregister
2. Sachregister
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Bildung - Eindruck und Ausdruck der Religion: Eine systematische Analyse von Schleiermachers Bildungsverständnis aus fundamentalethischer Perspektive. Dissertationsschrift
 9783161597480, 9783161597497, 3161597486

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Dogmatik in der Moderne herausgegeben von

Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel

33

Georg Hardecker

Bildung – Eindruck und Ausdruck der Religion Eine systematische Analyse von Schleiermachers Bildungsverständnis aus fundamentalethischer Perspektive

Mohr Siebeck

Georg Hardecker, geboren 1985; 2006 – 2013 Studium der Ev. Theologie; 2017 Promotion; 2017 – 2019 Vikariat in Kornwestheim; seit 2019 Pfarrer in Merklingen bei Weil der Stadt.

ISBN 978-3-16-159748-0 / eISBN 978-3-16-159749-7 DOI 10.1628/978-3-16-159749-7 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Für Svenja

Vorwort

Am Anfang der Studie stand die Frage, in welcher Hinsicht ein eigenes Profil von Schulen in evangelischer Trägerschaft zu erwarten ist und wie ein solches genau aussehen kann. Wenn der christliche Glaube tatsächlich ein eigenes Verständnis der Wirklichkeit umfasst, dann sollte auch ein christlicher Begriff gebildet werden können von dem, was »Bildung« genannt wird, und ebenso ein eigenes Profil christlicher Bildungsarbeit. Schleiermacher war für diese Frage deswegen besonders interessant, weil er nicht nur die wissenschaftliche Disziplin der Pädagogik mitbegründete, sondern auch ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit skizziert hatte, das dem Phänomen der Bildung große Bedeutung einräumte. Die innere Systematik dieser verschiedenen Kontexte seiner Rede von Bildung war dabei aber noch nirgends ausreichend gründlich herausgearbeitet; und ebenso war die Bedeutung der – jeweils geschichtlich gewordenen – Religion innerhalb seines Bildungsverständnisses nicht befriedigend dargestellt. In dieser Hinsicht möchte die vorliegende Studie einen Beitrag leisten, und damit auch auf die Potentiale einer christlich fundierten und profilierten Bildungsarbeit hinweisen. Vieles auf dem Weg von der bloßen Idee zum Forschungsgegenstand bis zum fertigen Buch lag gar nicht in meiner Hand, vieles konnte ich nur empfangen – darüber freue ich mich und dafür möchte ich herzlich danken. Zunächst gilt mein Dank Frau Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt, die die Betreuung übernommen und mich auf sehr angenehme, freundliche und humorvolle Art begleitet hat und mir in den entscheidenden Momenten mit Rat und Tat zur Seite stand. Ebenfalls möchte ich mich bei den Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Doktoranden-Kolloquium bedanken, für das Mitdenken und überhaupt für das wohlwollende Miteinander am ganzen Lehrstuhl. Es gab eine ganze Reihe an theologischen Weggefährten, mit denen das Diskutieren und Denken große Freude gemacht hat: Ein großer Dank an Dr. Christian König und Dr. Katharina Gutekunst für den Austausch und die gründliche Lektüre von Entwürfen und Kapiteln: Das Spezialistentum einer Dissertation über Schleiermacher ist nur erträglich, wenn man Gleichgesinnte findet. Pfr. Dr. Jeremias Gollnau, Jörg Birkenmaier und Angelika Klenke möchte ich ebenfalls herzlich danken für das ausdauernde theologische Gespräch an vielen schönen Abenden. Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel danke ich sehr herzlich für die Erstellung des Zweitgutachtens, sowie für die vielen gedanklichen Anregungen, die er mir durch Vorlesungen und Artikel gab, ohne davon zu wissen.

VIII

Vorwort

Herrn Prof. Dr. Eilert Herms danke ich dafür, dass er meine Begeisterung an der Theologie befeuert hat durch seine Leidenschaft und gedankliche Klarheit, und dass er mir so manche Beschreibung der Wirklichkeit lieferte, nach der ich lange auf der Suche war. Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Schweitzer und Prof. Dr. Wolfgang Ilg danke ich für die Möglichkeit zur Mitarbeit im Forschungsprojekt zur Konfirmandenarbeit. Die Arbeit hat mir große Freude bereitet und war hinsichtlich der Einsichten in die Praxis empirischer Forschung lehrreich und bereichernd. Die Veröffentlichung der vorliegenden Studie war auch Dank großzügiger Druckkostenzuschüsse möglich: Ich danke dafür herzlich der württembergischen Landeskirche, und ebenso der Schleiermacher-Stiftung, die mich an dieser Stelle unkompliziert und entgegenkommend unterstützt haben. Meinen Eltern und meiner lieben Oma Berta gilt ebenfalls ein herzlicher Dank für ihren privaten Druckkostenzuschuss. Für die freundliche und kompetente Betreuung durch den Verlag danke ich Frau Elena Müller und Dr. Katharina Gutekunst, sowie Tobias Stäbler und Bettina Gade. Bei den Schlusskorrekturen konnte ich mich auf die wertvolle und akribische Unterstützung durch Herrn stud. theol. Mattis Oetelshofen verlassen: herzlichen Dank. Die vorliegende Studie erscheint in der Reihe »Dogmatik in der Moderne«, worüber ich mich außerordentlich freue; deswegen geht mein Dank an die Herausgeber Prof. Dr. Christian Danz, Prof. Dr. Jörg Dierken, Prof. Dr. Hans-Peter Großhans und Prof. Dr. Friederike Nüssel. Ich bin meinen Eltern, Silvia und Karl Hardecker, sehr dankbar dafür, dass sie mein wissenschaftliches Interesse und Forschen stets bedingungslos unterstützt haben: Ein großer Segen! Meiner Frau Svenja danke ich ebenfalls: Sie konnte nie verstehen, was mich so sehr an Schleiermacher und seinem Denken reizte, hat mich aber dennoch unterstützt und immer wieder auch für erfrischenden und erholsamen Abstand gesorgt. Weil die Liebe ihre Kraft aus der richtigen Mischung an Vertrautheit und Fremdheit schöpft, widme ich ihr dieses Buch. Weil der Stadt – Merklingen, im August 2020

Georg Hardecker

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1

I

Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion 1.1 Die Bildungsbedürftigkeit der Religion . . . . . . . . 1.2 Die religiöse Dimension der Bildung . . . . . . . . . 1.3 Die kritische und normative Dimension von Bildung 1.4 Ziel und Vorgehen der Studie . . . . . . . . . . . . .

VII

. . . .

1 4 8 14 18

Die Bedeutung von Bildung in Schleiermachers Verständnis von Sein und dessen Gegebenheitsweise im Gefühl

23

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

2

Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung

3

Sein und Bildung 3.1 Der höchste Gegensatz im Sein . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Der Gegenstandsbezug von »Natur« und »Vernunft« 3.1.2 Die verschiedenen Formen des Geeinigtseins . . . . 3.1.3 Die unterschiedlichen Grade des Geeinigtseins . . . 3.2 Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein . . . . . . 3.3 Bildung innerhalb des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

. . . .

25

. . . . . .

31 32 33 37 41 43 47

Gefühl und Bildung 4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 »Leibliches« und »sittliches« Gefühl . . . . . . . . . . . 4.1.2 »Religiöses« Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die einheitliche Grundgestalt des Gefühls . . . . . . . . 4.1.4 Das Verhältnis von Gefühl und Wissen . . . . . . . . . 4.1.5 Das Verhältnis von Gefühl und Transzendenz . . . . . . 4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Das »Andeuten« des religiösen Gefühls . . . . . . . . . 4.2.2 Das »Ahnden« des religiösen Gefühls . . . . . . . . . . 4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre 4.3.1 In der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 57 60 63 70 75 77 81 82 85 88 88

. . . . . .

X

Inhaltsverzeichnis

4.3.2 4.3.3 5

II

In den Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Einleitung der Glaubenslehre . . . . . . . . . . .

90 99

Fazit: Sein und Gefühl unter der Bestimmung von Bildung 5.1 Gefühl und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Bildung als Bestimmung des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Bildung als Bestimmung des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . .

113 113 115 117

Gebildetes Menschsein und die Bedeutung der Religion

121

6

Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion

123

7

Gebildetes Zusammenleben 7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter . . . . . . . . . . . 7.1.1 Das Vorgebildetsein der Güter . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.1 Das ursprüngliche Organisiertsein . . . . . . . 7.1.1.2 Das ursprüngliche Symbolisiertsein . . . . . . 7.1.2 Die Interaktionsformen der Güter . . . . . . . . . . . . 7.1.2.1 Die Interaktionsformen des Organisierens . . 7.1.2.2 Die Interaktionsformen des Symbolisierens . . 7.1.3 Das organisierende Zentrum der Güter . . . . . . . . . . 7.1.3.1 Schleiermachers Verständnis der Tugend . . . 7.1.3.2 Schleiermachers Lehre vom »Gemeingeist« . 7.1.4 Der ursprüngliche Richtungssinn der Güter . . . . . . . 7.1.4.1 Der Richtungssinn des Organisierens . . . . . 7.1.4.2 Der Richtungssinn des Symbolisierens . . . . 7.1.5 Kritische Analyse von Schleiermachers Konstruktion der Güterlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung . . . . . . . . . . . 7.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung . . . . . . . . . . 7.2.1.1 Ausdifferenzierung des Organisierens . . . . . 7.2.1.2 Ausdifferenzierung des Symbolisierens . . . . 7.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten 7.2.2.1 Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des übertragbaren Handelns . . . . . . 7.2.2.2 Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des individuellen Handelns . . . . . . . 7.2.2.3 Der Gemeingeist der Gesamtgesellschaft . . . 7.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs . . . . . . . . . . . 7.2.3.1 Der Transzendenzverweis sozialer Gebilde . . 7.2.3.2 Der Wahrheitsausdruck sozialer Gebilde . . .

129 131 134 135 137 141 142 143 145 146 147 149 149 150 151 153 155 155 157 159 161 163 166 168 168 169

8

9

Inhaltsverzeichnis

XI

Gebildeter Mensch 8.1 Die Bedingungen für die Bildung des einzelnen Menschen . . . 8.1.1 Das individuelle Bestimmtsein des Menschen durch Temperament, Talent und Neigung . . . . . . . . 8.1.2 Die übertragbaren Handlungsvermögen des Menschen: Leibeskräfte, Sprachsinn und Gesichtssinn . . . . . . . 8.1.3 Das organisierende Zentrum des Bildens: Gesinnung und Gemeingeist . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3.1 Die Gesinnung als Liebe und Weisheit . . . . 8.1.3.2 Der Gemeingeist als Sinn und Geist des Ganzen 8.1.4 Der ursprüngliche Richtungssinn: Die Bestimmung des einzelnen Menschen . . . . . . . . 8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung . . . . . . . . . . 8.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung . . . . . . . . . . 8.2.1.1 Der Gesichtssinn und seine Bildung . . . . . . 8.2.1.2 Der Sprachsinn und seine Bildung . . . . . . 8.2.1.3 Die Glieder des Leibes und ihre Bildung . . . 8.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten 8.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs . . . . . . . . . . . 8.2.3.1 Der Transzendenzverweis individuellen Lebens 8.2.3.2 Der Wahrheitsausdruck individuellen Lebens .

173 176 177 180 181 182 186 190 192 193 196 197 204 208 212 213 213

Gebildete Erziehung 217 9.1 Die Bedingungen pädagogischer Hilfestellung . . . . . . . . . . 218 9.1.1 Der vorgegebene Prozess und seine Bestimmung . . . . 218 9.1.2 Die Grundformen pädagogischen Handelns . . . . . . . 221 9.1.3 Die Gesinnung des Lehrers und die Sitte der Gesellschaft 222 9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung . . . . . . . . 223 9.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung der Hilfestellung 223 9.2.1.1 Verfeinerungen des pädagogischen Handelns . 223 9.2.1.2 Die Ausdifferenzierung der Schularten und die Rolle des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . 226 9.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten 230 9.2.2.1 Die Förderung der Berufs- und Rechtsfähigkeit 231 9.2.2.2 Die Förderung der Liebesfähigkeit und der Bildung des Gewissens . . . . . . . . 235 9.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs: Transzendenzverweis und Wahrheitsausdruck der Erziehung240 9.3 Güterspezifische Hilfestellungen bei der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

XII

Inhaltsverzeichnis

10 Schluss: Die gegenwärtige Relevanz von Schleiermachers Bildungsverständnis 10.1 Vielheit ohne Einheit – ein Problem im Diskurs um Bildung und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . 10.2 Der antwortende Charakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension . . 10.3 Der Symbolcharakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension . . . . . . . 10.4 Impulse von Schleiermachers Bildungsverständnis für die Gestaltung von Schule . . . . . . . . . . . .

249 . . . . . . . 250 . . . . . . . 252 . . . . . . . 257 . . . . . . . 262

Literaturverzeichnis 265 1. Quellen und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Register 281 1. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

1. Kapitel

Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

Das Ziel der vorliegenden Studie besteht in einer systematischen Analyse von Schleiermachers Bildungsverständnis und der darin eingeschlossenen Sicht auf die Bedeutung der Religion für ein gebildetes Menschsein. Das weite und zugleich doch sehr differenzierte Bildungsverständnis Schleiermachers1 kann dem gegenwärtigen Diskurs zu Religion und Bildung in mancherlei Weise Impulse geben.2 Zwar wurde in der Schleiermacher-Forschung verschiedentlich herausgestellt, dass Schleiermacher in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen von »Bildung« spricht.3 Dennoch wurde bislang nicht der Versuch unternommen, den systematischen Zusammenhang dieser unterschiedlichen Aussagen zu rekonstruieren. Dies soll im Folgenden geschehen. Dem einleitenden Kapitel zum Verhältnis von Bildung und Religion im gegenwärtigen und geschichtlichen Diskurs seien drei Thesen vorangestellt, die den Grundriss von Schleiermachers Bildungsverständnis skizzieren. Die erste These der Studie besagt, dass sich Bildung für Schleiermacher zunächst nicht auf das kognitive Vermögen eines Menschen richtet und folglich vom gegenwärtig geläufigen Verständnis von Bildung abweicht. Bildung richtet sich nach Schleiermacher vielmehr zunächst auf die Relationen eines Individuums. Die Bildungstheorie beschreibt, wie dieses Individuum durch Interaktion mit seiner Umwelt eine Gestalt gewinnt. Da sich alles lebendige Seiende in Interaktion mit seiner Umwelt befindet, vollziehen sich nicht nur am Menschen, sondern auch an allem anderen lebendigen Seienden Bildungsprozesse. Diejenige Bildung, die sich am Ort von Menschen vollzieht, stellt also nur eine Variation von Bildung am Ort des Seins überhaupt dar. Beide Bildungsprozesse lassen sich nur wechselseitig verstehen. Die zweite These lautet, dass es sich bei Bildung nach Schleiermacher um einen kritischen Begriff handelt: Er schließt ein Verständnis von Unbildung genauso ein 1

Eilert H ERMS: Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 228–249, hat dies bereits in Grundzügen skizziert. 2 Vgl. dazu besonders Kapitel 10: Schluss: Die gegenwärtige Relevanz von Schleiermachers Bildungsverständnis ab S. 249. 3 So zuletzt Oliver H ELLER : Die Bildung des selbstbestimmten Lebens. Identität und Glaube aus der Perspektive von F.D.E. Schleiermacher, W. James und J. Dewey, Münster 2011.

2

Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

wie von »wahrer« Bildung. Bildungsprozesse finden nach Schleiermacher unter bestimmten Bedingungen statt, die deren spezifischen Spielraum oder Variationskorridor beschreiben. Inwieweit sich die Relationen gestalten lassen und inwiefern diese Gestaltung der Relationen wiederum eine Einheit bilden kann, ist durch diese Bedingungen umgrenzt. Das Verhältnis zwischen einem Bildungsprozess und seinen Bedingungen ermöglicht es, in einem kritischen Sinne von Bildung zu sprechen, denn jeder Bildungsprozess kann Schleiermacher zufolge seinen Bedingungen mehr oder weniger angemessen sein. Spannungsverhältnisse sind genauso möglich wie ein Verhältnis von Einklang. Befindet sich ein Bildungsprozess im Einklang mit seinen Bedingungen, kann von wahrer Bildung gesprochen werden. Die dritte These der Studie besagt, dass menschliche Bildung und Religion zwei Seiten einer Medaille sind, und Bildung sowohl Eindruck als auch Ausdruck von Religion ist. Schleiermacher zufolge kann es zwischen Menschen zu einem Ereignis kommen, das er als »Totaleindruck« bezeichnet, und das die Religiosität eines Menschen in entscheidender Weise prägt und bildet. Dies ist dann der Fall, wenn die Bildungsgestalt eines Menschen von einem anderen als wahr erlebt wird, also als im Einklang mit den Bedingungen des Menschseins. Religiös ist ein solcher Eindruck deswegen, weil er sich erstens auf der Ebene des Gefühls bewegt, und kein Akt des Denkens ist; und weil er zweitens auf Gott verweist. Nach Schleiermacher manifestiert sich Gott in den von ihm geschaffenen Bedingungen des Menschseins, genauer: in der Verfassung und Bestimmung des Menschen. Essentiell für eine bestimmte Religion ist es daher, wie diese Verfassung und Bestimmung erlebt wird – denn darin manifestiert sich Gottes Wirken. Verfassung und Bestimmung des Menschseins sind aber nicht unvermittelt gegeben, sondern nur in einem menschlichen Leben und dem darin begegnenden Umgang eines Menschen mit ihnen. Deswegen hat die Bildungsgestalt eines Lebens grundsätzlich religiösen Charakter: Sie ist ein Zeugnis für Verfassung und Bestimmung des Menschseins, und damit ein Zeugnis für Gott als dessen schöpferischer Ursprung. Bildung, nämlich wahre Bildung, ist damit das, was Religion ursprünglich prägt, sie ist Eindruck der Religion, weil sich diese beeindruckende Lebensgestalt in die Religiosität »eindrückt«. Das Erleben eines solchen gebildeten Menschen ist es nach Schleiermacher nun auch, das dem Handeln Ziel und Maß zu geben vermag. Die Bildungsgestalt des eigenen Lebens kann so – ebenfalls mehr oder weniger angemessen – auch Ausdruck der Religion werden.4 Diese summarisch in Thesen festgehaltene Sicht Schleiermachers lässt sich mit Gewinn in den gegenwärtigen Diskurs der Erziehungswissenschaft, Philosophie und Theologie über das Verhältnis zwischen Bildung und Religion einbringen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Religion.

4 Zur Bedeutung des Bildes für die Religion vgl. auch Malte Dominik K RÜGER : Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 471ff.

Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

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Die Bedeutung der Religion für die Bildung ist umstritten.5 Dass Religion eine Bedeutung für die Bildung besitzt, kann jedenfalls in der evangelischen Theologie als Konsens gelten.6 Religion wird hier in einem bestimmten Sinne selbst als Bildung und als Resultat von Bildung verstanden.7 Bildung ist nichts, das äußerlich zur Religion im Sinne von Selbstaufklärung und Reflexion hinzutritt, sondern das in das Zustandekommen und in den Vollzug von Religion hineingehört. Bildung ist diesem Verständnis zufolge nicht im Sinne einer »Höherentwicklung« des Menschen gemeint.8 Während die dialektische Theologie – abgesehen von Karl Barth9 und Oskar Hammelsbeck – den Bildungsbegriff zugunsten des Begriffs der Erziehung verwarf,10 begann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in Rückbesinnung auf das Denken Schleiermachers eine Wiederentdeckung des Bildungsbegriffs und der Verbindungen zwischen Bildung und Religion. Gegenüber dieser theologischen Sicht steht eine Verhältnisbestimmung von Religion und Bildung, die sich in dem knappen Ausspruch Friedrich Schlegels 5 Vgl. Christoph L ÜTH : Allgemeine Pädagogik und Religion. Zum Verhältnis von Bildung, Erziehung und Religion, in: Hans-Georg Z IEBERTZ/Günter R. S CHMIDT (Hrsg.): Religion in der Allgemeinen Pädagogik. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung, Gütersloh 2006, 40–59. Vgl. ebenso Friedrich S CHWEITZER: Art. Pädagogik, in: Wilhelm G RÄB/ Birgit W EYEL (Hrsg.): Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 760–769, hier 761; Dietrich B ENNER: Bildung und Religion. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 18), Paderborn 2014, 81; Stefan H ER MANN : Wie viel Religion braucht Bildung und wie viel Bildung braucht Religion?, in: Evangelische Sammlung in Württemberg 2016, 15–46; Engelbert G ROSS: Vorwort: »Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug« (Bert Brecht), in: Erziehungswissenschaft, Religion und Religionspädagogik (Forum Theologie und Pädagogik 7), Münster 2004, 1–7, hier 3. 6 Vgl. dazu exemplarisch S CHWEITZER : Art. Pädagogik (wie Anm. 5), 760–769; ebenso Dietrich KORSCH: Bildung und Glaube. Ist das Christentum eine Bildungsreligion?, in: NZSTh 36.2 (1994), 190–214; Wilhelm G RÄB: Religiöse Bildung als Teil der Allgemeinbildung: Das Konzept der Spiritualität, in: Martin S CHREINER (Hrsg.): Religious Literacy und evangelische Schulen. Die Berliner Barbara-Schadeberg-Vorlesungen, Münster u. a. 2008, 25–42; Reiner P REUL: Anthropologische Fundamente des christlichen Erziehungs- und Bildungsverständnisses, in: Menschenbild und Menschenwürde. Zehnter Europäischer Theologenkongreß vom 26. bis 30. September 1999 in Wien (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 17), Gütersloh 2001, 138–155; Joachim K UNSTMANN: Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 2), Gütersloh 2002. 7 Vgl. Friedrich S CHWEITZER : Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014, 177–182. Vgl. auch Reiner P REUL: Gebildetes Christsein in der Gegenwart – Konturen, Bedingungen, Aufgaben, in: Religionspädagigk und evangelische Bildungsverantwortung in Schule, Kirche und Gesellschaft. Mit Karl Ernst Nipkow weiterdenken, Münster 2016, 15–33, 18f. K UNSTMANN: Religion und Bildung (wie Anm. 6), 443; KORSCH: Bildung und Glaube (wie Anm. 6), 190, 213. 8 S CHWEITZER : Bildung (wie Anm. 7), 177. 9 Vgl. dazu Karl BARTH : Evangelium und Bildung (Theologische Studien 2), Zürich 2 1947. 10 Vgl. P REUL : Anthropologische Fundamente des christlichen Erziehungs- und Bildungsverständnisses (wie Anm. 6), 142. Dabei wurden die Erziehung und der Glaube einander gegenüber gestellt, wobei die Erziehung dem Gesetz, und der Glaube dem Evangelium zugeordnet wurde, vgl. ebd., 143f.

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bündelt: »Je mehr Bildung, je weniger Religion«.11 Demzufolge ist es der Bildung eines Menschen mindestens nicht abträglich, wenn er »religiös absolut ›unmusikalisch‹« ist.12 Eine entsprechende Skepsis gegenüber der Religion herrscht in den Erziehungswissenschaften, weswegen Friedrich Schweitzer die Religion das »Stiefkind der Erziehungswissenschaft« genannt hat.13 Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hin zu einem zunehmend stärker ausgeprägten religiös-weltanschaulichen Pluralismus ist die Erziehungswissenschaft aber zu einer Klärung ihrer Sicht auf das Verhältnis zwischen Bildung und Religion herausgefordert.

1.1 Die Bildungsbedürftigkeit der Religion Angesichts fundamentalistischer Entwicklungen in den Religionen, die das friedliche Zusammenleben, insbesondere innerhalb des religiös-weltanschaulichen Pluralismus, herausfordern,14 ist gegenwärtig weniger von einer Bildungsrelevanz der Religion die Rede als von der Notwendigkeit von Bildung für die Religion selbst: Religion bedarf der Bildung, und zwar im Sinne von Selbstreflexion und 11 Friedrich S CHLEGEL : Athenaeums-Fragment Nr. 233, in: KFSA II, 203. Zu vereinzelten Positionen innerhalb der Erziehungswissenschaften, die auch eine Trennung von Bildung und Religion fordern vgl. Volker L ADENTHIN: Kapitel 1: Voraussetzungen religiöser Bildung, C. Bildungstheoretische Perspektive, in: Allgemeine Erziehungswissenschaft II. Handbuch der Erziehungswissenschaft 2, Paderborn u. a. 2011, 203–215, hier 210. 12 Max Weber, Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. Februar 1909, in: Max W EBER : Briefe 1909 – 1910, hrsg. v. M. Rainer L EPSIUS (MWG 6), Tübingen 1994, 65. Diese Wendung wurde auch von Jürgen Habermas aufgegriffen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: Jürgen H ABERMAS: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, 4. 13 S CHWEITZER : Art. Pädagogik (wie Anm. 5), 761. Ebenso schon Karl-Ernst N IPKOW : Art. »Religion«, in: Dietrich B ENNER/Jürgen O ELKERS (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik (2004), 807–823, hier Sp. 823. Zuletzt konstatierte Stephanie B ERMGES: Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers (Studien zur Pädagogik der Schule 34), Frankfurt a. M. u. a. 2010, 221, sogar einen Kontaktabbruch zwischen Erziehungswissenschaft und Theologie. Vgl. auch Sara H AEN: Christliche Erziehung und Weltanschauung im Pluralismus des 20. Jahrhunderts (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 20), Paderborn 2016, 183, die ein Interesse der Erziehungswissenschaften an religiös-weltanschaulichen Fragen konstatiert. Für einen Bezug der Pädagogik auf eine von allen konfessionellen Prägungen gereinigte Religion sprechen sich etwa aus: Wolfgang N IEKE: Religion als Bestandteil von Allgemeinbildung: Weltorientierung statt Religionslehre. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung, in: Religion in der Allgemeinen Pädagogik. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung, hrsg. v. Hans-Georg Z IEBERTZ/Günter R. S CHMIDT, Gütersloh 2006, 191–210 und Lutz KOCH: Natürliche Religion. Ein pluralismustaugliches Unterrichtsfach?, in: Religion in der Allgemeinen Pädagogik. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung, hrsg. v. Hans-Georg Z IEBERTZ/ Günter R. S CHMIDT, Gütersloh 2006, 150–162. 14 Vgl. Christoph S CHWÖBEL : Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003, 3f.

1.1 Die Bildungsbedürftigkeit der Religion

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Selbstrelativierung. Sie wird damit zunächst als bildungsbedürftige Religion verstanden. Ohne Bildung sei Religion »gefährlich«, sagt der praktische Theologe und Religionspädagoge Michael Meyer-Blanck.15 Die Relativität der je eigenen Religion, ihre Geschichtlichkeit und ihr Bestehen neben anderen Religionen, dies alles soll besser verstanden und bewusster werden. Bildung in diesem Sinne gesteigerter Selbstdurchsichtigkeit soll dazu beitragen, fundamentalistische und extremistische Tendenzen in den Religionen einzuhegen und einer gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen toleranten Haltung den Boden zu bereiten.16 Hinsichtlich dieser Einsicht in den Bildungsbedarf der Religion kann sowohl in der Theologie als auch in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft17 ein Konsens festgestellt werden. Die Bildung der Religion im Sinne gesteigerter Selbstdurchsichtigkeit ist freilich nicht auf die eigene »Bezugsreligion« beschränkt.18 Vielmehr erfordert die Wahrnehmung der eigenen Besonderheit und das Entstehen einer eigenen Identität auch ein Bewusstsein für das jeweils Gemeinsame.19 Eine Bildung der Religion schließt deswegen immer auch das Moment interreligiöser Bildung ein.20 Auf den ersten Blick scheinen nur diejenigen dieser Bildung zu bedürfen, die selbst religiös sind. Demnach sollten etwa Christen und Muslime in der Lage sein, ihre Religion als eine Variation von Religiosität überhaupt zu verstehen, und andere Religionen als ebenbürtige Partner zu begreifen. Dies sieht aber davon ab, dass das gegenwärtige Leben in Deutschland, Europa und der Welt insgesamt im Zeichen von Interreligiosität steht, mit der auch Menschen ohne religiöses Bekenntnis zu tun ha15 Michael M EYER -B LANCK : Tradition – Integration – Qualifikation. Die bildende Aufgabe des Religionsunterrichts an Europas Schulen, in: Evangelische Theologie 2003, 280–288, 280: »Bildung ohne Religion ist unvollständig, und Religion ohne Bildung ist gefährlich«. 16 Dietrich B ENNER : Thesen zur Bedeutung der Religion für die Bildung, in: Bildung und Religion, Paderborn 2014, 15–24, 23, spricht davon, dass Fundamentalismus entgegengewirkt werden kann, wo Glaube und Wissen in Distanz zu einander treten. Fundamentalistisch sind nach DERS .: Bildung und Religion (wie Anm. 5), 51, Auslegungen, die nicht zwischen dem Absoluten und seiner Deutung unterscheiden. 17 Nach ebd., 25f., haben Pädagogik und Erziehungswissenschaft denselben Gegenstand zum Thema, nämlich Erziehung, richten sich auf diesen aber unterschiedlich: Entweder handlungstheoretisch-interpretierend oder empirisch forschend. So auch Dietrich B ENNER: Erziehung – Religion, Pädagogik – Theologie, Erziehungswissenschaft – Religionswissenschaft, in: Erziehungswissenschaft, Religion und Religionspädagogik (Forum Theologie und Pädagogik 7), Münster 2004, 9–50, 9ff. 18 Vgl. Henning S CHLUSS : Religiöse Bildung im öffentlichen Interesse. Analysen zum Verhältnis von Bildung und Religion, Wiesbaden 2010, 134. 19 Ebd., 136; vgl. auch Bernhard D RESSLER : Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig 2006. 20 Vgl. dazu Mirjam S CHAMBECK : Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013. Vgl. zu den gegenwärtigen Bemühungen um interreligiöse Bildung von Seiten des Judentums, des Islams und des Christentums: Friedrich S CHWEITZER : Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 60–63.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

ben.21 Ein friedliches Zusammenleben macht es aber erforderlich, dass der jeweils Andere und seine Kultur,22 das Gemeinsame und Trennende, verstanden werden.23 Religiöse Bildung ist demnach für alle Menschen einer weltanschaulich-pluralen Gesellschaft nötig. Aber können auch Menschen ohne ein religiöses Bekenntnis und Menschen mit einem solchen auf etwas Gemeinsames rekurrieren?24 Religion ist nach Schleiermacher nun aber in einem bestimmten Sinne auch ein Thema der Religionslosen: Nicht weil sich beide auf Transzendenz beziehen würden, sondern weil auch Menschen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, ein Gefühl für die Wahrheit des Menschseins haben. Dass Religion zwar wesentlich einen Transzendenz- oder Gottesbezug aufweist, ist unstrittig. Entscheidend ist aber, dass und wie dieser Bezug vermittelt ist. Eine verbreitete Interpretation von Religion stellt das deutungstheoretische Modell dar, das maßgeblich durch die Studien des systematischen Theologen Ulrich Barth geprägt wurde.25 Barth sieht den Gegenstand der Religion im Bezug des Menschen auf das Unbedingte. Die »Begrenztheit des Bedingten« besteht als Zählbarkeit, Partikularität, Zeitlichkeit und Kontingenz, und verweist damit über sich hinaus auf die Unendlichkeit, Ganzheit, Ewigkeit und Notwendigkeit des Unbedingten.26 Religion vollzieht sich dabei im Wechselspiel von Erleben und Deuten dieser eigenen Verfassung und ihres Transzendenzverweises. Medium der Transzendenzrelation ist damit die Endlichkeit des Menschen. Im Anschluss an Ulrich Barth beschreibt der Religionspädagoge Bernhard Dressler Religion als einen eigenen Weltzugang, der keinem anderen, etwa dem naturwissenschaftlichen, substituierbar sei.27 Religion wird als Deutung verstanden,28 und diese wiederum 21

S CHWEITZER: Interreligiöse Bildung (wie Anm. 20), 33f. Vgl. Eilert H ERMS: Art. »Kultur IV. Ethisch«, in: RGG4 IV (2004), 1827–1829. 23 Vgl. Christoph S CHWÖBEL : Art. »Pluralismus II. Systematisch-theologisch«, in: TRE 26 (1996), 731–733. 24 Vgl. zum Thema der Konfessionslosigkeit Michael M EYER -B LANCK : Konfessionslosigkeit und die konfessorische Dimension des Religionsunterrichts, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 66.3 (2014), 215–223. Bernd S CHRÖDER: Konfessionslosigkeit und religiöse Bildung in anderen Religionen und Ländern. Vergleichende Perspektiven, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 3.66 (2014), 223–232, hier 67, hat darauf hingewiesen, dass zwischen Religionslosigkeit und Konfessionslosigkeit unterschieden werden muss, da bspw. getaufte Kinder nicht zwangsläufig religiös sozialisiert sind. KOCH: Natürliche Religion (wie Anm. 13), plädiert deswegen für einen Religionsunterricht, der sich auf einer »natürlichen Religion« aufbaut. Koch bezieht sich auf Kant und fordert eine »Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft« (ebd., 161). Damit rechnet er aber mit einer Vernunft, die nicht geschichtlich gebunden ist, sondern über der Geschichte steht; ungeklärt bleibt, wie ein solcher Standpunkt über der Geschichte und über den Religionen aussehen soll. Zu einer Kritik vgl. S CHWEITZER: Interreligiöse Bildung (wie Anm. 20). 25 Vgl. dazu grundlegend Ulrich BARTH : Was ist Religion?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 93.4 (1996), 538–560. 26 Ebd., 546f. 27 Vgl. D RESSLER : Unterscheidungen (wie Anm. 19), 132. 28 BARTH : Was ist Religion? (wie Anm. 25), 544. 22

1.1 Die Bildungsbedürftigkeit der Religion

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als »Prädikationsvorgänge«, deren »Sinn und Bedeutung nicht in den Sachen selbst [liegt], sondern zugeschrieben« wird.29 Demgemäß steht Religion mit ihrer Eigenlogik, alles Endliche im Horizont des Unendlichen auf nicht wahrheitsfähige Weise zu deuten, neben den anderen gesellschaftlichen Bereichen mit deren jeweiliger Eigenlogik.30 Dieses deutungstheoretische Verständnis von Religion beruft sich auf Schleiermacher. Dabei soll an dieser Stelle nicht bestritten werden, dass sich Religion auf Transzendenz bezieht. Allerdings wird m. E. in der Schleiermacher-Forschung nicht ausreichend deutlich gemacht, dass der Bezug von Religion auf Transzendenz bei Schleiermacher nicht über die Endlichkeit als solche vermittelt ist. Medium des Transzendenzbezugs ist vielmehr die Lebensgestalt eines Menschen, die als Totaleindruck erlebt wird.31 Die Pointe dieses Verständnisses liegt nun darin, dass die Deutung der Transzendenzrelation keine beliebige ist, sondern an das Erleben der Wahrheit über die Verfassung und Bestimmung des Menschen gebunden ist. Dreh- und Angelpunkt der Religion ist das Erleben wahren Menschseins. Für das Verständnis von interreligiöser Bildung ist dies von weitreichender Bedeutung. Zwischen den Gliedern einer geschichtlich gewachsenen Religionsgemeinschaft und denen, die keiner solchen Gemeinschaft angehören, ist eine sinnvolle Verständigung grundsätzlich möglich.32 Denn der gemeinsame Bezugspunkt ist nach Schleiermachers Religionsverständnis das – jeweils unterschiedlich bestimmte – Gefühl für die Wahrheit des Menschseins.33 29

D RESSLER: Unterscheidungen (wie Anm. 19), 140. Etwas anders liegt die Sache bei Dietrich Benner, der betont, dass die Suche nach einem »Sinn des Daseins sich nicht allein an Sinnhorizonten ausrichten [kann], die vom Menschen selbst gestiftet werden«, so B ENNER: Thesen zur Bedeutung der Religion für die Bildung (wie Anm. 16), 21. Der Gegenstand der Religion ist aber ebenfalls das »Verhältnis des Endlichen zum Absoluten«, vgl. ebd., 20. 31 Auf Schleiermachers Rede vom Totaleindruck kommen bereits Eilert H ERMS : Äußere und innere Klarheit des Wortes Gottes bei Paulus, Luther und Schleiermacher, in: DERS .: Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 1–55, und Ulrich BARTH: Christologie und spekulative Theologie. Schleiermacher und Schelling, in: DERS .: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 245–262, zu sprechen. Auch wenn Uwe G LATZ: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution, Stuttgart 2010, 62, auf die herausragende Bedeutung der Frage nach der Glaubenskonstitution verweist, wird doch genau dieses Geprägtwerden der Religion durch Totaleindrücke nicht berücksichtigt. 32 Auch im Deutschen Idealismus, namentlich bei Hegel, Schelling und Schleiermacher, zählt Religion »konstitutiv zum menschlichen Bewusstsein«, und zwar in ihrer Vielheit, vgl. Friedrich H ERMANNI/Burkhard N ONNENMACHER/Friederike S CHICK: Das Profil idealistischer Religionsphilosophie – eine Einleitung, in: Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling, Tübingen 2015, 1–9, 2ff. 33 Vgl. auch P REUL : Gebildetes Christsein in der Gegenwart – Konturen, Bedingungen, Aufgaben (wie Anm. 7), 29, der den gemeinsamen Bezugspunkt der verschiedenen Religionen in der conditio humana sieht. Auch S CHWEITZER: Interreligiöse Bildung (wie Anm. 20), 67, weist auf die Bedeutung der Wahrheitsdimension für die Bildung hin. 30

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

Damit deutet sich ein Verständnis von Bildung, Religion und Toleranz an,34 das sich an das Verständnis des systematischen Theologen Christoph Schwöbel anschließen kann. Die Pointe seiner Sicht liegt darin, dass die Begründung und aussichtsreiche Einforderung religiöser Toleranz nur auf dem Boden der jeweiligen Religion selbst statt finden kann.35 Toleranz wird dabei nicht als eine Haltung begriffen, die von außen an Religionen herangetragen, sondern aus diesen selbst entwickelt werden muss.36 Dies gilt analog für Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Eine tolerante Haltung kann sich freilich nicht aus einer eigenen Tradition speisen, wohl aber könnte sie sich aus dem Bewusstsein für die Genese des eigenen Wahrheitsbewusstseins ergeben. Schleiermachers Hinweis auf das Geprägtwerden von Religion durch Totaleindrücke kann insofern für die Frage nach interreligiöser Bildung fruchtbar gemacht werden, als er mit dem Erleben wahren Menschseins einen gemeinsamen Bezugspunkt von Menschen unterschiedlicher Religion, aber auch von Menschen mit und ohne religiösem Bekenntnis nennt. Seine These, Religion besitze damit einen universalen und individuellen Zug zugleich, kann ebenfalls als Hinweis auf das Toleranzpotential religiöser Bildung verstanden werden. Universal ist Religion, weil sie sich auf die Verfassung und Bestimmung des Menschseins überhaupt bezieht, und nur vermittelst dessen auf Transzendenz. Individuell dagegen ist sie hinsichtlich ihres Zustandekommens – weil sich die Wahrheit über den Menschen nur in individuellen Begegnungen erleben lässt. Dies weist auf die Kontingenz des jeweils eigenen Wahrheitsgefühls hin. Schleiermachers Sicht auf den Bezugs- und Kristallisationspunkt der Religion kann im Folgenden genauer erarbeitet werden. Damit wird auch ein Beitrag zur Verständigung zwischen Erziehungswissenschaft und Theologie geleistet, als mit dem Gefühl für das wahre Menschsein ein gemeinsamer Bezugspunkt in den Blick gerückt wird.

1.2 Die religiöse Dimension der Bildung Die enge Verbindung zwischen Bildung und Religion kann aber nicht nur von der Religion her entfaltet werden, vielmehr kann auch dasjenige Phänomen zum Ausgangspunkt genommen werden, das innerhalb des pädagogisch-erziehungswissenschaftlichen und des theologisch-philosophischen Diskurses als »Bildung« bezeichnet wird. 34 Zur Pluralitätsfähigkeit vgl. auch S CHWEITZER : Interreligiöse Bildung (wie Anm. 20), 133–141. Vgl. dazu auch die Beiträge in: Friedrich S CHWEITZER/Christoph S CHWÖBEL (Hrsg.): Religion – Toleranz – Bildung (Theologie interdisziplinär 3), NeukirchenVluyn 2007. 35 Christoph S CHWÖBEL : Toleranz aus Glauben. Identität und Toleranz im Horizont religiöser Wahrheitsgewißheiten, in: DERS .: Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 217–243. 36 Ebd.

1.2 Die religiöse Dimension der Bildung

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Die Auseinandersetzung um ein Verständnis dessen, was mit Bildung bezeichnet wird, geht wahrscheinlich bis in die spätmittelalterliche Mystik Meister Eckarts zurück, der seinerseits auf den alttestamentlichen Schöpfungsbericht zurückgreift.37 Darüber hinaus finden sich aber auch Motive im Diskurs über Bildung, die bereits in der griechischen Antike eine Rolle spielen. Die Wortneuschöpfung »Bildung«, die aus dem Mittelalter stammt, ist ohne Äquivalent in den anderen germanischen oder romanischen Sprachen und gelangte selbst im deutschen Sprachraum erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer weiteren Verbreitung.38 Mit dem Philosophen Max Scheler lassen sich jedenfalls zwei Engführungen benennen, die den Sachverhalt der Bildung des Menschen nur verkürzt erfassen. Als unzutreffende Verständnisse von Bildung weist er solche zurück, die Bildung nur auf das seelische Erleben oder auf einen Wissenskanon beziehen. In beiden Fällen richtet sich Bildung nur auf einzelne Aspekte menschlichen Lebens, und nicht auf den ganzen Menschen.39 Demgegenüber hält Scheler fest: »Bildung ist also eine Kategorie des Seins, nicht des Wissens und Erlebens.«40 Der gegenwärtige Bildungsdiskurs begreift in diesem Sinne unter Bildung ebenfalls einen Sachverhalt, dessen jeder Mensch bedürftig und fähig ist, und der sich auf den ganzen Menschen richtet.41 Auch wenn Curriculums- und Sozialisationstheorie den Begriff der »Bildung« im Zuge der Hinwendung der Pädagogik zu den empirischen Sozialwissenschaften seit den 70er Jahren zwischenzeitlich

37 Ernst L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (Pädagogische Forschungen 34), Heidelberg 1966, 4f. Vgl. auch Christoph S CHWÖBEL: Art. »Bildung«, in: Taschenlexikon Religion und Theologie I/5 (2008), 172–175. 38 L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 3f. 39 Eine verwandte Kritik an einer Fehlbestimmung von Bildung liegt vor bei Romano G UAR DINI : Grundlegung der Bildungslehre, Würzburg 7 1965, 20–22. Bildung sei wesentlich nicht im Bereich des Erkennens oder Wissens, noch im Bereich des Ethischen zu finden und auch nicht in der »ästhetisch-biologische[n] Gattungsgemäßheit«, sondern darin, dass »er [verstehe: der Mensch] in seinem ganzen Wesen ein Bild, und zwar das rechte, ihm zugehörige, offenbare« (ebd., 23). Bildung bezieht sich damit auch auf das Dargestelltwerden des Inneren im Äußeren und auf die Wahrnehmung dieser verborgenen Dimension im Äußeren. 40 Max S CHELER : Bildung und Wissen, Frankfurt a. M. 1947, 5 (Hervorhebung i. O.). Das Wesen der Bildung besteht nach Scheler in der »Deificatio«, eine Überzeugung, die ihn mit Meister Eckardt verbindet, vgl. L ICHTENSTEIN: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 5. 41 Vgl. D RESSLER : Unterscheidungen (wie Anm. 19), 17. Vgl. auch Thomas M IKHAIL : Bilden und Binden. Zur religiösen Grundstruktur pädagogischen Handelns (Grundfragen der Pädagogik 13), Frankfurt a. M., Berlin und Bern 2009, 20. Ebenso Hartmut von H ENTIG: Bildung. Ein Essay, München und Wien 1996 und Reiner P REUL: Evangelische Bildungstheorie, Leipzig 2013, 17, 59ff.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

verdrängten,42 haben sie sich letztlich nicht so integrativ erwiesen wie der Bildungsbegriff.43 Bernhard Dressler führt für den Bildungsbegriff an, dass er die wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt beschreibe und dabei nur mit einem starken Personenbegriff zusammengedacht werden könne.44 Dressler spricht damit die Unverzichtbarkeit eines aktiven Einbezogenseins des Menschen in den eigenen Bildungsprozess an und geht damit vom Menschen als einem handelnden Wesen aus. Die Herkunft des Gebildetseins besteht in einem Zusammenspiel aus »Gebildetwerden« und »Bilden«, aus Einflüssen, die dem Menschen widerfahren, und dem freien Umgang mit diesen als Akten der »Selbstbildung«, wie Elisabeth Gräb-Schmidt im Anschluss an Schleiermacher notiert.45 Ein so verstandener Bildungsbegriff vermag es, die von dem Pädagogen Heinrich Roth initiierte Hinwendung der Pädagogik zu den Kompetenzen zu integrieren46 und Bildung mit Wolfgang Nieke als »Weltbewältigungsfähigkeit« des Menschen zu fassen.47 Diese Fähigkeit äußert sich dabei erst sekundär in äußerlich wahrnehmbaren Handlungen. Mit Ralf Stroh ist unter Kompetenz zunächst die Fähigkeit zum Umgang mit Erlebnissen zu begreifen, zu deren emotionaler, intellektueller und sozial reifer Bearbeitung.48 Der Bildungsbegriff wird durch die Integration des Kompetenzbegriffs also dann nicht aktionistisch enggeführt, wenn das vom Menschen geforderte Handeln in einem weiten Sinn verstanden wird, so, dass es alles verantwortliche Umgehen des Menschen mit seinem Bezogensein einschließt und auch Haltungen und Handlungsdispositionen umfasst.49 In diesem Sinn argumentiert auch Reiner Preul, wenn er Bildung als »gesteigerte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit« bezeichnet.50 42 So etwa bei Wolfgang Klafki, vgl. dazu Matthias R IEMER : Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers, Göttingen 1989, 11. 43 K ORSCH : Bildung und Glaube (wie Anm. 6), 194. 44 Vgl. D RESSLER : Unterscheidungen (wie Anm. 19), 25; Vgl. auch S CHWEITZER : Bildung (wie Anm. 7), 28, der auch von Bildung als »Welterschließung« spricht. 45 Elisabeth G RÄB -S CHMIDT : Bildung als Emanzipation. Neuere Bildungstheorien im Anschluss an Schleiermacher, in: Heinz S TREIB/Astrid D INTER/Kerstin S ÖDERBLOM (Hrsg.): Lived Religion – Conceptual, Empirical and Practical-Theological Approaches. Essays in Honor of Hans-Günter Heimbrock, Leiden und Boston 2008, 259–276, hier 268. 46 Zu Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz vgl. Heinrich ROTH : Pädagogische Anthropologie. Bildsamkeit und Bestimmung, Bd. 1, Hannover 1971, 180. 47 N IEKE : Religion als Bestandteil von Allgemeinbildung: Weltorientierung statt Religionslehre (wie Anm. 13), 195. 48 Ralf S TROH : Art. »Kompetenz (Fähigkeit)«, in: RGG4 IV (2001), 1537–1538, hier Sp. 1537. 49 Vgl. P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 17. So auch H ENTIG : Bildung (wie Anm. 41). Eine kritische Analyse des Bildungsverständnisses von Hentigs hat Dirk K UTTING : Gesinnungsbildung. Die humanistische Schul- und Bildungstheorie Hartmut von Hentigs in theologischer Sicht (Marburger Theologische Studien 82), Marburg 2004, vorgelegt. 50 Diese Formel hat Reiner Preul an verschiedenen Stellen vorgetragen, vgl. Reiner P REUL: Art. »Bildung IV. Religionsphilosophisch, dogmatisch, ethisch«, in: RGG4 I (1998),

1.2 Die religiöse Dimension der Bildung

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Bildung beschreibt demnach die Ausdifferenzierung des wahrnehmenden, verstehenden, kommunikativen und gestaltenden Umgehenkönnens mit dem eigenen Bezogensein. In der Gegenwart sind es vor allem der Religionspädagoge Bernhard Dressler51 und der Pädagoge Dietrich Benner,52 die das umfassende Bezogensein des Menschen, manifest in den verschiedenen Praxisfeldern des Menschen, nicht nur als Ausgangspunkt, sondern auch als das Ziel menschlicher Bildung verstehen: Die Befähigung, mit diesem eigenen, leiblichen und sozialen Bezogensein umgehen zu können, ist das τèλοσ der Bildung. Schleiermacher wird für dieses Verständnis von Bildung als Ausdifferenzierung des individualanthropologischen Umgangs mit dem Bezogensein zunächst zu Recht in Anspruch genommen. Offenkundig ist für dieses gegenwärtige Bildungsverständnis das Konzept menschlichen Bezogenseins von großer Bedeutung. Schleiermachers Bildungsverständnis vermag an dieser Stelle interessante Impulse zu geben, da er die Dimensionen des Erlebens, der Leiblichkeit und Sozialität zu integrieren versteht.53 Bildung beschreibt seit Humboldt aber über diesen Sachverhalt der Ausdifferenzierung54 hinaus auch die Dimension der bewussten Reintegration des Ausdifferenzierten zu einer Einheit.55 Die Bildung der Kräfte schließt deren Bildung zu einem Ganzen ein, wie Humboldt festgehalten hat.56 Entsprechend hat auch der Pädagoge Theodor Ballauff notiert, dass die »Grundstruktur der Bildung [. . . ] sich ja zwanglos als Dynamik von Integration und Differentiation schildern« lässt.57 1582–1584, hier Sp. 1583, ebenso P REUL: Anthropologische Fundamente des christlichen Erziehungs- und Bildungsverständnisses (wie Anm. 6), 149, und DERS .: Gebildetes Christsein in der Gegenwart – Konturen, Bedingungen, Aufgaben (wie Anm. 7), 17, zuletzt in: DERS .: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 83. 51 Vgl. etwa D RESSLER : Unterscheidungen (wie Anm. 19). 52 Dietrich B ENNER : Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim und Basel 7 2012, Vgl. und DERS .: Bildung und Religion (wie Anm. 5). 53 Vgl. dazu schon: Käte M EYER -D RAWE : Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3 2001. 54 Vgl. Abschnitt 1.2.: »Die religiöse Dimension der Bildung« ab S. 11. 55 Zu einer Kritik an Humboldts Bildungsverständnis vgl. P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 238–244, bes. 240–242. Preul kritisiert die fehlende Berücksichtigung der sozialen und passionalen Dimension des Menschseins, und die Unterordnung allen Bezogenseins unter die Selbstbildung. 56 Vgl. Wilhelm von H UMBOLDT : Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück, in: DERS .: Werke in fünf Bänden, I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, 234–240, 237f. Nach Dietrich B ENNER: Wilhelm Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim und München 1990, 52, ist unter der Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen die »Entwicklung individueller Urteilskraft und Handlungskompetenz in allen Bereichen menschlicher Praxis« zu verstehen, eine »unabschließbare Aufgabe«. 57 Theodor BALLAUFF : Philosophische Begründungen der Pädagogik. Die Frage nach Ursprung und Maß der Bildung (Erfahrung und Denken 17), Berlin 1966, 194, hier mit Bezug auf Humboldts Bildungstheorie.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

Wie aber ist diese Einheit angemessen zu beschreiben und zu erfassen? Wie kann die innere Einheit so gedacht werden, dass sie sich in allen äußeren Vollzügen auszudrücken vermag? Bei Kant ergibt sich die »totale Synthesis«, die Integration zu einem Ganzen, im Denken, durch die alles einen großen »Bildungszusammenhang« ergibt.58 Diese Art der Synthesis vermag allerdings nicht jeder zu leisten, sondern nur der, der begrifflich zu denken versteht.59 Damit ist Bildung im Sinne der Integration des ausdifferenzierten Bezogenseins zu einem Ganzen jedenfalls nur für einige wenige, nicht aber für alle Menschen möglich. Dagegen findet die Integration aller Bezüge zu einer Einheit bei Schleiermacher in Gefühl und Gesinnung statt. Stephanie Bermges zufolge handelt es sich im Falle Schleiermachers bei der Religion um das »Integral des menschlichen Lebens«.60 Bermges hat darauf hingewiesen, dass Schleiermacher in seiner Pädagogik-Vorlesung in der Religion ein handlungsorientierendes Potential sieht.61 Schleiermacher nennt die Religion dasjenige »Princip«, »durch welches die Selbstständigkeit muß geleitet werden«.62 Gleichwohl führt auch Bermges nicht weiter aus, wie genau die Religion eines Menschen diese Funktion eigentlich erfüllen kann.63 Bei Humboldt wird die integrative Einheit aller ausdifferenzierten Bezüge gestiftet durch »ein Bild, woraufhin sie [die Selbstbetätigung, G.H.] sich bildet«.64 Dieser Hinweis ist höchst bedenkenswert. Denn Humboldt zufolge ist der Ort der Integration nicht das Denken, vielmehr wird Bildung als von der Tätigkeit und deren möglicher Ganzheit her begriffen. Aber auch bei Humboldt bleibt die Frage nach dem Charakter und dem Zustandekommen dieses »Bildentwurfs« offen.65

58

BALLAUFF: Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 185, 165ff. So auch ebd., 235, 243, 245. 60 B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 228. Wo diese Dimension der Einheit übersehen oder für unwichtig erachtet wird, spielt Religion auch keine systematische Rolle für Schleiermachers Verständnis der Bildung. Dies ist der Fall in der bedeutenden Studie über Schleiermachers Erziehungslehre von Johannes S CHURR: Schleiermachers Theorie der Erziehung. Interpretationen zur Pädagogikvorlesung von 1826, Düsseldorf 1975, und ebenso bei Jens Brachmann, der die Pädagogik Schleiermacher nachzeichnet, ohne auf die Bedeutung der Religion einzugehen: Jens B RACHMANN: Friedrich Schleiermacher. Ein pädagogisches Porträt, hrsg. v. Alfred S CHÄFER (Pädagogische Portraits), Weinheim und Basel 2002. 61 B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 144f. 62 Friedrich S CHLEIERMACHER : Vorlesungen über die Pädagogik im Sommer 1826, 543– 884 (im Folgenden zit. als Pädagogik 1826), 677 Z. 28f. Vgl. ebenso DERS .: Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1813/14, in: KGA II/12, 257–324 (im Folgenden zit. als Pädagogik 1813/14), 294, wo Schleiermacher als Alternativen zur Religion als handlungsleitendem Prinzip die Skepsis und die bloß individuelle Befindlichkeit nennt, vgl. dazu auch weiter unten Abschnitt 9.2.2.2, 237. 63 Vgl. B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 143–150. 64 BALLAUFF : Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 186. 65 Ebd., 186. 59

1.2 Die religiöse Dimension der Bildung

13

Oliver Heller hat an eine ähnliche Einsicht Wittgensteins erinnert, wonach ein Bild »am Grunde alles Denkens« liegt, das er mit der Religiosität eines Menschen in Verbindung bringt:66 »In jedem Falle also liegt unserem Denken und damit auch unserem Sprechen und Handeln ein Bild zugrunde, aus dem wir Orientierung gewinnen darüber, wer wir sind und was wir wollen.«67 Auch bei Schleiermacher macht Heller einen solchen Zusammenhang von Bild und Religiosität aus – allerdings ohne einen Rekurs auf Schleiermachers Theorie des Zustandekommens und Geprägtwerdens der Religion.68 So bleibt auch bei ihm das Verhältnis von Handeln und Religion unklar. Gerade dieses Theoriestück Schleiermachers aber mit seinem Hinweis auf das Ereignis von Totaleindrücken ermöglicht ein Verständnis der Bildung im Sinne der Integration des Ausdifferenzierten zu einer Einheit. Denn das Erleben von Wahrheit über den Menschen besitzt das Potential, den eigenen Umgang mit dem Bezogensein zu orientieren und ihn zum Ausdruck des eigenen Wahrheitsgefühls werden zu lassen.69 Eine Annäherung an Schleiermachers Religionsverständnis über das Geprägtwerden der Religion, und damit über ihre Bildung, verspricht auch einen Beitrag zu leisten bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie bei Schleiermacher.70 Zuletzt hat Daniel Tobias Bauer darauf hingewiesen, dass Bildung von Schleiermacher nicht nur im Horizont seiner philosophischen Theorie entfaltet wird. Vielmehr könne auch vom christlichen Glauben ausgegangen werden, um von dort aus Schleiermachers Bildungsverständnis zu erschließen.71 Dieses ergebe sich dann aus dem Nach-Denken des christlichen Glaubens.72 Diese Betonung von positiver Religion als möglichem Zugang zur Bildungstheorie Schleiermachers ist wichtig, da Schleiermachers Beharren auf der Positivität von Religion oft zugunsten seines allgemeinen Religionsbegriffs vernachlässigt wurde, dessen Ur66

Ludwig W ITTGENSTEIN: Vermischte Bemerkungen, in: DERS .: Werkausgabe Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1989, 567f. Auf das Bild als Grundkategorie der Religion weist auch K UNSTMANN: Religion und Bildung (wie Anm. 6), 289ff., bes. 304f. hin. 67 H ELLER : Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), 9. 68 Ebd., 455ff. Ebenso auch K UNSTMANN : Religion und Bildung (wie Anm. 6), 305. 69 Diese Verbindung zwischen der Frage nach Bildung und der Frage nach der Wahrheit ist keineswegs neu, sondern nimmt einen Hinweis auf, den etwa schon der Pädagoge Theodor Ballauff gegeben hatte: Vgl. etwa BALLAUFF: Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 234. Ebenso weist Ernst L ICHTENSTEIN: Bildungsgeschichtliche Perspektiven. Glaube und Bildung – Bildung als geschichtliche Begegnung, Ratingen bei Düsseldorf 1962, 24ff. auf den Logos-Bezug der Bildung hin. Gegenwärtig wird von Seiten des Konstruktivismus versucht, den Bezug von Bildung auf Wahrheit einzuschränken auf den Bezug von Bildung auf »Viabilität«, vgl. dazu M IKHAIL: Bilden und Binden (wie Anm. 41), 235f. Zur Kritik an diesem Konzept der Viabilität vgl. ebd., 237–240. 70 Vgl. dazu grundlegend Eilert H ERMS : Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 400–426. 71 Daniel Tobias BAUER : Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher, Tübingen 2015, 3f. 72 Vgl. ebd., 136.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

sprung damit wiederum undeutlich wurde. Allerdings neigt auch Bauer dazu, den theologischen und den philosophischen Zugang als Alternativen zu verstehen.73 Schleiermachers eigene Pointe hinsichtlich der Bildungstheorie besteht m. E. aber darin, dass mit dem Erleben einer individuellen Bildungsgestalt menschlichen Lebens als der wahren Gestalt zugleich ein individuelles und ein allgemeines Moment gegeben sind: Zum einen kann auf diese eine individuelle Gestalt reflektiert werden, zum anderen auf die allgemeinen Bedingungen, die sie variiert und unter denen sie steht. Während Theologie eher auf die individuelle Gestalt bezogen ist, bezieht sich die Philosophie eher auf die allgemeinen Bedingungen dieser Erscheinung. Beide Aspekte lassen sich aber nicht voneinander trennen; denn der ausschließliche Bezug auf eine individuelle Gestalt ließe die Theologie irrational werden, der ausschließliche Bezug der Philosophie auf die allgemeinen Bedingungen diese zur leeren Spekulation degenerieren. Auch hier eröffnet das Verständnis des Geprägtwerdens von Religion durch Totaleindrücke einen bislang wenig genutzten Zugang zu Schleiermachers Denken insgesamt. Dass Bildung nach Shaftesbury und G.W.F. Hegel genau dadurch gekennzeichnet ist, dass sich in der Mannigfaltigkeit des Handelns die innere Einheit eines Menschen ausdrückt,74 kann mit Schleiermachers Theorie genauer ausgeführt werden: Das Gefühl für Wahrheit, eben Religion, ist das, was in allem Umgang mit dem eigenen Bezogensein seinen Ausdruck finden kann. Die Pointe von Schleiermachers Bildungsverständnis besteht folglich darin, dass Bildung das Gestaltgewinnen des ganzen Menschen beschreibt, und damit sowohl das ist, woran sich Religion entzündet, als auch das, worin sie sich wiederum ausdrückt: Bildung ist Eindruck und Ausdruck der Religion. Die Entfaltung des Phänomens Bildung weist damit auch auf eine wesentliche religiöse Dimension hin, die anhand von Schleiermachers Theorie nachgezeichnet werden kann. Da Schleiermacher zufolge die religiöse Dimension der Bildung keine bloße Prämisse der Religion ist, sondern im Rahmen der Beschreibung des Phänomens zutage tritt, könnte Schleiermachers Bildungstheorie auch für die Erziehungswissenschaften anschlussfähig sein.

1.3 Die kritische und normative Dimension von Bildung Schleiermachers Bildungsverständnis bezieht die Ausdifferenzierung des Bezogenseins auf deren Integration zu einer Einheit. Ohne diese Integration kann nur eingeschränkt von Bildung die Rede sein. Dadurch hat die Rede von Bildung auch einen kritischen Sinn, weil der Grad der Integration des Ausdifferenzierten 73 BAUER : Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 165. Dabei sagt er aber selbst (ebd., 183), dass der Theologe Schleiermacher von einem nicht-religiösen Bildungsverständnis ausgeht. 74 Vgl. L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 14, 31.

1.3 Die kritische und normative Dimension von Bildung

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unterschiedlich ausfallen kann. Dass Bildung immer einen kritischen Sinn hat, ist keineswegs eine Entdeckung Schleiermachers. Auch Hartmut von Hentig geht etwa davon aus, dass sich Maßstäbe von Bildung finden lassen. Er spricht von »Bildungskriterien«, die er allerdings nicht systematisch entwickelt.75 Das Kriterium wahrer Bildung, ihre Norm, ist bei Schleiermacher das Sein selbst.76 Es ist keine Rede von Bildung denkbar, die nicht von einer Norm ausgeht. Auch in der Gegenwart etwa wird »nur zugelassen, was mit einem allgemein unterstellten humanitären Ethos vereinbar ist«.77 Handelt es sich dabei grundsätzlich um einen naturalistischen Fehlschluss (»naturalistic fallacy«), der hier, auch von Schleiermacher, begangen wird?78 Schleiermacher hat sich mit der Frage nach dem Zusammenhang von Sein und Sollen in seinem Akademievortrag »Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz« auseinander gesetzt.79 Dabei wird deutlich, dass Sein für ihn immer dann unterbestimmt ist, wenn darunter nur einzelne Zustände oder Prozesse verstanden werden. Genau ein solches Verständnis von Sein wird dort vorausgesetzt, wo der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses erhoben wird. Nach Schleiermacher gehören aber auch die allgemeinen Bedingungen und der jeweils gattungsspezifische Richtungssinn von Seiendem zum Sein dazu.80 Erst durch den Bezug der individuellen Bildungsprozesse auf ihre Bedingungen ist die Frage nach einer Angemessenheit von Bildung möglich und sinnvoll. Mit dieser Beschreibung von Sein steht Schleiermacher in einer naturphilosophischen Tradition,81 die spätestens mit Paracelsus beginnt und die dem aristote75 H ENTIG : Bildung (wie Anm. 41), 35. Kritische Anmerkungen zu den fehlenden Gründen für die Auswahl der Kriterien bei von Hentig finden sich bei P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 16. 76 Die Ablehnung einer normativen Pädagogik durch Dietrich Benner bezieht sich nicht grundsätzlich auf das Sein als Norm, sondern darauf, dass außerpädagogische Handlungsfelder ihre Sicht des Seins auf den Bereich der Pädagogik und des pädagogischen Handelns zu übertragen suchen, so B ERMGES: Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 229f. Vgl. auch a.a.O., 236. 77 P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 24. Vgl. dagegen die Kritik Theodor Ballauffs am Menschen als Maßstab der Bildung: A.a.O., 54. 78 Vgl. Alexis F RITZ : Der naturalistische Fehlschluss. Das Ende eines Knock-OutArguments (Studien zur theologischen Ethik 124), Fribourg 2009. Vgl. auch Eilert H ERMS: Art. »Sein/Sollen«, in: RGG4 VII (2004), 1143–1144. 79 Friedrich S CHLEIERMACHER : Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz, in: DERS .: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11: KGA I/11, hrsg. v. Martin RÖSSLER, Berlin und New York 2002, 429–451 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz). 80 Dieser Begriff des »Richtungssinns« findet sich in den Schleiermacher-Interpretationen von Eilert Herms, vgl. etwa Eilert H ERMS: Reich Gottes und menschliches Handeln, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 101–124, 114, Anm. 27. 81 Vgl. S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 64, bes. Fußnote 21, abgedruckt als Endnote, 494: Hier führt Schurr den Begriff der âντελèχεια bei Aristoteles aus, und dann dessen Rezeption durch Schleiermacher.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

lisch-teleologischen Denken verpflichtet ist.82 Paracelsus hatte Bildung bereits als einen Wesenszug allen Seins ausgemacht: »Alle Dinge sind gebildet.«83 Dabei hatte er zugleich eine innere und eine äußere Zweckmäßigkeit ausgemacht, denn alles Sein habe einen ihm eingestifteten Bildungstrieb, und dieser sei seinerseits auf ein von Gott eingestiftetes Bildungsziel hin ausgerichtet.84 Dieses Bildungsverständnis hat teleologischen Charakter, da alles als Moment zielgerichteter Bewegungen verstanden wird.85 Damit ist festgehalten, dass Bildung auf eine Bestimmung hin ausgerichtet ist; insofern wird Bildung teleologisch beschrieben.86 Zugleich ist aber der individuelle Verlauf innerhalb dieses Korridors nicht determiniert: Das von außen gesetzte Ziel wird nicht von selbst erreicht, sondern nur dann, wenn es vom Seienden selbst auch angestrebt wird. Damit ist ein »dramatische[s] Geschehen in dem bildenden Wirken der Natur« in Gang gesetzt, wie Ernst Lichtenstein dieses Verständnis der Wirklichkeit durch das teleologische Denken beschrieb:87 Das individuelle Seiende kann nämlich seinem ihm eingestifteten Ziel durchaus widersprechen. Dieses naturphilosophische Denken gelangte über Comenius,88 Rousseau und Pestalozzi, über Jakob Böhme, Leibniz89 und Herder zur Romantik,90 und lässt sich auch bei Hegel und Schleiermacher identifizieren.91 Dabei drückt sich in dieser Denktradition die Überzeugung aus, dass physikalische Kausalität allein nicht ausreicht, um das darauf aufbauende lebendige Werden zu beschreiben.92 82

So auch H ELLER: Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), 455. Vgl. L ICHTENSTEIN: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 7. 84 Vgl. ebd., 8. 85 Vgl. Jürgen-Eckhardt P LEINES : Art. »Teleologie«, in: TRE 33 (2002), 36–41, hier Sp. 37. 86 Dieses Verständnis der Wirklichkeit als einer, die nicht nur kausal, sondern auch final bestimmt ist, geht auf Aristoteles zurück, vgl. Robert S PAEMANN: Naturteleologie und Handlung, in: DERS .: Philosophische Essays, 41–59, hier 42, und wurde Robert Spaemann zufolge aus »metawissenschaftliche[n] Gründe[n]« aufgegeben: ebd., 42f. 87 L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 8. 88 Vgl. für einen ersten Überblick Klaus S CHALLER : Johann Amos Comenius. Ein pädagogisches Porträt (Pädagogische Porträts), Weinheim, Basel und Berlin 2004, detaillierter dagegen die frühere Studie: DERS .: Die Pädagogik des Johann Amos Comenius und die Anfänge des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert (Pädagogische Forschungen 21), Heidelberg 1962. 89 Vgl. BALLAUFF : Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 163, der Bildung und Entwicklung identifiziert. 90 Zu Herders Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Natur vgl. Claas C ORDE MANN : Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal (Beiträge zur historischen Theologie 154), Tübingen 2010, 23–30. 91 Vgl. dazu insgesamt L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 8f. 92 Vgl. dazu auch Elisabeth G RÄB -S CHMIDT : Der lebendige Grund personaler Identität. Überlegungen zu einem leibbezogenen Personkonzept im Anschluss an Wilhelm Dilthey, in: 83

1.3 Die kritische und normative Dimension von Bildung

17

Dem teleologischen Denken zufolge kann das kosmische Werden insgesamt als einem bestimmten Richtungssinn folgend, und damit in gewisser Weise als Bildungsprozess gedacht werden.93 Allerdings bestand eine Schwierigkeit teleologischen Denkens in der Verhältnisbestimmung von endlichen und unendlichen Zwecken: Wie ist das Verhältnis zu denken zwischen denjenigen Zielen, die sich das Individuum setzt und die es verfolgt, und denjenigen, die durch die Transzendenz gesetzt sind? Wie lässt sich zwischen endlichen und unendlichen Zwecken unterscheiden, ohne dass dadurch eine Kluft zwischen Sein und Sollen, zwischen Natur und τèλοσ aufbricht?94 In der Neuzeit gab diese Spannung Anlass zur Verabschiedung des teleologischen Denkens insgesamt.95 Verschiedentlich wurde in der Forschung darauf hingewiesen, dass trotz der Verabschiedung des teleologischen Denkens keine Bildungstheorie ohne ein Ziel des Gebildetwerdens,96 letztlich also ohne eine Vorstellung von der Bestimmung des Menschen auskommt.97 Dies macht es aber erforderlich, auch auf der Ebene des Seinsverständnisses die Möglichkeit einer sinnvollen Rede über eine solche Bestimmung zu klären. Anhand von Schleiermachers Denken kann diese Verbindung zwischen seinem Verständnis von Bildung als Wesenszug des Seins und von Bildung als einem Wesenszug des Menschen herausgearbeitet und plausibilisiert werden. Dies eröffnet außerdem die Möglichkeit einer ethischen Thematisierung von Bildung, da die Bildung des Menschen in den Blick rückt als ein Handeln, das hinsichtlich der Übereinstimmung mit seinen Bedingungen analysiert werden kann. Daraus können Kriterien für angemessene Gestalten von Bildung entwickelt werden.

Leibhaftes Personsein, Leipzig 2015, 77–96, 78, die konstatiert, dass trotz großer Bemühungen von Seiten der Naturwissenschaften bislang unklar ist, was Lebendigkeit letztlich konstituiert. 93 Bei Hegel haben Vernunft und Bildung einen kosmologischen Sinn: Vgl. Egon S CHÜTZ : Vernunft und Bildung. Rückfragen an G.W.F. Hegel (Nahtstellen VII), Kippenheim 1981, 126: Sie haben »Weltcharakter«, und der Weltgeist selbst durchläuft mittels der Weltgeschichte einen Bildungsprozess, vgl. a.a.O., 127. 94 Vgl. P LEINES : Teleologie (wie Anm. 85), Sp. 38. 95 Vgl. ebd., Sp. 39; Schleiermachers teleologisches Denken wird daher auch von B ERM GES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 235, als Teil seines Denkens dargestellt, das nicht modern sei. Diese Feststellung darf aber nicht vorschnell dazu verführen, auch die Unangemessenheit seines Denkens zu behaupten – denn dabei handelt es sich um eine andere Frage. 96 Vgl. P REUL : Anthropologische Fundamente des christlichen Erziehungs- und Bildungsverständnisses (wie Anm. 6), 152. 97 S CHWEITZER : Bildung (wie Anm. 7), 145–158. Anders dagegen Jürgen O ELKERS : Der Mensch als Maß des Bildungswesens?, in: Menschenbild und Menschenwürde. Zehnter Europäischer Theologenkongreß vom 26. bis 30. September 1999 in Wien (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 17), Gütersloh 2001, 118–137, hier 126, 134.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

1.4 Ziel und Vorgehen der Studie Der Sachverhalt der Bildung und die Bedeutung der Religion hierfür ist bei Schleiermacher ein zentrales Thema, das sein ganzes Werk durchzieht. Ursula Frost hat dementsprechend festgehalten, dass »[w]eit über die Pädagogik hinaus in Schleiermachers gesamten Denkansatz eine Bildungstheorie enthalten [ist], die ohne seinen spezifischen Religionsbegriff nicht verstanden werden kann«.98 Allerdings hat er selbst keine »geschlossene Bildungstheorie entwickelt«, wie zuletzt Daniel Tobias Bauer konstatierte.99 Bildung wird von Schleiermacher in sehr verschiedenen Schriften und aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven betrachtet, ein Schicksal, das die Bildung mit der Kunst teilt.100 Dass Schleiermachers Verwendung des Wortes »Bildung« dabei gar keinen inneren Zusammenhang erkennen lasse, wird aber nur selten behauptet.101 Vielmehr kann durchaus von einem Gesamtzusammenhang seiner unterschiedlichen Äußerungen zur Bildung ausgegangen werden, weil sein Denken und sein wissenschaftliches Werk ein stimmiges Ganzes bilden.102 Um das Bildungsverständnis Schleiermachers zu erarbeiten, bieten sich grundsätzlich zwei Vorgehensweisen an. Das Bildungsverständnis Schleiermachers könnte in einer historischen Perspektive betrachtet und zu erhellen versucht werden; es könnte mit anderen Bildungsverständnissen seiner Zeit verglichen werden oder selbst in seiner Geschichtlichkeit verstanden und hinsichtlich der ihm zugrundeliegenden Einflüsse und seiner Entwicklungsstadien untersucht werden.103 Diese geschichtliche Perspektive auf Schleiermachers Bildungsverständnis ist unbedingt erforderlich, da sich Stärken, Chancen und Schwächen seines Bildungsverständnisses erst vor dem

98 Ursula F ROST : Die Wahrheit des Strebens. Grundlagen und Voraussetzungen der Pädagogik Friedrich Schleiermachers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 69 (1993), 466–489, hier 483. Dabei betont Frost zwar die Bedeutung der Bilder (ebd., 483); aber der Zusammenhang zwischen diesen und der Transzendenz bleibt doch unklar, weil Frost nicht auf das Zustandekommen von Religion eingeht. 99 BAUER : Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 7. 100 Vgl. Thomas L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (Deutscher Idealismus 13), Stuttgart 1987, 10. 101 Von einem »laxen Gebrauch des Wortes ›Bildung‹« spricht etwa Steffen K LEINT : Über die Pädagogik D. F. E. [sic!] Schleiermachers. Theoriebildung im Spannungsfeld von Kritik und Affirmation (Europäische Hochschulschriften 11), Frankfurt a. M. u. a. 2008, 303. Vgl. dazu auch R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 9. 102 Vgl. L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 10. 103 Ein knapper Überblick über Schleiermachers eigene Prägungen findet sich bei: G LATZ : Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 31), 77–79.

1.4 Ziel und Vorgehen der Studie

19

Hintergrund seiner Zeit und unserer Gegenwart, also nur im Horizont anderer Bildungsverständnisse erkennen lassen.104 Sollen nun aber nicht nur einzelne Aussagen über Bildung miteinander verglichen werden, sondern die innere Systematik des jeweiligen Bildungsverständnisses, dann ist zunächst einmal eine Erarbeitung dieser Systematik seines Bildungsverständnisses unabdingbar. Gerade an dieser Stelle besteht allerdings ein Forschungsdesiderat. Eine systematische Darstellung von Schleiermachers Bildungsverständnis steht noch aus. So bedarf der Zusammenhang zwischen derjenigen Bildung, die sich auf der Ebene des Seins abspielt, und der Bildung des Menschen genauso der Erarbeitung, wie der Zusammenhang der unterschiedlichen Dimensionen menschlicher Bildung: Wie verhalten sich die das Zusammenleben betreffende Bildung zur individualanthropologischen und pädagogischen Bildung? Dabei gilt es auch die systematische Bedeutung der Religion für die Bildung des Menschen genauer zu erhellen. Bildung ist nach Schleiermachers Auffassung ein Geschehen, das sich am Einzelnen abspielt und auch einen pädagogischen Umgang verlangt. Allerdings ist Bildung keineswegs auf die Phase des Heranwachsens beschränkt, sondern stellt ein Merkmal des Menschseins insgesamt dar. Darüber hinaus richtet sich Bildung auch auf das Zusammenleben und beschreibt das Gestaltgewinnen des Zusammenlebens und seiner Institutionen. Für eine derartige systematische Analyse ist also der genaue Zusammenhang von Sozialethik, Individualanthropologie und Pädagogik in Schleiermachers Wissenschaftssystem von Bedeutung. Unstrittig ist in der Schleiermacher-Forschung, dass sich seine pädagogische Theoriebildung im Horizont seiner Ethik105 bewegt. Für seine Pädagogik hält Schleiermacher dies auch explizit fest: »Somit steht die Theorie der Erziehung in genauer Beziehung zur Ethik, und ist eine an dieselbe sich anschließende Kunstlehre.«106 Die Bedeutung der Ethik für das Bildungsverständnis insgesamt wurde bereits von Friedhelm Brüggen107 und Hermann Fischer betont,108 und ebenso hielt neuerdings Franziska Bartel fest, dass die »Ethik die allgemeine Formel für die Erziehungslehre bereit[stellt]«.109 In gleicher Weise machte auch Ursula Frost auf die »zentrale Bedeutung, die Bildung innerhalb 104

Äußerst reizvoll wäre etwa ein Vergleich mit dem Bildungsverständnis Herders, zu dem es große Parallelen aufweist, oder mit dem Humboldts, von dem es sich in zentralen Punkten unterscheidet. 105 Schleiermachers wissenschaftliche Disziplinen werden im Folgenden durch Kursivsetzung kenntlich gemacht. 106 Pädagogik 1826, 12, 13; vgl. ebenso schon Pädagogik 1813/14, 211. 107 Vgl. Friedhelm B RÜGGEN : Freiheit und Intersubjektivität. Ethische Pädagogik bei Kant und Schleiermacher, Münster 1986, 125, besonders auch Anmerkung 76 auf S. 235. 108 Hermann F ISCHER : Schleiermachers Theorie der Bildung, in: Joachim O CHEL (Hrsg.): Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Göttingen 2001, 129–150, hier 140. 109 Franziska BARTEL : Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher, Würzburg 2012, 189.

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Kapitel 1 Einleitendes zum Diskurs über Bildung und Religion

der Ethik Schleiermachers von Anfang an eingenommen hat«, aufmerksam.110 Nach Eilert Herms hat die Ethik »die organisierende Funktion für den systematischen Zusammenhang aller seiner [verstehe: Schleiermachers] wissenschaftlichen Arbeiten«.111 Umso erstaunlicher ist vor dem Hintergrund dieses einhelligen Konsenses, dass die Ethik bislang nicht zum systematischen Ausgangspunkt für eine Erarbeitung des Bildungsverständnisses Schleiermachers genommen wurde. Vielmehr wurden für die Erarbeitung von Schleiermachers Bildungsverständnis überwiegend Passagen aus den Reden, den Monologen, den Vorlesungen zur Pädagogik und aus der Glaubenslehre herangezogen, so in den vorliegenden Arbeiten von Matthias Riemer,112 Ursula Frost,113 Christiane Ehrhardt,114 Stephanie Bermges115 und Franziska Bartel.116 Auch Oliver Heller, der sowohl die Ethik, die Psychologie, die Dialektik und die Hermeneutik auf ihre bildungstheoretischen Aussagen hin auswertet, nimmt doch die Ethik nicht zum systematischen Ausgangspunkt seiner Analyse.117 Im Folgenden wird das Bildungsverständnis Schleiermachers also besonders von seiner Ethik her analysiert, weil sie einen besonders guten Zugang zur inneren Systematik von Schleiermachers Denken bietet, und damit auch als Zugang zu einer Analyse seines kategorialen Bildungsverständnisses geeignet ist. Ziel der vorliegenden Studie ist also die Erarbeitung der Systematik von Schleiermachers Bildungsverständnis. Da der Religion eine besondere Bedeutung für das gebildete Menschsein zukommt, ist auch diese Dimension der Bildung herauszuarbeiten. Die Frage nach dessen innerer Entwicklung und nach dem Verhältnis zu anderen Bildungsverständnissen rückt dagegen eher in den Hintergrund. Eine grundlegende Zweiteilung der Studie ergibt sich daraus, dass Schleiermacher von Bildung nicht nur als einem spezifisch menschlichen Phänomen spricht, sondern sie auf einer noch grundsätzlicheren Ebene verortet, nämlich auf der des Seins überhaupt. Daher ist zunächst in einem ersten, fundamentalethischen Teil das Seinsverständnis Schleiermachers und das darin zu stehen kommende Verständnis von Bildung darzustellen,118 bevor der Fokus dann in einem zweiten 110 Ursula F ROST : Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie religiöser und allgemeiner Bildung bei Friedrich Schleiermacher, Paderborn 1991, 28. 111 H ERMS : Reich Gottes und menschliches Handeln (wie Anm. 80), 101. Ebenso Ulrich BARTH: Die Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Theologische Rundschau 2001, 408–461, hier 427. 112 R IEMER : Bildung und Christentum (wie Anm. 42). 113 F ROST : Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110). 114 Christine E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher. Eine Analyse der Beziehungen und des Widerstreits zwischen den »Reden über die Religion« und den »Monologen«, Göttingen 2005. 115 B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13). 116 BARTEL : Die Entstehung des Erziehungsdenkens bei Schleiermacher (wie Anm. 109). 117 H ELLER : Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), besonders 104–144. 118 Vgl. Abschnitt I.: »Die Bedeutung von Bildung in Schleiermachers Verständnis von Sein und dessen Gegebenheitsweise im Gefühl« ab S. 25.

1.4 Ziel und Vorgehen der Studie

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Teil auf die Bildung des Menschseins gerichtet werden kann.119 Die Bildung des Menschen ist vor dem Hintergrund von Schleiermachers Ethik als Bildung von Gütern,120 als individualanthropologische Bildung121 und als bildende Vermittlung zwischen einzelnem Menschen und dem Zusammenleben zu beschreiben.122 Das Sein kann Schleiermachers Verständnis zufolge allerdings keineswegs an und für sich dargestellt werden, vielmehr hat das Seinsverständnis stets die Gegebenheitsweise des Seins für den Verstehenden zu berücksichtigen. Schleiermachers Modernität kann darin gesehen werden, dass er die Gegenstände des Wissens nicht einfach an und für sich zu reflektieren versucht, sondern einschließlich der Weise, wie diese für den Menschen da sind. Das Bewusstsein der Gebundenheit des Menschen an die jeweilige Gegebenheitsweise eines Sachverhaltes ist auch der Grund dafür, dass er sich der geschichtlichen Perspektivität aller wissenschaftlichen Bemühungen bewusst war.123 Dass es dem Menschen nun überhaupt möglich ist, sich auf Sein zu beziehen, verdankt er dem Gegebensein seines Bezogenseins für ihn im Gefühl. Diese Gegebenheitsweise von Sein im Gefühl ist daher ebenfalls darzustellen.124 Dabei wird auch die Religion als eine Bestimmtheit des Gefühls zu thematisieren sein. Schleiermacher selbst schrieb in seinen Reden über die Religion über den zu seiner Zeit in Angriff genommenen Umbau des Erziehungswesens und über die Reformen auf dem Gebiet der Erziehung: »Es ist mit den Verbeßerungen der Erziehung gegangen wie mit allen Revoluzionen, die nicht aus den höchsten Prinzipien angefangen wurden; sie gleiten almählich wieder zurük in den alten Gang der Dinge und nur einige Veränderungen im Äußeren erhalten das Andenken der Anfangs für Wunder wie groß gehaltenen Begebenheit.«125

Schleiermacher sah den Grund für die kurze Dauer pädagogischer Veränderungen darin, dass sie nicht »aus den höchsten Prinzipien angefangen wurden«. Im Folgenden geht es nun nicht um pädagogische Reformen, sondern um das Bildungsverständnis Schleiermachers. Aber auch bei dessen Analyse sollen etwaige Verbesserungen im Verständnis dadurch vor dem »Zurückgleiten« bewahrt werden, dass auf die »höchsten Prinzipien« von Schleiermachers Denkens zurückgegangen wird.

119

Vgl. Abschnitt II.: »Gebildetes Menschsein und die Bedeutung der Religion« ab S. 123. Vgl. Abschnitt 7.: »Gebildetes Zusammenleben« ab S. 129. 121 Vgl. Abschnitt 8.: »Gebildeter Mensch« ab S. 173. 122 Vgl. Abschnitt 9.: »Gebildete Erziehung« ab S. 217. 123 Vgl. für die Perspektivität der Dialektik etwa B RÜGGEN : Freiheit und Intersubjektivität (wie Anm. 107), 110; eine Absage an eine allgemeingültige Pädagogik findet sich in der Einleitung zu seiner Pädagogik: Pädagogik 1826, 21, 24. 124 Vgl. Abschnitt 4.: »Gefühl und Bildung« ab S. 55. 125 Friedrich S CHLEIERMACHER : Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: KGA I/2, Berlin und New York 1984, 185–326 (im Folgenden zit. als Reden), 260, Z. 19–24. 120

Teil I

Die Bedeutung von Bildung in Schleiermachers Verständnis von Sein und dessen Gegebenheitsweise im Gefühl

2. Kapitel

Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung

Das menschliche Leben ist nach Schleiermacher nicht angemessen zu beschreiben ohne die Kategorie der Bildung. Dabei beschreibt Bildung bei Schleiermacher nicht nur diejenige Bildung, die man als schulische Bildung bezeichnen könnte. Die Rede von Bildung begegnet nicht erst in Schleiermachers Vorlesungen zur Erziehungskunst, sondern bereits in seiner Ethik. Ist dort vom »Bildungsprozeß« die Rede, beschreibt Schleiermacher damit das »organisierende« Handeln des Menschen auf die Natur, das zur Folge hat, dass diese zu einem Werkzeug des Menschen wird.1 Von Bildung kann aber auch hinsichtlich der anderen, »symbolisierenden« Handlungsform die Rede sein, etwa wenn Schleiermacher von »Vernunftbildung« spricht.2 Damit wird deutlich, dass Schleiermacher den Sachverhalt, den er als »Bildung« bezeichnet, für menschliche Tätigkeit überhaupt verwenden kann. Aber auch dies erschöpft noch nicht das, was Schleiermacher als Bildung bezeichnet. Denn er spricht nicht erst im Zusammenhang mit dem Menschen von Bildung, sondern versteht sie als ein Phänomen, das sich an allen im Sein auftretenden, lebendigen Individuen zeigt und an denen er ebenso wie am Menschen »Bildungsprozesse« beobachtet.3 Bildung ist daher zunächst kein Spezifikum des Menschen, sondern kennzeichnet einen Wesenszug alles individuellen Seienden, das am Ort des Menschen in besonderer Weise variiert wird.4 Damit teilt Schleiermacher nicht nur ein Verständnis von Bildung, das sich schon vor ihm etwa bei Paracelsus, Comenius, Herder und Goethe findet, und das auch nach ihm keineswegs verschwindet, sondern von Romano Guardini und Max Scheler aufgegriffen und bearbeitet wird.5 Vielmehr ordnet Schleiermacher damit auch das Geschehen von Bildung am Menschen in 1 Friedrich S CHLEIERMACHER : Ethik (1812/13), in: WA II, 245–420 (im Folgenden zit. als Ethik 1812/13), § 58, 269. 2 Ebd., § 7, 276. 3 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 448 Z. 13. 4 Vgl. H ERMS : Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (wie Anm. 1), 227f. 5 Für einen Überblick vgl. Ernst L ICHTENSTEIN : Art. »Bildung«, in: Joachim R ITTER / Karlfried G RÜNDER (Hrsg.): Historisches Handwörterbuch der Philosophie 1 (1971), 921–937.

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Kapitel 2 Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung

den Horizont eines Geschehens von Bildung an allem individuellen Seienden ein und vermag beide kritisch aufeinander zu beziehen. Bevor also eine Hinwendung zur Frage nach der Bildung des Menschen erfolgen kann, muss zunächst Schleiermachers Verständnis des Seins in den Blick gefasst werden, um sein Verständnis von Bildung innerhalb von Sein überhaupt zu analysieren. Das Sein wiederum wird von Schleiermacher, darin Kant folgend, nur unter Berücksichtigung seines Erscheinens und Gegebenseins für den Menschen thematisiert.6 Für Schleiermacher ist kein angemessenes Seinsverständnis möglich ohne eine bewusstseinstheoretische Erfassung der Gegebenheitsweise von Sein. Dieses Gegebensein des Seins ist zunächst ein Gegebensein für das menschliche Handeln als erkennendes und gestaltendes Umgehen mit Seiendem. Darüber hinaus ist das »für uns Wirkliche«7 nun aber nicht erst für das menschliche Handeln gegeben, sondern bereits für das menschliche Fühlen. Schleiermacher weist auf dieses Gebundensein alles menschlichen Handelns an eine ursprüngliche Vernünftigkeit in § 1 der Güterlehre von 1816/17 hin.8 Hier ist von dem »im Gebiet der Sittenlehre vorausgesezte[n] Ineinander von Vernunft und Natur« als der »Vernünftigkeit der menschlichen Natur, wie sie unabhängig von allem Handeln gedacht wird«, die Rede.9 Schleiermacher zufolge gibt es demnach eine Vernünftigkeit des Menschen, die kein Handeln ist und deswegen von der Sittenlehre vorausgesetzt werden muss. Diese Vernünftigkeit könnte zunächst mit dem Wissen oder Denken identifiziert werden. Allerdings geht aus Schleiermachers weiteren Ausführungen deutlich hervor, dass er das Wissen und Denken gerade nicht als etwas versteht, das »unabhängig von allem Handeln gedacht wird.« In der Sittenlehre ist diese Vernünftigkeit nicht darzustellen, weil sie sich keinem Handeln verdankt und daher auch nicht zum Gegenstandsbereich der Ethik gehört.10 Schleiermacher rechnet demnach mit einer Vernünftigkeit, die Grundlage des Handelns ist, selbst aber nicht durch Handeln zustande kommt. Dass derjenige Sachverhalt, der von Schleiermacher in § 1 der Güterlehre als vor allem Handeln bestehende »Vernünftigkeit« bezeichnet wird, auf das Engste zusammenhängt mit dem Sachverhalt, der unter dem Titel »Gefühl« begegnet, legt sich etwa im 6

Immanuel K ANT: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Jens T IMMERMANN (Philosphische Bibliothek 50), Hamburg 1998, B 25, B 29. Vgl. dazu auch Otfried H ÖFFE: Immanuel Kant, München 8 2014, 56. 7 Friedrich S CHLEIERMACHER : Güterlehre. Letzte Bearbeitung, in: WA II, 561–626 (im Folgenden zit. als Güterlehre (L.B.)), § 50, 533. 8 Vgl. H ERMS : Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins (wie Anm. 70), 414: Herms spricht vom Gefühl als einem »ursprünglichen – ›unmittelbaren‹ – Reflektiertwerden«. 9 Güterlehre (L.B.), § 1, 561 (Hervorhebung: G.H.) 10 Vgl. Friedrich S CHLEIERMACHER : Einleitung zur Ethik. Letzte Bearbeitung, in: WA II, 517–557 (im Folgenden zit. als Einleitung Ethik (L.B.)), § 2, 561: Das »Handeln der Vernunft mit der Natur auf die Natur« ist Gegenstand der Ethik.

Kapitel 2 Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung

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Ausgang von § 52 der Güterlehre von 1816/17 nahe, in dem Schleiermacher notiert: »Es [verstehe: das Gefühl, G.H.] ist also bestimmter Ausdruck von der Art zu sein der Vernunft in dieser besonderen Natur.«11

Das Gefühl selbst ist folglich als Manifestation der Vernunft zu verstehen, und daher eignet auch dem Gefühl selbst eine besondere »Vernünftigkeit«.12 Wenn also das Sein und damit auch der Sachverhalt der Bildung nur unter Berücksichtigung von deren Gegebenheit für den Menschen thematisierbar sind, dann ist es schlüssig, zunächst diese Gegebenheitsweise des Seins für den Menschen im Gefühl zu erhellen. Allerdings ist nun bereits anhand der beiden Zitate deutlich, dass Schleiermacher sein Verständnis des Gefühls als präreflexiver Vernünftigkeit anhand der Begriffe »Natur« und »Vernunft« erläutert.13 Damit ist ein genaueres Verständnis dessen, was er unter »Gefühl« versteht, nur möglich auf dem Boden eines Verständnisses von Natur und Vernunft, deren Bedeutung daher zuerst zu erarbeiten ist. Die genauere Bestimmung dieser beiden Begriffe aber erfolgt bei Schleiermacher in demjenigen Teil seiner Vorlesungen zur Ethik, in dem er sein Verständnis des Seins darlegt. Der bisherige Befund stellt sich wie folgt dar: Schleiermachers Rede von Sein und Bildung berücksichtigt deren Gegebenheitsweise für den Menschen im Gefühl. Eine sachgemäße, weil Schleiermachers eigener Intention folgende Analyse seines Seins- und Bildungsverständnisses erfordert daher zunächst eine Erhellung seiner Theorie des Gegebenseins von Sein im Gefühl.14 Schleiermacher entfaltet allerdings seine Theorie des Gefühls wiederum mit Begrifflichkeiten, die er im Rahmen seines Verständnisses des Seins darlegt. Dies erscheint deswegen plausibel, weil das Gefühl selbst eine bestimmte Form des Seins ist und deswegen im Horizont des Seins steht. Schleiermachers Verhältnisbestimmung zwischen Sein und Gefühl erfolgt also wechselseitig,15 »oszillierend«, wie Schleiermachers eigene Formulierung lautet.16 Dies stimmt zusammen mit seinem Grundverständnis des Philosophierens, demzufolge es nicht den einen richtigen Anfangspunkt gibt, von dem aus deduktiv fortgeschritten werden könnte. Vielmehr ist ein Zugang von unterschiedlichen 11

Güterlehre (L.B.), § 52, 589. Gemeint ist hier die menschliche Natur. Vgl. Ethik 1812/13, § 29, 267: »Das bewegte Selbstbewußtsein ist überall Ausdruck der Art, wie alle Funktionen der Vernunft und Natur Eins sind in dem besonderen Dasein«. 13 Vgl. Güterlehre (L.B.), § 33, 576: Schleiermacher bezeichnet hier das »schlechthin Innere des Menschen« als »Ineinander von Vernunft und Natur«. 14 Auch nach P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 173, ist ein Gefühl nur zugleich mit dem zu verstehen, auf was sich das Gefühl richtet. 15 Vgl. Gunter S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 59. 16 Friedrich S CHLEIERMACHER : Briefe, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Hermann M U LERT, Berlin 1923 (im Folgenden zit. als Briefe), 337–340, bes. 380. 12

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Kapitel 2 Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung

Punkten aus möglich und führt, recht fortgeführt, auf alle anderen damit im Zusammenhang stehenden Sachverhalte.17 Die Frage nach Schleiermachers Verständnis der Bildung des Menschen und der Bedeutung der Religion für die Bildung verweist also zunächst auf das Sein insgesamt und die dort von Schleiermacher beobachteten Bildungsprozesse. Die Beschreibung des Seins wiederum setzt ein Bewusstsein für das Gegebensein des Seins im Gefühl voraus, und damit die Analyse von Schleiermachers Gefühlsverständnis. Diese Theorie des Gefühls lässt sich schließlich nur durch Rekurs auf Schleiermachers Seinsverständnis verstehen und die dort entfalteten Grundbegriffe erhellen. Natur und Vernunft sind dabei von besonders großer Relevanz, da Schleiermacher anhand dieser die Gestalt des Gefühls erläutert: Das Gefühl ist verfasst als »Ineinander von Vernunft und Natur«.18 Ein Nachdenken darüber, was Schleiermacher unter »Natur« und »Vernunft« versteht, erscheint noch dringlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass er mit diesen beiden Begriffen nicht nur die Gestalt, sondern auch den Gehalt des Gefühls beschreibt. In Bezug auf die Erscheinungsweise des Gefühls führt Schleiermacher im Kontext des unübertragbaren Erkennens in der letzten Bearbeitung seiner Güterlehre drei Formen an: das leibliche, das religiöse und das sittliche Gefühl.19 Obwohl deren genaues Verständnis von außerordentlicher Wichtigkeit ist, hat Schleiermacher in seiner Ethik keine direkten Anmerkungen hierzu hinterlassen, so dass sein Verständnis aus einzelnen Bemerkungen und deren jeweiligen Kontexten zu erschließen ist. Den Gehalt, und damit auch den »Gegenstand« des Gefühls20 aber hat Schleiermacher eindeutig bestimmt: »Denn das Gefühl auch von der niedrigsten Art sagt immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur.«21

Der Gehalt des Gefühls besteht nach Schleiermacher also in einem bestimmten Wirkgeschehen, das von einer Instanz ausgeht, die als »Vernunft« bezeichnet wird, und auf eine Instanz gerichtet ist, die Schleiermacher »Natur« nennt. Nun besteht zwischen der Gegebenheitsweise von Sein für den Menschen auf der einen Seite, und dem Sein selbst als dem, was gegeben ist auf der anderen Seite nur ein relativer Gegensatz.22 Beide Sachverhalte, das Sein und sein Gegebensein im Gefühl,23 lassen sich nicht isoliert voneinander bestimmen, sondern nur wechselseitig.24 17

Vgl. S CHOLTZ: Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 53ff. Güterlehre (L.B.), § 1, 561. 19 Ebd., § 52, 589. 20 L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 69. 21 Güterlehre (L.B.), § 52, 589. Vgl. auch Ethik 1812/13, § 30, 267. 22 Ebd., § 19, 247. 23 L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 69. 24 So auch H ERMS : Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins (wie Anm. 70), 406f.: Eilert Herms sieht den Inhalt des Selbstbewusstseins als »das Aufeinanderbezogensein und gegenseitige[s] Sichbeeinflussen von mich bestimmendem Außenweltprozeß und dem die Außenwelt bestimmenden Ichprozeß«. 18

Kapitel 2 Einleitendes zu Sein, Gefühl und Bildung

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Das Sein lässt sich also nur unter Inanspruchnahme seines Gegebenseins im Gefühl beschreiben, und das Gefühl und seine Struktur lassen sich nur verstehen, wenn das verstanden ist, womit es das Gefühl zu tun hat, Natur und Vernunft. Das folgende Kapitel rekonstruiert daher ausgehend von Schleiermachers Ethik zunächst das dort festgehaltene Verständnis des Seins als eines Verständnisses von Bildung. In einem zweiten Schritt wird Schleiermachers Verständnis des Gefühls dargestellt, einschließlich der besonderen Rolle des religiösen. Obwohl dem Gefühl in erkenntnistheoretischer Hinsicht also eine Priorität zukommt, sind zunächst Aufbau und Struktur des Seins zu beschreiben, die auch für die Analyse von Schleiermachers Theorie des Gefühls von herausragender Bedeutung sind – weil das Gefühl selbst nur innerhalb von Sein zu stehen kommt und von diesem her zu verstehen ist.

3. Kapitel

Sein und Bildung

Der Einleitung von Schleiermachers Ethik zufolge ist das Sein zwischen zwei Gegensätzen aufgespannt: Zwischen dem »höchsten Gegensatz« auf der einen,1 und der »größten Verschiedenheit im Umfang« auf der anderen Seite.2 Schleiermacher hatte daher ursprünglich geplant, seiner Ethik die Abbildung zweier sich kreuzender Ellipsen voranzustellen.3 Seine Beschreibung der Wirklichkeit hat ihren wissenschaftlichen Ort innerhalb von Schleiermachers Wissenschaftssystem in der Dialektik, auf die an dieser Stelle zurückgegriffen wird.4 Für Schleiermacher können die Gegensätze wiederum nur so gegeben sein, dass auch deren Einheit erscheint.5 Die besondere Gegebenheit dieser Einheit wird im nächsten Kapitel ausgeführt.6 Schleiermacher skizziert mittels der beiden Gegensätze diejenigen Bedingungen, unter denen alles Seiende steht.7 Damit gewinnt er gewissermaßen ein Koordinatensystem oder einen Variationskorridor für die Beschreibung alles individuellen Seienden.8 Im Folgenden wird deswegen von einem Korridor gesprochen, weil die Bedingungen bei Schleiermacher für einen Prozess gelten, dem ein ursprünglicher 1

Einleitung Ethik (L.B.), § 46, 531. Ebd., § 51, 533. 3 Vgl. Schleiermachers Brief an G. Reimer am 22. Januar 1803, in: Ludwig Jonas und Wilhelm Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, In Briefen, Band III, Berlin 1861, 333. 4 In der Vorlesung von 1812 kennzeichnet Schleiermacher diesen Bezug durch »Lemmata«, vgl. Ethik 1812/13, 247f. 5 Einleitung Ethik (L.B.), § 30, 527. 6 Vgl. Abschnitt 4.: »Gefühl und Bildung« ab S. 55. 7 Seiendes wird im Folgenden unterschieden vom Sein als deren Einheit; so auch HansRichard R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine kritische Interpretation (Beiträge zur evangelischen Theologie Bd. 83), München 1979, 107: Denken kann sich nur auf »Seiendes«, nicht auf die »Einheit des Seins« richten. 8 David Friedrich Strauß hat deswegen auch Schleiermachers Denken wie folgt geschildert: »Es ist ein geistiges Linienziehen und inneres Zeichnen: es werden äußere Punkte angenommen, zwischen welchen sofort das mittlere Feld vermessen wird; Einteilungen gefunden, die sich schneiden; ein geschichtlicher Verlauf sowohl der Länge als der Breite nach geteilt, mit einem Netz von Knotenpunkten überzogen; Reihen aufgestellt, die sich vom Größten zum Kleinsten und umgekehrt ins Unendliche verlaufen« (David Friedrich S TRAUSS: Schleiermacher und Daub, in: Charakteristiken und Kritiken, Leipzig 1839, 1–212, hier 6). 2

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Kapitel 3 Sein und Bildung

Richtungssinn innewohnt. Dieser Aspekt würde etwa bei der Rede von einem »Horizont«, innerhalb dessen individuelles Seiendes auftritt, nicht anklingen. Jedes individuelle Seiende ist als Bildungsprozess verfasst,9 weswegen Schleiermachers Theorie der Bedingungen von Sein als eine Theorie der Bedingungen von Bildung verstanden werden. Die beiden Gegensätze, der »höchste Gegensatz« auf der einen, und die »größte Verschiedenheit im Umfang« auf der anderen Seite spannen folglich einen Korridor für Bildung auf, innerhalb dessen sich alle Bildungsprozesse in ihrer Individualität darstellen lassen. Das Verhältnis zwischen Schleiermachers Seinsverständnis10 und dem individuellen Seienden ist nicht als ein deduktives zu verstehen, in dem die Gegensätze a priori gegeben wären und in einem zweiten Schritt individuelles Seiendes im Horizont dieser Gegensätze betrachtet würden. Vielmehr besteht der Zugang zu den Gegensätzen im individuellen Seienden. Mit Andreas Arndt ist zu betonen, dass Schleiermachers Denken konsequent vom individuellen Seienden seinen Ausgang nimmt und dieses zu beschreiben sucht.11 Im Folgenden ist zunächst in einem ersten Schritt Schleiermachers Seinsverständnis zu skizzieren, wie er es in der Einleitung zur Ethik dargelegt hat.12 Die Analyse dieses Verständnisses hat vorbereitenden Charakter für die Analyse von Schleiermachers Gefühlstheorie, da hier die Bedeutung von Natur und Vernunft erläutert wird. Ferner ist in einem zweiten Schritt Schleiermachers Bildungsverständnis zu entfalten, in dem sich sein Seinsverständnis prägnant konzentriert.13

3.1 Der höchste Gegensatz im Sein Die folgende Analyse des höchsten Gegensatzes nimmt ihren Ausgangspunkt bei Schleiermachers Rede vom »dinglichen« und »geistigen« Sein. Daran wird deutlich, dass Schleiermachers Überlegungen ihren Ausgang bei im Werden stehenden Seienden nehmen. Der Bezug auf den höchsten Gegensatz zwischen »Natur« und »Vernunft« oder auch zwischen »Realem« und »Idealem« charakterisiert die Verfassung dieses im Werden stehenden Seienden genauer14 und führt diese als

9 Vgl. Abschnitt I.: »Die Bedeutung von Bildung in Schleiermachers Verständnis von Sein und dessen Gegebenheitsweise im Gefühl« ab S. 25. 10 Es könnte mit Hans-Richard Reuter auch von einer »Ontologie« gesprochen werden, allerdings nicht im historischen, sondern nur im wörtlichen Sinne einer dem Sein entsprechenden Rede: R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 122. 11 Andreas A RNDT : Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin und Boston 2013, 3–16, bes. 13f. 12 Vgl. dazu die Abschnitte 3.1 Der höchste Gegensatz im Sein ab S. 32; 3.2 Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein ab S. 43ff. 13 Vgl. Abschnitt 3.3.: »Bildung innerhalb des Seins« ab S. 47. 14 Vgl. Abschnitt 3.1.1.: »Der Gegenstandsbezug von ›Natur‹ und ›Vernunft‹« ab S. 33.

3.1 Der höchste Gegensatz im Sein

33

jeweils spezifische Gestalten des Geeinigtseins von Natur und Vernunft aus.15 Dieses Geeinigtsein weist eine Grundstruktur auf16 und erscheint in unterschiedlichen Graden.17

3.1.1 Der Gegenstandsbezug von »Natur« und »Vernunft« Nach Schleiermacher ist der höchste Gegensatz »der des dinglichen und des geistigen Seins«.18 Dieser begegnet immer dann, wenn »Thätigkeiten« in den Blick gefasst werden.19 »Thätigkeit« bezeichnet an dieser Stelle entgegen des heute üblichen Verständnisses nicht in erster Linie das menschliche Handeln. Der höchste Gegensatz bezieht sich vielmehr auf das »Verhalten der Dinge« überhaupt.20 Schleiermacher beschreibt also mit Tätigkeit den Interaktionscharakter von Seiendem. Die Interaktion oder Wechselwirkung ist es, die demnach zugleich auf ein dingliches und geistiges Sein verweist. Dingliches und geistiges Sein bezeichnen also zwei Aspekte der Prozessualität von Seiendem. Dieser Gegensatz, »der nur von unserem Sein hergenommen und nur auf dieses berechnet schien, geht also durch alles für uns Wirkliche.«21

An dieser Aussage Schleiermachers wird zweierlei ersichtlich. Zum einen wird sein philosophischer Ansatz deutlich, der seinen Ausgangspunkt nicht bei allgemeinen Prinzipien oder Kategorien nimmt, sondern bei der Beschreibung des eigenen Seins. Zum anderen wird an dieser Stelle deutlich, dass Schleiermacher den Menschen als eine Variationsgestalt versteht. Der am Mensch entdeckte höchste Gegensatz ist eben das, was er zu sein vorgibt, höchster Gegensatz, da er einen schlechthin allgemeinen Wesenszug im Sein beschreibt, nämlich den prozessualen Charakter alles Seienden. Das, wohinter nicht zurückgegangen werden kann, ist das Werden von Seiendem, sein Tätigsein. Daher findet sich der höchste Gegensatz auch im tierischen und sogar im pflanzlichen Sein.22 In der letzten Bearbeitung der Einleitung zur Ethik wird »Natur« als das »Ineinander alles dinglichen und geistigen als dingliches, d.h. als Gewußtes« bezeichnet, wie umgekehrt die »Vernunft« unter sich das »Ineinander alles dinglichen und geistigen als geistiges, d.h. als Wissendes« begreift.23 Schleiermacher beschreibt 15 Nach Thomas Lehnerers Einschätzung finden sich die präzisesten Ausführungen zum höchsten Gegensatz in der Ethik-Vorlesung von 1816: L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 50. 16 Vgl. Abschnitt 3.1.2.: »Die verschiedenen Formen des Geeinigtseins« ab S. 37. 17 Vgl. Abschnitt 3.1.3.: »Die unterschiedlichen Grade des Geeinigtseins« ab S. 41. 18 Einleitung der Ethik (L.B.), § 46, 531. 19 Einleitung Ethik (L.B.), § 32, 528. 20 Ebd., § 32, 528. 21 Ebd., § 50, 533. 22 Ebd., § 50, 533. 23 Ebd., § 47, 532.

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Kapitel 3 Sein und Bildung

Natur und Vernunft also als Momente einer Relation. Ein Dualismus ist damit ausgeschlossen.24 Keiner der beiden Aspekte kann ohne den anderen erscheinen und angemessen erfasst werden. Beide Begriffe erhalten ein sehr weites Bedeutungsspektrum. Die Schwierigkeit, den von Schleiermacher intendierten Sachverhalt mit den Begriffen Vernunft und Natur zu erfassen, führte zu dem Vorwurf, der Sachverhalt des »höchsten Gegensatzes« sei Schleiermacher selbst »unklar« gewesen.25 Doch auch Schleiermacher war sich dieser Verständnisschwierigkeiten bewusst, sodass er dem Leitsatz hierzu als Anmerkung anfügte: »Daß der Gebrauch der Ausdrücke nicht allen gewohnt sein wird, ist natürlich. Dies wäre aber bei der eben so lächerlichen als heilsamen Sprachverwirrung mit allen anderen [ergänze: Ausdrücken, G.H.] eben so der Fall gewesen.«26

Schleiermacher weist selbst darauf hin, dass sein Gebrauch der Begriffe ungewohnt sein wird. Zum einen dient dies in platonischer Manier dazu, »den selbsttätigen Vollzug des Gedankens dadurch hervorzulocken«.27 Zum anderen sieht Schleiermacher dazu aber auch keine Alternative, da die allen bekannte, alltagssprachliche Verwendung der Ausdrücke stets unscharf und es die Aufgabe der Wissenschaft ist, eine Klärung der Ausdrücke hervorzubringen. Während der alltägliche und philosophische Gebrauch des Wortes »Vernunft« zur Zeit Schleiermachers das geistige Vermögen des Menschen zum Ausdruck bringt, das ihm ein angemessenes Erfassen der Wirklichkeit ermöglicht, und ihn so vom Tier und allem anderen Seienden unterscheidet, hat Schleiermacher einen Sinn des Wortes vor Augen, der auf die innere Spontaneität eines Seienden und damit auf das organisierende Zentrum seines Tätigseins abzielt. Allerdings lässt sich dies nicht ohne ein Verständnis von Natur begreifen, da Schleiermacher beide Begriffe relational bestimmt. Anders als die der aristotelischen Sicht verpflichtete Traditionslinie, die Natur als Gegensatz zum menschlich Gemachten begreift,28 entgrenzt Schleiermacher den Natur-Begriff und begreift auch diesen nicht vom Menschen her, sondern von der Prozessualität des Seienden. Dabei kommt als Natur all das in den Blick, was Grundlage und Ziel von Tätigsein ist. Dies hat Schleiermacher in § 2 seiner 24 So auch Peter G ROVE : Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, 378. 25 So etwa L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 42. Ebenso Falk WAGNER: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974, 76ff. und R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 76ff. 26 Einleitung Ethik (L.B.), § 47, 532. 27 S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 4. 28 Vgl. Robert S PAEMANN : Natur, in: DERS .: Philosophische Essays. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 2012, 19–40, 20: »›Von Natur‹ heißt darin stets, das von menschlicher Praxis nicht gesetzte Seiende«.

3.1 Der höchste Gegensatz im Sein

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Güterlehre von 1816/17 festgehalten, wenn er den Gegenstand der Sittenlehre beschreibt als »Handeln der Vernunft mit der Natur auf die Natur«.29 Dabei ist in Erinnerung zu behalten, dass die Natur selbst als dingliches und geistiges Sein verfasst ist, und Natur keine tote Materie bezeichnet, die eines Eigensinnes entbehrte. Ein weiteres Missverständnis bestünde darin, die Natur als eine der Vernunft gegenüber stehende Größe zu denken. In diesem Falle läge eine klar zu unterscheidende Subjekt-Objekt-Beziehung vor.30 Schleiermacher aber spricht von einem Handeln der Vernunft mit der Natur auf die Natur. Die Natur wird also nicht nur als derjenige Ort begriffen, an dem das Wirken der Vernunft zu einem Effekt kommt, sondern auch als das Medium dieses Wirkens.31 Folglich sind diejenige Größe, durch die gewirkt wird, und diejenige Größe auf die gewirkt wird, identisch. Diese Gleichzeitigkeit ist aber nur dann kohärent denkbar, wenn Natur als das komplexe und vielfältige Bezogensein eines Seienden begriffen wird. Denn nur dieses Bezogensein im Ganzen kann zugleich Grundlage, Medium und Effekt des Wirkens darstellen. Das von der jeweiligen Vernunft ausgehende Wirken ist damit als Wirkung bestehender Bezogenheiten zu verstehen, das sich mittels des eigenen Bezogenseins vollzieht und zu einer neuen Bestimmtheit des eigenen Bezogenseins führt. Natur ist nach Schleiermacher also als das Bezogenheitsgefüge eines Seienden zu begreifen.32 Vor diesem Hintergrund kann Schleiermachers Verständnis von »Vernunft« schärfer konturiert werden. Bei ihr handelt es sich nicht um einen der Natur gegenüber autonomen Sachverhalt, vielmehr ist die Vernunft in die Natur als das Bezogenheitsgefüge eines Seienden eingebettet: »Auch kennen wir die Vernunft nicht isoliert, sondern nur in der Natur.«33 Von einer Vernunft zu sprechen unter Absehung von dem jeweiligen natürlichen Bezogenheitsgefüge, in das sie eingebettet ist, stellt für Schleiermacher eine Rede ohne Gegenstandsbezug dar. So enthält dieses Konzept von Natur und Vernunft eine implizite Kritik an der Konzeption Kants, der die Vernunft nur als menschliches Erkenntnisvermögen verstanden hatte.34 Kant folgte damit der Konzeption Descartes, deren Pointe mit Ulrich Barth darin zu sehen ist, dass nicht mehr die Seele als allgemeines Prinzip der Lebendigkeit verstanden wird, die sich auf verschiedenen Seinsstu29

Güterlehre (L.B.), § 2, 561. So etwa L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 44. 31 So auch Michael W INKLER : Geschichte und Identität. Versuch über den Zusammenhang von Gesellschaft, Erziehung und Individualität in der »Theorie der Erziehung« Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (Erlanger pädagogische Studien), Stuttgart 1979, 77. 32 Eine solche Beschreibung von Werden liegt auch vor bei: Eilert H ERMS : Leben. Wahrnehmen, Verstehen, Erkennen, Gestalten, in: DERS .: Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 320–346. 33 Friedrich S CHLEIERMACHER : Pflichtenlehre. Letzte Bearbeitung (vermutlich 1814/17), in: WA II, 297–324 (im Folgenden zit. als Pflichtenlehre (L.B.)), § 5, 459. 34 Vgl. Ulrich BARTH : Art. »Vernunft II. Philosophisch«, in: TRE 34 (2002), 738–768, 742f. 30

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Kapitel 3 Sein und Bildung

fen unterschiedlich ausdifferenziert.35 Nicht mehr die Seele in ihrer besonderen Ausprägung, sondern die Vernunft ist nach diesem Verständnis ein Proprium des Menschen. Schleiermachers Konzeption dagegen nimmt ihren Ausgangspunkt in der Bestimmung von Vernunft beim Bezogenheitsgefüge eines Seienden, das sich in einer ständigen Wechselwirkung mit seiner Umwelt befindet und dessen Bezogensein deshalb stets in unterschiedlichen Bestimmtheiten erscheint. Die Vernunft bezeichnet »das bewegende Prinzip«, dem die veränderten Bestimmtheiten folgen.36 Damit ist deutlich, dass Schleiermacher unter dem Gegensatz von Natur und Vernunft dasjenige begreift, was er auch als den Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität anspricht.37 Auch Schleiermachers Rede vom höchsten Gegensatz, der dem Menschen als »Seele« und »Leib« eingeboren ist,38 wird so verständlich: Während der Leib das Eingebundensein in die Wechselwirkung und damit den Inbegriff des Bezogenseins darstellt, liegt die Pointe der Rede von der Seele darin, dass sie »das bewegende Prinzip« im Menschen ist, das zwar nicht sinnlich fassbar, aber doch wirklich ist, und zwar als dasjenige, was den Tätigkeiten ihre Einheit verleiht.39 Erkennbar ist die Vernunft daher nur vermittels des Bezogenseins-imWerden.40 Eine besondere Nähe zu diesem Verständnis von Natur und Vernunft kann in der gegenwärtigen phänomenologisch ausgerichteten Philosophie ausgemacht werden. Bei Thomas Fuchs findet sich etwa die Rede vom »Gravitationszentrum« eines Menschen, das dessen Verhältnis zu anderen Bezugsgrößen ausrichte.41 Fuchs illustriert dies durch die Beschreibung eines Kleinkindes, das zwar seine Umwelt erkundet, sich aber nur bis zu einem gewissen Abstand von der Mutter entfernt.42 Die Anwesenheit der Mutter krümme den Raum des Kindes und wirke als Gravitationszentrum des kindlichen Verhaltens.43 Die Nähe zu Schleiermacher ergibt sich hier nicht nur dadurch, dass auch Schleiermacher auf physikalische 35

Vgl. BARTH: Vernunft II. Philosophisch (wie Anm. 34), Sp. 739. Friedrich S CHLEIERMACHER: Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 24. Juni 1830, in: KGA I/11, Berlin und New York 2002, 659–677 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Höchstes Gut II), hier 665. 37 Vgl. Einleitung Ethik (L.B.), § 84, 542. 38 Ethik 1812/13, § 27, 248. 39 So auch K ANT : Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 6), B 566, der von der »Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit« spricht. G ROVE: Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 379, spricht treffend von einer »verkörperte[n] Vernunft« bei Schleiermacher. 40 Daher betont Schleiermacher auch, dass das einzelne nur »in seinen Relationen zu allen andern« erkannt werden kann: Akademievortrag Höchstes Gut II, 662. 41 Thomas F UCHS : Leibgedächtnis und Unbewusstes. Zur Phänomenologie der Selbstverborgenheit des Subjekts, in: Psycho-Logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 3 (2008), 33–50, hier 39. Schleiermacher selbst griff bekanntlich selbst auf »naturwissenschaftliche Phänomene und Paradigmen«, etwa die Gravitationslehre, zurück, um sein Denken zu erläutern: Vgl. dazu F ROST: Die Wahrheit des Strebens (wie Anm. 98), 473. 42 Vgl. F UCHS : Leibgedächtnis (wie Anm. 41), 39. 43 Vgl. ebd., 39. 36

3.1 Der höchste Gegensatz im Sein

37

oder chemische Modelle zurückgreift, um seine Philosophie zu illustrieren.44 Vielmehr ist ein Gravitationszentrum ebenso wenig wie die Vernunft nur auf eine einzelne Bezogenheit gerichtet, sondern stellt eine innere Orientierung des gesamten Bezogenheitsgefüges dar. Damit ist auch klar, dass beide Momente, Vernunft und Natur, beziehungsweise Gravitationszentrum und äußere Relationen, nur relative Gegensätze darstellen und sich nur anhand der jeweils anderen Größe verstehen lassen.45 Für Schleiermacher sind Natur und Vernunft daher zwei Größen, von denen keine auf die andere zurückgeführt werden kann und die damit in einem Verhältnis der Gleichursprünglichkeit stehen. Natur und Vernunft sind zwei immer schon geeinigte Größen, wie Schleiermacher sagt. Sie haben damit eine bestimmte Grundstruktur, die im nächsten Abschnitt erläutert wird.46 Darüber hinaus weist alles Geeinigtsein einen Richtungssinn auf: Da der Einigungsprozess immer schon angefangen hat, ist er auf ein vollendetes Geeinigtsein hin angelegt. Diesem Richtungssinn kann das tatsächliche Werden mehr oder weniger entsprechen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Grade der Einigung – dies wird in einem weiteren Abschnitt näher ausgeführt.47

3.1.2 Die verschiedenen Formen des Geeinigtseins Das Nachdenken über den Naturprozess auf der einen Seite und das über das menschliche Zusammenleben auf der anderen wurde seit der Antike unterschieden und als Physik von der Ethik abgegrenzt.48 In der Philosophie Kants fand diese Entgegensetzung ihren Ausdruck darin, dass Natur und Vernunft als zwei einander gegenüber gestellte Bereiche verstanden werden, die unterschiedlichen Logiken folgen, die Natur der Kausalität nach dem Naturgesetz, das Reich der Zwecke dagegen dem Sittengesetz.49 Schleiermacher schließt sich dieser Einteilung grundsätzlich an. Vor dem Hintergrund des bisher skizzierten Verständnisses von Natur und Vernunft ist aber auch klar, dass keine schroffe Entgegensetzung beider möglich ist, sondern beide lediglich einen relativen Gegensatz darstellen können. Naturwissenschaft und Sittenlehre lassen sich nach Schleiermachers Ansicht »hineinbilden [. . . ] in eine gemeinschaftliche [Form]«.50 Die gemeinschaftliche 44

Vgl. S CHOLTZ: Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 55f. Da Schleiermachers Philosophie nicht nur starke Bezüge zu Platon aufweist, sondern auch zu Aristoteles, stellt sich die Frage, inwiefern Schleiermacher sich hier auf die aristotelische Figur von Formprinzip und Materie bezieht. Eine systematische Nähe ist jedenfalls erkennbar. 46 Vgl. Abschnitt 3.1.2.: »Die verschiedenen Formen des Geeinigtseins« ab S. 37. 47 Vgl. Abschnitt 3.1.3.: »Die unterschiedlichen Grade des Geeinigtseins« ab S. 41. 48 Vgl. Immanuel K ANT : Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1911, 3. 49 Vgl. ebd., 59f., 75, 82f. 50 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 451. Ebenso Ethik 1812/13, § 46, 250: »Physik und Ethik, wie sie sich aufeinander beziehn und nur in den Verhältnissen ihres Stoffes 45

38

Kapitel 3 Sein und Bildung

Form ergibt sich daraus, dass ihr Gegenstand ein gemeinsamer ist, nämlich das im Werden stehende Seiende als Geeinigtsein von Natur und Vernunft. Dieses Geeinigtsein hat eine Grundstruktur, die als Struktur des gemeinsamen Gegenstandes der beiden Grundwissenschaften auch die gemeinsame Struktur der beiden Wissenschaften begründet. Schleiermacher begreift diese Grundstruktur des Geeinigtseins als »die fließenden Functionen«, als »die festen Formen« und als das »reducieren« der »Function« auf die »Form«.51 »[D]ie fließenden Functionen« beschreiben das Potential eines Seienden hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Bezogenseins. »[D]ie festen Formen« stellen hingegen das dar, was aus dem Wirken hervorgeht: Eine bestimmte Form des Bezogenseins als Resultat der Gestaltung. Die festen Formen sind realisierte Einigungen von Natur und Vernunft. Das Gestaltungspotential eines Seienden und der Effekt dieses Potentials sind nach Schleiermacher vermittelt durch Tätigkeit: Im Gestalten des Bezogenseins wird das Potential zu einer neuen Bestimmtheit des Bezogenseins »reduciert«.52 Mittels einer Tätigkeit wird das bloße Potential in eine reale Gestaltung verwandelt. Diese dreifache Grundstruktur ergibt sich also aus der Struktur der Prozessualität von Seiendem. Daher weisen auch beide Grundwissenschaften, Physik und Ethik, dieselbe Struktur auf.53 Die Physik beschreibt als Naturkunde die Grundgestalten von Seiendem, die sich im Verlauf des Naturprozesses ergeben, und ebenso die Naturgesetze, die die grundsätzlichen Möglichkeiten von Seiendem beschreiben, auf ihr Bezogensein einzuwirken. Schleiermacher rechnet dabei mit einer Spontaneität alles Lebendigen: »Freiheit geht daher soweit als Leben: die Frage ob die Thiere Maschinen sind ist gleich mit der ob sie lebendig sind, auch die Pflanze hat ihre Freiheit.«54 Zuletzt können auch einzelne Prozesse in den Blick gefasst werden, und damit die Frage, inwiefern ein Seiendes sein Potential in die Gestaltung des eigenen Bezogenseins umsetzt.55 entgegengesezt sind, können nur ein und dieselbe Form haben«. Zum für seine Zeit durchaus exemplarischen Interesse Schleiermachers an den Fortschritten naturwissenschaftlicher Erkenntnis vgl. auch Ursula K LEIN: Der Chemiekult der Frühromantik, in: Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796-1802, Berlin und New York 2009, 67– 92. 51 Ethik 1812/13, §§ 83–85, 256. 52 Ebd., § 52, 251. Vgl. auch S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 116. 53 So auch H ERMS : Leben (wie Anm. 32), 325–327. 54 KGA II/10,1, 258,25f. 55 So stellt sich etwa das Werden einer Sonnenblume so dar, dass bereits mit dem Sonnenblumenkern das Potential für eine bestimmte Entwicklung gegeben, aber eben noch nicht realisiert ist. Das Wachsen der Sonnenblume vollzieht sich so, dass die Blume auf spezifische Konstellationen ihres Bezogenseins wie Nässe, Wärme oder Kälte und Licht auf eine bestimmte Weise reagieren kann, und in der Umsetzung ihres Potentials dann – mit den Worten Schleiermachers – tätig ist. Potential und Tätigsein der Blume sind nicht anders zu beobachten als in den stetigen Effekten ihres Tätigseins in der äußeren Gestalt. Dennoch sind die beiden anderen, im äußeren

3.1 Der höchste Gegensatz im Sein

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Die Ethik dagegen beschreibt das Menschsein. Dessen Besonderheit liegt darin, dass der Mensch auf das Sein als Ganzes bezogen ist, und daher auch alles Sein zu einem Symbol oder Organ zu bilden vermag. Aber auch das Menschseins weist die beschriebene dreifache Struktur auf: Das Potential eines Menschen zum Tätigsein nennt Schleiermacher die Tugend. Den Effekt des Tätigseins sieht Schleiermacher nicht einfach in der Bearbeitung der vor-menschlichen Natur, sondern in den regelmäßigen Interaktionsweisen der Menschen, den Gütern. Vermittelt werden diese beiden Größe durch einzelne Handlungen, die das Potential in soziale Effekte umsetzen. Schleiermacher versteht zum einen Natur und Vernunft als Aspekte eines einheitlichen Geschehens, in dem beide Größen nur als relative Gegensätze in Erscheinung treten und den Sachverhalt der Prozessualität von Seiendem beschreiben. Zum anderen aber grenzt Schleiermacher die Naturwissenschaft in ganz traditioneller Weise von der Ethik ab56 und unterscheidet das »Naturgesetz« vom sogenannten »Sittengesetz« als dem »Vernunftgesetz«.57 Wenn die »Vernunft« aber ganz umfassend als das Formprinzip des Werdens zu verstehen ist, wie kann dann begründet werden, dass allein das Menschsein Gegenstand der Ethik ist? Schließlich ist allem Seienden eine Vernunft inhärent. Entscheidend für Schleiermachers Zuordnung ist offenkundig das Verhältnis des Menschen zu Naturwissenschaft und Ethik, und damit das Verhältnis des Menschen zum höchsten Gegensatz. In der Einleitung zur Ethik von 1816/17 beschreibt Schleiermacher »Leib und Seele im Menschen« als »die höchste Spannung des Gegensazes [sic!]«.58 Dass der Gegensatz überhaupt anzutreffen ist, bildet kein Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Menschsein und allem anderen Seienden; denn stets ist die Natur Grundlage, Medium und Gegenstand des Vernunftwirkens. Was dagegen ein Kriterium für die Unterscheidung an die Hand gibt, ist nach Schleiermacher das Ausmaß des Gegensatzes. Im Menschen findet sich nach Schleiermacher eben die »höchste Spannung« des Gegensatzes, die »höchste Entwickelung des Geistigen im Dinglichen«.59 Dies ist darin begründet, dass die Vernunft des Menschen in der Lage ist, das eigene Bezogensein als Grundlage, Medium und Gegenstand des Wirkens grundsätzlich vollständig zu erfassen und sich damit grundsätzlich auf das Ganze des eigenen Bezogenseins handelnd beziehen zu können.60 Schleiermacher bringt dies durch die Rede von Symbol und Organ zum Effekt verborgenen Sachverhalte, das Potential und das spontane Tätigsein, ebenso wirklich wie der in der äußeren Gestalt gegebene Effekt dieses Geschehens. 56 Einleitung Ethik (L.B.), § 18, 247, vgl. auch ebd., § 62, 537. 57 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 434. 58 Einleitung Ethik (L.B.), § 50, 533 (Hervorhebung: G.H.). 59 Güterlehre (L.B.), § 1, 561. 60 Dass dies beides grundsätzlich vollständig der Fall ist, meint, dass dies nicht bei jedem Individuum zu jedem Zeitpunkt der Fall sein muss, dass aber die Gattung durch das Eingetretensein des Gefühls in einen veränderten, erweiterten Möglichkeitskorridor gestellt worden ist.

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Kapitel 3 Sein und Bildung

Ausdruck: Für den Menschen ist dessen ganzes Bezogensein, in dem er sich findet, sowohl »Symbol« als auch »Organ«.61 Sofern das Geeinigtsein die Grundlage für ein Wirken auf das Bezogenheitsgefüge ist, ist es »Organ«, insofern es das Resultat eines Wirkens darstellt, ist es ein »Symbol« – für das Wirken der Vernunft in der Natur überhaupt.62 Diese höchste Spannung im Menschen, die das Resultat seiner »Begeistung« ist,63 ist es, die eine Unterscheidung erlaubt zwischen dem Prozess des Menschseins und allen anderen Prozessen. Zum einen stellt die Vernunft des Menschen zwar nur eine relative Steigerung der Einigung von Natur und Vernunft dar. Zum anderen aber erreicht die Vernunft am Ort des Menschen eine Extension, die nicht mehr übertroffen werden kann. Das gesamte Bezogensein kann ihr grundsätzlich zu Bewusstsein kommen und wird damit potentieller Gegenstand des menschlichen Handelns. Deswegen handelt es sich beim Auftreten des Menschseins auch um den »Wendepunkt in der Geschichte der Erde«.64 Schleiermacher zufolge ist es zwar nicht so, dass die Vernunft am Einzelnen immer und überall ihr ganzes Potential auszuschöpfen vermag, aber dennoch sieht er im Menschen ein Potential der Vernunft angelegt, das grundsätzlich nicht mehr gesteigert werden kann. Daher kann er das Menschsein auch mit der Vernunft überhaupt identifizieren und vom Sittengesetz als dem Vernunftgesetz sprechen.65 Diese Besonderheit des Menschseins rechtfertigt seine Unterscheidung von Physik und Ethik: Gegenstand der Naturwissenschaft ist Natur und Vernunft, insofern das Geeinigtsein beider nicht auf das Wirken der Vernunft zurückgeht. Insofern das Geeinigtsein von Natur und Vernunft aber als Gegenstand des Vernunftwirkens in den Blick genommen werden, fällt es in den Bereich der Ethik. Entsprechend unterscheidet Schleiermacher »das Sein, das dem Denken vorgegeben ist, vom Sein, das aus dem Denken und Wollen hervorgeht, und gewinnt so die ontologischen Bereiche der ›Naturformen‹ und der ›Sittenformen‹ und damit auch die Disziplinen Physik und Ethik«.66 Schleiermacher gelingt es damit, an die traditionelle Wissenschaftsstruktur anzuknüpfen und die Physik von der Ethik zu unterscheiden, gleichzeitig aber auch ein Verständnis von Natur und Vernunft vorzulegen, das es ermöglicht, die Gegenstände von Physik und Ethik als Variationsgestalten eines einheitlichen Sachverhaltes zu begreifen. Festgehalten wird damit die Einheit der Wirklichkeit, die eine Einheit des Werdens ist. Die Besonderheit des Menschen liegt nicht darin, dass erst mit dem Menschen die Vernunft in das Sein eintritt, sondern darin, dass sich die Vernunft des Menschen auf alles Sein bezieht.

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Güterlehre (L.B.), §§ 6–7, 564f. Ebd., §§ 6–7, 564f. 63 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 451 Z. 12. 64 Akademievortrag Höchstes Gut II, 662. 65 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 434 Z. 19. 66 S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 114. 62

3.1 Der höchste Gegensatz im Sein

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3.1.3 Die unterschiedlichen Grade des Geeinigtseins Natur und Vernunft sind Relationsbegriffe, die sich wechselseitig bestimmen, weil sie nur beide zusammen den einheitlichen Charakterzug von Seiendem beschreiben können. Dieser Charakterzug ist die Prozessualität von Seiendem. Diese Prozessualität baut stets auf einem bestimmten Geeinigtsein von Natur und Vernunft auf und zielt auf einen veränderten Zustand dieses Geeinigtseins. Schleiermacher drückt dies im Blick auf den Menschen auch mittels seiner Rede von »Organ« und »Symbol« aus und beschreibt das Geeinigtsein als ursprüngliches Organisiert- und Symbolisiertsein der Natur für die Vernunft.67 Organ ist das Bezogenheitsgefüge, insofern es Grundlage und Medium des Vernunftwirkens ist. Ein Symbol ist es dagegen, insofern das Bezogenheitsgefüge ein »Einsgewordensein« von Natur und Vernunft verkörpert.68 In diesem ursprünglichen Geeinigtsein von Natur und Vernunft in Gestalt eines bestimmten Bezogenseins sieht Schleiermacher nun einen Richtungssinn angelegt, nämlich den der »werdende[n] Einigung«.69 Das Ziel dieser werdenden Einigung ist ein Zustand, »worin es keines weiteren Handelns der Vernunft und keines Leidens der Natur weiter bedarf«.70 Die endgültige Einigung, in der kein Wirken der Vernunft auf die Natur mehr nötig ist, weil die Natur ganz Ausdruck der Vernunft ist, ist das Symbol, auf das hin das ursprüngliche Geeinigtsein angelegt ist. Die Wechselwirkung zwischen »eine[m] Einzelnen und eine[m] Ganzen« ist in diesem Geeinigtsein zur Ruhe gekommen.71 Schleiermacher sieht somit das Geeinigtsein von Natur und Vernunft selbst in einen Prozess eingebettet, der einen terminus a quo und einen terminus ad quem aufweist. Dies schlägt sich auch terminologisch nieder, indem er das ursprüngliche Geeinigtsein als »Einigkeit«, das darin angelegte endgültige Geeinigtsein als »Einigung« beschreibt.72 Dabei lässt sich weder die Natur auf die Vernunft zurückführen noch umgekehrt die Vernunft auf die Natur. Eine bloße Subsumption des einen unter das andere stellte ein »aposteriorisches« oder »aprioristisches« Missverständnis dar.73 Insofern Natur und Vernunft also ursprünglich geeinigt sind, verweisen sie über sich selbst hinaus auf einen transzendenten Ursprung, der den Prozess ihres eigenen Werdens begründet. 67

Güterlehre (L.B.), § 2, 561f. Vgl. auch ebd., § 4, 563, und Einleitung Ethik (L.B.), § 99, 546. Beides ist immer schon »vorausgesezt« bei allem vom Menschen ausgehenden Wirken: Vgl. ebd., § 82, 542 und Ethik 1812/13, § 74, 254. 68 Güterlehre (L.B.), § 23, 570. 69 Einleitung Ethik (L.B.), § 90, 544. Es gibt »ein Einssein von Vernunft und Natur«, »auf welches überall hingewiesen wird«, vgl. ebd., § 82, 542. Ebenso ebd., §§ 88–89, 543. 70 Ebd., § 88, 543. Zum Aufgehobensein des Gegensatzes im Symbol vgl. Güterlehre (L.B.), § 23, 570f. Vgl. auch Ethik 1812/13, § 1, Zusatz am Rande 1827, 263. 71 Ebd., 251, § 49. Vgl. ebenso Schleiermachers Rede von der »zur Ruhe gebrachte[n] Mischung«: Reden, 192 Z. 36f. 72 Güterlehre (L.B.), § 36, 623. 73 Ebd., § 136, 297.

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Kapitel 3 Sein und Bildung

Das individuelle Seiende findet sich nur innerhalb dieses umfassenderen Prozesses und damit zwischen dem terminus a quo und ad quem. Zwar ist damit die absolute Richtung des Werdens insofern ursprünglich für jedes individuelle Seiende gegeben, als jedes ein immer schon in Bewegung gesetztes Seiendes ist, und diese Bewegung weiter eine gerichtete Bewegung ist. Dennoch ist damit keineswegs die konkrete Einigungsgestalt von Natur und Vernunft festgelegt, denn diese verdankt sich der Spontaneität des jeweiligen Seienden. Deswegen kann Schleiermacher von einem Zunehmen und einem Abnehmen des Geeingtseins von Natur und Vernunft sprechen.74 Beide Aussagen, die Behauptung eines ursprünglichen, gerichteten Bewegtseins einerseits, und die Behauptung, das Geeinigtsein von Natur und Vernunft unterliege Schwankungen andererseits, können aber nur dann zusammen bestehen, wenn das »immer schon angefangene[], aber nie vollendete[] Naturwerden der Vernunft«75 nicht als eines vorgestellt wird, dass die Spontaneität des individuellen Seienden in sich auflöst. Dass Schleiermacher immer wieder ein Fortschrittsoptimismus hinsichtlich der menschlichen Geschichte vorgeworfen wurde,76 hängt damit zusammen, dass die Unterscheidung zwischen dem vorgegebenen Richtungssinn des Werdens und der individuellen Spontaneität, die in einem Verhältnis zu diesem Richtungssinn steht, von Seiten der Interpreten nicht gesehen wurde.77 Die Vernunft ist bei Schleiermacher aber als das organisierende Zentrum eines individuellen Bezogenseins zu verstehen, die sich im Horizont eines ursprünglich gerichteten Prozesses bewegt, und vor der Alternative steht, diesem mehr oder weniger zu entsprechen. Vor dieser Alternative steht zunächst alles Seiende. Im Falle des Menschen aber liegt in dieser Alternative der Gegensatz von gut und böse.78 Stimmt der Mensch in dieses ursprüngliche Bewegtsein ein, entspricht er dem Prozess der »Versittlichung«.79 Schleiermacher schließt eine genauere Reflexion auf den terminus a quo und ad quem aus dem Gegenstandsbereich der philosophischen Ethik aus, denn diese habe lediglich »das wirkliche Handeln der Vernunft auf die Natur« darzustellen.80 Dies 74

Ethik 1812/13, § 48, 250. Einleitung Ethik (L.B.), § 81, 542. 76 Vgl. Friedrich L OHMANN : Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Ein Vergleich, in: Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses, Göttingen 2015, 229–276, hier 238. Ebenso etwa B RACHMANN: Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 60), 115. 77 Zum gesellschaftlichen Fortschritt als Ziel menschlicher Interaktion, auch im pädagogischen Bereich, vgl. Johanna H OPFNER: Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken. Ansätze zur Überwindung grundlegender Dichotomien bei Herbart und Schleiermacher (Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung), Weinheim und München 1999, 210–213. 78 Vgl. Einleitung Ethik (L.B.), § 91, 544. Vgl. auch Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 450f. 79 Einleitung Ethik (L.B.), § 101, 547. Berücksichtigt das Handeln allein die empirischen Bedingungen einer Situation, negiert es den sittlichen Prozess, vgl. Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, § 82, 255. 80 Einleitung Ethik (L.B.), § 95, 545. 75

3.2 Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein

43

schließt nun aber nicht grundsätzlich die Möglichkeit einer Rede von Ursprung und Ziel des Menschseins aus. Schleiermacher zufolge beruht vielmehr jede Religion darauf, dass eine Gestalt menschlichen Lebens als Einklang von Natur und Vernunft erlebt wird. Diese Gestalt verweist als geschichtliches Symbol für die endgültige Einigung aller Natur mit der Vernunft auch zurück auf ihren transzendenten Ursprung und dessen Eigenart. Deswegen kann vom Boden der verschiedenen Religionen auch auf Ursprung und Ziel des Menschseins reflektiert werden. Dies begründet die Ethos-spezifischen Ethiken wie Schleiermachers Christliche Sitte.81 Es lässt sich zusammenfassen: Seiendes ist als ein Ineinander von Natur und Vernunft verfasst, wobei die Natur das umfassende Bezogenheitsgefüge eines Seienden bezeichnet, die Vernunft dagegen das organisierende Zentrum dieses Bezogenheitsgefüges, das nur vermittels des »äußeren« Bezogenseins in Erscheinung tritt. Das Werden, das sich innerhalb des Seins vollzieht, besitzt eine dreifache Grundstruktur, die ebenfalls die Struktur der Grundwissenschaften Physik und Ethik festlegt: Werden umfasst Potential, Aktualisierung und Effekt. Schleiermacher zufolge wohnt darüber hinaus dem Werden ein Richtungssinn inne, der sich aus dem ursprünglichen Bewegtsein der Einigung von Natur und Vernunft ergibt und auf ein endgültiges Geeinigtsein zielt. Das Auftreten von Gut und Böse innerhalb der menschlichen Geschichte beschreibt das Verhältnis zwischen individuellem Wirken und seinen Bedingungen. Das Wirken kann seinem Potential und seinem jeweiligen Bezogensein mehr oder weniger angemessen sein, und ebenso kann es dem angelegten Richtungssinn mehr oder weniger entsprechen. Da das Sein als gerichtetes Werden sowohl auf einen Grund wie auch auf eine ihm von jenseits seiner selbst gesetzten Bestimmung verweist, hat es eine transzendente Dimension.

3.2 Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein In den Augen zahlreicher Vertreter der Romantik hatte die Aufklärung die Dimension menschlicher Individualität stark vernachlässigt,82 weswegen nun genau dieser Sachverhalt von ihren Protagonisten besonders hervorgehoben wurde.83 Von besonderer Bedeutung ist dabei der philosophische Aufweis der Ursprünglichkeit von Individualität: Erst wenn es sich bei Individualität nicht um einen Sachverhalt handelt, der erst im Laufe der Zeit zu einem Seienden hinzutritt, stellt

81 Vgl. Friedrich S CHLEIERMACHER : Die christliche Sitte. Nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: SW I/12, Leipzig 2 1884. 82 Vgl. dazu exemplarisch die Betonung der Gleichzeitigkeit von Individualität und Totalität bei Novalis: Barbara S ENCKEL: Individualität und Totalität. Aspekte zu einer Anthropologie des Novalis, Tübingen 1983, 73ff., 171. 83 Vgl. A RNDT : Friedrich Schleiermacher als Philosoph (wie Anm. 11), 3.

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Kapitel 3 Sein und Bildung

sie einen echten Wesenszug von Seiendem dar, und fordert eine entsprechende Wertschätzung ebenso wie einen angemessenen Umgang. Schleiermacher teilt die Überzeugung ursprünglicher und unhintergehbarer Individualität mit der Romantik.84 Individualität ist in seinen Augen »nicht etwa nur geworden [. . . ] durch das Zusammensein mit Verschiedenem, sondern innerlich gesezt«.85 Individualität beschreibt damit keinen Sachverhalt, der erst durch die Wechselwirkung eines Seienden mit seiner Umwelt entstünde, gleichwohl die Individualität immer auch eine gewordene ist. Aber sie ist in dem Sinne »innerlich gesezt«, als sie bereits die ursprüngliche Verfassung eines Seienden kennzeichnet. Die Individualität der Verfassung aber führt dazu, dass auch alles Erleben, Symbolisieren und Organisieren Anteil an dieser fundamentalen Individualität Anteil bekommt, und diese daher den ganzen Menschen umfasst.86 Damit hat Schleiermachers Theorie einen gegenwartskritischen Zug, indem sie sich zum einen gegen ein »aufgeklärte[s] Humanitätsideal« richtet, das allein dem »Vernunftallgemeinen« einen ethischen Wert zubilligt, nicht aber dem Individuellen.87 Zum anderen stellt die Hervorhebung der Bedeutung von Individualität auch eine Kritik an einer auf politisch-ökonomische Sachverhalte reduzierte Naturrechtskonzeption dar.88 Dieser Bedeutung der Individualität trägt auch Schleiermachers Seinsverständnis Rechnung, indem er Seiendes nicht nur unter den höchsten Gegensatz von Natur und Vernunft, sondern immer auch unter einen weiteren spannungsvollen Gegensatz gestellt sieht. Diesen nennt Schleiermacher die »größte Verschiedenheit des Umfangs«, und sieht ihn als durch die Gleichzeitigkeit von allgemeiner »Kraft« eines Seienden und dessen individueller »Erscheinung« konstituiert an.89 Die Rede von Kraft und Erscheinung wirft zunächst die Frage auf, inwiefern dieses Gegensatzpaar nicht einfach identisch ist mit dem höchsten Gegensatz. Denn wie die Kraft eine in der Erscheinung verborgene Größe darstellt, so ist auch die Vernunft nur erkennbar und zugänglich über die Natur als der jeweiligen 84 Vgl. auch Christian K ÖNIG : Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden, Tübingen 2016, 235–239. 85 Güterlehre (L.B.), § 8, 565. 86 Vgl. zur Individualität bei Schleiermacher auch K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 48–58. 87 Ulrich BARTH : Das Individualitätskonzept der »Monologen«. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: DERS .: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291–328, hier 294. 88 Ebd., 294. 89 Einleitung Ethik (L.B.), § 51, 533 (Hervorhebung: G.H.) Nach Ulrich BARTH : Wissenschaftstheorie der Theologie. Ein Durchgang durch Schleiermachers Enzyklopädie, in: DERS .: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 263–278, hier 272, zählt dieses Begriffspaar »zu den wenigen echten ontologischen Prinzipien Schleiermachers«. Gemäß der bisherigen Analyse von Schleiermachers Seinsverständnis gehören in gleicher Weise »Vernunft« und »Natur« zu diesen »Prinzipien«.

3.2 Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein

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Gestalt des Bezogenseins eines Seienden. Dass es beide Gegensatzpaare mit dem Verhältnis eines eher Inneren und eines eher Äußeren zu tun haben, ist nicht zu bestreiten und verweist auf den Sachverhalt, dass auch diese beiden Gegensatzpaare einander nur relativ entgegengesetzt sind.90 Den Unterschied zwischen beiden Gegensätzen verdeutlicht Schleiermacher dadurch, dass er Kraft und Erscheinung anhand des Begriffspaares des »Allgemeinen und Besondern« erläutert.91 Die Spannung von Allgemeinem und Besonderem beschreibt eine Dimension, die nicht deckungsgleich ist mit Natur und Vernunft, sondern sich vielmehr selbst auf Natur und Vernunft beziehen lässt und damit deren Verfassung genauer zu beschreiben vermag. Sowohl die Natur als das Bezogensein eines Seienden wie auch die Vernunft als dessen organisierendes Zentrum weisen sowohl besondere als auch allgemeine Züge auf.92 Alles Geeinigtsein von Natur und Vernunft ist also erst dann hinreichend erfasst, wenn es sowohl als »Dasein« als auch als Manifestation eines allgemeinen »Wesens« wahrgenommen wird.93 Dies wird auch an Schleiermachers Theorie des Wissens ersichtlich. Dem allgemeinen Wesen und dem individuellen Dasein entspricht im Wissen die Verschiedenheit von Denken und Vorstellen.94 Vorstellen nennt Schleiermacher das »beachtliche« Bezugnehmen auf die Erscheinung eines Seienden, was »empirisches« Wissen zum Ergebnis hat.95 Aber auch im Falle des Denkens handelt es sich um ein Bezugnehmen, das Schleiermacher ein »beschauliches« nennt, und das sich auf die Kraft eines Seienden richtet.96 Resultat dieses Handelns ist das »speculative« Wissen.97 Jedes individuelle Seiende als Erscheinung einer allgemeinen Kraft kann dementsprechend auch nur durch das »kritische« Gegeneinanderhalten von beschaulichem und beachtlichem Wissen angemessen erfasst werden.98 Entscheidend ist dabei, dass kein Aspekt einfach auf den anderen zurück geführt werden kann: Individuelle Seiende treten nur innerhalb von allgemeinen Variationskorridoren auf. Dabei bestehen zum einen die Bedingungen, die den Korridor konstituieren, nicht unabhängig von den Individuen, sondern stellen eben deren Bedingungen dar. Die Besonderheit eines Seienden ist zum anderen nicht von der Art, dass sie erst im Verlauf des Werdens entstünde, sondern sie ist vielmehr »begriffsmäßig«, wie Schleiermacher

90

Einleitung Ethik (L.B.), § 51, 533. Ebd., § 51, 533. 92 Auf dies scheint Schleiermacher auch in seinen »Monologen«, 12, abzuheben, wenn er den Gegenstand der »Reflexion« beschreibt als die »Thätigkeit des Geistes, die verborgen in seiner Tiefe sich regt« im Gegensatz zur »empirischen Selbstwahrnehmung«, vgl. BARTH: Das Individualitätskonzept der »Monologen« (wie Anm. 87), 298. 93 Einleitung Ethik (L.B.), § 52, 533. 94 Ebd., § 57, 535. 95 Ebd., §§ 57.59.61, 535–537. 96 Ebd., § 57, 535. 97 Ethik 1812/13, § 54, 252. 98 Ebd., §§ 57–58, 252. 91

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Kapitel 3 Sein und Bildung

sagt.99 Schleiermacher grenzt sich an dieser Stelle von Kant ab, wenn er bestreitet, dass einzelnes Seiendes erst mittels seiner Stellung im Raum-Zeit-Gefüge zu unübertragbarer Besonderheit gelange.100 Die Besonderheit eignet einem Seienden dadurch, dass das Arrangement der einzelnen Bezogenheitsweisen am Ort eines Seienden individuell ist.101 Dies illustriert etwa Schleiermachers Beschreibung des individuellen Erkennens. Die »Formen und Geseze des Bewußtseins« sind in allen Menschen dieselben, aber »wie die mannigfaltigen Functionen desselben zu einem Ganzen verbunden sind«, bringt die Verschiedenheit eines Menschen und seines Bewusstseins hervor.102 Diese Feststellung Schleiermachers erhellt nun auch den Sachverhalt, wie sich Besonderes und Allgemeines zueinander verhalten. Seiendes gibt es nur im Zusammenspiel von Natur und Vernunft, und damit in prozessualer Verfassung. Diese Prozesse finden unter bestimmten Bedingungen statt, die insofern allgemeinen Charakter haben, als sie nicht nur für ein Seiendes allein gelten, sondern stets für mehrere, die dadurch zu einer Klasse oder Gattung zusammengeschlossen werden. Solche Bedingungen sind im Falle des menschlichen Bewusstseins etwa deren Formen und Gesetze, wohingegen die konkrete Einheit des Bewusstseins, also die Weise, wie das einzelne Bewusstsein funktioniert, zwar unter diesen allgemeinen Bedingungen steht, sie aber auf besondere Art und Weise variiert. Seiendes ist damit immer »zugleich individuell und allgemein«,103 weil es einen individuellen Prozess unter allgemeinen Bedingungen darstellt. Deutlich wird so, dass nicht nur Natur und Vernunft jeweils Besonderheit und Allgemeinheit zukommt, sondern dass auch umgekehrt der relative Gegensatz von Kraft und Erscheinung im Horizont des höchsten Gegensatzes verstanden werden muss. Dadurch, dass die Verschiedenheit von Besonderem und Allgemeinem nur am höchsten Gegensatz vorkommt, ist alles Besondere und Allgemeine nur als prozessuale Größe vorstellbar. Entsprechend beschreibt Schleiermacher das Verhältnis zwischen Kraft und Erscheinung auch mit Begriffen aus dem Bereich des Prozesses und versteht sie als den Gegensatz von »Dynamische[m]« und »Mechanische[m]«.104 Nun lässt sich der Sachverhalt der Prozessualität ohne größere Schwierigkeiten auf ein individuelles Dasein beziehen, insofern dieses als ein im Werden stehender »Organismus« vorgestellt wird.105 Schleiermacher spricht vom Individuellen als einem Organismus deshalb, weil das Individuelle im Horizont des Werdens gedacht werden muss. 99

Güterlehre (L.B.), § 50, 588. BARTH: Das Individualitätskonzept der »Monologen« (wie Anm. 87), 302–304. Vgl. auch Akademievortrag Höchstes Gut II, 663 Z. 18–24. 101 Güterlehre (L.B.), § 8, 565. 102 Ebd., § 50, 587. 103 S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 123. 104 Einleitung Ethik (L.B.), § 53, 534. 105 Ebd., § 53, 534. 100

3.3 Bildung innerhalb des Seins

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Im Falle von Kraft, Wesen oder Allgemeinem ist es dagegen schwieriger, dieses im Horizont von Prozessualität zu denken. Es gelingt erst dann, wenn unter Kraft, Wesen oder Allgemeinem weniger ein Moment innerhalb eines Seienden verstanden wird, als ein bestimmter Korridor für das jeweilige individuelle Werden. Die Rede von einem Korridor ist weniger üblich als die von einem Horizont, innerhalb dessen sich Variationen befinden. Dennoch ist dieser Terminus des Korridors m. E. besser geeignet, weil das Allgemeine sich auf den höchsten Gegensatz, und damit auch auf den darin implizierten Richtungssinn bezieht.106 Jeder Organismus bewegt sich folglich als eine besondere Einheit von Natur und Vernunft in einem bestimmten Variationskorridor, den er mit anderen Seienden seinesgleichen teilt. Die Pluralität von individuellem Seienden gibt es nur innerhalb eines solchen gattungsspezifischen Korridors.107 Individualität schließt bei Schleiermacher damit Allgemeinheit nicht aus, sondern manifestiert diese.

3.3 Bildung innerhalb des Seins »Bildung« bezeichnet bei Schleiermacher nicht nur einen Sachverhalt, der sich im menschlichen Leben zeigt, sondern kennzeichnet individuelles Seiendes überhaupt. Wie Paracelsus108 weist auch Schleiermacher schon in seinen Reden auf einen Bildungstrieb hin, »der das Ganze beseelt«.109 Damit wird der Bildungstrieb nicht auf den Menschen und dessen Leben beschränkt, sondern innerhalb des den Menschen umfassenden »Ganzen« verortet. Dies greift auch die Interpretation von Eilert Herms auf, derzufolge mit »Bildung« eben kein Phänomen beschrieben wird, das sich nur am Menschen und seiner Entwicklung zeigt, sondern »die erkennbare Wirklichkeit« insgesamt wird damit aus einer bestimmten Perspektive heraus erfasst. Damit ist das Sein überhaupt ein »Kontinuum des Werdens«, und »[d]ieses Werden ist Bilden«.110 Auch nach Herms hält Schleiermachers Seinsverständnis die Prozessualität von Sein fest, indem es dieses als ein Werden beschreibt. Dieses Werden wiederum ist es, das nach Herms’ Interpretation als »Bilden« in Erscheinung tritt. Dadurch wird 106 Vgl. S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 64, bes. Fußnote 21, abgedruckt als Endnote, 494: Hier führt Schurr den Begriff der âντελèχεια bei Aristoteles aus, und dann dessen Rezeption durch Schleiermacher. 107 S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 110, schreibt: »[D]ie notwendig für alle Menschen vorauszusetzende Menschenvernunft, die potentialiter alle Begriffe enthält (DJ 104 ff.), aktualisiert sich und wird wirkliches Denken nur in Verschmelzung mit individuellen, lokal und historisch gebundenen Wahrnehmungen bestimmter Subjekte, hat an der Individualität ihre Konkretion und Schranke.« 108 Vgl. L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 7f. 109 Reden, 230 Z. 34. Vgl. auch K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 242–259. 110 H ERMS : Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (wie Anm. 1), 228.

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Kapitel 3 Sein und Bildung

der Gehalt des Bildungsbegriffs »unüberbietbar weit und komplex«, aber zugleich auch differenziert.111 Die beiden Gegensätze des Seins beschreiben die allgemeinen Bedingungen, unter denen alles Werden steht. Bildung dagegen bezeichnet das Werden von individuellem Seienden. Schleiermachers Seinsverständnis und sein Bildungsverständnis verhalten sich also zueinander wie Allgemeines und Individuelles. Damit vermag er »die Offenheit und Dynamik« individueller Bildungsprozesse ebenso darzustellen wie deren »relativ konstanten – physischen wie geistigen – Momente«.112 Schleiermacher hat sein Bildungsverständnis insbesondere in seiner Akademieabhandlung »Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz« dargestellt.113 In dieser Akademieabhandlung geht Schleiermacher der Frage nach dem Unterschied zwischen Natur- und Sittengesetz nach. Anlass dafür ist der Einfluss des Gesetzes »auf die ganze Gestaltung der Sittenlehre« bei Kant und Fichte.114 Der Unterschied zwischen dem Naturgesetz und dem Sitten- oder »Vernunftgesetz«115 liege Kant und Fichte zufolge darin, dass ersteres beschreibt, was »wirklich erfolgt«, das zweite dagegen, was »erfolgen soll«.116 Diese Unterscheidung weist Schleiermacher als unsachgemäß zurück. Der Gegensatz zwischen dem, was erfolgt, und dem, was erfolgen soll, sei vielmehr ein Gegensatz, der nicht nur im Rahmen des Menschseins, sondern auch im Naturgeschehen auftrete. Deswegen widmet sich die Ethik nach Schleiermachers Ansicht dem, was wirklich erfolgt. Umgekehrt treten nicht erst im menschlichen Leben, sondern bereits im tierischen und pflanzlichen, ja sogar im kosmischen Werden regelmäßig »Perturpationen«117 auf, Gestaltungen also, die gerade nicht dem Gesetz entsprechen.118 Im Hinblick auf individuelles Werden kann Schleiermacher daher sagen: »Denn das Vorkommen von Mißgeburten als Abweichungen des Bildungsprozeßes und das Vorkommen von Krankheiten [. . . ] nehmen wir nicht auf in das Gesetz selbst.«119

Damit ist die scheinbar eindeutige Unterscheidung zwischen dem Naturgeschehen und dem Menschsein, zwischen dem Natur- und dem Sittengesetz aufgehoben, indem zwischen Gesetz und Bildungsprozess unterschieden wird. Das Gesetz ist auch in Bezug auf das Naturgeschehen nicht einfach die Abbildung individueller Bildungsprozesse, sondern beschreibt deren allgemeine Bedingungen. Es besteht 111 H ERMS : Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (wie Anm. 1), 228. 112 H OPFNER : Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 107. 113 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz. 114 Ebd., 433. 115 Ebd., 434. 116 Ebd., 435 Z. 11–13, jeweils gesperrt i. O. 117 Ebd., 447 Z. 1, ähnlich ebd., 448 Z. 13f. 118 Diese Einsicht findet sich schon in den Reden, vgl. Reden, 226. Vgl. dazu auch K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 225–227. 119 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 448 Z. 13–16.

3.3 Bildung innerhalb des Seins

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Schleiermacher zufolge eine relative Spannung zwischen dem, was tatsächlich geschieht, und dem Gesetz als dem Bedingungsgefüge, unter dem es geschieht. Das Gesetz beschreibt daher einen Spielraum, dessen Grenzen vom individuellen Werden gleichsam gedehnt werden können. Ein weiterer Gedankenschritt besteht darin, dass Schleiermacher das Gesetz, unter dem sich individuelle Bildungsprozesse vollziehen, näher beschreibt als das jeweils spezifische Gesetz einer bestimmten Gattung. Die Gattungen wiederum gehören zu bestimmten Entwicklungsstufen innerhalb des Seins. Auf die physikalische, »mechanische«120 Seinsstufe folgt der »chemische[] Prozeß«121 , und diesem wiederum der im »Begriff der Vegetation« zusammengefasste »vegetative[] Prozeß«.122 Danach betritt das tierische Sein die kosmische Bühne und schließlich erreicht das Werden seinen Höhepunkt im Auftreten der menschlichen Gattung.123 Jeder dieser Stufen eignet eine Bestimmtheit, und jede folgt einem bestimmten »Princip«124 , die die verschiedenen Formen des Werdens konstituieren: Die »Vegetation«, die »Animalisation«125 und schließlich die »Begeistung«.126 Die Bedingungen, die für die individuellen Bildungsprozesse gelten, bilden einen Korridor, der einen bestimmten Richtungssinn aufweist. Nach dem Eintritt einer neuen Seinsstufe in das Werden steht diese keineswegs zusammenhangslos neben den vorangegangenen, sondern teilt vielmehr alle Bestimmtheiten der vorangegangenen Stufen: Tierisches Werden folgt selbstverständlich den Regelmäßigkeiten des physikalischen, des chemischen und des vegetativen Werdens. Aber die im Auftreten einer neuen Seinsstufe hinzugekommene Bestimmtheit ist von relativer Dominanz gegenüber den Bestimmtheiten der »älteren« Seinsstufen und ordnet sich diese unter.127 Dabei variiert allerdings der Grad der Dominanz. Das Auftreten von »Mißgeburt oder Krankheit«128 im Falle der Vegetation etwa ergibt sich aus »einem Mangel der Gewalt des neuen Princips über den chemischen Prozeß und die mechanische Gestaltung«.129 Dominiert das Prinzip der Gattung nicht den Eigensinn der älteren Seinsstufen, dann ergeben sich Spannun120

Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 449 Z. 5. Ebd., 449 Z. 4. 122 Ebd., 449 Z. 3, Z. 6. 123 Ebd., 449. 124 Ebd., 448 Z. 24. 125 Ebd., 449 Z. 9. 126 Ebd., 450 Z. 18. 127 Nach Peter B IERI : Generelle Einführung, in: Analytische Philosophie des Geistes (Philosophie – Analyse und Grundlegung 6), Königstein/Ts. 1981, 1–28, 5f. besteht ein Widerspruch zwischen der Behauptung mentaler Verursachung auf der einen und der Behauptung einer kausalen Geschlossenheit des physikalischen Werdens auf der anderen Seite. Schleiermacher zufolge wäre jedenfalls mit mentaler Verursachung zu rechnen, im Sinne einer Spontaneität von Lebendigem, die das Werden eines Seienden orientiert. Dadurch werden die physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht aufgehoben. Physikalische Gesetze beschreiben die Regeln für Prozesse, nicht aber die Impulse für den Verlauf von Prozessen. 128 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 448 Z. 30. 129 Ebd., 449 Z. 4f. 121

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Kapitel 3 Sein und Bildung

gen zwischen dem Gattungsprinzip und dem individuellen Bildungsprozess, die als Missbildungen zutage treten. Die Bestimmung individueller Bildungsprozesse besteht aber darin, mit dem Richtungssinn der Gattung übereinzustimmen. Von einem Richtungssinn kann deswegen gesprochen werden, weil die Dominanz des neuen Prinzips zwar grundsätzlich etabliert, aber doch noch nicht umfassend verwirklicht ist. Das Erleben der eingetretenen Dominanz des höheren Prinzips über das niedere hat für den Menschen »anmutenden« Charakter, wie Schleiermacher sagt.130 Damit beschreibt Schleiermacher, wie die Dominanz des Prinzips der eigenen Gattung erlebt wird, nämlich als attraktiv und erstrebenswert. Insofern wird der Einklang zwischen individuellem Bildungsprozess und dem Gattungsgesetz als ein Sollen erlebt. Diese Verhältnisbestimmung zwischen individuellem Bildungsprozess und seinen allgemeinen Bedingungen, die auch einen Richtungssinn umfassen, führen Schleiermacher nun zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Sein und Sollen. Sein umfasst nicht nur den Inbegriff aller individuellen Bildungsprozesse, sondern auch deren jeweilige Gattung. Die Spontaneität eines Individuums kann den Bedingungen seiner Gattung mehr oder weniger entsprechen, wobei der Einklang zwischen beiden als das Gesollte erscheint. Damit liegt bei Schleiermacher ein Verständnis des Seins vor, das an dieser Stelle der Ansicht Kants von der grundsätzlichen Differenz von Sein und Sollen widerspricht.131 Der Grund dafür liegt darin, dass das Sein nach Schleiermacher beides umfasst, den individuellen Prozess und dessen allgemeine Bedingungen. Der Einklang zwischen dem individuellen Werden und seinen gattungsspezifischen Bedingungen ist auf allen Seinsstufen das, was als das Gute und Wahre und Schöne wahrgenommen wird. Dagegen werden Spannungsverhältnisse zwischen dem Individuum und seinem Gesetz als hässlich erlebt: »[W]o die einzelne Erscheinung nicht rein bestimmt ist durch die Kraft, welche sie eigentlich repräsentieren soll, sondern in dem Konflikte mit anderen Potenzen partiell unterlegen ist«, dort wird die Erscheinung als hässlich empfunden.132 Im Falle des Menschen ist eine Disharmonie zwischen individuellem Bildungsprozess und allgemeinen Bedingungen zugleich das, was als »böse« oder »unsittlich« bezeichnet wird.133 Schleiermachers Verständnis von Bildung hat also zum einen eine deskriptive Seite, insofern eine Beschreibung von Bildung immer auch die Beschreibung der Bedingungen von Bildung umfasst. Bildung hat aber zum anderen auch einen normativen Sinn, da sie das Verhältnis zwischen individuellem Prozess und seinen Bedingungen als ein eher angemessenes oder eher unangemessenes beschreibt. 130

Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 439. Vgl. Ethik 1812/13, §§ 9–10, 246. Vgl. K ANT: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 6), B 375, B 575; vgl. dazu auch H ÖFFE: Immanuel Kant (wie Anm. 6), 211f. 132 S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 216, mit Hinweis auf Schleiermachers Psychologie, 204. 133 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 450 Z. 19f. 131

3.3 Bildung innerhalb des Seins

51

Ein Verhältnis der Disharmonie ist dabei nicht als Bildung, sondern als Unbildung zu beschreiben. Der Grund dieser Möglichkeit ist die Spontaneität des Individuums, dessen organisierendes Zentrum Schleiermacher auch schon auf der pflanzlichen Seinsstufe als relativ frei denkt.134 Relativ ist diese Freiheit, weil sie sich stets nur innerhalb eines spezifischen Bezogenheitsgefüges realisiert; um wirkliche Freiheit handelt es sich deswegen, weil dem Tätigsein Spontaneität zugrunde liegt. Bildungsprozesse vollziehen sich unter bestimmten Bedingungen. Schleiermacher nennt dabei drei Bedingungen, die sich aus den seinskonstitutiven Gegensätzen ergeben: Erstens baut sich das bildende Wirken eines Individuums auf einem ursprünglichen Geeinigtsein von individuellem Bezogenheitsgefüge und organisierendem Zentrum auf. Zweitens ist jeder Bildungsprozess darauf angelegt, sein ursprüngliches Bezogensein auszudifferenzieren. Drittens ist jeder Bildungsprozess darauf angelegt, diese Ausdifferenzierungen seines Bezogenseins wieder zu reintegrieren. Dadurch, dass alle Bildungsprozesse allgemeinen Bedingungen unterworfen sind, ergibt sich ein Verweis von Bildung auf Transzendenz. Diese vier Merkmale von Bildungsprozessen werden nun dargestellt. Bildungsprozesse beschreiben nach Schleiermacher das gestaltende Umgehen mit dem eigenen Bezogensein, das zu neuen Bestimmtheiten des eigenen Bezogenseins führt. Daher umfasst Bildung zugleich die Tätigkeit und das Resultat. Für Schleiermacher beginnt nun der Bildungsprozess weder mit der Tätigkeit der »Vernunft«, noch mit dem Bezogenheitsgefüge als solchem, der »Natur«. Vielmehr sind Natur und Vernunft, Bezogenheitsgefüge und organisierendes Zentrum ursprünglich geeinigt. Bildungsprozesse in ihrer Bestimmtheit haben nach Schleiermacher ihren Ursprung daher jenseits ihrer selbst. Bildungsprozesse richten sich auf das Bezogenheitsgefüge eines Seienden, und zwar in überwiegend rezeptiver oder spontaner Weise. Dadurch können die Relationen, in denen ein Individuum ursprünglich steht, gestaltet und in diesem Sinne auch zunehmend gebildet werden. Das Bezogensein ist gestalt- und bildbar. Das Streben nach einem solchen Durchdringen des Bezogenseins stellt Schleiermacher zufolge den Bildungstrieb der Individuen dar. Je ausgeprägter die Gestaltung des Bezogenseins, desto ausdifferenzierter ist der Umgang mit dem eigenen Bezogensein. Idealität kommt jedem Bildungsprozess insofern zu, als er mit der individuellen Vernunft ein organisierendes Zentrum aufweist, das die einzelnen Bezüge des Bezogenheitsgefüges in bestimmter Weise miteinander vermittelt und einander zuordnet. Bildung beschreibt bei Schleiermacher auch die Vermittlung der verschiedenen Strebensrichtungen und Bezogenheitsweisen zu einem lebendigen Ganzen. Zuletzt ist der Transzendenzverweis von Bildungsprozessen genauer zu beschreiben. Schleiermacher versteht das kosmische Werden als das Ineinander gestufter Seinsformen. Jüngere Seinsstufen folgen zwar auch den Bestimmtheiten 134

KGA II/10,1, 258,25f. Vgl. auch oben 3.1.2, 37ff.

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Kapitel 3 Sein und Bildung

der älteren Stufen, sind aber doch gekennzeichnet durch ein Prinzip, das neu in das kosmische Werden eingetreten ist und nicht einfach auf die vorangegangenen Bestimmtheiten zurückgeführt werden kann. Was allerdings ist dann der Ursprung dieser Entwicklungssprünge? Denkt Schleiermacher dieses Auftreten neuer Bestimmtheiten so, dass dieser Entwicklungssprung als Potential bereits in den früheren Seinsstufen angelegt war? Oder verweisen die Sprünge als Emergenzen über das Sein hinaus?135 Hierzu gibt Schleiermacher in seiner Akademieabhandlung »Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz« keine Antwort. Ein Zugang zu dieser Frage eröffnet sich durch Schleiermachers Verständnis der menschlichen Geschichte. Schleiermacher zufolge bilden das Naturgeschehen und die menschliche Geschichte nur einen relativen Gegensatz, weswegen sich auch beide »füglich hineinbilden lassen in eine gemeinschaftliche [Form]«.136 Insofern ist es methodisch durchaus legitim, aufgrund der fehlenden Aussagen Schleiermachers über den Ursprung neuer Seinsstufen zunächst auf die Entwicklungssprünge in der Geschichte zu blicken und nach deren Ursprüngen zu fragen. Die Akademieabhandlung »Über den Begriff des großen Mannes« von 1826 lässt eine Haltung Schleiermachers erkennen, die zwar keinerlei Beweise für ein transzendentes Eingreifen aufführt, gleichwohl aber die Möglichkeit eines transzendenten Eingreifens offen hält.137 Bei der menschlichen Geschichte handelt es sich nach Schleiermacher nicht um einen zirkulären Prozess, sondern um einen, innerhalb dessen Neues aufzutreten vermag. Dieses Neue ist nicht nur beschränkt auf einzelne Handlungen, sondern umfasst auch das Auftreten von Personen. Grundsätzlich ist jede Person eine individuelle Person, und ihr Eintritt in die Welt damit etwas Neues. Darüber hinaus gibt es nach Schleiermacher aber auch Personen, deren Auftreten in der Welt dazu führt, dass die weitere Entwicklung der Gattung unter eine neue Bestimmtheit gestellt ist. Solche Personen werden von Schleiermacher als »große Männer« bezeichnet.138 Zum einen besteht Schleiermacher zufolge die Eigenart des »großen Mannes« darin, »ganz herausgetreten [zu sein] aus dem Verhältniß

135 Vgl. dazu Philip H EFNER : Art. »Emergenz I. Theologie und Naturwissenschaft«, in: RGG4 II (1999), 1254, hier Sp. 1254. 136 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 451 Z. 15–21. 137 Vgl. Friedrich S CHLEIERMACHER : Zur Öffentlichen Sitzung am 24. Januar 1826, in: KGA I/11, Berlin und New York 2002, 479–490 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Begriff des großen Mannes), 486f. 138 Schleiermacher verstand bekanntlich Jesus von Nazareth als einen solchen, ja sogar den großen Mann, vgl. Dietz L ANGE: Neugestaltung christlicher Glaubenslehre. Theologe – Philosoph – Pädagoge, in: DERS .: Friedrich Schleiermacher: 1768-1834, hrsg. v. DEMS ., Göttingen 1985, 85–105, hier 102. Von großen Frauen spricht Schleiermacher nicht, obwohl er in seiner Pädagogik-Vorlesung durchaus anführt, dass Frauen immer wieder für Kirche und Wissenschaft von Bedeutung waren, vgl. Friedrich S CHLEIERMACHER: Vorlesungen über die Pädagogik im Winter 1820/21, in: KGA II/12, 343–538 (im Folgenden zit. als Pädagogik 1820/21), hier 92.

3.3 Bildung innerhalb des Seins

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der Gegenseitigkeit«.139 Damit steht nun die Frage im Raum, wie es möglich sein soll, dass ein Mensch aus dem Verhältnis der Wechselseitigkeit ganz heraustrete. Jedenfalls bringt Schleiermacher zum Ausdruck, dass sich das Auftreten großer Männer nicht in sich selbst erschöpft, sondern über sich hinaus verweist. Dies wird daran ersichtlich, dass der »große Mann« »wie ein göttlicher Hauch«,140 »wie ein himmlischer Funken« sei,141 und als die »freieste Gabe des Himmels« erscheine.142 Wenn Schleiermacher unter den großen Männern im weiteren Fortgang wiederum denjenigen aussondert und allen anderen entgegenstellt, »in welchem die Kraft liegt, in dem ganzen menschlichen Geschlecht aller Zonen und aller Zeiten ein neues Leben zu wecken«,143 so müsste dieser »alles menschliche Maaß überschreiten«.144 Ein Überschreiten alles menschlichen Maßes ist aber, soll es sich hierbei nicht bloß um eine rhetorische Figur handeln, nicht denkbar durch die, die diesem Maß unterworfen sind. Damit bleibt als ursächliche Instanz keine innerweltliche Größe übrig, sondern implizit nur Gott als der transzendente Grund des Seins. In Schleiermachers Glaubenslehre werden die hier zusammengetragenen Andeutungen hinsichtlich eines Wirkens der Transzendenz in der Geschichte explizit, wenn Schleiermacher deren Auftreten auf »göttliche Kausalität« zurückführt.145 Damit ergibt sich ein stimmiger Befund: Die menschliche Geschichte stellt sich aus christlicher Sicht als Korridor dar, der seine Bestimmtheit durch die Eigenart der menschlichen Gattung erlangt; und diese wiederum verdankt ihre Eigenart dem schöpferischen Wirken Gottes. Innerhalb dessen aber gelangt der geschichtliche Werdekorridor aber auch durch menschliches Handeln zu weiteren Bestimmtheiten, besonders durch das Handeln der großen Männer, die das weitere geschichtliche Werden unter veränderte Bedingungen stellen und damit einer bestimmten Zeit ihren Stempel aufzudrücken vermögen. Das Auftreten großer Männer wiederum hat seinen Ursprung in einem Wirken Gottes. Diese christliche Sicht ist nun aber eine, die deswegen nicht verallgemeinerbar ist, weil sie bedingt ist durch die kontingente Erfahrung der Erlösung durch den Glauben an Jesus von Nazareth.146 Die philosophische Perspektive rekurriert dagegen nicht auf das Affiziertsein durch Jesus von Nazareth, sondern auf das Affiziertsein durch die allgemeine Natur des Menschen überhaupt.147 Dabei kann sie nach Schleiermacher festhalten, dass die zu beobachtende Erscheinung von »großen Männern« 139

Akademievortrag Begriff des großen Mannes, 486 Z. 9f. Ebd., 486 Z. 28. 141 Ebd., 486 Z. 30. 142 Ebd., 487 Z. 8. 143 Ebd., 487 Z. 28–30. 144 Ebd., 487 Z. 31f. 145 Friedrich S CHLEIERMACHER : Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Teilband 1, hrsg. v. Rolf S CHÄFER, Berlin und New York 2003 (im Folgenden zit. als CG I), § 10, 72. 146 Vgl. dazu auch R IEMER : Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 287f. 147 CG I, § 13, 92. 140

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Kapitel 3 Sein und Bildung

über den Raum der Geschichte hinaus verweisen – ohne dass dies eine Form des Gottesbeweises darstellte und zwingend zur Annahme eines transzendenten Grundes führen müsste. Da Schleiermacher das Naturgeschehen der menschlichen Geschichte nicht abstrakt gegenüber stellt, sondern beide als strukturanaloge Größen versteht, gilt auch für das Eintreten neuer Seinsstufen, dass diese Sprünge innerhalb des kosmischen Werdens nicht befriedigend durch dieses innerkosmische Werden selbst zu erklären sind und daher über sich hinaus auf Transzendenz verweisen. Bildung beschreibt nach Schleiermacher also das spezifische Werden von Individuen innerhalb von gattungsspezifischen Bedingungen. Die Besonderheit dieses individuellen Werdens liegt jenseits des Werdens selbst begründet, und es hat einen doppelten Richtungssinn, nämlich den der Ausdifferenzierung des eigenen Bezogenseins und den der Integration aller Bezüge zu einem lebendigen Ganzen. Dabei verweist das ursprüngliche Geeinigtsein genauso über das Sein hinaus wie die Bestimmung, die diesem Geeinigtsein zu eigen ist.

4. Kapitel

Gefühl und Bildung

Die bislang erfolgte Analyse des Seins- und Bildungsverständnisses Schleiermachers1 diente zur Vorbereitung der Analyse von Schleiermachers Theorie des Gefühls. Da Schleiermacher in der Ethik als Bezugsgröße des Gefühls das NaturVernunft-Geschehen nennt, musste dieses Geschehen zuerst analysiert werden. Diese Reihenfolge wird allerdings allein von der Logik der Rekonstruktion verlangt, und darf nicht mit der erkenntnistheoretischen Reihenfolge identifiziert werden. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist das Gefühl das primäre Moment, das dem Menschen überhaupt erst den Zugang zum Sein in der für den Menschen spezifischen Weise eröffnet. Bei Schleiermachers Gefühlsverständnis handelt es sich folglich nicht um ein Theoriestück neben anderen, sondern um dasjenige, das die Möglichkeitsbedingung allen menschlichen Wirklichkeitsbezugs thematisiert und damit um den Kern seiner Bewusstseinstheorie.2 Dennoch ist in der Schleiermacher-Forschung umstritten, was genau Schleiermacher unter »Gefühl« oder »unmittelbarem Selbstbewusstsein« versteht. Da Schleiermacher trotz einer ganzen Reihe an Aussagen keine »hinreichende Darstellung des Zusammenhanges der Begriffe des Wollens, des Denkens, der Tätigkeit und der Handlung entfaltet« hat, wie Ulrich Barth konstatiert,3 muss genau dieser Zusammenhang von jeder Interpretation erneut hervorgebracht werden. Gelingt dies nicht, dann kann Schleiermachers Theorie des Selbstbewusstseins nur bescheinigt werden, sie trage »vorkritische und irrationale Züge«.4 Andreas Arndt fragt, ob die behauptete Unmittelbarkeit des Gefühls theoretisch befriedigen kann oder doch nur als »black box der Vermittlung funktioniert«, die zwar eine theoretische Funktion erfüllt, aber keine Beschreibung menschlichen Erlebens darstellt.5 1

Vgl. Abschnitt 3.: »Sein und Bildung« ab S. 31. A RNDT: Friedrich Schleiermacher als Philosoph (wie Anm. 11), 23, sieht die Pointe dabei in der Einheit von Realem und Idealem, von Subjekt und Objekt. Vgl. auch ebd., 207: Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist der Grund der Reflexion. 3 Ulrich BARTH : Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983, 120. 4 L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 85. 5 A RNDT : Friedrich Schleiermacher als Philosoph (wie Anm. 11), 24. 2

56

Kapitel 4 Gefühl und Bildung

Die Aufgabe des folgenden Abschnitts besteht darin, das Gefühl als Grundlage allen Wirklichkeitsbezugs und damit auch als den Ort des Übergangs von Denken und Wollen zu erhellen, ein Sachverhalt, auf den Marlin E. Miller früh hingewiesen hat.6 Um diesen Übergang zu ermöglichen, muss das Gefühl nach Eilert Herms und Ulrich Barth als »Erschlossenheit« interpretiert werden.7 Diese Interpretation des Gefühls als Erschlossenheit durch die Schleiermacher-Forschung kann nun durch Rückgriff auf die Aussagen, die Schleiermacher im Rahmen seiner Ethik trifft, noch entscheidend erweitert und vertieft werden. Dieser Zugang über die Ethik entspricht damit nicht nur dem Zugriff der vorliegenden Studie im Ganzen, sondern ergänzt die Interpretation von Schleiermachers Gefühlsverständnis um eine aufschlussreiche Perspektive, die aber in der Regel zugunsten der Reden, der Dialektik und der Einleitung der Glaubenslehre vernachlässigt wird.8 Bereits an dieser Stelle kann das Seinsverständnis Schleiermachers für die Analyse seines Gefühlsverständnisses fruchtbar gemacht werden. Auch das Gefühl begegnet nur innerhalb des Seins und teilt daher dessen Bestimmtheiten. So erscheint auch das Gefühl in der Spannung von Außen und Innen, von Bezogensein und organisierendem Zentrum. Das Gefühl tritt zum einen als individuelles Symbolisieren im sozialen Raum in Erscheinung. Zum anderen ist es als das organisierende Zentrum des Menschen eine verborgene Größe, die der sinnlichen Wahrnehmung entzogen ist. Diese Grundunterscheidung deckt sich mit Schleiermachers Darstellung insofern, als er dem Gefühl erstens mit den beiden Tätigkeiten des »Ahndens« und »Darstellens« eine bestimmte Form der äußeren Interaktion zuordnet. Das Gefühl begegnet nur zusammen mit einer äußeren Gestalt, ebenso wie der Gedanke nur in der Sprache vollständig wird. Dabei ist aber zweitens deutlich, dass sich das Gefühl für Schleiermacher keineswegs in diesen äußeren Vollzügen erschöpft. Vielmehr kennt er mit dem leiblichen, sittlichen und religiösen Gefühl eine bestimmte innere Differenziertheit und Struktur des Gefühls.9 Beide Aspekte des Gefühls haben darüber hinaus einen Richtungssinn. Die soziale Bestimmung besteht darin, dass das verborgene Gefühl eines Menschen für andere ahnbar wird und auf diese Weise eine Gemeinschaft des Gefühls 6 Marlin E. M ILLER : Der Übergang. Schleiermachers Theologie des Reiches Gottes im Zusammenhang seines Gesamtdenkens (Studien zur evangelischen Ethik 6), Gütersloh 1970. 7 Vgl. BARTH : Christentum und Selbstbewußtsein (wie Anm. 3), 120. Vgl. auch Eilert H ERMS: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, 138. G ROVE: Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 343ff., 349, spricht von einer »impliziten Metaphysik«, und geht damit über das szenische Erschlossensein des Bezogenseins hinaus. Zu den Problemen dieser Interpretation vgl. ausführlich KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 254–296, bes. 274–278. 8 Vgl. BARTH : Christentum und Selbstbewußtsein (wie Anm. 3), 120, wo Barth von den bloß »vagen Äußerungen« in der Dialektik und der Glaubenslehre spricht. 9 Vgl. G ROVE : Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 519. Vgl. zur Frage nach Einheit und interner Differenzierung des Gefühls auch A RNDT: Friedrich Schleiermacher als Philosoph (wie Anm. 11), 23.

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

57

entsteht. Die gefühlsinterne Bestimmung besteht darin, dass das Erleben einzelner Situationen nicht für sich, sondern im Horizont eines Gefühls für die Wahrheit des Menschseins erscheint. Zunächst wird Schleiermachers Verständnis von Gehalt und Struktur des Gefühls analysiert,10 dann folgt die Darstellung der sozialen Seite des Gefühls.11 Das dabei gewonnene Verständnis des Zusammenhangs von Gefühl und Bildung in der Ethik wird schließlich in Beziehung zum Verständnis dieses Zusammenhanges in den Reden und der Glaubenslehre gesetzt.12

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls Schleiermachers Theorie des Gefühls wird zumeist im Ausgang seiner Dialektik oder der ersten Einleitungsparagraphen seiner Glaubenslehre rekonstruiert und hiervon ausgehend die Religion bestimmt. Allerdings besteht bei diesem Vorgehen die Gefahr, die interne Struktur und Differenzierung des Gefühls zu übergehen. Im Folgenden wird daher der umgekehrte Weg eingeschlagen, indem der Ausgangspunkt der Interpretation bei den einzelnen Erscheinungsweisen des Gefühls genommen wird,13 und erst in einem zweiten Schritt nach dem diese verschiedenen Erscheinungsweisen verbindenden allgemeinen Charakter des Gefühls gefragt wird.14 Das Vorgehen hat damit keinen deduktiven, sondern induktiven Charakter. Damit wird festgehalten, dass die einzelnen Erscheinungsweisen und die einheitliche Verfassung des Gefühls nicht im Widerstreit miteinander stehen, sondern dass beide Aspekte zugleich gegeben sind.15 In Bezug auf die Verfassung des Gefühls führt Schleiermacher in der letzten Bearbeitung seiner Güterlehre im Kontext seiner Behandlung des unübertragbaren Erkennens als »Bezeichnen der Natur«16 drei Formen des Gefühls an: das »leibliche«, das »religiöse« und das »sittliche« Gefühl.17 Obwohl deren Verständnis Schleiermachers Gefühlstheorie zu konkretisieren und zu illustrieren vermag und er in seiner Pädagogik auf diese verschiedenen Aspekte des Gefühls Bezug nimmt, hat Schleiermacher dem Paragraphen nur eine sehr knappe Erläuterung folgen 10

Vgl. Abschnitt 4.1.: »Gehalt und Struktur des Gefühls« ab S. 57. Vgl. Abschnitt 4.2.: »Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls« ab S. 81. 12 Vgl. Abschnitt 4.3.: »Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre« ab S. 88. 13 Vgl. die Abschnitte 4.1.1 und 4.1.2 ab Seite 60. 14 Vgl. Abschnitt 4.1.3.: »Die einheitliche Grundgestalt des Gefühls« ab S. 70. 15 Andreas Arndt scheint zwischen der in sich unterschiedenen Einheit des Gefühls, wie sie von G ROVE: Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 519, beobachtet werden, und der Einheit von Realem und Idealem im Gefühl eine Alternative zu sehen, vgl. A RNDT: Friedrich Schleiermacher als Philosoph (wie Anm. 11), 23. Dies widerspricht aber Schleiermachers Verständnis der Gleichzeitigkeit von Besonderem und Allgemeinem, von Erscheinung und Kraft. 16 Güterlehre (L.B.), §§ 50–51, 587f. 17 Ebd., § 52, 589. 11

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

lassen.18 Dies mag ein Grund dafür sein, dass auch in der Forschung eine genauere Analyse dieser drei Erscheinungsformen des Gefühls bislang unterblieben ist. Falk Wagner zitiert den entsprechenden Paragraphen zwar, übergeht aber in seiner Interpretation dann das leibliche Gefühl, und fasst das religiöse und sittliche Gefühl ohne weitere Begründung zusammen.19 Dass es dagegen keine Zufälligkeit ist, dass Schleiermacher von einer dreifachen Erscheinungsweise des Gefühls spricht, belegt seine Vorlesung zur Güterlehre von 1812/13, die ebenfalls drei Aspekte des Gefühls erwähnt. Neben der »Religion im engeren Sinne« begegnen eine »physische« und eine »ethische« Seite, die hier als »religiös« im weiteren Sinne bezeichnet werden.20 Für den vorliegenden Kontext ist zunächst lediglich entscheidend, dass die in der Güterlehre 1816/17 beobachtete Dreiteilung bereits in der Fassung von 1812/13 begegnet, wobei »sittlich« und »ethisch« auf der einen, »leiblich« und »physisch« auf der anderen Seite einander entsprechen und jeweils denselben Sachverhalt beschreiben. Den einheitlichen Gehalt des Gefühls beschreibt Schleiermacher wie bereits oben angeführt: »Denn das Gefühl auch von der niedrigsten Art sagt immer aus, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur.«21

Das Gefühl richtet sich nicht auf den Zustand eines Menschen, sondern auf ein Geschehen. Im Rückgriff auf die bereits erfolgte Interpretation von Natur und Vernunft kann festgehalten werden, dass das Wirken der Vernunft auf die Natur nicht als das Wirken des Menschen auf seine apersonale Umwelt zu verstehen ist, sondern auf die Prägekraft der Vernunft als des organisierenden Zentrums eines Individuums auf dessen Bezogenheitsgefüge.22 Schleiermacher zufolge sagt das Gefühl etwas über individuelles Werden aus, ein Befund, der aufgrund der ungewohnten Verwendung des Ausdrucks »Fühlen« irritiert. Zunächst ist aber festzuhalten, dass hiermit eine allgemeine Aussage über den Gehalt des Gefühls getroffen ist, die aufgrund dieses allgemeinen Charakters auch für die spezifischeren Erscheinungsweisen des Gefühls gilt, für das leibliche, sittliche und religiöse Gefühl: Auch deren Gehalt umfasst jeweils das Wirken der Vernunft in der Natur. Wäre dies nicht der Fall, würde der Begriff des Gefühls nicht mit dem Begriff seiner unterschiedlichen Ausdifferenzierungen als leibliches, 18

Vgl. Güterlehre (L.B.), § 52, 589. Vgl. WAGNER: Schleiermachers Dialektik (wie Anm. 25), 176f. 20 Ethik 1812/13, § 229, 315, vgl. auch ebd., § 249, 318. 21 Güterlehre (L.B.), § 52, 589. 22 Schleiermacher zufolge handelt es sich hier ausdrücklich nicht um lediglich »meine« Natur oder Vernunft, sondern kann auch das Gefühl für das Bezogensein und die prägende Vernunft eines anderen Menschen sein. Dass Schleiermacher auch mit einem Gefühl für Individuen vormenschlicher Seinsstufen, etwa Tieren, rechnet, ist deswegen auszuschließen, weil es auch bei diesen dann eine dem sittlichen Gefühl entsprechende Sittlichkeit geben müsste, ein Gedanke, der Schleiermacher fremd ist. 19

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

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religiöses und sittliches Gefühl zusammenstimmen. Es läge somit eine äquivoke Verwendung vor. Wenn die besagten drei Erscheinungsweisen des Gefühls allesamt aber denselben Gehalt aufweisen, bedarf es zur Unterscheidung noch einer differentia specifica. Da ihr Gehalt identisch ist, kann sich diese Differenz nur aus der Weise ihres Bezogenseins auf den einheitlichen Sachverhalt ergeben. Welche Bezogenheitsweisen des Menschen auf individuelles Werden werden nun mit dem leiblichen, sittlichen und religiösen Gefühl beschrieben?23 Ein interpretatorischer Zugang eröffnet sich erneut von Schleiermachers Seinsund Bildungsverständnis her. Das Gefühl als genuines Wesensmerkmal des Menschen geht jedenfalls auf die »Einwohnung der Vernunft in der Natur« zurück.24 Dieser Eintritt der menschlichen Vernunft in die Natur als »Begeistung«25 ist nichts schlechthin Neues, sondern stellt eine Variation des Natur-Vernunft-Verhältnisses dar. Dieses ist grundsätzlich als Rezeptivität und Spontaneität verfasst. An dieser Verfassung hat auch das Menschsein als »Intelligenz« teil:26 Es ist ebenfalls eine Form des Insichaufnehmens und Aussichheraustretens.27 Nach Schleiermacher ist das Gefühl zunächst der Seite der Rezeptivität zuzuordnen, »weil es rein in sich zurückgeht«.28 Schleiermachers Denken als Denken in relativen Gegensätzen wirkt sich aber auch auf die Beschreibung des Gefühls als Insichbleiben aus. Auch dieses hat durch seine Zugehörigkeit zum Sein Anteil am Wechselspiel von Rezeptivität und Spontaneität. Daher ordnet Schleiermacher auch dem Gefühl diese beiden Bewegungsrichtungen zu, womit das Gefühl einerseits das Moment der »Passion« aufweist, andererseits das der »Reaction«.29 Dies könnte als Widerspruch verstanden werden: Wie kann das Gefühl ein Insichbleiben sein und dabei dann zugleich doch auch ein rezeptives wie ein spontanes Moment aufweisen? Grundsätzlich möglich ist diese Figur, weil Schleiermacher zufolge keine absoluten Gegensätze auftreten, sondern lediglich relative; auch im Falle des Gefühls muss daher eine entsprechende Differenzierung vorgenommen werden. Der Nachweis eines Auftretens von Reaction und Passion im Gefühl lässt sich nun für die Interpretation der drei Erscheinungsweisen des Gefühls fruchtbar machen. Schleiermacher geht zum einen davon aus, dass es eine »zu jedem Gefühl nothwendig gehörige Erregung« gibt;30 diese Erregung, die die Selbsttätigkeit vorbereitet, gehört seinen Ausführungen zufolge dem sittlichen Gefühl an. Diese lässt sich zumindest in einer Art Vorgriff mit der Seite der »Reaction« des Gefühls 23 Eine Frühform dieser Überlegung zum Verhältnis zwischen Denken, Wollen und Fühlen findet sich in den Reden, vgl. Reden, 208. Vgl. dazu auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 106f. 24 Das Gefühl ist »Ausdruck der Vernunft in der Natur. Es ist eine in der Natur gewordene Lebensthätigkeit, aber nur durch die Vernunft geworden«: Güterlehre (L.B.), § 52, 589. 25 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 451 Z. 12. 26 Ebd., 450f. 27 Vgl. Ethik 1812/13, § 18, 378. 28 Güterlehre (L.B.), § 52, 589. 29 Ethik 1812/13, § 208, 310. 30 Güterlehre (L.B.), § 52, 589.

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identifizieren. Schleiermacher hat zum anderen an verschiedenen Stellen die Sinnlichkeit mit der Rezeptivität in Verbindung gebracht. Daher wird im Folgenden die »Passion« mit dem leiblichen Gefühl identifiziert. Eine nähere Bestimmung des religiösen Gefühls steht damit noch aus, wird sich aber im Zusammenhang mit den Ausführungen zum leiblichen und sittlichen Gefühl ergeben.

4.1.1 »Leibliches« und »sittliches« Gefühl Mit dem Begriff des leiblichen Gefühls könnte zunächst eine Art Körpergefühl beschrieben werden, also das Erleben des eigenen Leibes. Dies kann vor dem Hintergrund des oben erarbeiteten Verständnisses des Leibes aber nur dann zutreffend sein, wenn unter dem Leib nicht einfach nur der eigene Körper verstanden wird, sondern der Inbegriff des eigenen, stets leiblich vermittelten Bezogenseins. Aber auch dies greift deswegen noch zu kurz, weil Schleiermacher das Gefühl nicht nur als ein Gefühl für das eigene Bezogensein begreift, sondern immer auch als Gefühl für das eigene Bezogensein, insofern es sich einem bestimmten Handeln der Vernunft verdankt. Unter Berücksichtigung dieses Sachverhaltes ist das leibliche Gefühl zu verstehen als ein Gefühl für das eigene Bezogensein, das auf eine bestimmte Vernunft als seine Prägekraft zurückverweist. Das leibliche Gefühl ist damit zu beschreiben als ein Gefühl für ein Gewirkthaben der Vernunft in der Natur. Wenn Schleiermacher vom sittlichen Gefühl spricht, dann liegt es zunächst nahe, dieses gegenüber einem etwaigen unsittlichen Gefühl abzugrenzen. Dies ist nun aber nicht der Sinn der Bezeichnung, vielmehr verwendet Schleiermacher den Begriff des Sittlichen hier als Bezeichnung für den Sachverhalt des menschlichen Handelns überhaupt. Dies zeigt sich auch in Schleiermacher Ethik-Vorlesung von 1812/13, in der diese Erscheinungsweise des Gefühls als die »ethische« bezeichnet wird. Der Bereich der Ethik ist nach Schleiermacher nicht dem Bereich des Unethischen entgegengesetzt, sondern dem der Physik. Festgehalten werden kann damit zunächst, dass das sittliche Gefühl mit dem menschlichen Handeln insgesamt zu tun hat. Aufschluss über die Eigenart des sittlichen Gefühls gibt Schleiermachers Aussage, dass dort, wo das Natur-Vernunft-Wirken gefühlt wird, auch immer eine bestimmte »Erregung« anzutreffen ist, weil an jedem Bezogenheitsgefüge als einer Einigung von Natur und Vernunft immer auch erscheine, inwiefern Natur und Vernunft noch nicht geeinigt sind. Schleiermacher zufolge sagt das Gefühl, »[. . . ] was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der mit ihr geeinigten Natur zufolge des Verhältnisses, in welchem diese steht gegen die nicht geeinigte«.31

Schleiermacher stellt damit fest, dass es nicht nur das Resultat des Vernunftwirkens ist, das wahrgenommen wird, sondern dass das Bezogenheitsgefüge darüber 31

Güterlehre (L.B.), § 52, 589.

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

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hinaus als eines erlebt wird, das noch keine Prägung durch die individuelle Vernunft erfahren hat, insofern noch »nicht geeinigt[]« ist, aber geeinigt werden kann: Gefühlt wird die individuelle Gestaltbarkeit des Bezogenheitsgefüges. Das bedeutet aber, dass Schleiermacher zufolge auch Möglichkeiten erlebt und wahrgenommen werden. Das sittliche Gefühl sagt also anders als das leibliche Gefühl nicht etwas über das Gewirkthaben der Vernunft, sondern etwas über das Wirkenkönnen der Vernunft im Bezogenheitsgefüge aus. Und dieses Potential, das fühlend erlebt wird, übt nun in dem Sinne eine Erregung auf den Fühlenden aus, als die Möglichkeit des Wirkenkönnens eine anziehende Kraft ausübt. Diese ist es, die einen möglichen Handlungsimpuls der Vernunft vorbereitet. Leibliches und sittliches Gefühl bezeichnen folglich zwei unterschiedliche Weisen des Bezugs auf das Vernunft-Natur-Geschehen, einerseits als Fühlen des Gewirkthabens, andererseits als Fühlen des Wirkenkönnens der Vernunft in einem bestimmten Bezogenheitsgefüge. Schleiermacher unterscheidet diese beiden Dimensionen an anderer Stelle auch als bereits geschehene »Einigkeit« von Natur und Vernunft einerseits und als deren noch ausstehende »Einigung« andererseits.32 Diese beiden Seiten des Natur-Vernunft-Geschehens sind es auch, die im Gefühl erscheinen: Mittels des leiblichen Gefühls wird die bereits hervorgebrachte Einigkeit, mittels des sittlichen Gefühls eine noch ausstehende Einigung erlebt. Beide Erscheinungsweisen des Gefühls weisen damit auf dessen zeitliche Verfassung hin. Offenkundig ist das Gefühl so beschaffen, dass in ihm Vergangenes und Zukünftiges mit dem Gegenwärtigen in besonderer Weise vermittelt sind. Dass es diese besondere Art der Zeitlichkeit ist, die nicht nur die Besonderheit des Gefühls ausmacht, sondern damit zugleich die Besonderheit des Menschen konstituiert,33 wird auch an Schleiermachers Beschreibung des kindlichen Erlebens deutlich: »Man sagt von den Kindern, sie leben bloß in der Gegenwart; dies ist aber eine elegische Sage des Alters, das auf die Jugend zurücksieht. Als realer menschlicher Zustand ist jenes gar nicht möglich, denn wir kommen an die Grenze des Thierischen, wenn wir nicht in die Gegenwart auch die Divination setzen.«34

Als realer menschlicher Zustand ist ein Leben »bloß in der Gegenwart« deswegen nicht möglich, weil es eben das mit dem Gefühl oder unmittelbaren Selbstbewusstsein eröffnete zeitliche Erleben ist, das das menschliche Dasein kennzeichnet. Daher ist schon im Falle von Kindern damit zu rechnen, dass die relative Spannung von bereits Geschehenem und noch Ausstehendem erleben. Auch das kindliche Erleben ist antizipierend verfasst, und nimmt das sich noch Ereignende fühlend 32

Güterlehre (L.B.), § 36, 623. Vgl. auch den Vorschlag von Elisabeth G RÄB -S CHMIDT/Reiner P REUL (Hrsg.): Natur (Marburger Jahrbuch Theologie XXVII), Leipzig 2015, 43f., den Naturbegriff im Horizont der Zeitlichkeit neu zu entfalten. 34 Pädagogik 1820/21, 391 Z. 38 – 392 Z. 2. 33

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vorweg. Diese Antizipation nennt Schleiermacher »Divination«;35 sie ist nicht als ein Vermögen vorzustellen, das sich aus dem Denken speist, da es sonst nicht in gleicher Weise bei Erwachsenen und Kindern auftreten würde. Vielmehr handelt es sich um eine fühlende Antizipation von möglichen Konstellationen des eigenen Bezogenseins.36 Die bisher erfolgte Darlegung von leiblichem und sittlichem Gefühl als Strukturmomenten des Gefühls hatte bislang das Verhältnis zu den einzelnen realen Gefühlen vernachlässigt. Schleiermacher hat sich lediglich an einigen wenigen Stellen dazu geäußert, wie die einzelnen Gefühle vor diesem strukturellen Aufbau des Gefühls zu verstehen sind. Diese verstreuten Äußerungen bieten jedenfalls Hinweise darauf, dass deren Verhältnis als eines relativer Gleichzeitigkeit vorzustellen ist. Leibliches und sittliches Strukturmoment treten demnach nicht voneinander unterschieden auf, sodass etwa die Hoffnung dem sittlichen Gefühl zuzuordnen wäre. Vielmehr ist jedes einzelne Gefühl dadurch charakterisiert, dass stets beide in einer ihnen eigenen Weise verbunden sind. Das Gefühl der Liebe beschreibt Schleiermacher als das »Seelewerdenwollen der Vernunft, das Hineingehen derselben in den organischen Prozeß«.37 Eine bestimmte Relation des Bezogenheitsgefüges wird also hinsichtlich ihres Potentials erlebt: Das eigene Bezogensein, wie es leiblich gefühlt wird, wäre ein besseres, wenn es durch die eigene Vernunft Gestaltung erfahren würde. Liebe im Sinne des Eros wäre das Erleben eines Bezogenseins, das besser wäre, wenn es durch die eigene Vernunft und die des anderen Gestaltung erführe. Die Liebe zweier Menschen gipfelte demnach darin, dass beide miteinander alt werden wollen und auch tatsächlich miteinander alt werden – um gemeinsam im Bezogenheitsgefüge des jeweils anderen zu leben und es mitzuprägen. Schleiermacher hat in seiner Tugendlehre das Gefühl der Hoffnung näher beschrieben als das Gefühl, »daß, ohnerachtet der Einzelne seines Erfolges nicht sicher ist, die Idee doch gewiß werde realisirt werden«.38 Im Falle der Hoffnung besteht angesichts des situativen Bezogenseins nur eine beschränkte Aussicht auf erfolgreiches Mitgestalten der Situation. Aber das Bezogenheitsgefüge wird erlebt als eines, das einen bestimmten Richtungssinn auf das Gute aufweist, aufgrund dessen dieses Gute Wirklichkeit wird – auch wenn die Kraft des Handelnden in dieser Situation zur Realisierung nicht ausreichend ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Gefühl der Hoffnung ein Gefühl für die allgemeine Verfassung 35

Die Herausgeber Christiane Ehrhardt und Wolfgang Virmond erläutern den Begriff der Divination als »das Vermögen, in eine ungewisse, gestaltbare Zukunft zu schauen«: Pädagogik 1820/21, 109, Anmerkung 75. Besser als die Rede von der »ungewissen« Zukunft wäre die von einer noch nicht festgelegten, relativ gestaltungsoffenen Zukunft. Denn auch die Möglichkeiten begegnen als gewisse Möglichkeiten. 36 Dies ist aufgrund der Verfassung des Gefühls als leiblich-szenisches Dauererleben möglich, vgl. dazu 4.1.3: Die einheitliche Grundgestalt des Gefühls ab S. 70. 37 Ethik 1812/13, § 1, 386. 38 Ebd., § 26, 380.

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und Bestimmung des Menschseins voraussetzt, und damit schon zu den religiösen Gefühlen gehört. Diese wird im folgenden Abschnitt besprochen.39 Das bisherige Vorgehen ging davon aus, dass das Gefühl Anteil hat an der Rezeptivität und Spontaneität menschlichen Lebens, wodurch Schleiermachers Verständnis des Gefühls als »zeitliche[s] Selbstbewußtsein jedes Einzelnen« deutlich wurde.40 Das leibliche wie das sittliche Gefühl sind beide auf das Wirken der Vernunft in der Natur gerichtet. In beiden Fällen werden jeweils einzelne Situationen gefühlsmäßig erfasst. Nach Schleiermacher erscheinen einzelne Sachverhalt aber nie an und für sich, sondern immer nur zugleich als Variationen dauernder Bedingungen.41 Mit Bezug auf das Gefühl bedeutet dies, dass nicht nur erlebt wird, inwiefern eine bestimmte äußere Situation (»Natur«) durch einen bestimmten inneren Impuls (»Vernunft«) geprägt ist, sondern auch, welche Gestaltung »wahr« ist und also dem ursprünglichen Geeinigtsein und dessen Richtungssinn entspricht.

4.1.2 »Religiöses« Gefühl Nachdem die spezifische Erscheinungsweise des Vernunft-Natur-Wirkens für das leibliche und sittliche Gefühl erläutert wurde, sowie exemplarisch einige Gefühle vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von leiblicher und sittlicher Dimension beschrieben wurden, steht nun die Frage nach der Eigenart des religiösen Gefühls im Mittelpunkt. Zwei Bedingungen hat eine Analyse des religiösen Gefühls dabei um der Konsistenz willen zu erfüllen: Zum ersten darf das religiöse Gefühl nicht in der gleichen Weise als rezeptiv oder spontan gedacht werden wie das leibliche oder sittliche Gefühl, sondern muss sich als ein drittes zu diesen beiden verhalten. Wäre das religiöse Gefühl unter eine dieser beiden Seiten zu zählen, dann müsste das religiöse Gefühl entweder dem leiblichen oder dem sittlichen Gefühl zugeordnet werden und träte nicht als eine von diesen unterschiedene Größe in Erscheinung. Zum zweiten darf der einheitliche Gehalt des Gefühls für das religiöse Gefühl nicht in gleicher Weise erscheinen wie für das leibliche und sittliche Gefühl. Für das religiöse Gefühl erscheint nun das Vernunft-Natur-Wirken nicht in der Weise situationsspezifisch, dass lediglich das Vernunftpotential eines Menschen in einer einzelnen Situation gefühlt wird, sondern hat demgegenüber universalen Charakter: Gefühlt wird die wahre Einigung von äußerem Bezogenheitsgefüge und innerem Impuls. Dieses Universale oder Allgemeine wiederum vermag nicht als Allgemeines zu erscheinen, sondern nur als das Allgemeine eines Einzelnen. Bezogen auf das religiöse Gefühl bedeutet dies, dass dieses wie das leibliche und sittliche Gefühl auf nichts anderes gerichtet sein kann als auf eine einzelne 39

Vgl. Abschnitt 4.1.2.: »›Religiöses‹ Gefühl« ab S. 63. Akademievortrag Höchstes Gut II, 673 Z. 9. 41 Vgl. ebd., 671 Z. 37. 40

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Einigungsgestalt von Natur und Vernunft. Allerdings, und dies ist nun der entscheidende Sachverhalt, kann eine einzelne Einigungsgestalt durchaus als diejenige erscheinen, die der Verfassung und Bestimmung des Menschen gemäß ist,42 und damit den Charakter eines »Urbildes« hat.43 Gegenstand des religiösen Gefühls sind also Gestaltungen des menschlichen Bezogenseins, die als wahr erlebt werden, weil sie mit den Bedingungen und der Bestimmung des Menschseins im Einklang sind. Diese Lebensgestalt hat dann die Gestalt einer Manifestation der Wahrheit des Menschseins, weil in ihr die individuelle Vernunft das Bezogenheitsgefüge derart gestaltet, dass dabei Einklang herrscht zu dem, was die Vernunft überhaupt wirken kann oder nicht wirken kann im Bezogensein des Menschseins. Das religiöse Gefühl wird dort aktualisiert, wo die wahre Einigung von Natur und Vernunft, das Erscheinen der »an sich unzeitlichen Vernunft«,44 im individuellen Leben eines Menschen erlebt wird. Um dies zu illustrieren, sei Schleiermachers Sicht auf Jesus von Nazareth skizziert, in dem er diesen Einklang zwischen Individuum und Bestimmung der Gattung gegeben sah. Die Pointe von Jesu Leben sieht Schleiermacher darin, dass die Bestimmung der Gattung, nämlich das Eintreten in die Gemeinschaft mit Gott, in diesem Menschen umfassend realisiert ist. Schleiermacher sieht in dieser Gottesgemeinschaft als der Einigung von Natur und Vernunft die Realisierung der Bestimmung des Menschseins innerhalb der Zeit. Sie führt zu einer Gestaltung 42

Vgl. zur Bestimmung des Menschen und dessen Bedeutung für die Ethik auch Björn G ÖR Milton Friedmans Freiheitsverständnis. Systematische Rekonstruktion und wirtschaftsethische Diskussion, Tübingen 2015, 247. 43 Schleiermachers Rede vom »Urbild« hat eine Parallele bei Herder und Goethe, vgl. Gunter S CHOLTZ: Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, 105. Vgl. auch BARTH: Christologie und spekulative Theologie. Schleiermacher und Schelling (wie Anm. 31), 260– 262. Ebd., 261, betont, dass nur eine limitative Verwendung dieses Begriffs »Urbild« im Rahmen einer subjektivitätstheoretischen Theorie der Religion zulässig sei. Schleiermacher habe diese Urbildlichkeit aber als das »Personbildende in Christo« angesprochen und damit einen nicht zulässigen Schritt über diese limitative Verwendung hinaus unternommen, deren »desaströsen Folgen« in Schleiermachers Vorlesungen zum Leben Jesu erkennbar seien, die nur einen »idealisierten Christus« zeichneten. Barth geht hier davon aus, dass der Urbild-Charakter Jesu durch Subsumtion, also im Denken, zustande käme. Wenn eine Person (also auch Jesus) aber tatsächlich als Urbild erlebt wird, dann hätte Schleiermachers Rede vom Urbild lediglich beschreibenden Charakter, und wäre nicht das Resultat einer Denkoperation. Zugrunde läge ihr dann die Erfahrung eines »völlig[] innere[n] Bestimmtsein[s] durch den geschichtlichen Jesus und den in ihm gegenwärtigen Gott«, wie L ANGE: Neugestaltung christlicher Glaubenslehre (wie Anm. 138), schreibt. »Urbild« wäre damit ein Erfahrungsbegriff und könnte nicht nur limitativ verwendet werden. Dass Schleiermachers Vorlesung zum Leben Jesu unter Umständen als defizitär zu beurteilen ist (vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Jörg D IERKEN: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher, Tübingen 1996, 393ff.), steht auf einem anderen Blatt und wäre demnach jedenfalls nicht in einer mangelhaften Theorie des Urbildes begründet. 44 Akademievortrag Höchstes Gut II, 671 Z. 39. DER :

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

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des Bezogenseins, die diesem das Gepräge des »seligen Lebens« und der »Liebe« oder des »Mitgefühls« gibt.45 Dabei wird gleichzeitig die Grenze menschlichen Wirkens deutlich, und damit das Verhältnis zur eigenen Bestimmung. Denn diese Gemeinschaft mit Gott verdankt sich keinem Handeln Jesu, sondern einem Handeln Gottes, wird also von Jesus nur erwidert, nicht aber etabliert. Dass das Werden eines Menschen einen bestimmungsgemäßen Richtungssinn erhält, ist kein Handeln der individuellen Vernunft. Somit sagt das Gefühl auch aus, was die Vernunft nicht wirkt in der Natur. Vielmehr antwortet die Vernunft nur insofern auf die Bestimmung, als sie nach der grundsätzlichen Etablierung der Gottesgemeinschaft durch Gott dieser Gemeinschaft insofern Rechnung zu tragen sucht, als sie das Denken und Handeln, überhaupt das ganze bewusste Leben, in diesen Horizont rückt und an diesem orientiert. Schleiermachers Christentumsverständnis und seine Gefühlstheorie lassen sich also sinnvoll zueinander in Beziehung setzen und interpretieren sich wechselseitig. Da Schleiermacher davon ausgeht, dass das Gefühl eine relational verfasste Einheit darstellt, kann das religiöse Gefühl nicht als isoliert für sich bestehend gedacht werden, sondern vermag nur zusammen mit dem leiblich-sittlichen Gefühl bestehen. Die Eigenart des religiösen Gefühls ergibt sich daher auch erst aus dem Verhältnis zum leiblich-sittlichen Gefühl. Im Zusammenhang seiner Ästhetik beschreibt Schleiermacher das religiöse Gefühl der Erhabenheit.46 Dessen Eigenart sieht er nun darin, dass der erlebende Mensch sich selbst vor eine Größe wie das Meer, ein Gebirge oder Gott gestellt sieht, auf die er selbst nur unendlich wenig oder gar nicht einwirken kann. Dies lässt sich auch vor dem bislang erarbeiteten Strukturmodell von leiblichem und sittlichem Gefühl erläutern. Das Bezogenheitsgefüge, wie es zu stehen gekommen ist und also leiblich gefühlt wird, bietet im Falle eines Erhabenheitsgefühls wenig oder keine Gestaltungsmöglichkeiten: Im sittlichen Gefühl wird also vor allem das gefühlt, was die Vernunft in dieser Situation nicht wirkt. Die Dimension, die das Gefühl der Erhabenheit auslöst, wird in diesem Moment als das gesamte Bezogenheitsgefüge des Fühlenden dominierend erlebt, und zugleich als in keiner Weise durch dessen Tätigkeit hervorgegangen. Auf diese Weise fügt sich also im Gefühl der Erhabenheit der leibliche und der sittliche Aspekt des Fühlens zusammen.47 Gleichzeitig wird diese einzelne Situation als eine erlebt, die das 45 Friedrich S CHLEIERMACHER : Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Teilband 2, hrsg. v. Rolf S CHÄFER, Berlin und New York 2003 (im Folgenden zit. als CG II), § 104.4, 141f. 46 D ERS .: Ästhetik, hrsg. v. Rudolf O DEBRECHT , Berlin und Leipzig 1931 (im Folgenden zit. als ÄsthetikO), 104. 47 Eine Geschichte des Gestalttherapeuten Jorge B UCAY : Komm, ich erzähl dir eine Geschichte, Frankfurt a. M. 2007, 7–9 vermag dies zu illustrieren. Er erzählt die Geschichte von einem ausgewachsenen Elefanten, der lediglich mit einem dünnen Seil an einem kleinen Pflock festgebunden ist, aber nie zu fliehen versucht. Dies erklärt sich dadurch, dass der Elefant, als er noch klein war, mit eben diesem Seil und an eben diesem Pflock festgebunden war und

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wahre, also situationsübergreifende Bezogensein des Menschen zum Vorschein bringt: Hineingestellt zu sein in eine vorgegebene Wirklichkeit, der gegenüber die eigene Wirkmächtigkeit minimal ist. Einzelne Gefühle religiöser Prägung entstehen dann, wenn die eigene Situation und deren Möglichkeiten im Horizont des wahren Lebens zu stehen kommen und jener ihren »Ton des geistigen Lebens« mitteilen.48 Dies könnte zunächst so verstanden werden, dass Religion vor allem ein ästhetischer Sinn zukommt, der das Leben je nach Belieben beschwingt. Schleiermacher zufolge leistet das religiöse Fühlen aber gleichzeitig einen unverzichtbaren Beitrag für die Rationalität und Sittlichkeit des Menschen. Die religiöse Dimension nämlich ist es, die den »Vernunftgehalt« des Menschseins stiftet.49 Erst dadurch, dass das religiöse Gefühl Einzug hält in das Erleben eines Menschen, erweitert sich dessen Erlebnishorizont über den rein individuellen Umkreis hinaus und bekommt eine universale, sich auf die ganze Gattung beziehende Dimension. Erst das Erleben von Wahrheit entgrenzt das Erleben des Menschen, und rückt es in den Horizont der eigenen Ganzheit und der Bestimmung des Gattung. Schleiermacher bringt den eklatanten Mangel, der sich aus fehlender Religiosität speist, in seiner Vorlesung zur Pädagogik von 1813/14 zum Ausdruck, wenn er sagt, ein nicht-religiöser Mensch »müßte in einer beständigen Skepsis sein; ist er dies nicht: so ist er von einem bloß in seiner Besonderheit liegenden Grunde geleitet, und das ist böse.«50

Schleiermacher meint demnach, dass ein nicht ausgebildetes religiöses Gefühl zum einen mit »Skepsis« einher gehen kann. Diese stellt sich dann ein, wenn lediglich die unterschiedlichen Möglichkeiten erlebt werden, aber ohne in Relation zu stehen zu einem Gefühl für die wahre Verfassung und Bestimmung des Menschen. Dann erscheinen die möglichen zukünftigen Situationen zwar, aber ohne dass eine dieser Möglichkeiten als besonders anziehend erlebt werden würde. Schleiermacher beschreibt mit Skepsis also einen Zustand, in dem alle Möglichkeiten in gleicher Weise anziehend sind; den Grund hierfür sieht Schleiermacher in einem fehlenden religiösen Gefühl für die wahre Verfassung und Bestimmung des Menschseins. Dadurch erscheinen die erlebten Möglichkeiten nicht in Relation stets versuchte, sich loszureißen. Weil er aber klein war, scheiterte der Elefant mit seinen Befreiungsversuchen und begriff schließlich, dass er zu schwach war, um sich loszureißen. Diese Erfahrung war so eindrücklich, dass sie auch noch bestehen blieb, als sich die Situation für den Elefanten durch sein Wachstum völlig verändert hatte. Angewandt auf das Verhältnis zwischen leiblichem und sittlichem Gefühl kann dies so verstanden werden, dass das Erleben des eigenen Bezogenseins einen bestimmten Eindruck von der eigenen Vernunft und ihrer Potentialität hinterlässt. Dieser Eindruck ist derart mächtig, dass er auch die alle folgende Antizipation in der Weise prägt, dass eine Veränderung der eigenen Gestaltungsmächtigkeit, etwa das Losreißen durch gewachsene Körperkraft, gar nicht mehr wahrgenommen wurde. 48 S CHOLTZ : Schleiermachers Musikphilosophie (wie Anm. 43), 94. 49 Ethik 1812/13, § 228, 314. 50 Pädagogik 1813/14, 294 Z. 25–27.

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zum Guten. Damit ist Skepsis an dieser Stelle kein Zustand im Denkens, sondern beschreibt eine Indifferenz des Gefühls. Ein nicht vorhandenes religiöses Gefühl muss aber nicht notwendigerweise mit Skepsis einhergehen; vielmehr kann zum anderen durchaus eine der möglichen zukünftigen Situationen als attraktiv erlebt werden, nämlich dann, wenn ein Mensch von einem »bloß in seiner Besonderheit liegenden Grunde geleitet« ist. Darunter sind nun alle rein situativ oder individuell bestimmten Gründe zu verstehen, alle Gründe also, die sich in irgendeiner Weise einer Eigentümlichkeit verdanken. Dem fügt Schleiermacher an: »und das ist böse«. Weswegen ist ein Impuls, der sich aus der individuellen Besonderheit eines Menschen ergibt, böse? Der Grund für dieses Urteil Schleiermachers ist darin zu sehen, dass in diesem Falle allein (»bloß«) die Besonderheit der Situation oder des Erlebenden orientierend wirkt, ohne dass zugleich auch ein Bezug auf das gute menschliche Leben bestünde. Allein der Bezug auf das, was für alle Menschen gut ist, konstituiert aber letztlich die Vernünftigkeit, die Sittlichkeit oder Tugend – weswegen der bloße Bezug auf das Individuelle nicht mehr ist als »böse«. Daran wird deutlich, dass es Sittlichkeit oder Tugend für Schleiermacher nur zusammen mit einem religiösen Gefühl gibt, ohne ein solches jedoch nicht. Erst durch religiöses Fühlen entsteht ein sittliches Fühlen, und damit ein »Herz«.51 Existiert ein religiöses Grundgefühl in einem Menschen, werden die einzelnen möglichen zukünftigen Situationen eigenen Bezogenseins im Horizont des religiösen Gefühls erlebt, und geben diesen Möglichkeiten jeweils einen unverwechselbaren »Geschmack«: Zukünftige mögliche Situationen erscheinen dann als mehr oder weniger anziehend, je nachdem, ob sie eher im Einklang mit der Verfassung und Bestimmung des Menschseins stehen oder nicht. Erst die Ausrichtung an der gefühlten Verfassung und Bestimmung des Menschseins und der Impuls, mit dieser Verfassung und Bestimmung im Einklang zu sein, ist gut – fehlt diese Orientierung, ist dies grundsätzlich »böse«. Entsprechend fordert Schleiermacher in seiner Ethik-Vorlesung von 1812/13, dass »jede Lust und Unlust religiös wird«.52 Lust und Unlust sind die Erscheinungsformen des leiblich-sittlichen Gefühls.53 Aus dieser Aussage Schleiermachers geht hervor, dass das Erleben von Lust und Unlust nicht notwendig religiös ist, gleichwohl die Möglichkeit festgehalten wird, dass leibliche Lust und Unlust religiös werden können. Dass Lust und Unlust religiös werden können, heißt nicht, dass sie in ein religiöses Fühlen übergehen und sich gewissermaßen auflösen, sondern vielmehr, dass sie zum einen in ihrer Eigenart bestehen bleiben und doch zum anderen so zum religiösen Gefühl in Beziehung stehen, dass dieses Verhältnis ebenfalls die Gestalt von Lust und Unlust annehmen kann. Deswegen ist das Erleben des »Weisen« auch nicht so verfasst, dass leibliche Lust und Unlust einfach überwunden wären, 51

Ethik 1812/13, § 229, 315. Ebd., § 249, 318. 53 Vgl. ebd., § 249f., 318. 52

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sondern es ist »ganz anders construiert [. . . ], so nämlich, daß das sinnliche gleich in seinem Entstehen von einem höheren belebt« wird.54 Der Weise ist zugleich der Religiöse. Abhängig bleiben die einzelnen religiösen Gefühle aber vom Erleben der Wahrheit einer bestimmten Lebensgestalt. Deswegen lassen sich religiöse Gefühle nicht unabhängig vom religiösen Grundgefühl übertragen, weil sie an dieses unübertragbare Erleben einer bestimmten Lebensgestalt gebunden bleiben. Dies gilt für den einzelnen Menschen, aber dann auch für eine ganze Religionsgemeinschaft. Schleiermacher notiert in seiner Ethik-Vorlesung von 1812/13, dass es unmöglich sei, »den Charakter eines Kunstsystems in das Gebiet einer anderen Religion zu übertragen«.55 Vor dem Hintergrund des bisherigen Verständnisses des religiösen Gefühls kann dies folgendermaßen verständlich gemacht werden: Kunst ist das zur-Darstellung-Bringen leiblich-sittlichen Fühlens.56 Eine bestimmte Religion geht stets mit dem Erleben einer bestimmten Lebensgestalt als der wahren einher, in deren Lichte getaucht alles Erleben nun erscheinen kann. Dadurch kann jede Situation und das mit dieser einhergehende Gefühl – etwa Liebe, Schmerz, Freude, Dankbarkeit, Wut, Enttäuschung, Resignation – vor dem Hintergrund und im Horizont dieser als wahr erlebten Lebensgestalt begegnen. Dabei sind zwei Missverständnisse zu vermeiden, die das religiöse Fühlen jeweils um seine Pointe bringen würden. Zum einen ist das Verhältnis zwischen leiblich-sittlichem und religiösen Gefühl nicht als ein solches vorzustellen, in dem zum leiblich-sittlichen als dem »eigentlichen« Gefühl nun sekundär das religiöse Fühlen hinzukäme und auf dieses gewissermaßen aufgepropft würde. Vielmehr ist deren Verhältnis eines, in dem das religiöse Gefühl das leiblich-sittliche Erleben schon in dessen Erscheinen verwandelt. Zum anderen ist das Verhältnis der beiden Aspekte des Gefühls nun aber auch nicht so zu verstehen, als seien darin religiöser und leiblich-sittlicher Aspekt in einer Art verschmolzen, dass beide nicht mehr voneinander zu unterscheiden wären. Schleiermacher macht vielmehr deutlich, dass es auch zu Spannungszuständen kommen kann, und durchaus leiblich-sittliche »Leidensgefühle« mit einem Gefühl religiösen Wohlbefindens, etwa dem »Vertrauen auf Gott«57 oder einer »Heiterkeit«58 einhergehen können. Leiblich-sittliche Lust und Unlust stehen demnach quer zur religiösen Lust und Unlust, woraus sich also vier mögliche Grundkombinationen für das Verhältnis beider ergeben (Vgl. dazu Tabelle 1). Um die Eigenart des Verhältnisses zwischen leiblich-sittlichem und religiösem Gefühl angemessen zu beschreiben, bieten sich daher folgende Anleihen aus dem 54

Friedrich S CHLEIERMACHER: Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs, in: KGA I/11, Berlin und New York 2002, 313–335 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Tugendbegriff), hier 326. 55 Ethik 1812/13, § 201, 360. 56 Vgl. zur sogenannten »Kunstreligion«: K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 78f. 57 CG I, § 3, 21. 58 S CHOLTZ : Schleiermachers Musikphilosophie (wie Anm. 43), 94.

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

Religiöse Lust

69

Religiöse Unlust

Leiblich-sittliche Lust Leiblich-sittliche Unlust

Tabelle 1: Die Systematik möglicher religiöser Gefühle bei Schleiermacher

Bereich der Kunst an: Das religiöse Fühlen könnte als eine bestimmte Tönung oder als ein bestimmtes Farbspektrum verstanden werden, in die das leiblich-sittlich Erlebte gerückt wird und in dessen Farbtönen es erscheint. Ebenso wäre es als eine bestimmte Tonart verständlich zu machen, in welche eine bestimmte Situation transponiert ist und erklingt. In beiden Fällen wird das besondere Verhältnis zwischen der Eigenart einer einzelnen Situation und der Dimension des Ganzen, innerhalb dessen das Einzelne zu stehen kommt. Entsprechend spricht Schleiermacher in seiner Glaubenslehre auch von »Farbe und Ton«, die das religiöse Gefühl dem Erleben mitteilt.59 Damit wird sowohl der Eigenart des leiblich-sittlichen Fühlens Rechnung getragen, als auch der Tatsache, dass es diese Bestimmtheit nicht objektiv und in Reinform gibt, sondern stets religiös gebrochen. Dieses Verständnis des Gefühlsaufbaus erweist sich als Schlüssel für das Verständnis einzelner religiöser Gefühle. »Reue und Zerknirschung oder Freudigkeit zu Gott«60 lassen fühlen, wie die gegenwärtige Situation des eigenen Bezogenseins im Horizont der als wahr erlebten Einigungsgestalt von Natur und Vernunft zu stehen kommt, genauer beschrieben: Eine bestimmte Situation, sei sie nun eine, die sich maßgeblich dem eigenen Handeln verdankt, oder eine, die sich dem Handeln anderer verdankt, kann dem Gefühl für die wahre Einigung von Natur und Vernunft entweder eher entsprechen oder zuwiderlaufen. Ein Gefühl leiblich-sittlicher Lust kann der als wahr erlebten Bestimmung zuwiderlaufen und so in Reue, Scham oder Zerknirschung resultieren. Es kann aber auch zusammenfallen der wahren Einigung und damit in das Gefühl der Dankbarkeit münden. Umgekehrt kann ein Gefühl des Leidens empfunden werden, aber im Horizont des Gefühls für das Realisiertwerden der eigenen Bestimmung angenommen werden, sodass ein Gefühl der Hoffnung und der Ergebung resultiert.61 Die Eigenart des religiösen Gefühls besteht also darin, nur im Zusammenhang mit leiblichem und ethischem Gefühl zu erscheinen.62 Damit ist es weder direkt 59

CG I, § 10, 68 Z. 13–19. Vgl. CG2 § 3, 21. 61 Das Auftreten eines Leidensgefühls, das einher geht mit einer Spannung zum Gefühl für die eigene Bestimmung hat Schleiermacher nicht angesprochen; das daraus entstehende Gefühl müsste wohl als ein Gefühl der Verzweiflung, der Aussichtslosigkeit (sittlich) oder der Trauer (leiblich) vorgestellt werden. 62 Thomas F UCHS : Zur Phänomenologie der Stimmungen, in: Stimmung und Methode, Tübingen 2013, 17–31, hier 10, spricht von einem unmerklichen Übergang zwischen einzelnen 60

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

rezeptiv noch direkt spontan, sondern »begleitet« das menschliche Erleben und ergänzt es kritisch, und zwar in der Weise, dass sowohl die angetroffene Situation des eigenen Bezogenseins, als auch die ausstehenden Möglichkeiten desselben im Lichte des religiösen Gefühls erscheinen.63 Der Gegenstand des Gefühls, das Wirken der Vernunft auf die Natur, erscheint für das religiöse Gefühl auf besondere Weise, nämlich weder als bereits verwirklichte, noch als bloß mögliche, sondern als die angemessene und in diesem Sinne wahre Gestalt menschlichen Bezogenseins. Deutlich ist damit, dass für Schleiermacher erst im religiös geprägten Gefühl Individualität und Universalität miteinander versöhnt sein können. Die Universalität des Gefühls ist durch den Gehalt des Gefühls begründet, nämlich das Wirken der Vernunft in der Natur, wie es der Kraft der Gattung und deren Grenze angemessen ist. Die erfolgte Analyse der Erscheinungsweisen des Gefühls oder des »unmittelbaren Selbstbewusstseins« hat die Frage bisher offen gelassen, inwiefern diese Erscheinungsweisen als das Besondere unter ein Allgemeines zusammengehören und dieses variieren. Denn die einzelnen Erscheinungsweisen können nach Schleiermacher nur Variationen ein und derselben Grundgestalt sein.64 Der folgende Abschnitt verfolgt daher das Ziel, genauer zu verstehen, wie Schleiermacher sich die Grundgestalt des Gefühls vorstellt.

4.1.3 Die einheitliche Grundgestalt des Gefühls Schleiermacher beschreibt den einheitlichen Gehalt des Gefühls in der Ethik als das, was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur. Anhand von Schleiermachers Beschreibung der dreifachen Erscheinungsweise dieses Geschehens für das Gefühl konnten die drei Dimensionen des leiblichen, des sittlichen und des religiösen Gefühls entfaltet werden. Der einheitliche Gehalt des Gefühls ist also in dreierlei Weise gegeben. Was bislang noch ungeklärt ist, ist die Frage, was die einheitliche Gestalt des Gefühls ist: Inwiefern variieren leibliches, sittliches und religiöses Gefühl die Grundgestalt des Gefühls? Jedenfalls muss das Gefühl so verfasst sein, dass es ein Geschehen, nämlich das Wirken der Vernunft auf die Natur, zu erfassen vermag. Dies ist nur möglich, Stimmungen. Nach Schleiermachers Beschreibung könnte dies daher kommen, dass ein einzelner situativer Eindruck so stak wird, dass ihm eine die weiteren Eindrücke strukturierende Mächtigkeit zuwächst und damit ein quasi-religiöser Charakter. Die christliche Theologie beschreibt dies als die Erfahrung von Anfechtungen des Glaubens. 63 Vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 439f. 64 Vgl. L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 65, der nicht zwischen einzelnen Gefühlen und dem allgemeinen Charakter des Gefühls unterscheidet. Auf diesen Unterschied weist dagegen R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 220, hin und unterscheidet das »reine« vom »begleitenden« unmittelbaren Selbstbewusstsein.

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

71

wenn das Gefühl auch selbst zeitlich verfasst ist. Auf diesen zeitlichen Charakter des Gefühls weist auch Gunter Scholtz hin, wenn er bei seiner Interpretation von Schleiermachers Ästhetik Gefühl und Stimmung als das beschreibt, wodurch wir »in der Zeit [. . . ] zugleich über sie hinaus sind«.65 Auch Thomas Lehnerer nimmt die Zeitlichkeit des Gefühls wahr, wenn er Schleiermacher dahingehend zitiert, dass dem Bild »ein stetiges Gegebenes« zugrunde liege.66 Kirsten Huxel versteht das Erleben als »kontinuierliche[n] Strom des Bewußtseins und damit als Dauer einer unaufhörlichen Aufeinanderfolge verschiedener einander ablösender Momente«.67 Am deutlichsten aber hat Hans-Richard Reuter die zeitliche Verfassung des Gefühls zum Ausdruck gebracht. Er beschreibt das Gefühl als »Dauererfahrung organischer Lebenszeit«.68 Dieser Zusammenhang von Gefühl und Zeitlichkeit ist von großer Bedeutung für Schleiermachers Theorie des Gefühls und wurde auch von ihm selbst zur Sprache gebracht: »Dieses Zeitlichwerden und sich als zeitlich finden und wieder aufnehmen der Vernunft ist nun ihr Dasein als Bewußtsein.«69

Das Gefühl hat demnach die Gestalt des dauernden Erlebens von Dauer: Das, worauf es gerichtet ist, ist ein dauerndes Geschehen, und zugleich ist es selbst so verfasst, dass das Erleben andauernd ist, und daher das Vergangene und das noch Ausstehende im gegenwärtigen Erleben verknüpft sind. Das Gefühl ist also als Dauererleben verfasst. Als solches vermag das Gefühl nicht nur der Grund für den Übergang von Denken und Wollen zu sein, sondern es ist selbst als dauernder Übergang von noch Ausstehendem in bereits Realisiertes verfasst.70 Das dauernde Erleben von Dauer im Gefühl ist es nicht nur, das einen Zugang zur »Einheit des Lebens« als der Einheit des Geschehensganzen bietet,71 sondern dieses Erleben ist es auch, das diese Einheit des Lebens als Zusammenhang von bereits Geschehenem und noch Geschehendem überhaupt erst »bildet«.72 Dies kann auf der Linie seiner Aussagen in der Dialektik verstanden werden, wo Schleiermacher von »unser[em] Sein« sagt, es sei »das setzende«.73 Mehrfach wurde vorgeschlagen, dieses Setzen so zu 65

S CHOLTZ: Schleiermachers Musikphilosophie (wie Anm. 43), 94. L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 45 (Hervorhebung: G.H.). 67 Kirsten H UXEL : Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluss an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen 2004, 374. 68 R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 234. 69 Akademievortrag Höchstes Gut II, 671 Z. 36f. 70 Auf die Wichtigkeit des »Übergangs« für das Verständnis des Gefühls hat zuerst M ILLER : Der Übergang (wie Anm. 6), 31ff. hingewiesen. 71 Güterlehre (L.B.), § 52, 589. 72 Ebd., § 52, 589. 73 L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 68, mit Verweis auf die von Odebrecht herausgegebene Dialektik, dort: 288. 66

72

Kapitel 4 Gefühl und Bildung

verstehen, dass das Gefühl sich selbst setzt und so Grund seiner selbst ist.74 Diese Widersprüchlichkeit – einen Sachverhalt als Grund seiner selbst zu behaupten – nötigt dann allerdings dazu, dem Urteil Thomas Lehnerers beizupflichten, dass das Gefühl »überhaupt nicht in dieser Weise plausibel gemacht werden kann«.75 Dass diese Interpretation einer Selbstsetzung des Gefühls keineswegs im Sinne Schleiermachers ist, wird an anderer Stelle ersichtlich:76 Schleiermacher verwahrt sich entschieden dagegen, das Gefühl ein »Organ« zu nennen, mit der Begründung, dass es »rein in sich zurückgeht«.77 Er betont damit den rezeptiven Charakter des Gefühls. Damit besteht nun – wenigstens auf den ersten Blick – eine Spannung zwischen der Behauptung eines Tätigseins des Gefühls auf der einen Seite und der Behauptung, das Gefühl ginge rein in sich zurück auf der anderen Seite.78 Dieser Widerspruch löst sich dann auf, wenn die Leistung des Gefühls darin gesehen wird, dass es das dauernde Geschehen für den Menschen zugänglich macht. Diese Leistung besteht damit in nichts anderem, als seinsoffen zu sein und den Menschen auf das Ganze seines dauernden Bezogenseins hin aufzuschließen, dadurch, dass es die Dauer seines Daseins für ihn zugänglich macht. Das Gefühl hat den Charakter von Erschlossenheit, indem es das eigene Bezogensein für den Erlebenden erschließt. Es stiftet »die Erfahrung des Seins von seiner eigenen Lebenszeit« als »Dauer«.79 Dabei handelt es sich nun um eine Leistung, die das Gefühl ursprünglich für den Menschen erbringt.80 Die Etablierung dieser Erschlossenheit ist zugleich die Konstitution der menschlichen Seinsstufe und der menschlichen Freiheit. Das Gefühl als dauerndes Erleben von Dauer ist daher kein Akt der Freiheit, sondern muss sich »in seiner ganzen Einheit unmittelbar hinnehmen«.81 Die Gestalt dieser Einheit ist aber nicht nur als ein dauerndes Erleben zu beschreiben. Vielmehr setzt die oben erfolgte Analyse einzelner Gefühle, aber auch das Verhältnis zwischen leiblich-sittlichem und religiösem Gefühl voraus, dass das Gefühl eine szenische Gestalt besitzt.82 Die Wirklichkeit erscheint für den Menschen in Szenen, die im Leib erlebt werden, weswegen das Gefühl eng mit der 74

Vgl. L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 74. Ebd., 75. 76 R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 224, weist in seiner scharfsinnigen Interpretation daraufhin, dass eben nicht das Ich, sondern das Sein setzend sei – wodurch deutlich wird, dass Schleiermacher das Selbstbewusstsein nicht als bloß Ideales, sondern als Gleichzeitigkeit von Idealem und Realem darstellt. 77 Güterlehre (L.B.), § 52, 589. 78 Zum Verhältnis zwischen Rezeptivität und Spontaneität des Gefühls in den Reden vgl. KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 169. 79 R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 233. 80 Die Zeiterfahrung ist anders als bei Kant nicht dem Erkenntnisvermögen des Menschen zugeordnet, sondern dem organischen Leben: ebd., 235. 81 Ebd., 217. 82 Vgl. auch ebd., 234. 75

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

73

Leiblichkeit verbunden ist. Schleiermacher beschreibt die menschliche Wahrnehmung als eine, die bildlichen Charakter hat; dabei ist die Rede vom Bild nicht im engeren Sinne zu verstehen, sondern als »das Zusammentreffen der organischen Eindrücke überhaupt«.83 Durch diesen Bezug auf leiblich vermittelte Szenen ist das Gefühl deutlich vom Wissen als einer Form der sprachlich-begrifflichen Beschreibung der Wirklichkeit unterschieden.84 Wissen hat die Form des Begriffs, Erleben die des Bildes.85 Schleiermacher selbst sprach von Bildern; aber da das, was in der Form von Bildern im Menschen zu stehen kommt, zum einen ein Geschehen, zum anderen ein Bezogenheitsgefüge ist, bringt der Ausdruck Szenen wohl das von Schleiermacher Intendierte deutlicher zum Ausdruck. Diese Szenen begegnen dem Menschen nun nicht äußerlich, objektiv, als Bilder, von denen eine Distanzierung nicht nur möglich ist, sondern zu denen man immer schon distanziert ist. Vielmehr ist der Mensch mittels seines Leibes in diese Szenen hinein verwoben. Das eigene dauernde Bezogensein wird leiblich erlebt. Das Gefühl bildet das »einheitliche Sich-gegenwärtig-Haben des Selbst« im Leib und in der Zeit.86 Das bisher dargelegte Verständnis des Gefühls als dauerndem Erleben leiblichszenischer Art, das für den Menschen eine »Einheit des Lebens« bildet, könnte auf den ersten Blick als im Widerspruch stehend zu Schleiermachers Beschreibung des Gefühls als »Selbstbewusstsein« verstanden werden.87 Schleiermacher beschreibt damit also den Gehalt des Gefühls nicht nur als Vernunft-Natur-Geschehen, sondern auch als »Selbst«. Außerdem wird nicht von Erleben, sondern von Bewusstsein gesprochen.

83 Friedrich S CHLEIERMACHER : Dialektik, in: KGA II/10.2, Berlin und New York 2002 (im Folgenden zit. als Dialektik), 482 Z. 20f. 84 Außerdem braucht Reflexion Zeit, folgt also auf das Erleben, während das Gefühl dagegen das Erleben des Lebens ist, vgl. R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 218f. 85 So sagt Schleiermacher in seiner Psychologie: »[U]nd wo dieses [ein innerliches Sprechen] nicht ist, da ist auch nur eine Bewegung von sinnlichen Bildern, die wir gar nicht mit dem Denken verwechseln müssen«, vgl. Friedrich S CHLEIERMACHER: Psychologie. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, in: DERS .: SW III/6, Berlin 1862 (im Folgenden zit. als Psychologie), 138. Die Kombination von Sinnesdaten ist kein chaotischer Eindruck, sondern eine »Vielheit von bestimmt zu unterscheidenden Bildern«: Vgl. ebd., 117f. Auch Ulrich Barth versteht die Subjektivität und damit das Gefühl als einen »vorsprachlichen« Sachverhalt, vgl. Ulrich BARTH: Der Letztbegründungsgang der »Dialektik«. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: DERS .: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353–385, hier 354. Vgl. dazu auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 217ff., 250ff., bes. auch 296–325. 86 R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 219. Eine besondere Nähe weist diese Skizze Schleiermachers zu phänomenologischen Beschreibungen des Erlebens auf, wie sie sich etwa bei Thomas Fuchs findet, vgl. F UCHS: Leibgedächtnis (wie Anm. 41). 87 Güterlehre (L.B.), § 53, 589.

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

Dass Schleiermachers Theorie des Gefühls eine Theorie des Selbst-Bewusstseins ist, betont besonders Ulrich Barth.88 Auch Ulrich Barth beschreibt im Rückgriff auf die Dialektik das im Gefühl angesiedelte Einheitserleben in der doppelten Weise von Gehalt und Gegebenheitsweise, nämlich zum einen als einheitliches Erleben und zum anderen als das Erleben von Einheit. Das Gefühl ist nach Barth nun nicht auf das Vernunft-Natur-Geschehen bezogen, sondern auf die »Selbstheit« des Subjekts.89 Diese Selbstheit begegnet in der Gestalt einer »Identitätserfahrung« des Subjekts mit sich selbst.90 Identitätserfahrung ist damit die Selbsterfassung des Subjekts im Gefühl, die von Einflüssen des Objektbewusstseins unabhängig ist.91 Barth unterscheidet deutlich zwischen dem Gefühl als Subjektbewusstsein, das nur die Form eines Zustandsbewusstseins haben könne,92 und dem Objektbewusstsein, das einher geht mit dem Bewusstsein von Selbsttätigkeit, da Selbsttätigkeit immer eines Objektes bedarf.93 Dem Gefühl als Zustandsbewusstsein hingegen begegnet allein die eigene Selbstheit. Das Bezogensein auf Anderes hingegen ist kein ursprünglicher Gehalt des Gefühls.94 Im Unterschied zu Barth ist jedoch hervorzuheben, dass Sein immer unter relative Gegensätze gestellt und damit stets relational verfasst ist. Daher kann das Selbst als solches gar nicht erscheinen, sondern immer nur das Selbst in seinen Bezogenheiten.95 Mit Hans-Richard Reuter ist zu betonen, dass das Fühlen nicht auf eine »leere, amorphe Beziehungslosigkeit« gerichtet ist, sondern als »Identischwerden mit der realen, vollkommenen Fülle aller Beziehungen«.96 Schleiermachers Rede vom Selbstbewusstsein ist selbstverständlich als Bewusstsein des Selbst zu interpretieren; dabei ist aber das Selbst wiederum nicht als isolierte Größe zu verstehen, sondern als das Zentrum eines Bezogenheitsgefüges, das seine Eigenart nur über seine Stellung und Bewegung innerhalb dieses Bezogenseins hat und gewinnt. Dies wird auch dadurch deutlich, dass nichts anderes als das Bezogensein eines Menschen das Medium der Mitteilung des Gefühls ist, wie der folgende Abschnitt zur sozialen Dimension des Gefühls zeigen wird.97 88 Ähnlich auch L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 93, der betont, dass das Gefühl sich selbst erfasse; dieser Befund steht aber im Widerspruch zu einem anderen Befund, dass das Gefühl nämlich ein »bezogenes Bewußtsein« sei: ebd., 69. 89 BARTH : Der Letztbegründungsgang der »Dialektik« (wie Anm. 85), 373. 90 Ebd., 366. 91 Vgl. ebd., 372f. 92 In BARTH : Die Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 111), 454 wird das Gefühl auch als »Zuständlichkeitsbewußtsein« bezeichnet. 93 Vgl. DERS .: Der Letztbegründungsgang der »Dialektik« (wie Anm. 85), 372f., 375f. 94 Vgl. DERS .: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft, in: DERS .: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 293–320, hier 305. 95 H ERMS : Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins (wie Anm. 70), 406f. 96 R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 242. 97 Vgl. Abschnitt 4.2.: »Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls« ab S. 81.

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

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Barth kritisiert Schleiermacher dahingehend, dass dieser dem Gefühl eine Vielzahl von Verknüpfungsleistungen zugemutet habe, die das Gefühl gar nicht leisten könne.98 Vorausgesetzt ist dabei stets, dass das Gefühl ein Zustandsbewusstsein sei. Wird das Gefühl dagegen als Selbstbewusstsein im hier dargelegten Sinne verstanden, und damit als leiblich-szenisches Dauererleben, dann fallen Verknüpfungen von Szenen durchaus in den Bereich des Gefühls. Schon im Erleben verknüpfen sich gegenwärtige mit vergangenen Szenen in bestimmter Weise, aber auch die Imagination gehört zum Gefühl, weil in freier Tätigkeit Szenen miteinander verbunden werden. Schon die Analyse der leiblich-sittlichen und der religiösen Dimension des Gefühls legte nahe, dass das Gefühl zu einer Verknüpfung von leiblich erlebten Szenen nicht nur in der Lage ist, sondern als eine Mannigfaltigkeit solcher Verknüpfung ursprünglich besteht. Vor diesem Hintergrund des Gefühls als leiblich-szenischen Dauererleben kann Schleiermacher auch sinnvollerweise sagen, dass »alle [einzelnen, G.H.] Momente des Gefühls« aus der Einheit des Lebens hervorgehen.99 Einzelne Gefühle wie das Gefühl der Erhabenheit sind keine isolierten Zustände eines isolierten Selbst, sondern ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Zeitlichkeit, Leiblichkeit und deren Erscheinen in Szenen des eigenen Bezogenseins. Dass das Gefühl als Selbstbewusstsein für Schleiermacher den Charakter der Unmittelbarkeit hat, bedarf nun fast keiner Erklärung mehr. Dauerndes szenisches Erleben ist nicht durch Akte des Denkens vermittelt, und ist insofern unmittelbar.100

4.1.4 Das Verhältnis von Gefühl und Wissen Das Verhältnis zwischen Gefühl auf der einen Seite und dem Wissen auf der anderen Seite klang bereits an, verdient aber noch einen weiteren Blick. Vermittels des Gefühls ist auch das höchste Wissen gegeben, so ist aus Schleiermachers Texten zu schließen. Darauf verweist das besondere Wissen. Denn alles besondere Wissen kann nur in relativen Gegensätzen zum Ausdruck gebracht werden, dieser wiederum können nicht anders gedacht werden als Elemente einer Einheit: »Entgegengeseztes kann nur in Höherem entgegengesezt werden.«101 Zuletzt setzen Begriffe eine Einheit, ein höchstes Wissen voraus, das zwar »der innere Grund und Quell alles andern Wissens« ist,102 selbst aber nicht begrifflicher Art sein kann; denn dann wäre es wieder in relativen Gegensätzen verfasst. Diese Einheit, die Grund und Quelle alles andern Wissens ist, stiftet das Gefühl. Das dauernde 98 Vgl. BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 304f. 99 Güterlehre (L.B.), § 53, 590. 100 Vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 446–450. 101 Einleitung Ethik (L.B.), § 30, 527. 102 Vgl. ebd., § 33, 528.

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szenische Erleben eröffnet den Zugang zum eigenen Bezogensein und damit zum Sein insgesamt. Zwar ist damit noch keineswegs etwas verstanden, aber in einem bestimmten Sinne ist mit dem Gefühl bereits alles gegeben.103 Damit ist das höchste Sein selbst, Gegenstand des höchsten Wissens, im Menschen in einer bestimmten Weise zugänglich.104 Auch das Wissen selbst und seine beiden Erscheinungsformen, der Satz und der Begriff, lassen sich vom Gefühl her verstehen. Das Gefühl eröffnet als leiblichszenisches Dauererleben zwei Perspektiven zugleich: Zum einen kann Seiendes durch die Zeit hindurch betrachtet werden, womit sich auch das Wissen auf den prozessualen Charakter richten kann. Zum anderen kann Seiendes auch in Beziehung gesetzt werden zu anderem Seienden und hinsichtlich seiner Relationalität betrachtet werden.105 Während die erste Form des Wissens diachronen Charakter hat und überwiegend mittels Sätzen fixiert wird, so hat die zweite Form des Wissens synchronen Charakter und manifestiert sich in der Produktion von Begriffen. Diese Souveränität gegenüber dem Seienden in seinem Werden wie seiner Gleichzeitigkeit verdankt sich dem Gegenwärtigsein des dauernden Geschehens im Gefühl in der Gestalt von »sinnlichen Bildern«.106 Dabei ist für Schleiermacher klar, dass es sich bei beiden Sachverhalten nur um relative Gegensätze handelt, die, so sie für sich betrachtet werden, doch immer auch schon über sich hinaus auf das jeweils andere Spannungsfeld verweisen. Wie das im Werden stehende Bezogensein nur am Ort von einzelnem Seiendem und damit am Ort von »Dingen« zu beobachten ist, so verweist jedes Ding wiederum auf das Werden zurück, denn es ist »ein aus Thätigkeiten Entsprungenes«.107 Seine Einheit haben beide Formen des Wissens in einem »Höheren«: In der Einheit des Gefühls.108

103

Vgl. BARTH: Der Letztbegründungsgang der »Dialektik« (wie Anm. 85), 358, der von einer konsenstheoretischen, adäquationstheoretischen und kohärenztheoretischen Präsupposition von Wissen spricht. Diese Voraussetzung des Wissens ist nach vorliegender Interpretation das Gefühl. Der Anfang des Wissens – und damit auch der Anfang der Dialektik – nach dem WAGNER: Schleiermachers Dialektik (wie Anm. 25), 45, auch 37–41, sucht, ist das Erleben des eigenen Bezogenseins im Gefühl; auch die Lehre von den »angeborenen Begriffen« ist hier von Relevanz: Vgl. dazu den Abschnitt 7.1.1.2 ab Seite 137. 104 R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 261, spricht von einer »wechselseitigen Anpassung« von Sein und Denken aneinander. 105 Einleitung Ethik (L.B.), § 32, 528 und ebd., § 32, 527f. Anders L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 25: Er sieht den Begriff auf den Sachverhalt der »Gegensätzlichkeit«, das Urteil auf die »Verschiedenartigkeit« gerichtet. 106 Pädagogik 1820/21, 479 Z. 9. 107 Einleitung Ethik (L.B.), § 32, 528. 108 BARTH : Der Letztbegründungsgang der »Dialektik« (wie Anm. 85), 356f., weist auf die Parallele zwischen Schleiermachers Theorie des Wissens und Kants Zwei-Stämmelehre hin: Bei beiden gebe es die Spannung zwischen organischer und intellektueller Funktion, also einen Organeindruck und dessen Überführung in gedankliche Bestimmtheit. Schleiermacher geht aber insofern über Kant hinaus, als er die Einheit beider Wissensformen thematisiert: Das Gefühl begründet die Einheit des Erlebens und ermöglicht so empirisches und spekulatives

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

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4.1.5 Das Verhältnis von Gefühl und Transzendenz Die bisherige Interpretation von Schleiermachers Aussagen über das Gefühl im Allgemeinen und das religiöse Gefühl im Besonderen führt zu der Beobachtung, dass zwar von einem religiösen Gefühl die Rede ist, dass diese Rede aber jedenfalls in der Ethik scheinbar problemlos von einem Transzendenz- oder Gottesbezug absehen kann. Unbezweifelbar ist die Transzendenz eine mögliche Bezugsgröße des religiösen Gefühls. Aus philosophischer Perspektive, also nur mit Blick auf die allgemeine Verfassung des Gefühls, hat das Gefühl letztlich immer schon einen Bezug auf Transzendenz, da das Erleben der Einheit des Lebens eine Analogie zum transzendenten Grund darstellt, wie in der Forschung übereinstimmend festgehalten wird.109 Aus der Perspektive christlicher Selbstbesinnung, wie sie Schleiermacher in seiner Glaubenslehre darlegte, ist ebenfalls unbestritten, dass das religiöse Gefühl nicht nur mit einem Gottesbezug einher gehen kann, sondern dass das religiöse Gefühl christlicher Prägung immer mit einem besonderen Bezug auf Gott zusammenhängt.110 Die vorliegende Analyse von Schleiermachers Sicht des religiösen Gefühls geht nun aber zunächst nicht von seiner Dialektik oder Glaubenslehre aus, sondern von Schleiermachers Ethik, und damit von seiner Handlungstheorie. Handlungstheoretisch ist ein Gottesbezug des religiösen Gefühls keineswegs notwendig, sondern in der Tat in einem gewissen Sinn entbehrlich, insofern sich das religiöse Fühlen primär auf eine als wahr erlebte Einigungsgestalt von Natur und Vernunft, auf ein menschliches Leben richtet. Da Schleiermacher aber davon ausgeht, dass sich seine Philosophie und seine Theologie nicht widersprechen,111 drängt sich die Frage auf, wie Schleiermacher überhaupt von einem handlungstheoretisch fundierten Verständnis des religiösen Gefühls zu einem Transzendenzbezug kommt und wie religiöses Gefühl und Transzendenz dann aufeinander bezogen und miteinander vermittelt sind. Bereits im Kontext des Abschnittes über die Kirche innerhalb der Güterlehre von 1812/13 findet sich eine aufschlussreiche Nebenbemerkung Schleiermachers, die einen Zugang zu seinem Verständnis bietet. In § 229 geht Schleiermacher auf das Verhältnis der verschiedenen »Vernunftreligionen« untereinander ein.112 Schleiermachers Verwendung des Begriffes Vernunftreligion an dieser Stelle kann Wissen. Anders als WAGNER: Schleiermachers Dialektik (wie Anm. 25), 77, meint, muss diese Einheit kein Denken sein, sondern kann im Gefühl angesiedelt sein. 109 Vgl. R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 220. Ebenso BARTH: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 296, 304. Vgl. auch F ROST: Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110), 220, 279 und L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 345. 110 Der christliche Glaube wird als »monotheistische Glaubensweise« bestimmt: CG I, § 11, 74. 111 Vgl. Schleiermachers Brief an Jacobi: Briefe, 338. 112 Ethik 1812/13, § 229, 365.

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leicht missverstanden werden, wenn die Vernunftreligion einer nicht über sich selbst aufgeklärten Form der Religion gegenübergestellt würde. Die Pointe von Schleiermachers Rede von Vernunftreligion bekommt man dann zu sehen, wenn man der Grundunterscheidung seiner Ethik folgt und die Vernunft als organisierendes Zentrum eines Bezogenheitsgefüges versteht. Demzufolge ruht das Hauptaugenmerk einer Vernunftreligion auf der freien Selbsttätigkeit des Menschen, darauf, dass das »Selbstbewußtsein überwiegend unter der Potenz [. . . ] der Freiheit« steht.113 Umgekehrt liegt die Pointe einer Naturreligion darin, dass die freie Selbsttätigkeit ganz hinter der alles bestimmenden Macht des Bezogenheitsgefüges zurücktritt: Das »Selbstbewußtsein [steht] überwiegend unter der Potenz der Nothwendigkeit«.114 Diese Unterscheidung der Ethik liegt ganz auf der Linie von Schleiermachers späteren Gegenüberstellung von teleologischer und ästhetischer Frömmigkeit in der Glaubenslehre.115 Das Wesen der Vernunftreligionen besteht nach der Ethik darin, dass »alles nur Nebensache ist im Vergleich mit dem Gefühl von der Einheit des Absoluten als Agens in der Natur.«116

Alle Vernunftreligionen teilen demnach das Gefühl von der Einheit des Absoluten als Agens in der Natur. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist dreierlei, das Verständnis des »Absoluten«, das der »Natur« und das des »Agens«. Anhand dieser drei Begriffe wird im Folgenden Schleiermachers Verständnis des Verhältnisses von Gefühl und Transzendenz nachgezeichnet: Das Absolute bezeichnet an dieser Stelle eine transzendente Größe, die als wahres Unendliches alle Gegensätze begründet und in sich enthält.117 Alles innerweltliche Seiende verweist auf eine höhere Einheit, die den Inbegriff aller Wechselwirkung darstellt, und damit auf die »Welt«. Aber auch diese einheitliche Welt als Inbegriff aller Gegensätze verweist auf ein Woher ihrer Bestimmtheit, und damit auf das Absolute, das diese Einheit der Welt in sich enthält.118 Das Absolute ist das Transzendente. Neben dieser Bestimmung des Absoluten sind zwei Sachverhalte wichtig, die die Gegebenheitsweise des Absoluten für den Menschen beschreiben. Zum einen wird die Einheit des Absoluten gemäß § 229 gefühlt, und nicht gedacht: Denn es handelt es sich um das »Gefühl von der Einheit«. Damit ist die Gegebenheitsweise des Absoluten für die Religion unterschieden von der Gegebenheitsweise des Absoluten für das Denken. Diese Einheit des Absoluten kann zum anderen nicht unmittelbar gefühlt werden, weil sie gar nicht unmittelbar, 113

Ethik 1812/13, § 227, 364. Ebd., § 227, 364. 115 Vgl. CG I, § 9, 59ff. 116 Güterlehre (1812/13), § 229, 315. 117 Vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 441–443. 118 Vgl. dazu Dialektik, 584 Z. 36–38: »Welt ist aber Einheit des Seins mit Einschluß aller Gegensätze, Gott ist Einheit des Seins mit Auschluß aller Gegensätze«. Vgl. dazu auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 440. 114

4.1 Gehalt und Struktur des Gefühls

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sondern vermittelt gegeben ist. Das Absolute ist nur gegeben »als Agens in der Natur«.119 Was also bezeichnet Schleiermacher hier mit Natur? Schleiermacher kann zwar mit Natur auch den gesamten innerweltlichen Zusammenhang alles Seienden ansprechen. So hält er etwa 1827 in einer Randschrift zur Tugendlehre fest, dass die Liebe zu Gott nur möglich sei in der Gestalt der Liebe zur Natur.120 Da aber das Verständnis von Vernunft und Natur, das Schleiermacher im Rahmen seiner Ethik entwickelt hat, bereits rekonstruiert wurde, liegt es nahe, zunächst dieses Verständnis von Natur zugrunde zu legen und damit Natur als das Bezogenheitsgefüge zu verstehen. Inwiefern gibt es nun in Bezug auf Natur als Bezogenheitsgefüge ein Agens? Begriffsgeschichtlich besteht eine Verbindung zwischen der Verwendung von Agens bei Schleiermacher und der aristotelischen Tradition. Die Rede vom Agens bringt hier eine Wirkursache zur Sprache, die selbst nicht von anderen Ursachen bestimmt ist.121 Diese Erklärung passt insofern auch zu Schleiermachers Theorie des Absoluten, als er das Absolute als schöpferischen Grund der Natur denkt.122 Nun konnte weiter oben gezeigt werden, dass Natur dadurch differenziert ist, dass sie stets Grundlage, Medium und Gegenstand einer bestimmten Vernunft und deren Wirken ist, und dass dieses Geschehen sich jeweils innerhalb eines bestimmten gerichteten Korridors bewegt, der stets für eine bestimmte Klasse von Individuen, für eine Gattung, gilt. Die unterschiedlichen Gattungen lassen sich nicht aufeinander zurückführen, bilden aber dennoch eine Einheit: In diesem Geschehen manifestiert sich damit ein einheitliches Agens als treibende Kraft im kosmischen Werdeprozess insgesamt. Dieses Agens ist das Absolute. Dabei ist nun das Verhältnis zwischen Agens und individueller Vernunft so zu bestimmen, dass das Agens in der Natur die Gattungen als »wahre Naturgesetze« hervorbringt, innerhalb dessen sich die Individuen bewegen.123 Damit manifestiert sich das Verhältnis der Individuen zum Absoluten als Agens in ihrem Verhältnis zu den Grenzen und der Bestimmung der Gattung. Auf dem Boden dieses Verständnisses des »Agens« teilen die Vernunftreligionen das Gefühl, dass das Absolute in der Weise als Agens wirksam ist, insofern es die Eigenart der innerweltlichen Variationskorridore dauernd begründet. Gemeinsam ist ihnen das Gefühl, dass die Eigenart der innerweltlichen Prozesse, ihrer Verfassung und ihrer Bestimmung, über sich hinaus verweisen auf 119 So auch S CHOLTZ : Schleiermachers Musikphilosophie (wie Anm. 43), 94, mit Verweis auf das Zusammengefügtsein von relativem Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl. ebd., 94, verweist auf eine briefliche Äußerung Schleiermachers über seine Schelling-Rezeption, in der die Kunst beschrieben wird als »Darstellung des Absoluten [. . . ] im einzelnen relativen durch die In-Eins-Bildung des Realen und Idealen auch in bestimmten Erscheinungen«. 120 Ethik 1812/13, Randschrift 1827a, 386. 121 Vgl. Pädagogik 1820/21, Anmerkung der Herausgeber, 348. Ebenso M ILLER : Der Übergang (wie Anm. 6), 67. 122 K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 242ff. 123 Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 447 Z. 18.

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das einheitliche Absolute als Grund des innerweltlichen Prozessganzen. Gunter Scholtz sieht darin eine Entsprechung zu dem, was Plotin als νοÜσ und Augustin als λìγοσ oder zweite Person der Trinität ansprechen.124 Demnach würde sich das Wesen des Absoluten in der Eigenart des gestuften Werdens, vor allem aber in der Eigenart der menschlichen Bedingungen einschließlich dessen Bestimmung, seiner Grenzen und seines Ziels manifestieren. Werden folgt einem Agens, das leicht auch mit dem νοÜσ oder λìγοσ identifiziert werden kann. Implizit sagt Schleiermacher damit aber natürlich auch, was die Differenz zwischen den Vernunftreligionen begründet. Was genau das Agens in der Natur ist, welche Gestalt der λìγοσ hat oder wie der νοÜσ beschaffen ist, das wird unterschiedlich erlebt. Jeweils verschieden sind die Vernunftreligionen dadurch, dass die Eigenart des innerweltlichen Prozessganzen, wie es beschaffen und woraufhin es angelegt ist, unterschiedlich erlebt und gefühlt wird.125 Weil es für Schleiermacher einen Transzendenzbezug nur vermittels eines Gefühls für die Bestimmtheit und Bestimmung menschlichen Werdens gibt, wird seine vehemente Zurückweisung von sogenannter »natürlicher« Religion verständlich. Vorstellungen des Absoluten, die nicht an ein – stets kontingentes – Erleben der Grenzen und der Bestimmung des Menschseins oder an eine individuelle Lebensgestalt geknüpft sind, die als im Einklang mit Grenzen und Bestimmung erlebt wird, bleiben abstrakt: »Gewiß ist doch, daß eine Allmacht, von der ich nicht weiß, welches ihr Ziel ist und wodurch sie in Bewegung gesetzt wird, eine Allwissenheit, von der ich nicht weiß, wie sie die Gegenstände ihres Wissens stellt und schätzt, und eine Allgegenwart, von der ich nicht weiß, was sie ausstrahlt und was sie an sich zieht, nur unbestimmte und wenig lebendige Vorstellungen sind«.126

Das einheitliche Wirken des Absoluten und damit das Absolute selbst ist der vorgelegten Interpretation zufolge bei Schleiermacher nur vermittels der Natur für den Menschen da, und das bedeutet: Nur vermittels der Verfassung und des Richtungssinnes des Menschseins, der selbst wiederum nur greifbar wird im Leben eines Individuums.127 Das religiöse Gefühl ist also nicht primär deswegen religiös, weil es sich unmittelbar auf das Absolute oder die Transzendenz bezieht. Umgekehrt ist es die Bestimmtheit des Werdekorridors, und das Erleben von Einklang zwischen individuellem Leben und der Bestimmtheit des Korridors, 124

Vgl. S CHOLTZ: Schleiermachers Musikphilosophie (wie Anm. 43), 107f. Wir werden uns nach Schleiermacher gewahr als bedingt und bestimmt durch Transzendenz; diese Bestimmtheit und Bedingtheit ist aber immer eine leiblich-szenisch vermittelte, und daher immer eine bestimmte, die also auch immer auf eine bestimmte Transzendenz als den Grund genau dieser Bestimmtheit und Bedingtheit erlebt wird, vgl. R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 237. 126 Friedrich S CHLEIERMACHER : Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: KGA I/10, Berlin und New York 1990, 307–394 (im Folgenden zit. als Sendschreiben), 340 Z. 14–19. 127 Das Bewusstsein Gottes ist verknüpft mit dem »frischen und lebendigen Bewußtsein eines irdischen«, wie Schleiermacher in seiner Dialektik sagt, vgl. R EUTER: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 263. 125

4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls

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das über sich hinaus verweisen kann auf das Absolute als treibende Kraft dieses Prozesses. Das Gefühl für das Absolute ist gebunden an das Gefühl für Verfassung und Bestimmung des Prozessganzen.128 Schleiermachers philosophische Reflexionen über Transzendenz sind als Rahmentheorie einer Logos-Christologie zu verstehen. Nach diesem ersten Abschnitt, der sich vor allem auf die Analyse des internen Aufbaus des Gefühls konzentrierte, erfolgt nun in einem zweiten Abschnitt die Analyse des Gefühls von dessen äußerer, sozialer Seite her. Den Ausgangspunkt bildet dabei die zwischenmenschliche Interaktion, in der das Gefühl zum Ausdruck kommt und wahrgenommen wird.

4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls Das Verhältnis zwischen Gefühl und Gemeinschaft bei Schleiermacher ist umstritten und wird zumeist als zweitrangig eingestuft. Bereits Johannes Schurr sah »das Ursprüngliche und Beherrschende« des Gefühls im »Sich-Finden des Endlichen im Unendlichen«.129 Dagegen ist »jede gesellige Verbindung [. . . ] das Sekundäre, das nicht aufgrund der Religiosität an sich, sondern aufgrund der menschlichen Gesamtverfassung [. . . ] notwendig folgt.«130 Ebenso gestaltet sich Ulrich Barths Verständnis: Die soziale Dimension von Schleiermachers Religionstheorie sieht er hervorgehen aus der Verfassung des Menschseins.131 Dies entspricht nun zunächst ganz Schleiermachers Ausführungen zur Güterethik, die betonen, dass alles erkennende und gestaltende Bezogensein des Menschen durchgängig eingebettet ist in Formen des Zusammenlebens mit jeweils entsprechenden Ausdrucksgestalten. Genauso wie kein Denken ohne Sprache möglich ist,132 kann es kein Gefühl ohne die eigene »Geberde« oder die eines anderen Menschen geben, weswegen das Gefühl nur im Verbund mit einer Gemeinschaft der Offenbarung entsteht und in Erscheinung tritt:133 »Denn wie kein Act des Gefühls ein ganzer und sittlicher ist, wenn er nicht Andeutung wird für jeden der ahnden will, und wenn er nicht zugleich Ahndung ist dessen, daß andere andeuten wollen, so kann auch keiner entstehen als nur im Zusammenhang mit der Gesamtheit des Andeutens und Ahndens, die für jeden einzelnen Act schon muß vorausgesezt werden.«134 128 Anders dagegen L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 81. 129 S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 223. 130 Ebd., 223. 131 BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 302f. 132 Güterlehre (L.B.), § 48, 586: »Das Sprechen aber in diesem allgemeinen Sinne hängt dem Denken so wesentlich an, daß kein Gedanke fertig ist, ehe er Wort geworden ist«. 133 BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 302f. 134 Vgl. Güterlehre (L.B.), § 61, 598.

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

Bei Ulrich Barth liegt das Augenmerk aber lediglich darauf, dass zum Gefühl notwendig der Gefühlsausdruck gehört. Dies ist zweifelsohne richtig, übersieht zugleich jedoch, dass es dieser Ausdruck des Gefühls in der Gebärde ist, der das Gefühl jeweils auch ursprünglich prägt. Dagegen führt die Vermutung Barths, dass für die »kommunikationstheoretische Durchführung des Religionsbegriffs« biographische Umstände wie das Aufwachsen im Herrnhuter Pietismus ausschlaggebend gewesen seien,135 an der systematischen Bedeutung des Gefühlsausdrucks für das Geprägtwerden des Gefühls vorbei.136 Auch Peter Groves Ansatz, Schleiermachers Theorie der Religion zu erfassen unter programmatischer Absehung von deren sozialer Dimension, teilt die Einschätzung, dass der »gesellige[n] Verbindung« nur eine nachrangige Bedeutung einzuräumen sei.137 Diese Einschätzung ist darin begründet, dass die Bedeutung des Gefühlsausdrucks in der Lebensgestalt eines Menschen für die Prägung des Gefühls schlicht übersehen wird. Das wiederum dürfte darauf zurückgehen, dass nicht eine individuelle Manifestation der universalen Verfassung und Bestimmung des Menschen als Medium des religiösen Gefühls und der Religion verstanden wird, sondern das Gefühl an sich. Unberücksichtigt bleibt, dass die Erregung des religiösen Gefühls die menschliche Darstellung religiöser Gefühle voraussetzt: Religion ist ursprünglich und damit ihrem Wesen nach kommunikativ, an religiöse, mithin kirchliche Gemeinschaft gebunden. Im Folgenden wird die soziale Dimension des Gefühls aufgezeigt. Ausgangspunkt für eine Analyse der »Gemeinschaft der Offenbarung« sind die beiden dieser Gemeinschaftsform zugehörigen Interaktionsweisen des »Ahndens« und »Andeutens«,138 die die allgemeine Form der Interaktion als Aneignen und Gemeinschaftstiften auf besondere Weise variieren. »Ahnden« und »Andeuten« verweisen auf zwei Instanzen innerhalb eines kommunikativen Geschehens: auf diejenige Instanz, die sich offenbart, und auf diejenige, der die Offenbarung begegnet.

4.2.1 Das »Andeuten« des religiösen Gefühls Die »Gemeinschaft der Offenbarung« beruht auf dem zum Gefühl selbst hinzugehörigen Äußerlichwerden des Gefühls mittels der »Geberde auch im weitesten Sinne«.139 Dieses Äußerlichwerden des inneren Gefühls ist im Bereich des Gefühls das gemeinschaftstiftende Kommunikationsmedium. Die sich offenbarende 135

BARTH: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94),

301f. 136

Vgl. dazu auch Konrad C RAMER: Die Eine Frömmigkeit und die Vielen Frommen. Zu Schleiermachers Theorie der religiösen Vergesellschaftung des religiösen Bewußtseins, in: Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des SchleiermacherKierkegaard-Kongresses Kopenhagen, Berlin und New York 2006, 313–334. 137 Vgl. G ROVE : Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 4. 138 Güterlehre (L.B.), § 61, 598. 139 Ebd., § 61, 597.

4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls

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Instanz offenbart sich so, dass sie mittels ihrer Gebärde ihr Gefühl »andeutet« und sich so dem anderen zu verstehen, zu »ahnden« gibt. Schleiermacher unterscheidet zwischen einer Gebärde im engeren und im weiteren Sinne. Wenn der enge Sinn des Ausdrucks »Geberde« das umgangssprachliche Verständnis ausdrückt und den mimischen oder gestischen Ausdruck eines Menschen bezeichnet, so könnte der »weiteste Sinn« jede leiblich vermittelte Darstellung eines Menschen bezeichnen. Dies hätte ein Verständnis von Gebärde zur Folge, das jeden mehr oder weniger künstlerischen Ausdruck in Bild, Ton und Material als »Geberde« umfasste, und schließlich auch das ganze Leben als eine Gebärde im weitesten Sinne bezeichnete. Letzteres ist auch in der Tat die Sicht Schleiermachers, der in seiner Ethik-Vorlesung von 1812/13 »insofern, als alles Handeln Ausdruck ist, auch das Leben selbst Kunst nennt« .140 Ein weiterer Hinweis auf dieses Verständnis von »Geberde« im weitesten Sinne stellt der Zusatz zu § 221 der Güterlehre von 1812/13 aus dem Jahre 1816 dar: »Man gehe einen Schritt weiter, so ist alles Handeln als Combination im Gefühl gegründet, auch aus ihm giebt sich die Eigenthümlichkeit zu erkennen. Das Leben will also Kunst werden«.141

Alles Handeln und dessen Zusammenhang (»Combination«) geht demnach auf das Gefühl zurück,142 weswegen auch alles Handeln letztlich ein Ausdruck des Gefühls ist: Das ursprüngliche Ausdrucksmedium des Gefühl ist demnach die Lebensgestalt eines Menschen.143 Vor dem Hintergrund von Schleiermachers Lehre vom höchsten Gegensatz entsprechen sich Gefühl und Vernunft auf der einen Seite, sowie Natur und Leben auf der anderen Seite. Die Natur als das im Werden stehende Bezogenheitsgefüge eines Menschen bekommt ihre eigentümliche Gestalt durch die besondere Art des Umgangs mit diesem Gefüge; und dieser Umgang hat sein organisierendes Zentrum im Gefühl. 140 Ethik 1812/13, § 217, 312f. Allerdings fügt er einschränkend hinzu, dass dieser Ausdruck im Handeln »nur auf sehr unvollkommene Art Ausdruck« zu nennen sei: ebd., § 217, 312f. Dies hat seinen Grund wahrscheinlich darin, dass der Begriff der bildenden Kunst an Schärfe verliert, wo alles Handeln als Ausdruck verstanden wird; der enge Zusammenhang von Gefühl und Ausdrucksgestalt ist aber das, weswegen Schleiermacher auf der Zusammengehörigkeit beider beharrt, vgl. dazu das nächste Zitat. Dass sich der Mensch in seiner Theorie und Praxis selbst »symbolisiert«, meint auch S CHOLTZ: Schleiermachers Musikphilosophie (wie Anm. 43), 152. 141 Ethik 1812/13, § 221, 313, Anmerkung 2, Zusatz von 1816 zu § 221, 1. Vgl. auch L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 109: Das Leben ist »selbst Kunstwerk«. Vgl. auch Pädagogik 1820/21, 161 Z. 31–33: Die »höchste Vollkommenheit des freien Lebens« ist es, in sich ein »Kunstwerk« zu sein. 142 Da das Gefühl durch die Dimension des Religiösen bestimmt ist, kann mit Anne K Ä FER : »Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös«. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels (Beiträge zur historischen Theologie 136), Tübingen 2006, 246f., auch gesagt werden: »Jede Kunst ist religiös«. 143 Entsprechend sagt auch L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 105: »[A]uch die sittlichen Tätigkeiten [. . . ] können als schön [. . . ], als vollendete Mitteilung seiner [verstehe: des Menschen] Innerlichkeit und Individualität vorgestellt werden«.

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Die Gebärde im weitesten Sinne macht also das Gefühl in seiner Besonderheit für andere offenbar und konstituiert damit dort eine Gemeinschaft der Offenbarung, wo ihm eine Empfänglichkeit entspricht. Neben mimischen und gestischen Ausdrucksgestalten eines Menschen umfasst dies sowohl »beharrliche« Kunstformen wie etwa Gemälde und Skulpturen, als auch die verschiedenen Formen des »Cultus«.144 Dessen Besonderheit besteht darin, dass er eine vergängliche Kunstform im Unterschied zu den beharrlichen darstellt und damit nicht nur den leiblich-szenischen, sondern vor allem den zeitlichen Charakter betont. Dadurch aber besteht eine besondere Parallele zur Verfassung des Gefühls als dauerndem Erleben. Der »Kunstschatz«, den jede Kirche hervorbringt, schließt immer eine spezifische Form des Cultus ein, der aufgrund seiner leiblich-szenischen Form nicht nur am ehesten geeignet ist, dem Gefühl Ausdruck zu verschaffen, sondern auch eine Größe darstellt, »an welchem sich das Gefühl eines jeden bilden kann«.145 Schleiermacher unterscheidet in diesem Zusammenhang eine religiöse von einer profanen Form des individuell symbolisierenden Handelns, je nachdem, ob eher die sinnliche Affektion zum Ausdruck kommt oder diese »auf die sittliche Person bezogen wird«.146 Dass zwischen beiden Darstellungstendenzen nur ein relativer Gegensatz besteht, der durch das religiöse Gefühl verbunden ist, wird daran deutlich, dass zum einen »alles Profane als Material im Religiösen vorkommen kann« und zum anderen alle sinnliche Affektion als Profanes, das keinen Bezug zum religiösen Gefühl hat, »auch nicht in das Kunstgebiet gehören kann«.147 Die Verbindung zum religiösen Gefühl ist damit auch für die profane Kunst von Bedeutung, weil nur mittels dieser Verbindung ein sittliches und also menschengemäßes Handeln möglich ist:148 Kunst, die keinen solchen Bezug auf die wahre Verfassung und Bestimmung des Menschen hat, ist nach Schleiermacher kein Gut.149 Damit reduziert sich der Unterschied zwischen religiöser und profaner Kunst auf den Unterschied des Stils: Dieser ist religiös, insofern er überwiegend auf die Einheit, d.h. auf die Vernunft als das organisierende Zentrum, bezogen ist, und »gesellig«, wenn er dagegen mehr die Vielfalt, d.h. die Natur als das individuelle Bezogenheitsgefüge zum Ausdruck bringt.150 Dabei können beide 144 Ethik 1812/13, § 215, 362. Vgl. auch Ralf S TROH : Schleiermachers Gottesdiensttheorie. Studien zur Rekonstruktion ihres enzyklopädischen Rahmens im Ausgang von »Kurzer Darstellung« und »Philosophischer Ethik«, Berlin und New York 1998, 96. 145 Ethik 1812/13, § 215, 362. 146 Vgl. ebd., § 218, 363. 147 Ebd., § 219, 363. 148 Zum Begriff »Menschengemäßheit« vgl. auch L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 96. 149 Vgl. Ethik 1812/13, § 219, 363: »Beides [die mehr auf das Sittliche und die mehr auf die Richtigkeit gerichtete Darstellung, G.H.] bleibt aber so verbunden, daß alles einzelne Profane als Material im Religiösen vorkommen kann, und daß alles Profane, inwiefern es eigentlich irreligiös wäre, auch nicht in das Kunstgebiet gehören könnte«. 150 Vgl. L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 347.

4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls

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Kunstformen dasselbe Ziel anstreben, nämlich die Darstellung von Schönheit.151 Auch die profane Darstellung von Schönheit hat immer eine religiöse Dimension, weil sie ein Gefühl für diejenige Gestalt menschlichen Lebens ist, die im Einklang mit der eigenen Verfassung und Bestimmung steht und deswegen schön ist.152 Die bisherige Darstellung von Schleiermachers Konzeption des Andeutens machte den Zusammenhang zwischen dem Gefühl und dessen Äußerlichwerden in der Gestaltung des eigenen Bezogenseins deutlich. Neben punktuellen Darstellungen ist auch das Leben selbst ein Medium des Andeutens, und vermag nicht nur dem Erleben einzelner Situationen Ausdruck zu verleihen, sondern auch dem Gefühl für die Wahrheit des Menschseins.

4.2.2 Das »Ahnden« des religiösen Gefühls Die Gemeinschaft der Offenbarung besteht nur als wechselseitiges Sich-Offenbaren, und schließt damit neben der spontanen Lebensrichtung des Andeutens immer auch die rezeptive mit ein. Diese wird von Schleiermacher im Falle des individuellen Symbolisierens als »Ahnden« eingeführt.153 Das Ziel des Ahndens besteht darin, in der Gebärde des anderen dessen eigentümliches Gefühl wahrzunehmen und in sich selbst nachzubilden. Dieser Wahrnehmungsakt vollzieht sich in der Form analogischen Schließens.154 Hier stellt sich die Frage, inwiefern das Gefühl mit einem Vorgang analogen Schließens vereinbar ist. Der Einwand liegt jedenfalls nahe, dass Schleiermacher dem Gefühl im Falle religiöser Kommunikationsprozesse »mentale Operationen unterstellt«, die eigentlich dem Denken zugehören.155 Religiöse Kommunikation in dem hier beschriebenen Sinne hätte demnach nur sekundär und in abgeleiteter Form mit dem Gefühl zu tun. Um diesen Einwand zu prüfen, ist das Verhältnis zwischen Denken und analogem Schließen zu bestimmen. Denken beschreibt bei Schleiermacher den Prozess begrifflichen Verknüpfens in analytischer oder synthetischer Weise, also das wechselseitige Aufeinander-

151

Vgl. Ethik 1812/13, § 224, 364. Vgl. auch K ÄFER: »Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös« (wie Anm. 142), 255f. Käfer beschränkt die Wahrheitstheorie Schleiermachers auf dessen Erkenntnistheorie: Wahr ist ihr zufolge die Übereinstimmung von sprachlichem signum und res. Bei Schleiermacher besteht jedoch auch die Möglichkeit eines Zeichens, das nicht-sprachlichen Charakter hat, so im Verhältnis zwischen individueller Lebensgestalt und Menschsein. Damit ist Wahrheit nicht nur als eine sprachliche bzw. epistemologische Kategorie aufzufassen, sondern prinzipiell als eine existenziale Kategorie, die szenisch vermittelt ist. 153 Vgl. Güterlehre (L.B.), § 61, 597. 154 Vgl. ebd., § 69, 601. 155 Vgl. BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 304–307, dessen Kritik sich allerdings nicht am analogen Schließen entzündet, sondern an der in der Glaubenslehre vorausgesetzten »Totalitäts- und Einheitsidee«. 152

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beziehen von Einzelnem und Allgemeinem im Medium der Sprache.156 Eine Analogie hat es mit einem Entsprechungsverhältnis zwischen zwei Verhältnissen zu tun. Solch ein analoger Schluss lässt sich zwar auch im Medium der Sprache vollziehen, ist aber bereits vorsprachlich möglich, und kann sich auch in der Verknüpfung von Bildern ausdrücken.157 Das Gefühl ist nun als dauerndes szenisches Erleben verfasst. Demnach kann analoges Schließen durchaus widerspruchsfrei dem Gefühl und dem diesem zugeordneten individuellen Symbolisieren zugeordnet werden, solange sich das Schließen nicht in erster Linie im Medium von Begriffen, sondern im Medium leiblich-szenischer Bilder vollzieht. Als analoges Schließen im Medium leiblich-szenischer Bilder aber stellt es einen Vorgang dar, der der Verfassung des Gefühls adäquat ist.158 Neben diesem Unterschied zwischen analogem Schließen in leiblich-szenischer Gestalt auf der einen und analogem Schließen in begrifflicher Form auf der anderen Seite besteht ein weiterer Unterschied zwischen Fühlen und Denken in Bezug auf die Wirkmächtigkeit der menschlichen Tätigkeit. Schleiermacher sieht den Unterschied zwischen Gefühl auf der einen und sprachlich verfasstem Gedanken auf der anderen Seite darin, dass das Gefühl durch den bloßen Nachvollzug noch nicht vom Wahrnehmenden aufgenommen und »in das unsrige verwandel[t]« ist.159 Dagegen ist die Identität des gedanklichen Vollzugs zwischen zwei Menschen gerade die Eigenart des Denkens. Zu ahnen, wie der andere fühlt und dessen Erleben nachzufühlen, bedeutet noch nicht, selbst wie der andere zu fühlen.160 Die Reichweite menschlichen Handelns ist demnach im Bereich des individuellen Symbolisierens geringer als im Falle des identischen Symbolisierens. Damit ist freilich nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass das Gefühl des anderen »in das unsrige verwandel[t]« würde;161 ausgeschlossen ist lediglich, dass dies durch den Ahnenden selbst geschieht.162 Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass sich 156

Vgl. Pädagogik 1813/14, 293f. Daher können Kinder schon in der vorsprachlichen und damit vor-begrifflichen Zeit Analogien herstellen: Das eigene Bezogensein auf jemanden findet sich in einer Beziehung zwischen zwei anderen Entitäten. So kann etwa ein Kind mit einer Puppe das eigene Verhältnis zur Mutter nachspielen, ohne dass es dieses Verhältnis damit begrifflich erfasst hätte. 158 Schleiermacher sieht das unmittelbare Selbstbewusstsein als Erleben von Einheit als Analogon zum absoluten Grund des Seins als transzendenter Einheit. Nach WAGNER: Schleiermachers Dialektik (wie Anm. 25), 157, ist der transzendente Grund aber nur im Denken gegeben, nicht im Gefühl, und die Analogiebildung ist ebenfalls ein Akt des Denkens. Schleiermacher geht aber offenbar davon aus, dass dieser Verweis des eigenen Bezogenseins auf einen transzendenten Grund gefühlt werden und der Zusammenhang zwischen transzendentem Grund und eigenem Bezogensein nicht-begrifflicher Art sein kann. Der Grund hierfür liegt darin, dass Schleiermacher von einem bestimmten Erleben eines inhaltlich bestimmten eigenen Bezogenseins ausgeht, und diese Bestimmtheit kann auf einen transzendenten Grund verweisen. 159 Güterlehre (L.B.), § 61, 598. 160 Ebd., § 61, 598. 161 Ebd., § 61, 598. 162 Dazu passt die Beobachtung, dass die »Wirkung der Verkündigung [. . . ] nach Ordnung der göttlichen Weltregierung« geschieht: M ILLER: Der Übergang (wie Anm. 6), 116, mit Ver157

4.2 Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls

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gleiches Fühlen einstellt, ohne dass damit die Individualität und Unverfügbarkeit desselben aufgehoben wäre. An dieser Stelle ist damit eine Grenze von menschlich zu verantwortender Bildung beschrieben. Neben der Form und der Wirkmächtigkeit des Ahndens ist nun auch noch dessen Bezug auf das Gefühl des anderen näher in den Blick zu fassen. Das, worauf sich das Ahnden bezieht, ist das Äußerlichwerden des Gefühls eines anderen Menschen. Dabei bedarf der Ahnende aber der Erfahrung, »daß eine bestimmte Erregung in ihm auf ähnliche Weise äußerlich wird«.163 Möglich ist dies deswegen, weil Schleiermacher in formaler Hinsicht von einer identischen Struktur des Menschseins ausgeht, in der das Gefühl auf grundsätzlich gleiche Weise zur Erregung wird. Schleiermacher zufolge ist aber auch der Gehalt des menschlichen Gefühls einheitlich; das, was das Fühlen des einen vom Fühlen des anderen unterscheidet, ist zum einen die individuelle Weise, wie in ihm leibliches, sittliches und religiöses Gefühl arrangiert sind, zum anderen das, was der jeweils andere an leiblich-szenischen Erfahrungen bislang erlebt hat. Das Gefühl des anderen ist also stets beides, bleibend fremd durch seine strukturelle und materiale Unübertragbarkeit, und zugleich erkenn- und mitteilbar aufgrund seines strukturidentischen Aufbaus und dem menschlichen Bezogensein als dem gemeinsamen Gehalt. Unübertragbar ist also die empirische Seite,164 während die Grundzüge des Fühlens und seines Gehalts doch innerhalb der menschlichen Gattung gleich sind, und so eine Anteilhabe am Gefühl des anderen zwar nicht durch den Menschen selbst herbeigeführt werden kann, aber doch grundsätzlich möglich ist.165 Warum nennt Schleiermacher aber in seiner letzten Vorlesung zur Ethik kein eigenständiges »Kunstsystem« mehr im Zusammenhang mit der religiösen Gemeinschaft, wie er dies noch in seiner Güterlehre von 1812/13 getan hatte? Auch wenn die Güterethik in ihrer letzten Bearbeitung das Verhältnis zwischen Kunst und Religion nicht mehr eigens thematisiert, so konnte doch gezeigt werden, dass der Schnittpunkt beider in der »Geberde« im engeren und weiteren Sinne liegt. Auf der einen Seite ist die Gebärde, wenn sie sittlich und damit menschengemäß ist, immer eine, die Ausdruck des leiblich-sittlichen Gefühls im Lichte des religiösen Gefühls ist. Die Gebärde ist Medium des religiösen Gefühls.166 Auf der weis auf Friedrich S CHLEIERMACHER: Vorlesungen über das Leben Jesu. Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte, in: KGA II/15, Berlin und Boston 2018 (im Folgenden zit. als Leben Jesu), 350. Denn die Anteilhabe am Geist Jesu und seinem Wahrheitsbewusstsein kann nicht durch den Ahnenden selbst hervorgebracht werden. 163 Güterlehre (L.B.), § 61, 597. 164 Vgl. zu den Schwierigkeiten des Ahndens, die sich durch die spezifischen Bezogenheitslagen in Natur und Gesellschaft ergeben: ebd., § 62, 598f. 165 Vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 73f. 166 M ILLER : Der Übergang (wie Anm. 6), 122, stellt eine zu starke Unterscheidung, ja Trennung von Innerem und Äußerem in Schleiermachers Leben-Jesu-Vorlesung fest; die Botschaft Jesu vom Reich Gottes habe dann auch vor lauter innerem Bezug »keinen wesentlichen Bezug zum Leiblichen«. Gemäß der Ethik Schleiermachers kann es keinen Bezug auf das Gefühl

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anderen Seite kann Kunst aber gar nichts anderes sein als Gebärde, auch wenn diese sich in materieller, musikalischer oder szenischer Gestalt ausdrückt. Daher ist auch die Nennung des religionsspezifischen Kunstsystems schlicht überflüssig; es reicht vielmehr der Hinweis auf die Gemeinschaft der Offenbarung, deren Medium die Gebärden im engeren und weiteren Sinne sind. Diese Gebärden stehen in Zusammenhang mit einem bestimmten religiösen Gefühl, und dies führt dazu, dass die Gesamtheit der Gebärden eines Menschen und auch einer Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichem religiösen Gefühl jeweils eine bestimmte Struktur aufweist. Insofern geht ein inhaltlich bestimmtes religiöses Gefühl notwendig mit einem je individuellen Kunstsystem einher.167 Schleiermachers Abwendung vom Begriff der »Kirche« in seiner späten EthikVorlesung liegt in der Betonung des Kommunikationsmediums von Religion begründet. Die Gestaltung des Bezogenseins verleiht dem inneren Gefühl Ausdruck und offenbart es, weswegen Schleiermacher von einer »Gemeinschaft der Offenbarung« spricht. Dass das religiöse Gefühl ein Wahrheitsgefühl ist, das sich auf die Verfassung und Bestimmung des Menschseins richtet und das in der Gebärde zum Ausdruck findet, bleibt dabei von Schleiermacher vorausgesetzt, und damit auch der Verweis auf Transzendenz als Ursprung der Wahrheit.

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre Nachdem der Gehalt und die Struktur des Gefühl ebenso wie die ursprüngliche Sozialität des Gefühl rekonstruiert wurden, ist im Folgenden das darin zum Ausdruck kommende Verständnis von Gefühl, Religion und Bildung zu beschreiben. Dieses der Ethik Schleiermachers folgende Verständnis von Gefühl und Bildung wird kritisch auf das Verständnis von Gefühl und Bildung bezogen, wie Schleiermacher es in den Reden und der Glaubenslehre dargelegt hat. Auf diese Weise wird versucht, etwaige Einseitigkeiten der Ethik zu kontextualisieren. Dabei dienen die anhand der Ethik gewonnenen Einsichten auf das Verhältnis zwischen Religion und Bildung als Leitfaden für die Analyse von Religion und Bildung in den Reden und der Glaubenslehre.

4.3.1 In der Ethik Die bisher erfolgte Analyse zeigte, dass es sich beim Gefühl um die Möglichkeitsbedingung für die Wahrnehmung von Sein und Bildung handelt. Das Gefühl am Leiblichen vorbei geben. Schleiermacher hat in seiner Leben-Jesu-Vorlesung wohl diese leiblich-geschichtliche Dimension zulasten der religiösen Dimension vernachlässigt und ist damit hinter seinem theoretischen Programm zurückgeblieben. 167 Vgl. Ethik 1812/13, § 196, 359, und ebd., § 200, 360.

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

89

ist als dauerndes szenisches Erleben verfasst; damit hat das Gefühl die Form zeitlichen Erlebens. Es stellt jeden Moment leiblicher Gegenwart in den Horizont vergangener und zukünftiger Momente und eröffnet damit eine relative Gleichzeitigkeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch die zeitliche Verfassung des Erlebens ist es möglich, nicht nur Zustände, sondern individuelle Entwicklungsbögen wahrzunehmen, und diese wiederum als Variationen eines Allgemeinen zu erfassen. Damit ist freilich noch nicht von einer begrifflichen Erfassung dieser Entwicklungen und ihrer Bedingungen im Denken die Rede, sondern nur von deren Gegebensein in szenischer Gestalt im Gefühl. Das Gefühl als Eröffnung von Zeitlichkeit ist in diesem Sinne die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Menschen überhaupt in der Lage sind Bildungsprozesse in ihrer Vielgestaltigkeit wahrzunehmen. Bildungsprozesse erscheinen als bestimmte, einer Intention folgende Gestaltungen des Bezogenseins. In Schleiermachers eigener Terminologie begegnet dies als Einigung von Natur und Vernunft. Diese Gestaltungen erscheinen für den Menschen in leiblich vermittelten Szenen, und stets so, dass auch die zugrunde liegende Kraft geahnt wird. Dies umfasst gewissermaßen den deskriptiven Sinn von Bildung. Schleiermacher kennt aber auch eine kritische Dimension von Bildung, die sich daraus ergibt, dass jede Gestaltung des Bezogenseins in einem Verhältnis zu den eigenen Bedingungen steht. Die Bedingungen beschreiben einen Korridor, innerhalb dessen sich ein Bildungsprozess bewegt, und mit denen er in unterschiedlichem Grad übereinstimmen kann.168 Gestaltungen, die sich im Widerspruch zu den eigenen Bedingungen befinden, haben den Charakter einer Perturbation oder Missbildung. Für das leiblich-sittliche und für das religiöse Gefühl erscheint diese Gestaltung in jeweils anderer Weise. Das leiblich-sittliche Gefühl ist auf eine einzelne Gestaltung gerichtet und kann diese als eine in sich differenzierte Einheit erleben. Dann wird die Gestaltung des Bezogenseins als schön und gebildet erlebt, und der Sinn für Schönheit und Bildung weiter geschärft. Bildung befördert sich durch sich selbst. Eine Gestaltung menschlichen Lebens vermag aber auch als eine solche erlebt werden, die den Möglichkeiten und Grenzen, und der Bestimmung des Menschen insgesamt entspricht und damit eine Manifestation der »zur Ruhe gebrachte[n] Mischung« im Menschen darstellt.169 Eine solche Gestaltung erscheint als Totaleindruck und wird im religiösen Gefühl als wahre Bildung und als gut erlebt. Erst durch ein solches Gefühl kann auch das Gottesverhältnis eine klare Kontur gewinnen, indem Gott als Ursprung genau dieser Bedingungen und dieser Bestimmung des Menschen erlebt wird.170 Bildung ist damit das, worauf sich das religiöse Gefühl richtet, sie ist Medium der Transzendenzrelation.

168

Vgl. Abschnitt 3.3.: »Bildung innerhalb des Seins« ab S. 47. Reden, 192 Z. 36f. 170 Das Gottesverhältnis, auch das christliche, kommt »durch ein geschichtliches Individuum zustande«, so L ANGE: Neugestaltung christlicher Glaubenslehre (wie Anm. 138), 102. 169

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

Im Zusammenhang mit einem solchen Eindruck kann nun eine Bildung des Gefühls stattfinden. Die empathisch-ästhetische Dimension wird durch eine verfeinerte Wahrnehmung des Zusammenspiels von Kraft und Erscheinung gebildet. Die religiöse Dimension dagegen erfährt eine Bildung, wo ein Totaleindruck und die sich in diesem ausdrückende Bestimmung des Menschen das leiblich-sittliche Erleben prägt. Situationen und die in ihnen begegnenden Möglichkeiten werden bei fortschreitender Bildung zunehmend im Lichte des Wahrheitsgefühls erlebt. Ein in diesem Sinne gebildetes Gefühl vermag es seinerseits, den eigenen Umgang mit dem Bezogensein zu prägen, und so in diesem Umgang zum Ausdruck zu kommen. Die Gestaltung des eigenen Bezogenseins wird zum Ausdrucksmedium des Gefühls.171 Bildung ist damit nicht nur das, was im Gefühl zu stehen kommt, sondern auch das, vermittels dessen das Gefühl sich ausdrückt. Sie ist Eindruck und Ausdruck der Religion.

4.3.2 In den Reden Auch die Reden über die Religion thematisieren – wie die Vorlesungen und Akademieabhandlungen zur Ethik – die Sachverhalte Gefühl, Religion und Bildung. Allerdings unterscheiden sich Schleiermachers Reden in vielerlei Hinsicht von Schleiermachers Ethik, ein Sachverhalt, der auch bei der folgenden Interpretation zu berücksichtigen ist. So wurden die Reden nicht nur früher verfasst als die Vorlesungen zur Ethik, sie verfolgen auch eine ganze andere Intention und gehören daher auch einem anderen literarischen Genre zu. Da die Schrift Menschen, die die Religion verachten, doch genau für diese zu gewinnen sucht, hat die Schrift keinen wissenschaftlichen und dementsprechend nüchternen Stil wie die Ethik, sondern ist von einer eher werbenden und schwärmenden Sprache geprägt.172 Dennoch sind beide Darstellungen Schleiermachers, die Reden wie die Ethik, dadurch miteinander verbunden, dass er hier wie dort sein Verständnis der Wirklichkeit darlegt – lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Zielen. Schleiermachers Verständnis dessen, was er in der Ethik als das »Gefühl« bezeichnet, wird in den Reden noch unter der Wendung »Anschauung und Gefühl« erfasst. Die Weise menschlichen Bezogenseins, die damit beschrieben wird, weist demnach zwei Seiten auf, erstens handelt es sich um ein Bezogensein auf etwas, das angeschaut werden kann. Zweitens wird das Bezogensein auf eine bestimmte Art gefühlt. Religion auf der einen Seite und Anschauung und Gefühl auf der

171

Vgl. L ANGE: Neugestaltung christlicher Glaubenslehre (wie Anm. 138), 104. Vgl. G LATZ: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 31), 147, der die Reden als »poetische Apologie« bezeichnet. Darin besteht eine Nähe zu den Monologen, vgl. G ROVE: Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 253f. Zur Rezeption vgl. G LATZ: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 31), 149f. 172

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

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anderen werden gleichgesetzt. Damit kann Schleiermachers Verständnis von Religion mittels seines Verständnisses von Anschauung und Gefühl erfasst werden. Im Folgenden ist zunächst die Seite der Anschauung genauer in den Blick zu fassen und zu fragen, was genau es ist, das angeschaut wird. Dann kann die Seite des Gefühls näher betrachtet werden. Eng verbunden mit Anschauung und Gefühl ist schon in den Reden der Sachverhalt des Mittlers und die damit verbundene Frage, in welchem Medium Anschauung und Gefühl kommuniziert werden, ein dritter Sachverhalt, den es zu erörtern gilt. Aus diesen drei Perspektiven erhellt dann auch viertens das Verhältnis zwischen Religion und Bildung, und fünftens die Frage nach Religion und Transzendenz. Auch bezüglich der Reden ist entscheidend, womit es Religion zu tun hat. Dies thematisiert Schleiermacher anhand des Begriffes der »Anschauung«. Religion hat es nach Schleiermacher zunächst mit demselben Sachverhalt zu tun wie Metaphysik und Moral, nämlich mit dem Bezogensein des Menschen.173 Alle drei haben ein und denselben »Gegenstand«, wie Schleiermacher sagt, und sind auf »das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm« gerichtet.174 Das, was die Religion von Metaphysik und Moral unterscheidet, ist lediglich die Weise des menschlichen Bezogenseins auf diesen »Gegenstand«. Die Religion will das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm weder in Begriffe zerlegen noch durch Tätigkeiten verändern, sondern alles auflösen in ein »staunendes Anschauen des Unendlichen«,175 und sich von den »Darstellungen und Handlungen« des Universums »in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen«.176 Das bloße Anschauen des Universums steht dem gedanklichen und gestaltenden Zugriff nicht nur entgegen, sondern bildet auch den »Prüfstein« für deren Angemessenheit, denn: »Vom Anschauen muß alles ausgehen«.177 Damit ist deutlich, dass das Anschauen selbst zwar eine Form der Tätigkeit ist, aber eben rezeptiven Charakter hat.178 Nur auf dem Fundament solcher Rezeptivität kann das spontane, erkennende und gestaltende Tätigsein gedeihen. Das Anschauen richtet sich auf das »Universum«, ein Begriff, der gegen den des »Unendlichen« ausgetauscht werden kann. Die entscheidende Frage ist folglich, was Schleiermacher genau unter »Universum« oder »Unendlichem« versteht. Das »Universum« ist jedenfalls kein Gegenstand, der unmittelbar angeschaut werden könnte, vielmehr ist er nur anhand und vermittels von Einzelnem gege173

Vgl. auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 210. Reden, 207. 175 Ebd., 200. 176 Ebd., 211. Deswegen ist von Religion zu sprechen auch »nie stolz« und »immer voller Demuth«: ebd., 195 Z. 4f. Es ist eben das Universum selbst, »das in einer ununterbrochenen Thätigkeit« ist und sich uns jeden Augenblick »offenbart«: ebd., 214. 177 Ebd., 213 Z. 14. 178 Vgl. E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 75: »Die Religion, darauf weist das Gefühl hin, das sie konstituiert, handelt nicht. Sie empfängt.« 174

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

ben.179 Entsprechend will die Religion in allem Endlichen und Einzelnen »das Unendliche sehen«.180 Schleiermacher macht in den Reden also deutlich, dass genau wie Metaphysik und Moral auch die Religion zunächst an das Einzelne gewiesen ist. Die Besonderheit der Religion ergibt sich nun aus der besonderen Gegebenheitsweise von Einzelnem. Dieses erscheint nicht einfach nur als einzelnes Endliches, sondern als Variation einer Klasse, ist also durch Bedingungen bestimmt, die für gleichartiges Einzelnes gelten und für diese einen Variationskorridor eröffnen, innerhalb dessen das Einzelne gebildet wird: »Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen [. . . ]. Nur so kann es innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und gebildet werden.«181

Bildung ist damit ein Wesenszug alles endlichen Seienden insofern, als alles endliche Seiende sich nur innerhalb von allgemeinen Bedingungen, von »Grenzen« bewegt, innerhalb derer es »unendlich sein« kann. Dass Endliches oder Einzelnes unendlich sein kann, meint keine zeitliche Unendlichkeit, sondern die unendliche Vielfalt möglicher Variationen. Die Eigenart der Religion besteht nun darin, dass sie sich vermittels des Einzelnen auf dessen Bedingungen, auf dessen Variationskorridor bezieht: »Was in der That den religiösen Sinn anspricht in der äußern Welt, das sind nicht ihre Maßen sondern ihre Geseze.«182

Wenn sich Religion nach Schleiermacher also auf das Universum oder das Unendliche bezieht, dann ist dies nicht so zu verstehen, als bezöge sich Religion auf die Gesamtheit einer unendlichen Masse an Einzelnem. Vielmehr ist Religion deswegen auf das Unendliche gerichtet, weil sie sich vermittels des einzelnen Seienden auf dessen bestimmtenVariationskorridor richtet, und vermittelst dessen auch auf den »dynamischen Grund dieser Einheit«.183 Schleiermacher zufolge weisen schon die »Perturbationen in dem Laufe der Gestirne« auf eine »höhere Einheit« 179

Das Universum als das wahre Unendliche ist Grund und Totalität allen Seins, vgl. KÖ Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 197–203. 180 Reden, 211f. G ROVE : Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), 295, weist darauf hin, dass es sich dabei um das »Anschauen von einzelnem als Darstellung des Universums« handelt. Damit habe das Anschauen den Charakter der Deutung, die auf eine »implizite Metaphysik« zurückgreife (ebd., 446). Dabei wird von diesem deutungstheoretischen Ansatz allerdings das Moment der Abhängigkeit aller deutenden Tätigkeit von der Selbstoffenbarung des Universums im geheimnisvollen Augenblick vernachlässigt. Christian König hält deswegen fest, dass »die religiöse Anschauung somit keine Deutung, sondern vielmehr eine bildhafte Selbstpräsentation des Universums im menschlichen Bewusstsein« ist (KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 283 (K.i.O.)). Die Probleme dieses deutungstheoretischen Ansatzes sind ebd., 270–296, umfassend dargestellt. 181 Reden, 213 Z. 5–9. 182 Ebd., 225 Z. 24f. 183 K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 287 (K.i.O.) So auch Christian A LBRECHT : Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer NIG :

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

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hin.184 Diese höhere Einheit ist durch die unsichtbaren Gesetze individuellen Werdens konstituiert. Das Universum, das Schleiermacher also vor Augen hat, ist damit als Korridor für das Werden von endlichem Seienden zu verstehen, der durch Gesetze umrissen ist, und zugleich dessen transzendenten Grund umfasst.185 Nur insofern kann also die Freiheit des Menschen Gegenstand der Religion sein, als sie selbst auf einen Spielraum verweist, der durch Gesetze konstituiert ist und daher auch Grenzen aufweist, innerhalb dessen sich Freiheit entfaltet, bildet und bewegt: »Die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist [. . . ] und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er sein muss, was er ist, er wolle oder wolle nicht.«186

Das Universum ist für Schleiermacher also derjenige bestimmte Spielraum, innerhalb dessen sich das Werden alles endlichen Seienden abspielt, entfaltet und bildet.187 So ist deutlich, dass es für Schleiermacher Prozesse in ihrer Bestimmtheit durch allgemeine Bedingungen oder »Geseze« sind, auf die sich die Anschauung richtet. Daher ist auch die menschliche Geschichte der höchste Gegenstand der Religion: »Aber nicht nur in ihrem Sein müßt Ihr die Menschheit anschauen, sondern auch in ihrem Werden; [. . . ] Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion [. . . ] und Ihr sollt [. . . ] den Gang des Universums und die Formel seines Gesezes erkennen.«188

Schleiermachers Verständnis des Universums ist also erst dann angemessen verstanden, wenn es als Korridor des Werdens verstanden wird, das einem bestimmten Richtungssinn oder einer »Formel« folgt, die über sich hinaus verweist auf ihren Grund.189 Damit spezifiziert Schleiermacher weiter, was er unter »Universum« versteht, nämlich den Inbegriff bestimmten Werdens samt transzendenten Grund. Alles Werden hat einen Eigensinn, den Schleiermacher auch als »Weltgeist« ansprechen kann. Die Anschauung ist auf diesen Richtungssinn gerichtet, und das Proprium der Religion besteht darin, diesem zuzusehen und zu lieben.190 Dieser Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin und New York 1994, 143. 184 Reden, 226 Z. 15f. 185 Deswegen meint Ulrich BARTH : Was heißt »Anschauung des Universums«? Spinozistische Hintergründe von Schleiermachers Jugendschrift, in: DERS .: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 222–244, hier 244, dass das religiöse Anschauen von Kategorien lebt, »die sie zwar an ihm exemplifiziert, aber nicht wirklich aus ihm gewinnt. Einheit, Allheit, Totalität, Unendlichkeit, Universum – all dies sind und bleiben Vernunftideen.« Nun geht es Schleiermacher aber nicht einfach um die allgemeine Form von Einheit, Allheit etc. Vielmehr gibt es diese nur am Einzelnen und dessen Variationen – dieses aber ist keine Idee, sondern in vorbegrifflicher Weise im Gefühl gegeben. 186 Reden, 212 Z. 12–15. 187 Ebd., 318: »lebt, webt und ist«. 188 Ebd., 232–233. 189 Auch vom »Geist des Ganzen« ist die Rede: ebd., 235 Z. 27. 190 Vgl. ebd., 224.

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

hat die »Gestalt eines ewigen Schiksals«, das »über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend wiedersezt«.191 So ist es das Universum selbst, das gemäß dem »Bildungstrieb, der das Ganze beseelt«,192 »[u]nzählige Gestalten denkt [. . . ] und bildet«.193 Das Universum ist damit als Größe zu beschreiben, die selbst bildend tätig ist: Das Sein alles Endlichen ist ein gerichtetes Werden, und aus diesem gehen Bildungsgestalten hervor. Der Mensch steht damit einem Bildungsgeschehen gegenüber, dem er zunächst einmal nur staunend zuschauen kann.194 Für das nähere Verständnis des Gefühls ist es nun weiterführend, die Gegebenheitsweise des Universums für den Menschen genauer zu betrachten. Weiter oben wurde schon darauf hingewiesen, dass es Schleiermacher zufolge das Universum für den Menschen nur mittels des Einzelnen gibt. Genau deswegen ist für jede Religion eine »Centralanschauung« konstitutiv, in der sich alle Anschauungen bündeln.195 Im Horizont dieser Zentralanschauung wird »[a]lles gesehen und gefühlt«196 , alles erhält »einen gemeinschaftlichen Ton«.197 Eine solche Zentralanschauung entsteht dort, wo der Geist, der das Universum beseelt, vom Menschen unmittelbar gefühlt wird, wodurch es zum Erleben eines Einklangs kommt, der die Grenzen zwischen dem eigenen Selbst und dem Universum vorübergehend auflöst. Die Pointe besteht dabei in der »Erfahrung eines gegenseitigen Entsprechungsverhältnisses« zwischen beiden Größen, wie Christian König festhält.198 Dieses Erleben von Einklang zwischen dem Geist des Universums und dem eigenen Selbst wird von Schleiermacher als »[j]ener erste geheimnißvolle Augenblik« beschrieben,199 in dem der »Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind«:200 »Ich bin in diesem Augenblik ihre Seele [verstehe: die Seele der unendlichen Welt, G.H.], denn ich fühle alle ihre Kräfte«.201

191

Reden, 234. Ebd., 230 Z. 34. 193 Ebd., 229. Vgl. auch ebd., 264: »Das größte Kunstwerk ist das, deßen Stof die Menschheit ist welches das Universum unmittelbar bildet [. . . ]«. 194 Vgl. dazu K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 246–253. 195 Reden, 304. 196 Ebd., 304. 197 Ebd., 303. 198 K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 190. 199 Eine ausführliche Interpretation hierzu hat ebd., 182–197, vorgelegt. 200 Reden, 221. 201 Ebd., 211. 192

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

95

Dieses Erleben von Einklang202 geht erstens vom Universum selbst aus,203 und es bringt zweitens die einzelnen religiösen Gefühle hervor, die das Verhältnis zwischen dem bestimmten Ganzen und dem erlebenden Menschen zum Ausdruck bringen, etwa Demut, Liebe, Dankbarkeit und Reue.204 Das Erleben von Einheit und Einklang steht nun stets in Beziehung zu einer bestimmten Zentralanschauung vom Gang des Universums.205 Damit ist deutlich, dass Schleiermacher auch schon an dieser Stelle die Positivität von Religion voraussetzt.206 Die religiösen Gefühle entstehen nicht aus einem Erleben einer gewaltigen Naturerscheinung, und sind auch nicht das Ergebnis einer Deutung des Subjekts, die ausschließlich subjektiven Charakter hätte.207 Sondern sie entzünden sich an der Eigenart des Werdens des Ganzen: Werden und dessen Eigenart als Manifestation ihres Grundes ist Gegenstand des religiösen Fühlens und Anschauens.208 Wie kommt nun eine solche »Centralanschauung« zustande? Zum einen betont Schleiermacher, dass es die Anschauung selbst ist, die den Anschauenden »mit rechter Lebendigkeit ergreift«.209 Dies ist aber zum anderen nicht in Einsamkeit möglich, vielmehr bedarf es eines »Mittlers«, der den »Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer weke und ihm eine erste Richtung gebe«.210 Dieser »Meister [kann] nichts thun als zeigen und darstellen«211 – dies ist aber auch notwendig, damit der Anschauende dann mit »eigenen Augen« sehen kann.212 Diese Darstellung, die die Religion zu wecken vermag, ist in erster Linie keine verbale: Das

202 Vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit sagt R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 242 entsprechend, es sei die »Erfahrung symbiotischer Einheit«. 203 Vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 194–197. 204 Reden, 236f. 205 »Wenn der Weltgeist sich uns majestätisch offenbart hat . . . «: ebd., 236. 206 Vgl. ebd., 296. 207 So Markus S CHRÖDER : Das »unendliche Chaos« der Religion. Die Pluralität der Religionen in Schleiermachers »Reden«, in: 200 Jahre »Reden über die Religion«. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, 14.–17. März 1999, Berlin und New York 2000, 585–608, 592f. 208 Vgl. dazu auch K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 243–253. 209 Reden, 304 Z. 34f. 210 Ebd., 242. Vgl. auch ebd., 193. Dagegen betont E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 166: »Eine Übertragung des Mittlergedankens auf die Rolle von Religion ist von Schleiermacher nicht intendiert.« Vgl. dazu auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 360–388. Zur Rolle des Mittlers bei Novalis vgl. S ENCKEL: Individualität und Totalität (wie Anm. 82), 163–170. Dies betont erneut, dass die Majestät eines Gebirges oder ähnlich wuchtige Naturerscheinungen für Schleiermacher nur in einem sehr geringen Maße das sind, worauf sich Religion richtet; Zur religiösen Naturanschauung vgl. KÖ NIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 224–229. 211 Reden, 285 Z. 16f. 212 Ebd., 242.

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

Leben eines Menschen selbst dient vielmehr als Medium für den Ausdruck der Religion: »Wenn so ihr ganzes Leben und jede Bewegung ihrer innern und äußern Gestalt ein priesterliches Kunstwerk ist, so wird vielleicht durch ihre stumme Sprache manchen der Sinn aufgehn für das was in ihnen wohnt.«213

Das Leben eines Menschen kann demnach auch durch die »stumme Sprache« seines Umgangs mit dem eigenen Bezogensein eine Kunde von dem geben, »was in ihnen wohnt«. Dass es sich dabei um ein priesterliches Kunstwerk handelt, macht deutlich, dass es die Religion eines Menschen ist, die sich so Ausdruck verschafft. Dies zeigt, dass es die Religion ist, die den »Grund seines Thuns und Denkens«214 ausmacht und im Denken und Handeln zum Ausdruck kommt. Das »Rohe, das Barbarische, das Unförmige soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden«, sagt Schleiermacher und beschreibt Bildung als Ausdifferenzierung des gestaltenden Umgangs mit dem Bezogensein.215 Insofern der Religion ein Impuls zum Ausdruck innewohnt, der Ausdruck aber nur durch Bildung zustande kommt, kann sie auch als Motivation zur Bildung des Bezogenseins verstanden werden. Von Religion geht Schleiermacher zufolge ein Impuls zu einer Lebensgestalt aus, die den Charakter der Bildung hat – dadurch, dass das Leben selbst nur in Beziehung auf eine Zentralanschauung erscheint und in deren Licht und Ton getaucht ist, aber auch dadurch, dass sich in einem von Religion begleiteten Leben stets auch das Gefühl für den Sinn des Ganzen manifestiert. Anhand der bisher erfolgten Skizze kann nun gefragt werden, inwiefern menschliches Handeln zu einer Bildung der Religion beizutragen vermag. Eine Bildung zur Religion gibt es zwar, diese aber kann letztlich nicht durch den Menschen hervorgebracht werden. Religion kennt »kein anderes Mittel, als nur dieses, daß sie sich frei äußert und mittheilt«.216 Dies bedeutet allerdings, dass die Mitteilung und Äußerung der Religion eine notwendige Bedingung dafür ist, dass auch bei anderen Religion geweckt werden kann. Scharf weist Schleiermacher dagegen das Unterrichten von Religion zurück: »Unterricht in ihr [ist] ein abgeschmaktes und sinnleeres Wort«.217 Religion kann ebenso wenig wie »Urteilskraft, Beobachtungsgeist, Kunstgefühl oder Sittlichkeit angebildet und eingeimpft« werden.218 Vielmehr ist es das Universum selbst, das sich seine Betrachter »bildet«: »So ist Jeder und Jedes in Jedem ein Werk des Universums«.219 Das Erwachen der Religion in einem Menschen kann nur dadurch befördert werden, dass Momente 213

Reden, 289 Z. 10–13. Vgl. auch ebd., 288 Z. 30ff. Ebd., 197 Z. 29f. 215 Ebd., 234. 216 Ebd., 248 Z. 7f. 217 Ebd., 250 Z. 23f. 218 Ebd., 251. 219 Ebd., 251 Z. 43. 214

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

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ermöglicht werden, in denen jede Tätigkeit ruht220 – ein Sachverhalt, der dem bürgerlichen Leben und seinen »Verständigen und praktischen« Gliedern ein Graus ist.221 Ihnen ruft Schleiermacher zu: »Seht wie das himmlische Gewächs mitten in Euern Pflanzungen gedeiht ohne Euer Zuthun«.222 Bildung zur Religion findet also statt, aber letztlich nicht durch Tätigkeit des Menschen, sondern dadurch, dass gerade von aller Tätigkeit abgesehen wird. So wird verständlich, weswegen Religion nicht mit Stolz einhergehen kann: Religion ist Anschauung und Gefühl für das Erscheinen des Weltgeistes und den Sinn des Ganzen, der von sich aus auf den Menschen zukommt, und ihn und seine Welt gebildet hat. Daher geht die deutungstheoretische Interpretation mit ihrer Betonung der Passivität des Universums an Schleiermachers eigener Intention vorbei. Zuletzt ist nun noch genauer auf den Transzendenzbezug der Religion einzugehen. Schleiermacher sieht als den entscheidenden Bezugspunkt der Religion das »Universum« oder das »Unendliche«, das zunächst nicht mit dem Göttlichen oder Gott identifiziert wird. Der Weltgeist des Universums kann als personal oder als apersonal vorgestellt werden, ist aber immer eine transzendente Größe.223 Von entscheidender Bedeutung für Schleiermachers Religionsverständnis ist, dass es den Bezug auf Transzendenz nicht vorbei an dessen Medium gibt. Das Medium, wodurch sich dieses Zu-erkennen-Geben vollzieht, ist das bestimmte Werden des Ganzen. Und eben dadurch bietet sich »das Himmlische und Ewige [. . . ] als einen Gegenstand des Genußes und der Vereinigung« dar,224 und nur mittels der Liebe zum Weltgeist kann auch die Gottheit geliebt werden.225 Mit Stephanie Bermges kann damit festgehalten werden, dass sich von »der fünften Rede her die Religion der zweiten Rede als ein abstraktes Gebilde« erweist.226 Gott handelt nur so, dass er sich zu erkennen gibt.227 Das Medium hierfür ist der Weltgeist, der wiederum nicht an und für sich erscheint, sondern nur im Zusammenhang mit der Lebensgestalt eines Menschen, die diesem entspricht. Für Schleiermacher steht außer Frage, dass das Christentum die ausgezeichnete Religion unter den vielen Religionen ist.228 Die Besonderheit der christlichen Religion besteht der fünften Rede zufolge darin, dass sich nicht nur ihr Zustandekommen einem Handeln des Universums verdankt, sondern dass dieses Zustandekommen selbst die zentrale Anschauung des Christentums ausmacht. Der Mensch kann nur im Einklang mit dem Ganzen sein, wenn er Religion hat; ansonsten gibt es nur ein »Entgegenstreben[] alles Endlichen gegen die Einheit 220

Vgl. Reden, 253. Ebd., 252. 222 Ebd., 265. 223 Vgl. dazu K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 309–322. 224 Reden, 194. 225 Die Möglichkeit, dass man sich demutsvoll-liebend fügen kann, wie K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 288, sagt, setzt ein Gefühl für die Eigenart des Weltgeistes voraus. 226 B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 234. 227 Vgl. Reden, 246. 228 Vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 459–465. 221

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

des Ganzen«.229 Dass der Mensch aber Religion hat und damit vermittels des Einzelnen auf das Ganze gerichtet ist, ist nichts, was er selbst bewirken könnte. Daher kommt es der »Gottheit zu«, diese »Feindschaft gegen sich zu vermittel[n]«.230 Dies führt dazu, dass die Religion sich selbst zum Thema, ihr eigener Stoff wird.231 Daher sieht Schleiermacher das Grundgefühl des Christentums in der »unbefriedigten Sehnsucht« nach Gott, die nur durch Gott selbst gestillt werden kann, und als »heilige Wehmut« begegnet.232 Vermittelt wird diese Anschauung ursprünglich durch Jesus von Nazareth. Die von Schleiermacher in den Reden niedergelegte Auffassung von Gefühl, Religion und Bildung ist als kompatibel mit seiner in der Ethik dargelegten Sicht zu verstehen. Deutlich unterschieden sind beide zwar durch das unterschiedliche literarische Genre, die jeweils angesprochenen Adressaten und die damit verbundenen Unterschiede in den Begrifflichkeiten. Während Schleiermacher den Gegenstand der Religion in den Reden durch eine bildhafte und poetische Rede auszudrücken sucht, weist die Darstellung der Ethik eine weit stringentere Begrifflichkeit auf, die deutlich präziser, aber auch weniger anschaulich ist. Gemeinsam ist beiden Darstellungen aber die Bezugsgröße der Religion: Das inhaltlich bestimmte Werden des Ganzen, das nur anhand der Darstellung oder des Zeugnisses eines anderen Menschen zugänglich ist. Hat eine religiöse Anschauung des Ganzen einen Menschen ergriffen, dann vermag sie all sein weiteres Erleben in ihren Bannkreis zu ziehen und in ihrem Lichte erscheinen zu lassen, dann vermag ein Mensch dieser Anschauung durch die Gestaltung seines Lebens Ausdruck zu verleihen – und zwar indem sein Leben zum Sinn des Ganzen in einem Verhältnis des Einklanges steht. Das Werden des Ganzen wird von Schleiermacher bereits in den Reden als ein geschichtlicher Bildungsprozess beschrieben, dessen Resultat die einzelnen Individuen sind, und dessen Urheber jedenfalls nicht die anschauenden Menschen sind, denn »[a]lles Anschauen gehet von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden« aus.233 Der Bezug auf Transzendenz ist dabei stets durch die Eigenart des Werdens, durch den »Weltgeist« vermittelt. Schleiermacher spricht in den Reden von einem bildenden Handeln der Gottheit, wohingegen in den Ausführungen der Ethik nur die lebendigen Einzelwesen als bildende Akteure angesprochen werden. Inwiefern dies einer Veränderung in Schleiermachers Denken geschuldet ist, oder aber einer Besonderheit der Ethik im Unterschied zu einer dezidiert religiösen oder christlichen Rede, wird der nächste Abschnitt zeigen, der nach

229

Reden, 316 Z. 29f. Ebd., 316 Z. 31f. 231 Vgl. ebd., 317. 232 Ebd., 320 Z. 19. Vgl. auch K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 461. 233 Reden, 213 Z. 38. 230

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

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Schleiermachers Verständnis von Gefühl, Religion und Bildung in der Einleitung der Glaubenslehre fragt.234 Alle Grundzüge von Schleiermachers in der Ethik niedergelegten Gefühls-, Religions- und Bildungsverständnisses sind jedenfalls schon in den Reden niedergelegt.235

4.3.3 In der Einleitung der Glaubenslehre Schleiermachers letzte Ausführungen zum Themenkomplex von Gefühl, Religion und Bildung finden sich in der Einleitung zur 2. Auflage der Glaubenslehre.236 Diese Einleitung dient Schleiermacher dazu, denjenigen Grundriss zu skizzieren, innerhalb dessen er seine evangelische Glaubenslehre entfaltet, der aber genau deswegen selbst kein Teil der Dogmatik ist.237 Schleiermachers Wissenschaftstheorie zufolge handelt es sich bei Wissenschaft wesentlich um die »Entwickelung einer bestimmten Anschauung«.238 Dabei kann diese »Entwickelung« nur durchgeführt werden, wenn auch die »beigeordneten und entgegengesezten« Wissenschaften verstanden sind. Wissenschaftliches Denken kann nicht isoliert stattfinden, da die Anschauung, die sie entwickelt, nie isoliert gegeben ist. Im Falle der Dogmatik, der traditionsverbundenen, zeitgebundenen und systematischen Entfaltung des Gefühls christlicher Prägung, gehören für Schleiermacher die Seelenlehre oder Psychologie zu diesen Wissenschaften, auf die die unmittelbare Anschauung verweist, ebenso wie die Ethik, die vergleichende Religionsphilosophie und die Apologetik Relevanz für die Entfaltung des Grundrisses der Glaubenslehre besitzen.239 Aufgrund dieses Charakters der Einleitung hat sie denselben Sachverhalt zum Gegenstand wie die Reden und die Ethik, weswegen auch das in der Einleitung niedergelegte Verständnis von Gefühl, Religion und Bildung verglichen werden kann mit dem der Reden und der Ethik. Um Schleiermachers Verständnis von Gefühl, Religion und Bildung in der Einleitung der Glaubenslehre zu erschließen, wird zunächst nach Schleiermachers Verständnis des Gefühls gefragt. Daran schließt sich unmittelbar die Frage nach den beiden Grundgestalten des Gefühls an, nach sinnlichem und frommem Gefühl, nach Welt- und Gottesbewusstsein – Begrifflichkeiten, die sich zunächst deutlich 234 Weiterführend wäre auch ein Vergleich mit Schleiermachers Monologen, vgl. K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 15f. 235 Christian Albrecht und Eilert Herms sehen diese Kontinuität für das Religions- bzw. Frömmigkeitsverständnis: Vgl. A LBRECHT: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (wie Anm. 183), 309, und Eilert H ERMS: Religion, Wissen und Handeln bei Schleiermacher und in der Schleiermacher-Rezeption, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 272–295, hier 291. 236 CG I, §§ 1–31. 237 Ebd., § 1.1, 9. 238 Einleitung Ethik (L.B.), § 1, 517. 239 CG I, §§ 2.2, 12–14.

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von denen der Reden oder der Ethik unterscheiden. Die genauere Bestimmung dieser beiden Grundgestalten des Gefühls ermöglicht die Klärung, womit es die Frömmigkeit zu tun hat. Wie schon im Falle der Reden ist der Blick dann auf die Gegebenheitsweise dieses Sachverhaltes im Gefühl zu richten, auf das Zustandekommen dieser Gegebenheit und deren Folgen. Zuletzt kann dann danach gefragt werden, inwiefern Bildung für Gefühl und Religion von Bedeutung ist. Das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewusstsein wird von Schleiermacher in der Glaubenslehre zunächst als diejenige Größe dargestellt, die für die Vermittlung verschiedener Momente im Leben eines Menschen sorgt. Schleiermacher stellt fest, dass »das unmittelbare Selbstbewußtsein überall den Übergang zwischen Momenten« vermittelt.240 Diese Leistung kann das Gefühl nur erbringen, weil es zeitlich verfasst ist. Deutlich wird diese zeitliche Verfassung daran, dass Schleiermacher vom Gefühl als einem dauernden »Bewegtwerden« spricht: »Das Fühlen hingegen ist nicht nur in seiner Dauer als Bewegtwordensein ein Insichbleiben, sondern es wird auch als Bewegtwerden nicht durch das Subjekt bewirkt«.241

Fühlen ist ein »Bewegtwerden«.242 Schleiermacher zufolge kann das Gefühl kein ausschließlich passives Moment im Menschen sein, da der Mensch als ein lebendiges Wesen stets auch tätig ist. Wenn also von einer Tätigkeit des Gefühls die Rede sein soll, dann nur so, dass es sich dabei um eine rezeptive Tätigkeit handelt: Denn das Fühlen wird »nicht durch das Subjekt bewirkt«, sondern für es.243 Diese vernehmende, rezeptive Verfassung des Gefühls ist zudem eine zeitlich dauernde, die dem dauernden Geschehen adäquat ist, das das Gefühl bewegt. Was ist dieses dauernde Geschehen, das andauernd im Gefühl erlebt wird? Schleiermacher nennt das Gefühl mit Bezug auf seinen Kollegen und Freund Heinrich Steffens »die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungetheilten Daseins«.244 Damit geht einher, dass das Gefühl als »Wahrheit unseres Daseins« angesprochen wird.245 Das, womit es das Gefühl zu tun hat, kann als das ganze ungeteilte Dasein angesprochen werden. Darunter ist nicht die Einsamkeit und die Autonomie des Selbst zu verstehen, sondern vielmehr das lebendige Bezogenheitsgefüge, in dem sich jeder Mensch findet: »wir [finden] uns [. . . ] immer nur im Zusammensein mit anderem«.246 Dieses Zusammensein mit anderem hat die Gestalt der »Wechselwirkung«, weswegen auch das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewusstsein auf das Geschehen der Wechselwirkung gerichtet ist.247 240

CG I, § 3.4, 19. Ebd., § 3.3, 18. 242 Ebd., § 3.3, 18. 243 Ebd., § 3.3, 18. 244 Ebd., § 3.2, 17. 245 Ebd., § 65.2, 354. 246 Ebd., § 4.1, 24. 247 Der Gehalt des Selbstbewusstseins wird wie folgt beschrieben: »so ist dann das aus beiden zusammengesetze Gesamtselbstbewusstsein das der Wechselwirkung des Subjektes mit dem mitgesetzten Anderen«: Vgl. ebd., § 4.2, 26. Dass Schleiermacher nicht vom Subjekt, son241

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Ulrich Barth hat geurteilt, dass dem Gefühl mit dem Sachverhalt der Wechselwirkung ein Gehalt zugeschrieben werde, der nur schwer gefühlt werden könne.248 Dieses Urteil setzt allerdings schon einen bestimmten Begriff des Gefühls voraus, und zwar den des »inneren Zustandsbewusstsein[s]« des eigenen Selbst, als das Barth das Gefühl begreift.249 Schleiermachers Verständnis des Gefühls ist aber offenbar weiter gefasst: Wenig später spricht er davon, wie auf das Gefühl gewirkt und wie es geprägt werde, nämlich mittels eines Totaleindrucks.250 Das, was das religiöse Gefühl eines Menschen maßgeblich bewegt und prägt, ist die Lebensgestalt eines Menschen. Dann aber muss unter Gefühl mehr verstanden werden als ein bloßes Zustandsbewusstsein, da Schleiermacher davon ausgeht, dass das Gefühl die Totalität eines anderen Menschen zu rezipieren vermag. Zusammen mit dem Aspekt der Zeitlichkeit, den Schleiermacher am Gefühl beobachtet,251 legt sich auch im Falle der Glaubenslehre ein Verständnis des Gefühls nahe, dessen Pointe im dauernden szenischen Erleben besteht. Dies vermag erstens die Ermöglichung des Übergangs zwischen Denken und Handeln zu erklären; denn erst das dauernde Gegebensein des eigenen Bezogenseins in Form leiblicher Szenen ermöglicht es, auf dieses Bezogensein dann auch gestaltend und begreifend Bezug zu nehmen. Das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewusstsein als dauerndes leiblich-szenisches Erleben des eigenen Bezogenseins zu verstehen, erhellt zweitens auch, weswegen Schleiermacher Steffens Rede vom »ganzen ungetheilten Dasein« zu folgen vermag; denn durch das Gefühl als leiblich-szenischem Dauererleben ist für den Menschen die Einheit alles für ihn Wirklichen gegeben. Dieses Verständnis des Gefühls macht drittens nachvollziehbar, inwiefern dem Gefühl der Charakter der Unmittelbarkeit zugesprochen werden muss: Die Unmittelbarkeit des Gefühls resultiert daraus, dass das Gefühl oder Selbstbewusstsein »nicht Vorstellung ist« und damit nicht »durch die Betrachtung seiner selbst« vermittelt ist.252 Die Rede von der Unmittelbarkeit meint demnach nicht, dass das Gefühl ausschließlich auf sich selbst bezogen wäre; dies stellt überhaupt keinen möglichen Zustand des Gefühls dar. Vielmehr liegt die Pointe darin, dass das Erleben im Erlebenden in bestimmter Weise zu stehen kommt, nämlich in leiblichszenischer Gestalt. Dieses leiblich-szenische Erleben ist nun aber zunächst nicht durch reflexive Akte vermittelt, sondern für den Erlebenden unhintergehbar.253 Leiblich-szenisches Erleben hat nicht nur grundsätzlich ununterbrochenen Chadern vom Leben ausgeht, notiert auch R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 267– 269. 248 Vgl. BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 304–306. 249 Ebd., 305. 250 CG I, § 10, Zusatz, 72. 251 Vgl. auch R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 234, 244, der von der Erfahrung des αʸν spricht, der auf die Ewigkeit verweist. 252 CG I, § 3.2, 16. 253 Vgl. H ERMS : Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins (wie Anm. 70), 413.

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rakter, sondern es hat auch stets eine Bestimmtheit durch die Bestimmtheit des jeweiligen Bezogenseins. Diese ist nicht »durch das Subjekt bewirkt«, und insofern eignet ihr Unmittelbarkeit. Entsprechend sagt Schleiermacher auch über das Gefühl oder Selbstbewusstsein christlicher Prägung, dass es »so wie es ist, nicht durch die Tätigkeit der Vernunft [. . . ] hervorgebracht« sei.254 Insofern kommt auch diesem christlichen Gefühl oder Selbstbewusstsein der Charakter der Unmittelbarkeit zu. Die Vernünftigkeit der Dogmatik besteht deswegen lediglich darin, dass auf etwas reflektiert wird, von dem man aber bereits »affiziert ist«255 und dies darstellt anhand »derselben Gesetze [. . . ] der Begriffsbildung und Verknüpfung wie alles Gesprochene«.256 Das Gefühl hat Schleiermacher zufolge zwei Erscheinungsweisen, die er als das »sinnliche« Gefühl oder Selbstbewusstsein einerseits257 und das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« oder »frommes Bewußtsein« andererseits bezeichnet.258 Das Verhältnis beider Bewusstseinsformen wird in den §§ 3–5 beschrieben, die dem Aufbau des Gefühls und der Frömmigkeit am Ort des Einzelnen gewidmet sind und anhand von Lehnsätzen aus der Ethik und der Seelenlehre entfaltet werden. In den §§ 6–10 folgt dann eine Beschreibung hinsichtlich der sozialen Verfassung der Frömmigkeit anhand religionsphilosophischer Anleihen.259 In der Schleiermacher-Forschung ist es weithin üblich, ein Verständnis von Schleiermachers Theorie des Gefühls und der Frömmigkeit durch eine Interpretation der §§ 3–6 zu gewinnen.260 Dies hat seine Berechtigung darin, dass Schleiermacher in diesen Paragraphen die grundlegenden Züge seines Gefühlsverständnisses darlegt. Schleiermachers Gefühls- und Frömmigkeitstheorie bleibt aber unvollständig erfasst, wenn die in diesen Paragraphen geschilderte allgemeine Verfassung nicht 254

CG I, § 13, Zusatz, 92. Ebd., § 13, Zusatz, 92. Die Theologie kann daher auch ihren Gegenstand nicht aus »allgemein-metaphysischen Prinzipien ableiten«, sondern dieser ist ihr »gegeben«: Martin R E DEKER : Einleitung des Herausgebers, in: Friedrich S CHLEIERMACHER: Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin 1960, XII–XLII, hier XXII. Deswegen ist auch der λìγοσ ‚ναπìδεικτοσ die angemessene Form der Darlegung: Vgl. Sendschreiben, 321. 256 CG I, § 13, Zusatz, 93. 257 Etwa ebd., § 5.1, 32, § 5.3, 35f. 258 Etwa ebd., § 5.4, 36f. 259 Auch Konrad C RAMER : Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: Friedrich Schleiermacher 1768 – 1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 129–162, 134f., betont, dass Schleiermachers Theorie des Religiösen nur deutlich wird vor dem Hintergrund seiner Theorie des nicht-religiösen Bewusstseins. 260 Vgl. etwa ebd., G ROVE : Deutungen des Subjekts (wie Anm. 24), Friedrich B EISSER : Schleiermachers Lehre von Gott dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre, Göttingen 1970, A LBRECHT: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (wie Anm. 183), 231–258. Anders dagegen: D IERKEN: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus (wie Anm. 43), 378ff. R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 264f., 282–294. 255

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ergänzt wird um die Darstellung einer bestimmten individuellen und positiven Religion und deren spezifischen Geprägtwerden.261 Die Pointe von Schleiermachers Religionsverständnis besteht darin, dass Religion nur in jeweils individueller Gestalt erscheint. Die Individualität einer Religion ist wiederum erst dann verstanden, wenn ihr Zustandekommen verstanden ist. Daher sind § 10 und die §§ 11–14 unverzichtbar für ein angemessenes Verständnis von Schleiermachers Gefühlsund Frömmigkeitstheorie.262 Denn nicht nur die Glaubenslehre insgesamt folgt einem klimaktischen Aufbau, wie Schleiermacher in seinen Sendschreiben betont hat,263 sondern auch die Einleitung zur Glaubenslehre und das darin zur Sprache kommende Verständnis von Gefühl und Frömmigkeit läuft in dem Sinne auf einen Höhepunkt hinaus, als die allgemeinen Züge der Theorie ihre Pointe erst von der Individualität des christlichen Glaubens her erhalten. Auch in methodischer Hinsicht hat Schleiermacher stets betont, dass das Allgemeine nicht abgesehen vom Individuellen erfasst werden kann, sondern nur am Individuellen selbst. Aufbauend auf der bisher erfolgten Analyse von Schleiermachers Gefühlsverständnis wird nun der Grund der Individualität des Gefühls in den Blick genommen, wie es sich anhand der §§ 10–15 darstellt. Erst von dort aus wird der allgemeine Aufbau der Frömmigkeit und ihre sozialen Erscheinungsformen analysiert. Schleiermacher unterscheidet das sinnliche vom frommen Gefühl, und stellt das »Weltbewußtsein«264 einem »Gottesbewußtsein« gegenüber.265 Während somit einerseits stets ein Gefühl für die Wechselwirkung vorherrscht, und damit ein Gefühl relativer Freiheit und Abhängigkeit, existiert andererseits immer auch ein Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Beide bestehen nicht unabhängig voneinander, sondern immer nur zugleich.266 Dabei verweist die Wechselwirkung an sich schon über sich hinaus und ist damit ein Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit.267 Deren konkretes, individuelles Verhältnis beschreibt Schleiermacher aber erst in § 10; das Verhältnis beider ist so, »daß in jeder eigentümlichen Glaubensweise das an und für sich überall auf derselben Stufe gleiche Gottesbewußtsein an irgendeiner Beziehung des Selbstbewußtseins auf so vorzügliche Weise haftet, daß es sich mit allen andern Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins nur vermittelst jenes einigen kann, so daß dieser Beziehung alle anderen untergeordnet sind, und sie allen andern ihre Farbe und ihren Ton mitteilt.«268

261

Vgl. CG I, § 2.2, 12. Vgl. R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 264f., 282–294. 263 Sendschreiben, 344–356, bes. 344f. 264 CG I, § 4.2, 26. 265 Ebd., § 4.4, 28f. 266 Ebd., § 5.3, 34f. 267 Ebd., § 5.3, 35. 268 Ebd., § 10.3, 68. 262

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Dieser Aussage kann ein zweifaches entnommen werden. Zum einen gibt es das Gottesbewusstsein nur in Verbindung mit »irgendeiner Beziehung des Selbstbewußtseins«. Demnach gibt es kein Gottesbewusstsein an und für sich, sondern nur gebunden an ein spezifisches Erleben des eigenen Bezogenseins, an dem es »haftet«. Zum anderen sieht Schleiermacher jede individuelle Glaubensweise dadurch bestimmt, dass das Gefühl intern so aufgebaut ist, dass alle einzelnen situativen Bezogenheiten nur in Verbindung mit dem einen ausgezeichneten, weil mit dem Gottesbewusstsein einhergehenden eigenen Bezogensein erscheinen. Auch hier begegnet die bereits aus den Reden und der Ethik bekannte Figur, dass das fromme Gefühl darin seine Besonderheit hat, dass es das eigene Bezogensein in seiner Mannigfaltigkeit in einer bestimmten Weise ordnet, so nämlich, dass alle erlebten und zu erlebenden eigenen Bezogenheiten im Lichte einer bestimmten Bezogenheit erscheinen, die ihnen »ihre Farbe und ihren Ton mitteilt«. Das fromme Gefühl ist formal also dadurch bestimmt, dass das Erleben eines bestimmten Bezogenseins zum Horizont alles weiteren Erlebens wird und dieser alle anderen mit Schleiermachers Worten »untergeordnet« werden.269 Wie aber ist das fromme Gefühl material bestimmt? Jedenfalls nicht so, dass es einfach Gott zum Gegenstand hätte.270 Vielmehr sieht Schleiermacher das fromme Gefühl mit einer bestimmten eigenen Bezogenheit in Verbindung. Diese »Beziehung des Selbstbewußtseins«, die die Eigenart eines frommen Gefühls ausmacht, ist nun eine soziale Beziehung. Dieser Sachverhalt wird deutlich anhand von Schleiermachers Beschreibung des Zustandekommens der Bestimmtheit des frommen Gefühls.271 Dasjenige »Bewegtwerden«, durch das eine Glaubensweise im Gefühl etabliert wird, bezieht sich weder unmittelbar auf Gott noch auf eine bestimmte Lehre, sondern darauf, dass ein anderer Mensch »ursprünglich auf uns wirkt als eigentümliche Existenz, durch seinen Totaleindruck, und diese Wirkung ist immer eine Wirkung auf das Selbstbewußtsein«.272 Der Totaleindruck, der von einem Menschen ausgehen kann, schließt zwar auch dessen verbale Selbstexplikation, seine »Lehre« ein; dies allerdings ist nicht das ursprüngliche Moment.273 Der Begriff Totaleindruck kann sich erstens auf die Wirkung beziehen und diese beschreiben. Demgemäß liegt die Besonderheit eines Totaleindrucks darin, dass die ganze Person beeindruckt wird. Das ist nicht anders möglich als durch einen Eindruck, der auf das Personzentrum wirkt, also auf das Gefühl. Ein Totaleindruck 269

CG I, § 10.3, 68. Vgl. dazu auch R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 273. 271 Vgl. dazu CG I, § 6.2, 43:»Was aber das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl insonderheit betrifft, so wird jeder wissen, daß es auf demselben Wege durch die mitteilende und erregende Kraft der Äußerung zuerst in ihm ist geweckt worden.« 272 Ebd., § 10, Zusatz, 72. Zum »Totaleindruck« vgl. auch ebd., § 14, Zusatz, 105. 273 »Die ursprüngliche Tatsache wird also immer das Auftreten einer solchen Existenz sein [. . . ] Daß hierbei die Lehre nicht ausgeschlossen wird, sondern mitgesetzt, leuchtet ein«: ebd., § 10, Zusatz, 72. 270

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geht mit einer Prägung des Gefühls einher, und damit dann auch mit einer Prägung des Handelns. Zweitens kann sich die Totalität aber auch auf das beziehen, was erscheint; demnach wird der Mensch, von dem der Eindruck ausgeht, in seiner Totalität erlebt. Dies scheint zunächst nicht denkbar, da Menschen einander stets nur beschränkt auf einzelne zeitliche und räumliche Konstellationen begegnen. Ein Mensch kann empirisch nicht in seiner Ganzheit erlebt werden. Für Schleiermacher ist es nun aber so, dass sich im Umgang mit dem eigenen Bezogensein stets die individuelle Vernunft eines Menschen manifestiert. Insofern die Vernunft eines Menschen das organisierende Zentrum seines Umgangs mit dem Bezogensein ist, erscheint damit auch zugleich das Ganze seines Lebens. Wenn nun das Umgehen eines Menschen mit seinem Bezogensein so erlebt wird, dass die zugrundeliegende Vernunft für den Erlebenden in großer Klarheit zutage tritt, dann kann vermittels einzelner Situationen auch die Totalität der Person erscheinen. Drittens besteht eine weitere Dimension der Totalität des Eindrucks. Das Individuum kann die wahre Verfassung und Bestimmung des Menschseins verkörpern und damit das Ziel der Menschheit repräsentieren. Das Individuum erscheint dann als »Urbild«.274 Schleiermacher zufolge ist Jesus derjenige Mensch, der das wahre Urbild ist, weil sein Gottesbewusstsein und damit seine Gottesgemeinschaft nicht mehr überbietbar ist. Bedeutet dies nun, dass nur der christliche Glaube durch einen Totaleindruck geprägt ist und einen Menschen als Urbild erlebt, die Urbildlichkeit mithin eine differentia specifica des Christentums darstellt? Weiter führt m. E. die These, dass der Einklang mit den Bedingungen und der Bestimmung des Menschseins unterschiedliche Grade annehmen kann. Der christliche Glaube wäre demnach nicht durch seinen Bezug auf einen Menschen ausgezeichnet, der als Urbild erlebt wird, sondern dadurch, dass in Jesus von Nazareth der Einklang als unüberbietbar erlebt wird. Wird nun ein Mensch vom anderen in dieser beschriebenen dreifachen Weise als Totaleindruck erlebt, dann ist es genau diese Verfassung und Bestimmung, der gegenüber ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit empfunden wird. Denn das, worauf durch Handeln nicht eingewirkt werden kann, ist die Verfassung und Bestimmung des Menschen – diese kann nur respektiert oder aber missachtet, keinesfalls aber durch menschliches Handeln verändert werden. Dieser schlechthinnigen Abhängigkeit entspricht auf der Seite des Erlebenden die Empfänglichkeit: Ein Totaleindruck und die dadurch etablierte Gesinnung ist »nicht das Ergebnis einer von dieser Person selbst gewählten Option«.275 Dieser Gehalt des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls verdeutlicht auch, weswegen das 274 CG I, § 10, Zusatz, 72. Vgl. auch K ÄFER : »Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös« (wie Anm. 142), 182, die vom »allgemeinen Schema« spricht, dass sich am Individuum zeigen kann. Dass dieser Einklang zwischen individueller Vernunft und ihrem Variationskorridor möglich ist, ebenso wie das Erleben einer Übereinstimmung, wurde weiter oben schon ausgeführt und wird im Folgenden anhand Schleiermachers Verständnis des Christentums veranschaulicht. 275 S TROH : Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 144), 86.

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Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit nur zusammen mit dem Gefühl relativer Freiheit und Abhängigkeit auftritt: Jede Wechselwirkung kann nur im Horizont der für die ganze Gattung geltenden Verfassung und Bestimmung des Menschseins stattfinden, und die allgemeine Verfassung und Bestimmung kann nicht allgemein, sondern nur anhand und vermittels der einzelnen Wechselwirkungen erscheinen. An dieser Stelle ist auch der Transzendenzbezug zu verorten: Denn mittels der Verfassung und Bestimmung des Menschseins gibt es nicht nur ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, sondern auch den Verweis auf ein »Woher« dieser schlechthinnigen Abhängigkeit. Der Grund des Gottesbezugs ist damit kein Gottesgedanke, wie Ulrich Barth meint; sondern das Erleben begrenzter und auf eine Bestimmung hin ausgerichteter Freiheit.276 Aber für Schleiermacher ist es auch nicht einfach diese formale Struktur begrenzter Freiheit, die über sich selbst hinaus auf Transzendenz verweist und die Religion eines Menschen begründet, wie die Interpretation von Eilert Herms nahelegt.277 Vielmehr gibt es diesen allgemeinen Wesenszug nur an einer materialen Bestimmtheit menschlicher Freiheit.278 Diese bezeugt ihr eigenes Angelegtsein auf eine Bestimmung und diese schlechthinnige Abhängigkeit gegenüber der eigenen Bestimmung ist es, die Gott als das »Woher« dieser Bestimmung in einer bestimmten Weise erleben lässt. Ausgangspunkt der bisherigen Überlegung war die Beschreibung der Art und Weise, wie das sinnliche und das fromme Gefühl einander zugeordnet sind. Ergänzt wurde dies durch Schleiermachers Hinweis auf den Totaleindruck als das Moment, wodurch das fromme Gefühl zu seinem Gehalt kommt. Diese Theorie Schleiermachers gewinnt an Lebendigkeit, wenn sie anhand von Schleiermachers Entfaltung des Wesens des Christentums konkretisiert wird. Der christliche Glaube entzündet sich am Erleben eines Totaleindruckes Jesu Christi.279 Dabei kann dieser Eindruck von verschiedenen einzelnen Szenen des Lebens Jesu ausgehen, in denen im Umgang Jesu mit seinem Bezogensein seine ihn leitende »Vernunft« erlebt wird. Das Ganze des Lebens Jesu kann als dasjenige Leben erlebt werden, das im Einklang mit der Verfassung und 276 Vgl. BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 305f. R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 273, hält fest, dass die »mit dem Ausdruck ›Gott‹ bezeichnete Vorstellung [. . . ] von derselben Unmittelbarkeit sein [muß] wie das Abhängigkeitsgefühl« – sie kann deshalb nicht begrifflicher Natur sein. 277 Vgl. Eilert H ERMS : Das Konzept »Zivilreligion« aus systematisch-theologischer Sicht, in: DERS .: Kirche in der Gesellschaft, Tübingen 2011, 53–77, hier 59–67. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit kann gegenüber dem Geschehen des Erschlossenwerdens von Wirklichkeit empfunden werden, wie Herms an anderer Stelle meint: DERS .: Religion, Wissen und Handeln bei Schleiermacher und in der Schleiermacher-Rezeption (wie Anm. 235), 292 – aber diese Abhängigkeit begründet keine eigentümliche Religion, denn dafür fehlt es an materialer Bestimmtheit des Erlebens. 278 So ist R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 153, zu verstehen, wo dieser auf Schleiermachers Dialektik verweist: Das Bewusstsein Gottes gibt es nur an dem »frischen und lebendigen Bewußtsein eines irdischen«. 279 Vgl. CG I, § 14.1, 95.

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Bestimmung des Menschseins steht, und ihn damit als den wahren Menschen, als Urbild ausweisen.280 Mittels des Totaleindrucks Jesu wird Jesus von Nazareth von den Christen als der Christus erlebt: Als derjenige Mensch, in dem die Gemeinschaft mit Gott vollständig realisiert ist281 – und dies wird als die Bestimmung des Menschen erkannt, auf deren Realisierung hin das Menschsein ursprünglich angelegt ist. Die 280 Falk WAGNER : Rez. zu »Barth, Ulrich: Christentum und Selbstbewußtsein«, in: ThLZ 109.6 (1984), 461–464, hier 463, weist darauf hin, dass bei einer Schleiermacher-Interpretation wie der von Ulrich Barth, bei der »die theologischen Inhalte als Ausdrucksphänomene einer sich selbst auslegenden religiösen Subjektivität gelten, [. . . ] dahingestellt bleibt, ob ihnen ein objektiver Gedankeninhalt entspricht.« Die vorliegende Interpretation hat dieses Problem nicht, weil die Bezugsgröße das Wahrheitserleben ist, das sich im Erleben der Person eines anderen Menschen einstellen kann, wenn dessen Leben als Realisierung der Bestimmung des Menschen erlebt wird; diese Bestimmung wiederum vermag als solche die Eigenart Gottes als des Grundes genau dieser Bestimmung zu manifestieren. Mit dem Erscheinen der Wahrheit über den Menschen geht ein spezifisches Erleben Gottes als Woher genau dieses bestimmten Menschseins einher. Damit liefert Schleiermacher auch die Antwort auf das, was Michael M URRMANN K AHL: »Es wird drauf los konstruiert, was das Zeug hält.« Ein Beitrag zur Diskussion über die Bedeutung der Lehre von der Person Jesu in der Christologie, in: Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Roderich BARTH/Andreas K UBIK/Arnulf von S CHELIHA, Tübingen 2015, 217–234, hier 230– 234, als die Grundfrage der Christologie identifiziert: Wie sind Gott und Mensch in Jesus Christus vermittelt? Die Antwort im Sinne Schleiermachers muss m. E. lauten: Vermittelt sind sie durch die Bestimmung des Menschen, die das Werk Gottes ist und der von Seiten des Menschen grundsätzlich entsprochen werden kann, wodurch der Mensch zum cooperator Dei wird. 281 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weswegen Schleiermacher der markinischen Darstellung des Kreuzestodes Jesu die historische Glaubwürdigkeit abspricht: Wäre die Darstellung nach Markus zutreffend, stünde dies Schleiermacher zufolge im Widerspruch zur Sohnschaft Jesu. Dabei sind nicht die Anfechtungen das Problem Schleiermachers, sondern deren Dominanz über Jesu Gottvertrauen; dieses kann nicht durch den Anblick des Todes erschüttert werden, vgl. etwa Michael M OXTER: Vom Ruhestand des Denkens. Prolegomena zur Eschatologie, in: Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Roderich BARTH/Andreas K UBIK/Arnulf von S CHELIHA, Tübingen 2015, 437–456, hier 455. Anders dagegen Dietz L ANGE: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, 321, ebenso Reinhard S LENCZKA: Rez. zu »ebd.«, in: ThLZ 102.2 (1977), 104–106, 106, und Emanuel H IRSCH: Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien, Gütersloh 1968, 110. Diese drei Interpreten verstehen die Anfechtungen Jesu als möglichen Trost für angefochtene Christen. Auch G LATZ: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 31), 388, sieht ein Defizit von Schleiermachers Theologie darin, dass Anfechtungen nicht thematisiert werden. Slenczka und Glatz ist zu entgegnen, dass der Blick auf Jesus Christus auch nach Schleiermacher sehr wohl Trost spendet, aber nicht dadurch, dass Christus selbst angefochten sein muss, sondern dadurch, dass Jesus Christus »eine unerschütterliche Gewißheit der uns in unserem Erdenleben tragenden und haltenden ewigen Liebe des Vaters« mitteilt, wie dies H IRSCH: Schleiermachers Christusglaube (wie Anm. 281), 110, beschreibt. Gott hat durch die Ermöglichung des Glaubens an Jesus Christus bereits die Überwindung der Gottvergessenheit, und damit auch der Anfechtung auf den Weg gebracht. Was nach Schleiermacher also tröstet, ist die Aneignung Jesu Christi durch

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Möglichkeit zu dieser Gemeinschaft mit Gott ist die im Menschen angelegte, aber erst in Jesus Christus vollständig realisierte »Kraft« der menschlichen Gattung. Erst durch die Dominanz dieser Kraft über alle anderen Bestimmtheiten und Bezogenheiten des Menschen kommt damit nicht nur das Menschsein, sondern das Sein überhaupt zu seinem Ziel.282 Aber nicht allein die Bestimmung des Menschseins wird deutlich, sondern auch die diesbezügliche Verfassung des Menschen: Verwirklicht wird diese Gemeinschaft so, dass sie nicht von Jesus Christus, sondern von Gott etabliert wird. Jesus steht diesem Geschehen der Gemeinschaftsstiftung mit »lebendiger Empfänglichkeit« gegenüber.283 Dieses Verhältnis Jesu zu Gott hat den Charakter der Seligkeit, denn auf diese Weise ist »die Vernunft gänzlich eins mit dem göttlichen Geist«.284 Der göttliche Geist ist der, der von sich aus Gemeinschaft mit sich hervorbringt, und in dieser Gemeinschaft findet der Mensch Seligkeit. Der Totaleindruck präsentiert damit nicht nur Jesu individuelle Vernunft, seinen »Geist«, wie Schleiermacher in der Glaubenslehre sagt, sondern auch das, »was die Vernunft wirkt oder nicht wirkt in der Natur«: Auch für alle anderen Menschen gilt, dass das Etabliertwerden der Gottesgemeinschaft das ist, was nicht durch den Menschen, sondern für ihn geschieht.285 Die angemessene Reaktion auf die Konstitution der Gottesgemeinschaft ist deswegen die »lebendige menschliche Empfänglichkeit«.286 Der christliche Glaube als Glaube an den durch Jesus Christus vermittelten Gott folgt auf das Ereignis des Totaleindrucks. Damit ist es der situationsgebundene Totaleindruck Jesu und die ihm gewährte Dominanz seines Gottesbewusstseins über sein Weltbewusstsein, was alles weitere sinnliche Fühlen zu dominieren vermag. Der Totaleindruck Jesu etabliert dasjenige Zentralgefühl, das alle weiteren Situationen in ihren Bannkreis zu ziehen vermag und in deren Lichte alles weitere Erleben erscheinen kann. Die Gottesgemeinschaft ist im Falle des christlichen Glaubens eine, die stets vermittelt ist durch den Totaleindruck Jesu und seiner ihm gewährten Gottesgemeinschaft. Christlicher Glaube ist die »Gewißheit«, dass »die Einwirkung Christi de[n] Zustand der Erlösungsbedürftigkeit aufgehoben und jener [verstehe: derjenige schlechthinniger Leichtigkeit und Stetigkeit frommer Erregungen] herbeigeführt werde«.287 Damit ist auch deutlich, dass Gott nicht den Glaubenden und Jesu Christi Aneignung unseres Leidens durch sein Mitleid. Inwiefern Schleiermacher das Abendmahl als Quelle von Trost versteht, wäre eigens zu erheben. 282 Schleiermacher hält damit die kosmische Dimension des Christusgeschehens fest. 283 Vgl. BAUER : Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 166f. 284 CG I, § 13.2, 91. 285 Vgl. BAUER : Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 167. 286 CG II, § 88.4, 27. Vgl. dazu S TROH : Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 144), 70f. und ebenso BAUER: Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 167. 287 CG I, § 14, 94.

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

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einfach nur das »Woher« schlechthinniger Abhängigkeit ist, sondern als der erlebt wird, der von sich aus Gemeinschaft mit sich selbst heraufführt und damit von sich aus die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen stillt. Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit Gottes erscheinen – exemplarisch im Christentum – jeweils auf dem Boden einer zielgerichteten Bestimmtheit, wie Schleiermacher in seinen Sendschreiben an Lücke deutlich macht.288 Gott selbst folgt damit ebenfalls einer Vernunft oder einem λìγοσ: Nämlich einem organisierenden Zentrum, das sein Bezogensein zum Geschaffenen im Allgemeinen und zum Menschen im Besonderen orientiert, und das in einem Menschen und dessen antwortendem Handeln prägnant in Erscheinung tritt. Andere Menschen können dadurch Anteil an diesem λìγοσ Gottes bekommen und ebenfalls handelnd in das Wollen Gottes einstimmen.289 Schleiermachers Theorie des Christentums ist damit nicht nur in großer Kontinuität zur johanneischen Logos-Christologie zu verstehen, sondern auch als Explikation reformatorischer Theologie zu begreifen, insofern das Spezifikum christlichen Glauben s in einer sich an Jesu Leben entzündenden Gewissheit über das Verhältnis zwischen göttlichem und menschlichem Werk besteht.290 Schleiermacher zufolge kann Jesu Leben als Einklang zwischen der Bestimmung des Menschseins überhaupt und Jesu individuellem Leben erlebt werden, und damit auch als Einklang zwischen Jesu und Gottes Geist. Um einen solchen Einklang zwischen dem menschlichen Leben und den »Bewegungen des göttlichen Geistes«291 geht es nun auch den anderen monotheistischen Religionen, und gegenüber der Eigenart dieser Bewegung des göttlichen Geistes wird jeweils schlechthinnige Abhängigkeit gefühlt.292 Judentum und Islam werden »auch jede auf einen eigenen Stifter zurückgeführt«.293 Dies zeigt, dass der Ursprung dieser beiden Glaubensweisen ebenfalls im Auftreten einer bestimmten Person liegt, von der ein Totaleindruck ausgehen kann. Schleiermacher zufolge ist im Falle dieser beiden Religionen die Offenbarung allerdings noch von den Stiftern zu trennen, was im Falle des Christentums nicht mehr möglich ist, sodass nur Jesus von Na-

288

Vgl. Sendschreiben, 340. Das Ausbleiben eines solchen Einstimmens ist Sünde und besteht entweder grundsätzlich oder hinsichtlich einer Einzelsituation. 290 Vgl. auch R EUTER : Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 7), 274, der Schleiermachers Lehre von der göttlichen Dreiheit dahingehend interpretiert, dass er das Werden teleologisch verstehe, dass nämlich das »Ziel der Anfang ist: der dreieinige Gott«. Vgl. auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 462. 291 CG I, § 13.2, 91. 292 Martin Redeker meint, dass zwischen dem »fromme[n] Einheitsbewußtsein«, das noch 1814 für das Verhältnis Gottes zur Welt zentral gewesen sei, und dem »ursprüngliche[n] Abhängigkeitsgefühl«, das dann für die erste Auflage der Glaubenslehre konstitutiv ist, eine Spannung bestehe: Vgl. R EDEKER: Einleitung des Herausgebers (wie Anm. 255), XXIV. Nach dem hier entwickelten Befund ist dies gerade nicht der Fall; vielmehr gibt es das Abhängigkeitsgefühl nicht ohne ein Bewusstsein für die bestimmte Einheit des Menschseins. 293 CG I, § 11.4, 79. 289

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

zareth allen anderen gegenüber gestellt wird.294 Die Pointe von Schleiermachers Verständnis der Frömmigkeit ist demnach auch in der Glaubenslehre nicht der unvermittelte Bezug auf Transzendenz, sondern entscheidend und ursprünglich ist der Bezug auf einen anderen Menschen, dessen Leben als Totaleindruck und damit auch als mögliches Medium einer bestimmten Transzendenzrelation erscheint. Denn auch in den der monotheistischen Glaubensweise vorangehenden Stufen der Frömmigkeit, im »Götzendienst« und im »Polytheismus«, ist eben Frömmigkeit wirklich.295 Damit kann Frömmigkeit aber nicht einfach an Transzendenz im Sinne eines unvermittelten Bewusstseins für den Grund aller Wechselwirkung geknüpft sein.296 Schleiermachers Argumentation ist an dieser Stelle deswegen kompliziert, weil er das ursprüngliche Angelegtsein des Menschen auf den transzendenten Gott als Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit festhalten will, aber dennoch Glaubensweisen berücksichtigen muss, die eben genau diese Transzendenzrelation nicht aufweisen. So wird im Falle des »Götzendienstes« »das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als von einem einzelnen sinnlichen Gegenstand herrührend reflektiert«.297 Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit entzündet sich zwar ebenfalls an einer bestimmten Gestalt menschlicher Freiheit, die als die wahre erlebt wird. Aber der Ursprung dieser Bestimmtheit wird auf einen »sinnlichen Gegenstand« zurückgeführt. Der »Polytheismus« wird von Schleiermacher als eine »Mittelstufe« zwischen Götzendienst und Monotheismus dargestellt, in dem eine große Bandbreite an Glaubensweisen auftritt.298 Gemeinsam ist allen polytheistischen Erscheinungsformen, dass »in den Göttern mehr die Naturkräfte dargestellt werden« können oder dass »die im geselligen Verhältnis wirksamen menschlichen Eigenschaften« diejenige Größe sind, die als das »Woher« der Bestimmtheit des Menschseins erlebt werden.299 Verkörpert werden diese Bedingungen durch einzelne Gottheiten wie Mars oder Zeus, deren Einheit im Polytheismus jedoch schon geahnt wird. Frömmigkeit ist nun deswegen auf allen der genannten Stufen möglich, da die Pointe von Frömmigkeit im internen Aufbau des Gefühls liegt. Wenn ein Dominanzverhältnis zwischen Totaleindruck und sinnlichem Erleben vorherrscht, wenn eine bestimmte Situation im Lichte des frommen Gefühls erlebt wird, dann spricht Schleiermacher von Frömmigkeit. Mit derartiger Frömmigkeit geht immer ein Bezug auf Transzendenz einher, allerdings wird dieser erst auf der monotheistischen Stufe »auf ein höchstes Wesen« bezogen.300 Anhand dieser Beschreibung 294

Vgl. CG I, § 11.4, 80f. Vgl. ebd., § 8, Zusatz, 56f. 296 K ÖNIG : Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 131f. spricht daher auch von »vermittelter Unmittelbarkeit« oder auch von »phänomenalem Transphänomenalbewusstsein« (Ebd., 183, 444). 297 CG I, § 8.2, 53. 298 Ebd., § 8.1, 52. 299 Ebd., § 8.2, 54. 300 Ebd., § 8.2, 54 (Hervorhebung i. O.) 295

4.3 Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre

111

des frommen Gefühls werden auch Schleiermachers religionspsychologischen Ausführungen verständlich, die sich auf alle Entwicklungsstufen der Frömmigkeit beziehen. So kann »ein Schmerz des niedrigen und eine Freudigkeit des höhern Selbstbewußtseins« vorliegen,301 weil neben dem leiblichen Bezogensein auf die gegenwärtige Situation auch die Relation zur Bestimmung des Menschen gefühlt wird. Vor dem Hintergrund dieser Skizze von Schleiermachers Gefühls- und Religionsverständnis kann nun auch nach dem Sachverhalt der Bildung gefragt werden. Bildungsvorgänge lassen sich in Bezug auf das eigene Bezogensein in formaler und in materialer Hinsicht entdecken. Die formale Seite bezieht sich auf das sinnliche Gefühl, das erst im Laufe der individuellen Biographie und der Gattungsgeschichte zur Klarheit über die eigene Mächtigkeit gegenüber dem eigenen Bezogensein kommt. Schleiermacher unterscheidet die »tierartig verworrene« Stufe, »das sinnliche Selbstbewußtsein, welches ganz und gar auf diesem Gegensatz beruht [. . . ] und das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, in welchem dieser Gegensatz wieder verschwindet«.302 Die materiale Seite der Bildung ergibt sich durch die Begegnung mit individuellen Gestalten menschlichen Lebens, die als Totaleindruck erlebt werden und eine Gewissheit über die wahre Verfassung und Bestimmung des Menschen implizieren. Das Auftreten von Menschen, die als Totaleindruck wirken, führt Schleiermacher auf ein Wirken Gottes zurück: »Daß nun hier in dem Ursprünglichen eine göttliche Kausalität gesetzt ist, bedarf keiner weiteren Erörterung.«303 Hierbei handelt es sich um ein »personbildendes Handeln Gottes«.304 Da das »Bezogenwerden des sinnlich bestimmten auf das höhere Selbstbewußtsein in der Einheit des Momentes [. . . ] der Vollendungspunkt des Selbstbewußtseins« ist,305 kann »eine ununterbrochene Folge frommer Erregungen als Forderung aufgestellt werden«.306 Wer als Instanz dafür in Frage kommt, diese »ununterbrochene Folge« herzustellen, hängt von der einzelnen Glaubensweise ab. Schleiermachers Christlicher Sitte zufolge liegt im Falle des christlichen Glauben s die Verantwortung für den Umgang mit dem christlichen Selbstbewusstsein bei den Christen.307 Deren Handeln hat entweder darstellenden Charakter, sofern die relative Seligkeit im Handeln nur zum Ausdruck gebracht wird, oder es ist wirksamer Art, und zielt auf die Veränderung des gegenwärtigen 301

CG I, § 5.4, 38. Ebd., § 5.1, 33. 303 Ebd., § 10, Zusatz, 72. Vgl. auch ebd., § 13.1, 87f. Kein Anfang einer bestimmten Frömmigkeitsweise ist »aus dem Zustande des Kreises zu erklären«. 304 CG II, §§ 93ff. Vgl. auch S TROH : Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 144), 83. 305 CG I, § 5.3, 35 ebenso ebd., § 13.1, 90. 306 Ebd., § 5.5, 39. 307 Schleiermacher entfaltet dies in individual- wie sozialethischer Hinsicht, vgl. HansJoachim B IRKNER: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 106. 302

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Kapitel 4 Gefühl und Bildung

Zustandes.308 Dann hat es entweder »verbreitenden«, »erweiternden« Charakter,309 sofern es von der Leichtigkeit des christlichen Gefühls ausgeht, oder es tritt als »reinigendes«, »wiederherstellendes« Handeln auf, wenn es eine Hemmung des Glaubens zu beseitigen sucht.310 Neben diesen beiden Dimensionen der Bildung, die sich nicht auf der Ebene von Begriffen, und damit nicht im Bereich des Denkens, sondern eben als gefühlsmäßige Klärung der eigenen Wirkmächtigkeit vollzieht, besteht ein dritter Aspekt der Bildung darin, dass das gebildete Gefühl zu einem Ausdruck im Handeln findet. Auch in der Glaubenslehre beschreibt Schleiermacher das Gefühl als diejenige Größe, die zwischen den verschiedenen Momenten des Denkens und Handelns vermittelt und diese »aufzuregen« vermag.311 Für Schleiermacher ist klar, »daß jedem Antrieb eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins [. . . ] zum Grunde liegt«.312 Das Gefühl fundiert und orientiert das Handeln des Menschen.313 Daher gilt auch umgekehrt, dass »ein Äußeres durch Gesichtsausdruck, Gebärde, Ton und mittelbar durch das Wort [. . . ] anderen eine Offenbarung des Inneren« wird.314 Auch die Fähigkeit, das Handeln zum Ausdruck des Gefühls werden zu lassen, ist demnach eine Frage der Bildung.

308 B IRKNER : Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems (wie Anm. 307), 105. 309 S CHLEIERMACHER : Die christliche Sitte (wie Anm. 81), 291ff. 310 Ebd., 97ff. Vgl. dazu auch B IRKNER : Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems (wie Anm. 307), 105, und Eilert H ERMS: Schleiermachers Christliche Sittenlehre, in: Wilfried H ÄRLE/Bernd-Michael H AESE/Kai H AN SEN /Eilert H ERMS (Hrsg.): Systematisch praktisch. Festschrift für Reiner Preul zum 65. Geburtstag, Marburg 2005, 113–172. 311 CG I, § 3.4, 19. 312 Ebd., § 3.4, 21. Vgl. auch ebd., § 6.2, 42: »das Gefühl [. . . ] so wie es auf der anderen Seite in Gedanken und Tat übergeht«. Schleiermacher betont die Bestimmtheit des Gefühls, wenn er sagt, »daß unter Gefühl weder etwas Verworrenes gedacht werden soll noch etwas Unwirksames, da es einesteils in den lebendigsten Augenblicken am stärksten ist, und allen Willensäußerungen mittelbar oder unmittelbar zum Grund liegt, andernteils auch von der Betrachtung ergriffen und als das was es ist gedacht werden kann« (ebd., § 3.5, 23). 313 Deswegen ist die Vernunft auch eine »fundierte Funktion« und keine »fundierende«: R EDEKER: Einleitung des Herausgebers (wie Anm. 255), XXV. 314 CG I, § 6.2, 42.

5. Kapitel

Fazit: Sein und Gefühl unter der Bestimmung von Bildung

Um die Einsichten der beiden bisherigen Kapitel zum Verhältnis zwischen Sein und Bildung einerseits,1 und zu Gefühl, Religion und Bildung andererseits zusammenzufassen,2 wird im Folgenden das Verhältnis zwischen Gefühl und Sein und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Verständnis der höchsten Wissenschaft beschrieben. Dann können die Pointen von Schleiermachers Verständnis von Bildung hinsichtlich des Seins und des Gefühls dargelegt werden.

5.1 Gefühl und Sein Schleiermachers Seinsverständnis und seine Gefühlstheorie sind eng aufeinander bezogen und lassen sich nur wechselseitig verstehen. Das Gefühl ist eine Bezogenheitsweise des Menschen, und gehört damit selbst zum Sein. Auch das Gefühl lässt sich daher nur im Horizont der allgemeinen Züge des Seins verstehen. Das Gefühl ist zugleich aber auch diejenige Bezogenheitsweise des Menschen, die ihm den Zugang zum Sein überhaupt erst eröffnet. Erst durch das dauernde Erleben leiblich-szenischer Dauer ist die Bedingung der Möglichkeit eines Bezugs auf das Ganze des Seins gewährleistet, weswegen das Gefühl die schlechthin grundlegende Bezogenheitsweise des Menschen ist. Daraus folgt, dass Schleiermachers Gefühlstheorie und sein Seinsverständnis nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, weil sie zwei Aspekte ein und derselben Sache darstellen, nämlich das Erscheinen des eigenen Bezogenseins für den Menschen. Damit wird deutlich, was als einer der Hauptunterschiede zur Philosophie Kants bezeichnet werden kann: Während Kants Epistemologie von einem ursprünglichen Geschiedensein von Subjekt und Objekt ausgeht,3 beschreibt Schleiermacher den Menschen von dessen ursprünglichem Bezogensein 1

Vgl. Abschnitt 3.: »Sein und Bildung« ab S. 31. Vgl. Abschnitt 4.3.: »Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre« ab S. 88. 3 Vgl. dazu Kants Rede vom Ding an sich: K ANT : Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 6), B 344f., B 522. 2

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Kapitel 5 Fazit: Sein und Gefühl unter der Bestimmung von Bildung

her.4 Für dieses Bezogensein hat der Mensch ein Gefühl, das das Bezogensein als »Wahrheit unseres Daseins« präsentiert.5 Schleiermachers Einsicht kann also auch so beschrieben werden, dass am eigenen Bezogensein zwar dessen Gegebenheitsweise und einzelne Gegenstände unterschieden, beide Aspekte aber nur sinnvoll bestimmt werden können, wenn man sie als wechselseitige Bezugsgrößen versteht. Eine Beschreibung des Seins als das, worauf der Mensch bezogen ist, kann nicht absehen von der Weise, wie das Bezogensein verfasst ist. Und umgekehrt kann die eigene Bezogenheitsweise auf Sein nicht beschrieben werden ohne Inanspruchnahme einer Beschreibung des Seins. Dies hat Folgen für das Verständnis der Wissenschaftstheorie Schleiermachers und der darin begegnenden höchsten Wissenschaft. In der Schleiermacher-Forschung wird die Frage diskutiert, ob der Dialektik oder der Psychologie der Status der höchsten Wissenschaft zukommt.6 Die Dialektik bietet in ihrem ersten, transzendentalen Teil eine Beschreibung der systematischen Verfassung des Seins. Dagegen umfasst die Psychologie oder die Seelenlehre Ansätze zu einer Erfassung des menschlichen Erlebens, von der gilt: Sie »wird bei Logik, Ethik und Physik vorausgesezt«.7 Der hier vorgelegten Interpretation zufolge ist diese Alternative zwischen Dialektik und Psychologie aber nur eine scheinbare. Auszugehen ist eher von einer Art doppelten höchsten Wissenschaft. Denn die Möglichkeitsbedingung einer Theorie des Seins lässt sich nicht ohne Inanspruchnahme eines Vorverständnisses des Seins beschreiben; genauso wenig kann eine Beschreibung des Seins die Gegebenheitsweise ihres Gegenstandes ausblenden. Es gibt also keine belastbaren Ergebnisse des transzendentalen Teils der Dialektik ohne eine zu Grunde gelegte Psychologie. Aber auch eine Psychologie ist nur möglich als sprachliche Beschreibung menschlichen Seins und setzt damit ein Seinsverständnis voraus. Dieses Verständnis der höchsten Wissenschaft als einer duplizitär verfassten passt auch zu Schleiermachers an anderen Stellen vertretener Position, nach der er einen absoluten Anfang des Denkens verwirft und dagegen eine, dem eigenen immer schon im Werden befindlichen Bezogensein, entsprechende Methode setzt, nämlich das »oszillierende Verfahren«. 4

Vgl. H ELLER: Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), 121. Vgl. zum »höheren Realismus« Schleiermachers auch KÖNIG: Unendlich gebildet (wie Anm. 84), 145– 156. 5 CG I, § 65.2, 354. 6 Dabei versteht Eilert Herms die Psychologie als die höchste Wissenschaft, vgl. Eilert H ERMS: Die Bedeutung der »Psychologie« für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 173–199, wohingegen Andreas Arndt der Dialektik diesen Status zuspricht: Vgl. Andreas A RNDT: Rez. zu »Martin Diederichs: Schleiermachers Geistverständnis; Dorothee Schlenke: Geist und Gemeinschaft«, in: Theologische Literaturzeitung 126 (2001), 813–816. 7 Psychologie, C, 530. Vgl. dazu auch H ERMS : Die Bedeutung der »Psychologie« für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher (wie Anm. 6), 192.

5.2 Bildung als Bestimmung des Seins

115

Auch im Falle der Bildung ist es so, dass Schleiermacher die Bildung des Menschen nicht isoliert zum Thema macht, sondern das Geschehen von Bildung bereits im Sein identifiziert und die menschliche Bildung als Variation von Bildung überhaupt begreift. Auf diese Weise ist das von Schleiermacher als »kritisch« bezeichnete Verfahren möglich, um ein Verständnis von gebildetem Menschsein zu gewinnen, denn der allgemeine Charakter von Bildung und die spezifische Variation von Bildung am Ort des Menschseins können wechselseitig aufeinander bezogen werden.

5.2 Bildung als Bestimmung des Seins Sein begegnet nach Schleiermachers Verständnis zunächst nur in der Gestalt von Individuen, die jeweils als Bildungsprozess verfasst sind. Um verstehen zu können, was Bildung ist, muss Schleiermachers Verständnis der allgemeinen Bedingungen individueller Bildungsprozesse – die Aussagen der Ethik, der Reden und der Glaubenslehre zusammenfassend – dargelegt werden. Individuelles Seiendes weist eine Spannung auf, nämlich die zwischen der individuellen Gestalt seines Bezogenheitsgefüges als »Natur«, und der »Vernunft« als dem organisierenden Zentrum dieses Gefüges; die jeweilige Vernunft begründet die Art und Weise, wie die einzelnen Bezogenheiten zueinander in Beziehung gesetzt und miteinander vermittelt werden.8 Individuelles Seiendes tritt aber nicht schlechthin individuell auf, sondern nur als Variation einer bestimmten Gattung, weswegen Sein unter dem Gegensatz von Individualität und Identität steht und diesen Gegensatz jeweils individuell variiert.9 Eine Gattung entsteht dann, wenn ein neues Werdeprinzip in den Prozess des Seins eintritt. Damit hat das Auftreten einer neuen Gattung den Charakter eines Sprunges, der nicht auf eine bereits bestehende Gattung zurückgeführt werden kann. Diesem neuen Werdeprinzip kommt eine relative Dominanz über die Werdeprinzipien früherer Stufen zu. Die Bestimmung des Seienden besteht nun darin, dass die relative Dominanz zu einer vollständigen Dominanz wird und das Seiende so im Einklang mit dem entsprechenden Gattungsgesetz steht. Jeder Bildungsprozess ist darauf hin angelegt, dass er zum individuellen Ausdruck des Werdeprinzips der Gattung wird. Der sinnlich erfassbare Bildungsprozess von Seiendem ist es also, der das Ausdrucksmedium der verborgenen Spontaneität und ihrem Vermögen ist, das eigene Bezogensein gemäß dem Werdeprinzip der Gattung zu gestalten. Dies gilt nicht nur für den Menschen, sondern auch für vorangegangene Stufen des Seins, also für das animalische und vegetative Werden. Über dieses prozessuale Verständnis des Seins und die konstitutive Spannung zwischen Individuum und Gattung wird es Schleiermacher möglich, das Verhältnis 8 9

Vgl. Abschnitt 3.1.: »Der höchste Gegensatz im Sein« ab S. 32. Vgl. Abschnitt 3.2.: »Die größte Verschiedenheit des Umfangs im Sein« ab S. 43.

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Kapitel 5 Fazit: Sein und Gefühl unter der Bestimmung von Bildung

zwischen Sein und Sollen neu zu bestimmen.10 Der Annahme eines vermeintlichen Fehlschlusses von einem Sein auf ein Sollen liegt ein Verständnis des Seins zugrunde, das Sein als eine einzelne, meist akzidentielle Bestimmtheit eines individuellen Seienden versteht. Eine solche einzelne Bestimmtheit wie etwa eine bestimmte Vorliebe oder eine bestimmte biographische Prägung kann in der Tat keinen orientierenden Grund für ein Sollen liefern. Schleiermacher versteht das Sein aber über die empirische Bestimmtheit hinaus als etwas, das allgemeinen, gattungsspezifischen Bedingungen unterliegt, wodurch Sein auch situationsinvariante Merkmale aufweist. Diese gattungsspezifischen Bedingungen sind es, denen das individuelle Seiende zu entsprechen hat, wenn sein Umgehen mit dem eigenen Bezogensein gelingen und nicht scheitern soll. Deswegen hat das Sein auch »anmuthenden«, attraktiven und motivierenden Charakter, und begegnet als Sollen. Unter diese Bedingungen zählt Schleiermacher nun auch den Richtungssinn eines Lebens, der sich aus Gattungszugehörigkeit und Individualität ergibt und der darin besteht, dass das gattungsspezifische Werdeprinzip zur Dominanz gelangt. Das Gerichtetsein eines Individuums kommt also nicht erst durch dessen Wollen zustande, sondern dieses ist eingebettet in ein ursprüngliches Bewegtsein des Individuums. Worin genau das Werdeprinzip einer Gattung besteht und worauf die Individuuen einer Gattung ausgerichtet sind, ist aufgrund von dessen Gegebenheitsweise bleibend strittig: Hierbei handelt es sich nicht um einen sinnlich fassbare Realität, sondern um die nur erfahrbaren Bedingungen des eigenen Seins.11 Zwischen Sein und Sollen besteht deswegen kein unüberbrückbarer Gegensatz, weil das Sein nicht auf seine empirische Seite beschränkt verstanden wird, sondern aus einem Gefüge von gerichteten Variationskorridoren aufgebaut ist. Gattungen sind darüber hinaus nicht an und für sich bestimmbar, sondern werden als relationale Größen verstanden, die sich angemessen nur durch ihr Bezogensein auf andere Gattungen begreifen lassen. Dieses Verständnis von individuellem Seiendem im Horizont einer Gattung hat nun Folgen für das Verständnis von Bildung. Individuelle Bildungsprozesse stehen erstens stets vor der Alternative, dem gattungsspezifischen Variationskorridor und dessen Richtungssinn zu entsprechen oder nicht. Die zweite Alternative ergibt sich aus der Spannung von äußerer Gestaltung des Bezogenseins und der verborgenen Vernunft – auch hier können sich innere und äußere Seite in unterschiedlichem Maße entsprechen. Ob also das Werden eines Individuums den Charakter von Bildung oder Missbildung hat, bedarf einer Sicht auf das Verhältnis von verborgener Vernunft und äußerer Gestaltung einerseits, und auf das Verhältnis von gattungsspezifischem Variationskorridor und dessen Richtungssinn andererseits. Bildung ist bei Schleiermacher daher auch ein kritischer Begriff. 10

Vgl. Abschnitt 3.3.: »Bildung innerhalb des Seins« ab S. 47. Im Falle des Menschen sieht Schleiermacher das Werdeprinzip im selbstbewussten Werden, das auf das Dominiertwerden durch das Gottesbewusstsein angelegt ist. 11

5.3 Bildung als Bestimmung des Gefühls

117

5.3 Bildung als Bestimmung des Gefühls Menschsein ist eine Form des Seins, weswegen das Spezifikum menschlicher Bildung nur vor dem Hintergrund der Bildung im Sein angemessen erfasst werden kann. Die Individualität eines Menschen ergibt sich aus dem Verhältnis von Bezogenheitsgefüge und dessen organisierendem Zentrum, das dem Gestaltgewinnen dieses Bezogenseins zugrunde liegt. Dieses organisierende Zentrum ist wesentlich bestimmt durch das Gefühl eines Menschen.12 Das »Gefühl« ist nach der vorgelegten Interpretation nicht zu begrenzen auf einzelne Gefühle. Es beschreibt vielmehr die allgemeine Form, wie der Mensch sein eigenes Bezogensein erlebt: Nämlich im dauernden Erleben bestimmter leiblich-szenischer Dauer. Das komplexe Wahrnehmen des eigenen dauernden Bezogenseins, das noch nicht begriffsbasiert ist, ist Fühlen. Es ist damit nicht nur ein Fühlen des eigenen Bezogenseins, wie es sich ergeben hat, sondern auch ein Gefühl für die Möglichkeiten des eigenen Bezogenseins.13 Darüber hinaus richtet sich das Gefühl aber nicht nur auf einzelne Konstellationen des eigenen Bezogenseins, sondern auch auf das Menschsein als Ganzes. Sein Gefühl ist also nicht nur situatives Gefühl, sondern auch auf situationsübergreifende Wahrheit hin angelegt.14 Dabei ist dieses Gefühl selbst bildungsfähig und -bedürftig. Schleiermacher beschreibt das Zustandekommen eines derartigen Wahrheitsgefühls durch den Terminus »Totaleindruck«.15 Andere Personen können so erlebt werden, dass nicht nur ihr Leben als Ausdruck des sie treibenden Wahrheitsgefühls deutlich wird, sondern dieses Leben kann erlebt werden als Einklang zwischen dem Leben der begegnenden Person und der Bestimmung und Verfassung des Menschseins überhaupt. Das Gebildetwerden des eigenen Gefühls durch Totaleindrücke anderer Menschen ist prinzipiell unabschließbar. Schleiermacher geht allerdings davon aus, dass Totaleindrücke unterschiedliche Grade der Übereinstimmung mit den Bedingungen und der Bestimmung des Menschseins aufweisen können. Stets begegnet im Totaleindruck Wahrheit, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß mit Irrtum vermischt. Derjenige Totaleindruck, der unüberbietbar ist, kann nur vom »Urbild« ausgehen, vom wahren Menschen. Dieses Gefühl für das wahre Menschsein ist es, das den Horizont für alle einzelnen Konstellationen des eigenen Bezogenseins und die damit verbundenen Gefühle zu bilden vermag und diese in einen bestimmten Zusammenhang bringt. Auf diese Weise – durch das Zusammensein von Bestimmungsgefühl und leiblichsittlichen Gefühlen – entstehen dann auch die religiösen oder Frömmigkeitsgefühle

12 Wesentlich, aber nicht vollständig bestimmt ist der Mensch durch sein Gefühl deshalb, weil nach Schleiermacher auch von einem Einfluss des Denkens auf das Handeln auszugehen ist. 13 Vgl. Abschnitt 4.1.1.: »›Leibliches‹ und ›sittliches‹ Gefühl« ab S. 60. 14 Vgl. Abschnitt 4.1.2.: »›Religiöses‹ Gefühl« ab S. 63. 15 Vgl. Abschnitt 4.3.3.: »In der Einleitung der Glaubenslehre« ab S. 99.

118

Kapitel 5 Fazit: Sein und Gefühl unter der Bestimmung von Bildung

wie Ehrfurcht, Demut, Reue, Dankbarkeit und Liebe.16 Dieses komplexe Erleben des eigenen Bezogenseins im Gefühl ist nun das, was auch den reflektierenden und gestaltenden Umgang mit dem eigenen Gestaltgewinnen ausrichtet. Daher findet das Gefühl im Gestaltgewinnen des eigenen Bezogenseins seinen Ausdruck. Das Ereignis der Bildung des Gefühls ist deswegen so bedeutsam, weil es in individueller Weise den Richtungssinn der ganzen Gattung gefühlsmäßig zugänglich macht und das organisierende Zentrum eines Menschen prägt. So vermag es nicht nur zum »Zentralgefühl« zu werden, das das weitere Erleben und Fühlen in ein bestimmtes Licht rückt, sondern es führt auch dazu, dass das weitere Gestaltgewinnen zum Ausdruck des Gefühls für wahre Bildung zu werden vermag. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit richtet sich auf die Bedingungen und die Bestimmung des Menschseins, und vermittels dessen auf Transzendenz als den Ursprung dieser Bedingungen und dieser Bestimmung. In ausgezeichneter Verbindung steht dieser Typus des Bildungsereignisses mit den Religionsstiftern, die als Menschen erlebt werden, in denen die von Gott gesetzte Verfassung und Bestimmung im Einklang steht mit dem individuellen Gestaltgewinnen. Deutlich ist damit, dass sich das religiöse Gefühl auf Bildung bezieht; nämlich auf den Bildungsprozess einer individuellen Person, der im Einklang mit dem Richtungssinn der menschlichen Gattung steht. Damit ist das religiöse Gefühl auch über die Gattung hinaus verwiesen, da es nicht die Gattung selbst sein kann, die sich ihren Richtungssinn gegeben hat. Die Christologie ist damit genau nicht »die große Störung in Schleiermachers Glaubenslehre«,17 sondern im Gegenteil deren Ausgangs- und Zielpunkt. Schleiermacher sieht also wohl eine Spannung, aber keinerlei Widerspruch darin, dass einerseits die Verfassung und Bestimmung des Menschseins nur in individueller Form manifest und auch zugänglich wird, dass sich aber andererseits in individueller Form die universale Wahrheit über den Menschen und damit auch über deren transzendenten Grund vergegenwärtigen kann.18 Dies ist der Grund dafür, dass Schleiermacher den christlichen Glauben an Jesus von Nazareth als den inkarnierten λìγοσ nicht als paradox oder kontrafaktisch bezeichnete, sondern Christusglaube und philosophisches Seinsverständnis nur zwei Betrachtungsweisen ein und derselben Wirklichkeit sind. Dementsprechend schreibt Schleiermacher in seinem berühmten Brief an Jacobi vom 30. März 1818: 16 Thorsten D IETZ : Emotions between Body and Mind. Philosophy of Emotion and Schleiermacher’s Concept of Feeling, in: Interpreting Religion, Tübingen 2011, 19–36, 33f., bezeichnet einzelne Gefühle wie Dankbarkeit und Liebe als »the essence of religion« – dies verkennt m. E. aber, dass sich derartige Gefühle nur im Zusammenspiel mit einem Gefühl für das wahre Menschsein ergeben können. 17 Karl BARTH : Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 3 1960, 385. 18 Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Georg H ARDECKER : Bildung und Wahrheit. Das Gebildetwerden des religiösen Gefühls als Zugang zum Wahrheitsverständnis Schleiermachers, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hrsg. v. Jörg D IER KEN /Arnulf von S CHELIHA , Berlin und New York 2017, 131–149.

5.3 Bildung als Bestimmung des Gefühls

119

»Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen, sich nicht zu widersprechen, aber eben deshalb wollen auch beide niemals fertig sein, und, so lange ich denken kann, haben sich beide immer gegenseitig aneinander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert«.19

Das Gefühl des Menschen ist dazu bestimmt, der Wahrheit menschlicher Bildung mittels eines Totaleindrucks ansichtig zu werden, alles Bezogensein im Lichte dieser Wahrheit zu erleben und in der Gestaltung des eigenen Bezogenseins zum Ausdruck zu kommen: Bildung ist demnach Eindruck und Ausdruck der Religion.

19

Briefe, 338.

Teil II

Gebildetes Menschsein und die Bedeutung der Religion

6. Kapitel

Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion

Bislang wurde nachgezeichnet, inwiefern Sein nach Schleiermachers Verständnis als ein Gefüge von Bedingungen verfasst ist, innerhalb dessen sich individuelle Bildungsprozesse vollziehen. Unter diese Bedingungen fällt nun nicht nur der strukturelle Aufbau eines Seienden und die Weise seines Prozedierens, sondern auch dessen teleologisches Ausgerichtetsein.1 Der Begriff des Korridors eignet sich deswegen am besten, um denjenigen Raum zu beschreiben, innerhalb dessen sich Bildungsprozesse vollziehen, da dabei das Moment des Richtungssinns mit angesprochen ist. Dieses Verhältnis zwischen Bedingungsgefüge auf der einen Seite, und dem individuellen Bildungsprozess auf der anderen Seite ermöglicht nun auch Aussagen darüber, inwieweit ein Bildungsprozess seinen Bedingungen angemessen ist. Entsprechungsverhältnisse sind Verhältnisse von Wahrheit;2 deswegen besteht auch im Blick auf individuelle Bildungsprozesse die Möglichkeit wahrer Bildung.3 1 Teleologisches Denken ist im Rahmen des Bildungsdiskurses häufig Gegenstand scharfer Kritik. So schreibt Volker L ADENTHIN (Hrsg.): Philosophie der Bildung. Eine Zeitreise von den Vorsokratikern bis zur Postmoderne, Bonn 2007, 19: »Teleologische Konzepte aller Zeiten versuchten Freiheit und Autonomie des Menschen einzuschränken. Freiheit und Autonomie des Menschen seien begrenzt, weil für Wissen und Handeln von den Göttern, dem Kosmos, der Natur, der Geschichte oder der Gesellschaft gesetzte Ziele gälten.« Die Kritik geht erstens an der Intention teleologischer Konzepte vorbei: Diese sind nicht um einer Einschränkung menschlicher Freiheit und Autonomie willen verfasst, sondern meinen eben diese angemessen zu beschreiben, wenn sie auch deren Begrenztheit thematisieren. Zweitens versteht Ladenthin die Freiheit des Menschen selbst vor dem Hintergrund eines dem Menschsein immanenten Zieles. Die Bildung des Menschen, verstanden als die Lage eines Menschen, in der seine Entscheidungen an Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn gebunden sind, ist seiner Ansicht nach das Ziel menschlicher Existenz (vgl. ebd., 212, a.a.O., 24). Zur Gebundenheit von Bildung an eine Gewissheit über die Bestimmung des Menschen vgl. auch S CHWEITZER: Bildung (wie Anm. 7), 145–155. 2 Vgl. Eilert H ERMS : Art. »Wahrheit/Wahrhaftigkeit V. Systematisch-theologisch«, in: TRE 35 (2003), 363–378, der die Rede von der »adaequatio rem ad intellektum« aufgreift, und zwischen vorgegebener »Sachwahrheit« und der dieser potentiell angemessenen »Verhaltenswahrheit« unterscheidet. 3 Auch Reiner Preul weist darauf hin, dass Bildung auch misslingen kann, vgl. P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 77. Ebenso hat BAUER: Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 164, die Möglichkeit und Realität der »Un-

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Kapitel 6 Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion

Im Gefühl kann eine individuelle Bildungsgestalt menschlichen Lebens als die angemessene und wahre erlebt werden – dies begründet die besondere Prägung der Religiosität eines Menschen. Und dieses Erleben von Wahrheit, das durch einen Totaleindruck vermittelt ist, ermöglicht es, das eigene Handeln in ein Verhältnis zur Entsprechung zur als wahr erlebten Bildungsgestalt menschlichen Lebens zu bringen und das eigene Handeln so zum Ausdruck des eigenen Wahrheitsgefühls werden zu lassen. Bildung ist also Eindruck und Ausdruck der Religion. Vor dem Hintergrund der Verhältnisbestimmung von Sein und Religion kann nun ein genauerer Blick auf den Menschen gerichtet werden. Wann kann mit Bezug auf den Menschen von wahrer Bildung gesprochen werden? Diese Frage begegnete bereits oben in Teil I, und kann nun ausführlicher beantwortet werden. Dabei ist die bereits erarbeitete Einsicht Schleiermachers aufzugreifen, dass wahre Bildung in der Übereinstimmung zwischen dem Bildungsprozess und seinen Bedingungen besteht. Schleiermachers Theorie menschlicher Bildung kann daher so entfaltet werden, dass nach dem Werden des Menschen und dessen Bedingungen gefragt wird. Einen Zugang zu Schleiermachers Bildungstheorie eröffnet also die Frage nach diesen Bedingungen des Menschseins. Das Proprium menschlichen Lebens kann nach Schleiermacher in der Art und Weise erkannt werden, wie dieses das Werden insgesamt variiert.4 Alles Werden vollzieht sich als Wirken der Vernunft auf die Natur und besitzt wie bereits weiter oben dargestellt drei gleichursprüngliche Momente.5 Werden basiert auf einer bestimmten Einigkeit von Natur und Vernunft und resultiert in einer veränderten Bestimmtheit derselben. Der Impuls zu dieser Veränderung geht von der Vernunft aus, die sich auf das jeweils bestimmte Bezogenheitsgefüge richtet. Ausgangspunkt und Effekt des Wirkens ist also das Bezogensein eines Seienden, in dem ideale Vernunft und reale Natur stets neu miteinander vermittelt werden. Die Besonderheit des Menschseins besteht nun darin, wie der Menschen auf sein Bezogensein bezogen ist: Ihm ist sein ganzes Bezogensein im Gefühl auf individuelle Weise erschlossen. Dadurch wird nicht nur alles Sein zum Gegenstand des Handelns und damit zu »Natur«, sondern damit geht auch einher, dass auf der Seinsstufe der Menschheit sowohl die Individualität als auch die Universalität am stärksten ausgeprägt sind und ausgeprägt werden können.6 Das Sein des Menschen als Wirken der Vernunft auf die Natur ist nun der einheitliche Gegenstand der Ethik, von dem die Ethik eine »Anschauung« entwickelt.7 Der Gegenstand der Ethik ist damit zunächst kein Sollen, sondern ein Sein, das Schleiermacher in

bildung« angesprochen. Ebenso auch schon BARTH: Evangelium und Bildung (wie Anm. 9), 4, 13. 4 Einleitung Ethik (L.B.), § 116, 553. 5 Vgl. Abschnitt 3.1.3.: »Die unterschiedlichen Grade des Geeinigtseins« ab S. 41. 6 Vgl. Akademievortrag Höchstes Gut II, 663 Z. 18–24. 7 Einleitung Ethik (L.B.), § 1, 517: Jede Wissenschaft ist »Entwickelung einer bestimmten Anschauung«. Vgl. auch H ERMS: Reich Gottes und menschliches Handeln (wie Anm. 80), 102.

Kapitel 6 Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion

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dreierlei Hinsicht entfaltet, nämlich als Theorie der Güter, der Tugend und der Pflicht. Indem die Ethik so den dauernden Spielraum menschlichen Handelns beschreibt, ist sie keine Sollensethik wie die Entwürfe, die in der Tradition Kants stehen, sondern hat den Anspruch eine Theorie des »wirkliche[n] Handeln[s]« zu sein.8 Sie richtet sich ausdrücklich nicht auf bloß mögliches Handeln in der Form von Geboten,9 und stellt damit einen grundlegend anderen Ansatz dar als den der Ethik Kants.10 Dadurch, dass alles Handeln aber stets in einem Verhältnis zu den Bedingungen des Handelns steht, bedeutet dies aber keinen Verzicht auf Normativität, sondern nur eine Klärung der Norm des Handelns. Diese Norm besteht im Menschsein selbst.11 Als ein Gefüge von Bedingungen bildet es einen weiten Korridor für menschliches Handeln. Dieses Menschsein als Verfassung des Handelns wiederum ist nur geschichtlich gegeben. Nach Schleiermacher ist daher die Ethik einerseits das »Formelbuch der Geschichte«, umgekehrt ist aber auch die Geschichte das »Bilderbuch der Ethik«.12 Die Geschichte als Folge variierender Zustände menschlichen Zusammenlebens ist nicht verständlich ohne ein Wissen um deren identischen Bedingungen, und die Ethik verliert ihren »Prüfstein«, wo sie auf die Anwendung ihrer Formeln auf die Geschichte verzichtet, und degeneriert zu einer »Nichtigkeit«.13 Dabei ist die Geschichte selbst in der Spannung von Individualität und Identität gegeben. Einheitlich ist Geschichte insofern, als sie sich innerhalb eines identischen Variationskorridors vollzieht, den die philosophische Ethik zu beschreiben sucht. Individuellen Charakter trägt die Geschichte deswegen, weil sie sich stets vollzieht als das Werden konkreter Formen des Zusammenlebens, die immer auch Ausdruck einer inhaltlich bestimmten Auffassung der conditio humana sind, auf die die Ethik ebenfalls reflektiert. Liegt der Fokus der Güterethik auf den regelmäßigen Formen des gemeinsamen Umgangs mit dem Bezogensein, so haben es Tugend- und Pflichtethik mit der individuellen Seite dieses Umgangs zu tun:14 sie thematisieren mit der Kraft des Einzelnen zur Teilnahme am gemeinsamen Umgang die Tugend, und mit dem Handeln als Vermittlung zwischen Einzelnem und Zusammenleben, dem

8

Einleitung Ethik (L.B.), § 95, 545. Ebd., § 95, 545. 10 Auch die theologischen Ethiken vor und neben Schleiermacher folgten hauptsächlich dem Schema der Pflichtethik, vgl. dazu B IRKNER: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems (wie Anm. 307), 142f. 11 Daher ist vor dem Hintergrund von Schleiermachers Denken der Titel der EKDDenkschrift zur Bildung in höchstem Maße treffend: EKD (Hrsg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 3 2005. 12 Einleitung Ethik (L.B.), § 108, 549. 13 Ebd., § 108, 549. 14 Vgl. ebd., § 118, 554. 9

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Kapitel 6 Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion

Anknüpfen an Bestehendes und dem Versuch, die gegenwärtige Situation zu verbessern, die Pflicht. Beide Seiten, das Zusammenleben wie der einzelne Mensch, verweisen wechselseitig aufeinander.15 Genauso wie Menschen nur im Kontext spezifischer Formen des Zusammenlebens und dessen Gewordensein auftreten und bestehen,16 gibt es umgekehrt keine empirische Gestalt des Zusammenleben, das sich nicht der Interaktion einzelner Menschen verdanken würde.17 Das »Setzen und Aufheben der Persönlichkeit zieht sich durch alle Güter«.18 Beide Aspekte können also nur für die wissenschaftliche Betrachtung isoliert werden, stellen aber letztlich Momente einer umfassenden Einheit dar, und diese Einheit ist das Menschsein. Bildung beschreibt nun sowohl das Gestaltgewinnen einzelner Menschen als auch das von sozialen Formen. Bildung ist damit eine individualanthropologische wie sozialethische Größe bei Schleiermacher. Darüber hinaus berücksichtigt Schleiermacher in eigener Weise diejenigen Prozesse, die der Vermittlung zwischen den einzelnen Menschen und dem Zusammenleben dienen, und widmet sich dieser Vermittlungsarbeit in seinen pädagogischen Überlegungen. Dabei geht es vor allem um den Übergang des Einzelnen in das Zusammenleben. Auch die Begleitung dieses Übergangs ist Bildung. Bildung beschreibt damit auch das Gestaltgewinnen der institutionellen Vermittlung zwischen Einzelnem und Zusammenleben. Seinen institutionellen Ort im Zusammenleben hat diese Hilfestellung im Erziehungs- und Bildungswesen. Albert Reble hat Schleiermachers Pädagogik als »Spiegel der Sphärengliederung« verstanden, ein Urteil, das den Charakter der Vermittlung unterstreicht.19 Die Bildung des Menschseins vollzieht sich damit in dreifacher Gestalt. Sie umfasst das Gestaltgewinnen von sozialen Formen, von einzelnen Menschen und der pädagogischen Vermittlung zwischen Einzelnem und Zusammenleben. Bildung ist daher im Folgenden sozialethisch, individualanthropologisch und pädagogisch zu entfalten. Die Besonderheit von Schleiermachers Bildungsverständnis besteht darin, dass es einen kritischen Sinn aufweist. Alle Bildungsprozesse können ihren Bedingungen mehr oder weniger angemessen sein. Daher können aus dem Handeln des Menschen auch Gestaltungen des Bezogenseins hervorgehen, die den Charakter von Missbildungen haben. Schleiermacher spricht im Hinblick auf die vormenschlichen Seinsstufen von Abweichungen, die als Missbildungen nicht 15 Auch Bruno L AIST : Das Problem der Abhängigkeit in Schleiermachers Anthropologie und Bildungslehre (Kölner Arbeiten zur Pädagogik), Ratingen bei Düsseldorf 1965, 13, verweist auf die unhintergehbare Relationalität des Menschen. 16 Vgl. Miriam ROSE : Schleiermachers Staatstheorie, Tübingen 2011, 276: »Die jeweiligen Kultursphären sind in ethischer Hinsicht dem Einzelnen vorgeordnet«. Ebenso W INKLER: Geschichte und Identität (wie Anm. 31), 101. 17 Vgl. ebd., 102ff. 18 Albert R EBLE : Schleiermachers Kulturphilosophie. Eine entwicklungsgeschichtlich-systematische Würdigung, Erfurt 1935, 182. 19 Ebd., 215.

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mehr als Bildung anzusprechen sind.20 Der kritische Sinn von Schleiermachers Bildungsverständnis kann dadurch genauer entfaltet werden, indem diejenigen Bedingungen genauer in den Blick gefasst und entfaltet werden, unter denen das menschliche Werden steht, die aber selbst nicht durch menschliches Handeln gesetzt werden. Diese Bedingungen umfassen das ursprüngliche Geeinigtsein von Natur und Vernunft, den darin angelegten Richtungssinn des Werdens, dessen organisierendes Zentrum sowie die Weise des Prozedierens, und treten in sozialethischer, individualanthropologischer und pädagogischer Hinsicht jeweils unterschiedlich in Erscheinung. Ausgehend von Schleiermachers Beschreibung der ursprünglichen Einigkeit von Natur und Vernunft und der damit verbundenen Interaktionsweisen ergibt sich das Kriterium der Ausdifferenzierung des Bezogenseins: Angemessene und damit wahre Bildung liegt dort vor, wo sich das Bezogensein und die Bezugnahme auf es ausdifferenziert. Schleiermacher nennt dies auch die »extensive Entwickelung des Geistes«.21 Im Ausgang von Schleiermachers Beobachtung, dass alles Werden unter der Bedingung eines organisierenden Zentrums steht und einen Richtungssinn aufweist, ergibt sich eine weitere Präzisierung wahrer Bildung. Alle Formen der Ausdifferenzierung sind nur dann ein Kennzeichen wahrer Bildung, wenn sie zugleich in ein Ganzes reintegriert werden. Schleiermacher bezeichnet dies als die »intensive Entwickelung des Geistes«.22 Es gibt demnach keine wahre Bildung ohne eine integrierende Einheit der ausdifferenzierten Bezüge.23 An dieses Kriterium des Organismusbezugs schließt sich ein weiteres Kriterium wahrer Bildung an, nämlich das Kriterium des Religionsbezugs menschlichen Handelns. Dasjenige Prinzip, das die Besonderheit des Menschseins im Vergleich mit den anderen Seinsstufen konstituiert, ist das Gefühl, durch das dem Menschen sein Bezogensein umfassend zu Bewusstsein kommt. Dadurch kann dem Menschen nun auch die Relativität des eigenen Handelns zu Bewusstsein, die sich daraus ergibt, dass alles Handeln unter Bedingungen stattfindet, denen Handeln mehr oder weniger entsprechen kann. Ohne ein solches Bewusstsein für die Bedingungen menschlichen Handelns, für die vor allem Handeln gesetzten Möglichkeiten und Grenzen für Handeln, kann nicht von wahrer Bildung gesprochen werden. Der Religionsbezug der Bildung ergibt sich aber darüber hinaus noch aus dem Wahrheitsbezug der Bildung: Eine Entsprechung von Bildung und ihren Bedingungen ist grundsätzlich möglich. Die Lebensgestalt eines Menschen kann demnach wahr sein und wahr werden. Im Erleben eines Totaleindrucks, der einer positiven Religion ihr spezifisches Gepräge verleiht, wird nun genau eine solche wahre Bildungsgestalt erlebt. Damit ist nun aber auch die Möglichkeit eröffnet, das eigene Leben zum Ausdruck der erlebten Wahrheit werden zu lassen. Das letzte 20

Vgl. Akademievortrag Naturgesetz und Sittengesetz, 448 Z. 13–18. Pädagogik 1820/21, 447 Z. 8f. 22 Ebd., 447 Z. 10f. 23 Fertigkeiten und Gesinnung müssen »gegenseitig durch einander gestimmt« sein, vgl. Pädagogik 1826, 634. 21

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Kapitel 6 Einleitendes zu Menschsein, Bildung und Religion

Kriterium wahrer Bildung besteht deswegen darin, dass die Ausdifferenzierung und Einheit des Bezogenseins, genauso wie der Sachverhalt des grundsätzlichen Bedingtseins durch das Wahrheitserleben geprägt werden und die Lebensgestalt zum Ausdruck der Religion wird. Im Folgenden sind jeweils die spezifischen Bedingungen sozialethischer, individualanthropologischer und pädagogischer Bildung nachzuzeichnen, um dann jeweils nach dem kritischen oder normativen Sinn von Bildung zu fragen.

7. Kapitel

Gebildetes Zusammenleben

Schleiermachers Güterethik kann mit Ulrich Barth als der Versuch verstanden werden, das altprotestantische Stände-Modell durch eine der Gegenwart adäquatere Theorie zu ersetzen.1 Diese wurde in der Forschung als »Kulturphilosophie«2 , als »Gesellschaftstheorie«3 oder »Strukturtheorie der Geschichte«4 beschrieben. Solange dies nicht dazu führt, dass Schleiermachers Güterlehre nicht mehr als Ethik verstanden und damit auch ihre normative Dimension übersehen wird,5 kommt dadurch eine wichtige Pointe von Schleiermachers Ethik zum Ausdruck: Zur Ethik gehört unverzichtbar der Aspekt der »verwirklichten Sittlichkeit« im menschlichen Zusammenleben.6 Damit liegt eine Abgrenzung zu den Ethiken Kants und Fichtes vor, insofern diese keine Theorie des gemeinsamen Handelns der Menschen bieten. Dadurch fallen aber ethische Theorie und die Wirklichkeit des Handelns insofern auseinander, als sich Handeln immer in einem sozialen Horizont vollzieht, und auch die Folgen des Handelns stets eine soziale Dimension haben. Dieses Auseinanderklaffen von Theorie und ihrem Gegenstand ist ein Problem, das Schleiermacher durch seine Güterethik zu lösen versucht.7 Die Kantische und Fichtesche Ethik mit ihrer Fokussierung auf das einzelne Subjekt und dessen Handeln unter Absehung des sozialen Kontexts und den sozialen Effekten des Handelns hatte darüber hinaus keinen deskriptiven Charakter, vielmehr wurde das Sittliche als das Gesollte 1

Vgl. BARTH: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 298f. 2 R EBLE : Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18). 3 Kurt N OWAK : Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 515. 4 Wilhelm G RÄB : Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980, 43ff. 5 Vgl. Michael M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers, Kampen 1992, 193, der feststellt, dass Albert Reble die »normative Struktur des Organismusbergiffs« unterschätzt und deswegen von »Kulturphilosophie« spricht. 6 S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 103. 7 Vgl. Friedrich S CHLEIERMACHER : Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung. Gelesen am 17. Mai 1827, in: KGA I/11, 537–553 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Höchstes Gut I), hier 537–544. Vgl. R EBLE: Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 6–10. Vgl. S CHOLTZ: Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 116, 119.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

beschrieben.8 Auch darin unterscheidet sich Schleiermachers Entwurf von den beiden wirkmächtigen Philosophen, indem sie den beschreibenden Charakter der Ethik akzentuiert, und dies gerade auch für die Theorie des Zusammenlebens in Anspruch nimmt. Ein weiterer Unterschied zu Kant und Fichte ist mit Gunter Scholtz darin zu sehen, dass Sittlichkeit bei Kant und Fichte nur dem übertragbaren, identischen Handeln zukommt, sodass alle Tätigkeiten, »die nicht in höchster Allgemeinheit bestimmbar sind, aus der Ethik heraus[fallen]«.9 Das Individuelle gehört bei Kant und Fichte nicht in den Raum des Sittlichen. Schleiermacher dagegen sieht in Übereinstimmung mit dem Denken der Romantik das Individuelle als konstitutiven Aspekt der Sittlichkeit an. Dass Schleiermacher im Zusammenhang mit dem Zusammenleben von Bildung spricht und dass im Folgenden die Bildung des Zusammenlebens näher ausgeführt werden soll, könnte nun zunächst den Einwand provozieren, dass Bildung nach Schleiermachers Verständnis doch lediglich an Individuen stattfinde. Wie kann Schleiermacher dann in konsistenter Weise von »Bildungsgebieten« sprechen, die sich anscheinend im Kontext des Zusammenlebens zeigen?10 Dass es sich hierbei um einen bloß vermeintlichen Widerspruch handelt, wird an Schleiermachers Verständnis von Individuen oder Personen deutlich. Zu diesen zählt er nicht nur einzelne Menschen, sondern auch soziale Verbünde wie Familien und Völker, da diese ebenfalls ein »eigenthümliches Dasein«11 und ein »persönliche[s] Ganze[s]«12 darstellen, wie überhaupt alle Interaktionsgemeinschaften, denn: »Jedes beziehungsweise für sich bestehende Naturganze aber, in welchem [. . . ] die sich selbst gleiche und überall selbige Vernunft zu einer Besonderheit des Daseins wird, als zugleich Mittelpunkt einer eigenen Sphäre von Vernunftthätigkeiten und deren Wirkungen, zugleich aber auch Gemeinschaft anknüpfend, nennen wir eine Person«.13

Insofern also auch Gemeinschaften »Besonderheit« und damit eine »Persönlichkeit« zukommt,14 kommt auch einer Familie, einem Volk oder den Gütern wie dem Staat der Status einer »Person« zu.15 Mit dieser Betonung der Individualität knüpft Schleiermacher an Einsichten der Romantik,16 aber auch schon an vor-romantisches Denken an.17 Schon bei Herder wird nicht nur die Bedeutung 8

Vgl. S CHOLTZ: Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 119. Ebd., 102. 10 Akademievortrag Höchstes Gut II, 669. 11 Güterlehre (L.B.), § 71, 604. 12 Ebd., § 71, 605. 13 Akademievortrag Höchstes Gut II, 668. 14 Ebd., 668. 15 Vgl. zur Individualität der Gemeinschaftsformen S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 118. 16 Für die Position des Novalis vgl. S ENCKEL : Individualität und Totalität (wie Anm. 82), 114f. 17 R EBLE : Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 12ff. 9

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

131

des Zusammenlebens für die Entwicklung und das Handeln des Einzelnen betont, sondern auch die jeweilige Individualität von Gestalten des Zusammenlebens.18 Als besondere und damit individuelle Personen aber sind Interaktionsgemeinschaften auch als Bildungsprozesse verfasst und teilen deren Merkmale.19 Diese lassen sich zum einen durch die Struktur des Wirkens der Vernunft auf die Natur erfassen, durch die Eigenart des Handelns als Symbolisierendes oder Organisierendes, das entweder überwiegend übertragbaren oder individuellen Charakter aufweist. Zum anderen ist diese Beschreibung solange nicht vollständig, als nicht die Beschreibung der Bedingungen dieses Handelns oder Bildens ergänzt wird. Im Folgenden ist daher Schleiermachers Gütertheorie anhand der Bedingungen von Bildung darzustellen. Danach kann die kritische Dimension seines Bildungsverständnisses entfaltet werden, indem dargelegt wird, inwiefern die Bildung sozialer Formen ihren Bedingungen entsprechen oder zuwiderlaufen kann.

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter Bevor die Bedingungen für die Bildung von Gütern in den Blick gefasst werden können, ist kurz darzulegen, was Schleiermacher unter dem Terminus der »Güter« eigentlich begreift. Schleiermacher versteht das individuelle Handeln der Vernunft auf die Natur nicht isoliert, sondern als Manifestationen der einen Vernunft und deren »Gesammtwirkung«.20 Diese ergibt sich aber nicht einfach aus isolierten individuellen Handlungen, die addiert werden, vielmehr hat Handeln ursprünglich den Charakter geschichtlicher Interaktion,21 und ist als Zusammenhandeln zu beschreiben. Handeln ist gemeinsames Umgehen mit einem immer auch geteilten Bezogensein.22 In dieser Beschreibung des Handelns als Interaktion bündeln sich zwei Beobachtungen Schleiermachers. Erstens sieht Schleiermacher, dass das Zusammenleben aus der Perspektive des Einzelnen immer schon eine bestimmte Gestalt gewonnen hat, und jeder Mensch in bestimmte Formen des Zusammenlebens hineingeboren wird, in die der Heranwachsende dann – mehr oder weniger zustimmend – mittels seines Handelns eintreten kann. Zweitens beschreibt Schleiermacher den Effekt des Handelns als einen sozialen Effekt. Handeln resultiert nicht einfach in einer 18 Vgl. Johann Gottfried H ERDER : Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, hrsg. v. Hans Dietrich I RMSCHER (Reclams Universal-Bibliothek 4460), Stuttgart 1990, 19–28, 31, 36: Herder betont die Individualität und den Eigensinn der verschiedenen Völker auf ihren jeweiligen Entwicklungsstufen. 19 Die menschliche Gattung als Ganze wird von Schleiermacher dagegen nicht als Person beschrieben: vgl. Güterlehre (L.B.), § 71, 605. 20 Akademievortrag Höchstes Gut II, 661. 21 Vgl. ebd., 661. 22 Vgl. ebd., 660. Vgl. auch Elisabeth G RÄB -S CHMIDT : Institution und Individuum zwischen Tradition und Innovation. Zur Bedeutung der Institutionen für die Bildung, in: An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorck Spiegel, Münster 2005, 257–272, 268f.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

äußerlichen Veränderung, sondern in der Gestaltung von sozialen Wechselwirkungsverhältnissen.23 Das Organisieren und Symbolisieren einzelner Menschen findet daher stets in bestimmten, relativ stabilen Formen der Interaktion statt, und hat seinen Effekt in deren Mitgestaltung. Diese Formen nennt Schleiermacher »Güter«, die »einen – wenn auch nur beziehungsweise abgeschlossenen – Inbegriff von verschiedenen auch beziehungsweise entgegengesetzten Thätigkeiten bilden, welche sich in demselben Umfang stätig erneuern.«24

Schleiermachers Gütertheorie richtet sich also nicht einfach auf einzelne Gruppen von Menschen, sondern auf »das Verhältnis zwischen Handlungen«, wie Michael Moxter notiert.25 Schleiermacher thematisiert zwar immer auch die Personengruppen eines Zusammenlebens, das er etwa im Falle des Staates aus Regierten und Regierenden aufgebaut sieht. Die Besonderheit aber besteht nicht darin, welche Personengruppen handeln, sondern welche Interaktionsweisen den für den Staat konstitutiven Gegensatz bilden und wie deren Verhältnis beschaffen ist.26 Die verschiedenen Personengruppen lassen sich erst durch die spezifische Weise ihres Interagierens innerhalb einer Interaktionsordnung identifizieren.27 Die Pointe von Schleiermachers Gütertheorie besteht also darin, dass nicht von Personen und Personengruppen ausgegangen wird, sondern von dem Gesamtzusammenhang von Handlungsweisen. Güter beschreiben Verhältnisse von Handlungen, und können daher auch als »Interaktionsordnungen« angesprochen werden.28 Jede Handlung 23 Zum Verhältnis von Individuum und sozialer Ordnung bei Max Weber, Emile Durkheim, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky und Friedrich Schleiermacher vgl. G RÄB -S CHMIDT: Institution und Individuum zwischen Tradition und Innovation (wie Anm. 22), 260–269, zu Schleiermacher bes. 268f. 24 Akademievortrag Höchstes Gut II, 661. 25 M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 234. 26 Vgl. Pädagogik 1826, 550 Z. 5–7»Der Staat besteht nur durch menschliche Handlungen fort, davon er ein Ganzes ist«. 27 Schleiermacher nähert sich damit einem Verständnis des Staates auf verfahrensanalytischem Wege, so Arnulf von S CHELIHA: Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 (Schleiermacher-Archiv 22), Berlin und New York 2008, 317–336, hier 321. So hält auch ROSE: Schleiermachers Staatstheorie (wie Anm. 16), 164, 294, für den Bereich des Staates fest, dass dieser nur als prozessual verfasster angemessen verstanden wird, sodass das ihn konstituierende Wechselspiel von gesetzgebender und vollziehender Tätigkeit festgehalten wird. 28 So die Terminologie von Eilert Herms, vgl. etwa Eilert H ERMS : Grundzüge eines Begriffs sozialer Ordnung, in: DERS .: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 56–94. Als Beispiel für dieses Verständnis mag der Straßenverkehr dienen: Dieser wäre nach Schleiermacher hinsichtlich der verschiedenen Interaktionsweisen zu beschreiben, die innerhalb des Straßenverkehrs vorkommen und die spezifische Weise dieses gemeinsamen Handelns konstituieren. Dabei besteht eine Grundordnung, die Grundregeln für den Verkehr festschreibt, etwa dass rechts gefahren wird. Die Regeln differenzieren sich je nach Straßenart weiter aus, etwa so, dass auf einer Autobahn höhere Geschwindigkeiten erlaubt sind als in

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

133

stimmt mit dieser Ordnung entweder mehr oder weniger überein und setzt sie damit entweder eher fort oder verändert sie tendenziell. In diesem Sinne beschreibt Schleiermacher das Handeln in der Pflichtenlehre als »Production« und »Rectification«29 – wobei in der Pflichtenlehre freilich eine Veränderung zum Negativen hin ausgeschlossen ist, da dies kein pflichtgemäßes Handeln mehr wäre.30 Aus dem Gemeinschaftsbezug des Handelns ergibt sich eine weitere Differenzierung des Organisierens und Symbolisierens: Beide können eher übertragbaren, identischen Charakter haben, oder eher unübertragbaren, individuellen. Erst diese Unterscheidung führt zu dem bekannten Quadrupel menschlicher Interaktion (vgl. Tabelle 2). Das eigentümliche Profil eines Zusammenlebens ergibt sich aus der Weise, wie sich diese Grundformen des Handelns ausdifferenzieren, welche Interaktionsordnungen also für das gemeinsame Organisieren und Symbolisieren entstehen, und wie sie untereinander zusammenhängen. Symbolisieren

Organisieren

Identischer Charakter

Denken und Sprechen: Sprachgemeinschaft

Erwerbung und Verkehr: Rechtsgemeinschaft

Individueller Charakter

Fühlen und Offenbaren: Gemeinschaft der Offenbarung

Anerkennung fremden und Aufschließung eigenen Eigentums: Geselligkeit

Tabelle 2: Die Handlungsweisen des Menschen nach Schleiermacher Diese Grundformen des Handelns begegnen nach Schleiermacher alle in ursprünglicher Weise in der Familie, weswegen diese mit Albert Reble auch als ein »Mikrokosmos« der Gesellschaft bezeichnet werden kann.31 In jedem Falle bleiben die Familien die kleinsten Einheiten des Zusammenlebens und lassen sich nicht in die größeren Einheiten auflösen.32 Die Familie ist derjenige Ort, an dem die Lösung einem Wohngebiet. Neben diesen Regeln gehören auch relativ zuverlässige Formen der Verhaltenskontrolle und von Sanktionierung bei Regelverletzung hinzu. Weiter ist das Gut aber damit noch nicht vollständig erfasst, vielmehr gehören auch die Techniken zum Ausbau und Erhalt der Straßen zu diesem Gut, ebenso die unterschiedlichen Fortbewegungstechniken. Ebenso sind auch diejenigen Teil-Institutionen für das Verkehrswesen wichtig, die die einzelnen Menschen überhaupt erst für die Teilnahme an diesem Gut qualifizieren, etwa die Fahrschulen. Erst wenn alle diese Interaktionsweisen, ihr Verhältnis untereinander, das damit verfolgte Ziel und die für das Funktionieren notwendige Gesinnung erfasst sind, ist das Gut »Straßenverkehr« vollständig beschrieben. 29 Pflichtenlehre (L.B.), § 4, 459. 30 Vgl. ebd., § 21, 463. 31 R EBLE : Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 192. 32 Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu Platons Theorie des Zusammenlebens, vgl. dazu Eilert H ERMS: Platonismus und Aristotelismus in Schleiermachers Ethik, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 150–172, hier 168–172.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

von Aufgaben, die sich dem familiären Zusammenleben stellen, zwar ebenfalls differenziertere Formen annehmen kann, die Verantwortung aber grundsätzlich nicht weiter delegierbar ist. Die einzelnen Interaktionsformen erscheinen aber nicht nur als Einheit in der Familie, sondern bilden auch einen alle Güter einschließenden Zusammenhang, den Schleiermacher als höchstes GutGüter bezeichnet. Jedes Zusammenleben stellt ein individuelles Gefüge von Bezogenheiten dar, es ist ein »für sich bestehende[s] Naturganze[s]«.33 Die Natur eines Zusammenlebens ist der Inbegriff seiner Relationen. Es ist in Schleiermachers Augen zum einen keine bloße »Zusammenstellung« einzelner Teile, sondern ein Ganzes oder ein »Inbegriff« von Gütern.34 Zum anderen ist es dieses Ganzes nur als eine Einheit einzelner Bezogenheiten, weswegen es auch nur »ganz erkannt werden kann in seinen Relationen zu allen andern«.35 Diese Einheit allen Vernunftwirkens auf die Natur ist das höchste Gut. Das gemeinsame Handeln der Menschen in den Gütern im Horizont des höchsten Gutes vollzieht sich nun aber unter bestimmten Bedingungen, die für alles Handeln gelten und dies es zu verstehen gilt, wenn das Handeln selbst angemessen erfasst sein soll. Die Bildung von Gütern vollzieht sich nur auf einem bereits vollzogenen Organisiert- und Symbolisiertsein der Natur für die Vernunft, das als solches bereits ein τèλοσ oder einen Richtungssinn besitzt, nämlich das vollständige Organisiertund Symbolisiertsein der Natur für die Vernunft. Zuletzt weist alles Wirken der Vernunft auf die Natur einen bestimmten Interaktionsmodus auf, der durch das menschliche Handeln nicht verändert werden kann und der daher ebenfalls eine Bedingung des menschlichen Interagierens zu beschreiben ist. Dieser ist geprägt auch durch ein geteiltes Wollen aller Interaktanten, das Schleiermacher »Gemeingeist« nennt. Was dies im Einzelnen bedeutet, wird im folgenden Abschnitt genauer entfaltet, bevor dann das kritische Potential von Schleiermachers Bildungsverständnis dargestellt werden wird.

7.1.1 Das Vorgebildetsein der Güter Das menschliche Handeln versteht Schleiermacher als das Wirken der Vernunft auf die Natur. Als »Natur« wird dabei das spezifische Bezogenheitsgefüge verstanden, durch das und auf das hin die Vernunft wirkt. Dabei wird die Vernunft nicht 33

Akademievortrag Höchstes Gut II, 668. Ebd., 661. 35 Ebd., 662. Diese Gleichzeitigkeit von Einheit und Vielheit kommt auch in Schleiermachers Bild des Leibes für das Zusammenleben zum Ausdruck, vgl. ebd., 662. Begrifflich wird dieser Sachverhalt durch die Rede vom »Organismus« aufgegriffen und wiedergegeben, vgl. M OX TER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 177ff. Diesen Begriff bezieht er nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auch auf die einzelnen Güter und deren Zusammenhang in den beiden Grundeinheiten menschlichen Zusammenlebens, auf die »Familie« und das »Volk«. Eine ausführliche Darstellung der Begriffsgeschichte des »Organismus« findet sich ebd., 137ff. 34

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

135

als eine Substanz verstanden, die zunächst ohne Bezug auf Natur existieren würde, vielmehr geht Schleiermacher davon aus, dass es Vernunft, verstanden als Potential zum Gestalten des Bezogenseins, nur gibt als eine mit Natur ursprünglich vereinigte. Weil das Bezogenheitsgefüge das Potential zum Wirken besitzt und zugleich für diese Wirkungen empfänglich ist, beschreibt Schleiermacher die Natur als das ursprüngliche Organ der Vernunft und versteht die Natur als für die Vernunft organisiert.36 Alles organisierende Wirken der Vernunft ruht damit auf einem ursprünglichen Organisiertsein der Natur für die Vernunft. Da die Natur als Bezogenheitsgefüge immer schon durch die Vernunft bestimmt ist, handelt es sich bei der Natur nicht um eine Vernunft-lose Größe. Vielmehr ist die Natur die ursprüngliche Manifestation der Vernunft, oder mit Schleiermachers Worten: Die Natur ist Symbol der Vernunft und damit ursprünglich symbolisiert.37 Alles symbolisierende Wirken der Vernunft basiert damit auf einem ursprünglichen Symbolisiertsein der Natur für die Vernunft. Es gibt damit eine relative Spannung zwischen dem immer schon bestehenden »lebendige[n] Sein der Vernunft in der Organisation« und der noch ausstehenden »Gesammtwirksamkeit der Vernunft in allem irdischen Sein«.38 Alle Übergänge von einem gegebenen Geeinigtsein zu einem erweiterten Geeinigtsein spricht Schleiermacher als »das Werden des höchsten Gutes« an.39 Damit ist auch schon die Eigenart der einzelnen Güter angedeutet, insofern diese auch nur Güter sind, insofern sie ein Potential für menschliches Handeln in sich tragen, und damit auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweisen.40 Das Organisiert- und Symbolisiertsein der Natur für die Vernunft ist im Folgenden genauer auszuführen.

7.1.1.1 Das ursprüngliche Organisiertsein Die Bedingung der Möglichkeit aller organisierenden Tätigkeit besteht darin, dass das Bezogensein des Menschen schon Organ ist für die menschliche Tätigkeit.41 Schleiermacher weist darauf hin, dass »Luft und Licht ebenso gut Organe vor aller sittlichen Thätigkeit [sind] als Augen und Lungen«.42 Die Pointe dieser Aussage liegt darin, dass es das ganze Bezogenheitsgefüge des Menschen ist, das 36

Vgl. Güterlehre (L.B.), § 2, 561. Vgl. ebd., § 4, 563. 38 Akademievortrag Höchstes Gut II, 664. 39 Ebd., 664. 40 Vgl. M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 183. So auch W INK LER : Geschichte und Identität (wie Anm. 31), 83f. 41 Deswegen ist beispielsweise auch kein Anfang des Staates auszumachen, vielmehr hat dieser in einem bestimmten Sinne immer schon angefangen, vgl. M OXTER: Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 229. 42 Güterlehre (L.B.), § 27, 572. So auch bei Novalis, vgl. S ENCKEL : Individualität und Totalität (wie Anm. 82), 115. 37

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ein Gestalten dieses Gefüges durch ihn überhaupt erst ermöglicht. Der Mensch ist mittels seines Leibes in die Bewegungen »der Erde und der andern Weltkörper« und damit in deren spezifischen Rhythmus eingefügt.43 Dieses ursprüngliche Bewegtsein des Kosmos ist nichts, was selbst Gegenstand eines organisierenden Handelns sein kann. Sie ist vielmehr dessen Bedingung, und ist »Maaß geworden für alle Bewegung« des Menschen.44 Durch die regelmäßige Wiederholungen innerhalb des kosmischen Prozesses wie den Wechsel von Tag und Nacht wird das dauernde Erleben des Menschen strukturiert. Der Leib folgt dem Rhythmus des Kosmos durch den Wechsel von Wachheit und Müdigkeit, und durch den Rhythmus von Herzschlag und Atem.45 Alles Handeln des Menschen basiert auf diesem ursprünglichen Geeinigtsein von Natur und Vernunft.46 Das organisierende Handeln des Menschen kann nun eher übertragbaren oder eher individuellen Charakter haben. Beide Handlungsformen sind auf das Bezogensein des Menschen gerichtet, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. So richtet sich das individuelle Organisieren eher auf den Leib und das mit diesem verbundene Eigentum, wohingegen Schleiermacher den Gegenstand des identischen Organisierens eher im Bearbeiten der Erde sieht: »Als größtes Bildungsgebiet ist gegeben die Erde als Eines für das menschliche Geschlecht als Eines.«47

Durch diese genauere Bestimmung des Gegenstandes menschlichen Gestaltens kommt Schleiermacher auch einer Spezifizierung von dessen Bedingungen. Das individuelle Organisieren, das von der Individualität des Leibes ausgeht, ist über die Abstammung von den Eltern an ein identisches Moment geknüpft.48 Die Erde als »Bildungsstoff«49 dagegen ist nie als solche gegeben, sondern immer nur als eine bestimmte: Sie ist »klimatisch bedingt durch die Beschaffenheit des Bodens« und dem geschichtlich gewordenen Verhältnis der Menschen zu diesem Teil der Erde.50 Das identische »Anbilden« kann unterschiedliche Grade annehmen, denn: »Das Anbilden der Natur kann dasselbe sein in allen und für alle, sofern sie dieselbe zu bildende Natur vor sich haben und dieselbe bildende Natur in sich.«51 43

Güterlehre (L.B.), § 28, 573. Ebd., § 28, 573. 45 Vgl. Pädagogik 1820/21, 477 Z. 1–3. 46 Vgl. S PAEMANN : Naturteleologie und Handlung (wie Anm. 86), 56, weist auf die weitreichende Bedeutung solcher Verständnisse hin: »Die Entscheidung darüber, ob der Begriff eines natürlichen Rechts überhaupt einen Sinn hat oder nicht, steht und fällt letzten Endes, wie Leo Strauss zugespitzt gesagt hat, damit, wie wir die Planetenbewegung zu interpretieren haben«. 47 Güterlehre (L.B.), § 40, 580. 48 Vgl. Akademievortrag Höchstes Gut II, 669. 49 Güterlehre (L.B.), § 42, 581. 50 Akademievortrag Höchstes Gut II, 670. 51 Güterlehre (L.B.), § 38, 579. 44

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

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Je ähnlicher der zu bearbeitende Ausschnitt der Erde ist und je ähnlicher die leibliche Beschaffenheit der handelnden Personen, desto größer wird die Identität des Organisierens. Der höchste Grad an Identität im organisierenden Handeln herrscht demnach in einer Familie. Schleiermacher sieht, dass es dem einzelnen Menschen möglich ist, so in die Natur einzugreifen und sie zu gestalten, dass sie nicht nur von ihm selbst als Werkzeug im weitesten Sinne gebraucht werden kann, sondern grundsätzlich auch von allen anderen Menschen. Damit ist es dem Menschen möglich, eine Infrastruktur im weitesten Sinne zu schaffen, eine Ordnung der Welt, die selbst WerkzeugCharakter hat, weil sie für individuelles wie identisches Handeln nutzbar gemacht werden kann.52 Diese Einsicht, dass sich das identische Organisieren auf gemeinsames Handeln richten kann, ermöglicht auch in anderer Hinsicht eine Präzisierung hinsichtlich des Gegenstandes des identischen Organisierens. Wenn Schleiermacher von der Erde als Bildungsgebiet spricht, dann ist damit nicht einfach die Bearbeitung der Erde durch Menschen gemeint. Die Pointe ist dabei vielmehr, dass der gemeinsame Umgang mit der Erde eine Gestalt gewinnt – was freilich das Gestalten der Erde selbst mit einschließt, aber eben doch entscheidend über dies hinausgeht, insofern die Gestaltung der Erde sich im Horizont einer Ordnung dieses Gestaltens bewegt.

7.1.1.2 Das ursprüngliche Symbolisiertsein Alles Symbolisieren des Menschen basiert auf einem ursprünglichen Symbolisiertsein der Natur für die Vernunft. Da »es keine Form des Bewußtseins [gibt], die anders als mit ihrer Leiblichkeit zugleich hervortreten könnte«,53 ist wie alles Organisieren auch alles Symbolisieren an einen spezifischen Leib gebunden.54 Schleiermacher betont diese Gebundenheit der Vernunft an den Leib nachdrücklich; vernünftig ist nicht das dem menschlichen Bewusstsein gemäße, sondern das dem menschlichen Bezogensein gemäße: »Keineswegs aber kann man behaupten, daß die Geseze unseres menschlichen Bewußtseins das Wesen der Vernunft 52 So war der Straßenbau der Römer durch das Interesse des römischen Reiches an möglichst schnellen Bewegungen der römischen Truppen motiviert; aber die Eigenart einer Straße liegt darin, dass sie grundsätzlich auch von anderen genutzt werden kann, die mit dieser Nutzung andere Ziele verfolgen als diejenigen, die diese Straße erbauten, also etwa zum Spazieren oder zum Gewerbetreiben. 53 Akademievortrag Höchstes Gut II, 672. 54 Diese Leibgebundenheit des Denkens wird dort übersehen, wo mit der Möglichkeit eines Transfers von Bewustseinsgehalten auf eine Festplatte gerechnet wird, wie dies von einzelnen Vertretern des Human Enhancement propagiert wird, vgl. dazu den Überblick bei Marco W EHR: Künstliche Intelligenz – Hype? Die Schnittstelle im Kopf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Juni 2016. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass es sich bei Bewusstseinsgehalten um reine Informationen handelt, nicht um die Verarbeitung von leiblich gebundener Erfahrung.

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überhaupt constituieren, und also ohne alle Beziehung auf eine mit ihr zusammengehörige Natur in ihr gesezt wären«.55 Durch dieses Gebundensein des Symbolisierens an den Leib ergibt sich die Unterscheidung zwischen den beiden Formen des Symbolisierens, zwischen dem individuellen und dem übertragbaren. Denn das eigene leibliche Bezogensein kommt zum einen zu Bewusstsein als das eigene, individuelle Bezogensein, dann aber zum anderen auch als eines, das in seiner Grundstruktur identisch ist mit dem Bezogensein aller anderen Menschen. Dabei gibt es beide Momente nur als Pole einer spannungsvollen Einheit, die wechselseitig aufeinander verweisen. So ist das identische Symbolisieren stets an ein bestimmtes Interesse und an eine bestimmte geschichtliche Situation gebunden, und dadurch mit der Individualität eines Menschen verbunden.56 Das individuelle Symbolisieren dagegen richtet sich auf das eigene Bezogensein, dessen Verfassung und Bestimmung, und ist damit an einen universalen und übertragbaren Sachverhalt verwiesen. Schleiermacher geht nicht wie Kant von einer ursprünglichen Geschiedenheit von Subjekt und Objekt aus, die erst durch die Tätigkeit des Subjekts in einem zweiten Schritt synthetisiert wird,57 sondern von einem ursprünglichen Bezogensein des Menschen. Erkennen ist daher auch »kein Akt der Selbstbemächtigung des Objekts«, sondern folgt dem Impuls der Liebe zum Gegenstand.58 Schleiermacher nimmt an dieser Stelle den Streit um die angeborenen Begriffe auf, und interpretiert diese im Sinne eines ursprünglichen Symbolisiertseins des eigenen Bezogenseins:59 »Dieses ursprüngliche Geistiggeseztsein der Natur in der Vernunft ist das, was man mit dem mißverständlichen, freilich aber auch richtig zu deutenden Ausdruck die angeborenen Begriffe zu nennen pflegt.60 Angeboren nemlich, weil vor aller sittlichen Thätigkeit der Vernunft in ihr vorhergebildet und bestimmt; Begriffe aber nicht, weil sie dieses erst werden in der sittlichen Thätigkeit der Vernunft.«61

Die Voraussetzung identischen Symbolisierens ist Schleiermacher zufolge das »Geistiggeseztsein der Natur in der Vernunft«.62 Die Vernunft ist ursprünglich 55

Güterlehre (L.B.), § 46, 584. Identisches Symbolisieren ist auch an die Familie, sowie das über das Familienleben hinausgehende Zusammenleben und die davon jeweils ausgehenden »Reiz[e]« gebunden, vgl.Akademievortrag Höchstes Gut II, 672. 57 Vgl. K ANT : Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (wie Anm. 48), 451. 58 L AIST : Das Problem der Abhängigkeit in Schleiermachers Anthropologie und Bildungslehre (wie Anm. 15), 84. 59 Vgl. dazu auch H OPFNER : Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 72–74. Zu Herders vergleichbarer Position vgl. Eilert H ERMS: Art. »Herder, Johann Gottfried von (1744-1803)«, in: TRE 15 (1986), 70–95, hier 81. 60 Irritierend daher die Festststellung bei H OPFNER : Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 111: »Schleiermacher lehnt [. . . ] angeborene Ideen ab«. 61 Güterlehre (L.B.), § 46, 584f. 62 Dies vermeidet nach Schleiermacher »die apriorische und aposteriorische, oder scholastisch: die nominalistische und realistische« Einseitigkeit, also sowohl die Behauptung von Be56

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

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bezogen auf Natur. Da die Vernunft aber »dasselbe [ist] mit der Natur, welche ihr gegenübersteht«63 kann dies nur so verstanden werden, dass die Vernunft des Menschen das eigene Bezogensein ursprünglich abbildet: Es gibt nicht nur eine Verständlichkeit des eigenen Bezogenseins, sondern auch ein der eigenen Verstehenstätigkeit vorangehendes Erschlossensein. Diese Interpretation stimmt mit der oben erfolgten Analyse des unmittelbaren Selbstbewusstseins oder Gefühls überein:64 Die menschliche Vernunft ist Selbstbewusstsein, verstanden als dauerndes Erleben des eigenen dauernden Bezogenseins in leiblich-szenischer Gestalt. In diesem Erleben begegnet das eigene Bezogensein als ein bestimmtes, das deswegen auch durch das Denken näher bestimmbar ist.65 Alles Symbolisieren durch den Menschen fußt also auf einem ursprünglichen Symbolisiertsein seines Bezogenseins für den Menschen. Die Möglichkeit einer denkenden Erfassung des Bezogenseins ergibt sich aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur. Ihr eignet eine »einzelne Kraft, Function«66 , die in allen Menschen dieselbe ist und ein übertragbares Symbolisieren ermöglicht: Die »Geseze und Verfahrungsarten des Bewußtseins [sind] in allen dieselben«.67 Variiert wird diese Identität durch die einzelnen Sprachen; Denken ist immer an Sprache gebunden, und hat damit eine soziale Dimension.68 Die theoretische Erfassung der Funktionsweise des Bewusstseins führt zu den Regeln der Begriffs- und Urteilsbildung und gehört der wissenschaftlichen Disziplin der »Logik« an.69 Daher ist nach Schleiermacher die »bezeichnende Thätigkeit [. . . ] wesentlich begrenzt nach innen durch die bildende«:70 Alles Symbolisieren setzt symbolisierende Organe voraus. Schleiermacher hat den einheitlichen Gegenstand, auf den das identische Erkennen bezogen ist, in seiner Einleitung zur Ethik ausführlich dargestellt.71 Gegenstand des identischen Symbolisierens ist das Bezogensein des Menschen: Differenziert ist dieses zum einen durch die Unterscheidung von Natur und Vernunft. Das Bezogensein des Menschen kann als ein solches in den Blick gefasst werden, das unabhängig vom menschlichen Handeln besteht und damit als Natur, oder als dasjenige, das durch das menschliche Handeln gestaltet wird und damit als Vernunft begegnet. Natur und Vernunft erscheinen zum anderen immer in der Spannung von individueller Gestalt und dauerndem Variationskorridor. Wissen,

griffsbildung ohne Sinnestätigkeit, als auch die Behauptung, aus der Sinneswahrnehmung alleine ergäben sich schon Begriffe, vgl. Ethik 1812/13, § 136, 297. 63 Güterlehre (L.B.), § 46, 584. 64 Vgl. Abschnitt 4.1.3.: »Die einheitliche Grundgestalt des Gefühls« ab S. 70. 65 CG I, § 3, 31: Das im Gefühl Präsente ist keineswegs »etwas Verworrenes«. 66 Güterlehre (L.B.), § 33, 576. 67 Ebd., § 46, 585. 68 Vgl. H OPFNER : Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 111. 69 Die Abbildung des Bezogenseins in Sätzen fällt unter die Urteilsbildung, die Darstellung des Seins in Begriffen dagegen gehört zur Lehre von der Begriffsbildung. 70 Güterlehre (L.B.), § 33, 576. 71 Einleitung Ethik (L.B.), §§ 54–60, 534–536.

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das sich auf einzelne Sachverhalte richtet, ist empirischer Art, wohingegen das Wissen um die Variationskorridore des Einzelnen spekulativ genannt wird.72 Die Gruppe der kritischen Disziplinen ergibt sich daraus, dass auf das »Wesen« eines Sachverhaltes reflektiert werden kann. Dieses Wesen, etwa das des Christentums,73 ergibt sich durch das »kritische« Gegeneinanderhalten von geschichtlichen Einzellagen und allgemeinem Variationskorridor.74 Eine weitere Klasse wissenschaftlicher Disziplinen ergibt sich dadurch, dass auch Natur und Vernunft aufeinander bezogen werden können, woraus sich die technischen Disziplinen oder »Kunstlehren« ergeben, die darauf reflektieren, wie das Bezogensein durch den Menschen gestaltet werden kann.75 So setzt etwa die Erziehungslehre als eine Kunstlehre ein Wissen um die dauernde Verfassung des Menschen voraus, und ebenso ein kategoriales und empirisches Wissen um das menschliche Zusammenleben. Auch die Dialektik gehört zu den technischen Disziplinen,76 insofern sie nach den Regeln fragt, wie die angetroffene Pluralität im Wissen in wirkliches Wissen überführt werden kann. Insofern bündelt sich das Wissen in den kritischen und technischen Disziplinen. Dadurch ergibt sich Schleiermachers Schema des möglichen Wissens (vgl. die Tabelle 7.1.1.2).77 Natur

Vernunft

Empirisch

Naturwissenschaft

Geschichtskunde

Spekulativ

Physik

Ethik

kritische Disziplinen

technische Disziplinen

Tabelle 3: Das System der Wissenschaften nach Schleiermacher Ein weiterer, möglicher Gegenstand des identischen Erkennens besteht in der Möglichkeitsbedingung des identischen Symbolisierens selbst. Das Denken kann sich auch auf das »Geistiggeseztsein der Natur in der Vernunft« richten.78 Weil 72 Einleitung Ethik (L.B.), § 57, 535, dort als »beschauliches« und »beachtendes« Wissen bezeichnet. 73 BARTH : Die Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 111), 460f. sieht in Übereinstimmung mit Markus S CHRÖDER: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996, die inhaltliche Mitte von Schleiermachers Denken in Schleiermachers Nachdenken über das Wesen des Christentums. 74 Einleitung Ethik (L.B.), § 109, 549f. 75 Ebd., § 109, 549f. 76 Vgl. H ERMS : Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins (wie Anm. 70), 402. 77 Vgl. dazu auch ebd., 403. 78 Güterlehre (L.B.), § 46, 584.

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

141

es sich dabei eben um die Möglichkeitsbedingung allen Erkennens handelt, kann allein von diesem Gegenstand gesagt werden: »Wird bei Logik, Physik und Ethik vorausgesezt«.79 Diesen Gegenstand ordnet Schleiermacher der Disziplin der Psychologie oder Seelenlehre zu. Auf dem Boden von Schleiermachers Verständnis der Wirklichkeit kann auch dieser Gegenstand nur in der Spannung von Individualität und Allgemeinheit begegnen; denn eine Theorie des Erlebens kann nicht absehen von der Tatsache, dass das Erleben immer ein bestimmtes ist, und dass das Selbstbewusstsein eben immer nur in Bestimmtheiten begegnet. Insofern wäre die allgemeine oder philosophische Psychologie zu ergänzen um eine Theorie des Selbstbewusstseins in seiner Bestimmtheit – auf dem Boden des Christentums wäre dies die Theorie des christlich bestimmten Selbstbewusstseins, eine Theorie, die Schleiermacher in seiner Glaubenslehre ausgearbeitet hat.80 Auch die Interaktionsgemeinschaft des individuellen Symbolisierens baut sich auf einer ursprünglichen Einheit auf: Jeder Mensch hat ein »Gefühl des Menschseins als einer bestimmten Einheit des Lebens«.81 Dieses gefühlsmäßige Innesein der Einheit des eigenen Lebens ist selbst noch kein symbolisierendes Handeln des Menschen, sondern dessen Grund und Horizont.82

7.1.2 Die Interaktionsformen der Güter Neben dem ursprünglichen Symbolisiert- und Organisiertsein der Natur für die Vernunft steht alles Handeln unter einer weiteren Bedingung: Alles Handeln ist eingebettet in einen sozialen Kontext. Es hat daher stets die Form der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Handelndem und seinem sozialen Kontext, und kann eher die Gestalt des »Aneignen« haben oder die des »Gemeinschaftbilden«.83 Entweder also hat das Handeln eher den Charakter der Inbesitznahme materieller oder geistiger Art, oder es hat die Form der Vertiefung der Gemeinschaft. Nach Schleiermacher ist kein Handeln denkbar, das nicht dieses soziale Verhältnis gestaltet. Dies scheint zunächst keine Beschreibung menschlicher Lebenswirklichkeit zu 79

Vgl. H ERMS: Die Bedeutung der »Psychologie« für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher (wie Anm. 6), 192, mit Verweis auf Schleiermachers Psychologie in: SW III/6, C, 530. 80 Die Notwendigkeit, Schleiermachers Psychologie analog zur Ethik nicht nur in philosophischer, sondern auch in theologischer Perspektive zu entfalten, wurde m. W. in der Forschung noch nicht gesehen. 81 Güterlehre (L.B.), § 54, 590. Zu den Problemen, die der Versuch mit sich bringt, diese zu überschreiten, vgl. Thomas NAGEL: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Analytische Philosophie des Geistes, Bd. 6 (Philosophie – Analyse und Grundlegung), Königstein/Ts. 1981, 261–275. 82 Anders BARTH : Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft (wie Anm. 94), 299, der das Gefühl als individuelles Symbolisieren versteht und damit beides gleichsetzt. 83 Ethik 1812/13, § 36, 412.

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sein, sondern ein bloßes Postulat, und zwar ein unsachgemäßes. Denn das Handeln eines Menschen kann prima vista auch ohne Auswirkung auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Handelndem und seiner sozialen Umwelt haben. Dies ist nach Schleiermacher nun aber nur auf den ersten Blick der Fall. Denn selbst der teilweise Rückzug eines Einzelnen aus bestimmten Bereichen des gemeinsamen Lebens ist de facto natürlich eine bestimmte Weise der Gestaltung eben dieses Verhältnisses zwischen Einzelnem und Zusammenleben. Auch ein völliger Rückzug aus der sozialen Welt stellt eine Gestaltung des Verhältnisses zwischen Aneignung und Gemeinschaftstiften dar, allerdings eine, die nicht sittlich ist, weil sie sich dem Zusammenleben entzieht, und die daher keine Bildung ist, sondern Missbildung. Die sozialen Verhältnisse, in denen sich jeder Mensch findet, sind die verschiedenen Interaktionsbereiche oder Güter, die das menschliche Zusammenleben aufweist; nach Schleiermacher sind dies der Bereich des Staates und des Warenverkehrs, der Bereich des Wissens, die freie Geselligkeit und der Bereich von Kunst und Religion. Jedem dieser Bereiche ist eine bestimmte Weise der Interaktion zu eigen, die stets als Variation von Aneignen und Gemeinschaftstiften auftritt. Im Folgenden werden die beiden grundlegenden Interaktionsformen des Organisierens und Symbolisierens dargestellt.

7.1.2.1 Die Interaktionsformen des Organisierens Das identische Organisieren erfolgt als »Erwerbung« oder »Verkehr«.84 Dabei bezeichnet die Erwerbung alles, wodurch der Einzelne zu »Besitz« kommt,85 der Verkehr beschreibt den Austausch des Erworbenen. Mit dieser »Gewerbsthätigkeit« ist nun auch das Recht eng verbunden. Von einem »Rechtszustand«86 oder einem »Verhältnis des Rechtes«87 ist immer dort die Rede, wo dieses Wechselspiel zwischen Erwerben von Besitz und dessen Austausch nicht willkürlich erfolgt, sondern geregelt ist. Individuelles Organisieren, und damit der Vollzug und die Gestaltung freier Geselligkeit liegt dort vor, wo das eigene Eigentum gegenüber anderen Menschen aufgeschlossen wird, um es zur »Anerkenntniß zu bringen«, oder deren Eigentum anerkannt wird, »um es sich aufschließen zu lassen«.88 Als Eigentum bezeichnet Schleiermacher all das, was keinen übertragbaren Charakter hat, und daher auch kein Gegenstand sinnvollen Verkehrs sein kann; den Leib eines Menschen versteht Schleiermacher als das ursprünglichste Eigentum.89 Dass Schleiermacher 84

Akademievortrag Höchstes Gut II, 668; Güterlehre (L.B.), § 39, 579. Vgl. auch ebd., § 55,

591. 85

Akademievortrag Höchstes Gut II, 668 Z. 41. Güterlehre (L.B.), § 55, 591. 87 Ebd., § 55, 591. 88 Ebd., § 59, 595. 89 Vgl. ebd., § 59, 595; Akademievortrag Höchstes Gut I, 670. 86

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einen engen Zusammenhang zwischen freier Geselligkeit und wirtschaftlicher Interaktion sehen würde, wie dies Eilert Herms feststellt,90 kann auf der Grundlage der hier vorgelegten Interpretation nicht bestätigt werden. Die Rede vom Aufschließen ist ganz wörtlich zu nehmen: Es geht dabei darum, dass dem jeweils anderen ein Zugang zum Eigentum, zum Leib und dem anderen nicht übertragbaren Eigenem eröffnet werden soll. Das Eigentum soll zugänglich werden, was sowohl im Sinne leibhafter Erfahrbarkeit zu verstehen ist, als auch im Sinne eines Verstehens. Aufgrund dieses wechselseitigen Aufschließens realisiert sich das individuelle Organisieren als »Gastfreiheit«, wie Schleiermacher sagt,91 oder als »Geselligkeit«. Zu den Institutionen dieses geselligen Handelns zählt Schleiermacher auch den Sport;92 dies unterstreicht, dass Schleiermacher das Verständnis von Geselligkeit nicht engführt auf intellektuellen Austausch etwa, sondern auch Interaktionsformen für angemessen hält, die den leiblichen Aspekt des wechselseitigen Zur-Anerkenntnis-Bringens in den Vordergrund rücken.

7.1.2.2 Die Interaktionsformen des Symbolisierens Die Interaktionsgemeinschaft des identischen Symbolisierens oder Erkennens nennt Schleiermacher in seiner Güterethik »Gemeinschaft des ausgesprochenen Denkens«.93 Gegeben sind die Gedanken in der Sprache, deren Ort ist im einzelnen Menschen das »Gedächtnis«, in dem die »Produkte der erkennenden Acte« fixiert werden.94 Der spezifische Interaktionsmodus identischen Symbolisierens ist der von Lehren und Lernen, wobei dem Lernen eher der Charakter des Aneignens zukommt, und dem Lehren eher der Charakter des Gemeinschaftstiftens. Lernen und Lehren sind wie üblich bei Schleiermacher in ihrem weitesten Sinne zu verstehen. Schleiermacher bezeichnet damit die »Übertragung eines Gedankens 90

Vgl. etwa H ERMS: Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (wie Anm. 1), 236. 91 Vgl. Akademievortrag Höchstes Gut I, 670, und ebenso schon Ethik 1812/13, § 68, Anmerkung 1, 286. 92 Vgl. Pädagogik 1826, 867f. 93 Güterlehre (L.B.), § 57, 592. Auf der Grundlage seiner sonstigen Terminologie hätte er auch mit dem Begriff des »Wissens« arbeiten und von der Gemeinschaft des Wissens sprechen können. Die Rede vom »ausgesprochenen Denken« ist aber deswegen präziser als die von einer Gemeinschaft des Wissens, weil es mit dem Denken die innere Seite des Erkennens und mit dem Aussprechen dessen äußere Seite erfasst; erst diese beiden Aspekte zusammen beschreiben das Erkennen in seiner Einheit. Hatte Schleiermacher 1812/13 noch von »Erfahrung« und »Mitteilung« gesprochen (Ethik 1812/13, § 169, 304), so verwendet er 1816 »Gedanke« und »Wort« (Güterlehre (L.B.), § 57, 593). Diese Begriffe aus der letzten Bearbeitung seiner Güterlehre sind präziser als die von 1812/13, weil sie eine genauere Abgrenzung vom individuellen Erkennen erlauben; denn auch dessen Gegenstand begegnet schließlich als eine »Erfahrung« und vermag »mitgeteilt« zu werden. 94 Ethik 1812/13, § 184, 306.

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von einem persönlichen Bewusstsein in das andere«.95 So umfasst Lernen alles Aufnehmen von sprachlich mitgeteiltem Wissen; Lehren ist damit umgekehrt als Weitergabe von Wissen zu verstehen. Auch dem individuellen Symbolisieren schreibt Schleiermacher eine bestimmte Interaktionsform zu. Diese vollzieht sich im Rahmen einer »Gemeinschaft der Offenbarung« und aktualisiert diese.96 Die Rede von der Offenbarung bezieht sich an dieser Stelle auf das Offenbarwerden des Gefühls. Das Handeln zielt darauf, das eigene Gefühl oder das des anderen aufzudecken, weswegen Schleiermacher die Interaktionsweise innerhalb dieses Gebietes als »Ahnden« und »Andeuten« beschreibt.97 Dem Ahnden korrespondiert dabei eher das Aneignen, dem Andeuten dagegen die Handlungsform des Gemeinschaftstiftens. Schleiermacher spricht in der Ethik demnach von Offenbarung zunächst nicht in Bezug auf Gott, sondern das Gefühl eines Menschen ist das, was offenbar wird. Das Gefühl eines Menschen schließt aber stets ein Gefühl für das Menschsein insgesamt, für dessen Verfassung und Bestimmung ein. Um diesen Sachverhalt geht es nun sowohl in der Kunst, wie auch in der Religion. Daher nennt Schleiermacher diese Interaktionsform die Gemeinschaft der Offenbarung, denn unter diesen Begriff lässt sich nach Schleiermacher all das fassen, was zum individuellen Symbolisieren dazu gehört. Auch das Proprium der Religion, nämlich die Gottesbeziehung und die darin eingeschlossene Gewissheit über das Wesen Gottes, wird damit keineswegs negiert, sondern präzisiert. Für Schleiermacher gewinnt die Gottesrelation ihre Bestimmtheit nur durch das Gefühl für die Verfassung und Bestimmung des Menschseins. Entgegen allen Vermutungen, dabei handele es sich um den Ausverkauf aller Theologie an die Anthropologie,98 ist damit nur deutlich gemacht, wie Gott erkannt werden kann und wie nicht: Gott offenbart sich nach Schleiermachers Überzeugung eben ausschließlich in seinen Werken, deren höchstes der Mensch ist. Anthropologie und Theologie bilden daher keinen Gegensatz, sondern sind wechselseitig aufeinander bezogen; freilich so, dass es zu Gott und daher auch zur Theologie keinen anderen Zugang geben kann als über das Menschsein. Diese Sicht Schleiermachers ist nicht als ein philosophisches Programm zu verstehen, das er seiner Theologie überstülpte, sondern vielmehr als konsequente Umsetzung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses in Religionsphilosophie und Theologie; denn dessen Pointe liegt bekanntlich darin, dass Gott vollständig und unüberbietbar nur in einem Menschen, nämlich in Jesus von Nazareth, erkannt werden kann. Das individuelle Symbolisieren setzt voraus, dass ein Gefühl für das Menschsein besteht, welches dann symbolisiert werden kann. Medium dieser symbolisierenden Tätigkeit ist nicht erst die Sprache, sondern be95

Güterlehre (L.B.), § 57, 593. Vgl. Abschnitt 4.2.: »Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls« ab S. 81. 97 Vgl. Abschnitt 4.2.: »Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls« ab S. 81. 98 Vgl. dazu exemplarisch Emil B RUNNER : Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924. 96

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

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reits der Leib und alle mit diesem verbundenen »Geberden«, wie Schleiermacher sagt. Darstellen und Ahnden vollziehen sich also im Medium des Leibes.99 Alles Handeln vollzieht sich nach Schleiermacher in einer dieser Formen der Interaktion. Damit wird behauptet, dass alles Handeln den Charakter einer sozialen Wechselwirkung hat, und dass eben nicht nur das gemeinschaftstiftende, sondern auch das aneignende Handeln sich als Gestaltung von Interaktion vollzieht. Dies wird daran deutlich, dass sowohl das »Erwerben«, als auch das »Anerkennen« von fremden Eigentum, sowohl das »Lernen« als auch das »Ahnden« stets Bezug nimmt auf bestehende soziale Vollzüge. Im Falle der individuellen Handlungsweisen ist dies ohne weiteres einsichtig; denn deren Augenmerk liegt auf dem Verstehen des Anderen. Aber auch das Lernen im weiten Sinne im Bereich des identischen Symbolisierens, in Form des Lesens eines Buches etwa, aktualisiert soziale Vollzüge. Im Falle des Lesens rekurriert der Lesende auf eine bestimmte Sprache und deren geschichtlich entstandendes Medium, und er lässt sich durch den Verfasser des Buches ansprechen. Dieser soziale Bezug ist auch im Falle des »Erwerbens« gegeben. Jede Formen des Aneignens auf dem Gebiet der Gestaltung der Erde greift auf sozial vermittelte Kulturtechniken zurück.100

7.1.3 Das organisierende Zentrum der Güter Handeln erschöpft sich nicht allein in den einzelnen Handlungen, die im Rahmen der grundlegenden Interaktionsformen möglich sind. Nach Schleiermachers Auffassung haben alle Handlungen eines Menschen ihren einheitlichen Ursprung im

99

Dabei besteht aber nicht zuerst ein Gefühl für den Gefühlsausdruck eines anderen, und dann der eigene Ausdruck, oder umgekehrt. Vielmehr rechnet Schleiermacher damit, dass keines der beiden Momente auf das jeweils andere zurückgeführt werden kann. Diese Gleichursprünglichkeit besteht in der Familie, weswegen die Familienglieder untereinander hinsichtlich ihres individuellen Erkennens auch am wenigsten voneinander geschieden sind: »Indem das neue Leben in der Erzeugung als Theil eines schon vorhandenen entsteht, ist es offenbar nicht nur mit diesem ursprünglich verbunden, so daß es sich erst allmählig von ihm ablöset; sondern auch in jedem aus derselben Quelle entsprungenen geschwisterlichen Leben wiederholt sich dieselbe Abhängigkeit, ohnerachtet es auch zu einem eigenen eigenthümlichen wird. Daher Eltern und Kinder sowohl als Geschwister, was Offenbarung betrifft, unter sich in einem von jedem andern specifisch verschiedenen Verhältniß unmittelbarer Verständigung stehen, indem sie das Eigenthümliche auf ein Identisches unmittelbar zurückführen können« (Güterlehre (L.B.), § 70, 602). 100 Deswegen hat auch der einsame Wanderausflug eines Urlaubers in die Berge etwa den Charakter der Interaktion und der Mitgestaltung dieser Interaktion und ist damit nicht nur ein Gegenstand der Individual-, sondern auch der Sozialethik. Seine Zeit mit einem einsamen Wanderausflug zu verbringen, ist bereits die zustimmende Inanspruchnahme einer sozialen Übereinkunft; ebenso der Gedanke, die Berge wären hierfür ein geeigneter Ort; und auch die Nutzung von Wegen und Karten, einer Uhr oder eines Kompasses ist die Aktualisierung sozial tradierter Vollzüge.

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Handlungsvermögen der handelnden Person,101 und dieses wiederum ist eingebettet in das gemeinsame Wollen einer Gemeinschaft, in einen »Gemeingeist«.102 Daher sind im Folgenden die Grundzüge von Schleiermachers Tugendlehre darzustellen, weil die Tugend eine Bedingung der Güter darstellt. Eine genauere Darstellung erfolgt dann im Abschnitt zur Bildung als individualanthropologischer Größe.103

7.1.3.1 Schleiermachers Verständnis der Tugend Der äußeren, realen Seite des Handelns korrespondiert eine nicht sichtbare, ideale Seite im Handelnden. Dem trägt Schleiermacher Rechnung, indem er der Pflichtethik, deren Gegenstand die einzelnen Handlungen sind, die Tugendethik zur Seite stellt, die das Vermögen des Menschen zu einem Handeln beschreibt, das nicht allein von einzelnen, situativen Impulsen geleitet ist. Von Tugend ist dann zu sprechen, wenn ein Mensch nicht nur als ein durch äußere Umstände Getriebener in Erscheinung tritt, sondern selbst Impulse setzt, die aus seinen Gewissheiten hervorgehen und denen eine Widerstandskraft gegen äußere Hindernisse zu eigen ist.104 Das Wollen des Einzelnen ist damit zwar deutlich verbunden mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein oder Gefühl, beide sind aber weder einfach identisch, noch ist das Wollen einfach aus dem Gefühl abzuleiten.105 Von der belebenden oder idealen Seite der Tugend spricht Schleiermacher, um Weisheit und Liebe zu beschreiben. Weise ist ein Mensch dann, wenn die gegenwärtig erlebte Situation nicht zur alles bestimmenden Wirklichkeit wird, sondern nur im Horizont eines situationenübergreifenden Ganzen erlebt wird und so auch eine »Richtigkeit in der Bestimmung der Zwecke« erfolgen kann.106 Wie dieses Erleben des Ganzen bestimmt ist, geht auf die Prägung des Gefühls zurück, durch die »das ganze Bewußtsein des Menschen von seiner Stellung in der Welt, mithin sein ganzes Leben, in der Idee völlig bestimmt sei«.107 Ein Mensch ist dann von der Liebe beseelt, wenn er den Impuls zum »Seelewerdenwollen«, zur Gemeinschaft besitzt, und dieser Impuls mit dem übereinstimmt, was in der Weisheit gesetzt ist.108 Dagegen steht die bekämpfende oder reale Seite der Tugend, die die Gestalt von »Besonnenheit« auf der einen,109 und von »Beharrlichkeit« oder 101

Vgl. Akademievortrag Tugendbegriff, 321. Vgl. Pädagogik 1826, 665 Z. 16–18: Die Gesinnung kann sich vollständig »nur manifestieren als Prinzip eines gemeinsamen Lebens als Gemeingeist«. 103 Vgl. Abschnitt 8.: »Gebildeter Mensch« ab S. 173. 104 Vgl. Akademievortrag Tugendbegriff, 322 Z. 35–39. 105 Vgl. Eilert H ERMS : Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment, in: DERS .: Menschsein im Werden, Tübingen 2003, 320–399, hier 340. 106 Akademievortrag Tugendbegriff, 324 Z. 24. 107 Ebd., 328. 108 Ethik 1812/13, § 1, 386, vgl. auch ebd., Randschrift 1827a. 109 Akademievortrag Tugendbegriff, 329f. 102

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

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»Tapferkeit« auf der anderen Seite hat.110 Tugend beschreibt dabei das Vermögen, den idealen Impuls zum Handeln auch gegen äußere Widrigkeiten durchzuhalten, sich also im Erleben und Denken nicht ablenken, und sich im Lieben nicht abbringen zu lassen. Diese vier einzelnen Tugenden, die zusammen die eine Tugend sind,111 tritt nun nur in Variationen auf, die sich durch den Bezug der Tugenden auf die Güter und deren Interaktionsmodus ergeben, denn»jede Tugend geht durch alle Sphären des höchsten Gutes«.112 Eine Bedingung wahrer Bildung besteht also darin, dass der Mensch die für die jeweiligen Güter erforderlichen Tugenden besitzt.

7.1.3.2 Schleiermachers Lehre vom »Gemeingeist« Die Güter und die in ihnen vorherrschenden Interaktionsformen verweisen aber nicht nur auf die Tugend. Denn Schleiermacher zufolge verhält es sich nicht so, dass eine bestimmte Interaktionsordnung einfach besteht, und erst dann die Einzelnen mit ihrem Wollen eintreten. Denn dann läge eine Vorstellung vor, die den einzelnen Menschen nicht als ursprünglichen Teil des Ganzen begreifen würde, sondern als dem Ganzen gegenüberstehend. Damit aber wäre der Begriff des Ganzen aufgelöst in einen Menge isolierter Einzelner, die das Ganze durch ihr Handeln erst hervorbringen müssten. Schleiermacher ist diese Vorstellung fremd; seinem Verständnis zufolge basiert das gemeinsame Umgehen auf einem gemeinsamen Wollen, innerhalb dessen und an dem sich das Wollen des Einzelnen bildet. Dies beschreibt Schleiermacher anhand seines Konzeptes des Gemeingeistes.113 Das gemeinsame Wollen wird von Schleiermacher Gemeingeist genannt, denn ohne Anteil an diesem ist keine Selbsttätigkeit vorstellbar, die »der Idee des Ganzen gemäß« ist.114 Die Gesinnung des Einzelnen und der Gemeingeist innerhalb eines Zusammenlebens sind demnach funktionale Äquivalente.115 Genauso wie das Handeln des Einzelnen maßgeblich durch seine Gesinnung orientiert ist, so wird das gemeinsame Interagieren durch Anteilhabe am Gemeingeist ausgerichtet. Dies ist nun nicht so zu verstehen, als läge damit ein Automatismus vor, so, dass alle Handlungen auch tatsächlich immer dem Gemeingeist entsprechen würden. Wäre dies so, gäbe es auch keine Veränderungen des Gemeingeistes. Genauso, wie die Handlungen eines Menschen von seiner Gesinnung zu unterscheiden sind und zueinander in 110

Akademievortrag Tugendbegriff, 331f. Vgl. ebd., 321f. 112 Ethik 1812/13, § 8, 376. 113 Vgl. für einen begriffsgeschichtlichen Überblick über die Verwendung des Begriffs »Gemeingeist« Dorothee S CHLENKE: Geist und Gemeinschaft. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin und New York 1999, 340ff. 114 Pädagogik 1826, 628 Z. 37 – 629 Z. 2. 115 Vgl. ebd., 629 Z. 2–4. 111

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

einem Spannungsverhältnis stehen können, so sind auch die Handlungen innerhalb eines Zusammenlebens vom jeweiligen Gemeingeist zu unterscheiden, und können sich in einem Verhältnis der Spannung befinden. Zwischen Einzelnem und der jeweiligen Gemeinschaft herrscht ein Wechselspiel von Rezeptivität und Spontaneität. Dabei ist der Einfluss des Einzelnen im Normalfall relativ gering,116 und der Gemeingeist wie das durch diesen geprägte Gut besitzt eine gewisse Widerständigkeit oder Trägheit gegenüber den Impulsen von Einzelnen. Um das Phänomen des Gemeingeistes zu veranschaulichen, bietet sich der von Cornelius Castoriadis geprägte Begriff des »Magma« an.117 Dieser Begriff verweist nicht nur auf die relative Zähflüssigkeit des gemeinsamen Wollens, sondern auch auf den verschwimmenden Gegensatz zwischen den Einzelnen im Ganzen.118 Schleiermacher macht mit seinem Hinweis auf den Gemeingeist deutlich, dass sich das Zusammenleben nicht in einzelnen sichtbaren Vollzügen erschöpft und ebenso wenig allein in der Gesinnung der Einzelnen wurzelt. Vielmehr folgen auch die gemeinsamen Vollzüge einem gemeinsamen Muster, und besitzen einen inneren Zusammenhang oder eine innere Logik. Schleiermacher zufolge wird dieser Zusammenhang durch den jeweiligen »Gemeingeist« gestiftet, der in einer Familie, in den einzelnen Institutionen und in der Gesellschaft als ganzer besteht. Bei diesem handelt es sich um die verborgene, äußerlich nicht verobjektivierbare Seite gemeinsamen Handelns – im Gegenüber zu den einzelnen Handlungen.119 Terminologisch begegnet diese Rede vom geistigen Zusammenhang einzelner Handlungen in unterschiedlicher Weise. Während Schleiermacher in Bezug auf die Familie von deren »Gesez und der Natur« spricht,120 ist im Falle von einzelnen Institutionen wie dem Staat oder der Schule von einem »Gemeingeist« die Rede.121 Mit Blick auf die Gesellschaft als ganzer dagegen verwendet Schleiermacher den Begriff »Idee des Guten«122 oder den der »Sitte«.123 So sind in der Sitte »ausgedrückt die schon gegebenen Regungen des sittlichen und religiösen Gefühls; in dieser erhalten sich die Übungen und Fertigkeiten«.124

116

Vgl. dagegen den Einfluss »großer Männer« auf ein Zusammenleben: Akademievortrag Begriff des großen Mannes, 486f. 117 Vgl. Cornelius C ASTORIADIS : Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosphie, Frankfurt a. M. 1984, 565ff., bes. 564–566. 118 Damit wird die Begrenztheit identitäts- und mengenlogischer Bestimmungen des Seins überschritten, vgl. ebd., 559, vgl. dazu auch ebd., 373–381. 119 Vgl. S TROH : Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 144), 284. 120 Pädagogik 1813/14, 276 Z. 3. 121 Vgl. S CHLENKE : Geist und Gemeinschaft (wie Anm. 113), 347ff. 122 Vgl. etwa Pädagogik 1826, 557. 123 Friedrich S CHLEIERMACHER : Über den Beruf des Staates zur Erziehung. Vorgetragen am 22. Dezember 1814, in: KGA I/11, Berlin und New York 2002, 125–146 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung), 135 Z. 20–24. 124 Ebd., 134.

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

149

7.1.4 Der ursprüngliche Richtungssinn der Güter Das gemeinsame Handeln der Menschen baut auf dem ursprünglichen Symbolisiertund Organisiertsein der Natur auf, knüpft daran an und setzt es fort. Daher sieht Schleiermacher in diesem Verhältnis des menschlichen Handelns zum Organ- und Symbolsein der Natur einen Richtungssinn angelegt.125 Das Sein der Vernunft in der Natur ist als ein Werden verfasst, und dieses ist auf das vollständige Organ- und Symbolsein der Natur für die Vernunft hin angelegt. Auch dieser Richtungssinn des Werdens stellt eine Bedingung menschlichen Handelns dar, die im Folgenden zu entfalten ist.

7.1.4.1 Der Richtungssinn des Organisierens Das identische Organisieren weist nach Schleiermacher auf den »ewige[n] Friede[n] in der wohlverteilten Herrschaft der Völker über die Erde« hin,126 der auch als ein »über die ganze Erde verbreiteter Rechtszustand« beschrieben wird.127 Unter diesen Begriff lässt sich sowohl die »Gewerbsthätigkeit« als Bearbeitung der Erde und Austausch des Erworbenen wie auch die »Staatsverwaltung« bringen.128 Die Herrschaft über die Erde beschreibt kein despotisches Verhältnis des Menschen im Gegenüber zur Erde. Vielmehr ist die Pointe darin zu sehen, dass alles Bezogensein des Menschen zum Symbol und Organ der Vernunft gestaltet wird. Dabei ist die Gestaltung der Erde allerdings davon abhängig, welche Vernunft sich in der Gestaltung der Erde ausdrückt, und verweist damit auf das inhaltliche Bestimmtsein von Tugend und Gemeingeist. Jedenfalls kann diese Gestaltung nur eine sein, die sich als eine gemeinschaftliche vollzieht. Mit der Rede von der »wohlverteilten Herrschaft der Völker« weist Schleiermacher darauf hin, dass die Dimension der Gerechtigkeit sich nicht nur auf das Verhältnis einzelner Menschen, sondern auch auf das von Personenverbünden bezieht, und dass diese sich nicht nur in einem Staat bündeln können, sondern auch in einer Gemeinschaft

125

Güterlehre (L.B.), § 23, 570f. Von einem »Richtungssinn« spricht H ERMS: Reich Gottes und menschliches Handeln (wie Anm. 80), 114 Anm. 27. 126 Akademievortrag Höchstes Gut I, 552. 127 Akademievortrag Höchstes Gut II, 669. 128 Ebd., 666. Ethik 1812/13, § 21, 278: »Mechanik und Agrikultur schließen als ihr Resultat alles in sich, was wir Reichthum nennen«. Gunter Scholtz hat darauf hingewiesen, dass Schleiermacher »Produktion und Warenverkehr« in seinen Entwürfen zu einem System der Sittenlehre (Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. von Otto Braun, 2 1927/67, 644) auch der freien Geselligkeit zugeordnet hatte (S CHOLTZ: Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 125). Diese frühe Beschreibung Schleiermachers ist deswegen nicht konsistent, da die Pointe der Geselligkeit in der Unübertragbarkeit, die von Produktion und Warenverkehr aber gerade in der Übertragbarkeit liegt.

150

Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

von Staaten.129 Mit der vollendeten Gestaltung der Erde und der Gerechtigkeit hinsichtlich des Anteils aller Menschen und Völker an dieser Gestaltung geht »ewiger Frieden« einher, weil mit diesen beiden Momenten die Grundlage für jegliche Disharmonie hinsichtlich des identischen Organisierens entfällt.130 Auch der Interaktionsbereich des individuellen Organisierens weist einen immanenten Richtungssinn auf, der sich aus der ursprünglichen Sozialität individuellen Organisierens ergibt. Schleiermacher nennt die vollendete Geselligkeit das »goldene Zeitalter«.131 Dieses ist mit der »ungetrübten und allgenügenden Mittheilung des eigenthümlichen Lebens« erreicht.132 Da das individuelle Organisieren sich auf die Gestaltung von Leib und Eigentum richtet, setzt es zunächst das Verfügen aller Menschen über ihren Leib und ihr Eigentum voraus. Freiheit ist damit die Bedingung des Vollendetwerdens individuellen Organisierens. Der Richtungssinn geht nun insofern über dieses Verfügen der einzelnen Menschen hinaus, als der Sinn von Leib und Eigentum darin besteht, dass darin die eigene Eigentümlichkeit zum Ausdruck gebracht wird und die des jeweils anderen darin erkannt wird.

7.1.4.2 Der Richtungssinn des Symbolisierens Auch dem Interaktionsbereich des identischen Symbolisierens, der geteilten Sprache, kommt ein Richtungssinn zu, der sich daraus ergibt, dass das sprachlich verfasste Wissen immer schon angefangen hat und damit auf die Möglichkeit einer Vertiefung dieses Wissens hinweist. Die Bestimmung des identischen Symbolisierens besteht in der angemessenen Erfassung der Wirklichkeit im Medium der Sprachen, deren unauflösliche Pluralität durch den wechselseitigen Austausch ausgeglichen wird: »je vollständiger also jede [Sprache] alles Sein in ihrem Bezeichnungssystem ausdrückt; und je genauer sich alle andern Sprachen in jeder einzelnen abspiegeln: um desto vollkommener ist von dieser Seite die Vernunft in ihrer Einheit hergestellt«.133

Identisches Symbolisieren zielt also auf »die Vollständigkeit und Unveränderlichkeit des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen«.134 Auch das individuelle 129

Darin besteht ein Unterschied zu Hegel, vgl. M OXTER: Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 192. 130 Bevor der Frieden ewig wird, ist allerdings immer wieder der Einsatz von Gewalt notwendig, um relativen Frieden hervorzubringen oder aufrechtzuerhalten, vgl. Georg H ARDE CKER : Kein Frieden ohne Gewalt, kein Frieden ohne Religion, in: Elisabeth G RÄB -S CHMIDT / Julian Z EYHER -Q UATTLENDER: Friedensethik und Theologie. Systematische Erschließung eines Fachgebietes aus der Perspektive von Philosophie und christlicher Theologie, Baden-Baden 2018, 153–171. 131 Akademievortrag Höchstes Gut I, 552. 132 Ebd., 552. 133 Akademievortrag Höchstes Gut II, 674. 134 Akademievortrag Höchstes Gut I, 552.

7.1 Die Bedingungen für die Bildung der Güter

151

Symbolisieren versteht Schleiermacher als Fortsetzung des immer schon ins Werk gesetzten Symbolisiertseins der Natur für die Vernunft. Dieses findet dort zur Vollendung, wo die »freie Gemeinschaft des frommen Glaubens« realisiert ist, und damit das »Himmelreich« erreicht ist.135 Diese Gemeinschaft ist dadurch ausgezeichnet, dass sie grundsätzlich universalen Charakter hat.136 Schleiermacher betont die Gleichursprünglichkeit aller Güter, weswegen die Vollendung eines einzelnen Gutes nur erreicht werden kann, wenn auch alle anderen Güter vollendet sind.137

7.1.5 Kritische Analyse von Schleiermachers Konstruktion der Güterlehre Schleiermacher begreift unter dem identischen Organisieren sowohl die Institution Staat als auch den Interaktionsbereich des Wirtschaftens. Dies wurde in der Rezeption kritisch betrachtet. Eilert Herms hat darin eine Vermengung zweier unterschiedlicher Sachverhalte gesehen, die ihren Ursprung darin habe, dass Schleiermacher den relativen Gegensatz von identischem und individuellem Moment zu früh einführe und dadurch eine Unterscheidung der Güter zu erreichen suche.138 Angemessener sei es dagegen, diese Unterscheidung erst innerhalb aller Interaktionsbereiche durchzuführen, und damit in jedem Interaktionsbereich individuelle und identische Aspekte zu beschreiben.139 Während Herms die Grundunterscheidung Schleiermachers beibehält, und alles Handeln entweder dem Symbolisieren oder dem Organisieren zuschlägt, unterscheidet er darüber hinaus nicht anhand eines weiteren relativen Gegensatzes, sondern folgt der Eigenlogik der beiden Handlungsweisen: Das organisierende Handeln in der Gestalt des Wirtschaftens, das durch die leiblichen Bedürfnisse des Menschen erforderlich ist, ist ebenso wie die Verständigungsprozesse hinsichtlich des Handelns nur dort möglich, wo äußerer Friede herrscht. Diesen zu gewährleisten ist Aufgabe der politischen Interaktion.140 Das symbolisierende Handeln hat dagegen eine Struktur, die dem Gegenstand des Symbolisierens, der handelnden Verfassung des Menschen entspricht: Es kann sich entweder auf das Ziel menschlichen Daseins richten und ist dann als »Kommunikation zielwahlorientierender Gewißheiten« verfasst, oder es konzentriert sich auf die Regelmäßigkeiten menschlicher Wechselwirkung und hat dann die Form der »Wissenschaft«,141 und 135

Akademievortrag Höchstes Gut I, 552 Z. 22. Vgl. F ROST: Die Wahrheit des Strebens (wie Anm. 98), 480f. 137 Vgl. Akademievortrag Höchstes Gut I, 552. 138 Eilert H ERMS : Grundaufgaben des Zusammenlebens. Ein Rückblick, in: DERS .: Kirche in der Gesellschaft, Tübingen 2011, 404–410, 407f. 139 Ebd., 407f. 140 Ebd., 406. 141 Zur Problematik der Rede von »Wissenschaft«, die Herms selber als »suboptimal« beschreibt, vgl. ebd., 409, dies verengt das Verständnis von Wissenschaft auf einen Teil der sciences. 136

152

Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

dient der Verständigung über die »jeweilige aktuelle innerweltliche Handlungssituation«.142 Mittels dieser von Herms vorgeschlagenen Einteilung der Güter kann auch diejenige Bildung, die Schleiermacher auf dem Gebiet des identischen Organisierens allein angesiedelt hatte, deutlicher unterschieden werden in die Bildung der Institutionen des Rechts und in die Bildung der Institutionen des Wirtschaftens. Durch Herms’ Rezeption wird allerdings ein Sachverhalt aus der Güterethik ausgeschlossen, der für Schleiermacher eine große Bedeutung besaß, nämlich der Interaktionsmodus der freien Geselligkeit. Wenn Schleiermachers Beschreibung zugestanden wird, dass sie an einem Phänomen orientiert und nicht ausgedacht ist, dann wird auch diese Form menschlichen Interagierens in die Güterlehre zu integrieren sein. Dann aber stellt sich die Frage, wo genau diese Form menschlichen Austauschs ihren Ort haben soll. Schleiermacher selbst gibt dazu einen Hinweis, hatte er doch stets die besondere Verbindung des Hauswesens oder der Familie mit der freien Geselligkeit betont. Daher liegt es nahe, die Geselligkeit am Übergang von Haus und Öffentlichkeit zu verorten. Dies vermag dann auch zu erklären, weswegen sich die freundschaftliche Dimension zwischen Menschen leicht an die bürgerliche und wirtschaftliche, die wissenschaftliche und religiöse Interaktion anschließt. Die freie Geselligkeit hätte damit formal dieselbe Stellung wie die Medien bei Eilert Herms’ Konzeption, die zwischen dem Haus und den Gütern vermitteln, hätte aber im Unterschied zu diesen weniger identischen als individuellen Charakter. Diese Nähe zwischen den Medien und der freien Geselligkeit wird gegenwärtig durch die sogenannten »neuen Medien« illustriert; die Grenze zwischen Informationsvermittlung und freundschaftlichem Austausch verschwimmt tendenziell. Damit aber geht der Differenzierungsgrad der Interaktion zurück, ein Vorgang, der vor dem Hintergrund von Schleiermachers Bildungstheorie als Unbildung einzustufen wäre. Schleiermacher selbst kannte eine weitere Vermittlungsinstanz zwischen dem Hauswesen oder der Familie auf der einen Seite und der Gesamtgesellschaft auf der anderen: Das Erziehungs- oder Bildungswesen. Auch dieses ist zwischen der Familie und den einzelnen Sphären zu verorten; im Unterschied zur freien Geselligkeit und den Medien hat es aber einen zeitlich beschränkten Charakter und ist auf die Jahre des Heranwachsens begrenzt. Diese Sphäre in die Gütertheorie miteinzubeziehen, liegt ebenso auf der Linie des Vorgehens von Eilert Herms, das eher von den Aufgaben des Zusammenlebens ausgeht, und weniger von einer Analyse der Handlungsweisen. Eine weitergehende Betrachtung der Bildungsinstitutionen folgt in einem späteren Kapitel.143 Eilert Herms hat die Frage gestellt, ob Schleiermacher die Unterscheidung »zwischen der Pflichtenlehre und der Güterlehre [. . . ] durchgehend gelungen

142 143

H ERMS: Grundaufgaben des Zusammenlebens (wie Anm. 138), 405. Vgl. Abschnitt 9.: »Gebildete Erziehung« ab S. 217.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

153

ist«.144 Herms zufolge darf die Güterethik nicht das darstellen, was durch Handeln überhaupt erst herzustellen ist, da dies der genuine Gegenstand der Pflichtethik ist. Wird die Güterlehre Schleiermachers also »zu einer – in sich problematischen – Erweiterung der Pflichtenlehre [. . . ], welche besagt, was der Mensch ›schaffen‹ soll«?145 Schleiermacher betont der vorangegangenen Interpretation zufolge zwar das Bezogensein menschlichen Handelns auf einen Prozess, in das es selbst eingebettet ist. Dass die Unterscheidung zwischen Gütern und Pflichten bei Schleiermacher aber in der Tat nicht so deutlich hervortritt, wie dies aufgrund des Gegenstandes der Fall sein müsste, dürfte seinen Grund darin haben, dass Schleiermacher die Handlungsweisen zum Ausgangspunkt seiner Güterlehre nimmt. Die Güter versteht er so notwendigerweise vom Handeln her und nicht von den Bedingungen des Handelns, auf die das Handeln selbst antwortet. Der Vorschlag von Herms, die Güterethik von den Aufgaben des Menschseins her anzugehen, geht dagegen von den Bedingungen aus, unter denen das Menschsein steht. Über dies ist auf einen Sachverhalt hinzuweisen, der bei Schleiermacher selbst angelegt ist, den er selbst aber in seiner Gütertheorie nicht so explizit ausgearbeitet hat, wie es wünschenswert gewesen wäre: Schleiermacher konstruiert die vier Interaktionsweisen mittels relativer Gegensätze. Dadurch aber ist es nicht anders denkbar, dass in jedem Interaktionsbereich die jeweils relativ entgegengesetzten Momente mit erscheinen. Kein Organisieren kann ohne ein Symbolisieren erfolgen, und alles Individuelle weist stets auch übertragbare Momente auf. Daher müssen auch die Güter so beschrieben werden, dass in jedem Gut jeweils alle Interaktionsweisen auftreten, nur in asymmetrischer Weise. Auch im Falle einer Güterethik, die von den Aufgaben des Menschseins her entfaltet wird, sind die Güter so zu beschreiben, dass sie jeweils die eine Grundaufgabe des Menschseins in unterschiedlicher Weise variieren. Dies hätte zur Folge, dass etwa für den Bereich der Kirche auch die Aufgabe des Lehrens und Lernens mitgedacht werden müsste, also die Bereitstellung von Institutionen der Weitergabe christlichen Wissens. Ebenso müsste die Aufgabe des wechselseitigen Zur-Anerkenntnis-Bringens der eigenen Person in freier Geselligkeit mit in die Theorie religiöser Gemeinschaften mit aufgenommen werden, sowie der Bereich der Verwaltung, des Rechts und des Wirtschaftens mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung Schleiermachers Verständnis der Bedingungen von Bildung hat nun nicht allein einen deskriptiven Sinn. Schleiermachers Ethik kann »normativ gewendet wer-

144 Eilert H ERMS : Sein und Sollen bei Hume, Kant und Schleiermacher, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 298–319, hier 319. 145 Ebd., 319.

154

Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

den«, wie Michael Moxter konstatiert.146 Denn jede einzelne Handlung steht vor der Aufgabe, ihren Bedingungen gerecht zu werden und diesen zu entsprechen. Die Norm des Handelns ist ihre eigene Verfassung. Damit ist nun deutlich, dass das menschliche Handeln stets vor der Alternative steht, entweder eher den Charakter der Bildung oder eher den der Unbildung zu haben.147 Einen Bildungsfortschritt gibt es dort, wo das gemeinsame regelmäßige Umgehen mit der Wirklichkeit das ursprüngliche Geeinigtsein von Natur und Vernunft erweitert und vertieft. Das erste Merkmal von gelungener Bildung ist also die Ausdifferenzierung der Interaktionsweisen. Eine weitere Dimension eröffnet sich durch den idealen Bezug des Handelns, durch das Gebundensein an Tugend und Gemeingeist. Von einem Bildungsfortschritt kann nur dort die Rede sein, wo Tugend und Gemeingeist sich auf Übereinstimmung hin bewegen, und zwar so, dass beide dabei dem Richtungssinn des Werdens Rechnung tragen. Sinnvoll gewollt werden kann lediglich das, was sich nicht gegen den Richtungssinn des Seins richtet, denn dieser ist dem Handeln als dessen Bedingung vor- und übergeordnet. Dabei darf aber der Richtungssinn des einen Gutes nicht gegen den eines anderen ausgespielt werden, vielmehr muss die ursprüngliche Einheit der Güter im höchsten Gut in das Wollen des Einzelnen und in den Gemeingeist integriert werden. Ist dies der Fall, kann es zu einer erweiterten und vertieften Einheit eines Zusammenlebens kommen, zu einer »Höherorganisation«, wie Michael Moxter diesen Sachverhalt bezeichnet.148 Diese Dimension der Bildung qualifiziert nun das Kriterium der Ausdifferenzierung insofern weiter, als es deutlich macht, dass die Ausdifferenzierungen auf der Ebene der Interaktionsweisen der Reintegration in das Ganze bedürfen. Daran schließt die Bildung religiöser Art an. Von Bildung im umfassenden Sinne kann nur dort die Rede sein, wo die Ausdifferenzierung der Interaktionsweisen und deren Reintegration in ein gemeinsames und geteiltes Wollen als Antwort verstanden werden. Die Verfassung und Bestimmung des Menschen sind als eine Anrede zu verstehen, der zu entsprechen versucht wird und die es auszudrücken gilt. Schleiermacher betont diesen Charakter der Religion, der darin besteht, dass sie sich nur vermittels der Gestaltung des Ganzen ausdrückt: »denn die Religion ist in allem und tritt weniger als etwas besonderes hervor«.149 Bildung findet also 146 M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 134, dort mit Bezug auf das höchste Gut. 147 Schleiermachers eigene Wortwahl dafür ist zurückhaltend; er spricht vom »unvollkommen Gebildete[n]«, vgl. Güterlehre (L.B.), § 69, 602, nicht einfach von Unbildung. Ich wähle diesen Terminus dennoch, weil sie der deutlicheren Unterscheidung zwischen diesen beiden Tendenzen des Handelns dient. 148 M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 186. 149 Pädagogik 1826, 739, Anmerkung zu Z. 22–24: SW III/9, 348. Schleiermacher bezieht sich an dieser Stelle auf die Religion im Kontext der Familie; da Schleiermacher die Familie aber als Mikrokosmos der Gesellschaft versteht, gilt diese Beschreibung auch für die Gesellschaft als Ganzer.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

155

dort statt, wo sich das religiöse Gefühl in der Gestaltung des Zusammenlebens Ausdruck verschafft. Diese drei Aspekte von gelungener Bildung sind im Folgenden genauer auszuführen.

7.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung Das organisierende und symbolisierende Handeln des Menschen richtet sich auf die Natur, und kann deren Organ- und Symbolsein erweitern und vertiefen, und damit den Charakter der Bildung im Sinne einer Ausdifferenzierung menschlichen Tätigseins. Zum einen kann das Vernunftwirken darauf zielen, das Bezogenheitsgefüge zu erweitern, und das durch menschliches Handeln noch unbestimmte Bezogensein so zu gestalten, dass es ebenfalls Organ der Vernunft wird, und dies nennt Schleiermacher die »anbildende« oder »organisierende« Seite des Handelns.150 Das »Ziel der bildenden Thätigkeit« besteht also darin,»daß die ganze menschliche Natur, und mittels ihrer die ganze äußere, in den Dienst der Vernunft gebracht werde«.151 Zum anderen kann das Vernunftwirken darauf gerichtet sein, sich im Bezogenheitsgefüge zum Ausdruck zu bringen, »sich selbst erkennbar macht« und die Natur damit zum Symbol der Vernunft zu machen.152 Dabei sind nun diese beiden Handlungsweisen nur als relative Gegensätze zu verstehen: Um sich Ausdruck zu verschaffen, muss das eigene Bezogensein gestaltet, »organisiert« werden; und eine Gestaltung des eigenen Bezogenseins wird immer zu einem Ausdruck der zugrundeliegenden Vernunft.153

7.2.1.1 Ausdifferenzierung des Organisierens Die häufigste Verwendung des Wortstammes »bilden« in Schleiermachers Ethik bezieht sich auf das sogenannte organisierende Handeln, das er als »anbilden« bezeichnet.154 Das organisierende Handeln des Menschen ist stets auf das eigene, komplexe Bezogensein gerichtet und gestaltet dies zu einem Organ des Menschen, zu einem Werkzeug, mittels dessen weitere Tätigkeiten möglich sind. Relativ

150

Güterlehre (L.B.), § 23, 570. Vgl. auch Akademievortrag Höchstes Gut II, 664f. Vgl. auch Schleiermachers Rede vom »aus sich heraus in die Welt hinüberbilden« (Akademievortrag Tugendbegriff, 323). 151 Güterlehre (L.B.), § 3, 606. 152 Akademievortrag Höchstes Gut II, 665. 153 Ebd., 665, ebenso 672. 154 Vgl. etwa Güterlehre (L.B.), § 38, 579.

156

Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

entgegengesetzt zur Erde als Gegenstand des identischen Organisierens155 ist der Leib, der gegenüber der Erde deutlich stärker umgrenzt ist und daher einen vergleichsweise »engen« Bereich umfasst.156 Individuelles Organisieren resultiert in »Eigenthum [. . . ], was beinahe eben so wenig als der Leib selbst ein Gegenstand des Verkehrs sein darf«.157 Die Besonderheit des Eigentums liegt demnach darin, dass dieses derart zum Leben eines Menschen dazugehören, dass es mehr als nur äußerlicher und damit auch veräußerbarer Besitz ist.158 Auch wenn die Resultate dieses individuellen Organisierens kein Gegenstand des Verkehrs sind, so müssen sie aufgrund der »Selbigkeit der Vernunft« doch Gegenstand von Interaktion sein.159 Das individuelle Organisieren einzelner Personen als ein »Sich-ausschließen-Lassen kann nur mit der Einheit der Vernunft bestehen«, wenn die individuell Handelnden im Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit handeln und daher auch alles individuelles Eigentum bildende Handeln auf Geselligkeit zielt.160 Bildung findet also dort statt, wo Eigentum entsteht, und wo sich Formen entwickeln, Leib und Eigentum wechselseitig zur Darstellung zu bringen. Identisches Organisieren vollzieht sich als Erwerbung und mündet in Besitz, der dann Gegenstand eines Warenaustauschs sein kann. Bildung vollzieht sich hier in der Ausdifferenzierung der Erwerbung und Produktion, also in der Herstellung von Waren, und in dessen Austausch, also im Entstehen von Märkten. Dabei ist ebenfalls nur dann von Bildung zu sprechen, wenn die Produktion auf den Austausch zielt. Außerdem fällt unter Bildung die Entstehung rechtlicher Regelungen gegenüber diesem Wechselspiel von Produktion und Warenaustausch.161 Schleiermacher spricht davon, dass »[i]n jedem sittlich Organisierten also, sofern es ein Gemeinschaftliches sein soll, eine Beziehung gesetzt sein [muß] auf eine bestimmte Einerleiheit der umgebenden Naturgestaltung«.162 Die Rede von der »Einerleiheit der umgebenden Naturgestaltung« lässt an den Sachverhalt von Infrastruktur denken, die Produktion und Warenaustausch überhaupt erst ermög155

Güterlehre (L.B.), § 40, 580. Ebd., § 43, 583. 157 Akademievortrag Höchstes Gut II, 669. 158 Ebd., 669f. Das »eigenthümliche Bildungsgebiet« existiert entweder als ein eher abgeschlossenes oder als ein eher offenes Gebiet, und wird nach Schleiermacher in Gestalt des Hauses angetroffen oder in Gestalt von Feld oder Werkstatt, vgl. Güterlehre (L.B.), § 30, 619. 159 Akademievortrag Höchstes Gut II, 670. 160 Güterlehre (L.B.), § 59, 595. 161 Gegenstand des Rechts ist damit Arbeit, Handel und Wirtschaft, vgl. S CHELIHA : Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher (wie Anm. 27), 320. Diese Beschränkung des Rechts auf den Bereich des Wirtschaftens passt aber schwer zu anderen Aussagen Schleiermachers zum Staat, die ihm auch die Verantwortung für die die Etablierung und Aufrechterhaltung einer Rahmenordnung für das Erziehungswesen, für die Koexistenz der Kirchen und die äußere Form der Wissenschaft zuschreiben. Dieses Problem ergibt sich aus der Konstruktionsweise von Schleiermachers Güterlehre, die nicht von Aufgaben, sondern von Handlungsweisen ausgeht. Vgl. dazu auch 7.1.5, 151. 162 Güterethik (L.B.), § 39, 579. 156

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

157

licht. Bildung erfordert damit nicht nur die Ausdifferenzierung der Rechtsordnung, sondern auch der räumlichen Infrastruktur, die das Wirtschaften einzelner erst ermöglicht und daher in staatlicher Obhut liegen muss. Die Ausbildung staatlicher Strukturen, und damit der Übergang vom Zustand der »Horde« als dem Zusammenleben von Familien ohne feste Ordnung vollzieht sich dadurch, dass sich eine »bestimmte Form einer Verfassung« etabliert.163 Innerhalb eines Volkes hat ein solcher Rechtszustand entweder eine losere Form in Gestalt von »Sitten und Gebräuchen« oder eine festere und damit die des »Gesetzes und der bürgerlichen Ordnung«.164 Bildet sich der Unterschied zwischen dem Handeln einer »Obrigkeit« und dem eines »Unterthan[s]«,165 dann beginnt das Zusammenleben staatlichen Charakter anzunehmen.166 Der Grad der Ausdifferenzierung des identischen Organisierens bedingt auch die Bildung der Geselligkeit. Denn Geselligkeit, die nicht nur an die nächste Umgebung gebunden ist, und damit mehr den Charakter der Gastfreiheit annimmt, ist abhängig davon, inwiefern überhaupt die Möglichkeit des Reisens gegeben ist. Diese wiederum ist bedingt durch einen gewissen Wohlstand, der überhaupt erst Freizeit erlaubt, sowie durch das Vorhandensein von geeigneter Infrastruktur und zudem einer gewissen Rechtssicherheit. Zwischen den Völkern dagegen weist der Verkehr die Form bloßer »Zulassung« auf, oder des »Vertrages«.167 Dabei stellt eine Rechtsordnung stets einen Bildungsfortschritt gegenüber einer bloßen Zulassung dar. Umgekehrt dürfte nach Schleiermachers Verständnis der wechselseitigen Abhängigkeit aller Güter voneinander auch von Bildungsfortschritten auf dem Gebiet des identischen Organisierens nur dort zu rechnen sein, wo sich Geselligkeit und Gastfreiheit entfalten können.

7.2.1.2 Ausdifferenzierung des Symbolisierens Schleiermacher bezeichnet nicht nur das Organisieren des Menschen als ein bildendes Handeln, er kann ebenso das Symbolisieren als ein »Bilden« ansprechen, denn die empfängliche Seite menschlichen Handelns ist »das bewußte Insicheinbilden« des Bezogenseins in den Menschen.168 Das identische Symbolisieren ist nach Schleiermacher als ein gemeinschaftlicher Bildungsprozess verfasst: Im Kontext des Wissens spricht Schleiermacher von 163

Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 134. Akademievortrag Höchstes Gut II, 669. Der Staat als bürgerliche Ordnung entsteht durch »Bewusstwerden des allgemeinen Willens einer Gemeinschaft«, vgl. ROSE: Schleiermachers Staatstheorie (wie Anm. 16), 160. Dieser allgemeine im Sinne des allen gemeinsamen Willens wiederum besteht schon vor jeder festeren Form. 165 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 133. 166 Schleiermacher bezeichnet einen solchen Verbund von Familien dann als »Stamm« oder »Volk«, vgl. ebd., 136f. 167 Akademievortrag Höchstes Gut II, 669. 168 Akademievortrag Tugendbegriff, 323 Z. 27. 164

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»Begriffsbildung«.169 Außerdem entwickelt der Einzelne sein Bewusstsein nur an der Sprache und muss »also seine Gedanken als nachgebildet [. . . ] betrachten«.170 Möglich ist dieses Nachbilden deswegen, weil es sich bei den Gegenständen des Wissens um grundsätzlich identische Sachverhalte handelt. Grundsätzlich identisch sind die Gegenstände des Wissens, weil es sich bei diesen nicht nur um die allgemeinen Züge des menschlichen Bezogenseins handeln kann, sondern auch um eher individuelle Sachverhalte wie etwa die Bestimmtheiten des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Auch deren begriffliche Reflexion ist Gegenstand von Bildung, weswegen Schleiermacher auch von der »Bildung des evangelischen Lehrbegriffs« sprechen kann.171 Den Gegensatz von Denken und Sprechen gibt es lediglich als einen relativen Gegensatz. Daher ist nur dann von Bildung zu sprechen, wenn die Ausdifferenzierung der einen Seite mit der Ausdifferenzierung der anderen einhergeht. Ein Denken, das nicht zur Sprache wird, ist genauso unsittlich wie eine angeeignete Sprache, mit der nicht gedacht wird.172 Beide Fälle stellen demnach keine Bildung, sondern Unbildung dar, da sie sich nicht als Wechselspiel von Lehren und Lernen vollziehen. Zur Bildung von Denken und Sprechen, von Lehren und Lernen gehört ebenfalls die Ausdifferenzierung von Institutionen, innerhalb derer sich diese Wechselwirkung vollzieht. Die Familie stellt die ursprüngliche Sprachgemeinschaft dar, die Institution der Schule stellt bereits eine Ausdifferenzierung dar. Darüber hinaus führt Schleiermacher die Universität als eine weitere Institution an, genauso wie die Gemeinschaft der Gelehrten in der Akademie. Auch das Gefühl ist Gegenstand von Bildung:173 »Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet«.174 Bildung vollzieht sich überall dort, wo das individuelle Symbolisieren differenzierte Formen des gemeinsamen Austauschs findet. Dabei ist die Bedingung eines solchen Austauschs zunächst der Bezug auf einen gemeinsamen Anfang, auf einen Totaleindruck, der eine bestimmte Gemeinschaft individuellen Symbolisierens konstituiert.175 Eine formale Differenzierung sieht Schleiermacher in der funktionalen Aufteilung der Glieder einer Kirche in Klerus und Laien.176 Die »Bildung eines Kunstschazes« beschreibt die inhaltliche Form der Ausdiffe169 Friedrich S CHLEIERMACHER : Über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs, in: DERS .: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11: KGA I/11, hrsg. v. Martin RÖSSLER, Berlin und New York 2002, 415–428 (im Folgenden zit. als Akademievortrag Pflichtbegriff), § 2, 482. 170 Güterlehre (L.B.), § 57, 593. 171 CG II, § 96, 56. 172 Güterlehre (L.B.), § 57, 594. 173 Vgl. Abschnitt 4.3.: »Gefühl, Bildung und Religion in Ethik, Reden und Glaubenslehre« ab S. 88. 174 Ethik 1812/13, § 213, 362. Weiter gehört zur »Erregtheit« des Gefühls gehört auch ein »Bilden der Fantasie«: ebd., § 218, 313. An anderer Stelle bezeichnet Schleiermacher dieses Bilden als »Kunst«: ebd., § 228, 314f. 175 Vgl. auch R IEMER : Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 286. 176 Vgl. Ethik 1812/13, § 209, 361.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

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renzierung, nämlich das Entstehen gemeinsamer künstlerischer Ausdrucksformen des religiösen Gefühls.177 Dies umfasst die Bildung eines gemeinsamen Gottesdienstes, gemeinsamer Musik, gemeinsamer Bilder und Skulpturen, in denen eine religiöse Gemeinschaft ihr Gefühl zum Ausdruck bringt, auf die sie sich jeweils bezieht und an dem sich dann »das Gefühl eines jeden bildet«.178 . Als Missbildungen sind dagegen all die Ausdrucksformen zu bezeichnen, in denen das religiöse Gefühl inadäquat dargestellt wird.

7.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten Von Bildung kann immer dann gesprochen werden, wenn die in der Einigung angelegten Gegensätze entfaltet und gesteigert werden und sich das Zusammenleben ausdifferenziert.179 Eine weitere Dimension der Bildung besteht in der spezifischen Einheit der ausdifferenzierten Handlungsweisen. Deren Verhältnis ist ebenfalls ein Gegenstand möglicher Bildung.180 Albert Reble hat an Schleiermachers Güterethik kritisiert, dass sie das soziale Werden »mehr als ein pflanzliches Wachstum, als ein ruhig harmonisches Bilden und Sichgestalten« begreife.181 Übersehen wird bei diesem Urteil zum einen, dass Schleiermacher in seiner Güterlehre keine Beschreibung des empirischen Geschichtsverlaufs bietet, sondern die allgemeinen Bedingungen von Geschichte zu erfassen sucht. Zum anderen wird dabei nicht beachtet, dass die Entwicklung des Zusammenlebens davon abhängt, inwiefern es gelingt, dass das Handeln der Einzelnen tatsächlich zu einem gemeinsamen Handeln wird. Das Zusammenspiel der einzelnen Handlungsweisen thematisiert Schleiermacher unter dem Begriff des »Gemeingeistes«. Diese Abhängigkeit des realen Werdens vom Gemeingeist ist nun ein Aspekt, den Schleiermacher in seiner Ethik vergleichsweise schwach ausgearbeitet hat.182 177

Vgl. dazu auch H ELLER: Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), 120. Ethik 1812/13, § 213, 362. 179 M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 186f. 180 Schleiermacher geht also im Unterschied etwa zum Soziologen Armin Nassehi nicht von der »Unmöglichkeit einer Integration der Teile zugunsten eines Ganzen« (Armin NASSEHI: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015, 276), aus, sondern betont die ursprüngliche und vertiefbare Einheit einer Gesellschaft. Wie Schleiermacher sieht auch C ASTORIADIS: Gesellschaft als imaginäre Institution (wie Anm. 117), 561f. im Gegensatz zu Nassehi, dass eine Einheit besteht und kein unorganisiertes Chaos; es gibt also ein Ganzes, das aber nicht im Rahmen der »Identitäts- und Mengenlogik« (Vgl. ebd., 559) fassbar ist und das er als »Magma« (ebd., 564ff.) bezeichnet. Im Unterschied zu Schleiermacher aber sieht Castoriadis keinen Richtungssinn in der ursprünglichen Einheit. 181 R EBLE : Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 187. Dieser Vorwurf wurde in der Schleiermacher-Forschung des öfteren geäußert, vgl. S CHOLTZ: Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 120. 182 Vgl. S CHLENKE : Geist und Gemeinschaft (wie Anm. 113), 345. 178

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Weiter oben konnte gezeigt werden, dass Schleiermacher zwar das Gebundensein der bereichsspezifischen Interaktionen an Tugend und Gemeingeist durchaus im Blick hatte. Aber die zurückhaltende Thematisierung der Bedeutung des Gemeingeistes in der Güterlehre konnte dem Missverständnis Vorschub leisten, dass Schleiermacher die Kontingenz und Krisenanfälligkeit des Zusammenlebens ausblende. Dies ist nun keineswegs der Fall, wie Miriam Rose exemplarisch für Schleiermachers Staatsverständnis gezeigt hat.183 Verschiedentlich spricht Schleiermacher vom »Steigen und Sinken« von Gesellschaften,184 wodurch deutlich ist, dass er mit der Möglichkeit von Regressionen im Zusammenleben, mit dem Rückfall hinter bereits erreichte »Bildungsstufen« rechnet.185 Allerdings wurde das beschriebene harmonistische Missverständnis von Schleiermachers Ethik noch dadurch verstärkt, dass Schleiermacher mit zunehmendem Alter optimistischer hinsichtlich des Zustandes der Gesellschaft wurde,186 und die Stabilität des jeweils vorherrschenden Gemeingeistes eher als zu hoch und die Integration der Heranwachsenden eher als zu leicht einschätzte. Diese Schwäche der Güterlehre darf allerdings nicht davon ablenken, dass Schleiermachers Theorie des Zusammenlebens gerade darin ihre Stärke hat, dass sie die Frage nach der Möglichkeit gemeinsamen Handelns mit der Theorie des Gemeingeistes beantwortet. Ein gemeinsames Handeln gibt es nur, weil es einen »Sinn und Geist des Ganzen« gibt,187 wie Schleiermacher die Sitte als den Gemeingeist einer Gesamtgesellschaft beschreibt. Nach Schleiermacher hat der Gemeingeist für das gemeinsame Handeln eine analoge Funktion, wie die Gesinnung für das Handeln des Einzelnen, weswegen seine Theorie der Gesinnung auch ein Verständnis seiner Theorie des Gemeingeistes bietet. Die Gesinnung eines Menschen hat zwei Seiten, die Schleiermacher als »Weisheit« und als »Liebe« bezeichnet. Während unter Weisheit die Richtigkeit in der Bestimmung der Handlungsziele verstanden wird, begreift Schleiermacher die Liebe als den Impuls zum gemeinsamen Handeln.188 Bildung beschreibt dann die Vertiefung des Zusammenhanges zwischen den einzelnen Handlungen, dem in der Weisheit erkannten Ziel und der Übereinstimmung von Liebe und Weisheit.189 Diese Struktur hat nun auch der Gemeingeist, der innerhalb einer Interaktionsgemeinschaft herrscht. Schleiermachers Rede vom »Sinn und Geist des Ganzen« weist genau auf diese beiden Aspekte hin: Alles gemeinsame Handeln auf dem Boden und im Horizont eines Gutes ist orientiert durch ein gemeinsames Ziel 183

ROSE: Schleiermachers Staatstheorie (wie Anm. 16), 290, 294. Etwa Pädagogik 1826, 547, und ähnlich Pädagogik 1820/21, 443. 185 Ethik 1812/13, § 191, 357. 186 Vgl. H ERMS : Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (wie Anm. 1), 240. 187 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 135. 188 Vgl. Abschnitt 7.1.3.1.: »Schleiermachers Verständnis der Tugend« ab S. 146. 189 Für Schleiermacher ist eine solche Übereinstimmung zwar möglich, aber nicht ursprünglich gegeben; so hält er etwa Weisheit ohne Liebe für vorstellbar: vgl. Ethik 1812/13, § 20, 379, dort Anm. 1, Zusatz am Rande von 1827a. 184

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

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(»Sinn«) und durch einen bestimmten Zusammenhang der Einzelnen untereinander (»Geist«). Von Bildung als einer »steigender Vollkommenheit« des gemeinsamen Handelns kann immer dann gesprochen werden,190 wenn zum einen die einzelnen Handlungen stärker als davor auf das gemeinsame Ziel hin ausgerichtet werden, und wenn zum anderen die Gemeinschaftlichkeit der Handelnden vertieft wird. Diese allgemeine Beschreibung von Bildung als Integration einzelner Handlungen und der Handelnden kann nun mit Bezug auf die einzelnen Güter veranschaulicht werden.

7.2.2.1 Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des übertragbaren Handelns Der Gemeingeist innerhalb des identischen Organisierens hat »Sinn und Geist«.191 Das gemeinsame Ziel der Handelnden steht in Beziehung zum objektiven Richtungssinn des Gutes, also der Ermöglichung von Produktion und Warenaustausch durch eine rechtliche und räumliche Infrastruktur. Damit deren Ausbau das Ziel des gemeinsamen Handelns ist, bedarf es zweier Aspekte, die der Gemeingeist unter sich begreifen muss, nämlich die Einsicht in die Gleichheit aller Glieder der Gesellschaft und den Impuls zu einer dieser Gleichheit angemessenen Infrastruktur für alle, die Produktion und Warenaustausch anerkennt.192 Das Gleichheitsbewusstsein stellt damit die weisheitliche Seite des Gemeingeistes dar, der Impuls zu einer für alle gleichen rechtlichen und räumlichen Infrastruktur die Seite der Liebe. Alles Unrecht, und damit alle Missbildung des Zusammenlebens, liegt also »in der Erwerbung, welche die Gemeinschaft leugnen will, und in der Gemeinschaft, welche die Erwerbung nicht anerkennen will«.193

Derartiges Unrecht, und damit eine Missbildung identischen Organisierens, geht darauf zurück, dass die »Einerleiheit der Natur in allen und die Zusammengehörigkeit der bildenden Thätigkeit aller noch nicht muß anerkannt sein. Daher liegt auch darin, daß einer rechtlos behandelt wird, zugleich, daß er als sittlich roher Stoff behandelt wird, als bloß zu bildende Natur, die sich jeder aneignen kann nach Maaßgabe seiner Neigung und Bedürfniß«.194

Ein gebildetes Gut identischen Organisierens setzt demnach einen Gemeingeist voraus, in dem die strukturelle Gleichheit der Menschen (»Einerleiheit«) genauso wie ihre Individualität (keine »bloß zu bildende Natur«) in die gemeinsame Zielstrebigkeit integriert sind, und in der ein Impuls zu einer entsprechenden Ge190

Pädagogik 1826, 550, hier mit exemplarischem Bezug auf den Staat. Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 135. 192 Vgl. Güterlehre (L.B.), § 55, 592. 193 Ebd., § 55, 592. 194 Ebd., § 56, 592. 191

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meinschaftlichkeit vorherrscht (»Zusammengehörigkeit der bildenden Thätigkeit aller«).195 Als ein gebildeter Gemeingeist könnte damit ein solcher angesprochen werden, der den Charakter der Gerechtigkeit aufweist, und der als solcher die Zielstrebigkeit aller einzelnen Handlungen und die Weise der Gemeinschaftlichkeit prägt. Auch im Falle des identischen Symbolisierens spielt das Moment der Gleichheit eine bedeutende Rolle für einen gebildeten Gemeingeist. Alle einzelnen Akte versprachlichten Denkens erfordern zwei Annahmen, die selbst nicht Resultat von Denken sind, sondern deren Voraussetzung.196 Zum einen erfordert alle Kommunikation die Annahme, dass der Hörer die Gedanken grundsätzlich in der gleichen Weise miteinander verknüpft wie der Sprecher. Zum anderen müssen Hörer und Sprecher davon ausgehen, dass sie beide auf ein und dieselbe Wirklichkeit bezogen sind. Der Grund aller nach Wissen strebenden Tätigkeit ist daher nach Schleiermacher überraschenderweise ein bestimmter Glaube. Deswegen bezeichnet Schleiermacher den Interaktionsbereich des identischen Symbolisierens als die »Gemeinschaft des Glaubens oder die gegenseitige Abhängigkeit des Lehrens und Lernens von dem Gemeinbesiz der Sprache und umgekehrt des Gemeinbesizes der Sprache vom Lehren und Lernen.«197

Albert Reble bezeichnete diese Rede vom »Glauben« als »unglücklich«.198 Dies ist m. E. nicht nachvollziehbar, da gerade im subjektiven Grund des objektiven Bezugs die Pointe Schleiermachers liegt, die mit der Rede vom »Glauben« auf den Punkt gebracht wird. Gebildet ist der Gemeingeist dann, wenn er von dieser Art des Glaubens durchdrungen ist, der zugleich impulsiven Charakter hat: Kommunikatives Wissenwollen. Dann kann das gemeinsame, von allen nach Wissen strebenden Menschen geteilte Ziel verfolgt werden, nämlich die letztlich sprachenübergreifende Verständigung über die Wirklichkeit des Menschen. Missbildungen des wissenschaftlichen Interaktionsbereichs liegen dann vor, wenn entweder die Gleichheit des Bezogenseins nicht anerkannt wird, oder wenn der Impuls zum wechselseitigen Austausch der Gedanken nicht stark genug ist, um Grenzen unterschiedlicher Art zu überwinden. Dabei ist an ständische und sprachliche Schranken zu denken,199 ebenso aber auch an die Begrenzungen, die durch das eigene Interesse gegeben sind.200 195

Dass der Einzelne bei Schleiermacher »in keiner Weise als ein Träger von Rechten vorgestellt« sei (ROSE: Schleiermachers Staatstheorie (wie Anm. 16), 297), wie Miriam Rose notiert, lässt sich also durch die vorangegangene Interpretation nicht stützen. 196 Güterlehre (L.B.), § 57, 593: »Dies [die allem Handeln zugrundeliegende Überzeugung von der Entsprechung eines Wortes und eines Gedankens] ist an sich niemals ein Wissen«. 197 Ebd., § 57, 592f. 198 R EBLE : Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 231. 199 Vgl. Güterlehre (L.B.), § 58, 594. 200 Vgl. ebd., § 58, 594; vgl. ebenso ebd., § 66, 600.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

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7.2.2.2 Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des individuellen Handelns Auch die individuellen Formen des Interagierens können einen einheitlichen Charakter und damit »Sinn und Geist« aufweisen.201 Im Bereich der freien Geselligkeit besteht das gemeinsame Ziel im wechselseitigen Aufschließen des Eigentums, in der Darstellung des eigenen individuellen Gestalten des leiblichen Bezogenseins. Der Gemeingeist ist gebildet, wenn er diesem Charakter der freien Geselligkeit entspricht, und also zum einen die Gestalt des »Verlangen[s] nach geselliger Gemeinschaft« hat.202 Ein solches Verlangen setzt ein Interesse an der Individualität des Anderen voraus und ebenso den Impuls zur Darstellung der eigenen Individualität. Ist das Zusammenleben nicht von einem solchen grundlegenden Interesse und Impuls geprägt, dann werden »die geselligen Anforderungen anderer feindselig« abgestoßen.203 Dort liegt dann auch keine gebildete Geselligkeit oder Gastfreiheit vor, sondern eine Form der Unbildung. Das Verlangen nach Geselligkeit kann auch insofern begrenzt sein, als es gewisse ständische oder auch nationale Grenzen nicht zu überschreiten vermag.204 Dagegen zeichnet es einen gebildeten Gemeingeist aus, dass er anti-ständisch und kosmopolitisch geprägt ist.205 Der Impuls zur Gemeinschaftlichkeit als Liebe kann nur dort tatsächliche Gemeinschaft werden, wo erstens überhaupt ein individuelles Gestalten des eigenen Bezogenseins besteht. Denn Schleiermacher zufolge ist auch ein gesellschaftlicher Zustand denkbar, in dem die Ausdifferenzierung von Eigentum so wenig fortgeschritten ist, dass von einer Individualität der Gestaltung des eigenen Bezogenseins noch gar keine Rede sein kann; damit ist dann aber auch keine wirkliche Geselligkeit möglich, sondern nur ein »mechanisches [. . . ] Zusammenhalten, aber noch ohne eigentlichen Gehalt«.206 Eine solche Gestalt des Zusammenlebens hat den Charakter der Unbildung. Wenn sich allerdings ein individuelles Gestalten entwickelt hat, dann muss zweitens auch ein Bewusstsein für die Individualität dieses Gestaltens vorhanden sein, und damit eine Art Pluralitätsbewusstsein. Erst auf diesem Bewusstsein kann sich die Liebe als Freude an wechselseitigem Aufschließen des Eigentums aufbauen. Ein Zustand der Un- oder Missbildung liegt dann vor, wenn die Vernunftthätigkeit im Einzelnen »verkleidet oder zurückgedrängt« ist.207 Der Grad der Ausbildung der Vernunft ist nun auch durch den jeweils vorherrschenden Gemein201

Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 135. Güterlehre (L.B.), § 59, 596. 203 Ebd., § 59, 596. 204 Vgl. ebd., § 60, 596. 205 Vgl. zu Schleiermachers Politikverständnis S CHELIHA : Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher (wie Anm. 27). 206 Güterlehre (L.B.), § 59, 595. 207 Ebd., § 60, 596. 202

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geist bedingt. Je gebildeter dieser ist, und desto stärker das gemeinschaftliche Verlangen nach wechselseitigem Aufschließen des Eigentums ist, und desto größer das Bewusstsein und die Wertschätzung der Individualität des Gestaltens ist, desto größer ist auch die bildende Kraft des Gemeingeistes gegenüber der Gesinnung der Einzelnen einzuschätzen. Individuellen Charakter trägt auch das Zusammenleben religiöser Gemeinschaften oder »Kirchen«, wie Schleiermacher diese in seiner Glaubenslehre dann bezeichnet. Auch deren Interaktionsformen wie Lehre, Sitte und Gottesdienst sind – exemplarisch im Falle des christlichen Zusammenlebens – Manifestationen des darin sich ausdrückenden Gemeingeistes.208 Der Gemeingeist einer religiösen Gemeinschaft geht Schleiermacher zufolge auf einen Stifter und dessen Handeln zurück.209 Schleiermacher beschreibt die christliche Kirche als exemplarischen Fall einer solchen Stiftung. Das christliche Gesamtleben wurde durch das Wirken Jesu gestiftet,210 und folgt grundsätzlich einem durch ihn geprägten »Gemeingeist«.211 Auch im Falle der anderen beiden monotheistischen Religionen, des Islam und des Judentums, geht deren besondere Gestalt auf einen Stifter, nämlich auf Muhammed und Moses zurück; allerdings ist in diesen beiden Religionen die Offenbarung nicht mit dem Stifter identisch. Die Besonderheit religiöser Gemeinschaften liegt Schleiermacher zufolge darin, dass sie als einzige Gemeinschaft prinzipiell universalen Charakter besitzen, und damit eine Gemeinschaft aller Menschen sein kann.212 Das »Himmelreich«213 oder »Reich Gottes auf Erden«214 kann Raum und Zeit übergreifend sein.215 Der Grund hierfür liegt im Gegenstand des Gefühls; das religiöse Gefühl richtet sich auf eine Gestalt menschlichen Lebens, die als die wahre Gestalt erlebt wird und so Manifestation des Wollens und Wesens des Schöpfers ist. Dem gemeinsamen Wissen ist durch die Gebundenheit an eine Sprache, dem gemeinsamen Gestalten der Erde durch den Bezug auf einen bestimmten Ausschnitt der Erde eine natürliche Schranke gesetzt; die Religion hat durch die Verbundenheit mit den anderen Gütern zwar ebenfalls Anteil an deren Begrenzungen, ist aber von ihrem 208

Vgl. S TROH: Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 144), 296. Vgl. Akademievortrag Höchstes Gut II, 675, wo Schleiermacher von »der Kraft des centralen Individuums« spricht. 210 Dieses Wirken Jesu ist zusammengefasst in »Lehre und Gesellschaftsstiftung«, vgl. M IL LER : Der Übergang (wie Anm. 6), 97. 211 Ebd., 165f. 212 Akademievortrag Höchstes Gut II, 675 Z. 1–9, 676 Z. 17–20. 213 Akademievortrag Höchstes Gut I, 552; Akademievortrag Höchstes Gut II, 677. 214 SW I/12, 12–14; H ERMS : Reich Gottes und menschliches Handeln (wie Anm. 80), 119. 215 M ILLER : Der Übergang (wie Anm. 6), 166: Durch den heiligen Geist ist nach Schleiermacher nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die »Wirklichkeit einer universellen Gemeinschaft der Menschen gegeben«. Auch L EHNERER: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 83, stellt die Gleichzeitigkeit von Universalität und Partikularität fest. Dass Religion nicht in derselben Weise dem Maß von Abstammung und Volkszugehörigkeit unterworfen ist, konstatiert auch R EBLE: Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 242. 209

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

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eigenen Wesen her keinen solchen Grenzen unterworfen. Der Gemeingeist einer religiösen Gemeinschaft hat erstens den Charakter eines geteilten Wahrheitsbewusstseins, einer geteilten, jeweils individuellen Gewissheit über die Verfassung und Bestimmung des Menschseins. Zweitens besteht der Gemeingeist als Impuls zur wechselseitigen Darstellung der Gewissheit. Gebildet ist der Gemeingeist nur, wenn das Zusammenleben durch seinen Bezug auf das geteilte, aber dennoch individuelle Wahrheitserleben geprägt ist, und Individualität und Universalität in gleicher Weise ausgeprägt sind. Wird das Moment der Universalität ausgeblendet, dann besteht ein Widerspruch zwischen Gemeingeist und dem Geprägtwerden des religiösen Gefühls durch ein Wahrheitserleben – das Zusammenleben hat dann den Charakter der Missbildung. Da nach Schleiermacher das Maß der Liebe in der Weisheit liegt,216 ist bei einer tendenziellen Überlagerung der Universalität durch die Individualität auch damit zu rechnen, dass der Impuls zu wechselseitigen Darstellung zurückgeht.217 Umgekehrt weist ein Gemeingeist ebenfalls den Charakter der Missbildung auf, wenn er durch eine Überblendung des individuellen Moments geprägt ist. Da die Individualität an das leiblich-szenische Erleben gebunden ist, ist damit zu rechnen, dass der Gemeingeist dann geprägt ist durch eine Fixierung auf die lehrmäßige Reflexion des Glaubens zulasten des individuellen Erlebens. Eine gebildete, dem individuellen Symbolisieren des Menschen gemäße religiöse Gemeinschaft besteht dort, wo es um die wechselseitige Mitteilung des Fühlens geht. Wo sich eine solche vollzieht, dort ist die jeweilige religiöse Gemeinschaft, exemplarisch die christliche Kirche, mit Ralf Stroh als »Bildungsinstitution des Gefühls« anzusprechen.218 Das Entstehen und Fortbestehen einer Gemeinschaft, in der es entweder gar nicht um die Mitteilung des Gefühls ginge, sondern etwa um die Mitteilung eines Wissens, könnte im Anschluss an Schleiermacher genauso wenig als Bildung individuellen Symbolisierens angesprochen werden wie das Entstehen und Fortbestehen einer Gemeinschaft, in der es nicht um wechselseitige Mitteilung ginge, sondern nur um eine einseitige. In beiden Fällen läge ein Missverständnis dessen vor, um was im Bereich des Religiösen eigentlich geht, nämlich um das Vernehmen der Wahrheit des Menschseins, das sich nur im anderen offenbaren kann. Im ersten Fall würde mit einer lehrmäßigen Fixierbarkeit der Wahrheit gerechnet. Der zweite Fall beschreibt das Auftreten einer neuen Stifterpersönlichkeit, denn nur ein solcher Mensch empfängt nach Schleiermacher nichts von der Gemeinschaft, sondern prägt sie ausschließlich.219 In einem solchen 216 Vgl. Ethik 1812/13, § 1, 386, Randschrift 1827a. Gleichzeitig gilt natürlich auch, dass die Weisheit »das stille Sinnen und in sich selbst sein der Liebe« ist: Akademievortrag Tugendbegriff, 334 Z. 12f. 217 Eine These, die sich also im Anschluss an Schleiermacher ergibt und die empirisch zu überprüfen wäre, lautet: Wo der eigene Wahrheitsanspruch abgeschwächt wird, schwindet auch der Impuls zu religiöser Gemeinschaft. 218 S TROH : Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 144), 97. 219 Vgl. dazu Akademievortrag Begriff des großen Mannes, 486f.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

Fall begegnet eine neue Anschauung Gottes in einem Menschen, der die wahre Bestimmung und damit Gottes Wesen und Willen repräsentiert.220 Ein solches Auftreten hat – wie im Falle Jesu – »weltbildend[en]« Charakter,221 denn die Bedingungen des weiteren Werdens der Menschheit werden damit verändert. Die wahre Verfassung und Bestimmung des Menschen wird in neuer Art und Weise erlebt, womit auch eine veränderte Erkenntnis des Wesens und Willens Gottes einher geht.222 Einer bereits bestehenden religiösen Gemeinschaft angemessen kann jedenfalls nur eine wechselseitige Darstellung sein. Denn eine einseitige Darstellung erhebt mindestens implizit den Anspruch, selbst die Position des Stifters inne zu haben. Der Gemeingeist kann im Schwinden begriffen sein, er kann aber auch gesteigert werden:223 Er kann unterschiedliche Grade der Bildung annehmen, er kann aber auch den Charakter einer Un- oder Missbildung annehmen. Eine Steigerung geschieht durch die Mitteilung des Gemeingeistes und dem Ordnen dieser Mitteilung, wie Schleiermacher den Bildungsfortschritt exemplarisch für die christliche Kirche beschreibt.224 Insofern ist auch der Unterschied zwischen Gemeingeist und religiösem Gefühl bereits herausgestellt, denn das religiöse Gefühl ist nicht in derselben Weise einer Mitteilung und Steigerung zugänglich wie der Gemeingeist. Schleiermacher weist nun auch auf einen Zusammenhang hin, der über den innerhalb eines einzelnen Gutes hinausgeht, nämlich auf die Sitte als den Zusammenhang aller Güter. Die Sitte beschreibt er als »Sinn und Geist des Ganzen«225 und hat damit Bezug auf das höchste Gut, das »das Ganze aller Güter« darstellt.226

7.2.2.3 Der Gemeingeist der Gesamtgesellschaft Die Güter stehen selbst nicht isoliert nebeneinander, sondern bilden einen Zusammenhang.227 Dieser Zusammenhang kann auch durch begriffliche Erfassung des Zusammenlebens, und damit durch das Denken deutlich werden, nach Schleiermacher ist der Zusammenhang aber bereits im Gefühl gegeben: 220

Ist dieser Anspruch unzutreffend, dann müsste von einem Guru bzw. einer Sekte die Rede sein. 221 CG II, § 100, 92. 222 L EHNERER : Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (wie Anm. 100), 345, sieht in der Religion eine »Begründungsfunktion für das Wirklichkeitsverständnis insgesamt«. 223 Vgl. H ERMS : Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment (wie Anm. 105), 323. 224 Vgl. ebd., 323. 225 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 135. 226 M OXTER : Güterbegriff und Handlungstheorie (wie Anm. 5), 184. 227 Dass die Interaktionsbereichen an unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten orientiert sind, ist nach der oben erfolgten Beschreibung deutlich geworden. Die Differenzen zwischen diesen unterschiedlichen Logiken bilden nach NASSEHI: Die letzte Stunde der Wahrheit (wie Anm. 180), 275, die Ursache für mögliche »Übersetzungskonflikte« innerhalb einer Gesellschaft.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

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»Im Gefühl hat es auch der ungebildete228 Mensch, daß geselliges und religiöses, bürgerliches (Leben) und Wissen zusammenhängen.«229

Der Grund dafür liegt darin, dass jeder Mensch an allen Bereichen ursprünglich teil hat. Dabei kann das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Interaktanten und ihren Handlungen im Rahmen der einzelnen Interaktionsbereiche sehr unterschiedliche Formen annehmen. Je größer die Harmonie zwischen den ausdifferenzierten Bereichen ist, und je stärker sich jeder Interaktionsbereich als ein Teil des Ganzen verhält, desto höher ist der Grad der Bildung der Gesamtgesellschaft und desto gebildeter ist die Sitte.230 Dasjenige organisierende Zentrum, durch das die einzelnen Güter, ihre Interaktionsweisen und ihr Gemeingeist, einander als Teile eines Ganzen zugeordnet werden, nennt Schleiermacher die »Sitte«.231 Sie ist »das gemeinsame, aber freie und nur in freier Gemeinsamkeit gedeihende unbewußte Erzeugnis des Volkes«.232 Die Weise, wie in einer Gemeinschaft die einzelnen Bereiche ein Ganzes bilden, ist also kein Gegenstand planbaren Handelns, aber dennoch ein gemeinsames Erzeugnis. Die Sitte eines Volkes könnte nun, ebenso wie der jeweilige Gemeingeist eines Interaktionsbereichs, als eine statische Größe verstanden werden, der den Gliedern eines Zusammenlebens gewissermaßen gegenüber stünde.233 Dies wäre allerdings ein Missverständnis Schleiermachers. Denn Schleiermacher versteht den Gemeingeist zwar als eine überindividuelle Größe und ebenso rechnet er mit der Möglichkeit einer einheitlichen Sitte in einer Gesellschaft.234 Aber Schleiermacher betont den geschichtlichen, prozessualen Charakter der Sitte, der sich daraus ergibt, dass jeder, der an einem Gemeingeist oder an der Sitte Anteil hat, durch seine Gesinnung und das dadurch geleitete Handeln wiederum einen Einfluss auf den Gemeingeist ausübt. Sitte und individuelle Gewissheit stehen sich also nur relativ gegenüber. Terminologisch wird dies festgehalten durch die Unterscheidung zwischen empfänglichem Gemeinsinn und spontanem Gemeingeist.235 Zwar kann nicht anders gehandelt werden als in einer relativen Übereinstimmung zur herrschenden Sitte; deren Gestalt wird durch das individuelle Handeln aber immer auch mitverändert. 228 »Ungebildet« ist hier im Gegensatz zum objektiven Bewusstsein zu verstehen und damit im Sinne von vorreflexiv. 229 Pädagogik 1813/14, 291 Z. 13–15. 230 Der Münchener Soziologe Armin Nassehi nennt dies »die Einschränkung der Teile zur Aufrechterhaltung der Ordnung des Ganzen«: Vgl. NASSEHI: Die letzte Stunde der Wahrheit (wie Anm. 180), 271f. 231 Heute würde man von der »Kultur« eines bestimmten Landes sprechen. 232 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 135f. 233 Dann gäbe es eine übergeschichtliche Sitte eines Volkes, etwa einen spezifisch deutschen Geist, wie dies im Bereich des politisch rechten Denkens der Fall ist. Exemplarisch illustriert dies die Position des rechten Publizisten Götz Kubitschek, vgl. dazu dessen Briefwechsel mit Armin Nassehi: NASSEHI: Die letzte Stunde der Wahrheit (wie Anm. 180), 296–330. 234 Vgl. E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 251. 235 S CHLENKE : Geist und Gemeinschaft (wie Anm. 113), 344.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

Die Weise, wie die einzelnen Güter sich zueinander verhalten und eine Einheit bilden, führt daher zu spezifischen »Bildungsstufen« eines Volkes.236 Aus der jeweiligen Bildungsstufe ergeben sich bestimmte Anforderungen für die weitere Gestaltung des Zusammenlebens, und diesen »Bedürfnissen seiner wechselnden Bildungsstufen«237 hat eine Gesellschaft oder ein »Volk«, wie Schleiermacher an dieser Stelle sagt, zu entsprechen. Der Grad des Gelingens im Umgang mit dieser Aufgabe umreißt den Korridor zwischen »Steigen und Sinken« eines Zusammenlebens .238

7.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs Bildung konnte bislang beschrieben werden als Ausdifferenzierung von Handlungsformen und der Integration dieser einzelnen Handlungsformen durch einen Gemeingeist, zum einen auf der Ebene der einzelnen Güter, zum anderen auf der Ebene der Gesellschaft als einem spezifischen Güterzusammenhang, den Schleiermacher als Sitte oder Kultur einer Gesellschaft versteht. Wie sich das Verhältnis der einzelnen Güter untereinander gestaltet, hängt davon ab, wie der »Sinn und Geist des Ganzen« erlebt und verstanden wird. Inwiefern ein Zusammenleben als gebildet anzusprechen ist, hängt nun auch am Religionsbezug der Bildung.239 Zum einen ergibt sich dieser aus dem Verhältnis des sozialen Interagierens zu den eigenen Bedingungen, unter denen es steht, ohne diese selbst gesetzt zu haben. Zum anderen stellt sich die Frage, inwiefern ein Zusammenleben, seine Ausdifferenzierung, Einheit und sein Bezug auf dessen transzendentale Bedingtsein, Ausdruck eines Wahrheitsgefühls ist.

7.2.3.1 Der Transzendenzverweis sozialer Gebilde Insofern sich soziales Handeln innerhalb eines Gefüges von Bedingungen vollzieht, verweist jedes Zusammenleben über sich hinaus auf den transzendenten Ursprung dieser Bedingungen. Der menschliche Geist trägt das »ewige und einfache, das schlechthin seiende, auf eine geheimnißvolle Weise in sich« und kann dadurch seine »überirdische Heimath« zum Ausdruck bringen.240 Der grundlegende Ansatzpunkt für diesen Transzendenzverweis des Zusammenlebens sind also die Bedingungen, unter denen das Menschsein steht, und die 236

Ethik 1812/13, § 191, 357. Ebd., § 191, 357. 238 Pädagogik 1826, 547; ein inadäquater Umgang führt letztlich dazu, dass ein Volk »stirbt«, vgl. Ethik 1812/13, § 191, 357. 239 Insofern kommt dem Gut des individuellen Symbolisierens gegenüber den anderen Gütern eine besondere Bedeutung zu, vgl. R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 278. 240 Akademievortrag Höchstes Gut I, 552 Z. 8–15. 237

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

169

sich weder auf frühere Seinsstufen noch auf das Handeln des Menschen selbst zurückführen lassen. Das Gebildetwerden des Zusammenlebens geht also vom Zusammenleben aus, ist aber genau deswegen keine »Selbstschöpfung«,241 weil es unter Bedingungen steht, denen es sich nicht selbst unterstellt hat, sondern unter die es sich gestellt findet. Insofern verweisen diese Bedingungen, unter denen alles Menschsein und überhaupt alles Sein steht, nach Schleiermacher auf das Sein als Schöpfung.242 Ein Zusammenleben ist im religiösen Sinne gebildet, wenn seine Gestaltung mit dem Bewusstsein der eigenen Relativität und Geschichtlichkeit einher geht. Dies äußert sich darin, dass die sozialen Gebilde keinen absoluten Charakter beanspruchen, weder gegenüber den einzelnen Gliedern, noch untereinander. Dies ist letztlich als Grund für Schleiermachers Entscheidung anzusehen, die Güter über relative Gegensätze zu konstruieren und keinem Gut einen Vorzug einzuräumen. Kein Gut ist Gott, und auch das höchste Gut als Einheit aller Güter verweist lediglich auf Gott als den Ursprung seiner Bedingungen. Gebildet ist ein Zusammenleben also dann, wenn es durch die Selbstunterscheidung zwischen menschlicher, immer nur antwortender Gestaltung und Gott als transzendentem Grund aller Bedingungen geprägt ist.

7.2.3.2 Der Wahrheitsausdruck sozialer Gebilde Der Gemeingeist eines Zusammenlebens wie die Sitte als Ganze können ein Medium sein, in dem sich eine bestimmte Religion und das sie prägende Gefühl für Verfassung und Bestimmung des Menschen ausdrückt. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist an dieser Stelle zu betonen, dass Gemeingeist und Sitte deskriptive Begriffe sind. Gemeingeist und Sitte ergeben sich durch die Art und Weise des Zusammenwirkens aller. Es fließen also in Gemeingeist und Sitte immer auch die eigentümlichen religiösen Prägungen der Einzelnen ein, ohne dass sich ein bestimmter Gemeingeist oder eine bestimmte Sitte normativ einfordern ließen. Zugleich meint die Rede von einem einheitlichen Gemeingeist oder einer einheitlichen Sitte nicht, dass es keine Pluralität von Gefühlen und Verständnissen gäbe. Dass es in einer Gesellschaft eine vorherrschende »Idee des Guten« gibt,243 meint den faktischen Konsens in einer Gesellschaft, der sich im gemeinsamen Interagieren manifestiert. Denn der religiöse Gemeingeist bringt keineswegs den Gemeingeist etwa der bürgerlichen Gesellschaft hervor; dies ist vielmehr ein »Werk der Regierung«.244 Auch bringt die Religion nicht einfach die Sitte hervor. 241 Nach C ASTORIADIS : Gesellschaft als imaginäre Institution (wie Anm. 117), 10, 15, ist die Gesellschaft eine »Selbstschöpfung«. 242 Vgl. auch H ERMS : Reich Gottes und menschliches Handeln (wie Anm. 80), 121. In diesem Sinne kann auch der Gottesbezug in staatlichen Verfassungen verstanden werden. 243 Pädagogik 1826, 556, 557, 560 und öfter. 244 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 142.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

Die Sitte ist vielmehr das Ergebnis eines Zusammenwirkens aller. Dennoch beschreibt die spezifische Religion eines Menschen den Korridor für dessen Umgang mit einem bestehenden Gut oder der bestehenden Sitte, insofern die angetroffenen Gestalten des Zusammenlebens der im religiösen Gefühl gegebenen Verfassung und Bestimmung des Menschen mehr oder weniger angemessen sein können.245 Religion hat damit ein sozialkritisches Potential, insofern jedes Zusammenleben ein Verständnis für das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen ausdrückt und auf dieses Verhältnis hin befragt werden kann. So gilt exemplarisch für die christliche Religion : »Die religiöse Gesinnung, gehörig entwickelt, wird dem Gemeingeist das Maß geben [. . . ]; ebenso das rechte Maß für das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen«.246

Das Zusammenleben als die höhere geistige Einheit, zu welcher die Menschen verbunden werden sollen, wird an »das persönliche Gefühl des Einzelnen und an das allgemeinste Gefühl der menschlichen Natur« angeknüpft, eben an das religiöse Gefühl.247 Daher ist die – stets inhaltlich bestimmte, positive – Religion von großer Relevanz für die Bildung des Zusammenlebens.248 Sie kann dafür sorgen, dass die eigene und die gemeinsame Tätigkeit jeweils »nicht isoliert«, sondern »im Ganzen« ist.249 Gebildet ist ein Zusammenleben dann, wenn es Ausdrucksmedium für das religiöse Gefühl ist. Dabei gilt wiederum, dass eine bestimmte Form des Zusammenlebens nicht nur Ausdruck einer einzelnen Gewissheit über Verfassung und Bestimmung des Menschseins sein kann. Ein Zusammenleben kann vielmehr von unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen bejaht werden. Umgekehrt gilt dagegen: Wenn ein soziales Gebilde der Verfassung und Bestimmung des Menschen widerspricht, dann kommt ihr aus der Perspektive der entsprechenden Religion der Charakter der Missbildung zu. Dass Schleiermacher selbst mit solch einer Prägung des Zusammenlebens durch die Religion rechnet, wird etwa daran deutlich, dass Schleiermacher von der Möglichkeit einer gesteigerten Prägung des Staates durch das Christentum ausgeht und einen christlichen Staat für denkbar erachtet.250 Das Christentum ist für Schleiermacher eine inhaltlich bestimmte Idee des Guten. Die Idee des Guten in 245 Von dieser inhaltlichen Dimension sieht dagegen B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 145–150, ab, obwohl sie ebd., 156, die »teleologische Bestimmung des Menschen« festhält. 246 Pädagogik 1826, 171f. 247 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 142. 248 So auch S CHLENKE : Geist und Gemeinschaft (wie Anm. 113), 346. 249 Ethik 1812/13, § 17, 385. 250 Schleiermacher schreibt vom christlichen Gemeingeist oder Prinzip, er durchdringe das bürgerliche Leben und bilde es um: S CHLEIERMACHER: Die christliche Sitte (wie Anm. 81), 459. Dies richtet sich allerdings nicht auf die Materie, sondern auf die Form: ebd., 462. Vgl. zum Verhältnis von Staat und Christentum auch B IRKNER: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems (wie Anm. 307), 132–141.

7.2 Die Güter zwischen Bildung und Unbildung

171

christlicher Prägung ist das Reich Gottes,251 also die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen.252 Das Zusammenleben kann nun dieser Bestimmung des Menschen zur Gottesgemeinschaft und seiner darin gründenden Besonderheit Ausdruck verleihen. Ein Missverständnis bestünde lediglich darin, dass die Christlichkeit des Staates als ein Merkmal desselben verstanden würde, das unabhängig von den individuellen Gewissheiten der staatlichen Repräsentanten existiert. Erneut würde dann mit der Möglichkeit eines übergeschichtlichen Wesens des Zusammenlebens gerechnet.253 Schleiermacher macht eine Reihe von Vorschlägen für das staatliche Handeln in seiner Gegenwart, etwa die Ablehnung der Todesstrafe, von gewaltsamer Revolution, Angriffskriegen sowie gewaltsamer Kolonialisierung.254 Alle diese Handlungsweisen sind nicht geeignet, der christlichen Gewissheit über die Bestimmung des Menschen zum Ausdruck zu verhelfen, sondern verstellen diese eher, und stellen daher aus der Perspektive des christlichen Glaubens Missbildungen dar. Aufgrund dieses kritischen Potentials der Religion besteht nach Schleiermacher auch ein Interesse des Staates an der Religiosität der Einzelnen.255 Letztlich ist es die Religiosität eines Menschen, die auch eine wahre Bildung des Zusammenlebens und also Sittlichkeit ermöglicht. Schleiermachers Theorie der Bedeutung der Religion für das Zusammenleben könnte in zweierlei Weise als problematisch verstanden werden. Erstens könnte sie dahingehend verstanden werden, dass Religion die Ausdifferenzierung der einzelnen Güter und den jeweils herrschenden Gemeingeist ersetzen sollte. Religion hätte damit einen totalitären Charakter. Nach Schleiermacher kann Religion die Ausdifferenzierung und den Gemeingeist aber nicht ersetzen, da sie das Gefühl für die Wahrheit des Menschseins und für Gott als den Ursprung dieser Wahrheit, selbst aber gerade kein Handeln ist. Sie kann das Handeln und den Gemeingeist nur »begleiten«, um eine Formulierung Schleiermachers aus den Reden aufzugreifen.256 Dieses Begleiten hat nun aber kritischen Charakter und kann sich als belebender oder bekämpfender Impuls ausdrücken. Damit wird der systematische und geschichtlich-gewachsene Eigensinn eines Interaktionsbereichs nicht 251 Vgl. S CHLEIERMACHER : Die christliche Sitte (wie Anm. 81), 461; vgl. auch H ERMS : Schleiermachers Christliche Sittenlehre (wie Anm. 310), 164. 252 Nach den Seinsstufen der Vegetation, der Animalisation und der Humanisation durch den νοÜσ folgt mit dem πνεܵα ein weiterer Entwicklungsschritt, vgl. R EBLE: Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 236. 253 Vgl. Abschnitt 7.2.2.2.: »Die Bildung des Gemeingeistes innerhalb der Güter des individuellen Handelns« ab S. 163. 254 Vgl. S CHOLTZ : Die Philosophie Schleiermachers (wie Anm. 15), 127, ebenso B IRKNER : Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems (wie Anm. 307), 133–136. 255 Vgl. H ERMS : Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment (wie Anm. 105), 381, ebenso S CHLENKE: Geist und Gemeinschaft (wie Anm. 113), 348. Dass das Gedeihen des Staates nach Schleiermacher von der Religion abhängt, hält auch ROSE: Schleiermachers Staatstheorie (wie Anm. 16), 295 fest. 256 Reden, 219 Z. 21–24.

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Kapitel 7 Gebildetes Zusammenleben

ersetzt, aber in ein bestimmtes Licht gerückt. Zweitens könnte Schleiermachers Theorie als grundsätzlich pluralitätsfeindlich und fundamentalistisch verstanden werden. Besteht das Ziel eines Zusammenlebens nach Schleiermacher nicht in einer homogenen Sitte, die keinen Raum für Individualität mehr lässt? Die Pointe von Schleiermachers Sicht der Sitte besteht darin, wie diese zustande kommt – sie ist ein freies Erzeugnis aller. Die Sitte ergibt sich aus dem geistigen Zusammenwirken aller, ist aber gerade nicht durch den Menschen planbar. Schleiermacher geht in der Tat davon aus, dass die christliche Religion dazu bestimmt ist, sich auf der ganzen Welt zunehmend zu verbreiten. Dass es aber zu einer solchen Verbreitung kommt, ist kein Effekt und damit auch kein sinnvolles Ziel menschlichen Handelns.257 Die mögliche Einheit der Sitte wird nicht durch den Menschen hergestellt. Und auch dort, wo eine einheitliche Sitte anzutreffen wäre, stünde sie auf dem Boden von Individualität. Die Pointe von Schleiermachers Sicht auf die Bedeutung der Religion für die Bildung des Zusammenlebens besteht darin, dass Religion einen indirekten Bildungsfaktor darstellt. Aus einer Religion kann keine bestimmte Form des Zusammenlebens abgeleitet werden, vielmehr eröffnet sie als Gefühl für Verfassung und Bestimmung des Menschen einen Korridor für Formen des Zusammenlebens, die der als wahr erlebten Verfassung und Bestimmung entsprechen. Damit kommt der Religion zum einen ein kritisches Potential zu, insofern sie in der Lage ist, auch Missbildungen des Zusammenlebens zu benennen – immer gebunden an ihr jeweiliges Gefühl, immer aber auch mit dem Anspruch, dass dieses individuelle Gefühl die Wirklichkeit aller angemessen beschreibt. Zum anderen hat Religion einen motivierenden Charakter, da sie Impulse zur bestimmungsgemäßen Gestaltung des Zusammenlebens freisetzt.

257 Vgl. H ERMS : Reich Gottes und menschliches Handeln (wie Anm. 80), 121, der Schleiermacher ebenfalls so versteht, dass das Wollen eines Menschen keiner menschlichen Verfügungsgewalt unterliegt.

8. Kapitel

Gebildeter Mensch

Schleiermacher thematisiert Bildung nicht nur als eine das Zusammenleben betreffende Größe, sondern beschreibt mit seiner Rede von Bildung auch und besonders den Einzelnen und sein Handeln. Bildung ist damit eine individualanthropologische Kategorie. Das nun folgende Kapitel ist von der Frage geleitet, unter welchen Bedingungen sich nach Schleiermachers Auffassung das bildende Handeln des Einzelnen vollzieht, und inwiefern sich auf diese Weise ein kritischer Begriff der Bildung gewinnen lässt, der eine differenzierte Unterscheidung zwischen Bildung und Unbildung erlaubt. Bei der Rede von einer Bildung und einem Gebildetsein des Einzelnen mag sich zunächst der Gedanke an einen Wissenskanon nahelegen.1 Gebildet ist demnach, wer um die Herkunft gegenwärtiger Kultur weiß und deren Quellen kennt. Auch für Schleiermacher gehört dieser Aspekt des Wissens und Denkens zur Bildung des Menschen unbedingt hinzu, erschöpft sich allerdings nicht darin, sondern geht darüber hinaus. Ursula Frost hat in ihrer umfangreichen Studie zu Schleiermachers Bildungsverständnis besonders den Aspekt des Denkens und der Religion als Kennzeichen von Bildung herausgearbeitet. Damit bleibt allerdings das Handeln als Aspekt einer den ganzen Menschen betreffenden Bildung bei Schleiermacher ebenso im Hintergrund wie Schleiermachers Berücksichtigung von Leiblichkeit und Sozialität, genauso wie das Verhältnis des Menschen zu seiner Bestimmung. Der Grund für diese tendenzielle Engführung liegt darin, dass die Frage nach der Bildung nicht von der Frage nach deren Bedingungen her zu beantworten versucht wurde, wie dies bei Schleiermacher angelegt ist. Die Frage nach den Bedingungen von Bildung im individualanthropologischen Sinne eröffnet erstens den Blick auf das leiblich-soziale Bezogenheitsgefüge, in dem sich jeder Mensch findet, und wehrt damit allen Tendenzen, die Dimension der Leiblichkeit und der Sozialität bei der Annäherung an das Phänomen Bildung auszublenden. Zweitens 1 Einen solchen Kanon hat in jüngster Zeit etwa der Altphilologe Manfred Fuhrman aufgestellt: Manfred F UHRMANN: Bildung. Europas kulturelle Identität (Reclams UniversalBibliothek 18182), Stuttgart 2002. Vgl. dazu die Position von Matthias L OBE: Das Bildungsverständnis der klassischen Pädagogik und seine gegenwärtigen Aktualisierungen, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth (Beiträge zur rationalen Theologie XVI), Frankfurt a. M. Frankfurt a.M. u. a. 2005, 251–265, 251f.

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

betont Schleiermacher die Bedeutung der Gesinnung für die Bildung: Handeln ist durch ein organisierendes Zentrum geleitet. Daher ist für Schleiermacher die Bildung der Leiblichkeit von einer »Willens-, Herzens- und Tugendbildung« flankiert, die im gegenwärtigen Diskurs nach Kirsten Huxels Einschätzung »zunächst weiterhin als veraltet« gelten kann.2 Die Leiblichkeit und ihre Bildung ist erst dann verstanden, wenn sie im Zusammenhang mit der Dimension der Innerlichkeit eines Menschen gesehen wird, die das äußerlich erfahrbare Umgehen mit dem Bezogensein orientiert. Ursula Frost hat der Religion als Bedingung von Bildung innerhalb des Bildungsprozesses eine entscheidende Bedeutung zugesprochen.3 Allerdings wird Bildung bei ihr auf das Denken und das Verhältnis des Denkens zur Religion bezogen, und damit der Bezug der Religion auf das Handeln vernachlässigt.4 Der Bezug der Religion auf alles handelnde Umgehen des Menschen mit seinem Bezogensein in der Einheit von Denken und Gestalten muss dann als fundamental angesehen werden, wenn Religion von ihrer Prägung durch das Erlebnis eines Totaleindrucks her verstanden wird. Das jeweils in einer Religionsgemeinschaft gelebte und tradierte Gottesverständnis ist vermittelt durch einen bestimmten Menschen, der als Erfüllung und Realisierung der Bestimmung des Menschen erlebt wird, der also das wahre Menschsein verkörpert. Dominiert das dadurch je individuell geprägte Wahrheitsgefühl das Erleben eines Menschen, dann wirkt sich dies auch auf dessen Handeln aus. Alles Handeln kann dann selbst zu einer Einheit werden, die Ausdruck seines individuellen Wahrheitserleben ist. Eine solche Bildung des Handelns hat dann den Charakter höchster Individualität, weil sie Ausdruck der individuellsten Seite im Menschen ist. Zugleich kommt ihr aber auch ein universales Moment zu, weil sie Manifestation eines Wahrheitsgefühls für das Menschsein überhaupt, für seine Verfassung und Bestimmung ist. Hinsichtlich der Quellen des folgenden Kapitels legen sich neben Schleiermachers Ethik besonders seine Vorlesungen zur Erziehungskunst, die Pädagogik nahe. Hier entwickelt Schleiermacher eine Theorie des sachgemäßen Umgangs mit den heranwachsenden jungen Menschen einer Gesellschaft. Gegenstand des folgenden Kapitels ist nun allerdings noch nicht dieser erzieherische Umgang mit den Heranwachsenden,5 sondern zunächst die Bildung des einzelnen Menschen überhaupt. Wie ist also das Verhältnis zwischen Erziehung und Bildung bei Schleiermacher zu bestimmen? Schleiermacher beschreibt den erzieherischen Umgang in seiner Vorlesung von 1820 als die »absichtliche Einwirkung auf den in der Entwickelung begriffenen Menschen«.6 Erziehung hat es demnach mit dem Menschen zu tun, der bereits in der Entwicklung begriffen ist. Seine Entwicklung oder sein Gestaltgewinnen, eben seine Bildung ist bereits im Gange. Die 2

H UXEL: Ontologie des seelischen Lebens (wie Anm. 67), 19. Vgl. F ROST: Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110), 295f. 4 Vgl. ebd., 296. 5 Vgl. Abschnitt 9.: »Gebildete Erziehung« ab S. 217. 6 Pädagogik 1820/21, 379 Z. 15f. (Hervorhebung: G.H.)

3

Kapitel 8 Gebildeter Mensch

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Erziehung hat diesen Bildungsprozess zum Gegenstand, bringt ihn aber nicht selbst hervor, sondern begleitet ihn: behütend, gegenwirkend und vor allem unterstützend.7 Dass der Bildungsprozess dennoch nicht ohne dieses begleitende, unterstützende oder gegenwirkende Handeln auskommen würde, ist für Schleiermacher kein Widerspruch.8 Der individuelle Bildungsprozess fällt zusammen mit diesem In-der-Entwicklung-Begriffensein. Bildung ist damit der Gegenstand erzieherischen Handelns, nicht aber dessen unmittelbares Ergebnis. Schleiermachers Texte zur Pädagogik behandeln daher Bildung aus der Perspektive, wie mit dieser umzugehen ist. Für das folgende Kapitel sind also die Aussagen Schleiermachers zum Umgang mit Heranwachsenden nur insofern relevant, als sie immer auch ein Verständnis der Grundzüge des individuellen Bildungsprozesses überhaupt ausdrücken. Mit Theodor Ballhauff kann im Sinne Schleiermachers festgehalten werden, dass die »Dynamik der Bildungsstruktur [. . . ] nicht auf eine bestimmte Bildungszeit, etwa die Jugend, zu beschränken« ist, sondern sich grundsätzlich »über das ganze Leben« erstreckt.9 Die drei Vorlesungen Schleiermachers zur Erziehungskunst weisen inhaltliche Unterschiede und Entwicklungen auf, auf die im Folgenden aber nur dort eingegangen wird, wo sie für die Darstellung von Schleiermachers Verständnis des individuellen Bildungsprozesses relevant sind. In formaler Hinsicht haben alle drei Vorlesungen ihre eigenen Schwierigkeiten und Vorzüge. Die Vorlesung von 1813/14 liegt im Unterschied zu den anderen in Schleiermachers eigenen zusammenfassenden Notizen vor. Da Schleiermacher die jeweiligen Vorlesungsstunden aber nur nachträglich zusammenfasste, sind die Notizen weniger umfangreich als die Vorlesungen von 1820/21 und 1826, die sich aus jeweils umfangreichen Mitschriften von Hörern speisen. Die Vorlesung von 1826 zeigt nicht nur Schleiermachers spätestes Erziehungsverständnis, sondern liegt auch als umfangreichster Text vor, auch weil Schleiermacher 1826 nicht nur drei, sondern fünf Wochenstunden für die Vorlesung ansetzte.10 Bis 2017 war Schleiermachers Vorlesung aus dem Jahr 1826 nur als Kompilation verschiedener, nicht mehr näher identifizierbarer Vorlesungsmitschriebe vorhanden, die Carl Platz angefertigt hatte.11 Sowohl der Vorlesungsmitschrieb von 1820/21 als auch der von 1826 liegen inzwischen aber als sorgfältig edierte Texte im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe in Band II/12 vor. Allerdings ist auch der kompilierte Text von Carl Platz noch insoweit von Nutzen, als er das Ende der Vorlesung von 1826 bietet, während der 7

Vgl. Pädagogik 1813/14, 270–273. Vgl. Pädagogik 1826, 549. 9 BALLAUFF : Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 204. Hinsichtlich religiöser Bildung spricht auch S CHWÖBEL: Bildung (wie Anm. 37), 173f. von einem »lebenslangen Lernprozess«, der informelle wie formelle Bildungsvollzüge umfasst. 10 Friedrich S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, hrsg. v. Michael W INKLER/Jens B RACHMANN, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2000, 406. 11 Vgl. ebd., 407ff. Vgl. auch Pädagogik 1826, LXXVIII–LXXXVI. 8

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

Vorlesungsmitschrieb von Sprüngli vor Ende der Vorlesung abbricht und deswegen die dritte Phase der Erziehung nicht mehr bietet.12 Im Folgenden wird auf alle drei Vorlesungen zurückgegriffen, um die jeweiligen Nachteile der einzelnen Quellen auszugleichen. Außerdem werden die einzelne Aussagen vor dem Hintergrund von Schleiermachers kategorialem Bildungsverständnis interpretiert, wodurch ebenfalls eine kritische Perspektive auf einzelne überlieferte Aussagen möglich ist. Schleiermacher zufolge ist die grundlegende Phase der Bildung die der allgemeinen Bildung mit dem Beginn des Erwerbslebens oder dem Beginn der berufsspezifischen Bildung abgeschlossen.13 Die allgemeine Bildung umfasst die Bildung von Fertigkeiten und der Gesinnung, jeweils im weiten Sinne verstanden. Dennoch ist Bildung nicht auf diese Phase beschränkt, sondern dauert prinzipiell lebenslang fort. Für ein Verständnis der Gesinnung und des Handelns sind Einsichten Schleiermachers von großer Relevanz, die er in der Tugend- und Pflichtenlehre darlegt.14 Während die Tugendlehre eng an den Sachverhalt der Gesinnung anschließt und die Bildung des Wollens behandelt, wird Schleiermachers Verständnis des Zusammenhanges von Einzelhandlungen in der Pflichtenlehre thematisiert.

8.1 Die Bedingungen für die Bildung des einzelnen Menschen Das bildende Handeln des Menschen erfolgt innerhalb eines Korridors, der durch die Bedingungen beschrieben wird, unter die der Einzelne gestellt ist. Bildung ist damit nicht einfach eine Form der »Selbstbestimmung, derzufolge es in die Hand des Menschen als selbstständigem Subjekt gelegt wäre, sich selbst völlig frei zu entwerfen und zu verwirklichen«.15 Diese Bedingungen bestehen darin, dass das eigene Bezogensein des Menschen bereits für den Menschen selbst organisiert und symbolisiert ist. Im vorangegangenen Abschnitt zu den Gütern des menschlichen Lebens wurde bereits der allgemeine Charakter des Organisiert- und Symbolisiertseins der Natur für die Vernunft dargestellt.16 Im Folgenden ist näher auszuführen, wie sich dies am Ort des Einzelnen verhält, und zwar im Hinblick auf die Individualität seines Bezogenseins17 und im Hinblick auf die übertragbare 12

Vgl. Pädagogik 1826, 861ff. Ebd., 835. 14 Vgl. dazu Ethik 1812/13, sowie den Akademievortrag Tugendbegriff und den Akademievortrag Pflichtbegriff. Auf die Bedeutung der Tugendlehre für die Pädagogik weist Schleiermacher ebenfalls hin in seinen Aphorismen zur Pädagogik: S CHLEIERMACHER: Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), Band 1, 331, Nr. 21. 15 P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 174f. 16 Vgl. Abschnitt 7.1.1.: »Das Vorgebildetsein der Güter« ab S. 134. 17 Vgl. Abschnitt 8.1.1.: »Das individuelle Bestimmtsein des Menschen durch Temperament, Talent und Neigung« ab S. 177. 13

8.1 Die Bedingungen für die Bildung des einzelnen Menschen

177

Weise seines Handelns.18 Mit diesen beiden Bedingungen geht eine weitere einher, die als der Richtungssinn individuellen Werdens oder als Bestimmung des einzelnen Menschen angesprochen werden kann.19 Eine weitere Bedingung des bildenden Handelns besteht darin, dass es durch die sozial eingebettete Gesinnung des Einzelnen ausgerichtet werden kann, deren Zustandekommen aber nicht durch den Einzelnen bewirkt wird.

8.1.1 Das individuelle Bestimmtsein des Menschen durch Temperament, Talent und Neigung Schleiermacher geht von einer ursprünglichen Individualität aus,20 was sich an seiner Lehre von den Temperamenten, den Talenten und den Neigungen zeigt.21 Die Grundstruktur von Schleiermachers Verständnis von Temperament, Talent und Neigung ergibt sich aus Schleiermachers Theorie des Bezogenseins des Einzelnen. Das Bezogensein des Einzelnen hat den Charakter der Wechselwirkung mit der Außenwelt;22 dabei herrscht nun stets ein bestimmtes Übergewicht entweder der Empfänglichkeit oder der Selbsttätigkeit.23 Auf dieser Verhältnisbestimmung baut Schleiermacher seine Theorie des Temperaments auf. Die Selbsttätigkeit, die sich auf der Leiblichkeit aufbaut, hat ebenfalls ein bestimmtes Gepräge. Diejenige Seite der Selbsttätigkeit, die sich besonders leicht entfalten lässt, beschreibt das Talent eines Menschen. Empfänglich ist ein Menschen für sein Bezogensein insgesamt; dabei besteht aber immer ein Interesse, eine »Neigung«, die sich besonders stark ausgeprägt und auf einen bestimmten Bereich des eigenen Bezogenseins gerichtet ist. Dieser Bereich wird als der »Lieblingsstoff« eines Menschen beschrieben. Die Eigenart des individuellen Temperaments ergibt sich daraus, ob eher die Rezeptivität oder eher die Spontaneität über das jeweils andere Moment dominieren und den Schwerpunkt des Lebens bilden.24 Daneben besteht noch ein weiterer Unterschied, der darin liegt, wie schnell oder langsam einzelne Momente aufeinander folgen.25 Die Dominanz der rezeptiven oder spontanen Seite kann daher so sein, dass sie entweder eher unbeständigen, impulsiven Charakter hat oder eher 18 Vgl. Abschnitt 8.1.2.: »Die übertragbaren Handlungsvermögen des Menschen: Leibeskräfte, Sprachsinn und Gesichtssinn« ab S. 180. 19 Vgl. Abschnitt 8.1.4.: »Der ursprüngliche Richtungssinn: Die Bestimmung des einzelnen Menschen« ab S. 190. 20 Anders L OBE : Das Bildungsverständnis der klassischen Pädagogik und seine gegenwärtigen Aktualisierungen (wie Anm. 1), 262: »Individualität ist seiner Ansicht nach bei Schleiermacher keine immer auch gegebene Größe, sondern ursprünglich eine durch den Menschen hervorgebrachte«. 21 Vgl. Pädagogik 1813/14, 263 Z. 21f. 22 Vgl. Akademievortrag Tugendbegriff, 360. 23 Vgl. Pädagogik 1813/14, 262. 24 Ebd., 263, Z. 7–9. 25 Vgl. Psychologie, 304f.

178

Kapitel 8 Gebildeter Mensch

Überwiegend spontan

Überwiegend rezeptiv

Überwiegend gleichförmig

Sanguinisch

Phlegmatisch

Überwiegend ungleichförmig

Cholerisch

Melancholisch

Tabelle 4: Die Temperamente nach Schleiermacher

dauerhaften und beständigen. Dadurch wiederum ergibt sich ein Schema von zwei sich kreuzenden, relativen Gegensätzen (vgl. dazu die Tabelle 4), das bereits von Johannes Schurr herausgearbeitet wurde.26 Schleiermacher sieht diese Struktur bereits in der aus der griechischen Antike stammenden Lehre von den Temperamenten angelegt, die er daher folgerichtig aufgreift und vor dem Hintergrund seines Verständnisses vom Bezogensein des Menschen neu interpretiert.27 Unter die eher impulsiven, unbeständigeren Temperamente fallen das melancholische und cholerische Temperament,28 zu den eher gleichmäßigen und beständigeren Temperamenten zählt Schleiermacher das phlegmatische und das sanguinische.29 Das Bezogensein eines Menschen ist stets ein soziales Bezogensein, weswegen Schleiermacher Passungen zwischen Temperamenten und Interaktionsbereichen sieht.30 Eine günstige Verbindung erkennt Schleiermacher zwischen dem konstant selbsttätigen Temperament und dem Bereich des identischen Organisierens, wenn er den Phlegmatiker mit dem Staatenlenker assoziiert. Aufgrund der für unterschiedliche Situationen und Personen empfindsamen Empfänglichkeit des Melancholikers sieht er diesen im Bereich von Kunst und Religion beheimatet, etwa in der Funktion des religiösen Virtuosen. Eine gleichmäßige Spontaneität verbindet sich in günstiger Weise mit dem Beruf des Wissenschaftlers und die Selbsttätigkeit, die unregelmäßigen Charakter trägt, verwirklicht sich Schleiermachers Ansicht zufolge am besten in der Phase der Familiengründung. Das prozessuale Denken Schleiermachers zeigt sich auch an seiner Lehre von den Temperamenten, insofern Schleiermacher den Einzelnen und dessen Temperament nicht als eine statische, sondern als eine entwicklungsoffene Größe versteht und sie den vier Lebensaltern zuordnet.31 So schreibt Schleiermacher dem Kindesalter eine überwiegend sanguinische Tendenz zu, da es von der Viel26 Vgl. S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 274–287. Die Konstruktion legt Schleiermacher in seiner Psychologie dar: Vgl. Psychologie, 302–308. 27 Vgl. Pädagogik 1820/21, 357f. 28 Vgl. Psychologie, 307f. 29 Vgl. ebd., 308f. Vgl. S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 274–287. 30 Vgl. dazu ausführlich Psychologie, 301–321, 475–479. 31 Vgl. ebd., 317, 365–405.

8.1 Die Bedingungen für die Bildung des einzelnen Menschen

179

heit der Eindrücke geprägt ist.32 Dies ändert sich im Jugendalter, in dem die Stimmungen, die χολ , an Macht gewinnen und das Leben prägen.33 Der Eintritt in das Erwachsenenalter erfordert dagegen schnelle Reaktionen und eine hohe Anpassungsfähigkeit, weswegen Schleiermacher diese Lebensphase mit dem Moment des Cholerischen in Verbindung bringt.34 Diese Phase geht über in die des höheren Lebensalters, das eine phlegmatische Tendenz aufweist und damit auch den Charakter der Konstanz.35 Schleiermacher beschreibt damit das Temperament eines Menschen als eine Bestimmtheit des Menschen, der er einerseits unterworfen ist, die aber andererseits durchaus eine Größe darstellt, die im Wandel begriffen ist: Zum einen deswegen, weil sich die Lage des Menschen im Bezogenheitsgefüge selbst verändert. Eine Veränderung des Bezogenseins, etwa durch den Eintritt in das Berufsleben oder die Gründung einer Familie, muss nicht nur auf der Ebene des Gestaltens und Denkens bewältigt werden, sondern auch auf der Ebene der Temperamente. Zum anderen versteht Schleiermacher das Temperament aber auch als eine Größe, die vom Charakter des Einzelnen geprägt wird. Schleiermacher versteht unter »Charakter« die Kraft des Einzelnen, die eigene Individualität in den Kontext des Ganzen, der Gattung und ihrer Vernunft, zu stellen und zu leben.36 Bildung, verstanden als Selbstbildung, ist damit ein Prozess, der solange dauert wie das Leben.37 Insofern besteht eine Nähe zwischen Schleiermachers Konzeption und der von Romano Guardini, der den Aufgabencharakter der Lebensphasen stark betont.38 Schleiermachers Verständnis der Entwicklung von Talent und Neigung baut sich auf den Grundformen der Handlungsvermögen auf,39 weswegen sich Schleiermachers Verständnis von Talent und Neigung am leichtesten darstellen lässt, wenn zunächst seine Theorie der Handlungsvermögen entfaltet wird.40

32 Vgl. Psychologie, 381, zum Kindesalter insgesamt 366–373. Vgl. dazu auch S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 285–287. 33 Vgl. ebd., 282–285. Vgl. Psychologie, 382, zum Jugendalter insgesamt: 373–383. 34 Vgl. ebd., 399f. Zum »reiferen Alter« vgl. 384–402. S CHURR : Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 279–281. 35 Vgl. Psychologie, 399f. Zu dieser letzten Lebensphase vgl. ebd., 403–405. Ebenso S CHURR: Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 279f. 36 Vgl. Psychologie, 326f. 37 Vgl. B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 231. 38 Romano G UARDINI : Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, Würzburg 2 1954. 39 Vgl. Pädagogik 1813/14, 284f. 40 Vgl. Abschnitt 8.2.1.: »Das Kriterium der Ausdifferenzierung« ab S. 193.

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

8.1.2 Die übertragbaren Handlungsvermögen des Menschen: Leibeskräfte, Sprachsinn und Gesichtssinn Der Mensch wird von Schleiermacher als ein Wesen beschrieben, das – wie alles andere Sein auch – seiner Außenwelt nicht einfach gegenüber-, sondern in eine ursprüngliche Wechselwirkung gestellt ist: »Dieses [das einzelne Leben, G.H.] nun steht, indem es immer nur beziehungsweise vereinzelt ist und nie vollkommen, mit dem Ganzen in einem beziehungsweisen Gegensatz, der sich in einer stets erneuerten Wechselwirkung offenbart«.41

Diese Wechselwirkung ist das »bewußte Insicheinbilden« und das »bewußte aus sich heraus in die Welt Hinüberbilden«.42 Dieser relative Gegensatz stellt den »Gegensaz von Receptivität und Spontaneität« am Ort des Menschen dar43 und knüpft sich an den Gegensatz von Natur und Vernunft. Die Wechselwirkung, in die der Mensch gestellt ist, ist leiblich vermittelt. Der Leib besitzt in diesem Sinne den Charakter eines Werkzeugs, weswegen Schleiermacher auch von den einzelnen Organen des Leibes spricht.44 Diese Rede vom Organ ist nicht auf den medizinischen Sinn beschränkt, sondern beschreibt die verschiedenen Potentiale des Leibes, symbolisierend oder organisierend tätig zu sein. Schleiermacher hebt drei dieser Organe hervor:45 Der Leib selbst als Inbegriff der Glieder ist das ursprüngliche Organ des organisierenden Handelns.46 Der Sprachsinn des Menschen fasst den Gehörsinn und die Sprachlichkeit des Menschen zusammen und ist das ursprüngliche Organ des Symbolisierens.47 Zuletzt nennt Schleiermacher den Gesichtssinn, der sich über das Auge aufbaut,48 den er nicht nur als Wahrnehmungssinn versteht, sondern auch als umfassenden Sinn für Verhältnis und Maß, und ihn deswegen systematisch über dem Symbolisieren und dem Organisieren ansiedelt, da beide an einen solchen Sinn für Verhältnis und Maß gebunden sind.49 Die Möglichkeit symbolisierenden und organisierenden Handelns ist an Grundfunktionen des Leibes gebunden und hat damit grundsätzlich übertragbaren Charakter. Schleiermacher hält deswegen auch fest, dass diese Fertigkeiten bis zu einem gewissen Grad von grundsätzlich jedem Menschen angeeignet werden 41

Akademievortrag Tugendbegriff, 360 Z. 20. Ebd., 361 Z. 1f. 43 Pädagogik 1813/14, 262 Z. 20–31. 44 Güterlehre (L.B.), § 27, 572. Vgl. auch Pädagogik 1813/14, 284f. 45 Der Tast- und der Geschmackssinn wird von Schleiermacher weniger ausführlich dargestellt, vgl. etwa Pädagogik 1826, 708f. 46 Vgl. Pädagogik 1813/14, 316f. Vgl. auch Pädagogik 1826, 781. 47 Vgl. ebd., 709f. Vgl. Pädagogik 1813/14, 305f. 48 Pädagogik 1826, 709. Vgl. Pädagogik 1813/14, 305. 49 Vgl. dazu ausführlicher Georg H ARDECKER : Zwischen Therapie und Selbstmechanisierung. Grenzen und Chancen von »Human Enhancement« vor dem Hintergrund der Anthropologie Friedrich Schleiermachers, in: ZEE 62/4 (2018), 279–295, 283ff. 42

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können, wenn eine entsprechende pädagogische Vermittlung gegeben ist. Jede Fertigkeit kann aber auch einen künstlerischen Charakter annehmen, und dies kann nicht durch äußere Einwirkung veranlasst werden. So ist nach Schleiermacher zwar jeder Mensch grundsätzlich sprachfähig; den Worten aber klingende Poesie zu entlocken oder diese Poesie zu vernehmen, setzt nicht nur ein besonderes Talent voraus, sondern verlangt auch ein »innere Produktivität«, die durch pädagogische Einwirkung von außen nicht herstellbar ist: »Alle Wirkung auf Gesicht und Gehör von außen wird diese innere Productivität nicht hervorbringen.«50

Die Intensivierung der Wahrnehmung oder des Ausdrucks im Handeln ist abhängig von einem inneren Interesse des Einzelnen, von seiner Neigung, und von den bestehenden Entwicklungsmöglichkeiten seiner leiblichen Funktionen, den »Talenten«. Die Fähigkeit zum »speculativen« Denkens51 versteht Schleiermacher daher ebenso wie Musikalität und Sprachsinn als ein besonderes Talent.52 Neben diesen Fertigkeiten, die sich an die Sprache anschließen, ist auch der Sinn für Größen, Mengen und Verhältnisse einer, der den Charakter des Talents hat.53 Diese Gebundenheit der Entwicklungsmöglichkeiten hinsichtlich einer Ausbildung des künstlerischen Charakters einzelner Fertigkeiten stellt eine weitere Bedingung menschlichen Handelns dar.

8.1.3 Das organisierende Zentrum des Bildens: Gesinnung und Gemeingeist Neben den Bedingungen der individuellen Bestimmheit des eigenen Eingebundenseins in die Wechselwirkung mit der Außenwelt und der spezifischen Leibgebundenheit des Organisierens und Individualisierens kennt Schleiermacher eine weitere Bedingung allen bildenden Handelns des Menschen. Bildung steht unter der Bedingung einer Bestimmtheit der Gesinnung als des organisierenden Zentrums eines Menschen. Dabei ist auch die Gesinnung selbst noch bedingt durch das Zusammenleben, in das ein Mensch eingebettet ist.54

50

Pädagogik 1813/14, 306 Z. 10f. Ebd., 294. 52 Vgl. Pädagogik 1826, 707: Die Sinne haben immer auch eine »artistische Seite«. 53 Vgl. ebd., 707. 54 Vgl. zu dieser sozialen Einbettung auch H ELLER : Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), 103, 134. 51

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8.1.3.1 Die Gesinnung als Liebe und Weisheit Während die Fertigkeiten das Potential zum Umgang mit dem Bezogensein darstellen, stellt die Gesinnung den »regierenden Geist« des Bezogenseins dar.55 Sie beschreibt damit eine Größe, die in Anlehnung an die bisher entwickelten Begrifflichkeiten als organisierendes Zentrum des Lebens des Einzelnen bezeichnet werden kann. Fertigkeiten alleine beschreiben nur Handlungspotentiale – wie genau diese Möglichkeiten aber genutzt werden, ist damit noch nicht festgelegt. Diese Festlegung von Handlungszielen fällt in den Bereich des Willens des Einzelnen. Dieser Wille hat nach Schleiermacher eine doppelte Gestalt, er ist zum einen als einzelner Wille verfasst, zum anderen als allgemeiner Wille, der einer bestimmten Menge einzelner Willensakte unter ein höheres, die einzelnen Akte zusammenfassendes Ziel stellt.56 Beide Aspekte bilden einen relativen Gegensatz, und nur beide zusammen machen den Willen eines Menschen aus. Unter der Gesinnung versteht Schleiermacher nun den allgemeinen Willen des Einzelnen, die »Beziehung des Willens auf die ganze Idee des Lebens«.57 Die einzelnen, situationsspezifischen Willensakte knüpfen freilich auch noch an die Gesinnung an, befinden sich aber schon zwischen Gesinnung und Fertigkeiten.58 Schleiermacher spricht in seiner Erziehungslehre von der Gesinnung als einer Größe, die in ihrem ganzen Umfang gedacht sei.59 Damit wird der gesamte Bereich des Willens als Bereich der Gesinnung verstanden, und so auch das Verhältnis zwischen allgemeinem und situationsspezifischem Willen. Diese beiden gehören sachlich zusammen, denn die Gesinnung kann sich nur in den einzelnen Willensakten manifestieren.60 Auf diese Weise wird die Rede von der Gesinnung in der Erziehungslehre zu einem Wechselbegriff für Tugend. Schleiermacher zufolge ist eine Bildung der Fertigkeiten auf methodisch kontrollierte Art und Weise recht umfassend möglich, dagegen kann auf die Gesinnung nur mittelbar gewirkt werden: »[A]uf die Gesinnung [kann] durch Gegenwirkung gar nichts ausgerichtet werden.«61 Während sich technische Verfahren für die Vermittlung von Fertigkeiten eignen und sich »mechanisiren« lassen, ist dies im Falle der Gesinnung weit schwieriger.62 Damit wiederholt Schleiermacher eine Einsicht, die er schon in den Reden geäußert hatte: »[A]uf den Mechanismus des Geistes könnt Ihr wirken, aber in die Organisazion deßelben, in diese geheiligte Werkstätte des Universums könnt Ihr nach Eurer Wilkühr nicht eindringen«.63 Die Bildung der Gesinnung vollzieht sich demnach letztlich im Verborgenen und 55

Pädagogik 1813/14, 277. Vgl. Pädagogik 1826, 613. 57 Ebd., 613. So auch: B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 103. 58 Vgl. Pädagogik 1826, 613f. 59 Vgl. ebd., 630. 60 Ebd., 614. 61 Ebd., 615. 62 Ebd., 637. 63 Reden, 250, Z. 10–13. 56

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ist dem direkten Zugriff von außen entzogen; sie kann nur unterstützt werden.64 Schleiermacher beschreibt die Gesinnung eines Menschen zum einen als »Richtigkeit in der Bestimmung der Zwecke« – dies nennt er »Weisheit«.65 Zum anderen besteht die Gesinnung im »Bestreben Gemeinschaft hervorzubringen«. Diesen Impuls nennt Schleiermacher die »Liebe«.66 Schleiermacher beschreibt die Weisheit als das, wodurch »alles Handeln des Menschen einen idealen Gehalt bekommt«.67 Die Weisheit »läuft darauf hinaus, daß durch Eine einzige That, in welcher sich gleichsam das höhere erkennende Vermögen seines niederen Organs bemächtiget, auch das ganze Bewußtsein des Menschen von seiner Stellung in der Welt, mithin sein ganzes Leben, in der Idee völlig bestimmt sei«.68

Weisheit beschreibt eine Gewissheit hinsichtlich der Verfassung und Bestimmung des Menschen und steht damit in enger Verbindung zum religiösen Gefühl. Dies wird dadurch unterstrichen, dass Schleiermacher die Weisheit mit derjenigen Größe identifiziert, die innerhalb des Christentums als »Glaube« bezeichnet wird.69 Dabei liegt die Pointe darin, dass das Erleben einzelner Situationen in einen anderen, jeweils spezifischen Horizont gerückt wird: Der Weise ist nicht deswegen weise, weil er seine Begierde nachträglich, nach deren Entstehen, zu bezähmen wüsste, sondern weil sich seine Affekte, etwa das Erleben von Schmerzen, verändert haben.70 Wie aber ist die Etablierung von »Weisheit« oder der Bestimmtheit des religiösen Gefühls als Tat des Einzelnen zu verstehen? Eine naheliegende Verständnismöglichkeit bietet sich auf der Linie Immanuel Kants an, der diese Etablierung als eine »Revolution in der Gesinnung im Menschen« versteht, die sich durch den Einzelnen selbst vollzieht.71 Zutreffend an diesem Verständnis ist aus Schleiermachers Perspektive jedenfalls, dass eine Veränderung der Gesinnung sich nicht gegen den Willen des Betroffenen richten kann. Dies bedeutet nun aber nicht, dass die Veränderung ein Akt freischwebender Willkür wäre. Schleiermacher versteht die Veränderung der Gesinnung vielmehr so, dass der Mensch mittels eines Totaleindrucks einer Gestalt menschlichen Lebens begegnet, in der er auf individuelle Weise seiner wahren »Stellung in der Welt« ansichtig wird und diese ergreift.72 Die Pointe von Schleiermachers Verständnis der Weisheit liegt also 64 Pädagogik 1826, 637f. So auch: B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 106. 65 Akademievortrag Tugendbegriff, 324. 66 Ebd., 333. 67 Einleitung Ethik (L.B.), § 1, 380. 68 Akademievortrag Tugendbegriff, 328 Z. 29–33. 69 Ebd., 376 Z. 6–11. 70 Ebd., 326. Vgl. Einleitung Ethik (L.B.), § 6, 381. 71 Immanuel K ANT : Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: AA VI, Berlin 1914, 1–202, 61–69, hier: 61. 72 Akademievortrag Tugendbegriff, 328 Z. 32.

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darin, dass die »Richtigkeit in der Bestimmung der Zwecke« ihren Maßstab im individuellen Erleben der Wahrheit des Menschseins hat.73 Weisheit baut sich auf einem individuellen Erleben von Wahrheit auf und besteht in der Kunst, die eigenen Handlungsziele zu diesem Eindruck der Wahrheit in Beziehung zu setzen. In welchem lebensgeschichtlichen Abschnitt rechnet Schleiermacher mit einer Bildung der Gesinnung? Schleiermacher weist darauf hin, dass es »einen Punkt [gibt], in welchem ihm für vieles auf einmal der Sinn aufgeht: das ist die Periode der Mannbarkeit, in welcher der Mensch eigentlich für alles höhere erst empfänglich wird«.74 Die Rede vom Höheren ist das Bewusstsein dafür, dass es grundsätzlich eine Wahrheit bezüglich der Stellung des Menschen in der Welt gibt. Erst dann, wenn dieses Bewusstsein erwacht ist, ist auch eine Bildung der Weisheit oder des Glaubens möglich. Und erst wenn sich die Gesinnungsbildung vollzogen hat, kann der Übergang eines Heranwachsenden aus der Schule in das Erwerbsleben verantwortet werden, denn für das Leben in der Erwerbstätigkeit ist Selbstständigkeit erforderlich, und »die Selbstständigkeit [ruht] auf der religiösen Entwickelung«.75 Aus heutiger Sicht ist daran ein Doppeltes ungewohnt: Zum einen überrascht die sich in der Beiläufigkeit der Rede ausdrückende Selbstverständlichkeit, mit der Schleiermacher die Selbstständigkeit, also die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung, an die Entwicklung der Religiosität knüpft. Zum anderen irritiert der Zeitpunkt, an dem die religiöse Entwicklung angeblich abgeschlossen sein kann und soll: Nach Schleiermachers Einschätzung wäre dies mit dem Abschluss der allgemeinen Bildung und damit bereits im Alter von ungefähr 14 Jahren zu erwarten. Die Verknüpfung von Selbstbestimmung und religiösem Gefühl ergibt nur dann einen Sinn, wenn das religiöse Gefühl wie bisher dargestellt das Innesein über die eigene Stellung in der Welt, über Verfassung und Bestimmung des Menschseins umfasst. Aus heutiger Sicht erscheint es unwahrscheinlich, dass in diesem Alter die religiöse Entwicklung grundlegend abgeschlossen ist, vielmehr ist eher davon auszugehen, dass sie dann überhaupt erst richtig beginnt. Entweder es musste sein, was anders nicht sein durfte: Die Kinder wurden mit dem Ende der Konfirmation aus der Schule ins öffentliche Leben und damit in die Selbstständigkeit entlassen, und dies konnte nur dann verantwortet werden, wenn sie dieser Selbstständigkeit auch fähig waren. Da dies nach Schleiermachers Ansicht wiederum nur dann der Fall sein konnte, wenn die religiöse Gesinnung entwickelt war, postulierte er das Zusammenfallen von faktischem Ende allgemeinbildender Schulzeit und dem möglichen Erwachtsein der religiösen Gesinnung. Oder Schlei73

Akademievortrag Tugendbegriff, 324 Z. 24. Entsprechend auch Friedrich S CHLEIERMA Die Praktische Theologie. Nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hrsg. v. Jakob F RERICHS (SW I/13), Berlin 1850 (im Folgenden zit. als Praktische Theologie), 349: »Den Glauben kann der Geistliche nicht mittheilen, sein Entstehen ist das Werk des göttlichen Geistes«. 74 Pädagogik 1813/14, 272 Z. 35–37. 75 Pädagogik 1820/21, 538 Z. 10f. Vgl. auch Pädagogik 1826, 688. CHER :

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ermacher erlebte Konfirmandinnen und Konfirmanden, bei denen er in der Tat einen solchen Reifegrad der religiösen Entwicklung feststellte – eine Frage, die an dieser Stelle offen bleiben muss. Die Setzung von Handlungszielen erfolgt nicht unabhängig von Gemeinschaftlichkeit; vielmehr sind Handlungsziele sozialer Natur und der innere Impuls, diese anzustreben, ist als Liebe verfasst. Dabei sind Weisheit einerseits und Liebe als Seelewerdenwollen andererseits eng verbunden. Schleiermacher drückt dies aus, wenn er sagt, dass »in der Liebe nichts sein könne, was nicht in der Weisheit gesezt ist«.76 Der individuelle Impuls zur Gemeinschaft wird orientiert durch die Weisheit als Wahrheitsgefühl für die immer auch soziale Verfassung und Bestimmung des Menschen.77 Die Liebe des einzelnen Mensch besteht nach Schleiermachers Beschreibung in dem Impuls, die eigene Individualität mit der angetroffenen Gestalt des Lebens zu vereinigen. Daher versteht Schleiermacher die Liebe auch als »Aufhebung eines Gegensazes von innerem und äußerem«.78 Insofern jedem Menschen dieser Impuls zum Seelewerdenwollen ursprünglich zu eigen ist, ist die »Liebe zu diesen Gemeinschaften angeboren«.79 Die Liebe differenziert sich im besten Falle aus zur Liebe gegenüber den vier angeborenen Interaktionsgemeinschaften und gegenüber Gott als dem welttranszendenten Ursprung. So ist sie zunächst »Familienliebe«, und kann dann zu einer – auf die Nation beschränkten – »Nationalliebe« werden.80 Gegenüber diesen beiden Formen beschränkter Liebe gibt es die »allgemeine« Liebe »nur in der Kirche«.81 Nur in der Kirche hat sie die Gestalt eines »unbegrenzten Verbreitungsstrebens«.82 Der Grund dafür liegt in Gehalt und Gestalt der Religion: Sie ist individuelles Wahrheitsbewusstsein, gerichtet auf Verfassung und Bestimmung des Menschen. Damit einher geht das Bewusstsein der Gleichheit aller Menschen83 und damit verbunden auch die Liebe zu allen Menschen. Dieser Gehalt impliziert nach Schleiermacher auch den Verweis auf den welttranszendenten Ursprung des Menschseins, der wiederum als 76

Ethik 1812/13, § 1, 386, Randschrift 1827a. Vgl. auch ebd., § 1, 386, Randschrift 1827a: »Weisheit ist die Thätigkeit der Vernunft in der Natur, mehr abstrahirt von dem noch-nicht-Geeinigt-Sein der Natur, Liebe mehr die Thätigkeit auf die Natur, mehr abstrahirt von dem schon-geeinigt-Sein«. 78 Pädagogik 1813/14, 296 Z. 32f. 79 Pädagogik 1820/21, 384 Z. 24 Z. 8f. Den Geschlechtstrieb etwa und den Erhaltungstrieb, der wiederum als Zorn und Geiz begegnet, stuft Schleiermacher überraschend als elementare Formen der Liebe ein: Vgl. Pädagogik 1813/14, 279. Der Geschlechtstrieb wird damit als Impuls auf Gemeinschaft hin verstanden. Dass Schleiermacher auch den Erhaltungstrieb so versteht, wird erst nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen führt, dass es für Schleiermacher nie um den Erhalt eines isolierten Lebens geht, sondern letztlich immer um den Erhalt des Bezogenseins. 80 Ebd., 297. 81 Ebd., 297 Z. 9. 82 Ebd., 297 Z. 11. 83 Vgl. Pädagogik 1820/21, 537 Z. 23f: »Das religiöse Gebiet ist aber das Gebiet der höchsten Gleichsetzung, weil vor Gott alle gleich sind«. 77

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sogenanntes »göttliche[s] Bewußtsein« Gegenstand der »absolute[n] Liebe« ist.84 Die Liebe gipfelt damit in der Gottesliebe.85

8.1.3.2 Der Gemeingeist als Sinn und Geist des Ganzen Den einzelnen Menschen gibt es nur eingebettet in bestimmte geschichtlich gewordene, erfahrbare Formen des Zusammenlebens.86 Darunter fallen für Schleiermacher eine bestimmte Familie, eine bestimmte Überzeugungsgemeinschaft, eine bestimmte Form des Staates, eine bestimmte Sprachgemeinschaft und eine bestimmte Form der Geselligkeit und Gastfreundschaft.87 Da diese Bezogenheit des Menschen eine unhintergehbare ist, erstreckt sie sich auch auf das Gefühl. Auch das Fühlen ist eingebettet in das Zusammenleben: »Jeder einzelne ist mit seinem Gefühl abhängig von einem Gemeingefühl«.88 Und daher muss sich »die Gesinnung immer zu gleicher Zeit in der Form des Gemeingeistes entwickeln«.89 Schleiermachers Ansicht zufolge wird diesem sozialen Bezug der individuellen Gesinnung zu wenig Beachtung geschenkt, was namentlich in der Schule dazu führt, dass die Wirkung der Strafen zu hoch, die Macht des Gemeingeistes aber als zu gering eingeschätzt wird: »Auf den Willen des einzelnen [muss] eigentlich gewirkt werden unmittelbar durch die Gewalt des Ganzen [. . . ]. Das im Allgemeinen nicht genug anerkannt was für eine große Wirkung die Gewalt des Ganzen auf den Einzelnen ausübe«.90 Zugleich sind Menschen aber nicht nur auf die einzelnen Interaktionsbereiche bezogen, sondern auch auf das Ganze eines Zusammenlebens,91 das ebenfalls für das Gefühl zugänglich ist: »Im Gefühl hat es auch der ungebildete Mensch, daß geselliges und religiöses, bürgerliches (Leben) und Wissen zusammenhängen.«92 Schleiermacher verwendet »ungebildet« hier für diejenigen Menschen, die sich der Einheit des Menschseins nicht auf begrifflichem Wege, also spekulativ, zu nähern vermögen. Damit betont Schleiermacher, dass der Einblick in den grundsätzlichen Zusammenhang aller Interaktionsbereiche keine Sache des Intellekts ist, sondern ein Sachverhalt, der jedem Menschen im Gefühl gegeben ist. Dieses hat seinen Anhaltspunkt im Gefühl für das eigene Bezogensein des Menschen: Jeder Mensch ist zugleich wissend und fühlend, und handelt gleichzeitig übertragbar und auf individuelle Weise, und ist damit auch in die entsprechenden Interaktions84

Pädagogik 1813/14, 296. Vgl. ebd., 296, wo Schleiermacher die Formen der Liebe als konzentrisch angeordnete Kreise beschreibt, dabei ist die allgemeine Liebe die, die alle anderen umfasst. 86 Vgl. Abschnitt 7.: »Gebildetes Zusammenleben« ab S. 129. 87 Vgl. Pädagogik 1813/14, 264 Z. 13–17. 88 Ebd., 295 Z. 39 – 296 Z. 1. 89 Pädagogik 1826, 677 Z. 9–11. 90 Ebd., 757f. Vgl. auch S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 373. 91 Vgl. Abschnitt 7.2.2.3.: »Der Gemeingeist der Gesamtgesellschaft« ab S. 166. 92 Pädagogik 1813/14, 291 Z. 13–15. 85

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gemeinschaften eingebettet, deren ursprünglichste die Familie ist. Das Gefühl für das eigene, intern differenzierte und zugleich einheitliche Bezogensein schließt ein Gefühl für Einheit und Differenziertheit des Zusammenlebens ein und deswegen weist »jede Affection des Gefühls, wenn sie auch von dem einen Gebiete ausgeht, [. . . ] doch zugleich auf alle anderen hin«.93 Das gefühlsmäßige Bezogensein des Menschen auf die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens wirkt nun auch prägend auf die Gesinnung, die individuelle Gestalt des Willens. Pointierter ausgedrückt: Nach Schleiermacher kann sich die Gesinnung des Einzelnen nur in Auseinandersetzung mit einem gegebenen Gemeingeist entwickeln.94 So wird in einer Familie »nach ihrem [ergänze: jeweiligen] Gesetz« und ihrer »Natur« gelebt.95 Damit ist nicht gemeint, dass eine Familie dem bürgerlichen Leben entsprechend ein Gesetz im Sinne eines fixierten Regelwerkes aufweist. Dies weist Schleiermacher explizit von sich.96 Gemeint ist aber, dass die Interaktionen, die sich innerhalb einer Familie vollziehen, erstens einer gewissen inneren Logik folgen und dadurch einen bestimmten Zusammenhang bilden, und zweitens, dass das Zusammenleben von einem bestimmten Geist geprägt ist. An diesem haben auch die heranwachsenden Kinder Anteil, und dies nimmt Einfluss auf deren Wollen. Im Fortgang des Heranwachsens tritt die Gesinnung dann in der Weise eines auf die einzelnen Güter bezogenen »Gemeingefühls« hervor, als fromme,97 politische,98 und gesellige Gesinnung.99 Der Anteil an der wissenschaftlichen Gesinnung ist dagegen nicht für alle notwendig, sondern nur für diejenigen, die durch eine spekulative Anlage der Wissenschaft fähig sind.100 Die Art und Weise der Liebe ist gebunden an die Wahrnehmung der Eigenart der jeweiligen Gemeinschaft, an die Beschaffenheit der Wechselwirkung in ihr und den die Gemeinschaft beherrschenden Geist. 93

Pädagogik 1813/14, 291 Z. 15–17. Vgl. Pädagogik 1826, 666 Z. 19-24. Dieses Eingebettetsein der Tugend des Einzelnen in ein bestimmtes Zusammenleben und dessen Gemeingeist wird von Dietrich B ENNER/Stephanie H ELLEKAMPS: Art. »Staatspädagogik/ Erziehungsstaat«, in: Historisches Wörterbuch der Pädagogik (2004), 946–979, hier Sp. 970, zu schwach betont, weswegen sie die einzig allgemein akzeptable Tugend in einem »dogmen- und vernunftkritischen Selberdenken und -urteilen« sehen, und einer daraus »entspringende[n] antifundamentalistisch argumentierende[n] Zivilcourage«. Offen bleibt dabei, ob es letztlich eines Grundes bedarf, von dem aus sich diese Dogmenund Vernunftkritik vollzieht, und wenn ja, ob dieser Grund allein im Einzelnen liegen kann oder nicht. Nach Kant bedarf es dazu nicht mehr als des Selberdenkens auf dem Boden der Vernunft. Nach Schleiermacher ist das Denken selbst jedoch immer gebunden an sozial tradierte Gewissheiten. 95 Pädagogik 1813/14, 276. 96 Pädagogik 1826, 622. 97 Vgl. ebd., 673. 98 Vgl. ebd., 673f. 99 Vgl. ebd., 681. 100 Ebd., 629f. 94

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Die Liebe gegenüber dem bürgerlichen Leben ist orientiert durch das Gefühl für dieses. Im Falle der Heranwachsenden geht Schleiermacher davon aus, dass die »Idee des Gesezes und des bürgerlichen Gegensazes lebendig« für die Heranwachsenden und »als die nothwendige Bedingung eines erfreulichen und gedeihlichen Lebens unmittelbar gefühlt« wird.101 Auch hier sind es nicht einzelne Gesetze, auf die sich das Gefühl richtete; diese sind Gegenstand des objektiven Bewusstseins. Das Gefühl ist aber auf das bürgerliche Zusammenleben überhaupt gerichtet, auf dessen Charakter als Zusammenleben von Gleichen nach einer von der Obrigkeit gesetzten Ordnung. Dass die durch den Gemeingeist begründete Eigenart eines Zusammenlebens tatsächlich nicht nur den »Gebildeten« vermöge ihres ausgebildeten Verstandes begreifbar ist, sondern ursprünglich gefühlt wird und gefühlt werden kann, macht Schleiermacher durch Rekurs auf das Aufwachsen von Kindern im Kreise ihrer Geschwister deutlich.102 Das Verhältnis innerhalb einer Familie ist gekennzeichnet durch das relative Gegenüber von Eltern und Kindern einerseits, und durch das Verhältnis der Gleichheit zwischen den Geschwistern gegenüber den Eltern andererseits.103 Dieses Gefühl für die Gleichheit in der Familie ist es auch, das das Gefühl für das bürgerliche Leben vorbereitet und das übersetzt werden könnte mit »Gemeinsinn« oder »Solidarität«. Hinsichtlich der bürgerlichen Gemeinschaft, der Gemeinschaft des identischen Organisierens, erscheint die Gesinnung nach Schleiermachers Auffassung in der Spannung von Gehorsam und Freiheit.104 Gehorsam ist notwendig, weil eine Gesinnung nie in einem bloß individuellen Willen bestehen kann. Das ist zum einen deswegen nicht möglich, weil sich die individuelle Gesinnung nur bilden kann in Auseinandersetzung mit einem Gemeingeist. Zum anderen wäre eine solche Gesinnung nicht sittlich, weil auf der Grundlage eines völlig isolierten Handelns kein gemeinsames Handeln möglich wäre. Hier begegnet ein Moment, das Schleiermacher auch im Rahmen seiner Pflichtethik entfaltet: Handeln hat immer anzuknüpfen an die jeweils gegebene Situation und muss dieser gerecht zu werden versuchen. Eine Form des Handelns, die nicht in diesem Sinne anknüpfen würde, ist gar nicht möglich; ein Handeln, das dies nicht will, ist nicht sittlich, und ein Handeln, das dies nicht kann, ist wahnsinnig: Es hat keinen Anteil mehr am κοÐνοσ λìγοσ.105 Aber auch Freiheit ist notwendig, weil der Mensch sonst ein bloßes »Werkzeug [ist], das von anderen getrieben und angestoßen werden muß«.106 Dieser Antrieb und Anstoß kann nur aus dem Inneren eines Menschen kommen, eben aus seiner Gesinnung, die die Impulse zum eigenen, selbst ge-

101

Pädagogik 1813/14, 323 Z. 10–12 (Hervorhebung: G.H.). Vgl. Pädagogik 1826, 673f. 103 Vgl. ebd., 673f. 104 Vgl. Pädagogik 1820/21, 498 Z. 2–4. 105 Vgl. Pädagogik 1826, 606. 106 Pädagogik 1820/21, 498 Z. 6f. 102

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wollten Handeln freisetzt.107 Die Pointe liegt an dieser Stelle also darin, dass sich Freiheit, die in individueller Gesinnung begründet ist, nur durch Anteil an einem Gemeingeist bilden und wirksam werden kann. Schleiermacher führt dies im Kontext des bürgerlichen Lebens aus, de facto gilt diese Darstellung aber für alle gesellschaftlichen Bereiche. Der Begriff der »geselligen« Gesinnung, als die auf den Interaktionsbereich der freien Geselligkeit bezogene Gesinnung, wird von Schleiermacher 1826 neu eingeführt.108 Damit geht einher, dass die Rede vom »ästhetischen Gefühl« nicht mehr verstanden werden kann als ein rein subjektives Empfinden von Schönheit. Schleiermacher unterstreicht damit, dass sich das ästhetische Gefühl, um das es sich auf dem Gebiet der freien Geselligkeit handelt, nur im Mitleben in einem Zusammenleben und dessen Ausdrucksformen bilden und äußern kann. Der »Sinn für das Schöne und Anmutige als nicht bloß aufnehmend sondern productiv gedacht«,109 bildet sich im sozialen Miteinander als Taktgefühl,110 im sprachlichmusikalischen oder im leibhaften Ausdruck in der bildenden Kunst: Jede Form des Erlebens von Schönheit steht auf einem sozialen Grund.111 Auch die religiöse Gesinnung entwickelt sich und lebt nur im Medium eines Zusammenlebens und dessen Gemeingeist, im Medium einer Gemeinschaft der Offenbarung oder einer Kirche. Die christliche Kirche etwa fordert die »überwiegende Gesinnung der christlichen Frömmigkeit«.112 Schleiermacher schärft die Unterscheidung von extensiver und intensiver Seite im Falle der Religion besonders ein: »Um der Sache recht auf den Grund zu kommen muß man unterscheiden die Entwikklung der Religion als inneren Princips im Leben überhaupt, und das Heraustreten desselben für sich allein«.113 Schleiermacher betont die Bedeutung der Einführung in das Gebiet der religiösen Interaktion, die im jeweiligen Gottesdienst kulminiert. Die Einführung betrifft diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, die nötig sind, um am Gottesdienst und dem christlichen Leben insgesamt teilnehmen zu können. Aber der Gottesdienst als zentrale Form der religiösen Interaktion verweist lediglich auf das, womit es die religiöse Gesinnung zu tun hat, und ist nicht selbst das, worauf die Gesinnung gerichtet ist als das »Heraustreten [. . . ] für sich allein«. Dieses Heraustreten ist die Ursprungsrelation, für die Schleiermacher besonders das Verhältnis Vater-Kind als analoge Größe in Anspruch nimmt.114 Weil die religiöse Gesinnung sich aber nicht direkt auf das Zusammenleben richtet, sondern auf die Ursprungsrelation des Menschen, kann sie sich letztlich auch nicht 107 Die Gesinnung als innere Kraft ist es, die im Menschen dessen Rezeptivität und Spontaneität verbindet und die den Menschen vom Tier unterscheidet: Vgl. Pädagogik 1820/21, 355f. 108 Pädagogik 1826, 630. 109 Ebd., 630. 110 Vgl. Pädagogik 1813/14, 305. 111 Vgl. Pädagogik 1826, 630. Ebenso Pädagogik 1820/21, 442. 112 Pädagogik 1826, 629. 113 Pädagogik 1813/14, 315 Z. 6–8. 114 Vgl. Pädagogik 1826, 740f. Vgl. auch B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 162.

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wie die anderen Gesinnungen an einem Gemeingefühl entzünden, sondern nur an der religiösen Gesinnung eines anderen Menschen, weswegen sich Religion auch nur in der »Lebensmanifestation des Einzelnen zu dem Einzelnen« bildet.115 Deswegen hat es auch der Religionsunterricht nicht unmittelbar mit Religion zu tun, sondern nur mit deren Ausdrucksformen. Da durch eine religiöse Gesinnung , die sich auf Gott richtet, alle Formen des Zusammenlebens relativiert und in einen größeren, sie umfassenden und übersteigenden Kontext gestellt werden, ist es genau die religiöse Gesinnung, die dem Gemeingeist ein »kosmisches«, »wahrhaft menschliches« Gepräge gibt.116 Für alle genannten Formen des Zusammenlebens gilt, dass der Mensch diese miterlebt und an ihrem Gemeingeist Anteil hat; dass er aber die jeweilige Interaktionsordnung nur dann wollen kann, wenn er deren Güte erlebt. Daher ist es nötig, »die Bedingungen, unter denen allein ein organisches Zusammenleben bestehen kann, beliebt zu machen, so daß der Einzelne mit seinem Willen hineingeht«.117 Nur so kann der Mensch ein Zusammenleben »lieben lernen«.118 Die Bedingungen »beliebt zu machen« kann nach allem bisher Gesagten nur so verstanden werden, dass sie als liebenswert, in ihrer Liebenswürdigkeit dargestellt werden und um die Liebe der Heranwachsenden geworben wird. Dieses Eingebettetsein der eigenen Gesinnung in einen jeweils vorherrschenden Gemeingeist, in den in diesen eingeschriebenen Zielsinn und Modus der Gemeinschaftlichkeit, stellt eine weitere Bedingung menschlichen Handelns dar.

8.1.4 Der ursprüngliche Richtungssinn: Die Bestimmung des einzelnen Menschen Das Menschsein hat einen Richtungssinn, der diesem vor allem Handeln innewohnt. Schleiermacher zufolge erscheint dieser jeweils auf individuelle Weise; dies schließt nicht aus, dass der Versuch unternommen werden kann, die allgemeinen Züge dieses Richtungssinnes zu erfassen und die Bestimmung des Menschen damit – auf dem Boden einer individuellen Sicht – philosophisch zu beschreiben. Die Bestimmung besteht aus philosophischer Perspektive zunächst in der »Entwikklung des receptiven Chaos zur Weltanschauung, und des spontaneen zur weltbildenden Selbstdarstellung«.119 Diesen beiden Aspekte von Weltanschauung und selbstdarstellender Weltbildung, also die Bestimmung des Handelns, werden konkretisiert durch die Eigenart des Handelnden, der zugleich Individuum und Exemplar der Gattung ist. Weil er eine individuelle Variation der Menschheit ist, deswegen soll auch sein Handeln von dieser Verfassung geprägt sein und 115

Pädagogik 1826, 755. S CHLEIERMACHER: Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 373. 117 Pädagogik 1820/21, 500 Z. 27–29, Hervorhebung: G.H. 118 Ebd., 500 Z. 30. 119 Pädagogik 1813/14, 286 Z. 28–30. Vgl. auch Pädagogik 1826, 655. 116

8.1 Die Bedingungen für die Bildung des einzelnen Menschen

191

sowohl individuellen als auch übertragbaren Charakter besitzen. Eine weitere Differenzierung des Richtungssinnes individuellen menschlichen Werdens ergibt sich daraus, dass das Handeln sowohl den Charakter des übertragbaren Mitvollzugs als auch das Einbringen individueller Impulse und Fertigkeiten tragen soll. Der Richtungssinn besteht also zugleich in der Sozialisierung, dem »Hineinbilden in das sittliche Leben« und in der »Ausbildung der [individuellen, G.H.] Natur«, also einer Individualisierung des Einzelnen.120 Dies schließt die Ausbildung von Talent und Neigung ein. Das Menschsein ist demnach durch eine dreifache Struktur gekennzeichnet: Es ist rezeptiv und spontan, sein Handeln hat individuellen und übertragbaren Charakter, und sein Handeln gestaltet sowohl das Zusammenleben als auch die eigene Person.121 Dieses dreifach bestimmte Sein soll der Mensch selbst auch wollen. Das Ziel des Wirkens der Vernunft auf die Natur besteht insgesamt im Symbolwerden der Natur für die Vernunft.122 Entsprechend ist auch das Werden des einzelnen Menschen darauf angelegt, Ausdruck des Inneren, der eigenen Gesinnung zu werden. Die Bestimmung kann also zusammengefasst werden in der »weltbildenden Selbstdarstellung« eines Menschen, die durch die weiteren Aspekte des Richtungssinnes lediglich genauer bestimmt wird.123 Dabei ist die Weise der Gestaltung des eigenen Bezogenseins abhängig vom Gehalt der Gesinnung. Eine weitere philosophische Näherbestimmung ist noch möglich. Die Gesinnung kann geprägt sein durch das »Bewußtsein des Menschen von seiner Stellung in der Welt«.124 Die Sittlichkeit eines Menschen hängt davon ab, ob diese Prägung vorhanden ist, und wenn das der Fall ist, wie sehr sie alles weitere Erleben und Handeln dominiert. Die inhaltlich bestimmte Gewissheit über die eigene »Stellung [. . . ] in der Welt«, die sich einer prägenden Begegnung mit dem Leben eines anderen Menschen verdankt, kann nicht nur auf ihre allgemeinen Züge hin und damit philosophisch befragt werden, sondern auch auf ihre spezifische Eigenart hin. Diese Reflexion ist Reflexion des genuin Religiösen und hat damit theologischen Charakter.

120

Pädagogik 1813/14, 265. Darin herrscht eine Analogie zwischen den Gütern und dem Individuum und bestätigt eine These von Eilert Herms, derzufolge die Güter erst vollständig entfaltet sind, wenn auch die pflichtethische Dimension des Aneignens (»Selbstbildung«) und Gemeinschaftstiftens (»Gemeinschaftsbildung«) integriert ist, vgl. Eilert H ERMS: Schleiermachers Erbe, in: DERS .: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 200–227, 215f., 218. 122 Vgl. Abschnitt 3.1.: »Der höchste Gegensatz im Sein« ab S. 32. 123 Pädagogik 1813/14, 286. 124 Akademievortrag Tugendbegriff, 328 Z. 31f. 121

192

Kapitel 8 Gebildeter Mensch

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung Bildung hat grammatikalisch einen doppelten Sinn und beschreibt sowohl Aspekte des Prozesses als auch solche des Resultats. Schleiermacher zufolge sind diese beiden Aspekte nochmals genauer zu unterscheiden. Zum einen versteht er unter Bildung die Handlungen des Menschen, deren Zusammenhang und deren Effekt. Zum anderen unterliegt diese Bildung einer Reihe von Bedingungen, die im vorangegangenen Abschnitt dargelegt wurden, und die ebenfalls als Bildungen angesprochen werden können, die dann aber nicht mehr das Handeln des Menschen beschreiben, sondern eine Veränderung der Bedingungen des Handelns. So spricht Schleiermacher mit Bezug auf Jesus von Nazareth etwa von einem »personbildende[n]« Handeln Gottes in Christus.125 Die Unterscheidung zwischen den Bedingungen des bildenden Handelns des Menschen und dem bildenden Handeln selbst wird im gegenwärtigen Bildungsdiskurs auch von Reiner Preul aufgenommen, der Bildung als gesteigerte Handlungsfähigkeit beschreibt, die über sich selbst aufgeklärt ist.126 Dieses Aufgeklärtsein, so kann im Anschluss an Schleiermacher gesagt werden, ist ein Aufgeklärtsein über die Bedingungen des eigenen Handelns. Mittels dieser Unterscheidung zwischen dem bildenden Handeln auf der einen Seite und dessen Bedingungen auf der anderen kann nun auch das kritische Potential des Bildungsverständnisses freigelegt werden. Denn von einem gebildeten Umgehen mit dem eigenen Bezogensein kann nur dort die Rede sein, wo dieses Umgehen seinen Bedingungen entspricht. Die erste Bedingung des Umgehens mit dem eigenen Bezogensein besteht darin, dass das Bezogensein selbst komplex ist; ein gebildetes Umgehen hat dieser Komplexität gerecht zu werden und deswegen differenziert zu sein. Das erste Merkmal gebildeten Umgehens mit dem Bezogensein hat daher den Charakter der Ausdifferenzierung des leiblich fundierten Umgangs mit dem Bezogensein.127 Die zweite Bedingung, unter dem alles menschliche Umgehen mit dem eigenen Bezogensein steht, ist dessen ursprüngliche Einheit: Alles Handeln vollzieht sich als das Handeln einer individuellen Person, und im einheitlichen, gleichwohl differenzierten Kontext des jeweiligen Zusammenlebens. Gebildet ist das Bilden des eigenen Bezogenseins dann, wenn die einzelnen Handlungen ebenfalls eine Einheit bilden, die zum einen mit der Individualität des Handelnden und zum anderen mit der Besonderheit der jeweiligen Interaktionsgemeinschaft zusammenstimmen.128

125

CG II, §§ 93ff. Vgl. etwa P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 83. Vgl. ausführlicher in der Einleitung: Die religiöse Dimension der Bildung (1.2) ab Seite 8. 127 Vgl. Abschnitt 8.2.1.: »Das Kriterium der Ausdifferenzierung« ab S. 193. 128 Vgl. Abschnitt 8.2.2.: »Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten« ab S. 208. 126

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

193

Daran schließt sich drittens die religiöse Dimension der Bildung an: Zur Freiheit des Menschen gehört, dass sie selbst keine Alternative unter anderen Möglichkeiten ist, sondern gewissermaßen das Vorzeichen, unter dem alles Handeln steht. Menschen können nicht anders, als mit sich und ihrem spezifischen Bezogensein in einer bestimmten Weise umzugehen, und diese Verfassung des Menschen hat den Charakter einer Aufgabe, die auf die Transzendenz verweist, da der Ursprung dieser Verfassung des Menschen keine immanente Instanz sein kann. Über diesen bloßen Transzendenzverweis hinaus gehört noch ein weiteres Moment zur religiösen Dimension, nämlich das Erscheinen von Wahrheit über den Richtungssinn des Menschseins. Alles Handeln steht unter der Bedingung, dass es sich nicht auf ein statisches Bezogensein richtet, sondern auf ein prozessual verfasstes Bezogensein, dem ein Richtungssinn inne ist. Gebildet ist das Umgehen dann, wenn es selbst zum Ausdruck der eigenen Gewissheit über diesen Richtungssinn wird. Da der Richtungssinn des Bezogenseins als Manifestation des Schöpferwillens erlebt werden kann, handelt es sich beim Richtungssinn des individuellen Werdens auch um das Medium der Gottesgemeinschaft. Die Bedeutung der Religion für die Bildung besteht deswegen darin, dass alles Bilden zum Ausdruck der Gewissheit über den Schöpferwillen werden kann und als solcher erlebt und wahrgenommen wird.129 Gebildetes Handeln hat daher letztlich den Charakter der Einstimmung in den Schöpferwillen. Diese drei genannten Aspekte der Bildung des einzelnen Menschen sind nun genauer zu entfalten.

8.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung Bildung umfasst zunächst einmal die Entfaltung der im Leib angelegten Vermögen zum Umgang mit diesem Bezogensein, zur rezeptiven »Weltanschauung« und zur spontanen »weltbildenden Selbstdarstellung«.130 Schleiermacher spricht von der Ausbildung von »Fertigkeiten«, die er wiederum in ihrem »ganzen Umfang« verstanden wissen will.131 Dass die Fertigkeiten in ihrem ganzen Umfange zu denken sind, bedeutet, dass Schleiermacher sie nicht auf das organisierende Handeln beschränkt, sondern letztlich auch die Kenntnisse um die Gegenstände der Fertigkeiten mit einschließt.132 Während es sich bei den spontanen Fertigkeiten um diejenigen Kräfte handelt, mittels derer das gemeinsame Bezogensein mitgestaltet wird, bezeichnen die rezeptiven Fertigkeiten den Bereich des Symbolisierens und des Wissens. Damit umfasst die rezeptive Seite das, womit es der Handelnde im Handeln zu tun hat: Der Zögling soll »mit dem ganzen Stoff seines Organs und mittelbar mit der Totalität des Stoffes« bekannt werden133 – dies gehört zur »all129

Vgl. Abschnitt 8.2.3.: »Das Kriterium des Religionsbezugs« ab S. 212. Pädagogik 1813/14, 286. 131 Pädagogik 1826, 630. 132 Vgl. ebd., 652f. 133 Pädagogik 1813/14, 285 Z. 17f. 130

194

Kapitel 8 Gebildeter Mensch

gemeine[n] Bildung«.134 Die rezeptive Seite umfasst also eine Kenntnis dessen, worauf sich das Handeln richtet. Schleiermacher zufolge stellen die spontanen und rezeptiven Fertigkeiten eine Einheit dar, denn sie gehen auf ein Gemeinsames zurück.135 Dabei handelt es sich um die Leiblichkeit des Menschen. Handeln hat sein Fundament im Leib und seinen Organen, auf Seh-136 und Hörsinn137 , an den sich die Sprache anschließt, und auf die Glieder des Leibes.138 Das Umgehen mit dem Bezogensein ist das Umgehen dieses einzelnen leibgebundenen Menschen. Damit ist auch deutlich, dass jede Interaktion und jede Interaktionsmöglichkeit nicht nur einen Effekt erzielt in der Außenwelt, sondern sich auf das Bezogenheitsgefüge eines Menschen insgesamt auswirkt.139 Gegenstand der Erziehung im engeren Sinne ist diese organische Seite des Menschen, seine »Natur« im Sinne von φÔσισ.140 Die Eigenart der φÔσισ ist es, auf die die rezeptive und spontane Seite der Fertigkeit zurückgehen. Daher beschreibt die Bildung der Fertigkeiten immer eine Ausbildung der bereits vorhandenen Kräfte oder Potentiale des Leibes, weswegen auch von einer Bildung der Leibeskräfte gesprochen werden kann.141 Schleiermacher ordnet diese Kräfte des Leibes einzelnen Gütern zu. Den Gütern des Symbolisierens wird vor allem der Sprach- und Gehörsinn zugeordnet, den Gütern des Organisierens gehören dagegen der Leib und seine Glieder zu. Deren Bildung unterscheidet Schleiermacher begrifflich als »geistige Gymnastik« einerseits und »leibliche Gymnastik« andererseits.142 Dagegen wird der Sehsinn keinem spezifischen Interaktionsbereich zugeordnet, denn er wird von Schleiermacher als formaler Sinn verstanden, auf den sowohl die symbolisierende als auch 134

Pädagogik 1813/14, 285 Z. 19. Vgl. Pädagogik 1826, 775. 136 Vgl. Pädagogik 1813/14, 305. 137 Vgl. ebd., 305. 138 Vgl. ebd., 316. 139 Besonders anschaulich ist dies im Falle der frühen Entwicklungsschritte von Kindern: So verändern sich etwa mit dem Erlernen der Fortbewegung die Möglichkeiten des wissenden und gestaltenden Umgehens mit dem eigenen Bezogensein enorm. Dabei handelt es sich bei der Fähigkeit zur Fortbewegung nicht nur um ein neues Element, das additiv zu anderem hinzukommt, vielmehr verändert sich das ganze Verhältnis des Kindes zu seiner Umwelt und damit auch dessen Verhältnis zu sich selbst. Dies dürfte auch für ein Verständnis des Verlustes von Umgangsmöglichkeiten nicht zu unterschätzen sein: Die Unfähigkeit, sich fortzubewegen, wäre demnach ebenfalls eine Veränderung, die das ganze Gefüge verändert, und damit auch eine Herausforderung für das Selbstverständnis eines Menschen darstellt. Analog zitiert Marco Wehr Befunde, denen zufolge der Verlust eines Körperteils mit einer Umstrukturierung des Gehirns einhergeht und erhebliche Irritationen des Selbstverhältnisses mit sich bringt, vgl. W EHR: Künstliche Intelligenz – Hype? (wie Anm. 54). 140 Pädagogik 1813/14, 281 Z. 2–4. 141 Dieses systematische Leibesverständnis kann fruchtbar gemacht werden für die Einschätzung von Techniken des sogenannten »Human Enhancement«, vgl. H ARDECKER: Zwischen Therapie und Selbstmechanisierung (wie Anm. 49). 142 Pädagogik 1826, 775 Z. 16. Vgl. auch Pädagogik 1820/21, 469f. 135

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

195

die organisierende Tätigkeit Bezug nimmt: Der Sehsinn ist der Sinn des Maßes, auf das alles Handeln Bezug nimmt.143 Zuletzt ist zum Handeln aber nicht nur die Kräftigkeit eines Organs gefragt, und nicht nur ein Wissen um den Gegenstand des Handelns, denn »zu ihrer Entwicklung gehört das, daß sie anzuknüpfen wissen und ihren Spielraum finden«, wie Schleiermacher betont.144 Erforderlich ist also eine gewisse Kunstfertigkeit darin, die eigene Kraft in einer bestimmten Situation so zum Einsatz zu bringen, dass sich auch tatsächlich die Veränderung einstellt, die vom Handelnden gewollt ist. Diese Angemessenheit des Zum-Einsatz-Bringens gehört zu den Kenntnissen und zu den Kräften hinzu und macht aus diesen beiden erst eigentliche Fertigkeiten.145 Den Zusammenhang dieser genannten drei Aspekte, dem Wissen, dem leiblichen Vermögen und den Fertigkeiten, kann man sich am Zusammenhang von Talent, Neigung und Beruf veranschaulichen. Dasjenige Organ des Menschen, das sich am leichtesten ausbilden lässt, bezeichnet Schleiermacher als »Talent«.146 Eine angeborene Ungleichheit zwischen den Menschen gibt es auch hinsichtlich des Gegenstandbereichs, zu dem sich ein Mensch am stärksten hingezogen fühlt; dabei handelt es sich um die »Neigung «147 oder »Anlage«148 eines Menschen, denn: »[J]edem Vermögen entspricht eine Seite der Welt als ihr Stoff«.149 Schleiermacher spricht damit das an, was heute als Interesse bezeichnet werden würde. Zuletzt stellt sich Schleiermacher den Beruf eines Menschen als dasjenige Arbeitsfeld vor, wo das Talent eines Menschen auf einen das Interesse besonders auf sich ziehenden Lieblingsstoff trifft, dort liegt der »Beruf« eines Menschen.150 Um das eigene Handeln anzuknüpfen, bedarf es der Fähigkeit, zwischen Bezogensein und Ziel vermitteln zu können. Jede der Tätigkeiten kann prinzipiell künstlerischen Charakter annehmen, wenn dem einzelnen Menschen hierzu die Anlage gegeben ist. Ob dies der Fall ist, kann sich bei Gesang, Handarbeit oder Zeichnen zeigen und dann entsprechend gefördert werden. Dies setzt aber stets eine innere, von außen nicht produzierbare Spontaneität des Heranwachsenden voraus, denn »daß es innerlich in einem bilde und singe, dazu kann man nichts thun«.151 Dieser innere Impuls ist der Impuls zur Darstellung des Schönen. Der Ausbildung des Künstlerischen entspricht die Ausbildung des »Sinn[es] für das Wohlgefällige und Schönheit«, und es ist 143

Vgl. Pädagogik 1820/21, 476: »wir brauchen überall Zahl und Maß, um uns die Verhältnisse zu versinnlichen«. 144 Pädagogik 1826, 751 Z. 2–4. Vgl. auch Pädagogik 1820/21, 447. 145 Bei dieser Beschreibung Schleiermachers handelt es sich um eine Abgrenzung gegenüber Humboldt, der den Aspekt der tatsächlichen Fertigkeit dieses Anknüpfens gegenüber der bloßen Ausbildung der Kräfte und Kenntnisse tendenziell vernachlässigt. 146 Pädagogik 1813/14, 285 Z. 1–5. 147 Pädagogik 1826, 674 Z. 40. 148 Pädagogik 1820/21, 359 Z. 24. 149 Pädagogik 1813/14, 285 Z. 2f. 150 Ebd., 285 Z. 7f. 151 Ebd., 306 Z. 8f.

196

Kapitel 8 Gebildeter Mensch

allgemeines menschliches Interesse »diesen Keim zu erwekken und beleben«.152 Damit eine Tätigkeit also künstlerisch wird, bedarf es nicht nur eines leiblichen Vermögens, sondern auch einer inneren Spontaneität, die das leibliche Vermögen erst zu einem Organ des Sinnes für das Schöne werden lässt. Im Bereich des Wissen ist es das Vermögen zum spekulativen Denken, das den Charakter eines Talentes hat, das nicht allen in gleicher Weise zukommt.153 Da es aber weder einen leiblichen Ausdruck darstellt, noch direkt mit dem Sinn für das Schöne verbunden ist, gehört diese Anlage nicht zum Bereich der Kunst. Im Folgenden kann die Ausdifferenzierung der Fertigkeiten als Bildung der drei Organe des Menschen entfaltet werden, des Seh- und Sprachsinns und der Glieder des Leibes.154 Dabei ist jeweils deren spontane und rezeptive Seite darzustellen, sowie deren Zusammenhang mit dem Moment des Schönen, wodurch das Handeln einen künstlerischen Charakter bekommen kann.

8.2.1.1 Der Gesichtssinn und seine Bildung Das Sehen wird von Schleiermacher als »Sinn des Gesichts« bezeichnet155 und stellt den »mathematischen« Sinn dar, dessen Ausbildung eine eher formale Fertigkeit darstellt.156 Um eine formale Fertigkeit handelt es sich deswegen, weil die Ausübung der anderen Fertigkeiten nie ohne den Rückgriff auf den mathematischen Sinn auskommt. Der Gesichtssinn als Sinn für Größe oder Ausdehnung und Menge ist aber immer auch ein Sinn für das Verhältnis einer Größe oder Menge zu anderen Größen und Mengen im Horizont einer sie umfassenden Totalität. Daher ist der Gesichtssinn auch der Sinn für Maß und Verhältnis insgesamt. An ihn schließt sich das »Physicalische« an, also die Wahrnehmung von Naturkräften und menschlichen Tätigkeiten.157 Aufgrund dieser Dimension des Gesichtssinnes bedürfen auch der Sprachsinn und der Leibsinn des Gesichtssinnes: Sprache besitzt immer ein bestimmtes inneres Maß, eine Rhythmik, und kann ohne den formalen Sinn für das Maß weder aufgenommen noch produziert werden. Ebenso verhält es sich mit den Bewegungen der Glieder, deren Zusammenspiel und Effekt davon abhängt, wie gut sich die einzelnen Bewegungen mit den vorhergegangenen und nachfolgenden zusam152

Pädagogik 1826, 779 Z. 26f. Vgl. Pädagogik 1813/14, 294: »Ist also einer nicht spekulativ, so kann man ihn nicht dazu machen; es ist seine natürliche Unvollkommenheit«. 154 Schleiermacher selbst hat in seiner letzten Vorlesung zur Erziehungskunst eine andere Einteilung gewählt; dort geht er von der Unterscheidung zwischen Rezeptivität (Gegenstände des Wissens) und Spontaneität (Fertigkeiten) aus: Vgl. Pädagogik 1826, 767 und 775. Dadurch aber wird m. E. der leiblich-soziale Bezug etwas undeutlicher, weswegen ich den Leib und seine Funktionen zum Ausgangspunkt der Darstellung wähle. 155 Pädagogik 1813/14, 305. 156 Vgl. ebd., 305. 157 Pädagogik 1826, 772 Z. 12. 153

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

197

menfügen. Insofern hat alles Handeln stets Anteil an dieser – mit Schleiermachers Worten – mathematischen oder physikalischen Dimension.158 Verhältnisse gibt es in ihrer reinen Form zwischen Mengen oder Größen; der Umgang mit diesen teilt sich daher in die zwei Bereiche der Algebra und der Geometrie. Die diese beiden Bereiche umfassenden Fertigkeiten sind das Rechnen und das Zeichnen.159 Das Sehen ist keine Fertigkeit, die durch menschliches Handeln zustande kommt. Vielmehr besteht die Möglichkeit ihrer Bildung im bereits gegebenen Gebildetsein des Organs für den Menschen. Sehen schließt nach Schleiermachers Verständnis immer schon das Erkennen von Formen und Farben ein. Ein Bewusstsein der Formen muss vorausgesetzt werden, wenn ein neugeborener Mensch in der Lage sein soll, »zum Sondern der Gegenstände zu gelangen«.160 Diese Entwicklung »wird allerdings auch ohne die Erziehung vonstatten gehen«.161 Es gibt kein selbsttätiges »Sondern der Gegenstände« ohne bereits bestehendes Bewusstsein für die »Formen«, die äußere Gestalt der Dinge. Als ein gebildetes Sehen kann dasjenige angesprochen werden, das in der Lage ist, die Größe eines Seienden, seine Bewegungen und Tätigkeiten, und das Verhältnis zwischen Größe und Bewegung zur jeweiligen Umwelt genau zu erfassen. Gebildetes Sehen ist Sinn für das Einzelne im Verhältnis zum Ganzen.

8.2.1.2 Der Sprachsinn und seine Bildung Schleiermacher spricht vom »Sinn des Gehörs«,162 versteht diesen aber als einen Aspekt des umfassenden Sprachsinns. Deswegen ist die Sprache selbst Organ des Denkens und der Mitteilung.163 Denken, Hören und Sprechen sind keine separierbaren Funktionen, sondern bilden eine ursprüngliche, soziale Einheit. Der Mensch ist grundsätzlich dazu in der Lage, die Rede anderer Menschen zu vernehmen, zu verstehen und darauf zu antworten. Das ursprüngliche Vernehmen ist auf die Muttersprache gerichtet, und entsprechend findet das erste Sprechen auch in dieser jeweiligen Muttersprache statt. Der Sprachunterricht sollte daher nach Schleiermachers Ansicht auf die Vertiefung der Muttersprache gerichtet sein, und nicht durch Fremdsprachen alteriert werden.164 Damit lehnt Schleiermacher in für damalige Verhältnisse durchaus provokanter Weise den Zusammenhang zwischen allgemeiner Bildung und dem Erlernen der alten Sprachen Latein und Griechisch

158

Vgl. Pädagogik 1826, 772. Vgl. ebd., 772. 160 Pädagogik 1813/14, 286 Z. 7. 161 Ebd., 293 Z. 27f. 162 Ebd., 305. 163 Vgl. Pädagogik 1826, 775. 164 Vgl. Pädagogik 1813/14, 311f. 159

198

Kapitel 8 Gebildeter Mensch

ab.165 Derartigen Sprachunterricht hält Schleiermacher auch im Rahmen der »mittleren Schulen« nicht für geeignet,166 sondern allein in der wissenschaftlichen Bildungsstufe, im Gymnasium.167 Dies geschieht auch mit dem Argument, dass eine fremde Sprache umso besser erlernt werden könne, desto sicherer die eigene Muttersprache angeeignet sei. Damit ist aber die Beherrschung der Muttersprache die Bedingung der Möglichkeit einer Aneignung weiterer Sprachen. Darüber hinaus nennt Schleiermacher einen weiteren Sachverhalt, der die conditio sine qua non für die Ausbildung des praktischen Verstandes darstellt: Dabei handelt es sich um die Fähigkeit des Lesens und Schreibens.168 Lesen und Schreiben sind für die Teilnahme am öffentlichen Leben, dem »allgemeine[n] Verkehr« unabdingbar.169 Wer selbst nicht lesen und schreiben kann, »hat nicht den vollständigen Genuß seiner persönlichen Selbstständigkeit«.170 Gebildetes Handeln ist daher für Schleiermachers Gegenwart nur dann möglich, wenn ein Mensch des Lesens und des Schreibens mächtig ist. Der muttersprachliche Unterricht hat nicht allein den sprachlichen Ausdruck zum Ziel. Vielmehr ist die Sprache bei Schleiermacher als Medium des Denkens gedacht, Denken aber als die Darstellung der Wirklichkeit im Menschen. Sprachunterricht ist daher immer zugleich Unterricht im Denken, und damit Unterricht in der Abbildung der Wirklichkeit. Die Abbildung der Wirklichkeit in der Sprache bezieht sich einerseits auf die »natürlichen Dinge«, andererseits auf die »menschlichen Thätigkeiten«.171 In beiden Fällen muss ein Sprachreichtum vorliegen, der es erlaubt, beide Gegenstandsbereiche zu erfassen. Die Kenntnis der »menschlichen Tätigkeiten«172 umfasst den Bereich der Geschichte. Die Geschichte bezieht Schleiermacher auf der Linie seiner Maxime auf den »Wert« im späteren Leben: Das Ziel besteht in einem vertieften Verständnis der Gegenwart, und der Stoff wird von diesem Ziel her organisiert.173 Für seine Gegenwart sind daher für Schleiermacher lediglich drei Bereiche der Geschichte für die allgemeine Bildung relevant. Die Jugend soll in die Gesellschaft aufge-

165

Pädagogik 1826, 768 Z. 34–36. Ebd., 808 Z. 18. 167 Vgl. ebd., 809, vgl. auch 840–846. 168 Ebd., 767. Da es sich dabei um rein mechanische Fertigkeiten handelt, schlägt Schleiermacher sie der rezeptiven Seite der Fertigkeiten zum Handeln zu und nicht der spontanen Seite: Lesen und Schreiben sind »nur mechanische Hülfsmittel«: So ebd., 767. 169 Ebd., 767 Z. 20. 170 Ebd., 767. 171 Ebd., 776 Z. 26–28. 172 Ebd., 776 Z. 27f. 173 Vgl. Pädagogik 1820/21, 526 Z. 32–34. Vgl. dazu auch Jens B RACHMANN : Schleiermachers Kritik an der Aufklärungspädagogik, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 (SchleiermacherArchiv 22), Berlin und New York 2008, 459–474, hier 473. 166

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

199

nommen werden, also auch in die Gemeinschaft der Kirche.174 Um die Kirche aber zu begreifen, ist erstens eine Kenntnis der »Urgeschichte des Christenthums« vonnöten.175 Da Schleiermachers Gegenwart durch den Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus bestimmt war, also eine »Duplizität von Religionen« vorherrscht, muss zweitens auch diese spezifische Situation verstanden werden und damit den »Zusammenhang der Reformation«.176 Geschichtsunterricht ist demnach zu einem großen Teil Unterricht in der Geschichte des Christentums, und dieser zielt immer auch auf »Gemüthsleitung«.177 Erst als dritten Punkt nennt Schleiermacher die Kenntnis derjenigen »historischen Elemente [. . . ], aus welchen die gegenwärtigen Verhältnisse sich gebildet haben«.178 Ziel ist hier ein angemessenes Gegenwartsbewusstsein179 und eine Grundkenntnis der »Rechtsverhältnisse«, was für ein selbstständiges Handeln unerlässlich ist.180 Abgelehnt wird von Schleiermacher damit das »das Vaterländische« im Sinne einer Kenntnis adliger Geschlechtertafeln als Gegenstand des Geschichtsunterrichts.181 Die Kenntnisse von Ereignissen der Vergangenheit sind nur dann zum allgemeinbildenden Stoff hinzuzunehmen, sofern sie zum Verständnis der Gegenwart beitragen. Der Ausgangspunkt dabei ist die Gegenwart selbst. Zwischen der Kenntnis der menschlichen Gegenwart und der der Kenntnis der »natürlichen Dinge« steht verbindend die Geographie: »[D]enn es wäre die Geschichte allerdings eine bloße Abstraktion« ohne den »Schauplatz«, an dem sie stattfindet.182 Auch hier besteht keine Berechtigung, die Geographie an und für sich in den allgemeinbildenden Stoff-Kanon aufzunehmen; berechtigt ist dies allein über den geschichtlich vermittelten Handlungsbezug. Schleiermacher spricht sich für ein Verbindung von der speziellen Geographie der eignen Heimat183 und einer Kenntnis des »allgemeine[n] Erdbild[es]« aus.184 Die besondere Beschaffenheit der geschichtsrelevanten Geographie soll in den Kontext einer die ganze Erde betreffenden Geographie gerückt werden. Schleiermacher beharrt also auch im konkreten Anwendungsfall darauf, dass das Besondere nicht abgesehen vom Allgemeinen verstanden werden kann. An die Geographie schließt sich unmittelbar die Kenntnis der natürlichen Dinge an, das »Mathematische« und das »Physicalische«.185 Um nicht auf das Gebiet

174

Pädagogik 1826, 769 Z. 10–13. Ebd., 769 Z. 17. 176 Ebd., 769 Z. 25f. 177 Ebd., 769 Z. 19f. 178 Ebd., 770 Z. 28f. 179 Ebd., 770 Z. 21ff. 180 Ebd., 769 Z. 32. 181 Ebd., 771 Z. 5. 182 Ebd., 771 Z. 11f. 183 Ebd., 771 Z. 21. 184 Ebd., 771 Z. 24. 185 Ebd., 772 Z. 12. 175

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

der »speculativen Naturwissenschaft«186 zu geraten, die »im späteren Leben von keinem unmittelbaren Einfluß ist«, gilt die Regel, sich nur mit dem empirisch Gegebenen zu beschäftigen.187 Daraus ergibt sich die Forderung, die Größe sinnlich erfassbarer Erscheinungen wahrnehmen zu können, und damit das Rechnen und das Messen.188 Neben dieser mathematischen Seite sieht Schleiermacher die Naturkunde als zweites Gebiet an, die die Kenntnis der Natur, »das Leben im weitesten Sinne des Wortes«, umfasst.189 Dabei denkt Schleiermacher an den ganzen Umfang der Tier- und Pflanzenwelt. Ausgeschlossen bleibt dagegen die »Kenntniß der Naturkräfte«, insofern diese Erkenntnis nur auf spekulative Weise möglich ist.190 Dies drückt Schleiermachers Verständnis der allgemeinen Bildung aus: Ihr Gegenstand sind die einzelnen Erscheinungen, aber nicht die allgemeinen Prinzipien oder Gesetze. Die Beschäftigung mit diesen kommt nur denen zu, die eine »spekulative« Anlage haben. Würden auch diejenigen zur Beschäftigung mit diesen Sachverhalten genötigt, die auf diese in ihrem weiteren Leben nicht zurückgreifen müssen, so wäre deren Schulzeit unnötig durch Sachverhalte alteriert, die für sie keine Lebensrelevanz besäßen. Um Wirklichkeit in der Sprache abzubilden, ist erstens »Sprachreichthum« nötig.191 Da sich die allgemeinbildende Schule auf »das Praktische richte[t]«,192 ruht auch der Fokus des allgemeinbildenden Sprachunterrichts auf den Begriffen, die sich an die »sinnliche Anschauung«193 der »natürlichen Gegenstände« anknüpfen.194 Eine gebildete Sprache ist gekennzeichnet durch Sprachreichtum, um die eigene Lebenswirklichkeit sprachlich zu symbolisieren. Die Abbildung der Wirklichkeit verlangt zweitens auch das, was Schleiermacher die »Ausbildung der Urtheilskraft« nennt,195 die richtige Teilung und Verknüpfung der Begriffe.196 Dies ist nicht nur auf die Anwendung der Grammatik bezogen, sondern auch auf die Wirklichkeit und ihre Erfassung im Denken selbst. Unter die unrichtigen Verknüpfungen fällt nach Schleiermacher etwa der »Aberglaube«.197 Im Falle des Aberglaubens werden unvereinbare Sachverhalte innerhalb der Wirklichkeit auf einander bezogen.198 Sprachunterricht kann sich nach Schleiermacher also nicht zurückziehen auf die bloß formale Vermittlung der Sprache, sondern steht 186

Pädagogik 1826, 772 Z. 17f. Ebd., 773 Z. 2f. 188 Ebd., 772. 189 Pädagogik 1820/21, 514 Z. 32f. 190 Pädagogik 1826, 773 Z. 1. 191 Pädagogik 1813/14, 312 Z. 23. 192 Pädagogik 1826, 775 Z. 22. 193 Pädagogik 1820/21, 514 Z. 37. 194 Pädagogik 1826, 776 Z. 15. 195 Ebd., 775 Z. 23. 196 Vgl. ebd., 775 Z. 24f. 197 Ebd., 775 Z. 31f. 198 Vgl. ebd., 775. Heute müssten also z. B. auch Verschwörungstheorien darunter gezählt werden. 187

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

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ob ihres Gegenstandes immer auch in der inhaltlichen Auseinandersetzung über das, was die Sprache bezeichnet. Hinsichtlich der menschlichen Tätigkeiten kann das Denken zu einem individual- oder sozialethischen Urteil werden.199 Indem Sprache auf die Wirklichkeit des Menschen bezogen ist, eignet ihr auch ein Impuls zur Selbstreflexion. Sprachunterricht in diesem Sinne schließt die Ethik ein und bereitet die religiöse Bildung vor. Deswegen kann Schleiermacher den Zuwachs an Sprachvermögen mit Selbstständigkeit in Verbindung bringen, mit dem selbstständigen Eintritt in die Gesellschaft.200 Eine gebildete Sprache geht einher mit Selbstständigkeit durch Selbsterkenntnis und Urteilsfähigkeit. Die richtige Erfassung der Wirklichkeit im Denken wird neben dem »Aberglauben« nach Schleiermacher auch durch den »Schlendrian« behindert, durch mangelnde Selbsttätigkeit im Denken.201 Schlendrian im Denken ist bloßes Nachsprechen dessen, was bereits von anderen gedacht wurde, und hindert an einer eigenen Erfassung der Wirklichkeit im Denken. Die Überwindung von Aberglaube in seinen verschiedensten Ausprägungen geschieht also dadurch, dass Gedanken angemessen verknüpft werden, die Überwindung bloßen Nachsprechens vollzieht sich dort, wo selbst gedacht wird. Eine gebildete Sprache geht einher mit der Fähigkeit zur wirklichkeitsadäquaten Beschreibung der Wirklichkeit, und vermag es, Einheit und Komplexität der Wirklichkeit sprachlich abzubilden. Das Urteilsvermögen ist in allgemeiner Hinsicht dadurch charakterisiert, Einzelnes und Allgemeines entweder auf- oder absteigend aufeinander beziehen zu können.202 Je leichter einem Menschen diese Verstandesoperationen fallen, desto stärker ist in ihm das ausgeprägt, was Schleiermacher das »Spekulative« nennt und desto leichter fällt die »intensive« Bildung, also der Fortschritt »vom einzelnen zum allgemeinen«.203 Das spekulative Vermögen zeigt die Eignung für die »höhere Bildung« an,204 die zusammen mit der Willensstärke die grundsätzliche Befähigung anzeigt, das Zusammenleben leiten zu können.205 Inwiefern hängen für Schleiermacher spekulatives Vermögen und Bestimmung zur Leitung des Zusammenlebens zusammen? Alles Werden stellt eine Variation innerhalb eines Variationskorridors dar. Auf diese allgemeinen Bedingungen von Werden ist die »Spekulation« gerichtet. Um ein Zusammenleben angemessen leiten zu können, muss nach Schleiermacher dessen Verlauf verstanden werden, was nur möglich ist, wenn neben den historischen Einzeldaten auch die darin zum Ausdruck kommenden Kräfte und die damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten verstanden werden.206 Ein verständnisvolles und zielgerichtetes Leiten einer Gesellschaft oder ihrer 199

Vgl. Pädagogik 1826, 776 Z. 26 – 777 Z. 2. Vgl. ebd., 776 Z. 37 – 777 Z. 2. 201 Ebd., 775 Z. 33. 202 Vgl. ebd., 775 Z. 27f. Vgl. ausführlicher Pädagogik 1820/21, 520f. 203 Pädagogik 1813/14, 294 Z. 4f. 204 Pädagogik 1826, 812f. 205 Vgl. ebd., 655f. 206 Ohne Bezug auf das Historische, das faktisch Gewordene, ist das Spekulative »leer«, vgl. Pädagogik 1813/14, 294 Z. 16f. 200

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jeweiligen Bereiche kann also nur von denen erwartet werden, die das Vermögen der »Spekulation« in sich tragen. Damit schließt sich Schleiermacher den Überlegungen Platons an, der die Leitung des Gemeinwesens bei den »Philosophen« am besten aufgehoben sah. Sprache ist Ausdruck des Verständnisses der Wirklichkeit. Umgekehrt ist Denken als ein Begreifen der Wirklichkeit immer sprachgebunden. Diese Sprachgebundenheit ist nun aber immer eine spezifische, denn eine einheitliche Sprache kann es nach Schleiermachers Ansicht nicht geben.207 Sprache ist gebunden an einen bestimmten Ort innerhalb von Raum und Zeit, womit einher geht, dass es eine Sprache nicht ohne deren spezifischen Kultur- und Geschichtsbezug gibt. Eine Sprache zu lernen, bedeutet daher, ein kulturell und geschichtlich gebundenes Verständnis der Wirklichkeit zu lernen. Zwar befähigt die Beherrschung einer Fremdsprache auch zum internationalen Austausch,208 aber Schleiermacher räumt der kulturhermeneutischen Dimension der Fremdsprachen mehr Gewicht ein.209 Eine gebildete Sprache zeichnet sich nach Schleiermacher durch Kenntnisse und Urteilsvermögen in natürlichen und menschlichen Dingen aus, und darüber hinaus durch ein Bewusstsein für die geschichtlich-kulturelle Gebundenheit der eigenen Sprache und damit des eigenen Denkens. Das spekulative Denken ist dann gebildet, wenn es zum umsichtigen Umgang mit dem Zusammenleben befähigt. Zu ihrem Ziel kommen diese an den Sprachsinn geknüpften Fähigkeiten und Kenntnisse erst dort, wo sie zum Austausch über die individuell erlebte und doch gemeinsame Welt gebraucht werden. Der Sprachsinn ist nach Schleiermachers Verständnis ein durch und durch sozialer Sinn, die Bildung dieses Sinnes ist damit immer auch eine Bildung der Zwischenmenschlichkeit. Offenkundig besitzt der Sprachsinn für Schleiermacher eine eher leibliche und eine eher geistige Seite. Während das Vernehmen und Verstehen der einzelnen Worte, die Erinnerung dieser Worte als Sprachschatz und das Nachsprechen derselben samt damit einher gehendem gestischen und mimischen Ausdruck die eher leibliche Seite darstellen, so geht der urteilende oder kunstvolle sprachliche Ausdruck über das hinaus und beschreibt die mehr geistige Seite des Sprechens.210 Diese künstlerische Seite besteht in der Entwicklung des Taktes, und damit auch in der Poesie.211 Die geistige Seite kann aber noch eine andere Gestalt haben, nämlich die der Spekulation.212 Auch die Begriffsbildung ist eine freie geistige Tat des Menschen, und teilt damit ein Wesensmerkmal der Kunst; da Spekulation aber keinen Sinn für das Schöne darstellt und auch kein Ausdruck des Gefühls ist, handelt es sich bei ihr nicht um Kunst im engeren Sinne.

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Vgl. Akademievortrag Höchstes Gut II, 676 Z. 34f. Vgl. Pädagogik 1826, 811f. 209 Vgl. ebd., 845, und Pädagogik 1820/21, 515f. 210 Vgl. Pädagogik 1826, 775–777. 211 Vgl. ebd., 706–708, 816f. 212 Vgl. Pädagogik 1813/14, 294f. 208

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

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Die Unterscheidung zwischen eher leiblicher und eher geistiger Dimension ist für Schleiermachers Bildungsverständnis bedeutsam: Denn die leibliche Seite des Sprachsinns lässt sich eher »mechanisieren« als die geistige.213 Der Grund dafür liegt in der für die geistigen Fertigkeiten nötige Spontaneität des Einzelnen. Kein Handeln anderer kann dieses Erfordernis ausgleichen; und so ist dieses geistige Gebiet des Sprachsinns auch am stärksten das Gebiet der Freiheit des Einzelnen. Diese Differenz zwischen der eher mechanisierbaren leiblichen Seite einerseits und der eher geistigen Seite andererseits hat jeder Sprachunterricht zu berücksichtigen. Das Ansinnen, die Urteilsfähigkeit und poetische Kraft ebenso vermitteln zu wollen wie Hören, Sprachwortschatz und Ausdrucksvermögen ist nach Schleiermachers Einschätzung zum Scheitern verurteilt, da es die Differenz beider Aspekte nicht berücksichtigt. Zuletzt ist auf einen weiteren Aspekt des Sprachsinns einzugehen, den Schleiermacher berücksichtigt: Die Möglichkeit des Gesangs ist ursprünglicher Ausdruck der Sprachlichkeit und Musikalität eines Menschen. Außerdem ist er nach Schleiermacher besonders eng mit dem religiösen Gebiet verbunden. Dies hängt damit zusammen, dass es der Musik in besonderer Weise möglich ist, das auszudrücken, worum es auch der Religion geht.214 Erstens geht es im religiösen Gefühl um das Verhältnis zwischen dem Einzelnem und der Totalität: Was ist das Ganze, und wie fügt sich der Einzelne in dieses Ganze angemessen ein? Welches Verhältnis ist eines der Harmonie und damit im religiösen Bereich eines der Seligkeit? Die Musik kann dieses Verhältnis deswegen ausdrücken, da sie notwendigerweise in der Spannung von einzelnem Ton oder Akkord und Melodie besteht. Auch die Musik vermag Verhältnisse der Spannung genauso auszudrücken wie aufzulösen. Damit kann sie aber auch die Bestimmung des Menschen zur Seligkeit zum Ausdruck bringen. Das religiöse Gefühl existiert zweitens nicht für sich, sondern immer zusammen mit dem leiblichen und sittlichen Gefühl, mit dem Fühlen des Gegebenen und dem Fühlen des Möglichen.215 Stimmungen kommen durch das Zusammenspiel dieser drei Gefühlsformen mit ihrer jeweiligen Bestimmtheit zustande. So kann das Gefühl der Wehmut etwa beschrieben werden als ein Spannungsverhältnis zwischen dem Vorgefundenen und der eigentlichen, ausstehenden Bestimmung. Derlei Spannungen können nun auch musikalisch abgebildet werden, weil auch Tonfolgen und Harmonien Erwartungen aufbauen, die entweder eingelöst oder enttäuscht werden. Darüber hinaus ermöglicht es die Musik, diese Spannungen nicht nur abzubilden, sondern mit ihnen zu spielen, sie zu steigern, sie zu verwandeln in andere Spannungen oder sie schließlich auch aufzulösen. Dadurch verleiht die Musik auch eine Freiheit gegenüber den Stimmungen, weil sie in einem ge213 Vgl. zum Unterschied pädagogischer Einwirkung auf Fertigkeit und Gesinnung Pädagogik 1826, 638. 214 Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Luthers Musikverständnis von P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 225–227. 215 Vgl. Abschnitt 4.1.: »Gehalt und Struktur des Gefühls« ab S. 57.

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wissen Umfang mit den Stimmungen zu spielen erlaubt und die Verwandlung der bestehenden Stimmungen anzeigt und ermöglicht. Eine dritte Entsprechung zwischen religiösem Gefühl und Musik findet sich in der Interaktionsweise beider: Individuelles Symbolisieren hat immer auch einen Gemeinschaftsbezug, und dieser äußert sich nach Schleiermacher als Darstellen und Ahnen. Jede Form der Kunst ist zunächst als Ausdruck eines Inneren ein »Darstellen« und verlangt nach angemessenem Nachfühlen und »Ahnden«. Aber genau im Gesang als der ursprünglichsten Gestalt der Musik sind Darstellung und Ahnung deswegen unübertroffen unmittelbar, weil der Leib selbst das Ausdrucksmedium ist. Allein im Gesang ist nach Schleiermacher deswegen ein unmittelbarer leibhafter Ausdruck der eigenen Befindlichkeit möglich.216 An dieser Stelle wird auch die schwebende Gleichzeitigkeit von Individualität und Übertragbarkeit deutlich, die nicht nur die Musik kennzeichnet, sondern auch die Religion: Zweifellos nimmt die Musik ihren Ausgang in einem individuellen Erleben, und doch ist ihr Ausdruck in einem solchen Maße übertragbar, dass die Gestimmtheit dahinter »ahnbar« ist.

8.2.1.3 Die Glieder des Leibes und ihre Bildung Schleiermacher ordnet die Bildung der Glieder des Leibes oder der »freien Muskelbewegung«217 durch die »Gymnastik« schwerpunktmäßig der »Bildung für den Staat« zu.218 Dabei ist freilich weniger an die gegenwärtige Vorstellung vom Staat als einem Inbegriff staatlicher Institutionen zu denken als an Schleiermachers eigene Gütertheorie, in der der Staat diejenige Institution bezeichnet, die das identische Organisieren in identischer Weise ordnet. In dieses Gebiet fällt das rechtlich regelbare Zusammenleben einer Gesellschaft, das sich nach Schleiermacher vor allem auf den wirtschaftlichen Austausch von Gütern richtet, und das sich innerhalb einer bestimmten Infrastruktur vollzieht. Vom Leib gilt, ebenso wie von der Sprache, dass er schwerpunktmäßig zur Bildung für den Staat gehört; damit ist nicht gemeint, dass nicht auch die anderen Bereiche des Zusammenlebens eine Bildung des Leibes voraussetzen würden, genauso wie die Bildung des Seh- und Sprachssinnes natürlich auch für den Bereich des Staates Relevanz besitzen. Aber der Bereich der Produktion von Gütern und dessen rechtlich geregelter Verkehr ist es, der die übertragbaren Kräften des Menschen organisiert und diese zu einem gemeinsamen Handeln bündelt. Die Bildung für den Staat umfasst eine »materi-

216 Der Ausdruck des Gefühls im Tanz wird von Schleiermacher nicht behandelt, wahrscheinlich deswegen, weil ihm das Moment der Sprache fehlt. 217 Pädagogik 1820/21, 475 Z. 29. 218 Eine solche Bildung für den Staat lehnt Humboldt dagegen ab, vgl. Ursula K RAUTKRÄ MER : Staat und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher, München 1979, 33f.

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

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elle« und eine »formelle« Seite.219 Beide haben das leibliche Bezogensein des Menschen, seine Leibeskräfte, zum Gegenstand, jeweils aber in anderer Weise. Denn entweder steht eher der Einzelne im Mittelpunkt der Betrachtung, oder sein Bezogensein. Als materielle Bildung beschreibt Schleiermacher die »Selbständigkeit und Selbstthätigkeit«.220 Selbsttätigkeit ist »Kraft und Geschicklichkeit«, und beschreibt also die »physisch[e]« Seite.221 Die Bildung des Einzelnen kann sich also zunächst auf die einzelnen Glieder und deren Kräftigkeit richten. Dabei ist aber nicht an eine isolierte Kraftsteigerung einzelner Glieder zu denken, denn dabei würde der lebendige Zusammenhang des Leibes eingeschränkt. Ein solcher Körper hätte nach Schleiermacher nur »viel todte Masse angenommen«222 , wäre aber nicht gebildet. Oder aber die Geschicklichkeit der Glieder im Umgang mit der Wirklichkeit wird gebildet. Selbstständigkeit beschreibt dagegen das Vermögen, ohne besonderen Schutz oder Behütung durch andere Menschen sein Leben zu führen.223 Dieser materiellen Bildung gegenüber steht nach Schleiermacher die formelle Bildung, die er als das Vermögen zur »Einbildung des Gesezes in die Kräfte« versteht.224 Die materielle Bildung ist daher auf die formelle Bildung hingeordnet und hat keinen eigenen Stellenwert – ein Sachverhalt, der erneut aufweist, dass es Schleiermacher nicht auf die Ausbildung der Kräfte an und für sich ankommt, sondern um die Kräfte als Basis für das gestaltende Anknüpfen derselben. Dieses Anknüpfen als Einbildung des Gesetzes kann sich unmittelbar auf das Zusammenleben richten oder auf den Bereich der Dinge. Sofern sich die »Einbildung des Gesetzes« auf die Dinge richtet, nennt Schleiermacher sie »Ordnung«.225 Schleiermacher fasst darunter interessanterweise auch, »daß nichts gegen seinen Zwekk oder unterhalb seines Zwekkes als rohe Masse gebraucht werde«.226 Die Pointe dieses Hinweises liegt darin, dass Schleiermacher von einem den Dingen, ja auch dem Bezogensein, immanenten τèλοσ ausgeht, dem handelnd Rechnung zu tragen ist. Die Einbildung des Gesetzes in die Kräfte kann sich aber auch auf das Zusammenleben richten und hat dann die Gestalt des »Gehorsams«.227 Für heutige Ohren mag dies zunächst schlicht autoritär klingen. Überdies stellt sich die Frage, was Gehorsam mit dem »Einbilden des Gesetzes« zu tun hat. An dieser Stelle 219

Pädagogik 1813/14, 316 Z. 9. Ebd., 316 Z. 13. 221 Ebd., 316. 222 Ebd., 281 Z. 17f. 223 Vgl. ebd., 316 Z. 13–29. 224 Ebd., 316 Z. 10f. 225 Ebd., 317 Z. 31ff. 226 Ebd., 317 Z. 35ff. Möglich, dass er hier von dem simplen Sachverhalt ausgeht, dass Kinder nicht mit dem Essen spielen sollen. Das würde erklären, weswegen er in diesem Kontext von »Verschwendung« spricht. 227 Ebd., 318 Z. 21ff. 220

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ist es nötig, sich noch einmal den Interaktionsbereich vor Augen zu führen, über den Schleiermacher hier schwerpunktmäßig spricht, also den Bereich des identischen Organisierens. Dessen Identität besteht gerade darin, dass eben identisch gehandelt wird: In der Produktion von Waren und der Hervorbringung von Infrastruktur. Diese Übertragbarkeit kommt durch eine Gesetzgebung der Obrigkeit zustande; die Obrigkeit legt durch Gesetze einen Verhaltenskorridor fest, an den sich die »Untertanen« halten müssen, wenn sie ein Zusammenleben wollen, in dem eine gewisse Erwartungssicherheit herrscht. Die Gesetzgebung der Obrigkeit vollzieht sich aber im besten Falle nur als rechtliche Fixierung dessen, was sich auf informelle Weise bereits als Ordnung oder »Sitte« etabliert hat. Gehorsam beschreibt also ein Handeln, das sich im Rahmen der Sitte und damit auch im Rahmen des rechtlich festgeschriebenen Verhaltenskorridors bewegt. Ein solches Handeln ist ein »Einbilden des Gesetzes in die Kräfte« und steht zunächst nicht in einem autoritären Zusammenhang, sondern stellt die Möglichkeitsbedingung für Freiheit dar, indem grundlegende Unsicherheiten im Zusammenleben dadurch wenn nicht beseitigt, so doch minimiert werden. Ein gebildeter Mensch ist ein in diesem Sinne gehorsamer Mensch. Die künstlerische Seite der Tätigkeiten der Glieder, das kunstschaffende Moment, sieht Schleiermacher zum einen in Zeichnen und Handarbeit.228 Bei beiden ist es das Verhältnis zwischen Einzelnem und Ganzen, das die Schönheit des Hervorgebrachten verbürgt. Dies kann sich auf die Größe der einzelnen Teile ebenso beziehen wie etwa auf die Kombination der Farben. Das rechte Verhältnis zu treffen, kann in einem gewissen Umfang gelernt werden, aber was dagegen allein auf die freie Spontaneität des Menschen zurückgeht, ist der Impuls dazu, seinem Inneren durch das Zeichnen oder Handarbeiten Ausdruck verleihen zu wollen, und das Verhältnis der Teile so einander zuzuordnen, dass es ein Inneres angemessen ausdrückt. Zum anderen benennt Schleiermacher auch im Falle der Bewegung des Leibes eine Dimension, die das Merkmal des Schönen und Künstlerischen trägt: Die »Gewandtheit«.229 Deren Ausbildung dient unter anderem die »Gymnastik« in der Schule. Schleiermacher versteht den Sport als darstellendes Handeln.230 Dem männlichen Geschlecht spricht Schleiermacher eine besondere Nähe zum Bereich des identischen Organisierens zu.231 Aber die eigentliche Pointe im Unterschied zwischen den Geschlechtern sieht Schleiermacher nicht in der körperlichen Kraft. Die körperlichen Eigenschaften können durch Technik überwiegend kompensiert werden, so Schleiermachers durchaus zutreffende Erwartung.232 Der Unterschied betrifft Schleiermacher zufolge eher das Verhältnis zwischen Haus 228

Vgl. Pädagogik 1826, 778–780. Ebd., 781. 230 Ebd., 867. 231 Pädagogik 1820/21, 376f. 232 Vgl. Pädagogik 1826, 596f. Was dagegen nicht kompensiert werden kann, sind die angelegten »Vermögen«: So besteht beim männlichen Geschlecht tendenziell ein Übergewicht 229

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

207

und Öffentlichkeit: Das weibliche Geschlecht hat eine Tendenz zum Haus, das männliche zur Öffentlichkeit.233 Daher fordert Schleiermacher nur für die Jungen eine über die allgemeine Bildung hinausgehende berufsbezogene Bildung. Dieses Bild der Geschlechter erscheint hoffnungslos veraltet. Das bleibende Wahrheitsmoment dieser Zuordnung genauso wie seine Geschichtlichkeit wird aber deutlich, wenn Schleiermachers Begründung dieser Sicht wahrgenommen wird: Nur Frauen besitzen die Fähigkeit, Kinder empfangen, austragen, gebären und ernähren zu können,234 ein Vermögen freilich, das zu Schleiermachers Zeiten noch viel stärker als heute den Charakter eines Schicksals hatte, da Schwangerschaften nicht zu kontrollieren und damit unter Umständen sehr zahlreich waren, und den auftretenden Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt in medizinischer Hinsicht nur wenig entgegengesetzt werden konnte. Dadurch ergab sich zwangsläufig eine Spannung zwischen den Anforderungen öffentlicher Institutionen, nämlich möglichst hoher personaler Kontinuität, und der Möglichkeit auf Seiten der Frauen, dieser Anforderung gerecht zu werden. Auch wenn Schleiermacher neben dieser Differenz in der Wahrnehmungsfähigkeit öffentlicher Ämter Wesensdifferenzen zwischen den Geschlechtern feststellt, so beruht seine geschlechterspezifische Bildungstheorie im Wesentlichen auf den zu seiner Zeit gegebenen Möglichkeiten des Umgangs mit der weiblichen Natur. Sie ist deswegen keineswegs als antiquiert anzusehen, sondern vielmehr deswegen als aktuell, weil sie die Gebundenheit menschlichen Weltumgangs an den jeweils erreichten Stand dieser Fähigkeiten vor Augen hält. Der Umgang des Menschen mit den Geschlechtern ist nicht nur gebunden an die geschichtliche Gestalt der Gesinnung, sondern eben auch an die jeweils erreichten Fertigkeiten im Umgang mit dem Leib und seinen Funktionen. Dies ist deswegen interessant, weil die zunehmende Gleichheit der Geschlechter nach Schleiermacher nicht nur eine politische, sondern zuerst eine technische Frage ist. Daher rechnet Schleiermacher bei zunehmendem Fortschritt der Naturbeherrschung auch mit einem Rückgang der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, und damit mit einer zurückgehenden Ungleichheit – eine Einschätzung, die sich im Rückblick als zutreffend erweist.235 Zu einem gebildeten Menschen im Sinne Schleiermachers gehört demnach das Streben nach verbesserter Technik um der Gleichheit willen, der dennoch die

des Gedankens über das Gefühl, beim weiblichen Geschlecht ist es dagegen umgekehrt: Vgl. Pädagogik 1826, 603f. 233 Vgl. ebd., 594–597. 234 Vgl. ebd., 596. 235 Ebd., 596. Vgl. dazu auch B RACHMANN : Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 60), 101, 114, der die gegenwartsorientierte mit einer systematischen Argumentation verwechselt und Schleiermacher vorwirft, er habe einer »Ungleichbehandlung« Tor und Tür geöffnet. In der Tat plädiert Schleiermacher für eine Ungleichbehandlung, doch – wie gesagt – nicht aus systematischen Gründen, sondern mit Hinweis auf den technischen Stand der Zeit. Der Weg zur größeren Gleichheit geht auch über pädagogische, moralische oder politische Maßnahmen, steht aber immer auf dem Boden von Technik und den dadurch gegebenen Möglichkeiten des Weltumgangs.

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grundsätzlichen, und damit letztlich durch Technik nicht zu kompensierenden Differenzen berücksichtigt. Die bislang aufgeführten Sinne oder Organe sind Schleiermacher zufolge grundsätzlich bei allen Menschen dieselben und in Grundzügen identisch ausbildbar. Die Individualität ergibt sich jedoch durch das bestimmte Verhältnis der einzelnen Organe untereinander und durch den jeweils erreichbaren Grad an Stärke und Geschicklichkeit. Diese Individualität ist eine Individualität der »Anlagen«, die sich zwar nicht unabhängig vom Handeln des Einzelnen entwickeln, deren Entwicklungskorridor aber vor allem Handeln feststeht. Die »Differenz der Anlagen, Hervortreten einzelner Zweige und Organe« soll nach Schleiermacher weder begünstigt noch unterdrückt werden, weil dadurch eine zu asymmetrische Ausbildung von Talenten und Interessen entstünde; dies ginge mit einer übermäßigen Abhängigkeit gegenüber anderen einher.236 Ziel ist also zugleich auch eine allgemeine Bildung, die ein Gegengewicht zu den individuellen Anlagen und Talenten bildet.

8.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten Die Vertiefung und Vervielfältigung von Kenntnissen auf der einen Seite und die Verfeinerung der leiblichen Handlungsvermögen bilden die Grundlage für die Fertigkeiten. Zu einer lebendigen Einheit wird das Handeln dadurch aber noch nicht, sondern erst, wenn die einzelnen Handlungen einen stimmigen, lebendigen Zusammenhang bilden, da sie durch eine einheitliche Gesinnung geleitet sind. Veranschaulichen lässt sich Schleiermachers Verständnis des gebildeten Menschen durch seine Lehre vom Bösen; denn ein böser Mensch ist der Inbegriff eines ungebildeten Menschen. Das Böse ist das, »was die Harmonie des Daseins stört und aus dem Innern herauskommt«.237 Das Böse entsteht nicht aus dem Bezogensein selbst, sondern kommt aus dem Inneren eines Menschen. Gleichwohl wirkt es sich im Bezogensein aus, nämlich als Störung der prästabilierten Harmonie des Bezogenseins. Dass das Böse aus dem Inneren eines Menschen kommt, aber gerade nichts Gutes ist, kennzeichnet sie als das Gegenteil von Weisheit, und damit als Unrichtigkeit in der Bestimmung der Zwecke. Schleiermacher beschreibt das Böse an einer anderen Stelle als eine innere Ausrichtung des Wollens, das allein an der Eigentümlichkeit eines Menschen orientiert ist, nicht aber durch eine Gewissheit über die Bestimmung des Menschen überhaupt,238 und auch nicht durch die Liebe geleitet ist. Die Entwicklung der Weisheit kann Schleiermacher zufolge dadurch befördert werden, dass die Aufmerksamkeit auf das Schöne gelenkt wird.239 Das Böse 236

Vgl. Pädagogik 1813/14, 284. Pädagogik 1820/21, 398 Z. 16f. Vgl. auch Pädagogik 1826, 710. 238 Pädagogik 1813/14, 294 Z. 24–27. 239 Vgl. Pädagogik 1820/21, 400 Z. 3–5. 237

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

209

hat bei Schleiermacher dagegen den Charakter des Unharmonischen und damit auch des »Unschönen«.240 Daran wird deutlich, dass das Gute mit dem Schönen zusammenfällt. Allerdings erwacht das Bewusstsein für das Gute und Schöne später als das Bewusstsein für das Unschöne. Der Grund für die Möglichkeit einer »Anlockung« besteht also darin, dass das Schöne »seine Wurzel an dem Höhern« hat,241 das sich später als »Bewußtsein des Unschönen« entwickelt.242 Daraus ergibt sich die Forderung eines behütenden Handelns, das den Kontakt des Heranwachsenden mit Formen des Unschönen solange zurückzuhalten sucht, bis der Heranwachsende die innere Kraft besitzt, dem »specifischen Reitz« des Unschönen Widerstand leisten zu können.243 Schleiermacher rechnet also damit, dass Bildung nur im Durchgang durch Stadien der Unbildung und des Bösen zu erreichen ist. Eine Erziehung, die versucht, die Stadien der Unbildung und des Bösen grundsätzlich zu vermeiden, behindert das Bildungsgeschehen mehr als dass es dieses unterstützt. Wo die Entwicklung der Vernunft des Einzelnen ausbleibt, und die Vernunft des Einzelnen mit dem κοÐνοσ λìγοσ nicht mehr übereinstimmt, dort herrscht zum einen eine temperamentsspezifische Ausprägung des Bösen, Schleiermacher bezeichnet dies als »verrückt«.244 Damit ist deutlich, dass nicht das Temperament selbst böse ist: »Das böse ist also nicht Manifestation des Temperaments, sondern der mit der Entwikklung des Temperaments nicht Schritt haltende Entwikklung der Vernunft«.245 Die Ursache für das Entstehen des Bösen liegt also darin, dass die Entwicklung des allgemeinen Willens immer langsamer verläuft als das Auftreten einzelner Willensakte. Willensakte aber, die nicht der Weisheit und Liebe untergeordnet werden, sind nicht tugendgemäß, sondern eben böse. Das Böse hat zum anderen die Gestalt eines Widerspruchs zwischen dem Wollen des Einzelnen und dem Gemeingeist eines Zusammenlebens. Daher identifiziert Schleiermacher umgekehrt das Gute mit einem Entsprechungsverhältnis zwischen Gemeingeist auf der einen Seite und der Gesinnung des Einzelnen auf der anderen: »In der Gesinnung ist das Gute das Zusammenfallen des gemeinsamen mit dem einzelnen«.246 Gut ist es daher, wenn die individuelle Gesinnung dem angetroffenen Gemeingeist entspricht und der einzelne Mensch nach Gemeinschaft mit den angetroffenen Gemeinschaften strebt. Nach den geschichtlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, namentlich den faschistischen und totalitären Bewegungen im nationalsozialistischen Deutschland und im stalinistischen Russland etwa, mag diese Darstellung einer gelungenen 240

Pädagogik 1820/21, 116 Z. 16f. Ebd., 398 Z. 33f. 242 Ebd., 398 Z. 36. 243 Ebd., 398 Z. 24, 400. 244 Pädagogik 1826, 606 Z. 6. Die phlegmatische Ausprägung der Verrücktheit ist der »Blödsinn«, die cholerische die »Raserei«, die sanguinische ist die »Tollheit« und die melancholische schließlich hat die Gestalt des »Wahnsinns«. Vgl. auch Pädagogik 1813/14, 282. 245 Ebd., 283 Z. 3–5. 246 Ebd., 289 Z. 7f. 241

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

Entwicklung des sittliche Gefühls hoffnungslos naiv erscheinen: Kann man ein Übereinstimmen mit dem herrschenden Gemeingeist wollen und die bloße Übereinstimmung als solche gutheißen? Aus Schleiermachers Sicht auf die Gesinnung scheint zunächst nichts als blinder Gehorsam zu resultieren, der keine kritische Distanz zu den einzelnen sozialen Gebilden kennt. Ein angemessenes Verhältnis, so mag man meinen, bestünde demgegenüber in einer kritischen Haltung des Einzelnen gegenüber den sozialen Gebilden.247 Dass Schleiermacher dagegen sehr wohl die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit einer kritischen Haltung sah, zeigen zwei seiner Ausführungen.248 Erstens muss Schleiermachers Einsicht festgehalten werden, dass es den Einzelnen nur auf dem Boden und im Horizont eines Zusammenlebens gibt. Dementsprechend läge der erste Hinweis auf die Möglichkeit einer kritischen Distanz darin, dass die Alternative nicht zwischen Gemeingeist und Gesinnung besteht. Vielmehr ist mit einem Plural von Interaktionsgemeinschaften zu rechnen, an denen der einzelne Mensch in jeweils unterschiedlichem Maße mit seiner Gesinnung Anteil hat. Kritik an einer etwaigen Fehlentwicklungen auf dem Gebiet eines Interaktionsbereichs, etwa des Staates, ergibt sich von einer Gesinnung her, die nicht nur Anteil am Staat, sondern auch Anteil am Gemeingeist einer anderen Interaktionsgemeinschaft hat. Schleiermacher schreibt daher der christlichen Gesinnung, die hier exemplarisch für eine religiöse Gesinnung steht, und die es ebenfalls nur als Anteil an einem Gemeingeist gibt, ein solches kritisches Potential zu: »Die religiöse Gesinnung wird dem Gemeingeist bey uns in allen anderen Beziehungen das gehörige Maaß geben [. . . ] So auch das richtige Maaß für das Verhältniß zwischen dem Individuum in seiner Einzelheit betrachtet und seiner Theilnahme an den größeren Lebensgemeinschaften«.249 Zweitens gibt es einen weiteren Ausgangspunkt für eine Kritik an der Gestalt eines Zusammenlebens, und zwar das Gefühl für den rechten Zusammenhang der unterschiedlichen Interaktionsbereiche. Exemplarisch nennt Schleiermacher als Kriterium für die Güte einer Schule, »ob jeder Fortschritt in dem einen [Bereich, G.H.] durch den in den anderen bedingt ist, und ob die Ehre einseitig auf eines oder auf die Totalität aller gerichtet ist«.250 In eine ähnliche Richtung weist auch Schleiermachers eigenes Handeln. Schleiermacher selbst ging in der Auseinandersetzung mit Friedrich Wilhelm III. von Preußen um die Einführung einer neuen Agende einem Konflikt nicht aus dem Weg, sondern suchte die Auseinandersetzung.251 Führte dies nicht offenkundig zu einer »Disharmonie zwischen dem einzelnen Leben und dem allgemeinen«, und 247 So die Forderung von Dietrich Benner und Stephanie Hellekamps, vgl. B ENNER / H ELLEKAMPS: Staatspädagogik/ Erziehungsstaat (wie Anm. 94). 248 Zur wechselseitigen Kritik von Individuum und Institution bei Schleiermacher vgl. G RÄB -S CHMIDT: Institution und Individuum zwischen Tradition und Innovation (wie Anm. 22), 269. 249 Pädagogik 1826, 677 Z. 19–24. 250 Pädagogik 1813/14, 291 Z. 27–29. 251 Zum Agendenstreit vgl. N OWAK : Schleiermacher (wie Anm. 3), 385–390.

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

211

damit zu einer Form des Bösen?252 Der Orientierungsmaßstab für das Handeln ist in jedem Fall die Harmonie des Einzelnen mit dem Zusammenleben – aber nicht einfach nur ein Übereinstimmen mit dem empirischen Zustand des Zusammenlebens, sondern ebenso mit Rücksicht auf das Wesen eines Zusammenlebens. Mit Blick auf den Agendenstreit bedeutet dies: Nicht Schleiermachers Widerspruch führte zur Disharmonie, sondern schon der Eingriff von Friedrich Wilhelm III. als Vertreter der Obrigkeit in die Belange der Kirche war eine Handlung, die dem Eigensinn der Interaktionsbereiche nicht folgte und damit einen Akt der Disharmonie darstellte. Schleiermachers Handeln zielte auf Beseitigung dieser strukturellen Disharmonie;253 um dieses Ziel zu erreichen, musste gestritten und eine temporäre Disharmonie um der möglichen Wiederherstellung einer strukturellen Harmonie im Zusammenleben in Kauf genommen werden. Nur scheinbar ergibt sich also aus der Forderung nach einer Harmonie des Daseins oder nach der Forderung nach Gehorsam das Gebot, alle Konflikte um des lieben Friedens Willen zu vermeiden. Gebildetes Handeln ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass das Streben nach Gemeinschaft ihr Maß in der Weisheit hat, und dass die Weisheit selbst den Charakter der Gemeinschaftlichkeit hat. Dabei eingeschlossen sind die Besonnenheit und Beharrlichkeit des Handelns. Die Anforderungen einzelner Situationen dürfen nicht dazu führen, dass das Gesamtziel des Daseins aus dem Blick verloren wird; und ebenso wenig dürfen die Widerständigkeiten einer Situation den Abbruch des Strebens erzwingen. Mittelbar kann damit eine stärkere Konsistenz des Lebens hervorgebracht werden, eine »Feststellung des eigenen Lebens«,254 wie Schleiermacher sagt, und damit einhergehend ein »Continuum« des Willens.255 Schon in den Monologen spricht Schleiermacher vom Ziel individueller Bildung:256 »Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille.«257 Darin eingeschlossen sind die Ausbildung von Gemeinschaft und die Orientierung an der universalen Bestimmung des Menschen.258 Johannes Schurr hat Schleiermacher hinsichtlich des Bösen einen ethischen Monismus und Dualismus vorgeworfen, und damit einen Widerspruch im Denken. Monistisch sei Schleiermachers Sicht, da er von einer guten Natur ausgehe, dualistisch dagegen, weil zugleich Gutes und Böses im Widerstreit miteinander 252

Pädagogik 1813/14, 283 Z. 6f. Vgl. auch Schleiermachers Hinweis auf die Möglichkeit pflichtwidriger Gesetze: Akademievortrag Pflichtbegriff, 418f. 254 Pädagogik 1813/14, 270. 255 Pädagogik 1826, 612. 256 Vgl. dazu insgesamt BARTH : Das Individualitätskonzept der »Monologen« (wie Anm. 87). 257 Friedrich S CHLEIERMACHER : Monologen. Eine Neujahrsgabe, in: KGA I/3, Berlin und New York 1988, 1–61 (im Folgenden zit. als Monologen), hier 42. 258 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei R IEMER : Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 42–71, bes. 70, wo ein vierfacher Bildungsprozess durch die Gegensätze real/ideal und unendlich/endlich rekonstruiert wird. 253

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lägen.259 Beide Beobachtungen Schurrs sind durchaus zutreffend, widersprechen sich aber entgegen Schurrs eigener Beurteilung nicht. Die Bedingungen allen menschlichen Handelns, die spezifische Weise des menschlichen Eingebettetseins in sein Bezogensein, und das Angelegtsein auf Gemeinschaft, sind grundsätzlich gut, und können durch keinen einzelnen Handlungsakt des Menschen getilgt werden. Deswegen sagt Schleiermacher: »Nichts aber was sich selbst entwikkelt, kann ursprünglich böse sein; es müßte sonst auch in der menschlichen Natur liegen, und dann könnte die Erziehung doch nichts dagegen ausrichten [. . . ]. Das böse liegt also nur im Verhältniß«.260 Schurrs Beobachtung eines vermeintlichen Monismus gründet in dieser Sicht Schleiermachers. Schleiermacher gibt nun aber auch einen Hinweis darauf, wie sich dieses Gute und das Böse zueinander verhalten: »Das Böse liegt also nur im Verhältnis«. Schleiermacher beschreibt das Böse durch das Verhältnis zwischen Handeln und seinen Bedingungen. Schurrs Kritik lässt sich also dergestalt auflösen, dass auf die Asymmetrie zwischen Monismus und Dualismus verwiesen wird: Der Dualismus, der sich aus dem menschlichen Handeln ergibt, wird ermöglicht durch eine ursprüngliche, »monistische«, Güte der menschlichen Natur. Diesem seinem auf Gemeinschaft angelegten Bezogensein kann der Mensch nun mehr oder weniger entsprechen, und damit gut oder böse handeln.

8.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs Inwiefern der Religionsbezug ein Kriterium angemessener und damit wahrer Bildung ist, lässt sich anhand von Schleiermachers Sich der religiösen Entwicklung von Kindern erkennen.261 Während der Kindheit sind das Soziale und das Religiöse noch nicht ausdifferenziert und voneinander geschieden, sondern liegen noch ineinander. Schleiermacher beschreibt daher kindliche Frömmigkeit als eine, die sich in einer sozialen Erscheinung abbildet: »Wenn das Kind sein Wohlsein nur in seiner Uebereinstimmung mit dem ganzen findet, welche bei ihm ja nur Gehorsam sein kann: so ist es fromm.«262

Hierbei wird nun allerdings nicht nur der Charakter der sozialen Seite der Gesinnung beschrieben, sondern auch der religiöse Charakter, nämlich durch die Rede von der »Übereinstimmung mit dem Ganzen«. Genau hierauf bezieht sich 259

S CHURR: Schleiermachers Theorie der Erziehung (wie Anm. 60), 374f. Pädagogik 1813/14, 279 Z. 29–32.35. Zwar sagt Schleiermacher 1826: »Wir können uns hier nicht auf diese Theorie [verstehe: die Frage nach dem Angeborensein des Guten oder Bösen, G.H.] einlassen. Wir fragen nur was für Folgen für unsere Aufgabe aus dem einen und anderen entstehen«, so Pädagogik 1826, 586 Z. 23–25. Dennoch bleibt er de facto dabei, dass die Erziehung im Falle eines angeborenen Bösen auch keinerlei Einfluss ausüben könnte. 261 Genauere Ausführungen zur Religion des Kindes finden sich bei: B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 157–165. 262 Pädagogik 1813/14, 315 Z. 19–21. 260

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

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auch die Religion. Ein gebildeter Mensch hat ein Gefühl für die Übereinstimmung mit dem Ganzen und kann sein Handeln auf eine handelnde Übereinstimmung mit dem Ganzen hin ausrichten. Der Religionsbezug hat dabei einen doppelten Charakter und ist als Frömmigkeit insgesamt von »konstitutive[r] Bedeutung [. . . ] für das lebendige Subjekt«, wie Matthias Riemer festhält.263 Frömmigkeit ist »das zentrale Bildungsziel überhaupt, weil Frömmigkeit die höchste Form der Bildung ist«.264

8.2.3.1 Der Transzendenzverweis individuellen Lebens Das Handeln eines gebildeten Mensch ist von der Gewissheit begleitet, dass das eigene Leben Bedingungen unterworfen ist, die von Gott als dem transzendenten Grund gesetzt sind und auf die der Umgang mit dem Leben antwortet. Diese Bedingungen umfassen die eigene Leiblichkeit samt den Vermögen und Interessen, das spezifische Eingebundensein in ein Zusammenleben, aber auch das Geleitetsein durch Gewissheiten und die grundsätzliche Möglichkeit, dem eigenen Leben gerecht zu werden. Bereits in seinen Reden hatte Schleiermacher festgehalten: »Die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist [. . . ] und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er sein muss, was er ist, er wolle oder wolle nicht.«265 Religion ist der Bezug auf die absolute Einheit, wie Ursula Frost schreibt,266 und die Bedingungen aller Bildung verweisen auf sie.

8.2.3.2 Der Wahrheitsausdruck individuellen Lebens Der Transzendenzbezug ist durch einen spezifischen Totaleindruck geprägt; dieser entzündet sich an einer Gestalt menschlichen Lebens, die als den Bedingungen des Menschseins adäquat erlebt wurde und damit als Erfüllung der menschlichen Bestimmung. Diese Bildungsgestalt menschlichen Lebens befindet sich in »Übereinstimmung mit dem Ganzen«.267 Das Gefühl höchster Abhängigkeit gegenüber einer von außen gesetzten Bestimmung geht darum einher mit einem Gefühl größter Freiheit,268 weil die eigene Bestimmung als in sich gut erlebt wird und angestrebt werden kann. Die Bildungsgestalt des eigenen Lebens kann Ausdruck der Wahrheit werden. 263

R IEMER: Bildung und Christentum (wie Anm. 42), 278. B ERMGES: Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 233. 265 Reden, 212 Z. 12–15. 266 Vgl. F ROST : Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110), 248. 267 Daher spricht auch B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 235, zu Recht davon, »dass sich in der Religion die wahre Allgemeinheit des Menschseins verbirgt«. 268 So auch BAUER : Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 170. 264

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

Erst dieser zweite Aspekt des Religionsbezug macht verständlich, weswegen Schleiermacher in der Religion die »Bedingung alles anderen menschlichen Erkennens und Handelns«269 sieht, und die Religion als diejenige Größe versteht, die letztlich die Selbstständigkeit eines Menschen leitet:270 »Denn der Mittelpunkt aller Gesinnung ist Religiosität«.271 Religion ist damit noch nicht angemessen erfasst, wo sie lediglich als Bezug auf die absolute Einheit verstanden wird.272 Denn der Ursprungsbezug des Menschen, sein »Verhältnis[] zum höchsten Wesen«273 ist bei Schleiermacher nicht über das bloße Vorhandensein von Bedingungen für Bildung vermittelt, sondern über eine konkrete Bildungsgestalt, in der der Einklang mit den Bedingungen und der Bestimmung erlebbar wird. Gott manifestiert sich in seinem Werk, dem weiten Korridor für menschliche Bildungsprozesse. Denn Religion ist »das positive Bewußtsein von der Relativität des Gegensazes zwischen einem einzelnen Leben und der Totalität«.274 Ursula Frost hat festgehalten, dass bei Schleiermacher Bildung so zu verstehen ist, dass der Mensch zum Bild des Absoluten, zum Bild Gottes wird. Bei Bildung ginge es letztlich um das »Zum-Bild-werden-Lassen der Welt und der eigenen Person für die Einheit Gottes«.275 Dies ist m. E. richtig. Allerdings ist diese Interpretation dahingehend zuzuspitzen, dass es nicht um eine abstrakte, inhaltlich unbestimmte Einheit Gottes geht, sondern um eine konkrete, inhaltlich bestimmte. Nur weil Religion immer das Erleben einer bestimmten Wahrheit über den Menschen ist, vermag sie auch »Bedingung alles anderen menschlichen Erkennens und Handelns«276 zu sein und die Selbstständigkeit zu leiten. Genau das hat Ursula Frost betont, wenn sie festhält, dass die religiöse Gesinnung eine Bedeutung für den gesamten Bildungsprozess besitze,277 und Religion die Leitung der übrigen Bildung übernehme.278 Frosts Aussage, die Bestimmung der Bildung bestünde darin, ein Lebenszeugnis für den Einheitsgrund zu geben,279 bekommt aber erst dort ihre eigentliche Pointe, wo der Bezug auf das Absolute vermittelt 269

Pädagogik 1813/14, 315. Pädagogik 1826, 677. Schleiermacher spricht auch von der »Belebung der religiösen und der in ihr eingehüllten sittlichen Gesinnung« (S CHLEIERMACHER: Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 115, Hervorhebung G.H.). 271 D ERS .: Allgemeiner Entwurf zum Religionsunterricht an gelehrten Schulen (18. Juni 1810), in: DERS .: KGA II/12, Berlin/Boston 2017, 75–78 (im Folgenden zit. als Entwurf Religionsunterricht), 75 Z. 19 – 76 Z. 1. 272 Vgl. F ROST : Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110), 248. 273 Pädagogik 1820/21, 536 Z. 32. 274 Pädagogik 1813/14, 315 (Hervorhebung: G.H.), »positiv« meint hier soviel wie geschichtlich real. 275 F ROST : Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110), 249. 276 Pädagogik 1813/14, 315. 277 F ROST : Einigung des geistigen Lebens (wie Anm. 110), 246. 278 Ebd., 248. 279 Vgl. ebd., 249. 270

8.2 Der Mensch zwischen Bildung und Unbildung

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ist durch einen bestimmten Totaleindruck und dadurch Transzendenzgewissheit mit einer Gewissheit über die Bestimmung des Menschen einher geht. Mit der Betonung des Totaleindrucks als Weise des Geprägtwerdens der Religion wird darüber hinaus deutlich, weswegen Schleiermacher auf dem Gefühlscharakter der Religion beharrte. Das Verhältnis zum Absoluten ist eben für die Religion keines, das auf einem Denken aufruht,»weil das Religiöse die innere Gemühtserregung, nicht der Gedanke ist«.280 Inwiefern ist der Religionsbezug nun ein Kriterium für die wahre Bildung des Einzelnen? Gebildet ist das Handeln eines Menschen letztlich dann, wenn alle Ausdifferenzierung und einheitliche Zielstrebigkeit nicht nur der eigenen Bedingtheit bewusst ist, sondern das eigene Gefühl für die Wahrheit über den Menschen ausdrückt. Schleiermacher kennt drei verschiedene Formen solchen Ausdrucks. Erstens gehört zu einem gebildeten Leben der spontane Ausdruck des eigenen Wahrheitsgefühls in vertrauter Gemeinschaft. Dies kann in Situationen der Fall sein, wo der Einzelne gegenüber einem anderen die organisierende Mitte seines Lebens explizit macht, und die Situation so zur »Lebensmanifestation« wird.281 Zweitens gibt es nach Schleiermacher den institutionalisierten Ausdruck des Wahrheitsgefühls, der ebenso zu einem gebildeten Leben gehört. Der gemeinschaftliche Ausdruck des religiösen Gefühls ist im »Kunstschatz« einer Kirche zusammengefasst, und dessen Aktualisierung findet im gemeinsamen Gottesdienst statt, und daran bildet sich das Gefühl eines jeden weiter.282 Drittens kann der alltägliche Umgang mit dem eigenen Bezogensein insgesamt zum Ausdruck des Wahrheitsgefühls werden, zum Ausdruck der eigenen Unterordnung unter das eigene Bewusstsein von Gott: Die religiöse Entwicklung ist »der rechte Schlüssel zu allem Uebrigen und der richtige Uebergang aus dem Zustande der Erziehung zur Selbstständigkeit, denn so wird der ganze Mensch seinem eigenen Bewusstsein von Gott untergeordnet.«283 Die christlich geprägte Gestaltung des Alltags vollzieht sich im Geiste Jesu, und deswegen als Zusammenspiel von Mitgefühl mit den Mitmenschen und Seligkeit im Gottesverhältnis durch gewährte Gottesgemeinschaft.284 Zu einem gebildeten Leben gehört die Durchdringung von alltäglichem Leben und Wahrheitsgefühl. Schleiermacher rechnete dabei damit, dass für die Vermittlung zwischen Wahrheitsgefühl und spezifischer Situation im Handeln keine reflexiven Kompetenzen nötig seien: Sittlichkeit wird durch Reflexion nicht gesteigert. Allerdings hat Schleiermacher die Bedeutung einer »Erhöhung des Bewußtseins« für ein gebildetes Leben festgehalten.285 Die Ge280

Pädagogik 1820/21, 536 Z. 20f. Vgl. Pädagogik 1826, 755. 282 Ethik 1812/13, § 215, 362. 283 Pädagogik 1820/21, 538. 284 »[D]urch die Mitteilung seines Lebens« soll also die Welt verwandelt werden in das Reich Gottes, in denjenigen Ort, in dem die göttliche Kraft auch in anderen Menschen wirksam ist: Vgl. M ILLER: Der Übergang (wie Anm. 6), 106. 285 Pädagogik 1813/14, 270 Z. 22–24. 281

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Kapitel 8 Gebildeter Mensch

staltung des alltäglichen Lebens gemäß dem eigenen Wahrheitsgefühl setzt ein Bewusstsein für dieses Leben voraus. Die Bedeutung der Sprachfähigkeit und Reflexion gehört daher mittelbar zur Ausdrucksfähigkeit dazu.

9. Kapitel

Gebildete Erziehung

Nachdem Bildung zum einen als ein Geschehen beschrieben wurde, das sich am Zusammenleben abspielt, und zum anderen als eines, das seinen Ort am einzelnen Menschen hat, ist der Fokus des nun folgenden Teils auf diejenige institutionalisierte Hilfestellung gerichtet, die den Einzelnen und das Zusammenleben miteinander vermittelt und damit von fundamentaler Bedeutung für die Bildung sowohl des Einzelnen wie auch des Zusammenlebens ist. Dabei ist bei Schleiermacher vor allem die Schule im Blick, die die Heranwachsenden auf das selbstverantwortete Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll. Diese Vermittlungsbemühung ist sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft von großer Bedeutung, denn »[j]ede spätere Generation würde weit vor der früheren zurückbleiben wenn Eltern nicht auf die Kinder einwirken würden«.1 Die gesellschaftlichen Interaktionsbereiche und der Heranwachsende haben beide ihren Eigensinn und dürfen jeweils nicht zum bloßen Mittel werden.2 Ohne eine solche Vermittlung wäre weder an einen Fortschritt des Zusammenlebens zu denken, noch daran, dass der Einzelne von den Errungenschaften der älteren Generation profitieren könnte.3 Daher gibt es für das »menschliche Leben, für die gesamte menschliche Bildung [. . . ] nichts Bedeutenderes als Vollkommenheit der Erziehung«.4 Sie trägt zur Bildung des Zusammenlebens und zur Bildung des Einzelnen bei und hat auf diese Weise auch selbst Anteil an den Strukturmomenten von Bildung. Bei der institutionalisierten Vermittlung zwischen Heranwachsendem und Gesellschaft handelt es sich um eine Bemühung um Bildung, die als pädagogische Bildung bezeichnet werden. Diese Vermittlung steht unter einer Reihe von Bedingungen, denen sie entsprechen muss, wenn sie selbst gebildeten Charakter haben soll. Diese Bedingungen sind in einem ersten Abschnitt darzustellen. Dabei wird deutlich werden, dass die pädagogischen Vermittlungsinstitutionen in einem gewissen Sinne exemplarischen Charakter haben. Denn auch in allen Gütern vollziehen sich Prozesse, die als dezidierte Vermittlungsbemühungen zwischen 1

Pädagogik 1826, 549 Z. 27–29. So auch R EBLE: Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 216. 3 Vgl. Pädagogik 1826, 549f. 4 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 36. Vgl. paraphrasiert in: Pädagogik 1826, 566. 2

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Einzelnem und jeweiligem Ganzen zu verstehen sind. Im Bereich des kirchlichen Zusammenlebens etwa dient der kirchliche Unterricht dazu, den Einzelnen in das Gesamtleben einzuführen, und die Seelsorge hat ihren Sinn darin, den Einzelnen wieder in dieses zu integrieren.5 In einem zweiten Abschnitt wird genauer analysiert, in welchen Fällen die Institutionen der Vermittlung tatsächlich als gebildet bezeichnet werden können.

9.1 Die Bedingungen pädagogischer Hilfestellung Die pädagogischen Institutionen der Bildung haben den Charakter verstetigter, geregelter Interaktion. Sie bestehen aus einem komplexen Gefüge von Handlungsweisen und teilen damit die Merkmale der Güter. Insofern sie den Charakter des Handelns haben, gilt auch für sie, dass sich die Bildung in ihnen stets unter bestimmten Bedingungen vollzieht. Welche Bedingungen sieht Schleiermacher gegeben? Als erste Bedingung gibt Schleiermacher an, dass sich die Vermittlungsbemühung auf einen Prozess richtet, der sich innerhalb des menschlichen Lebens immer schon abspielt: Der Übergang Heranwachsender aus der Familie in die selbstverantwortliche Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Leben.6 Diesem Prozess und ihrem Richtungssinn haben die Vermittungsbemühungen gerecht zu werden. Die zweite Bedingung besteht in den drei Grundformen pädagogischen Handelns.7 Die dritte Bedingung besteht schließlich darin, dass auch dieses vermittelnde Handeln von einem organisierenden Zentrum, einer bestimmten Gesinnung und einem bestimmten Gemeingeist, abhängig ist.8 Diese drei Bedingungen sind im Folgenden näher auszuführen.

9.1.1 Der vorgegebene Prozess und seine Bestimmung Schleiermacher kannte zwar den pädagogischen Diskurs seiner Zeit, entwickelte seinen eigenen Begriff der Erziehung aber ohne direkte Anleihen und Bezüge auf diesen.9 Das einheitliche Geschehen, auf das sich nach Schleiermacher alle Formen der Erziehung richten, seien sie privater oder öffentlicher Natur, ist der Übergang der Kinder aus der Familie in die Gesellschaft und der damit verbun5

Vgl. zur Seelsorge etwa Friedrich S CHLEIERMACHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (2. Auflage 1830), in: KGA I/6, Berlin und New York 1998 (im Folgenden zit. als Kurze Darstellung), § 290, 428. 6 Vgl. Abschnitt 9.1.1.: »Der vorgegebene Prozess und seine Bestimmung« ab S. 218. 7 Vgl. Abschnitt 9.1.2.: »Die Grundformen pädagogischen Handelns« ab S. 221. 8 Vgl. Abschnitt 9.1.3.: »Die Gesinnung des Lehrers und die Sitte der Gesellschaft« ab S. 222. 9 Vgl. dazu B RACHMANN : Schleiermachers Kritik an der Aufklärungspädagogik (wie Anm. 173), 471, 473.

9.1 Die Bedingungen pädagogischer Hilfestellung

219

dene Wechsel der Generationen.10 Während sich die Erziehung in einfacheren Gesellschaften nur innerhalb der einzelnen Familien vollzieht, bilden komplexere Gesellschaften ein öffentliches Erziehungswesen aus. Unabhängig vom Entwicklungsstand der Gesellschaft verfolgt eine sachgemäße Erziehung ein einheitliches Ziel, nämlich die Vermittlung zwischen Heranwachsendem und Zusammenleben.11 Damit hat Erziehung bei Schleiermacher den Charakter einer Hilfestellung für die Bildung des Einzelnen wie auch der Bildung des Zusammenlebens. Schleiermacher spricht vom Ziel der Erziehung als dem »Abliefern« des Zöglings an die vier großen Lebensgemeinschaften.12 Von Stephanie Bermges wurde deswegen der Vorwurf erhoben, Schleiermacher sei nicht interessiert an einer kritischen Haltung der Schüler.13 Durch die Fokussierung auf das »Abliefern« wird aber eine andere, ebenfalls im Sachverhalt der Vermittlung implizierte Zielsetzung der Erziehung tendenziell ausgeblendet. Eine gelungene Vermittlung zwischen Heranwachsendem und Zusammenleben ist nach Schleiermacher erst dann erreicht, wenn sich der Heranwachsende nach Maßgabe seiner Individualität so in das Zusammenleben einbringen kann, dass dadurch eine Verbesserung des Zusammenlebens entsteht, und sein Handeln den Charakter der »Rectification«, der Berichtigung, trägt.14 Der Gedanke einer dauernden Verbesserbarkeit der Gesellschaft aber hat einen kritischen Sinn, da die Gesellschaft eben als eine zu verbessernde Größe verstanden wird.15 Dass Schleiermacher der Erziehung eine zentrale Rolle bei der »Realisirung aller sittlichen Vervollkommnung« zuschreibt,16 impliziert, dass die jeweilige Gegenwart relativ unvollkommen ist. Dem Gedanken des »Ablieferns« stellt Schleiermacher stets diesen Gesichtspunkt der Verbesserung zur Seite, etwa wenn er sagt: »[D]ie Erziehung soll so eingerichtet werden [. . . ], daß die Jugend erzogen werde tüchtig, um in das einzutreten was sie vorfindet, aber auch tüchtig um verbessernd einzuwirken«.17 Für Schleiermacher sind Anknüpfen und Verbessern, und damit Affirmation und Kritik, zwei notwendige Kennzeichen eines gelingenden Handelns. Schleiermacher versteht den jeweils erreichten Zustand eines Zusammenlebens immer als einen, der einer Verbesserung fähig ist. Daher ist Albert Rebles Rede von der sozialethische 10

Vgl. Pädagogik 1826, 547 Z. 16–20, 547f. Daher kann eine pädagogische Theorie »nur als Theorie eines Prozesses konzipiert werden«, vgl. W INKLER: Geschichte und Identität (wie Anm. 31), 62. 11 Vgl. E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 243. 12 Vgl. S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 31: »Die Erziehung [. . . ] soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das Gesamtleben im Staate, in der Kirche, im allgemeinen freien geselligen Verkehr, und im Erkennen oder Wissen«. 13 Vgl. B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 141f. 14 Pflichtenlehre (L.B.), § 4, 459. 15 So auch H OPFNER : Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 210ff. 16 Pädagogik 1826, 566. 17 Ebd., 565 Z. 7–11.

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Bedeutung als »kulturbiologische[r] Funktion« abzulehnen.18 Sie verknüpft auf missverständliche Weise Kultur und Biologie, und legt ein Verständnis von Kultur nahe, das seine Pointe im zyklischen Verlauf hat, der sich durch Fortpflanzung ergibt. Damit wird aber Schleiermachers Verständnis von Gesellschaft und Sitte als sich stets in Veränderung befindlichen Größen keine Rechnung getragen. Zusammenleben und Sitte haben nach Reble den Status einer Gattung, innerhalb derer sich alle Individuen bewegen oder zumindest bewegen sollten. Die Gesellschaft ist aber nach Schleiermacher keine Gattung. Sowohl die Individualität des Einzelnen und seines Handelns, sowie dessen notwendige Versuche einer Verbesserung des Zusammenlebens, die relative Spannung zwischen Wahrheitsgefühl und angetroffener Situation, als auch die relative Kontingenz sozialer Gebilde wird im Rahmen dieser Interpretation nicht ausreichend berücksichtigt. Soziale Gebilde stehen stets im Wandel und sind der Verbesserung fähig; dies gilt auch für die Bildungsinstitutionen selbst. Auch sie sind Gegenstand eines Bildungsgeschehens, dessen Güte sich daran bemisst, inwiefern sie dem Bildungsgeschehen der Individuen und der Gesellschaft unterstützend zur Seite treten. Schleiermachers Verständnis des Gegenstandes aller Erziehung hat aber nicht nur eine sozialethische Dimension. Eine weitere Pointe besteht darin, dass sich Erziehung auf einen Prozess richtet, der immer schon im Gange ist: »Wir wollen [. . . ] annehmen, der Mensch ist ursprünglich bei Vernunft. Dann wird sich also auch die Vernunft, so gewiß sie zu seiner Natur gehört und die menschliche Natur in jedem eine lebendige Kraft ist, sich [sic!] von selbst erheben«.19

Diese Entwicklung der Vernunft ist kein Produkt menschlichen Handelns, und schon gar nicht der Erziehung, vielmehr gilt: »Die Entwikklung ist ein Werk des Lebens, und die unterstützenden absichtlichen Einwirkungen treten nur einzeln auf«.20 Dass dagegen keinerlei Fortschritte in der Entwicklung des Einzelnen zu erwarten sind, wenn keine Einwirkung anderer Menschen besteht, ist für Schleiermacher ebenso deutlich: Ohne Erziehung käme der einzelne, auf sich gestellte Mensch nicht »auf das Niveau mit ihnen [verstehe: den großen sittlichen Formen, G.H.]«.21 Vielmehr braucht es die Erziehung, damit »sie verstärkt, was diese [verstehe: die Einwirkungen des freien Lebens, G.H.] doch zu schwach bringen, sie ordnet, was sie nur chaotisch bringen, sie erhöht zum Bewußtsein, was sie nur unbewußt

18

R EBLE: Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 215. Pädagogik 1813/14, 293 Z. 5–9. 20 Friedrich S CHLEIERMACHER : Pädagogik (1820/21). Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hrsg. v. Christiane E HRHARDT/Wolfgang V IRMOND, Berlin und New York 2008, 174, Anm. 1, 37. Vorlesung. Vgl. ebenso Pädagogik 1820/21, 446: Die Erziehung »muß den Gang beobachten, den die Entwikkelung selbst nimmt«. 21 Pädagogik 1813/14, 259 Z. 22. 19

9.1 Die Bedingungen pädagogischer Hilfestellung

221

bringen«.22 Dabei kann sich alle pädagogische Einwirkung niemals an der Selbsttätigkeit des Heranwachsenden vorbei vollziehen, sondern nur als Hilfestellung für dessen Selbsttätigkeit.23 Alle erzieherische Einwirkung ist daher im strengen Sinne selbst keine Bildung, sondern hat den Status einer Hilfestellung für die Bildung. Dass Erziehung ein Vorgang ist, der sich auf einen bereits bestehenden Bildungsprozess richtet,24 wird auch dadurch deutlich, dass Schleiermacher in diesem schon im Gange befindlichen Prozess eine eigene Würde erkennt, der es gerecht zu werden gilt. Deswegen beharrt er darauf, dass kein Moment im Leben des Heranwachsenden einem künftigem aufgeopfert werden darf. Vielmehr muss alles, »was Vorbereitung ist, [. . . ] zugleich auch unmittelbare Befriedigung sein«.25 Schleiermacher pflichtet hier Rousseau bei und macht deutlich, dass Kindheit und Jugendalter nicht nur den Status eines Mittels zu einem vermeintlich höheren Zweck besitzen, sondern immer auch Selbstzweck sind. Der Richtungssinn des Prozesses, auf den die Erziehung gerichtet ist, kann als Sozialisierung einerseits und Individualisierung andererseits verstanden werden:26 »Es sind also dieses zwei verschiedene Gesichtspunkte der Erziehung, das Ausbilden der Natur, und das Hineinbilden in das sittliche Leben«.27 Diese beiden Vorgänge versucht die Erziehung nach Kräften zu unterstützen.

9.1.2 Die Grundformen pädagogischen Handelns Der Bildungsprozess des Einzelnen ist der Gegenstand allen erzieherischen Wirkens.28 Deswegen kennt Schleiermacher auch nur zwei Grundformen des pädagogischen Handelns, nämlich das Unterstützen des im Gange befindlichen Prozesses und die Gegenwirkung gegen einzelne Entwicklungen.29 Dazu kommt als eine Besonderheit des entgegenwirkenden Handelns das behütende Handeln, das den 22 Pädagogik 1813/14, 273 Z. 16–18. Erziehung, wie sie durch Eltern oder Bildungsinstitutionen geleistet wird, hat also gewissermaßen den Effekt eines Katalysators und kann Bildungsprozesse beschleunigen: Vgl. ebd., 293 Z. 34. 23 Vgl. auch B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 231. Ebenso auch G RÄB: Religiöse Bildung als Teil der Allgemeinbildung: Das Konzept der Spiritualität (wie Anm. 6). 24 So auch W INKLER : Geschichte und Identität (wie Anm. 31), 125. 25 Pädagogik 1813/14, 269 Z. 32f. 26 Dass die Individualisierung Sinn der Bildung ist, sagte bereits Leibniz, vgl. BALLAUFF : Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 163. 27 Pädagogik 1813/14, 265 Z. 26–28. 28 Vgl. B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 139, weist darauf hin, dass der Lehrer nicht identisch sein muss mit dem Erzieher, da das erzieherische Wirken nicht auf die Schule beschränkt ist. 29 Vgl. Pädagogik 1826, 597. Vgl. auch Pädagogik 1820/21, 395 Z. 7–12, ausführlich ebd., 17.–35. Vorlesung, 395–454.

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Kontakt des Heranwachsenden mit bestimmten Einflüssen des Lebens um eine gewisse Spanne hinauszuzögern versucht. Die Handlungsweise des »Behütens« oder »Verhütens«, die durch den Pietismus Beachtung fand, versucht Einflüsse, die die Entwicklung stören könnten, abzuwehren.30 Schleiermacher geht also von einem bereits im Gange befindlichen Prozess aus, den die Erziehung – durchaus kritisch – begleitet: »Erziehung ist die absichtliche Einwirkung auf den in der Entwicklung begriffenen Menschen«.31 Bildung kann sich nur ergeben aus dem Wechselspiel zwischen dem Handeln des Erziehers und dem des Heranwachsenden. Schleiermachers eigene Betonung liegt dabei auf dem unterstützenden Wirken, wohingegen er der Gegenwirkung,32 also Missbilligung und Strafen, eine untergeordnete Rolle zuweist.33 Die Gegenwirkung hat keine positive Kraft, und vermag es also nur, die Ausbildung eines unsittlichen Habitus zu hemmen, ebenso »den Einfluß des bösen auf dies gemeinsame Leben zu dämpfen«.34 Alles unterstützende Handeln zielt darauf, an die »Gesammtthätigkeit« des Zöglings richtig anzuknüpfen und diese zu fördern.35 Sie soll das Chaotische ergänzen und ordnen, und »in das Bewußtlose Bewußtsein hineinbringe[n]«.36

9.1.3 Die Gesinnung des Lehrers und die Sitte der Gesellschaft Der Umgang der Erziehers mit der Erziehungssituation ist nicht nur von seinem Wissen über die Situation und seinen Kunstfertigkeiten geprägt, sondern auch grundlegend von seiner Gesinnung.37 Sein Interesse an der Jugend und an einer gelungenen Vermittlung zwischen der Jugend und der Gesellschaft bildet die Grundlage für die Sittlichkeit der Erziehung, kann aber von den Bildungsinstitutionen nur vorausgesetzt und nicht erzeugt werden.38 Diese Gesinnung des Erziehers gibt es nur im Kontext einer bestimmten Sitte, die durch eine »Idee des Guten« 30

Vgl. Pädagogik 1826, 597ff. Pädagogik 1820/21, 379. 32 Von Herbart wurde diese Handlungsweise als »Regierung« bezeichnet, die durch Herstellung einer äußeren Ordnung die Möglichkeit der Erziehung sichern sollte, vgl. Johann Friedrich H ERBART: Allgemeine Pädagogik. Aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet, hrsg., erläut. und mit einer Einl. vers. v. Theodor F RITZSCH, Leipzig 1902, 21. Dabei geht Herbart aber von einem Dualismus im Menschen aus, von einem guten Willen und »rohen Begehrungen«, die es – von außen, also durch den Erzieher – zu unterwerfen gilt; vgl. dazu H OPFNER: Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 243ff. 33 Vgl. Pädagogik 1826, 759 Z. 25f.: »Nie kann mn lauben, daß die Strafe auf irgend eine Weise wirklich bessern kann«. Ebenso Pädagogik 1820/21, 410 Z. 31: »Strafen sind nichts Pädagogisches«. 34 Pädagogik 1813/14, 284 Z. 2f. 35 Ebd., 286 Z. 31–35. 36 Pädagogik 1820/21, 439. 37 Vgl. ebd., 502 Z. 17ff. 38 Vgl. Abschnitt 9.2.2.2.: »Die Förderung der Liebesfähigkeit und der Bildung des Gewissens« ab S. 235. 31

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

223

geprägt ist. Diese prägt auch die Erziehung insgesamt und die Bildungsinstitutionen, und schließen daher auch die Möglichkeit einer allgemeingültigen Pädagogik aus.39

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung Gebildet sind Bildungsinstitutionen nach Schleiermacher dann, wenn sie einen gewissen Grad der Ausdifferenzierung erreicht haben, diese Verfeinerungen des Handelns untereinander aber zugleich eine Einheit bilden, und wenn die so ausgebildete Institution eine religiösen Dimension aufweist. Dies ist in den folgenden drei Abschnitten darzustellen.

9.2.1 Das Kriterium der Ausdifferenzierung der Hilfestellung Der Beitrag der Bildungsinstitutionen zu einer gelingenden Vermittlung zwischen dem Heranwachsenden und der Gesellschaft und ihren Gütern wird von Schleiermacher in seiner Vorlesung zur Erziehungskunst von 1813/14 wie folgt beschrieben: »Erziehung ist von Anfang bis zu Ende nichts anderes als Auseinandertreibung der Gegensäze, Erhöhung des Bewußtseins, Feststellung des eigenen Lebens.«40

Ziel ist also die Ausdifferenzierung des Bezogenseins (»Auseinandertreibung der Gegensätze«), die Ermöglichung einer Einheitlichkeit dieser ausdifferenzierten Bezüge durch das gesteigerte Bewusstsein des eigenen Bezogenseins (»Erhöhung des Bewußtseins«) und in all dem die Entdeckung und Ausbildung einer bewussten Identität (»Feststellung des eigenen Lebens«). Diesem Ziel ist in differenzierter Weise Rechnung zu tragen. Eine Ausdifferenzierung des institutionalisierten pädagogischen Handelns kann sich zum einen auf der Seite des konkreten erzieherischen Handelns ergeben, und ist damit eine Verfeinerung des Handlungsvermögens des Erziehers selbst. Zum anderen besteht eine Möglichkeit der Ausdifferenzierung darin, dass die Institutionen der Hilfestellung sich den unterschiedlichen Übergangsweisen der Heranwachsenden anpassen.

9.2.1.1 Verfeinerungen des pädagogischen Handelns Das pädagogische Handeln kann sich dadurch ausdifferenzieren, dass auf den Individualisierungs- und Sozialisierungsprozess angemessener eingegangen wird. Schleiermacher setzt im Falle der Eltern voraus, dass diese die Individualität 39 40

Vgl. Pädagogik 1826, 555. Pädagogik 1813/14, 270 Z. 22–24.

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

des Kindes und die eigene Lebenswelt nach bestem Vermögen wahrnehmen. Im Falle der Lehrerschaft kann diese Berücksichtigung allerdings professionalisiert und damit ausdifferenziert werden: Die Lehrer sollen Anteil haben am jeweils erreichten Stand der theoretischen Erfassung der allgemeinen Grundzüge des Entwicklungsverlaufs von Menschen und der Grundzüge der geschichtlich gewordenen Gegenwart, sowohl ein Wissen um die Unterrichtsgegenstände.41 Eine Ausdifferenzierung des pädagogischen Handelns der Lehrer setzt also eine Ausdifferenzierung der Wissenschaften ebenso voraus wie Institutionen der Lehrerausbildung.42 Dazu kommt das Vermögen des Lehrers, dieses Wissen zu einer Fertigkeit werden zu lassen und an die Individualität der Heranwachsenden angemessen anzuknüpfen: »Menschenkenntnis« ist nötig.43 Schleiermacher betont nun aber auch die Grenzen individueller Förderung; da die Anlagen des Einzelnen »durch eine bloß allgemeine Erziehung von Null auf Etwas gekommen ist«,44 werden sie sich bei fortdauernder allgemeiner Erziehung auch je nach individueller Veranlagung weiter entwickeln. Zu Beginn eines Lebens ist das individuelle Temperament oder die individuelle Anlage noch nicht zum Vorschein gekommen, entwickelt sich aber dann auch dort, wo eine besondere Erziehung fehlt.45 Es genügt nach Schleiermacher, dass der Heranwachsende mit der Totalität seines Bezogenseins bekannt gemacht wird, indem ihm diese im Unterricht dargestellt wird.46 »Das entwikkelnde Princip ist im Zögling selbst, die Erziehung reicht nur den Stoff dar; ist sie systematisch, so muß dieser eine Totalität bilden.«47

Der Zögling soll »mit dem ganzen Stoff seines Organs und mittelbar mit der Totalität des Stoffes« bekannt werden48 - dies gehört zur »allgemeine[n] Bildung«.49 Dadurch leistet die Erziehung ihren Beitrag für die Berufsfindung des Einzelnen: Der Beruf ist diejenige Tätigkeit, in der Neigung und Talent, also individueller »Lieblingsstoff« und stärkstes »Organ«, zusammentreffen:50 Allgemein ist diese Form der Bildung deswegen, weil sie sich auf die »Totalität des Stoffes« bezieht, und damit auf das, worauf sich menschliches Handeln überhaupt richten kann. Damit wird dem Zögling im besten Falle ein Raum für Selbstbildung eröffnet. Um Bildung handelt es sich, weil das Umgehen mit dem eigenen Bezogensein durch die Kenntnisse eine differenziertere Gestalt gewinnen kann. Die Totalität des Bezogenseins wird durch den allgemeinbildenden Fächerkanon abgebildet 41

Vgl. Pädagogik 1826, 799f. Vgl. ebd., 810–804. 43 Ebd., 800. 44 Pädagogik 1813/14, 284 Z. 28f. 45 Vgl. ebd., 283 Z. 22–27; Bezüglich der Anlagen vgl. ebd., 284 Z. 21–32. 46 Vgl. ebd., 283 Z. 27–30. 47 Ebd., 283 Z. 27–30. 48 Ebd., 285 Z. 17f. 49 Ebd., 285 Z. 19. 50 Ebd., 285 Z. 7f. 42

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

225

(vgl. die Tabelle 5). Die darin begegnenden »Gegenstände«51 sind Schleiermachers Wissenschaftslehre entsprechend drei, nämlich die Mathematik als formales Wissen um Maß und Verhältnis, sodann zwei materiale Sachverhalte, die Kenntnis der »menschlichen Thätigkeiten« und der »natürlichen Dinge«.52 Während sich die Mathematik an den Sehsinn anschließt, knüpft das Wissen um menschliche Tätigkeiten an den Sprachsinn als Grundfunktion symbolisierender Tätigkeit an.53 Dieser ist zunächst und ursprünglich ein Sinn für die Muttersprache. Fremdsprachen, insbesondere die alten Sprachen Griechisch und Latein, schließt Schleiermacher als Gegenstände bloßer formaler wie allgemeiner Bildung aus.54 Wiederum zeigt sich hier eine klare Abgrenzung Schleiermachers von Humboldt, und auch hier ist das wesentliche Argument der Verweis auf den Gegenstand der Bildung: Bei diesem handelt es sich um das soziale Bezogensein eines Menschen, das nach Durchlaufen der allgemeinbildenden Schule zu einem klaren Bewusstsein gekommen sein soll und zum möglichen Gegenstand eigenen Gestaltens; die Kenntnis der alten Sprachen steigert in Schleiermachers Augen weder dieses Bewusstsein noch das Gestaltungsvermögen. Da Sprache immer eine bestimmte Sprache, eben die Muttersprache ist, geht damit auch stets das Gebundensein an eine bestimmte, gewordene Gegenwart einher.55 Der Vertiefung der Muttersprache dient der Sprachunterricht, die Reflexion auf die gewordene Gegenwart wird dem Geschichtsunterricht zugeordnet. Zwischen beiden bewegt sich der Religionsunterricht, der kirchengeschichliche Elemente enthält, aber auch der Entwicklung des Gesangs, und des auf eine Religion gerichteten sprachlichen Ausdrucksvermögens. Da Geschichte immer an ein bestimmtes Gebiet der Erde gebunden ist, knüpft sich an den Geschichtsunterricht der Geographie-Unterricht, und an diesen die Naturkunde, die ihrerseits bereits auf die Physik verweist, diese aber nur vorbereitet. Die Beschäftigung mit der Geographie und Naturkunde wiederum ist am engsten mit dem organisierenden Handeln verbunden, und damit mit dem Leib und dessen Gliedern. Die Förderung der Gesinnungsentwicklung dagegen ist es, die ein Genie des Erziehers verlangt und die am wenigsten geübt oder gar mechanisiert werden kann, aber auch dieses setzt ein Verständnis der Gesinnung und ihrer Entwicklungsweise voraus. Das Handeln des Erziehers ist durch eine unbewusste Billigung und eine bewusste Missbilligung des bestehenden Zusammenlebens geleitet.56 Auch diese Billigung und Missbilligung kann mehr oder weniger gebildet sein, je nachdem, wie sehr Kritik und Affirmation reflektiert sind.57 51

Pädagogik 1826, 774f. Ebd., 776 Z. 26–28. Ebenso: Pädagogik 1820/21, 514. 53 Vgl. Abschnitt 8.2.1.: »Das Kriterium der Ausdifferenzierung« ab S. 193. 54 Vgl. Pädagogik 1826, 518 Z. 18–24. 55 Vgl. ebd., 776ff. Für den folgenden Abschnitt vgl. auch 8.2.1: Das Kriterium der Ausdifferenzierung, ab S. 193. 56 Vgl. Pädagogik 1820/21, 364. 57 Vgl. zum Spannungsfeld von »Kritik und Affirmation« die Studie von K LEINT : Über die Pädagogik D. F. E. [sic!] Schleiermachers (wie Anm. 101). 52

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Leibliche Vermögen

Die rezeptive Seite: Der »Stoff«

Die spontane Seite: Die »Gymnastik«

Der Sehsinn

Mathematik

Rechnen, Messen und Zeichnen

Der Sprachsinn

Muttersprache, Geschichte, Religion

Beherrschen der Sprache (Logik und Grammatik), Gesang

Der Leib und seine Glieder

Geographie, Naturkunde, Handarbeit und Sport

Kraft und Geschicklichkeit

Tabelle 5: Die Sinne, ihr »Stoff« und ihre Übung nach Schleiermacher

9.2.1.2 Die Ausdifferenzierung der Schularten und die Rolle des Staates Die »Gegenstände«,58 die es zu wissen gilt, sind die, mit denen es die Heranwachsenden später zu tun haben werden. Dies, der Wert für das spätere Leben, ist Schleiermachers grundsätzliches Kriterium für die Aufnahme von Sachverhalten in die Reihe der Unterrichtsgegenstände. Die Ausdifferenzierung der Schularten folgt ebenfalls nur diesem Prinzip. Im Falle der allgemeinen Bildung sind dies alles Sachverhalte, die noch keinen expliziten Berufsbezug haben, also weder eine explizite Vorbereitung auf das Geschäftsleben darstellen, noch auf die Aufgabe des Regierens.59 Ein gebildetes Erziehungswesen unterscheidet und vermittelt zwischen allgemeiner Bildung und der Berufsvorbereitung. Die Vorbereitung auf das Geschäftsleben fällt teilweise in den Aufgabenbereich der Familie,60 teilweise auch in den Bereich der weiterführenden Schulen. Die Hinführung auf das Regieren ist dagegen alleinige Sache der Gymnasien und dann der Universitäten. Der Grund für diesen »Grundkanon, daß die Entwicklung nur an einem solchen Stoff versucht werden müsse, der im künftigen Geschäftsleben seinen Wert behält«,61 liegt nicht einfach in einer Fokussierung auf das künftige Geschäftsleben, sondern in der Überzeugung Schleiermachers, die ältere Generation habe verantwortungsvoll mit der Lebenszeit der Heranwachsenden umzugehen.62 Dies ist nicht so zu verstehen, dass allein die Vorbereitung der Heranwachsenden auf die Zukunft zählen würde. Schleiermacher will dies vielmehr so verstanden wissen, 58

Pädagogik 1826, 774. Vgl. ebd., 765. 60 Vgl. ebd., 765 Z. 30: Sie ist für die Weitergabe der »mechanische[n] Geschicklichkeiten« verantwortlich. Schleiermacher denkt besonders an »Ackerbau und Gewerbe«, ebd., 765 Z. 24f. 61 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 271 Z. 5–7.Vgl. auch Pädagogik 1826, 765 Z. 10–18. 62 Vgl. Pädagogik 1813/14, 269f. Vgl. auch oben, Abschnitt 9.1.1, Der vorgegebene Prozess und seine Bestimmung, ab S. 218. 59

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

227

dass kein Moment einem zukünftigen aufgeopfert werden darf.63 Bei den Gegenständen, die nach Abschluss der allgemeinbildenden Schule gekannt werden müssen, handelt es sich um solche, die zur »Bildung des praktischen Verstandes« beitragen.64 Schleiermacher betont den Charakter der Schulen als allgemeinbildender Schulen: »Die [. . . ] Ansicht, daß Schulen bloß Unterrichtsanstalten (Kenntnißfabriken) wären, Supplement auf der einen Seite, Vorbereitung möglichst bestimmt für den persönlichen Kreis auf der anderen hat lange geherrscht und den Verfall der Schulen bewirkt«.65

Schulen haben über die Wissensvermittlung hinaus die Aufgabe, den Übergang in alle Güter vorzubereiten. Diese wird zwar deswegen besonders betont, weil im Kontext der Familie die Allgemeinheit der Wissensvermittlung tendenziell am wenigsten gewährleistet werden kann. Aber dies darf nicht zu einer Engführung von Schule auf die Wissensvermittlung führen, denn »das gesellige, das bürgerliche und das religiöse sind eben so gut darin«.66 Die Kunst der Gestaltung von Bildungsinstitutionen besteht also darin, den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft, und damit aber auch alle Dimensionen des eigenen Bezogenseins für den Heranwachsenden erfahrbar und zugänglich zu machen.67 Eine gebildete Erziehung ist daher auf alle gesellschaftlichen Interaktionsbereiche bezogen. Dies steht auch in Zusammenhang mit einem Einfluss der Erziehung auf die Gesinnung der Heranwachsenden mittels der Totalität der Institution:68 »Durch die Ordnung und Einrichtung des gemeinsamen Lebens in den öffentlichen Anstalten wird besonders auf die Gesinnung gewirkt, insofern das gemeinsame Leben von einem Gemeingeist getragen wird, der am besten geeignet ist, die einzelnen in die Ordnung des Ganzen hineinzuziehen«.69

Weil den Bildungsinstitutionen diese Vermittlungsaufgabe zukommt, gilt auch, dass »Heilung für die Gebrechen aller Sphären freilich nur durch die Erziehung [kommt]; allein damit die Erziehung diese Richtung bekomme, muß ein Gefühl des Bedürfnisses in der erziehenden Generation im ganzen sein«.70 Erziehung ist damit nicht als ein Sachverhalt einer Institution und ihrer Repräsentanten, also der Schule und ihrer Lehrer oder der Familie und Eltern, beschrieben, sondern 63

Vgl. Pädagogik 1820/21, 389–392. Pädagogik 1826, 786. Ebd., 772 Z. 1, 767 Z. 23. 65 Pädagogik 1813/14, 291 Z. 35–39. 66 Ebd., 291 Z. 25f. 67 Vgl. ebd., 291f. 68 Vgl. Pädagogik 1826, 757f: Denn »daß auf den Willen des Einzelnen eigentlich gewirkt werden muß unmittelbar durch die Gewalt des Ganzen [. . . ]. Das im Allgemeinen nicht genug anerkannt was für eine große Wirkung die Gewalt des Ganzen auf den Einzelnen ausübe«. 69 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 374f. 70 Pädagogik 1813/14, 264 Z. 22–25. 64

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

die Erziehungsverantwortung ist Sache der ganzen älteren Generation in allen gesellschaftlichen Bereichen.71 Besondere Verantwortung für die Gestalt des Erziehungswesens sieht Schleiermacher beim Staat, der verhindern muss, dass die Eltern ihre Kinder zu früh und zu umfassend in ihr Erwerbsleben mithineinziehen.72 Schleiermacher schreibt dem Staat nur eine zeitlich begrenzte, immer nur vorübergehende Zuständigkeit für das Erziehungswesen zu,73 es kann »zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen [. . . ] in den Händen der Regierung sein«, nämlich dann, wenn dem Unterrichtswesen »neuer Schwung« gegeben werden soll.74 Impulse für die Fortentwicklung der Schulen unter staatlicher Aufsicht erwartet Schleiermacher von der Gründung freien Schulen, den »Privatinstitute[n]«.75 Neben diesen Impulsen, die sich auf das Unterrichtswesen richten, sieht Schleiermacher noch einen zweiten Anlass, durch den ein Engagement des Staates im Bereich der Gestaltung der Bildungsinstitutionen zeitweilig gefordert ist. Wenn in einer Gesellschaft kein Gemeinsinn vorherrschend ist und keine »Einheit der Sitte« besteht,76 dann hat ein staatlicher Eingriff in das Erziehungswesen darauf abzuzielen, »die Vielheit in eine wahre Einheit umzuprägen, jedem organischen Teile das Gefühl des Ganzen lebendig einzubilden und diesem Gefühl das des eigentümlichen Daseins unterzuordnen damit nicht die Liebe zum Stamm und zum Gaue der Liebe zum Vaterland und zum Volke entgegenstrebe.«77

Doch dieser staatliche Eingriff ist für Schleiermacher keine Lösung auf Dauer, vielmehr ist »es auch heilsam, wenn dies wieder aufhört.«78 Schleiermacher plädiert also für ein Modell, innerhalb dessen dem Staat zwar die Aufsicht über das gemeinschaftliche Wirken der Bürgerschaft übertragen ist; dass aber die bürgerschaftliche »Assoziation zum gemeinschaftlichen Wirken« sich »frei von dessen [verstehe: vom staatlichen] Wirken« ausbilden kann.79 Dass dieses gesamtgesell71

So auch B ERMGES: Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 139f. Vgl. SW III/6, Berlin 1845, 201f. 73 Vgl. E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 246f. 74 Pädagogik 1826, 369. Vgl. ebenso Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 142. In diesem Abschnitt beziehe ich mich auf die von Platz herausgegebenen und compilierten Texte, da dieser Abschnitt in dem der KGA zugrundeliegenden Vorlesungsmitschrieb vollständig fehlt. 75 Vgl. Pädagogik 1820/21, 536 Z. 4f; vgl. auch Brigitta F UCHS : Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher, in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 (Schleiermacher-Archiv 22), Berlin und New York 2008, 475–494, 488f. 76 Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 140. 77 Ebd., 141f. 78 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 369. Vgl. auch Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 142 Z. 27–32. 79 Pädagogik 1826, 369. Daran orientiert sich auch der Vorschlag von Eilert H ERMS : Die Frage der Schulträgerschaft aus sozialethischer Sicht. Die Tübinger Barbara-Schadeberger72

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

229

schaftliche Interesse durch die bürgerliche Gesellschaft wahrgenommen wird, scheint Schleiermacher wahrscheinlicher als ein am Gemeinwohl orientiertes Handeln der Regierung.80 Dabei denkt er aber nicht direkt an die Regierung, sondern an eine mittlere Ebene zwischen dieser und dem Volk, nämlich die »Institutionen kommunaler Selbstverwaltung«.81 Unter dieser versteht Schleiermacher eine Größe, die zwischen Bürgern und Regierung steht,82 und damit als eine Institution der Zivilgesellschaft, wie man mit heute gebräuchlicher Terminologie sagen könnte.83 Der Grund dafür liegt darin, dass der Staat als »lebendige Vereinigung der Kräfte«84 keine Partikularinteressen im Blick haben darf, sondern das »gesamtgesellschaftliche Interesse«.85 Schleiermacher lehnt damit ein grundsätzliches Primat des Staates hinsichtlich des Bildungswesens ab, schreibt ihm aber – in Krisenzeiten – durchaus Verantwortung zu und unterscheidet sich davon von Humboldts Ablehnung jeglichen Einflusses von staatlicher Seite.86 Eine gebildete Erziehung lebt Schleiermacher zufolge erstens von einer Selbstbescheidung des Staates: Da Erziehung eine Sache des Volkes ist, soll deren institutionelle Gestaltung der Bürgerschaft obliegen, wohingegen dem Staat im Regelfall nur die Aufgabe einer Gestaltung der rechtlichen Rahmenordnung zukommt. Zweitens schließt eine gebildete Erziehung eine selbstbewusste Zivilgesellschaft ein, die selbst nicht nur willens ist, die Gestaltung des Erziehungs- und Bildungswesens in die eigenen Hände zu nehmen, sondern auch eine hinreichend klare Vorstellung davon hat, wie diese Gestaltung auszusehen hat.87

Vorlesungen, in: Karl Ernst N IPKOW/Friedrich S CHWEITZER: Zukunftsfähige Schule – in kirchlicher Trägerschaft?, Münster 2002, 79–84. 80 Vgl. K RAUTKRÄMER : Staat und Erziehung (wie Anm. 218), 306. 81 Vgl. zu Schleiermachers Rede von der »Communalverfassung« Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 143 Z. 23. Vgl. ebenso Pädagogik 1826, 643f. Vgl. dazu auch K RAUTKRÄMER: Staat und Erziehung (wie Anm. 218), 303, F UCHS: Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher (wie Anm. 75), 476 und R EBLE: Schleiermachers Kulturphilosophie (wie Anm. 18), 218. 82 Vgl. Akademievortrag Beruf des Staates zur Erziehung, 142. 83 Vgl. dazu auch S CHELIHA : Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher (wie Anm. 27), 317–319, 333f. 84 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 368. 85 K RAUTKRÄMER : Staat und Erziehung (wie Anm. 218), 305. 86 Vgl. Wilhelm von H UMBOLDT : Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: DERS .: Werke in fünf Bänden, I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, 56–233, hier 105–109. Vgl. F UCHS: Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher (wie Anm. 75), 477. 87 Vgl. dazu auch die Überlegungen von H ERMS : Die Frage der Schulträgerschaft aus sozialethischer Sicht (wie Anm. 79).

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

9.2.2 Das Kriterium der Re-Integration des Ausdifferenzierten Gebildet ist die pädagogische Hilfestellung dann, wenn die einzelnen, ausdifferenzierten pädagogischen Handlungen innerhalb der jeweiligen Institutionen nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern einen lebendigen Zusammenhang bilden. Dies tun sie dann, wenn der Lehrer und die Institutionen von einem gemeinsamen Ziel und Geist geleitet sind. Der gemeinsame Geist lebt vom Bewusstsein des gemeinsamen Zieles, das gemeinsame Ziel wiederum besteht darin, der Verfassung und Bestimmung des Menschen zu entsprechen.88 Schleiermachers Vorschläge zur Gestaltung institutioneller Bildung zielen auf die »Hebung und Verbesserung der Volksbildung« durch allgemeine Bildung, wie Brigitta Fuchs feststellt.89 An anderer Stelle kann Schleiermacher auch sagen, Erziehung»die gehe aus von dem dem Menschen angeborenen Staat, Kirche u. s. w. und ende mit der Darstellung seiner individuellen Natur«.90 Die Reduktion der »Schulbildung auf bloße Berufsqualifikation« kritisierte Schleiermacher scharf,91 da sie dem eigentlichen Sinn der Erziehung nicht gerecht zu werden vermögen.92 Zugleich besteht die Bestimmung des Menschen darin, die Welt in sich aufzunehmen und zu verstehen, zugleich aber die Welt so mitzugestalten, dass diese Art der Gestaltung Ausdruck des Inneren eines Menschen wird. Schleiermacher spricht in seiner ersten Vorlesung daher von der Entwicklung einer »Weltanschauung« und der »weltbildenden Selbstdarstellung«.93 Beides, das individuelle und das identische Moment auf der einen Seite, und das innere und äußere Moment auf der anderen Seite, findet seine Zusammenfassung in der Pflichtenlehre.Pflichtethik Die Pflichtformeln können als eine Zusammenfassung des Bildungszieles begriffen werden, durch das alle spezifische Ausdifferenzierung des pädagogischen Handelns wieder in eine Einheit eingebunden wird. Schleiermacher fordert in der Pflichtenlehre die Ausgewogenheit zwischen Liebe und Recht, Gewissen und Beruf. Stets sollen sich die eigenen Impulse und Neigungen einerseits, und die Anforderungen, die sich von Seiten des Zusammenlebens ergeben andererseits, die Waage halten.94 Ebenso soll das Streben nach Gemeinschaft nie in dem Sinne selbstlos sein, dass der Eigensinn des Einzelnen übergangen wird, genauso wenig wie individuelle Aneignungsprozesse 88

Vgl. Abschnitt 8.1.4.: »Der ursprüngliche Richtungssinn: Die Bestimmung des einzelnen Menschen« ab S. 190. 89 F UCHS : Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher (wie Anm. 75), 492f. 90 Pädagogik 1813/14, 265 Z. 2–4. Vgl. auch ebd., 265 Z. 21–23: »In alle diesem aber ist der Mensch ursprünglich nur universell, und es ist die Aufgabe der Erziehung ihn zu individualisiren«. 91 F UCHS : Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher (wie Anm. 75), 477. 92 Vgl. Pädagogik 1826, 748. 93 Pädagogik 1813/14, 286. 94 Vgl. Pflichtenlehre (L.B.), § 17, 462 mit § 22, 464.

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

231

den Gemeinschaftsbezug des Menschen überlagern und verdrängen sollen.95 Die Pflichtformeln erinnern also daran, dass das Ziel nicht einfach in der Ausdifferenzierung der einzelnen Bezogenheitsdimensionen und des Umgangs mit ihnen besteht, sondern dass diese Bezugnahmen des Menschen miteinander vermittelt und zu einer lebendigen Einheit integriert werden muss. Diese Einheit im Handeln erfordert »eine allgemeine Richtung auf die ganze Idee«.96

9.2.2.1 Die Förderung der Berufs- und Rechtsfähigkeit Der erste Aspekt der Bildungsziele umfasst die Fertigkeiten sozialen Gestaltens, die Schleiermacher nach ihrer individuellen und übertragbaren Seite unterscheidet. Gebildet ist, wer sowohl in die bestehenden Interaktionen gemäß deren jeweiliger Ordnung einzustimmen vermag als auch dabei seine individuellen Talente und Interessen einzubringen weiß. Der Beruf stellt dabei Schleiermacher zufolge die individuelle Seite des Bezogenseins auf Gemeinschaft dar, da hier Talent und Anlage in besonderer Weise zusammenfallen und dies einen individuellen Beitrag für das Zusammenleben erwarten lässt. Die Berufspflicht wird von Schleiermacher darüber hinaus in einem weiten Sinne als Pflicht zur »Aneignung« gefasst.97 Zugleich spricht Schleiermacher von der Dimension des Rechts, in der er die Pflicht zum übertragbaren Handeln, und damit zum Gemeinschaftstiften zusammengefasst sieht.98 Die Pflicht zur Förderung des übertragbaren Handelns umfasst alle Güter und auch das Verhältnis zwischen Völkern, es schließt also die Gemeinschaft unter den Völkern und innerhalb eines Volkes ein, und zwar in der Weise des Erkennens, des wirtschaftlichen Austauschs und der freien Geselligkeit oder Gastfreundschaft.99 Auch den Fortschritt hin zu politischer Gleichheit zwischen Menschen und Völkern sieht Schleiermacher in der Rechtspflicht enthalten.100 Wie kann nun die Fähigkeit zur Erfüllung der Berufspflicht durch die Erziehung gefördert werden? Die Bildungsinstitutionen sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Heranwachsende seine Talente und Neigung en entdecken kann. Diese Entdeckung ermöglicht die Erziehung, indem sie ihn mit der Totalität seines Bezogenseins oder »Stoffes« in Kontakt bringt.101 Dieser Kontakt ist nun keiner, der sich nur auf Kenntnisse beschränkt, sondern zugleich die leiblich gebundenen Fertigkeiten im Umgang mit den Dimensionen des Bezogenseins einschließt. Das Ziel besteht damit in einer Bekanntmachung mit dem eigenen Bezogensein und einer 95

Vgl. Pflichtenlehre (L.B.), § 16, 462 mit § 25, 464f. Ebd., § 21, 463. 97 Vgl. ebd., § 1, 473. 98 Vgl. ebd., §§ 1–3, 465. 99 Vgl. ebd., §§ 8–12, 467f. 100 Vgl. ebd., §§ 4–5, 466. 101 Pädagogik 1813/14, 286f. 96

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Befähigung zum Umgang damit. Da das eigene Bezogensein zum einen leiblich fundiert, zum anderen in den vier großen Lebensformen verortet ist, besteht die diesbezügliche Bildung in einer Bildung der Leiblichkeit und der Sozialität und der Vermittlung beider Momente. Eine gebildete Hilfestellung berücksichtigt also Leiblichkeit und Sozialität. Schleiermacher sieht einen wesentlichen Unterschied innerhalb der Berufsgruppen darin, ob diese leitend sind oder nicht. Nach Schleiermacher erfordern diejenigen Berufe, in denen andere Menschen geleitet werden sollen, die also nach heutigem Sprachgebrauch als Führungspositionen im weiten Sinne zu bezeichnen wären, die Fähigkeit zum spekulativen Denken. Denn nur mittels diesem sind situationsübergreifende Entwicklungstendenzen zu erkennen: »Um die Zukunft zu construiren gehört daß man die Gegenwart aus der Vergangenheit construirt habe«.102 Nur der kann also verantwortlich leiten, der die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten erkennt und sein Handeln daran auszurichten vermag. Schleiermacher zufolge kommt also viel darauf an, den Unterricht so einzurichten, dass das entsprechende Talent zum spekulativen Denken entdeckt werden kann. An dieser Unterscheidung orientiert sich die Gestaltung der Bildungsinstitutionen, die in drei Grundgestalten begegnet. Es gibt die »rein häusliche Erziehung, die öffentliche Elementarerziehung, die höhere öffentliche Erziehung«.103 Während sich die erste Phase innerhalb der Familie abspielt und ganz an deren Charakter als freiem Leben teilhat, tritt das Leben der Heranwachsenden mit dem Übergang in die allgemeinbildende Schule (»öffentliche Elementarerziehung«) unter den Gegensatz von freiem und strukturiertem Leben und die »Bildung zum Menschen« wird zum Ziel des Prozesses.104 Diejenigen, bei denen sich während der Phase der Allgemeinbildung das Potential zum Spekulativen und damit zu einer leitenden Tätigkeit in Staat, Kirche und Wissenschaft zeigt,105 treten danach nicht aus der Schule in das Erwerbsleben über, sondern besuchen weiterführende Schulen.106 Schleiermacher teilt diese in seiner Vorlesung von 1826 wiederum in die »höhere Bürgerschulen und niedere« sowie in die »Gelehrtenschule«.107 Die höhere Bürgerschule wird von Schleiermacher auch als »höhere Gewerbs- oder Realschule« bezeichnet, mit der Rede von der Gelehrtenschule bezieht sich Schleiermacher auf das Gymnasium.108 Sie gehören der mittleren Bildungsstufe an. Beide schließen die spekulative Behandlung des Stoffes noch aus, bereiten diese »wissenschaftliche Bildung« aber bereits vor.109 Dabei unterscheiden sich beide dadurch, dass die Realschulen eher durch ein »Übergewicht des Physikalischen und also des 102

Pädagogik 1826, 839. Pädagogik 1813/14, 265 Z. 41 – 266 Z. 1. 104 Ebd., 285. 105 Vgl. Pädagogik 1826, 832f, 839. 106 Vgl. ebd., 823f. 107 Ebd., 824 Z. 8f. 108 Vgl. ebd., 824. 109 Ebd., 847 Z. 2, vgl. auch 812. 103

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

233

Practischen und eine größere Beziehung auf die unmittelbar practische Thätigkeit die darauf folgen soll«, gekennzeichnet sind, wohingegen die Gymnasien ein »Übergewicht des Philologischen und des Speculativen« aufweisen.110 Die Berufe, auf die die Realschulen vorbereiten, befassen sich mit »Handel und Gewerbe in größerem Umfang« sowie in der »Staatsverwaltung«.111 Die wissenschaftliche Bildung in der Universität baut auf der realen Bildung auf und setzt diese fort.112 Auf Schleiermachers Vorschläge zur Reform der Bildungsinstitutionen soll nun nicht weiter eingegangen werden, da der Bezug auf Schleiermachers Gegenwart an dieser Stelle sehr groß ist und nur eine Anwendung seiner systematischen Prinzipien sind. Festzuhalten sind zwei Aspekte, die für Schleiermachers Zielsetzung hinsichtlich der Förderung der Berufsfähigkeit wichtig sind. Schleiermacher betont den organischen Zusammenhang von allgemeiner Bildung und Vorbereitung auf den Beruf. Bei diesen beiden Momenten handelt es sich nur um einen relativen Gegensatz, weil »die Theorie das Innerste der Praxis, diese bloß Ausdruck jener ist«.113 Damit geht einher, dass die höheren Bildungsstufen nur eine Vertiefung der allgemeinen Bildung darstellen, es aber grundsätzlich mit keinem anderen Gegenstand zu tun haben.114 Dies wiederum geht darauf zurück, dass Schleiermacher letztlich nur einen Beruf des Menschen kennt, nämlich die Bildung der Natur gemäß der Vernunft.115 Damit zusammenhängend betont er an verschiedenen Stellen die Wichtigkeit einer Möglichkeit zum Übergang zwischen den verschiedenen Schulen.116 Dieser Übergang muss deswegen möglich sein, weil die Institutionen gegenüber den Heranwachsenden eine dienende Funktion besitzen und überall dort, wo sich das Talent für eine höhere Bildungsstufe zeigt, die Entfaltung dieses Talents unterstützen sollten. Neben der Hilfestellung, die die Bildungsinstitutionen dabei zu leisten haben, dass jeder Heranwachsende einen seiner Individualität gemäßen Beruf finden kann, haben sie auch die Aufgabe, dem Einzelnen die Möglichkeit zu eröffnen, in die angetroffenen gesellschaftlichen Interaktionen einstimmen zu können, und ihn damit zum übertragbaren Handeln zu befähigen. Schleiermacher fasst dies in seiner Pflichtethik unter den leicht missverständlichen Begriff der »Rechtspflicht«. In welcher Weise können die Bildungsinstitutionen nun einen Beitrag zur Förderung der Rechtsfähigkeit der Heranwachsenden leisten? 110

Pädagogik 1826, 847 Z. 13–16. Ebd., 812. 112 Vgl. ebd., 812f., 837. 113 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 345. Vgl. in etwas kürzerer Fassung Pädagogik 1826, 835. 114 Vgl. Pädagogik 1813/14, 289, wo Schleiermacher betont, die Erziehung solle »keine anderen Elemente enthalten, als die das Leben enthält«. 115 Vgl. Pädagogik 1826, 12: »es kommt aber darauf an, wie bald er (jeder einzelne Mensch, G.H.) dahin gebracht wird, auf die Förderung des menschlichen Berufes auf Erden mit einwirken zu können«. 116 Vgl. ebd., 823f, 847. 111

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Die allgemeine Bildung hat nach Schleiermachers Verständnis den Sinn, den Zögling »nach Ordnung und Zusammenhang in dieselben [verstehe: die unterschiedlichen Gebiete] eintreten zu lassen«.117 Dabei hat das technische Verfahren dieser Einführung sehr genau auf den Entwicklungsstand des Kindes und »die Entwikklung des rechten Processes« zu achten.118 Werden von einem Kind zu früh »rechtliche Gefühle oder wol gar Begriffe« oder Frömmigkeit vorausgesetzt, kann dies nur zu leerem Schein oder einer Opposition des Kindes führen.119 Schleiermacher sieht damit sehr deutlich, dass die Bildungsinstitutionen eine Vermittlungsaufgabe haben, die sowohl den gegenwärtigen Stand der Gesellschaft und ihre Entwicklungstendenzen im Blick haben muss, aber eben auch die Situation der Heranwachsenden. Die Rechtspflicht verlangt es, den Heranwachsenden ein Verständnis der Gegenwart zu vermitteln; dies ist ein wesentliches Ziel des Geschichts-, Sprachund Religionsuntericht. Zugleich dient dem die gleichmäßige »Ausbildung der Kräfte und Einbildung des Gesezes in die Kräfte«,120 also das Vermögen, zielgerichtet handeln zu können und damit die Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit der Heranwachsenden zu befördern.121 Dabei verbinden sich die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten dort, wo die Überzeugung entsteht, »daß in der Ordnung und Regel die Kraft des Menschen liege und daß es nur so viel Sicherheit in der Anwendung der Kräfte gäbe als Ordnung und Regel«.122 Wenn den Heranwachsenden der Zusammenhang zwischen Unterricht und künftigem Leben in der Gesellschaft bewusst wird, wenn sie erleben, dass das Zusammenleben, in das sie eintreten, liebenswert ist,123 und dass sie ihre Kräfte erfolgreich einbringen können, dann stellt dies einen Entwicklungsimpuls dar und führt zu einer Freudigkeit der Heranwachsenden.124 Damit hängt ein weiterer Aspekt zusammen, der für eine Bildung der Rechtsfähigkeit von Bedeutung ist und bereits in das Gebiet der Gesinnung hineinspielt. Die Rechtsfähigkeit ist als Fähigkeit zum übertragbaren Organisieren abhängig von einem Bewusstsein für die übertragbare Seite des Zusammenleben, und damit von einem Bewusstsein für die relative Gleichheit der jeweils kooperierenden Menschen. Grundlegend für die Bereitschaft zur Kooperation ist die Einsicht, dass gemeinsam mehr geleistet werden kann als durch die Kräfte des Einzelnen.125 Aber die ausdifferenzierten Bereiche des Zusammenlebens erfordern es auch, dass die einzelnen Glieder die grundsätzliche Irreduzibilität der verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsbereiche anerkennen, die Tatsache also, dass grundsätzlich 117

Pädagogik 1813/14, 276 Z. 21f. Ebd., 276 Z. 27. 119 Ebd., 276, 296. 120 Ebd., 316. 121 Vgl. ebd., 316. 122 Pädagogik 1826, 788. 123 Vgl. Pädagogik 1820/21, 500. 124 Vgl. Pädagogik 1826, 788 Z. 28ff. 125 Vgl. Pädagogik 1820/21, 501. 118

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

235

kein gesellschaftlicher Bereich einfach überflüssig ist.126 Rechtsfähig ist also nur der, der nicht nur einseitig die »Ehre« seines Handlungsbereichs zu fördern bemüht ist, sondern den jeweiligen Eigensinn und Zusammenhang aller Bereiche bemerkt und im Blick hat.127 Das Gemeingut kann nur ordentlich und vollständig verwaltet werden, wenn die verschiedenen Bereiche des Zusammenlebens nicht als Oppositionen zueinander wahrgenommen werden, sondern als wechselseitig aufeinander verweisende Größen, wo »jeder Fortschritt in dem einen durch den in dem anderen bedingt ist«.128 Schleiermacher sieht es aber nicht nur als problematisch an, wenn sich zwischen Staat, Wirtschaft, Kirche und Wissenschaft, oder innerhalb dieser Güter derartige Oppositionen aufbauen. Auch innerhalb der Schule darf eine solche Verabsolutierung relativer Gegensätze nicht eintreten: Weder zwischen Lehrer und Schülern, noch zwischen den Schülern einer Klasse oder als »Korporationsgeist« zwischen unterschiedlichen Schulen.129 Auch die Bezüge der Schule auf die Güter sollen die Totalität betonen, und keiner Einseitigkeit Vorschub leisten.130 Zuletzt ist auch im Sinne einer Förderung der Rechtsfähigkeit den Spielarten des Nationalismus zu wehren, da diese ebenso aus einem relativen einen absoluten Gegensatz machen: »Die nationale Eigenthümlichkeit entsteht aus der Indifferenz, wie die persönliche. Sie entsteht [damit, G.H.] als Gegensaz, aber sie darf kein absoluter werden, und damit nicht in ihr das allgemein menschliche aufgehe, muß sich mit ihr zugleich entwikkeln der Sinn für das fremde. [. . . ] Also die Zeit der höchsten Entwikklung ist da, wenn im pädagogischen System Veranstaltungen sind, um den Sinn für das fremde auszubilden und zu unterhalten.«131

Zwar ist es nach Schleiermacher unbestritten, dass auch einzelne Völker eine Eigentümlichkeit besitzen. Diese ist aber im Horizont des »allgemein Menschliche[n]« zu sehen und damit als eine Variation innerhalb der Menschheit. Dieses Bewusstsein für die Einheit des Menschseins ist letztlich auch der Grund für die Rechtsfähigkeit. Das Bewusstsein für die Gleichheit der Menschen ist damit dem Bereich der Religion verbunden, denn sie ist »das Gebiet der höchsten Gleichsetzung, weil vor Gott alle gleich sind«.132

9.2.2.2 Die Förderung der Liebesfähigkeit und der Bildung des Gewissens Neben der Berufs- und Rechtspflicht, die der Förderung bedarf, gibt es für Schleiermacher auch eine individuelle und eher verborgene Seite im Menschen, die 126

Vgl. Pädagogik 1813/14, 290f. Ebd., 291 Z. 29. 128 Ebd., 291 Z. 27f. 129 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 376f. 130 Vgl. Pädagogik 1826, 291 Z. 30f. 131 Pädagogik 1813/14, 278 Z. 15–24. Vgl. auch Pädagogik 1820/21, 444. 132 Ebd., 537 Z. 23f. 127

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

ebenfalls der Förderung bedarf. Dabei handelt es sich um die Gewissens- und Liebespflicht, die die individuelle Seite des Aneignens und Gemeinschaftstiftens darstellen. Insofern die Liebe von individueller Attraktion und Impulsen abhängt, und das Gewissen von individuell erfahrener Wahrheit, gehören beide der Seite der nicht planvoll förderbaren Gesinnung oder des Gefühls zu. Das aber, »worin das Gefühl vorwaltet, d.h. das sittliche und alles dem analoge«, gehört überwiegend dem Gebiet des freien Lebens an.133 Als das freie Leben bezeichnet Schleiermacher diejenigen Interaktionen, die sich vom Unterricht und aller auf Zwecke bezogenen, methodisch kontrollierten Berufstätigkeit unterscheiden, also das Leben in der Familie, in freier Geselligkeit und in der Kirche. Schleiermacher betont, dass sich die Förderung der Kenntnisse und Fertigkeiten insofern stark von einer Förderung der Gesinnung unterscheide, als die Entwicklung der Gesinnung letztlich nicht durch kontrollierte äußere Einwirkung beherrschbar sei. Daher kann auch Religion im eigentlichen Sinne nicht gelehrt werden.134 Das Lieben und das Gewissen eines Menschen gehören der Gesinnung eines Menschen an, und stellen damit keinen Gegenstand dar, auf den sich die erzieherische Tätigkeit unmittelbar richten könnte. Insofern liegt hier ein Motiv für eine – auch zeitliche – Begrenzung schulischer Erziehung vor, die Schleiermacher selbst auch anmahnt.135 Denn die Bildung der Heranwachsenden erfordert auch Zeit, die nicht von methodisch kontrollierter Tätigkeit dominiert ist, sondern in denen das freie Leben vorherrscht. Es bedarf auch der Möglichkeit zur »Contemplation« und zur »imaginative[n] Thätigkeit«.136 Zugleich möchte Schleiermacher dies nicht in dem Sinne verstanden wissen, als könne die Bildung der Kenntnisse und Fertigkeiten auf der einen Seite und die Bildung von Gefühl und Gesinnung auf der anderen einfach getrennt werden. Die Schulen sind mehr als bloße »Kenntnisfabriken«, sie sind eine eigene Form des Zusammenlebens und haben als solche immer auch eine Wirkung auf die Gesinnung der Heranwachsenden.137 Daraus ergibt sich für Schleiermacher die Forderung, dass man »der Jugend ein besonderes, von ihrem Familienleben verschiedenes Leben bilden [muß], welches als die Einheit aller ihrer Erziehungselemente erscheine«.138 Das Zusammenleben im schulischen Kontext fordert also eine bewusste Gestaltung desselben. Ermöglicht wird die Bildung der Gesinnung nach Schleiermacher durch die Familie und die Schule; wobei die Familie die Grundlagen für die Bildung der religiösen und allgemein-ethischen Gesinnung 133

Pädagogik 1813/14, 274 Z. 43 – 275 Z. 1. Vgl. E HRHARDT: Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 70–73. 135 Vgl. Pädagogik 1826, 718: »Je mehr das Zusammenleben mit den Erziehenden den Charakter der Zweckmäßigkeit annimmt, desto mehr sollte ein Mit sich selbst leben bey den Kindern hinaus treten.« 136 Ebd., 719. Vgl. auch ebd., 754, 782–784. Auf die Notwendigkeit der Kontemplation weist auch B ERMGES: Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 231, hin. 137 Pädagogik 1813/14, 291; vgl. ebenso Pädagogik 1826, 748. 138 Pädagogik 1813/14, 290 Z. 38–40. 134

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

237

schafft, die Schule dagegen eher die Rahmenbedingungen für die güterspezifischen Formen des Gemeingeistes setzt.139 Wie von der Berufs- und Rechtsfähigkeit sowohl der Heranwachsende profitiert wie auch das Zusammenleben als Ganzes, so gehen auch die Forderungen nach einer Bildung der Liebesfähigkeit und des Gewissens nicht nur auf das Recht der Heranwachsenden zurück. Der Bildungsprozess einer Gesellschaft ist nicht denkbar ohne die individuellen Impulse der Einzelnen, denn ohne diese ergeben sich keine Verbesserungen. Diese Impulse verdanken sich aber der Fähigkeit einer kritischen Bezugnahme auf die Gegenwartsgesellschaft durch Einzelne und deren Willen zur Verbesserung des Zusammenlebens. Ersteres fällt eher in den Bereich des Gewissens, letzteres in das Gebiet der Liebe. Eine Geringschätzung dieser individuellen Seite der Bildung muss auf längere Sicht damit einhergehen, dass die Impulse zu Verbesserungen der Gegenwart nachlassen. Nach Schleiermachers Sicht der Dinge ist also davon auszugehen, dass eine Fokussierung auf die übertragbare Seite der Erziehung Hand in Hand geht mit der Tendenz zu einem Rückzug aus dem öffentlichen Leben und einer Beschränkung auf das Private. Im Folgenden ist nun zunächst auf die Förderung der Gewissensbildung durch die Bildungsinstitutionen einzugehen, und dann auf die Förderung der Liebesfähigkeit. Das Gewissen ist nach Schleiermachers Ausführungen in der Pflichtethik der Ort, an dem der Einzelne in »individueller Aneignung begriffen« ist.140 Diese Beschreibung des Gewissens erscheint zunächst überaus kryptisch. Inwiefern soll im Gewissen eine »Aneignung« stattfinden? Ist das Gewissen nicht eher als diejenige Instanz im Menschen zu verstehen, die das eigene Handeln auf seine moralische Vertretbarkeit hin anfragt? Schleiermachers Verständnis des Gewissens weicht davon nur auf den ersten Blick ab; denn das, was Schleiermacher unter Aneignen versteht, ist das Sich-zu-eigen-Machen von Handlungen. Es sollen keine Handlungen ausgeführt werden, die sich der Handelnde nicht zu eigen machen könnte, weil dies dem seinem Selbstverständnis und seinem Gefühl für das gute Leben widerspräche.141 Ebenso wenig sollen Handlungen ausgeführt werden, zu denen der Handelnde keinen inneren Bezug hat, denn dadurch bekämen diese einen nur mechanischen Charakter und widersprechen damit tendenziell der eigenen Freiheit. Insofern setzt die Gewissenspflicht voraus, dass der Einzelne einen doppelten Sinn für sein Bezogensein besitzt: Zum einen muss er seine spezifische Situation angemessen erfasst haben, zum anderen bedarf er eines Gefühls für die Wahrheit des Menschseins. Nur so kann das situationsspezifische Gestalten kritisch auf 139 Vgl. Pädagogik 1826, 752 Z. 18–22, 754f. Vgl. auch B ERMGES : Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13), 142. 140 Pflichtenlehre (L.B.), § 1, 481. 141 Reiner Preul versteht unter dem Gewissen ebenso nur die rein formale Übereinstimmungssuche zwischen Pflicht und Tun, vgl. P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 191–203, bes. 193.

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

das Gefühl für die Wahrheit des Menschseins bezogen werden. Das Gewissen ist deswegen nicht in dem Sinne autonom, als es in ursprünglicher Weise eine im Menschen gesetzte Instanz darstellen würde, sondern das Gewissen besteht in der Fähigkeit, das eigene Handeln im Lichte des Gefühls für die situationsinvariante Wahrheit wahrzunehmen.142 Da dieses Gefühl individueller Art ist, hat auch das Aneignen im Gewissen eine individuelle Prägung. Vom religiösen Gefühl ist das Gewissen insofern unterschieden, als es nicht nur um das Erleben einer Situation im Horizont eines Totaleindrucks geht, sondern um ein kritisches Gegeneinanderhalten von dem als gut Erlebten und den jeweils angetroffenen Möglichkeiten eigenen Handelns. Insofern ist deutlich, weswegen das Gefühl für Verfassung und Bestimmung des Menschen die Möglichkeitsbedingung des Gewissens darstellt: Ist das Gefühl für die Wahrheit des Menschseins gar nicht ausgebildet, dann kann auch kein Gewissen entstehen, da der Horizont fehlt, innerhalb dessen sich einzelne Handlungen erst als stimmig oder nicht stimmig erweisen. Gewissenlosigkeit geht damit einher mit dem Fehlen eins Gefühls für die Wahrheit des Menschseins und manifestiert sich in der Skepsis oder einem bloß an individuellen Befindlichkeiten orientierten Handeln.143 Ein erzieherisches Handeln, das das Gewissen fördern will, muss dementsprechend zwei Gestalten haben. Einerseits kann das erzieherische Handeln diejenigen Rahmenbedingungen zu schaffen suchen, innerhalb derer eine Bildung des Gefühls für die Wahrheit des Menschseins möglichst wenig gestört wird. Andererseits muss die Erziehung dem Heranwachsenden eine Hilfestellung dabei leisten, eigene Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und diese auf sein Wahrheitsgefühl zu beziehen. Eine gebildete Erziehung stellt die Frage nach den eigenen Möglichkeiten und nach deren Güte. Die Bildung des Gewissens kann bei vorausgesetzter Bildung des Wahrheitsgefühls auch in anderer Weise unterstützt werden, nämlich durch ein erhöhtes Bewusstsein der eigenen Handlungsmöglichkeiten, ihrer Folgen und ihrer Nebenfolgen, sowie durch deren Zusammenhang mit dem Wahrheitsgefühl. Dazu zählt auch die Missbilligung eigener Handlungen durch den Erzieher144 oder die Schulklasse, die einen Impuls für das Nachdenken über das eigene Handeln darstellen können. Die eigentliche Bildung des Gewissens aber kann weder durch Missbilligung noch durch Strafen unterstützt werden. Dieser Bereich der »Erhöhung des Bewußtseins«145 gegenüber dem eigenen Handeln könnte als der Bereich 142 Gerhard Ebeling hat in seiner Interpretation des Gewissensbegriffs bei Luther herausgearbeitet, »daß der Mensch letztlich Gehör ist, also Getroffener, in Anspruch Genommener, einem Urteil Unterworfener, und daß eben deshalb seine Existenz davon abhängt, welches Wort ihn erreicht und im Inneren trifft«, vgl. Gerhard E BELING: Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 132. Abgesehen davon, dass die Rede vom Gehör eine Engführung auf das Akustische nahelegt, ist diese Beschreibung des Menschen als eines grundsätzlich Vernehmenden auch bei Schleiermacher anzutreffen, und kennzeichnet auch dessen Gewissensbegriff. 143 Vgl. Pädagogik 1813/14, 294. 144 Das können die Eltern oder ein Lehrer sein. 145 Vgl. Pädagogik 1813/14, 270 Z. 24.

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

239

ethischer Bildung beschrieben werden. Die tatsächliche Bildung des Gewissens kann aber dadurch keineswegs operationalisiert werden, sondern ist demgegenüber kontingent. Eine notwendige Bedingung für die Bildung des Gewissens aber scheint bei Schleiermacher auf, nämlich freie Zeit für kontemplative Tätigkeit.146 Es ist also festzuhalten, dass die Bildung des Gewissens den erzieherischen Einwirkungen letztlich entzogen ist und nur in indirekter Weise unterstützt werden kann: Nämlich durch die Eröffnung von freiem Leben in Familie, Geselligkeit und weltanschaulichen Gemeinschaften. Schleiermacher geht davon aus, dass die Liebe als Impuls, individuelle Gemeinschaft zu knüpfen,147 angeboren ist.148 Liebe manifestiert sich im individuellen Streben nach Gemeinschaft. Schleiermacher sieht sie in ursprünglichem Zusammenhang mit der »Offenbarungsfähigkeit« des Menschen, weil sie sich auf die Eigentümlichkeit eines Menschen richtet, die in dessen Handeln zum Ausdruck kommt.149 Damit setzt auch die Fähigkeit zum Lieben eine Sensibilität für das voraus, was in allem Handeln eines Menschen zum Ausdruck kommt. Was dabei aber die »specifischen Zu- und Abneigungen« hervorruft, ist »großtentheils unerklärlich«.150 Die Förderung der Liebesfähigkeit im Rahmen von Bildungsinstitutionen ist daher Anknüpfung an das angeborene und in seiner Richtung unerklärliche Lieben eines Heranwachsenden. Schleiermacher sieht zwei Weisen, wie dieses Lieben unterstützt werden kann. Einerseits kann das Bewusstsein für die Totalität des Bezogenseins zu erhöhen versucht werden. Die unterschiedlichen Liebesimpulse eines Menschen werden durch dessen Bewusstsein ausgerichtet.151 Das Bewusstsein für das eigene Bezogensein kann also zu erhöhen versucht werden, und damit indirekt auch auf das Lieben eingewirkt werden. Eine gebildete Erziehung veranschaulicht also das Bezogensein in seiner Vielfältigkeit. Die Liebesbeziehung zwischen Menschen, die Ehe, die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, Freundschaft, das bürgerliche Zusammenleben und das länderüberschreitende in der jeweiligen Kirche kommen dabei zum Ausdruck. Nach Schleiermacher muss eine gebildete Erziehung dabei versuchen, die bestehenden Bezogenheiten in ihrer Liebenswürdigkeit erlebbar zu machen und so zur »Erwekkung der Liebe« beizutragen.152 Andererseits aber lebt die Liebe von der Fähigkeit, die Individualität des Gegenübers wahrzunehmen und der eigenen Ausdruck zu verleihen. Die Förderung von Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit bereiten der Bildung der Liebesfähigkeit 146

Vgl. Pädagogik 1813/14, 310. Pflichtenlehre (L.B.), § 1, 484. 148 Vgl. Pädagogik 1813/14, 265. 149 Pflichtenlehre (L.B.), § 1, 484. 150 Pädagogik 1820/21, 466 Z. 7; vgl. auch ebd., 504. 151 Vgl. Ethik 1812/13, § 1, Anm. 2, Randschrift 1827a, 386: »Denn sie (die Liebe, G.H.) ist unweise, wenn der Gegenstand mehr oder weniger geliebt wird als seiner Stellung in der Totalität angemessen. Also folgt, daß in der Liebe nichts sein könne, was nicht in der Weisheit gesezt ist«. 152 Pädagogik 1813/14, 273 Z. 29. 147

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also ebenfalls den Boden. Der Einfluss auf die Liebe hängt damit auch mit der Gesinnung des Erziehers zusammen, denn »die Basis der Erziehung« kann nur die »Lust und Freude an dem sich entwickelnden Leben« sein.153 Bei Lehrern ist nach Schleiermacher ein »Interesse [. . . ] an der Jugend« zu erwarten.154 Dieses Interesse hat den Charakter der Liebe.155 In beiden Fällen ist die Liebe als soziale Gesinnung dasjenige Moment, das zum Handeln treibt und diesem sein Maß gibt, so »daß man durch die Liebe und zur Liebe erziehe«.156 Dann ist das davon geleitete Handeln als »[s]trenge Regelmäßigkeit aber verbunden mit einer gewissen Milde in der Handhabung« verfasst,157 und dies wirkt sich nach Schleiermachers Einschätzung auch auf die Gesinnung und so letztlich auch auf das Lieben der Heranwachsenden aus. Gebildete Erziehung ist von der Liebe zum Heranwachsenden geprägt.

9.2.3 Das Kriterium des Religionsbezugs: Transzendenzverweis und Wahrheitsausdruck der Erziehung Das dritte Kriterium für eine gebildete pädagogische Hilfestellung besteht darin, dass diese sich auf Transzendenz bezogen weiß und selbst Ausdruck des religiösen Gefühls für die Verfassung und Bestimmung des Menschen ist.158 Woran macht 153

Pädagogik 1820/21, 386 Z. 25f. Ebd., 438 Z. 21. 155 Vgl. ebd., 438. Umfasst »der Blick und die Liebe des Volkes nicht nur das ganze gegenwärtige Geschlecht, sondern auch das zukünftige« und zielt auch auf dessen Bildung (vgl. ebd., 157), so überwiegt das positive sittliche Gefühl. Wird dagegen die »Mangelhaftigkeit des Gemeinlebens« oder die »Mangelhaftigkeit der Einzelnen« besonders stark erlebt, so ist die Unlust im leiblichen Gefühl dasjenige Moment, das zum Handeln treibt (Vgl. ebd., 157). Diese Darstellung passt genau zu dem, was weiter oben zum Aufbau des Gefühls festgestellt worden war: Der Impuls zum Handeln kann entweder eher von einer noch ausstehenden, als anziehend erlebten Möglichkeit, einer Vision gewissermaßen, ausgehen; oder von der Missbilligung eines angetroffenen Zustandes des Zusammenlebens (vgl. 4.1). 156 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 243; vgl. jetzt Pädagogik 1826, 737 Z. 40 – 738 Z. 3. 157 Ebd., 754. 158 Vgl. zum Verhältnis von Erziehung und Religion auch die Studie von Matthias B LUM : »Ich wäre ein Judenfeind?« Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 42), Roßdorf 2010, bes. 210; er konstatiert, dass der »Antijudaismus Schleiermachers [. . . ] auch in seine pädagogischen Reflexionen eingegangen« sei. Dies meint Blum an der Parallelität zwischen Christentum und »ideale[n] Bildungsprozessen« auf der einen Seite und dem Judentum und »unzulängliche[n] Erziehungsvorstellungen« (ebd., 209) feststellen zu können. Gesetzt den Fall, diese Parallele sei tatsächlich vorhanden, so lässt dies dennoch nicht auf einen Antijudaismus Schleiermachers schließen, der sich in seiner Pädagogik niedergeschlagen habe. Schleiermachers Pädagogik liegt bekanntlich kein deduktives Verfahren zugrunde, sondern ist beschreibend-dialektischer Art. Schleiermacher versteht also weniger die Bildungsvorgänge von seinem Verständnis des Judentums her, als das Judentum von seinem Bildungsverständnis kommend. Dann aber sollte nicht von Schleier154

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

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sich der Transzendenzbezug und der Wahrheitsausdruck fest? Im Verhältnis der Erziehung zum Kind. Nach Schleiermacher sind »vor Gott alle gleich«.159 Aus christlicher Sicht sind es das Bezogensein auf Gott und die Bestimmung zur erlösten Gottesgemeinschaft, die die Würde eines jeden Menschen begründen, und damit auch die Würde des Kindes. Dem Kind und seiner Würde wird der Erzieher gerecht, wenn sein Handeln von Liebe geprägt ist, und er der Gleichheit, die aus dem Menschsein des Kindes entspringt, ebenso viel Raum einräumt wie der Individualität des Kindes. Eine gebildete Erziehung weiß um die Unverfügbarkeit von Gefühl, Talent und Interesse, und enthält sich aller Versuche, deren Bildung beherrschen zu wollen. Sie unterscheidet sich als menschliches Tun vom göttlichen. Dies führt zu einer Selbstbegrenzung der Erziehung,160 und zu einer Wertschätzung des freien Lebens und der diese gestaltenden Institutionen der Familie, der freien Geselligkeit und der Kirchen. Die Tatsache, dass das Kind ein Mensch unter anderen Menschen ist, findet seinen Ausdruck darin, dass der Fächerkanon, mit dem es sich auseinandersetzen muss, allgemeiner, also allgemein-menschlicher Art ist. Auf diese Art kann jeder seine Individualität in Freiheit ausprägen, und zugleich findet eine allgemeine Befähigung zur Teilnahme am Leben aller statt. Darüber hinaus leistet der allgemeinbildende Fächerkanon aber noch etwas: Dadurch, dass alle in ihm repräsentierten Bereiche gleichwertig sind, und alle Bereiche zusammen eine Einheit bilden, verweist er indirekt über sich hinaus auf das höchste Gut und dessen Ursprung in Gott.161 Die Religion ist es, die in besonderer Weise auf die Gleichheit zwischen Erziehenden und Heranwachsenden aufmerksam macht; denn auch die Erziehenden verfügen nicht darüber, ob der Gottesbezug ihr Erleben dominiert oder nicht. Auch bei ihnen gibt es »jene sündlichen Momente«, weswegen über die Religion der Aspekt der Gleichheit in besonderer Weise zur Geltung kommt.162 Gebildete Erziehung bringt die Relativität des Gegensatzes zwischen Erziehenden und Heranwachsenden zum Ausdruck und damit die ursprüngliche Gleichheit aller.163 Ebenso stellt sie den Fächerkanon in seiner Einheit dar, und drückt damit aus, dass kein einzelner Fachbereich selbst der höchste ist. Nun könnte man freilich meinen, dass gerade der Religionsunterricht derjenige institutionalisierte Ort an der Schule ist, der diesen Verweis auf Transzendenz ausdrücklich thematisiert. Schleiermacher aber stand dem Religionsunterricht machers Antijudaismus in seiner Pädagogik die Rede sein, sondern davon, dass Schleiermacher manche Aspekte des jüdischen Glaubens vor dem Hintergrund seiner Pädagogik kritisch sieht. Wie dieses Verständnis des Judentums beschaffen war und ob es defizitär war, kann hier nicht geklärt werden; wohl aber muss festgehalten werden, dass sich Struktur und Gehalt seiner Pädagogik nicht einfach von seinem Judentums-Verständnis herleiten lassen. 159 Pädagogik 1820/21, 537 Z. 23f. 160 Vgl. Pädagogik 1826, 784. 161 Vgl. Pädagogik 1813/14, 291. 162 Pädagogik 1820/21, 538. 163 Ebd., 537f.

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sehr skeptisch gegenüber.164 Der Grund dafür liegt in seiner Sicht auf das Geprägtwerden der Religion: Die Einwirkung auf die religiöse Gesinnung beruht »auf der Lebensmanifestation des Einzelnen zu dem Einzelnen«.165 Dieses Geschehen erfordert nach Schleiermacher eine Vertrautheit zwischen Menschen und hat seinen Ort deswegen vor allem in der Familie und der Geselligkeit, weil dort »der ganze Mensch [. . . ] mit der Kraft der Liebe auf den ganzen Menschen der erzogen werden soll wirkt«.166 Die »Belebung des religiösen Prinzips« ist Sache der Familie und der Kirche,167 aber auch durch das beide überschneidende gesellige Leben insgesamt.168 Für den Bereich der Schule schließt Schleiermacher die »Lebensmanifestation« zwischen Einzelnen und damit auch Totaleindrücke deswegen aus, weil er eine unmittelbare Begegnung zweier Personen im Bereich der Schule für nicht möglich hält169 – die Klassenstärke zu Schleiermachers Zeit ließ mit ihren weit über 50 Schülern keine eingehende Beschäftigung mit einzelnen Kindern und Jugendlichen zu.170 Anders dagegen der Konfirmandenunterricht, in dem eine solche Selbstmanifestation erwünscht und möglich ist.171 Die Schule ist nach Christine Ehrhardt »ein weißer Fleck auf Schleiermachers Landkarte religiöser Erziehung«.172 Andachtsübungen innerhalb der Schule steht Schleiermacher äußerst kritisch gegenüber; vor allem deswegen, weil er damit die Gefahr einer Mechanisierung des Religiösen sieht,173 also einem Vollzug, der nicht von einem Wahrheitsgefühl getragen ist und damit jeglichen Sinn verliert, denn die »Wahrheit kann nur durch sich selbst befördert werden«.174 Religiöse Bildung kann durch erzieherisches Wirken nur insofern vorbereitet werden, als dieses das Bewusstsein für die verborgene Seite des Menschseins 164

Vgl. Rudolf F ISCHER: Religionspädagogik unter den Bedingungen der Aufklärung. Studien zum Verhältnisproblem von Theologie und Pädagogik bei Schleiermacher, Palmer und Diesterweg (Pädagogische Forschungen 54), Heidelberg 1973, 73f. An einigen Stellen betont Schleiermacher aber auch die Notwendigkeit von Religionsunterricht und kirchlichem Patronat über das Volksschulwesen; dies sei dann der Fall, wenn die religiöse Gesinnung in den Familien nur schwach ausgeprägt ist: Vgl. Pädagogik 1826, 640. Dann bedarf es einer Unterstützung der Religiosität durch Institutionen der Religion. 165 Ebd., 755 Z. 27. 166 Ebd., 755 Z. 36–38. 167 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 370. 168 Vgl. Pädagogik 1820/21, 536f. Vgl. dazu auch E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 257. 169 Daher ist ein echtes Unterrichtsgespräch in der Volksschule auch nicht gut möglich, vgl. Praktische Theologie, 360. 170 Diesen geschichtlichen Kontext beachtet F ISCHER : Religionspädagogik unter den Bedingungen der Aufklärung (wie Anm. 164), 56, m. E. zu wenig und versteht damit die Stärke des Gegensatzes zwischen Familie und Schule bei Schleiermacher zu sehr als systematisch begründet. 171 Praktische Theologie, 368. 172 E HRHARDT : Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher (wie Anm. 114), 255. 173 Vgl. S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 371. 174 Pädagogik 1820/21, 513 Z. 27.

9.2 Die Erziehung zwischen Bildung und Unbildung

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schärfen kann. Schleiermacher nennt daher in seinem Gutachten zum Religionsunterricht an gelehrten Schulen von 1810 als das wesentlichste Ziel des Religionsunterrichts, »daß die Fertigkeit gebildet werde unter den Formen von Geschichten Parabeln Sprichwörtern Gnomen das Innere der Gesinnung anzuerkennen«.175 Entsprechend führt Schleiermacher in seiner Praktischen Theologie aus, dass das Ziel des kirchlichen Unterrichts darin bestehe »das Verständnis für das Wort zu öffnen und das religiöse Gefühl an die Worte zu gewöhnen«.176 Der Beitrag erzieherischen Handelns für die religiöse Bildung ist also darin zu sehen, dass ein Bewusstsein für den Zusammenhang von äußerem Handeln und innerem Wahrheitsgefühl geweckt wird. Dies geschieht nach Schleiermacher aber auch im Sprachunterricht. Eine Thematisierung der Relativität aller in der Schule begegnenden Gegensätze spricht Schleiermacher nicht an. Solchen die Entwicklung von Religion vorbereitenden Tätigkeiten hat Schleiermacher nur wenig Bedeutung zugemessen. In seiner späten Pädagogik-Vorlesung meinte er sogar, dass der Religionsunterricht »ganz erspart werden kann«.177 Die Hilfestellung eines Religionsunterrichts scheint Schleiermacher offensichtlich ebenso gut oder besser durch Familie, Kirche und geselliges Leben gewährleistet werden zu können, und der mögliche Vorteil den möglichen Schaden, der aus einer Verbindung von Religion und Schule entstehen könnte, nicht zu überwiegen. Der größte Schaden bestünde nach Schleiermacher darin, die Heranwachsenden gegenüber der Wahrheit abzustumpfen und religiösen Ausdruck zu mechanisieren. Keine Überlegungen widmet Schleiermacher der symbolischen Bedeutung einer Entfernung des Religionsunterrichts aus dem allgemeinbildenden Fächerkanon. Seinem eigenen Schulverständnis zufolge müssen die gesellschaftlichen Interaktionsbereiche in der Schule abgebildet sein. Eine Entfernung des Religionsunterrichts würde auch aussagen, dass Religion eine akzidentelle, keine wesentliche Größe innerhalb des Zusammenlebens darstellte.178

175 Entwurf Religionsunterricht, 76 Z. 28–30, vgl. auch ebd., 77. F ISCHER : Religionspädagogik unter den Bedingungen der Aufklärung (wie Anm. 164), 53–55, weist darauf hin, dass dieser Text einen Kompromiss innerhalb der Deputation zum Religionsunterricht an höheren Schulen darstellt, deren Vorsitzender Schleiermacher war, und damit nicht Schleiermachers eigene Position darstellt. Für die angeführte Stelle gilt dies jedenfalls nicht, wie die Analyse von Schleiermachers Religionsverständnis zeigen konnte. 176 Praktische Theologie, 349. 177 S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 372. 178 Dass eine solche indirekte Kommunikation des Wirklichkeitsverständnisses über den Fächerkanon durchaus Folgen haben kann, legt auch der Blick auf die Abschaffung des Religionsunterrichts in Schweden in den 1970er-Jahren nahe; diese Entfernung des Religionsunterrichts kann mit dem dramatischen Rückgang der Konfirmandenzahlen ab diesem Zeitpunkt in Verbindung gebracht werden, vgl. Friedrich S CHWEITZER/Kati N IEMELÄ/Thomas S CHLAG/Henrik S IMOJOKI (Hrsg.): Youth, Religion and Confirmation Work in Europe. The Second Study (Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten 7), Gütersloh 2015, 307.

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Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Schleiermacher betont den Unterschied zwischen äußeren religiösen Vollzügen und dem eigentlich Religiösen als der »innere[n] Gemütserregung«.179 Dies führt bei ihm allerdings dazu, die Sensibilisierung für den Ausdruck Anderer und Befähigung zum eigenen Ausdruck zu unterschätzen. Nicht nur die Verborgenheit der Gesinnung im Handeln wäre ein Gegenstand des Religionsunterrichts, sondern auch das Verhältnis zwischen Gegenwartsgesellschaft und der herrschenden Idee des Guten, die Relativität der Güter und des Handelns durch Bezug auf sie bestimmende Bedingungen, und damit auch die Bestimmung des Menschen und des Zusammenlebens hätte nach Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis in den Unterrichtskanon aufgenommen werden können. Schleiermacher war aber von der Sorge bestimmt, dies würde aus dem Religionsunterricht bereits Theologie oder Philosophie machen und daher eine Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten darstellen, die gar nicht alle Heranwachsenden im späteren Leben gebrauchen könnten – Schleiermachers Argument gegen den allgemeinbildenden Charakter eines Stoffes. Dabei betonte er selbst an anderer Stelle die Bedeutung eines philosophischen Bewusstseins: »Nun wird zwar die Gesinnung nicht unmittelbar von der Wissenschaft sondern von der Religion aus gebildet; allein die Verwandtschaft von Philosophie und Religion [. . . ] ist so groß daß wenn nur das eine zuerst sich entwikkelt auch das andere sich ausbilden muß«.180 Ein Verhältnis zum eigenen Leben und seinen Bedingungen gewinnen zu können, schien ihm aber durch den allgemeinbildenden Unterricht und das Mitleben in Familie und Geselligkeit ausreichend ermöglicht. Nur für die letzte Phase der Schulzeit erachtete Schleiermacher einen schulischen Religionsunterricht wieder für sinnvoll. Das Ziel des Religionsunterrichts im letzten Schulabschnitt bestehe darin, »den Skepticismus der sich in ihnen [den Heranwachsenden, G.H.] entwikelt haben mag zur Sprache zu bringen und zu zügeln«.181 Schleiermacher rechnet demnach damit, dass der jugendliche »Skepticismus« in religiösen Fragen nicht primär ein Problem fehlender Religiosität ist, sondern sich durch Schwierigkeiten mit der gedanklichen Reflexion des Religiösen ergibt – denn sonst wären an dieser Stelle alle Maßnahmen im Unterricht fehl am Platz. Ergibt sich der Skeptizismus aber durch eine Disharmonie zwischen Gefühl und Denken, dann liegt es in der Verantwortung des Erziehers, die Vereinbarkeit von kritischem Denken und religiösem Gefühl aufzuzeigen. Eine Selbstrelativierung der pädagogischen Hilfestellung deutet Schleiermacher an; da die Schule nicht der Ort für die Prägung des religiösen Gefühls sein kann, muss dem freien Leben der Heranwachsenden ausreichend Zeit eingeräumt werden.182 Hinsichtlich des Religionsbezugs besteht eine gebildete pädagogische Hilfestellung nach Schleiermacher daher vor allem darin, dass sie durch eine

179

Pädagogik 1820/21, 536. Pädagogik 1826, 881 Z. 31–36. 181 Entwurf Religionsunterricht, 77 Z. 24–26. 182 Vgl. Pädagogik 1826, 719. Vgl. auch ebd., 754, 782–784. 180

9.3 Güterspezifische Hilfestellungen

245

Selbstbegrenzung gekennzeichnet ist und sich einer Einwirkung auf die religiöse Gesinnung enthält. Der Religionsbezug der Erziehung äußert sich nicht allein in einem begrenzenden Sinn, und kommt auch nicht nur anhand des Religionsunterricht zum Ausdruck. Religion kommt vielmehr auch das Potential zur Prägung des Zusammenlebens zu. Sie vermag nach Schleiermacher die Gestaltung des Verhältnisses von Einzelnem und Zusammenleben zu präfigurieren. Denn Religion findet ihren Ausdruck nicht nur im Handeln, sondern gibt auch dem Gemeingeist das Maß.183 Das pädagogische Handeln des Lehrers ist nach Schleiermachers Auskunft stets gebunden an eine Idee des Guten – jede Praxis bedarf eines »leitenden Gefühls«.184 Der Umgang des Lehrers mit seinen Schülern steht im Horizont einer religiösen Gewissheit über die Bestimmung des Menschen. Eine christliche Prägung des religiösen Gefühls geht damit mit der Haltung der Liebe gegenüber den Heranwachsenden einher, und manifestiert sich in einer Wertschätzung ihrer Lebenszeit und Individualität, und in der Intention, dass sie die eigenen Irrtümer nicht noch einmal wiederholen. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass sich auch andere Prägungen in der Form der Liebe äußern können. Was Schleiermacher für den Lehrer festhält, gilt implizit auch für alle anderen erziehenden Personen. Mit der Religion geht das Bewusstsein der Gleichheit aller Menschen einher, »weil vor Gott alle gleich sind«.185 Daher sind im Bereich des schulischen Lebens auch alle Gegensätze zwischen einzelnen Heranwachsenden genauso wie einzelnen Gemeinschaften, die tendenziell absoluten Charakter annehmen, verwerflich und abzulehnen; sie erschweren nicht nur die erforderliche gemeinsame Interaktion, sondern trüben auch den Blick für die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen.186

9.3 Güterspezifische Hilfestellungen bei der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft Die Bildungsinstitutionen, die eine Hilfestellung für den Übergang aus der Familie zum Vollglied der Gesellschaft darstellen, haben den Charakter einer Einführung des Heranwachsenden in das Zusammenleben. Sie stellen eine Hilfestellung dar für die Bildung des Heranwachsenden und der Gesellschaft, insofern sie Impulse für die Entfaltung des individuellen und gesellschaftlichen Bezogenseins geben, für die Integration der ausdifferenzierten Bezüge und für den Richtungssinn der Einheit. 183

Vgl. Pädagogik 1826, 676f. Pädagogik 1820/21, 392 Z. 32, 382. 185 Ebd., 537 Z. 23f. 186 Vgl. S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 376f. 184

246

Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Eine solche Hilfestellung für die Bildung ist nun nicht auf die Erziehung in Familie und Schule beschränkt, sondern findet auch in den anderen gesellschaftlichen Bereichen statt.187 Auch in diesen gibt es ein entsprechendes bildendes Handeln, das den Einzelnen in das Zusammenleben einführt oder beide miteinander erneut vermittelt. Im Folgenden kann dies aus Rücksicht auf den Umfang der Studie nur angedeutet werden, soll aber deutlich machen, inwiefern Schleiermachers Verständnis der Bildungsinstitution auch eine sozialethische Perspektive auf die Güter insgesamt eröffnet. Zunächst soll ein Blick auf den Bereich des gemeinsamen Organisierens geworfen werden. Das Erwerbsleben ist gekennzeichnet durch die verschiedenen Formen der Naturbeherrschung, die zu unterschiedlichen Formen von Besitz führen. Deren Integration erfolgt über eine einheitliche Infrastruktur, die den wechselseitigen Austausch gewährleistet und in den Zuständigkeitsbereich des Staates fällt. Zur Infrastruktur in diesem Sinne gehört sowohl die Bereitstellung von Wegen, Märkten wie auch rechtliche Rahmenvorgaben für den individuellen Austausch innerhalb eines Staates und zwischen Staaten. Diese Integration durch Infrastruktur im genannten weiten Sinne folgt einem Gemeingeist, der sich im besten Fall nicht nur auf einen bürgerlichen Gemeingeist beschränkt,188 sondern durch das Innesein einer Idee des Guten gekennzeichnet ist und damit eine kosmische, das Menschsein insgesamt betreffende Dimension besitzt und insofern religiösen Charakter besitzt.189 Den Charakter einer Bildungsinstitution hat dieses Gut dann, wenn sich die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Integration so vollziehen, dass dabei die individuelle Entfaltung und Integration zu einem Ganzen gefördert wird, die sozialen Bildungsprozesse also auf den Aufbau von Individualität zielen.190 Dabei müssen die politischen Institutionen stets die Integration aller Bürger intendieren, da der Staat nach Schleiermacher langfristig sonst nicht funktionieren kann, wie Arnulf von Scheliha festhält.191 Staatlich verantwortete Strafmaßnahmen gegenüber Einzelnen gehören insofern zum bildenden Handeln auf dem Gebiet des staatlichen Zusammenlebens, insofern dieses zum einen auf Wiederherstellung des durch abweichendes Verhalten beschädigten Ganzen der gesellschaftlichen Praxis zielt, und zum anderen auf die Reintegration des Individuums in das Zusammenleben.192 187

So auch P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 261, ebenso Hartmut von H ENTIG: Ach, die Werte!, Weinheim und Basel 2001, 48. 188 Vgl. Pädagogik 1826, 881. 189 Vgl. S CHLEIERMACHER : Texte zur Pädagogik (wie Anm. 10), 373. Damit stellt sich für jede Gesellschaft die Frage nach dem vorherrschenden Grundkonsens über das Ziel des Zusammenlebens. Für die Bundesrepublik Deutschland stellt Eilert H ERMS: Kirche in der Zeit, in: DERS .: Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 231–317, etwa eine ökonomische Identität fest. 190 Vgl. S CHELIHA : Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher (wie Anm. 27), 325. 191 Vgl. ebd., 321f. 192 Vgl. S CHLEIERMACHER : Die christliche Sitte (wie Anm. 81), 246f. Vgl. W INKLER : Geschichte und Identität (wie Anm. 31), 101.

9.3 Güterspezifische Hilfestellungen

247

Für Schleiermacher bildet das »gemeinschaftliche Leben der Jugend« eine eigene Größe in der Gesellschaft, eine eigene Gruppe innerhalb der freien Geselligkeit.193 Die Jugendlichen sollen nicht nur in ihren Ständen und Berufen und damit in der beruflichen Ausdifferenzierung aufgehen, sondern diese durchaus notwendige und gewünschte Sonderung soll durch die Bildung eines eigenen Lebens der Jugend flankiert werden. Ein Medium, das ihm für diese Integration der Heranwachsenden in ein eigenes geselliges Leben geeignet erscheint, sind die »gymnastische[n] Uebungen und freie[] Thätigkeit überhaupt«.194 Auch die Wissenschaft bedarf nach Schleiermachers Ansicht nicht nur einer stetig fortschreitenden Spezialisierung, sondern zugleich einer Re-Integration des besonderen Wissens in ein Ganzes. Dies führt Schleiermacher zu der Forderung nach einem Abschnitt innerhalb des Studiums, der der Einheit des Wissens gewidmet ist.195 Die entsprechende Einrichtung für die Universitätslehrer ist die Akademie, die als »Versammlung der Meister unter sich« der Spezialisierung des Wissens das Moment der Universalität entgegensetzt.196 In der Kirche als exemplarischer Gemeinschaft der Offenbarung wird ebenfalls eine Vielzahl an Ausdrucksformen kultiviert, an denen die einzelnen Christusgläubigen in unterschiedlicher Weise teilhaben und ihr Gefühl bilden können.197 Integriert zu einem Ganzen werden diese Ausdrucksformen durch die gemeinsame Frömmigkeit, die ebenfalls so beschaffen ist, dass in ihr individuelles und gemeinsames Moment vermittelt werden. Der Gottesdienst als Grundvollzug des gemeinschaftlichen Lebens in der Kirche sorgt als »Circulation des religiösen Bewußtseins« für eben diese Vermittlung.198 Der Charakter der Kirche als Bildungsinstitution kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass mit der Seelsorge ein Bereich gegeben ist, in dem es darum geht, dass das Zurückbleiben von einem »Theil hinter dem Ganzen« aufgehoben wird.199 Dabei kann sich die Tätigkeit entweder auf die »Unmündigen«200 oder auf »religiöse Fremdlinge«201 richten und ist dann Katechetik. Oder sie ist auf diejenigen gerichtet, die ihrer die Gleichheit »verlustig gegangen sind« – dies umfasst die Seelsorge im engeren Sinn.202 193

Pädagogik 1826, 865. Ebd., 867. 195 Vgl. ebd., 872f. 196 Friedrich S CHLEIERMACHER : Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Kommentierte Studienausgabe, in: DERS .: Texte zur Pädagogik, hrsg. v. Michael W INK LER /Jens B RACHMANN, Bd. 2, 2000, 101–165, 111f. 197 Vgl. Ethik 1812/13, § 213, 362. 198 Praktische Theologie, 216. Vgl. dazu auch S CHLENKE : Geist und Gemeinschaft (wie Anm. 113), 409–419. 199 Kurze Darstellung, § 290, 428. 200 Ebd., § 291, 428. 201 Ebd., § 296, 430. 202 Ebd., § 299, 430f. Vgl. dazu auch Christian A LBRECHT : ». . . daß jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe«. Schleiermachers Programm der Seelsorge als Wiederherstellung religiöser Autonomie, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. 194

248

Kapitel 9 Gebildete Erziehung

Gebildet sind alle diese genannten Bereiche, so sie sich erstens als Antwort auf eine Aufgabe und damit als relativ auf ihre Bedingungen hin verstehen. Zweitens gehört zu einer gebildeten Vermittlungsbemühung, dass das Streben nach Ausdifferenzierung und Integration zum Ausdruck des eigenen Wahrheitsbewusstseins von der Bestimmung des Menschen wird.

Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, hrsg. v. Jörg D IERKEN/Arnulf von S CHELIHA, Berlin und New York 2017, 277–292.

10. Kapitel

Schluss: Die gegenwärtige Relevanz von Schleiermachers Bildungsverständnis

Schleiermachers Verständnis von »Bildung« unterscheidet sich vom gegenwärtig geläufigen Bildungsverständnis. Nach Schleiermacher ist der Gegenstand von Bildung zunächst nicht das kognitive Potential oder der Wissensbestand eines Menschen, sondern der Inbegriff der Relationen eines Seienden. Deren Gestaltgewinnen versteht Schleiermacher als »Bildung«. Mit diesem weiten Bildungsbegriff steht Schleiermacher in einer naturphilosophischen Tradition,1 die gegenwärtig kaum mehr eine Rolle spielt. Für die Erarbeitung eines für die Gegenwart relevanten Verständnisses menschlicher Bildung hat Schleiermachers Bildungsverständnis aber den Vorteil, dass die den Menschen betreffende Bildung nicht als ein singuläres Geschehen begriffen wird, sondern als eine Variation von Bildung überhaupt: Alles lebendige Werden ist als Bildungsprozess verfasst, der seine Besonderheit auch durch das Gestaltgewinnen all seiner Relationen gewinnt. Ob menschliche Bildung angemessen erfasst ist, lässt sich auch durch Bezug auf die im Sein insgesamt stattfindenden Bildungsprozesse prüfen, denn sie muss als eine Variation des allgemeinen darstellbar sein. Das Axiom, auf das dieses Verständnis aufbaut, besteht freilich darin, dass Menschsein konsequent als eine Variation im Sein insgesamt begriffen wird. Diese Weite von Schleiermachers Bildungsverständnis geht mit einem hohen Grad der Differenzierung einher: Menschliche Bildung vollzieht sich nicht nur auf der Ebene des Individuums, und damit individualanthropologisch, sondern auch im Bereich des Zusammenlebens als sozialethisch beschreibbares Geschehen und innerhalb der Vermittlung von Individuum und Zusammenleben, und damit pädagogisch.2 Dies ermöglicht zum einen eine klare Unterscheidung zwischen dem Bildungsgeschehen, das sich am einzelnen Menschen vollzieht, und der Erziehung, die dieses Bildungsgeschehen begleitet und zu fördern versucht. Dies ist deswegen wichtig, da damit die Asymmetrie zwischen beiden Größen festgehalten wird: Erziehung schafft Bildung nicht, sondern sucht den immer schon im Gange befindlichen Bildungsprozess zu unterstützen und zu fördern. Zum anderen macht 1

Vgl. Abschnitt 1.3.: »Die kritische und normative Dimension von Bildung« ab S. 14. Auch diese Dreigliedrigkeit menschlicher Bildung stellt eine Variation der Dreigliedrigkeit von Bildung im Sein dar: Vgl. 3.3 Bildung innerhalb des Seins, ab 47. 2

250

Kapitel 10 Schluss

Schleiermacher deutlich, dass auch die soziale Welt des Menschen ein Gegenstand von Bildung ist. Die Rede von Bildung muss nach Schleiermacher auch immer diese soziale Dimension berücksichtigen. Zuletzt sei auf ein weiteres wichtiges Merkmal von Schleiermachers Bildungsverständnis hingewiesen, nämlich auf die Unterscheidung zwischen den Bedingungen von Bildung und der Bildung selbst. Bildung vollzieht sich erstens innerhalb von Bedingungen, die einen bestimmten Korridor für das Entwicklungs- und Bildungsgeschehen umreißen. Diesem kann im Falle des Menschen das bildende Handeln dann gerecht werden, wenn es zweitens den Charakter der Ausdifferenzierung, den der Integration alles Ausdifferenzierten zu einer Einheit und den der Religiosität hat. Durch dieses Verhältnis zwischen den Bedingungen von Bildung und dem bildenden Handeln ist es möglich, einen kritischen Maßstab für das bildende Handeln zu formulieren. Eine zentrale Besonderheit von Schleiermachers Bildungsverständnis ist die Bedeutung der Religion für die Bildung des Menschen. Diese lässt sich am anschaulichsten mit Bezug auf den gegenwärtigen Diskurs um Bildung und Kompetenzen darstellen.

10.1 Vielheit ohne Einheit – ein Problem im Diskurs um Bildung und Kompetenzen In der gegenwärtigen Debatte um Bildung spielt der Begriff der Kompetenz eine zentrale Rolle, eine Zuspitzung, die sich grundsätzlich auch auf Schleiermachers Bildungsverständnis berufen kann. Zumeist wird dabei auf den Kompetenz-Begriff verwiesen, wie er sich bei Franz E. Weinert findet. Kompetenzen sind demnach »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«.3 Diese Fassung des Kompetenzbegriffs bietet durchaus Anhaltspunkte für eine kritische Auseinandersetzung, insofern etwa, als die für ein gelingendes Handeln erforderlichen Kenntnisse nicht explizit genannt werden. Ebenso wäre zu fragen, ob der Gegenstand von Kompetenz angemessen erfasst ist, wenn darunter allein Probleme verstanden werden. Nicht alle Handlungssituationen, die ein kompetentes Umgehen verlangen, sind Probleme; das Steuern eines PKW im Straßenverkehr etwa erfordert ein kompetentes Umgehen, ist aber nicht 3 Franz E. W EINERT (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim und Basel 2001, 27f. Vgl. auch ausführlicher DERS .: Concept of Competence. A Conceptual Clarification, in: Defining and Selecting Key Competencies, Seattle, Bern und Göttingen 2001, 45–65. Zu Unklarheiten bei der Verwendung des Kompetenzbegriffs vgl. etwa Peter K LIEMANN: Curriculum: Wohin führt der Weg? Anmerkungen zur Bildungsplanarbeit im Fach Evangelische Religionslehre, Stuttgart 2016, 29–33.

10.1 Vielheit ohne Einheit

251

per se problematisch. Und nicht alle Probleme, denen Menschen begegnen, lassen sich lösen4 – dennoch ist ein kompetenter Umgang möglich. Offen bleibt auch die Frage, wie sich die kognitiven Fähigkeiten zu den motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten verhalten. Handelt es sich dabei um ein Nebeneinander oder besteht eine Asymmetrie? Alle diese Fragen thematisieren allerdings nur die Fassung des Kompetenzbegriffs, nicht aber die grundsätzliche Verbindung von Bildung und Kompetenz. Diese kann sich jedenfalls grundsätzlich auch auf Schleiermachers Bildungsverständnis berufen. Auch nach Schleiermacher zielt Bildung auf Handlungsfähigkeit, zu der Fähigkeiten und Fertigkeiten und damit Kompetenzen gehören.5 Im gegenwärtigen Diskurs werden im Rahmen von Kompetenz-Katalogen eine oftmals nahezu unüberschaubare Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzen aufgeführt.6 Dabei lassen sich zwar durchaus Überschneidungen, aber keine wirkliche Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen Katalogen feststellen, wie Friedrich Schweitzer exemplarisch für die im Religionsunterricht zu erwerbenden Kompetenzen festgehalten hat.7 Ohne Zweifel lassen sich die Kompetenzen problemlos immer weiter ausdifferenzieren, wie dies gegenwärtig auch in Lehrplänen zu beobachten ist. Dadurch aber legt sich der Eindruck nahe, Bildung bestehe in einer Addition und Anhäufung möglichst vieler einzelner Kompetenzen.8 Im Zuge dessen besteht die Gefahr einer technizistischen Verengung des KompetenzVerständnisses, das isolierte Fertigkeiten gewissermaßen zu produzieren sucht

4 So auch der Hinweis bei Ursula F ROST : Gesinnungsbildung – Überlegungen zur rezenten Rezeption Schleiermachers in der Erziehungswissenschaft, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft in Münster, September 2015, Berlin und New York 2017, 35–50, hier 49. 5 Christoph S CHWÖBEL : Glaube im Bildungsprozess, in: DERS .: Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 277–295, 287f., hat Bildung in ähnlicher Weise als Orientierungsfähigkeit entfaltet, die zuletzt – über Beziehungs-, Kommunikations-, Interpretations- und Urteilsfähigkeit – in Handlungsfähigkeit mündet. 6 Vgl. etwa die Einschätzung von F ROST : Gesinnungsbildung – Überlegungen zur rezenten Rezeption Schleiermachers in der Erziehungswissenschaft (wie Anm. 4), 49, die von einer »unabsehbare[n] Wucherung willkürlicher Standardisierung und Produktion von Fertigkeiten« spricht. Ebenso schon Kirsten H UXEL: Ganzheitliches Bildungsverständnis und integratives Kompetenzmodell, in: ZPTh 60 (2008), 246–253, 250f., mit Blick auf die Reform des Lehramtsstudiums im Fach Evangelische Theologie/Religionspädagogik. 7 So Friedrich S CHWEITZER : Fachdidaktik, Kompetenzorientierung und »guter Religionsunterricht«. Wie Schülerinnen und Schüler von »gutem Religionsunterricht« profitieren, in: DERS .: Elementarisierung und Kompetenz, Neukirchen-Vluyn 2008, 11–22, hier 14. 8 Zu dieser Gefahr vgl. auch H UXEL : Ganzheitliches Bildungsverständnis und integratives Kompetenzmodell (wie Anm. 6), 251. W EINERT: Concept of Competence (wie Anm. 3), 63, spricht hier vom »Paul Valery’s Dilemma«: »Everything that is simple is theoretically false, everything that is complicated is pragmatically useless«. Schleiermachers Sicht ist freilich eine andere: Eine gute Theorie vereinigt Vielfalt und Einheit in gelungener Weise. So exemplarisch in: Akademievortrag Tugendbegriff, 316–320.

252

Kapitel 10 Schluss

und die umfassende Bildung der ganzen Person aus dem Blick verliert.9 Schleiermacher zufolge können Vielheit und Einheit nur zugleich bestehen und auch nur wechselseitig verstanden werden.10 Die Vielheit der Kompetenzen ist erst dann begriffen, wenn auch deren Einheit erfasst ist. Dies führt zu einem offenen Punkt im Diskurs über Bildung: Was begründet die differenzierte Einheit der Kompetenzen? Schleiermachers Bildungsverständnis hinsichtlich der Bildung des einzelnen Menschen hat seine Pointe darin, dass es Vielheit und Einheit miteinander verbindet und aufeinander bezieht. Zum einen findet Bildung und Kompetenzzuwachs auf dem Boden einer dem Handeln zuvorkommenden Einheit des leiblich-sozialen Bezogenseins statt, zum anderen haben die Kompetenzen selbst eine einheitliche Bestimmung, die über die Bewältigung einzelner Herausforderungen hinausgeht; sie besteht darin, im Umgang mit dem Bezogensein die eigene Individualität und Gewissheit zum Ausdruck zu bringen. Diese beiden Formen von Einheit knüpfen an Schleiermachers Verständnis menschlichen Bildens an, die er zwischen einer allem Bilden vorgegebenen Einheit und der allem Bilden entzogenen Vollendungsgestalt von Bildung verortet. Mit Bernd Schröder kann daher gesagt werden, dass »Bildung von etwas her und auf etwas hin [geschieht], das der Verfügung durch Menschen entzogen ist«.11 Damit ist auch festgehalten, dass Bildung vom Menschen nur angestrebt, aber niemals vollendet werden kann. Im Folgenden wird die Einheit der Kompetenzen und die der Bildung dargestellt, wie sie sich auf der Linie von Schleiermacher ergibt; diese Einheit ist im Gegenstand und im Sinn von Bildung begründet und hat jeweils eine religiöse Dimension. Das Bildungsverständnis, das sich in den Bahnen Schleiermachers bewegt, ist im genannten Sinne pluralistisch und umfasst auch mögliche Konsequenzen hinsichtlich der Gestaltung von Bildungsprozessen, die ebenfalls skizziert werden sollen.12

10.2 Der antwortende Charakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension Die Einheit der Kompetenzen besteht nach Schleiermacher darin, dass Kompetenzen allesamt Antworten auf das menschliche Leben sind, das als ein einheitliches 9 Vgl. auch F ROST : Gesinnungsbildung – Überlegungen zur rezenten Rezeption Schleiermachers in der Erziehungswissenschaft (wie Anm. 4), 49f. 10 Auf diese Wechselseitigkeit weist auch L ADENTHIN (Hrsg.): Philosophie der Bildung (wie Anm. 1), 208, hin. 11 Bernd S CHRÖDER : Religionspädagogik, Tübingen 2012, 221. Auch F ROST : Gesinnungsbildung – Überlegungen zur rezenten Rezeption Schleiermachers in der Erziehungswissenschaft (wie Anm. 4), 50 schlägt vor in Anlehnung an B ERMGES: Die Grenzen der Erziehung (wie Anm. 13) vor, Bildung als »Grenze der Erziehung« zu verstehen. 12 Vgl. Abschnitt 10.4.: »Impulse von Schleiermachers Bildungsverständnis für die Gestaltung von Schule« ab S. 262.

10.2 Der antwortende Charakter von Kompetenz

253

erlebt wird und den Charakter einer Aufgabe hat. Die Einheit ergibt sich also zunächst und ursprünglich durch das einheitliche leiblich-soziale Bezogensein des Menschen, das Grund, Medium und Gegenstand des Handelns ist, und das im Medium szenischen Erlebens erscheint. Mit diesem seinem Bezogensein muss der Mensch umgehen, und darin besteht der Aufgabencharakter des Lebens.13 Bildung findet dort statt, wo der Umgang mit dem Bezogensein eine zunehmend differenziertere Gestalt gewinnt. Die Ausdifferenzierung des Umgangs ist damit das erste Merkmal von Bildung. Demnach ist Bildung zunächst nicht mit »Schulbildung« zu identifizieren, wie dies häufig geschehen ist.14 Vielmehr findet Bildung überall dort statt, wo eine derartige Ausdifferenzierung und Verfeinerung möglich ist. Bildsam sind die sozial vermittelten Beziehungen des Menschen, in denen er sich befindet und die er mittels seines Leibes gestalten kann.15 Diese Beziehungen sind nicht beschränkt auf die Beziehungen zu einzelnen Personen, sondern schließen auch das Bezogensein auf sich selbst, auf das vor-personale Naturgeschehen sowie auf das Menschsein insgesamt ein und schließlich das Bezogensein auf Gott als den Ursprung dieses komplexen Bezogenheitsgefüges. Vermittelt sind alle diese Beziehungen durch Formen regelmäßiger menschlicher Interaktion, durch die Institutionen menschlichen Lebens wie Familie, Staat und Infrastruktur, Wirtschaft, Kunst und Religion, Wissenschaft und das Bildungswesen. Schleiermacher sieht den Menschen dazu bestimmt, das Zusammenleben, und mittels dessen auch alle anderen Bezogenheiten mitzugestalten. Möglich ist dies, sofern das Zusammenleben in seiner Eigenart zunächst bekannt und verstanden ist, und auch als liebenswert erlebt wird; und sofern auch die leiblichen Grundfunktionen des Menschen, sein Sprach- und Sehsinn im weitesten Sinne sowie die Kraft und Gewandtheit seiner Glieder entwickelt sind. Eilert Herms hat Schleiermachers Güterethik insofern vertieft, als er den Aufgabencharakter des Zusammenlebens stärker als in Schleiermachers eigenem Entwurf herausgearbeitet hat.16 Dadurch kann das wechselseitige Aufeinanderbezogensein von individueller Entfaltung auf der einen und der Sozialisation und Enkulturation auf der anderen Seite verdeutlicht werden,17 weil die Aufgaben des Zusammenlebens zugleich als Aufgaben des einzelnen Menschen verstanden werden können und umgekehrt. 13 Auch Dietrich Benner hat diese soziale und leibliche Dimension der Bildung in seiner Allgemeinen Pädagogik festgehalten: B ENNER: Allgemeine Pädagogik (wie Anm. 52), 151ff. 14 Vgl. P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 70f. Ebenso S CHWEITZER : Interreligiöse Bildung (wie Anm. 20), 33. 15 Das Moment der Bildsamkeit ist für die Pädagogik von Dietrich Benner von großer Bedeutung, vgl. B ENNER: Allgemeine Pädagogik (wie Anm. 52), 70–78, 155f. 16 Vgl. Abschnitt 7.1.5.: »Kritische Analyse von Schleiermachers Konstruktion der Güterlehre« ab S. 151. 17 Vgl. P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 38. Auch B ENNER : Allgemeine Pädagogik (wie Anm. 52), 151–155, sieht darin eine Herausforderung für pädagogisches Handeln.

254

Kapitel 10 Schluss

Herms geht wie Schleiermacher von einer relativen Zweiteilung des Zusammenlebens in Aufgaben der Organisation und der Abbildung aus. Auf der einen Seite bestehen organisatorische Aufgaben: Menschliches Leben ist leibliches Leben, und dieses erfordert erstens verschiedene Handlungen, um es zu erhalten, zu pflegen und zu verbessern. Diese Aufgabe begegnet wie alle anderen Aufgaben ursprünglich im Rahmen der Familie, und wird durch die wirtschaftende Interaktion zu lösen versucht.18 Auf individualanthropologischer Ebene erfordert dies die Fähigkeit, mit dem eigenen Leib, den eigenen Kräften und Potentialen umgehen zu können, einschließlich der damit verbundenen Grenzen, die durch die Endlichkeit des Lebens und der Kräfte entstehen. Zweitens ist das Leben im Leib ein gemeinsames Leben und kann deswegen nur in Kooperation bewältigt werden. Dass sich diese relativ zuverlässig und in relativem Frieden vollzieht, ist nicht selbstverständlich, sondern muss durch die Etablierung einer Kooperationsordnung gewährleistet werden. Diese Aufgabe erfüllt das politische Handeln, das das Gewaltmonopol verwaltet. Auch diese Aufgabe einer Koordination des Zusammenlebens begegnet bereits auf familiärer Ebene, und erfordert von den Einzelnen die Fähigkeit zur Kommunikation und zum zwischenmenschlich zuverlässigen Handeln. Auf der anderen Seite erfordert das menschliche Leben auch die Wirklichkeit abbildenden Handeln, also die Erarbeitung und Kommunikation von Wissen, Verständnissen und Gewissheiten. Es erfordert erstens den Erhalt und die Vertiefung von Wissen über die Gesetze des Naturgeschehens und des menschlichen Interagierens; nur wenn diese Gesetze hinreichend bekannt sind, ist ein gelingendes Handeln möglich.19 Vom Einzelnen erfordern diese Tradierungsprozesse vor allem Fertigkeiten, die mit der Sprache verbunden sind. Zugleich erfordert das gemeinsame Leben zweitens auch eine Kommunikation über das gute, schöne und wahre Leben. Dieser Bereich wurde von Schleiermacher als der Bereich der Religion und der Kunst bezeichnet. Erforderlich ist eine solche Kommunikation deswegen, weil das Leben immer auch als gut, schön und wahr erlebt wird und dieses Erleben ebenfalls kultiviert und kommuniziert werden muss. Auf diesen Bereich muss im Folgenden noch näher eingegangen werden.20 Diese Aufgabenbereiche menschlichen Zusammenlebens existieren nicht separat und isoliert voneinander, sondern stehen in Wechselwirkung zu einander. Zwischen den einzelnen »Häusern«, die Schleiermacher als kleinste Einheit im Zusammenleben ausmacht, und dem Zusammenleben in seinen Institutionen gibt es drei vermittelnde Größen, die Medien, das Bildungswesen und die freie Gesel18

Wirtschaften ist dabei allerdings im weitesten Sinne des Wortes zu nehmen, da auch der Bereich der Medizin darunter fällt. 19 Eine solche Tradierung gibt es grundsätzlich in jeder Familie und in allen Kulturen; aber dort, wo die Weitergabe nur sprachlich und wenig institutionalisiert erfolgt, ist normalerweise nicht von Wissenschaft die Rede. 20 Vgl. Abschnitt 10.3.: »Der Symbolcharakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension« ab S. 257.

10.2 Der antwortende Charakter von Kompetenz

255

ligkeit. Sobald sich die Interaktionsbereiche stärker ausdifferenziert haben und nicht mehr jeder Mensch in alle Interaktionsbereiche in gleicher Weise einbezogen ist, werden nach Herms’ Auffassung Medien notwendig, die die Bereiche wechselseitig füreinander zur Darstellung bringen. Auch diese Medien erfordern von den Einzelnen die Fähigkeit eines angemessenen Umgangs und setzen Grundkenntnisse über diejenigen Sachverhalte voraus, die die Medien dann genauer beschreiben. Über Schleiermacher hinausgehend stellt Herms das Bildungswesen als eine weitere Institution dar, die zwischen den einzelnen Interaktionsbereichen der Gesellschaft einschließlich der Familie vermittelt und die mit der Vermittlung zwischen Individuum und Zusammenleben betraut ist. Zwischen den Familien und den Institutionen des öffentlichen Lebens besteht noch ein weiterer Bereich, der bei Schleiermacher als freie Geselligkeit und Freundschaft bezeichnet wird und der den ungezwungenen Austausch und die wechselseitige Darstellung zum Gegenstand hat. Die genannten Aufgaben ergeben sich alle aus dem leiblich-sozialen Bezogensein des Menschen und bilden daher eine differenzierte Einheit, einen Zusammenhang von Aufgaben, wie auch Hartmut von Hentig festgehalten hat.21 Menschliches Handeln kann daher als Antwort auf den Aufgabencharakter des eigenen Bezogenseins verstanden werden, und die Bewältigungsfähigkeit gegenüber den Grundaufgaben kann als ein Ensemble von Grundkompetenzen ausformuliert werden. Erstens umfasst dies die Grundkompetenz, die auf Erhalt und Pflege des leiblichen Lebens gerichtet ist. Dies könnte als Kompetenz des Wirtschaftens begriffen werden, wenn sie nicht auf das monetäre Wirtschaften enggeführt wird. Zweitens gehört dazu die Grundkompetenz der Kooperation in Beziehungen in all ihren Facetten. Diese Fähigkeit erstreckt sich auf die Gestaltung der unterschiedlichen Beziehungen in Partnerschaft, Freundschaft und Familie, sowie in den gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Drittens schließt dieses Ensemble auch die Grundkompetenz der Erarbeitung und Kommunikation von Wissen und Verständnis ein. Die vierte Grundkompetenz ist die der Darstellung und Wahrnehmung des Wahren, Guten und Schönen. Gebildet ist dieses Ensemble von Kompetenzen aber erst dann, wenn ein Bewusstsein für diesen komplexen Zusammenhang der Aufgaben besteht, auf den alles Handeln antwortet.22 Ohne dieses Bewusstsein des eigenen Antwortgebens durch Handeln und einer damit verbundenen Distanz zum eigenen Handeln wird alle Leistung besinnungslos und ungebildet, weil sie ihre Relativität verliert und damit ihren antwortenden Charakter. Entsprechend hat Theodor Ballauff notiert:

21

Vgl. H ENTIG: Ach, die Werte! (wie Anm. 187), 49. Auch Elisabeth G RÄB -S CHMIDT: Der Mensch – seine Natur als Freiheit, in: Elisabeth G RÄB -S CHMIDT/Reiner P REUL (Hrsg.): Natur (Marburger Jahrbuch Theologie XXVII), Leipzig 2015, 29–50, 46, spricht vom Charakter der Freiheit als »Antwortgeben« auf die zeitlich verfasste Wirklichkeit. 22

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Kapitel 10 Schluss

»Dort, wo die Leistung besinnungslos erfolgt und übersteigert wird, so wissen wir heute alle, wächst sie nicht nur zu vernichtendem Ausmaß heran, sondern schließt auch jede Möglichkeit der ›Bildung‹ aus.«23

Wo der Fokus allein auf das menschliche Handeln gerichtet ist, wie etwa schon in der Theorie Fichtes,24 und kein Sinn für das grundsätzliche Bedingtsein allen Handelns besteht, dort ist auch keine wahre Bildung möglich. Bildung und gebildete Kompetenz erschöpfen sich nicht im Lösen von Problemen, sondern schließen das Vernehmen dessen ein, worauf das eigene Handeln nur eine Antwort sein kann. Bildung und gebildete Kompetenz zeichnen sich durch Aufmerksamkeit für das Erleben aus, oder durch – in Schleiermachers Worten – lebendige Empfänglichkeit.25 Diesen Aspekt hat auch Joachim Kunstmann im Blick, wenn für ihn zur Bildung dazugehört, einen »entwickelten Sinn zu haben und solchen Sinn immer weiter zu entwickeln«.26 Hartmut von Hentig hat von der »Wachheit für letzte Fragen« gesprochen.27 Insofern Bildung einen Sinn für die Grenzen und Bedingungen des Handelns einschließt, hat sie auch eine religiöse Dimension. Denn Religionen weisen genau auf die Bedingungen menschlicher Freiheit sowie auf deren transzendenten Ursprung hin.28 Der Anhaltspunkt dieser religiösen Dimension ist in jedem Fall der antwortende Charakter des Handelns und damit auch der antwortende Charakter von Kompetenz.

23

BALLAUFF: Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 237. Vgl. L ICHTENSTEIN: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 26. 25 Vgl. dazu auch BALLAUFF : Philosophische Begründungen der Pädagogik (wie Anm. 57), 239f: »Einen Menschen ihn selbst werden und sein zu lassen [. . . ] kann allein besagen, ihn den Aufgabenkreis finden zu lassen, in dessen Mitte er überhaupt erst als Sprecher und Vollbringer der ihm zugewiesenen Aufgaben hervorgerufen wird. [. . . ] Ihn diesen individuellen Hervorruf erfahren zu lassen, das heißt nun ›Bildung‹«. Vgl. dazu auch Sabine S CHMIDTKE: »Lebendige Empfänglichkeit« als anthropologische Grundbedingung der Frömmigkeit. Das Gebildetwerden des religiösen Gefühls als Zugang zum Wahrheitsverständnis Schleiermachers, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, hrsg. v. Jörg D IERKEN/ Arnulf von S CHELIHA, Berlin und New York 2017, 363–377. 26 K UNSTMANN : Religion und Bildung (wie Anm. 6), 280. Er fasst diesen Sinn als »Aufgeschlossenheit, Wachheit, Interesse und Spiel«. 27 H ENTIG : Bildung (wie Anm. 41), 94–96. 28 So auch K ORSCH : Bildung und Glaube (wie Anm. 6), 193. Ein fehlendes Gottesbewusstsein kann daher nur als eine Form der Unbildung angesprochen werden, vgl. dazu BAUER: Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 164. 24

10.3 Der Symbolcharakter von Kompetenz

257

10.3 Der Symbolcharakter von Kompetenz und die damit verbundene religiöse Dimension Bildung ist nach Schleiermacher auch dadurch gekennzeichnet, dass alles Erleben, Denken und Gestalten zu einer relativen Einheit gebracht wird und einen lebendigen Zusammenhang formt. Die hochspezialisierte Ausbildung eines Vermögens ohne Verbindung zu den anderen Vermögen stellt keine Bildung dar, sondern eine Missbildung. Weder die Vielfalt der in einer Person vereinigten Kompetenzen, noch ihr Bewusstsein für den grundsätzlich antwortenden Charakter allen Handelns beschließen das Phänomen der Bildung. Vielmehr zielt Bildung auf eine Reintegration aller ausdifferenzierter Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit dem eigenen Bezogensein. Wodurch aber kommt diese Einheit des Menschen zustande? Zunächst kann dabei auf die Selbstständigkeit und Freiheit der einzelnen Person hingewiesen werden.29 Der Mensch selbst gestaltet sein Bezogensein so, dass es eine einheitliche Gestalt bekommt. Auch für Schleiermacher gibt es keine erhöhte, gebildete Einheit des Menschen vorbei an dessen Freiheit. Allerdings folgt auf diese Antwort sogleich die nächste Frage, woran diese Freiheit denn wiederum gebunden und wodurch sie orientiert ist. Schleiermacher weist darauf hin, dass das Ziel des organisierenden und abbildenden Umgangs nicht in diesem selbst liegt und Handeln seine Bestimmung noch nicht dadurch erfüllt, dass es selbst besser und reibungsfreier funktioniert. Handeln ist kein Selbstzweck. Der Sinn alles Gestaltens ist vielmehr darin zu sehen, dass das zu Gestaltende zu einem Symbol wird. Alle äußere Gestaltung hat ihren Sinn darin, dass sich in ihr ein Inneres, ein Geistiges manifestiert und so für andere zugänglich und erfahrbar wird. Das Handlungsverständnis Schleiermachers entgeht einer technizistischen Engführung, indem Kommunikation, Gestaltung des Lebens und alle Technik letztlich Mittel zum Zweck der Darstellung sind. Die Einheit des selbsttätigen Lebens kommt nun dadurch zustande, dass sie in der Vielfalt des Umgangs die eigene Individualität zum Ausdruck bringt. Die individuelle Lebendigkeit eines Menschen soll in der Gestaltung des eigenen Bezogenseins, einschließlich des bewussten Verzichts auf Handeln im Genuss oder in der Ergebung, für andere erfahrbar werden. Dabei versteht Schleiermacher diese individuelle Lebendigkeit nicht nur als die Gesamtheit aller individuellen Neigung en, Talente und des individuellen Geschmacks. Vielmehr besteht das organisierende Zentrum eines Menschen30 in dessen Gefühl für die Bestimmung des Menschseins: In welcher Gestalt menschlichen Lebens kommt das Leben 29

Vgl. B ENNER: Allgemeine Pädagogik (wie Anm. 52), 156, der Bildung versteht als »eine Wechselwirkung von Mensch und Welt [. . . ] in der der Mensch sich in Auseinandersetzung mit der Welt selbst bestimmt«. 30 K ORSCH : Bildung und Glaube (wie Anm. 6), 197, spricht von der »Mitte der Person«, die er mit dem »Affekt« bei Melanchthon identifiziert. K UTTING: Gesinnungsbildung (wie Anm. 49), 248, nennt die Bildung der Gesinnung deswegen auch das »Herzstück der Erziehung«.

258

Kapitel 10 Schluss

zum Ziel, zur Balance und wird zu einer »zur Ruhe gebrachte[n] Mischung«?31 Dieses Gefühl wird nicht produziert, vielmehr bildet sich dieses Bewusstsein durch die Begegnung mit anderen Menschen, die deswegen als nachhaltig beeindruckend erlebt werden, als »Totaleindruck«, wie Schleiermacher sagt,32 weil sie in unterschiedlichem Ausmaß die Bestimmung des Menschen verkörpern.33 In ihnen wird anschaulich, wie menschliche Freiheit gut, wahr und schön gelebt wird. Das orientierende Zentrum der Freiheit kann dieses Gefühl deswegen sein, weil es mit dem guten, wahren und schönen Leben ein Ziel präsentiert, das als anziehend und deswegen auch erstrebenswert erlebt wird, und das auch angestrebt werden kann. Ein solches Leben ist attraktiv, verlockend und – mit einem Begriff Schleiermachers zu sprechen – anmutend. Die Besonderheit liegt darin, dass in diesem Wahrheitsbewusstsein Individualität und Universalität einander nicht ausschließen, sondern miteinander verschränkt sind. Denn erlebte Wahrheit ist und bleibt an individuelle Szenen des eigenen Lebens und Erlebens gebunden; und doch präsentieren sich diese Szenen als solche, die die Bestimmung des Menschen überhaupt zum Ausdruck bringen. Die Bildung des Menschen im Sinne einer Integration aller relativ ausdifferenzierten Bezogenheitsweisen geschieht also dadurch, dass alle Gestaltung des eigenen Bezogenseins zum Ausdrucksmittel oder Symbol wird. Alles bewusste Erleben, Denken und Gestalten, und damit auch alle Kompetenzen, haben ihren Sinn im Ausdruck des individuellen Wahrheitsbewusstseins. Schon für Shaftesbury gehörte zur Bildung die »innere Ordnung der Triebe und Neigung en,34 und der ›proportionierliche‹ Ausdruck des Inneren in der Erscheinung«.35 Nach Romano Guardini besteht die Bildung des Menschen darin, dass er »in seinem ganzen Wesen ein Bild, und zwar das rechte, ihm zugehörige, offenbare«, womit Guardini sowohl den Wahrheitsbezug von Bildung als auch deren Individualität zum Ausdruck bringt.36 Alle Bemühungen um Bildung, die dagegen kein orientierendes Zentrum haben und nicht auf einem individuellen Wahrheitsbewusstsein gründen, resultieren in bloßer »Halbbildung«, wie mit Worten von Theodor Adorno festgehalten werden kann. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass »Selbsterhaltung

31

Reden, 192 Z. 36f. Vgl. Abschnitt 4.3.3.: »In der Einleitung der Glaubenslehre« ab S. 99. 33 Bereits Max Scheler hatte darauf hingewiesen, dass das »kräftigste äußere Reizmittel« für Bildung das »Wertvorbild einer Person« sei: S CHELER: Bildung und Wissen (wie Anm. 40), 17. Eine solche Begegnung führt deswegen nicht zu bloßer Nachahmung oder blinder Unterwerfung (ebd., 18), weil darin Wahrheit begegnet, an die die Selbsttätigkeit eines Menschen anknüpfen kann. 34 Nach reformatorischer Lehre verdankt sich diese Ordnung letztlich dem Handeln Gottes, vgl. Eilert H ERMS: Art. »Versuchung IV. Dogmatisch«, in: RGG4 VIII (2005), 1072f. Hier Sp. 1073. 35 L ICHTENSTEIN : Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckart bis Hegel (wie Anm. 37), 14. 36 G UARDINI : Grundlegung der Bildungslehre (wie Anm. 39), 23. 32

10.3 Der Symbolcharakter von Kompetenz

259

ohne Selbst« betrieben wird,37 oder Freiheit ohne Grund und Ziel. Das Wahrheitsbewusstsein, das nach Schleiermacher das Zentrum eines Menschen, eben seine Gesinnung darstellt, ist wesentlich religiös. Denn die Gewissheit über das gute, wahre und schöne Leben ist eine Gewissheit über den Richtungssinn und die Bestimmung des Menschen. Schleiermacher zufolge kann diese Bestimmung aber nicht durch den Menschen oder eine andere innerweltliche Instanz gesetzt sein und verweist damit auf Gott als den transzendenten Grund dieser Bestimmung. Umgekehrt manifestiert Gott sein besonderes Wollen auch in nichts anderem als im Richtungssinn des Menschseins. Das individuelle Erleben von Wahrheit ist vor diesem Hintergrund zu verstehen als eine Anrede Gottes. Religiöse Bildung besteht damit ursprünglich nicht in einem Wissen um Religion oder der Fähigkeit, an den Vollzügen einer religiösen Gemeinschaft teilzunehmen, sondern im Zustandekommen eines Wahrheitsgefühls für die Bestimmung des Menschen. Christlich ist das Wahrheitsgefühl dann geprägt, wenn Christus selbst es ist, der bildet, wie Tobias Bauer festgehalten hat.38 Das Wahrheitsgefühl bildet sich durch das Erleben von Totaleindrücken, und die damit verbundene Prägung von Affekten und Handlungsimpulsen. Die Bildung der religiösen Gesinnung ist damit die »Grundlage aller Bildungsvorgänge«, weil sie das Fundament allen Handelns ist.39 Religiöse Bildung zielt mit Christoph Schwöbel auf die »Gesamtorientierung des menschlichen Lebens«.40 Wenn Johanna Hopfner die pädagogische Aufgabe in der »Ermöglichung eines Selbstfindungsprozesses« sieht,41 dann schließt dies m. E. deswegen eine religiöse Dimension ein, weil Selbstfindung nicht ohne einen Bezug auf die Wahrheit des Menschseins denkbar ist. Religiöse Kompetenz steht im Horizont der widerfahrenen religiösen Bildung, und kann als diejenige religiöse Bildung verstanden werden, die der Mensch verantwortet.42 Diese besteht wesentlich in dem Vermögen, in einer sinnlich erfahrbaren Gestaltung des Lebens den Ausdruck eines Wahrheitsgefühls wahrzunehmen, und dem eigenen Inneren eine äußere Gestalt zu verleihen. Von dieser religiösen Grundkompetenz, die sich im Anschluss an Schleiermacher formulieren lässt, können etwa die im Handbuch der Erziehungswissenschaften genannten religiösen Kompetenzen, die hermeneutische, ethische, spirituelle, philosophischdogmatische und kommunikative Kompetenz, zugeordnet werden.43 37

Zitiert bei: KORSCH: Bildung und Glaube (wie Anm. 6), 192. Vgl. BAUER: Das Bildungsverständnis des Theologen Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 71), 175. 39 K UTTING : Gesinnungsbildung (wie Anm. 49), 250. 40 S CHWÖBEL : Bildung (wie Anm. 37), 173. 41 H OPFNER : Das Subjekt im neuzeitlichen Erziehungsdenken (wie Anm. 77), 271. 42 Vgl. S CHAMBECK : Interreligiöse Kompetenz (wie Anm. 20), 14f., die religiöse Kompetenz ebenfalls im Horizont religiöser Bildung verortet. 43 Vgl. Rudolf E NGLERT : 4. Abschnitt: Religiöse Zieldimension. Einführung, in: Allgemeine Erziehungswissenschaft II. Handbuch der Erziehungswissenschaft 2, Paderborn u. a. 2011, 179–181, hier 179–180. 38

260

Kapitel 10 Schluss

Zur religiösen Kompetenz gehört die hermeneutisch-kommunikative Kompetenz, und damit wesentlich eine Bildung der Sprache.44 Allerdings ist das, worauf sich die Kompetenz richtet, selbst nicht ursprünglich sprachlicher Art. Das Medium der Darstellung ist der innengeleitete Umgang mit dem leiblich-sozialen Bezogensein, und damit szenischer Natur. Daher bedarf es vor allem sprachlichen Austausch über das zum Ausdruck gebrachte Gefühl zunächst eines gebildeten Einfühlungsvermögens,45 um die Verbindung von Innerem und Äußerem nachzuvollziehen.46 Dies setzt die Kenntnis von Biographien und Selbstdarstellungen voraus.47 Bei religiöser Kompetenz kann es sich nur darum handeln, das durch Wahrheit geprägte Erleben und Gestalten anderer »ahnden« zu können,48 und in der Lage zu sein, das eigene auszudrücken und zu verstehen. Eine Gewissheit über das gute, wahre und schöne Menschsein geht im Bereich geschichtlicher Religionen mit einem bestimmten Transzendenzbezug einher, auch dessen Eigenart gilt es zu erfassen; dies kann als spirituelle Kompetenz angesprochen werden. Die im Kontext der christlichen Religion zu berücksichtigenden Ausdrucksformen sind der Gottesdienst mit seinen wesentlichen Bezügen auf die Bibel und die Sakramente. Darüber hinaus gehören alle Ausdrucksformen der Kunst in ihrer Vielfalt und im Verlauf ihrer Geschichte zu den Ausdrucksformen einer Religion, aber auch der individuelle und gesellschaftliche Umgang mit dem menschlichen Leben (»ethische Kompetenz«).49 Aus dem Vorangegangen sollte klar geworden sein, dass religiöse Kompetenz sich nicht auf die eigene Bezugsreligion beschränkt, sondern immer interreligiös zu denken ist. Die Pointe interreligiöser Kompetenz liegt darin, in den Äußerungen Anderer deren spezifisches Wahrheitsbewusstsein wahrzunehmen; dies setzt auch eine gründliche Kenntnis der klassischen oder kanonischen Äußerungen einer Religion voraus. Vorausgesetzt ist dabei freilich stets ein unverfügbar bleibendes Interesse an der Darstellung von individueller Gewissheit.

44 Vgl. H ELLER : Die Bildung des selbstbestimmten Lebens (wie Anm. 3), 456. So auch S CHWEITZER: Bildung (wie Anm. 7), 183f. 45 Vgl. Abschnitt 4.2.: »Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls« ab S. 81. 46 Darauf weist auch Friedrich S CHWEITZER : Bildung und Person. Ist der Personbegriff für ein evangelisches Bildungsverständnis unverzichtbar?, in: Leibhaftes Personsein, Leipzig 2015, 369–380, 183f., hin. 47 Vgl. auch Schleiermachers Hinweis: Pädagogik 1813/14, 322. 48 Vgl. Abschnitt 4.2.: »Die ursprüngliche Sozialität des Gefühls« ab S. 81. 49 Die Zugehörigkeit von Wahrheit und Ethik zur Bildung hat auch Friedrich S CHWEITZER : Außen- statt Innenperspektive?, in: Stellungnahmen und Kommentare zu »Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung«, Münster 2007, 9–16, 16, betont. K UNSTMANN: Religion und Bildung (wie Anm. 6), 448, nennt nur die religiösen Traditionen als Medien der Selbstbildung. Damit wird m. E. allerdings übersehen, dass auch die Gestaltung individuellen und sozialen Lebens Manifestation des religiösen Wahrheitsbewusstseins sind. So ist bspw. auch der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen oder mit kriegerischen Auseinandersetzungen im gebildeten Fall vermittelt durch ein individuelles Gefühl für die universale Bestimmung des Menschen.

10.3 Der Symbolcharakter von Kompetenz

261

Schleiermacher geht davon aus, dass das Phänomen Bildung grundsätzlich allen Menschen begegnet und dass es daher auch hinsichtlich seiner allgemeinen Züge, also »philosophisch«, entfaltet werden kann. Zugleich betont Schleiermacher aber, dass diese Allgemeinheit nicht als solche zugänglich ist, sondern nur auf dem Boden eines individuellen, geschichtlich gewachsenen Verständnisses. Keiner der beiden Aspekte lässt sich einfach in den anderen auflösen, vielmehr müssen sich beide wechselseitig auslegen und aneinander stimmen, wie Schleiermacher dies auch für seine Dogmatik und seine Philosophie behauptet hat. Auch ein Bildungsverständnis ist demnach nicht nur hinsichtlich seiner allgemeinen Züge darzustellen, sondern immer auch in seiner individuellen Gestalt, und das heißt für Schleiermacher: in seiner religiös-weltanschaulichen Gebundenheit. Es mag im gegenwärtigen Diskurs ungewohnt sein, auf der religiös-weltanschaulichen Gebundenheit aller Positionen zu beharren und zugleich die Möglichkeit von Vernünftigkeit zu behaupten. Daher sollen an dieser Stelle in aller Kürze mögliche Alternativen hierzu bedacht werden. Die Darstellung eines Bildungsverständnisses, das den Anspruch auf Vernünftigkeit und die individuelle Gebundenheit der eigenen Position nicht zu vereinen vermag, verneint entweder die Möglichkeit, dass alle Menschen aufgrund ihres Menschseins über dieses Menschsein und dazu gehörende Phänomene wie Bildung zu einer sinnvollen Verständigung und zu einem gemeinsamen Umgang gelangen können, auch wenn sie nicht dieselben religiös-weltanschaulichen Überzeugungen teilen. Damit aber wäre es nicht pluralismusfähig, da für den Pluralismus gerade die Spannung zwischen unterschiedlichen Positionen und gemeinsamer Interaktion konstitutiv ist. Oder das eigene Bildungsverständnis wird verstanden als eines, das nicht an geschichtlich gewordene Einsichten und Gewissheiten über wahre Bildung gebunden und deswegen in einer der Geschichte enthobenen Weise Vernünftigkeit beansprucht. Ein derartiges Verständnis bringt es mit sich, dass andere, von der eigenen Position abweichende Bildungsverständnisse als unvernünftig eingestuft werden müssen. Auch ein solches Verständnis scheint mir nur schwer pluralismusfähig zu sein. Denn diese Position rechnet mit einer Vernunft, die selbst nicht plural verfasst ist; Vielfalt ist damit ein Zustand, der zu überwinden ist, und der – unter Rekurs auf die einheitliche Vernunft – auch überwunden werden kann. Die Stärke von Schleiermachers Ansatz besteht dagegen darin, dass er sowohl von einer religiös-weltanschaulichen Positionalität des Bildungsverständnisses ausgeht als auch von der Möglichkeit einer nachvollziehbaren Beschreibung des Phänomens der Bildung und der Möglichkeit gelingender Interaktion zwischen Menschen mit jeweils unterschiedlichem Wahrheitsbewusstsein. Deutlich wird dies an seiner Pädagogik: Diese steht zweifellos auf dem Boden von Schleiermachers christlichem Wahrheitsbewusstsein und erhebt dennoch den Anspruch auf eine angemessene Beschreibung von Bildung, die für alle grundsätzlich einsichtig ist. Durch dieses pluralismusfähige Verständnis von Bildung, durch diesen Begriff von Kompetenz als Antwort und Symbol ergeben sich auch Hinweise auf eine

262

Kapitel 10 Schluss

sachgemäße Begleitung von Bildungsprozessen, wobei im Folgenden besonders die Schule in den Blick gefasst wird.

10.4 Impulse von Schleiermachers Bildungsverständnis für die Gestaltung von Schule Schule ist auf der Linie Schleiermachers als eine Vermittlungsinstanz zwischen dem familiären und öffentlichen Leben zu verstehen. Die Einheit von Schule liegt in diesem Vermittlungssinn. Daher steht der einzelne Fachunterricht in der Pflicht, diesen Zusammenhang auch explizit zu machen, und den Sinn des Gelernten und den Sinn des Faches zu thematisieren.50 Entsprechend fordert auch Hartmut von Hentig eine »scientific literacy«.51 Zudem ergibt sich etwa von Schleiermachers Bildungsverständnis her die Möglichkeit, nach der Vollständigkeit des Fächerkanons und der Unterrichtsinhalte zu fragen. Sind alle Aufgaben, die die Menschen in ihrem Zusammenleben zu lösen haben, im Fächerkanon vertreten, und ist auch ihre individualethische Relevanz deutlich? Schleiermachers Ethik kann hierfür als eine Art Brille verstanden werden, die es erlaubt, die Abbildung der Wirklichkeit, wie sie durch den Fächerkanon geleistet wird, mit derjenigen Abbildung zu vergleichen, die die Ethik erarbeitet. Vor diesem Hintergrund ließe sich in exemplarischer Auswahl fragen, ob dem Aspekt des Wirtschaftens im gegenwärtigen Fächerkanon staatlicher Schulen in Deutschland ausreichend Rechnung getragen wird, und zwar nicht nur dem Wirtschaften in sozialethischer, sondern auch in individualethischer Perspektive. Findet das Wirtschaften mit den eigenen Finanzen, den eigenen Kräften und der eigenen Lebenszeit denjenigen Raum, der ihm von der Relevanz für das weitere Leben her zusteht? Ebenfalls wäre zu fragen, inwiefern der leiblichen Seite der Bildung, den handwerklichen Fähigkeiten etwa, genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine weitere Dimension, die Fragen nach der schulischen Thematisierung aufwirft, könnte die der individuellen Beziehungen sein. Inwiefern werden Familie, Partnerschaft, Freundschaft und berufliches Leben in individual- und sozialethischer Hinsicht thematisiert? Orientierungskräftig scheint mir immer noch Schleiermachers Auswahlkriterium für Fächer und Inhalte: Diese sind auszuscheiden, wenn sie im späteren Leben der Kinder und Jugendlichen keine Rolle mehr spielen. Gefordert ist ein behutsamer und respektvoller Umgang mit der Lebenszeit der Kinder und Jugendlichen. Eine besondere Verantwortung und Wichtigkeit bei einer kritischen Durchsicht etwa des Fächerkanons kommt dabei den Schulen in freier Trägerschaft zu. Veränderungen und damit auch mögliche Impulse fallen in ihrem Rahmen leichter als an staatlich geführten Schulen. 50

Vgl. P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 103f. H ENTIG: Ach, die Werte! (wie Anm. 187), 42. Ähnlich auch P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 325f. 51

10.4 Impulse von Schleiermachers Bildungsverständnis

263

Der Antwortcharakter des menschlichen Lebens begegnet im Leben einzelner Menschen, und diese wiederum werden entweder unmittelbar erlebt oder aber in Erzählungen und Geschichten. Auf dieses Bildungspotential haben etwa Hartmut von Hentig52 und Reiner Preul hingewiesen.53 Anders lassen sich auch keine Werte vermitteln, denn das Medium dessen, was in Wahrheit gut, schön und menschlich ist, sind individuelle Biographien.54 »Eine zentrale Aufgabe des Religionsunterrichtes wäre es daher, deutlich zu machen, dass es hier nicht nur um religiöses Wissen im Sinne einzelner Details und Geschichten geht, sondern um ein Wissen des in christlicher Tradition herausgebildeten Daseinsverständnisses überhaupt«.55 Und dieses wird dort anschaulich und konkret, wo es in einzelnen Menschen eine Gestalt gewonnen hat und deren Umgang mit dem Leben prägt. Findet das Erzählen in Familie, Schule und Kirche den Platz, der ihm von seiner Wichtigkeit her zukommen müsste? Schleiermacher betont, dass Schulen mehr als nur Unterrichtsanstalten sein sollten, wenn sie ihrem eigentlichen Sinn gerecht werden wollen. Auch mit von Hentig ist die Schule als ein »Lebens- und Erfahrungsraum« zu verstehen.56 Sie sollen die gesellschaftlichen Interaktionsbereiche abbilden und zu ihnen hinführen. Diese Abbildung und Einführung ist nicht notwendig auf den Unterricht in der Schule zu beschränken. Auch eine verstärkte Kooperation zwischen Schule und zivilgesellschaftlichen Akteuren kann dabei sinnvoll sein. Da das öffentliche Leben in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft einen Zusammenhang bildet, muss auch der Zusammenhang der Schulfächer durch fächerübergreifende Kooperation explizit werden.57 Der einheitliche Zusammenhang der Schulfächer und Fachbereiche durch die conditio humana, ihr Antwortcharakter, ist auch eigens zu thematisieren, etwa im Religionsunterricht oder im Fach Philosophie.58 Damit einher geht die Forderung, dass die eigene Positionalität in der Frage, wie eine gelungene Antwort auf die conditio humana genau aussieht, nicht verschleiert werden darf. Daher ist der konfessionelle Charakter des Religionsunterrichts unbedingt beizubehalten, und die unumgängliche Positionalität des alternativen Ethik- oder Philosophie-Unterrichts zu thematisieren. Schleiermacher weist auf die Wirkung der Schule auf die Gesinnung und das Wollen des Einzelnen hin.59 Dies weist zum einen auf eine wichtige Dimension der Schule hin, nämlich auf den jeweils herrschenden Gemeingeist einer Klasse, peer52

Vgl. H ENTIG: Ach, die Werte! (wie Anm. 187), 80. Vgl. P REUL: Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 186f. 54 Vgl. H ENTIG : Ach, die Werte! (wie Anm. 187), 80. 55 G RÄB -S CHMIDT : Institution und Individuum zwischen Tradition und Innovation (wie Anm. 22), 270. 56 H ENTIG : Ach, die Werte! (wie Anm. 187), 64. 57 Etwa durch einzelne Projekte, vgl. P REUL : Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 41), 103f. 58 Vgl. ebd., 103f. 59 Auch ebd., 275, weist auf den »Kommunikationsfaktor Umgang« in der Schule hin. 53

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Kapitel 10 Schluss

group oder einer ganzen Schule und dessen Bedeutung für den Bildungsprozess. Zum anderen aber weist dies auf eine Grenze von Schule hin. Schleiermacher hat eingeschärft, dass sich das Gefühl und die Gesinnung eines Menschen im Wesentlichen nicht in Lehr-Lern-Prozessen, sondern im sogenannten freien Leben bilden. Auch in der Schule findet natürlich ein sogenanntes freies Leben statt, also eine gesellige, nicht zweckmäßige Interaktion. Die Pointe aber liegt darin, dass Bildung nicht mit Schule gleichzusetzen ist, schon gar nicht die Bildung im Sinne einer Einheit der Kompetenzen. Mit Elisabeth Gräb-Schmidt kann festgehalten werden: »Für eine solche Gewissheitsbildung, die den Menschen in seinem ganzen Sein prägt, reicht dann ein kognitives Erlernen nicht aus [. . . ]. [E]s müssen Räume erhalten und gepflegt werden, in denen solche Erfahrungen gemacht werden können, sinnerschließende Begegnungen geschehen, die eine solche Selbstbildung als Gewissheits- und Herzensbildung befördern können. Solche Räume sind heute vornehmlich – immer noch – die Institutionen religiöser Bildung.«60 Daher bedarf es auch einer zeitlichen Beschränkung der Schule um der Bildung der Kinder und Jugendlichen willen und einer Wertschätzung und eines Freiraums für zivilgesellschaftliche Akteure. Neben der Schule muss Raum für non-formale Bildung bleiben, wie auch Hartmut von Hentig eindrücklich gefordert hat.61 Denn die Bildungskraft einer Gesellschaft ist die »Bildungskraft der sozialen Verhältnisse insgesamt«.62

60

G RÄB -S CHMIDT: Institution und Individuum zwischen Tradition und Innovation (wie Anm. 22), 271. 61 Vgl. H ENTIG : Ach, die Werte! (wie Anm. 187), 98f. 62 H ERMS : Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (wie Anm. 1), 273. Für den Bereich der Konfirmandenarbeit etwa konnte im Rahmen einer bundesweiten und internationalen Studie nachgewiesen werden, dass sich im Rahmen der Konfirmandenarbeit Bildungsprozesse vollziehen, die von großer gesamtgesellschaftlicher Relevanz sind: S CHWEITZER/N IEMELÄ/S CHLAG/S IMOJOKI (Hrsg.): Youth, Religion and Confirmation Work in Europe (wie Anm. 178), 93ff; vgl. ebenso Friedrich S CHWEITZER/ Georg H ARDECKER/Christoph H. M AASS/Wolfgang I LG/Katja L ISSMANN: Jugendliche nach der Konfirmation. Glaube, Kirche und eigenes Engagement – eine Längsschnittstudie (Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten 8), Gütersloh 2016, 75–108.

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Register

1. Personenregister Adorno, Theodor 258 Albrecht, Christian 92, 99, 102, 247 Arndt, Andreas 32, 43, 55–57, 114 Ballauff, Theodor 11–13, 16, 175, 221, 256 Bartel, Franziska 19, 20 Barth, Karl 3, 118, 124 Barth, Ulrich 6, 7, 20, 35, 36, 44–46, 55, 56, 64, 73–77, 81, 82, 85, 93, 101, 106, 129, 140, 141, 211 Bauer, Daniel Tobias 13, 14, 18, 108, 123, 213, 256, 259 Beißer, Friedrich 102 Benner, Dietrich 3, 5, 7, 11, 187, 210, 253, 257 Bermges, Stephanie 4, 12, 15, 17, 20, 97, 170, 179, 182, 183, 189, 212, 213, 219, 221, 228, 236, 252 Bieri, Peter 49 Birkner, Hans-Joachim 111, 112, 125, 170, 171 Blum, Matthias 240 Böhme, Jakob 16 Brachmann, Jens 12, 42, 198, 207, 218 Brüggen, Friedhelm 19, 21 Brunner, Emil 144 Bucay, Jorge 65 Castoriadis, Cornelius 148, 159, 169 Comenius 25 Comenius, Johann Amos 16 Cordemann, Claas 16 Cramer, Konrad 82, 102

Descartes 35 Dierken, Jörg 64, 102 Dietz, Thorsten 118 Dressler, Bernhard 5–7, 9–11 Ebeling, Gerhard 238 Ehrhardt, Christine 20, 91, 95, 167, 219, 228, 236, 242 EKD 125 Englert, Rudolf 259 Fischer, Hermann 19 Fischer, Rudolf 242, 243 Fritz, Alexis 15 Frost, Ursula 18, 20, 36, 77, 151, 174, 213, 214, 251, 252 Fuchs, Brigitta 228–230 Fuchs, Thomas 36, 69, 73 Fuhrmann, Manfred 173 Glatz, Uwe 7, 18, 90, 107 Goethe, Johann Wolfgang von 25 Görder, Björn 64 Gräb, Wilhelm 3, 129, 221 Gräb-Schmidt, Elisabeth 10, 16, 61, 131, 132, 210, 255, 263, 264 Groß, Engelbert 3 Grove, Peter 34, 36, 56, 57, 82, 90, 92, 102 Guardini, Romano 9, 179, 258 Habermas, Jürgen 4 Haen, Sara 4 Hardecker, Georg 118, 150, 180, 194, 264 Hefner, Philip 52

282

1. Personenregister

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 16, 17, 150 Hellekamps, Stephanie 187, 210 Heller, Oliver 1, 13, 16, 20, 114, 159, 181, 260 Hentig, Hartmut von 9, 10, 15, 246, 255, 256, 262–264 Herbart, Johann Friedrich 222 Herder, Johann Gottfried 16, 19, 25, 64, 130, 131, 138 Hermann, Stefan 3 Hermanni, Friedrich 7 Herms, Eilert 1, 6, 7, 13, 15, 20, 25, 26, 28, 35, 38, 47, 48, 56, 74, 99, 101, 106, 112, 114, 123, 124, 132, 133, 138, 140, 141, 143, 146, 149, 151–153, 160, 164, 166, 169, 171, 172, 191, 228, 229, 246, 258, 264 Hirsch, Emanuel 107 Höffe, Otfried 26, 50 Hopfner, Johanna 42, 48, 138, 139, 219, 222, 259 Humboldt, Wilhelm von 11, 19, 229 Huxel, Kirsten 71, 174, 251 Ilg, Wolfgang 264 Käfer, Anne 83, 85, 105 Kant, Immanuel 26, 36, 37, 50, 113, 138, 183 Klein, Ursula 38 Kleint, Steffen 18, 225 Kliemann, Peter 250 Koch, Lutz 4, 6 König, Christian 44, 47, 48, 56, 59, 68, 70, 72, 73, 75, 78, 79, 87, 91, 92, 94, 95, 97–99, 109, 110, 114 Korsch, Dietrich 3, 10, 256, 257, 259 Krautkrämer, Ursula 204, 229 Krüger, Malte Dominik 2 Kunstmann, Joachim 3, 13, 256, 260 Kutting, Dirk 10, 257, 259 Ladenthin, Volker 4, 123, 252 Laist, Bruno 126, 138 Lange, Dietz 52, 64, 89, 90, 107, 279 Lehnerer, Thomas 18, 28, 33–35, 55, 70–72, 74, 76, 77, 81, 83, 84, 164, 166 Leibniz, Gottfried Wilhelm 16, 221

Lichtenstein, Ernst 9, 13, 14, 16, 25, 47, 256, 258 Lißmann, Katja 264 Lobe, Matthias 173, 177 Lohmann, Friedrich 42 Lüth, Christoph 3 Maaß, Christoph H. 264 Meister Eckardt 9 Meyer-Blanck, Michael 5, 6 Meyer-Drawe, Käte 11 Mikhail, Thomas 9, 13 Miller, Marlin E. 56, 71, 79, 86, 87, 164, 215 Moxter, Michael 107, 129, 132, 134, 135, 150, 154, 159, 166 Murrmann-Kahl, Michael 107 Nagel, Thomas 141 Nassehi, Armin 159, 166, 167 Nieke, Wolfgang 4, 10 Niemelä, Kati 243, 264 Nipkow, Karl-Ernst 4 Nonnenmacher, Burkhard 7 Nowak, Kurt 129, 210 Oelkers, Jürgen 17 Paracelsus 15, 25, 47 Pestalozzi, Johann Heinrich 16 Pleines, Jürgen-Eckhardt 16, 17 Preul, Reiner 3, 7, 9–11, 15, 17, 27, 61, 123, 176, 192, 203, 237, 246, 253, 262, 263 Reble, Albert 126, 129, 130, 133, 159, 162, 164, 171, 217, 220, 229 Redeker, Martin 102, 109, 112 Reuter, Hans-Richard 31, 32, 34, 70–74, 76, 77, 80, 95, 101, 106, 109 Riemer, Matthias 10, 18, 20, 53, 101–104, 106, 158, 168, 211, 213 Rose, Miriam 126, 132, 157, 160, 162, 171 Roth, Heinrich 10 Rousseau, Jean Jacques 16 Schaller, Klaus 16 Schambeck, Mirjam 5, 259 Scheler, Max 9, 258

2. Sachregister Scheliha, Arnulf von 132, 156, 163, 229, 246 Schick, Friederike 7 Schlag, Thomas 243, 264 Schlegel, Friedrich 4 Schleiermacher, Friedrich 12, 15, 19, 21, 25–28, 31, 33–50, 52, 53, 57–69, 71–73, 75–89, 91–106, 108–112, 114, 119, 124, 125, 127, 129–151, 154–171, 174–215, 217–247, 251, 258, 260 Schlenke, Dorothee 147, 148, 159, 167, 170, 171, 247 Schluß, Henning 5 Schmidtke, Sabine 256 Scholtz, Gunter 27, 28, 34, 37, 38, 40, 46, 47, 64, 66, 68, 71, 79, 80, 83, 129, 130, 149, 159, 171 Schröder, Bernd 6, 252 Schröder, Markus 95, 140 Schurr, Johannes 12, 15, 47, 50, 81, 178, 179, 212

283

Schütz, Egon 17 Schweitzer, Friedrich 3–8, 10, 17, 123, 243, 251, 253, 260, 264 Schwöbel, Christoph 4, 6, 8, 9, 175, 251, 259 Senckel, Barbara 43, 95, 130, 135 Shaftesbury 14, 258 Simojoki, Henrik 243, 264 Slenczka, Reinhard 107 Spaemann, Robert 16, 34, 136 Strauß, David Friedrich 31 Stroh, Ralf 10, 84, 105, 108, 111, 148, 164, 165 Wagner, Falk 34, 58, 76, 77, 86, 107 Weber, Max 4 Wehr, Marco 137, 194 Weinert, Franz E. 250, 251 Winkler, Michael 35, 126, 135, 219, 221, 246 Wittgenstein, Ludwig 13

2. Sachregister Absolute, das 78–81, 215 Agens 78–80 Allmacht 80, 109 Beruf 176, 178, 195, 207, 224, 226, 230–233, 236, 247 Bestimmung des Menschen 7, 17, 64, 82, 89, 90, 105, 107, 111, 154, 166, 169–172, 174, 183, 190, 203, 208, 215, 230, 238, 240, 244, 248, 258, 259 Bild 9, 12, 18, 71, 73, 76, 83, 86, 214, 258 – Urbild 64, 105, 107, 117 Bildungswesen 253 – Hilfestellung 126 – Verhältnis zum Staat 229 – Verhältnis zur Zivilgesellschaft 229 – vermittelnde Funktion 152, 254, 255 Böse, das 43, 208, 209, 211, 212, 222 Christentum 109, 170, 240 Christologie 81, 107, 109, 118 Dauererleben – leiblich-szenisches 75, 76, 101

Dualismus 34, 211, 212 Eltern 228 – Abstammung 136 – Verhältnis zu den Kindern 188 Emergenz 52 Empfänglichkeit 84, 105, 108, 177, 178, 256 Erde – als Bildungsgebiet 136, 137 – Bearbeitung 149 – Beherrschung 149 – Bewegtsein 136 – Gegenstand der Geographie 199, 225 – Gegenstand der Gestaltung 145 – Gestaltung 150 Erschlossenheit 56, 72 Erziehung 21, 219, 222–224, 227, 229, 230, 237–239, 241, 249 – als Gegenstand der Wissenschaft 5 – Bedeutung der Gesinnung 223 – Bedeutung der Liebe 240 – Begrenzung 236 – Beitrag zur Berufsfindung 224

284

2. Sachregister

– Beitrag zur Individualisierung 230 – Beitrag zur Vervollkommung 219 – Bezug auf alle Interaktionsbereiche 227 – Bildungsprozess als Gegenstand 174 – Erziehungswesen 219 – Gegenstand 218, 219, 221 – in der dialektischen Theologie 3 – individualethische Bedeutung 220 – Natur als Gegenstand 194 – religiöse Dimension 245 – Übergang in die Selbstständigkeit 215 – Verhältnis zum Bösen 212 – Ziel 219 Erziehungswissenschaften 4, 14, 259 Familie 130, 133, 134, 137, 145, 148, 152, 157, 178, 187, 188, 218, 226, 227, 232, 236, 241, 242, 244, 245, 254, 263 – als Thema des Lehrplans 262 – Irreduzible Einheit 133 – Liebe 185 – ursprüngliche Sprachgemeinschaft 158 – Vorherrschender Gemeingeist 148 Freiheit 38, 93, 123, 193, 203, 206, 213, 241, 256–259 – relative 103, 106 Frömmigkeit 102, 103, 110, 189, 213, 234, 247 – Entwicklungsstufen 111 – Gefühle 117 – Gegenstand 100 – kindliche 212 – teleologische und ästhetische 78 – Ursprung 111 Gattung 50, 66, 70, 115, 116 – Bedingungen 50 – dominierendes Prinzip 49 – Entstehung 115 – Entwicklung 52 – menschliche 53, 87, 106, 118 – Richtungssinn 50, 118 – Werdeprinzip 115, 116 Gebärde 81–85, 87, 88, 112, 145 Geist – Gemeingeist 134, 147–149, 154, 159–171, 186–190, 209, 210, 236, 245, 246, 263

– göttlicher 108, 109, 184 – heiliger 164 – Jesu 87 Gemeingeist 227 Gemeinschaft 209, 239 – Beruf 231 – bürgerliche 188 – der Kirche 199 – der Offenbarung 189 – hervorbringen 183 – Impuls zur 185 – religiöse 259 – Streben nach 211, 230 – unter den Völkern 231 – Ziel eigenen Bezogenseins 212 Genie 225 Gerechtigkeit 149, 150, 162 Geschichte 123, 125 – als Schulfach 198 – aus christlicher Perspektive 53 – Gegenstand der Religion 93 – menschliche 42, 43, 52 – Menschsein als Wendepunkt 40 – Ort des Wirkens Gottes 53 – Transzendenzverweis 54 – Verhältnis zur Ethik 125 Geschlechter 206, 207 Geselligkeit 133, 142, 143, 150, 152, 156, 157, 163, 186, 189, 236, 241, 242, 244, 247, 254, 255 Gesellschaft 148, 161, 168, 218, 219, 255 – angewiesen auf individuelle Impulse 237 – Aufnahme der Jugend 198 – Bedeutung der Schule 217 – Bedeutung für Fächerkanon 263 – Bedeutung religiöser Bildung 6 – Bildungskraft 264 – bürgerliche 229, 234 – dauernde Verbesserbarkeit 219 – einheitliche Idee des Guten 169 – Familie als ihr Mikrokosmos 133 – fehlende Einheit 228 – Kultur einer 168 – Leitung 201 – Vorherrschender Gemeingeist 148 Gesinnung 105, 147, 148, 160, 164, 167, 176, 177, 181–183, 186, 187, 189, 191,

2. Sachregister 207–210, 212, 222, 225, 227, 234, 236, 244, 257, 259, 263, 264 – des Lehrers 239 – religiöse 184, 189, 190, 214, 242, 245, 259 – soziale 240 – wissenschaftliche 187, 188 Gestaltgewinnen 14, 19, 117, 118, 126, 174, 249 Glaube – christlicher 103, 105, 106, 108, 109, 111, 118, 171 Gott 64, 78, 80, 97, 107–109, 144, 171, 190, 215, 235, 241, 245, 259 – als Woher schlechthinniger Abhängigkeit 110 – Gegenstand des Gefühls der Erhabenheit 65 – Gemeinschaft stiftendes Handeln 65, 108 – Offenbarung 97, 144, 214 – transzendenter Grund 53, 169, 185, 213, 253, 259 – und Gefühl 68, 69, 77, 79, 98, 104 – Ursprung der Bestimmung des Menschen 2, 64, 89, 104, 106, 108, 118 – Ursprung der dem Sein eingestifteten Ziele 16 – Ursprung der Geschichte 53 – Ursprung des Auftretens großer Männer 53 Gottesbezug 6, 77, 241 Gottesdienst 164, 189, 215, 247, 260 Gut/Güter 132, 134, 135, 146–148, 151–154, 157, 161, 166, 168–170, 187, 227, 231, 234, 235, 244, 246 – Höchstes Gut 134, 166, 169, 241 Gymnastik 206 – Bildung für den Staat 204 – geistige und leibliche 194 Harmonie 167, 203, 208, 211 Hoffnung 62 Individualität 32, 43, 44, 47, 70, 87, 103, 115–117, 124, 130, 138, 141, 161, 163–165, 172, 176, 179, 185, 192, 204, 208, 219, 220, 223, 224, 233, 239, 241, 246, 252

285

– der Geschichte 125 – des Leibes 136 – des Zusammenlebens 131 Interaktionsordnung 132 – Verhältnis zu handelnden Personen 147, 190 Islam 109, 164 Jesus 52, 53, 64, 65, 98, 105, 107–109, 118, 144, 192 Judentum 109, 240 Kirche 82, 165, 199, 218, 236 Kompetenz 10, 215, 250–252, 255, 264 – antwortender Charakter 256 – Aufmerksamkeit 256 – ethische 260 – Kooperation 255 – religiöse 259, 260 – Sinn 258 – Wirtschaften 255 – Wissen 255 Kontemplation 236 Korridor 31, 45 – der Bildungsprozesse 214 – der Entwicklung des Zusammenlebens 168 – der Formen des Zusammenlebens 172 – des Handelns 170, 176 – des Werdens 53, 79, 80, 93 – eines Bildungsprozesses 89, 123 – für Bildung 32 – für das Entwicklungs- und Bildungsgeschehen 250 – individueller Entwicklung 16 – menschlichen Handelns 125 Kultur – als Äquivalent für Sitte 167 – als Güterzusammenhang 168 – Herkunft 173 – stets im Wandel begriffen 220 Kunst 18, 68, 83, 84, 87, 88, 142, 178, 204, 254, 260 Lebensgestalt 2, 7, 64, 68, 80, 82, 83, 96, 97, 101, 127 Lehrer – Ausbildung 224 – Erforderliche Kompetenz 224 – Gesinnung 239

286

2. Sachregister

– Rückgebundenheit seines Handelns 245 – Verhältnis zu Bildungsinstitutionen 230 Leib 180 – Bedeutung für den Staat 204 Leibeskräfte 180, 194 – Inbegriff des leiblichen Bezogenseins 205 Leiblichkeit 11, 232 – Aspekt der Bildung 173, 174 – Erfahrbarkeit des Bedingtseins 213 – Fundament der Selbsttätigkeit 177 – Fundament des Bewusstseins 137 – Verbindung zum Gefühl 73 – Zusammenhang zur Innerlichkeit 174 Liebe 62, 79, 97, 107, 138, 146, 160, 163, 165, 185–187, 190, 208, 209, 228, 230, 235, 239–242, 245 Logos 80, 109, 118 – koinos 188, 209 Lust/Unlust 67–69, 240 Mathematik 199, 225 Medien 152, 254, 255 Missbildung 50, 89, 116, 126, 159, 161–163, 165, 166, 170–172, 257 Naturgesetz 15, 48 Neigung 161, 177, 191, 195, 224, 230, 231, 257, 258 Offenbarung 81, 82, 84, 85, 88, 109, 112, 133, 144, 145, 164, 189, 239, 247 Pflicht/Pflichtethik 125, 146, 153, 188, 230, 231, 233, 237 Pluralismus 4, 261 Rechtsgemeinschaft 133 Reich Gottes 87, 164, 171, 215 Religion – andere 5, 68 – christliche 170, 172 Religionsunterricht 190, 225, 241, 243, 244, 251, 263 – konfessioneller Charakter 263 Richtungssinn 17, 37, 42, 43, 47, 50, 62, 63, 65, 93, 116, 118, 127, 150, 154,

159, 161, 177, 191, 193, 218, 221, 245, 259 Romantik 16, 43, 44, 130 Schönheit 85, 89, 189, 206 Schöpfer 2, 53, 79 – Wille 193 – Wollen und Wesen 164 Schule 184, 186, 236 – Abbildung der gesellschaftlichen Bereiche 243, 244, 246, 262 – allgemeinbildende 200, 225, 227, 232 – Andachtsübungen 242 – Funktion der Vorbereitung auf Gesellschaft 227 – Gemeinschaftssinn 235 – Grenzen ihrer Wirkung 264 – Kein Raum für Totaleindrücke 242 – Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren 263 – Lebens- und Erfahrungsraum 263 – Vermittlungsinstanz 262 – vorbereitende Funktion 217 – weiterführende 232 Skepsis 12, 66, 67, 238 Sport 143, 206, 225 Sprache 86, 150, 180, 196, 197, 202, 254 – als eigener Sinn 197 – als Gesang 203 – analoge Schlüsse 86 – Bedeutung für den Staat 204 – Bedeutung für die religiöse Kompetenz 260 – erlernen 202 – gebildete 200 – Gegenstände der Sprache 198 – geistige und leibliche Seite 202 – Gemeinschaft 133 – im Kontext der anderen Vermögen 194 – Impuls zur Selbstreflexion 201 – Latein und Griechisch 197, 225 – Medium des Denkens 198 – Medium individueller Entwicklung 158 – Muttersprache 197, 198, 225 – Notwendiger Aspekt des Denkens 81 – Richtungssinn 150 – Selbsterkenntnis und Urteilsfähigkeit 201

2. Sachregister – sich daran anschließende Fertigkeiten 181 – soziale Dimension 202 – unauflösliche Pluralität 150, 202 – Verhältnis zum Denken 139, 158 – Zusammenhang mit Gesichtssinn 196 – Zusammenhang zum Geschichts- und Religionsunterricht 225 Staat 130, 132, 151, 170, 204, 228, 229, 246 – als bürgerliche Ordnung 157 – Dimensionen von Gerechtigkeit 149 – Zuständigkeit für Erziehungswesen 228 Szene/szenisch 72, 73, 75, 85, 89, 101, 106, 258 Talent 177, 179, 181, 191, 195, 231–233, 241 Teleologie 16, 17, 123 Temperament 178, 179, 209, 224 Totaleindruck 7, 89, 90, 104–106, 109–111, 124, 213, 215 – Jesu 107, 108 Transzendenz 6, 7, 17, 18, 53, 54, 77, 78, 80, 81, 88, 97, 98, 106, 110, 118, 193, 240, 241 Tugend 67, 146, 147, 149, 154, 160 Universum 91–96, 182 unsittlich 50, 60, 158, 222 Vernünftigkeit – geschichtlich gebunden 6, 261 Volk/Völker 130, 149, 150, 168, 228, 229, 231, 235, 240

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Wahrheit 243 – Ausdruck 213 – bestimmte 214 – Erleben von 66, 68, 184 – Fixierbarkeit von 165 – Gebundenheit an Szenen 258 – Gefühl für 171 – Leben als Ausdruck von 127 – situationsinvariante 238 – situationsübergreifende 117 – über den Menschen 7, 8, 13, 57, 64, 85, 184, 193, 215, 237, 238 – unseres Daseins 100, 114 – Verbreitung 242 – Vernehmen von 165 Waren – Herstellung 156 – Verkehr/Austausch 142, 149, 156, 161 Wechselwirkung 33, 36, 41, 44, 78, 100, 103, 106, 110, 158, 177, 180, 181, 187, 254 – soziale 132, 145, 151 Weisheit 146, 160, 165, 183–185, 208, 209, 211 Werdeprinzip 115, 116 Werkzeug 25, 137, 155, 180, 188 Wissen 26, 45, 73, 75, 76, 140, 144, 150, 162, 195, 224, 225, 254, 255, 259 – höchstes 75 Zeitlichkeit 61, 71, 75, 89, 101 – als Kennzeichen des Bedingten 6 – des Gefühls 71 Zentralanschauung 94–96