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German Pages 243 [244] Year 2009
Barbara Segelken
BILDER DES STAATES
Barbara Segelken
BILDER DES STAATES Kammer, Kasten und Tafel als Visualisierungen staatlicher Zusammenhänge
Akademie Verlag
Einbandgestaltung unter Verwendung von August Fr. W. Cromes „Verhältniskarte", 1819, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung (siehe Abb. 39).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004582-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Dank
7
Einleitung Kunstkammer als Ort sowie als Ordnungs- und Erkenntnisprinzip Staatsbeschreibung und Statistik als Ordnungs- und Regierungskunst
9 13 14
I.
Museologie und Staatsbeschreibung 1. Ordnungsmodelle Vernetzung der Objekte Doppelcharakter des Bildes
19 23 26 28
2. Gedächtnisorte Tafel, Setzkasten, Schrank Verzeichnung der Objekte
33 34 45
3. Staatsverwaltung Nützliche Bilder - „leicht und mit Lust" Konnexion der Dinge
47 51 54
4. Natursystematik als Staatstopografie Formale Ordnungen Bedeutung der Sammlung
62 64 82
5. Der geordnete Raum der (Staats-)Tabelle Fließtext und Feldersystem Diagramm und Karte
89 91 98
6
Inhaltsverzeichnis
II. Kunstkammer und Staat Die Berliner Sammlungen
109
1. Ordnen, Verwalten Verschiebungen im Bezugssystem Das Objekt an sich
111 113 124
2. Präsentieren, Betrachten Anspruch und Utopie Spielort Sammlung
131 134 147
3. Verschenken, Tauschen Sammeln und Begehren Das lebendige Kabinett
159 161 165
4. Ausdifferenzieren, Vernetzen Forschungsstätte und Kunstkammer zugleich Staatstafel und Generaldirektorium
168 169 180
5. Reformieren, Spezialisieren Neuordnen Enzyklopädie und wissenschaftliche Spezialsammlung
183 184 194
Schluss
205
Archivalien Literaturverzeichnis Register der historischen Personen Bildnachweis
211 212 239 243
DANK
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner am Kunstgeschichtlichen Seminar entstandenen Dissertation, die im Juni 2006 an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin zur Promotion angenommen wurde. Die Arbeit wäre nicht ohne die Anregungen und die Unterstützung entstanden, die ich von vielen Seiten erfahren durfte. Mein besonderer Dank gilt Horst Bredekamp, der das Projekt von Anfang an mit viel Enthusiasmus, konstruktiver Kritik und Motivation begleitet und hervorragend betreut hat. Ebenso möchte ich Rüdiger vom Bruch herzlich danken, der das Zweitgutachten übernahm. Im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz halfen mir mit ihrer Sachkenntnis Jörn Grabowski und Barbara Götze. Ebenfalls möchte ich dem Personal des Geheimen Staatsarchivs - Preußischer Kulturbesitz und den stets hilfsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Handschriftenabteilung, des Karten- und Rara-Lesesaals der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz für ihre Unterstützung danken. Für Diskussionen, Hinweise und vielerlei Hilfe danke ich Gundula Avenarius, Nikolaus Bernau, Matthias Bruhn, Axel Cordes, Alexis Joachimides, Uta Kornmeier, Gunvor Lindström, Angela Matyssek, Claudia Rückert, Arnulf Siebeneicker und Michaela Völkel. Besonders Danken möchte ich Anna Minta, Sven Kuhrau, Gisela Eberhardt und Sabine Beneke, die einzelne Kapitel des Manuskripts ausführlich kommentiert und mir während der gesamten Arbeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Heiko Hildebrandt danke ich herzlich für eine entspannte Zusammenarbeit in Sachen Layoutfragen und für die Herstellung der Druckvorlage, Katja Richter, Manfred Karras und Sabine Cofalla vom Akademie Verlag für ihr Engagement bei der Produktion dieses Buches. Und schließlich danke ich Hannes und Insa sowie Antje, Eva, Inga, Maren und Sabine ganz herzlich für ihre Unterstützung und ihren unbeirrbaren Glauben daran, dass dieses Projekt zu Ende gebracht wird.
EINLEITUNG
Seitdem sich die Sammlungsgeschichte in den 1980er Jahren als ein eigenständiges Forschungsfeld der Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zu etablieren begann, haben Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion und der politischen Wirksamkeit von Sammlungspraktiken nichts an Aktualität und Relevanz verloren. Das „Kunstforum international" stellte nochmals 2005 die Tragfähigkeit, Möglichkeiten und Grenzen des Prinzips der Kunstkammer anhand aktueller künstlerischer und akademisch wissenschaftlicher Positionen zur Diskussion.1 Ausstellungen wie „Weltharmonie", „Theater der Natur und Kunst", „Dinge in der Kunst des XX. Jahrhunderts", alle drei im Jahr 2000 eröffnet, oder „Anders zur Welt kommen", 2009 eröffnet, haben gezeigt, dass verschiedenste Objekte aus dem geistes-, naturwissenschaftlichen oder alltäglichen Bereich in ihrem spezifischen Eigenleben, in ihren Ordnungszusammenhängen und in ihrer Verfügbarkeit den Prozess der Bedeutungszuschreibung und Sinnverschiebungen zu katalysieren und dynamisieren vermochten. 2 Einen der ersten Versuche, das Sammlungs- und Museumswesen in Deutschland zu skizzieren, unternahm 1833 der Bibliothekar Gustav Klemm. In Abgrenzung zu den älteren Kunst- und Naturalienkammern charakterisierte er die Ordnungsbestrebungen des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts als ein Vorgehen, das die vorhandenen Schätze sortiere, um dann „aus einem Chaos mehrere getrennte geschlossene Ganze zu bilden." Die so genannten Naturalien galt es von den Gegenständen der Kunst und den historischen Objekten zu trennen, so dass das Auge des Gelehrten nicht „an dem chaotischen Gewirr ermüde", wie es bei den früheren Sammlungen der Fall gewesen wäre. Aufgrund dieser Aufteilung, so Klemm weiter, bildeten beispielsweise in Dresden die vierzehn Museen ein „grosses, sich gegenseitig erläuterndes, in einander eingreifendes organisches Ganzes." 3 Klemm sah also in den Kunstkammern des 17. und 18. Jahrhunderts eine phantastische Ansammlung von Gegenständen, in der sich in seinen Augen Chaos und Irrationalität manifestierten. Die Zusammenschau böte keine Orientierungsmöglichkeiten und der übergreifende Sammlungszusammenhang, dem eine entsprechende Systematik fehle, liefere keinen weiteren Erkenntnisgewinn. Für Klemm spielten die frühneuzeitlichen Sammlungspraktiken weder im politisch ökonomischen, noch im wissenschaftlichen Kontext eine weitere Rolle; die Ordnungen wurden weder als Strategien erkannt, noch als weiter erklärenswert erachtet. 1
KUNSTFORUM 2 0 0 5 .
2
K Ö N I G - L E I N / W A L Z 2 0 0 0 ; BREDEKAMP/BRÜNING/WEBER 2 0 0 0 ; GASSNER/ROSENTHAL 2 0 0 0 .
3
KLEMM 1838(zuerst 1833 erschienen), 234, vorheriges Zitat 233. Klemm legte in seiner Abhandlung den Schwerpunkt auf die naturwissenschaftlichen und technischen Sammlungen und Museen.
10
Einleitung
Ähnlich urteilte Franz Kugler in seiner „Beschreibung der Kunstschätze Berlins und Potsdams" von 1838. Kugler, Kunsthistoriker und Professor an der Berliner Akademie der Künste, schilderte rückblickend die Berliner Kunstkammer als eine Ansammlung verschiedenster Gegenstände. Prachtgeräte, Kuriositäten, Antiken, Münzen, so genannte Naturalien, „ethnografische Merkwürdigkeiten" sowie mathematische und physikalische Instrumente - „alles Interessante, die Neugier und das Nachdenken fesselnde" - seien „ohne tieferen, wissenschaftlichen Plan [...] auf einem und demselben Schauplatz zusammengestellt." Erst in jüngerer Zeit sei mit dem Anwachsen der einzelnen Abteilungen und dem gesteigerten Bedürfnis nach wissenschaftlicher Behandlung „die wirkliche Trennung des den verschiedenen Disciplinen Angehörigen erfolgt."4 Auch Kugler setzte ein ungeordnet und unwissenschaftlich erscheinendes Nebeneinander unterschiedlichster Objekte gegen eine Aufstellung wissenschaftlich überprüfiter Objektreihen, die in einzelne Spezialdisziplinen gegliedert wurden. Was auf diese Weise weitgehend als überkommen und rückständig abgetan wurde, erhielt an der Wende zum 20. Jahrhundert eine neue Aktualität und Bestimmung. In der Forschungsliteratur zur frühen Sammlungsgeschichte erschienen in den 191 Oer und 1920er Jahren dazu mehrere Einzeluntersuchungen: Von kunsthistorischer Seite leistete Julius Schlosser mit seiner Abhandlung zu den Kunstkammern der Spätrenaissance von 1908 einen grundlegenden Beitrag zur Geschichte dieses Sammlungstyps.5 1928 erschien Rudolf Berliners Aufsatz zur älteren Geschichte der Museumslehre, in dem er die Sammlungsstruktur der Kunstkammer im Kontext der museologischen Schriften als komplexes Phänomen unterschiedlicher Gegenstandsgruppen beschrieb.6 Im Hinblick auf die Geschmacks- und Stilgeschichte befasste man sich intensiv mit dem grundsätzlichen Verhältnis von Sammlern zu Künstlern und Kunstobjekten.7 Zeitgleich wurden das Museum und seine Präsentationsformen von verschiedenen Seiten hinterfragt.8 Die einsetzenden Diskussionen führten dazu, dass Fragen nach der Bedeutung der Objekte, ihren Ordnungs- und Inszenierungsmöglichkeiten sowie nach dem Produzenten, Konservator und Vermittler dieser Bedeutungen stärker in den Mittelpunkt musealer Praxis und ihrer Erforschung rückten. Vor allem von künstlerischer Seite wurde kritisiert, dass das einzelne Objekt in der nach historischen, archivarischen oder ästhetischen Gesichtspunkten geordneten musealen Sammlung lediglich als Katalognummer einer illustrierten Kulturgeschichte diene.9 Die Kunstkammer und ihre sinnstiftenden Ordnungs- und Erklärungsmuster wurden in diesem Kontext gewissermaßen neu beziehungsweise wieder
4
5
KUGLER 1 8 3 8 , X I I . SCHLOSSER
auch
1978 (zuerst 1908 erschienen). Im Kontext einer Entwicklungsgeschichte des Museum 1904 zum Sammlungstyp der Kunstkammer.
MURRAY
6
BERLINER
7 8
So etwa: D O N A T H 1911; S C H E R E R 1913; B R I E G E R 1918; B R I E G E R 1931. Zu den Reformbewegungen und Inszenierungsstrategien des Kunstmuseums um die Jahrhundertwende:
1928.
JOACHIMIDES 1 9 9 5 ; JOACHIMIDES 2 0 0 1 .
9
So kritisierten Künstler wie Andre Malraux, Marcel Broodthaers oder Donald Judd, wenn auch aus unterschiedlicher Motivation, mit ähnlichen Argumenten das Verhältnis zwischen einzelnem Werk und seiner Einordnung in den musealen Kontext. M A L R A U X 1 9 5 7 ; B R O O D T H A E R S 1 9 7 2 ; J U D D 1 9 8 9 .
11
Einleitung
entdeckt. Mit ihrem integrativen Ansatz lieferte sie ein historisches Modell, das Pluralität, Heterogenität und Differenz in sich vereinigte. Gerade die charakteristischen Verfremdungen und Verschlüsselungen auf formaler und semantischer Ebene - von Klemm als eine ermüdende Herausforderung für den Betrachter empfunden - sowie das Prinzip der Vieldeutigkeit gegenüber der Eindeutigkeit haben seit den 1980er Jahren zu einem andauernden Interesse an diesem Sammlungstyp geführt. Nach vereinzelten monographisch rekonstruierenden Abhandlungen zu den großen Sammlungen wie sie in Prag, auf Schloss Ambras bei Innsbruck oder in Dresden angelegt wurden,10 haben sich verstärkt Untersuchungen mit interdisziplinär geprägtem Forschungsansatz dem Phänomen Kunstkammer gewidmet. Neue Impulse kamen vor allem aus der Anthropologie, der Wissenschaftsgeschichte und der Philosophie." Poststrukturalistische und postmoderne Ansätze rückten den Vorgang der Konstruktion und der Produktion von gesellschaftlichen Phänomenen in den Vordergrund. Maßgeblichen Anstoß gab der von Oliver Impey und Arthur MacGregor 1985 veröffentlichte Band, der verschiedene Kunstkammern vor- und als europaweites Phänomen herausstellte.12 Parallel zur Erforschung der Kunstkammer setzte ebenfalls in den 1980er Jahren eine Welle von Untersuchungen zum Museum ein, welche die Institution in ihrem Selbstverständnis und historischen Zusammenhang reflektierten.13 In der nachfolgenden Forschung standen Fragen nach den spezifischen Darstellungsverfahren, nach den Praktiken im Ordnungsprozess und nach der historischen Verortung im Mittelpunkt.14 Inszenierung und räumliche Gestaltung wurden als Ausdruck herrschaftlicher Repräsentationsansprüche und wissenschaftlichen Studiums interpretiert.15 Sowohl von künstlerischer als auch von akademischer Seite arbeitete man sich an der Verfügbarkeit, an Handhabung und Praktiken von Objekten im Kontext von Konventionen und Sinnstiftungen ab. Historische Wissens- und Ordnungssysteme rückten in den Blick der Forschung und mit ihnen die Beziehungen zwischen Begriffen und Dingen.16 Zentrale Bedeutung gewann der Begriff der Inszenierung, der jegliche Formen der (musealen) 10
13
1978a; D A C O S T A K A U F M A N N 1978b zur Kunstkammer Rudolfs I I . ; SCHEICHER 1985; SCHEICHER 1993 zu den Sammlungen der Habsburger; M E N Z H A U S E N 1977; M E N Z H A U S E N 1985 sowie G U T F L E I S C H / M E N Z H A U S E N 1988 zur Dresdener Kunstkammer; B A L S I N G E R 1970 zu den Kunstkammern in Deutschland, Frankreich und England. So etwa durch Claude Levi-Strauss, Thomas Kuhn und Michel Foucault. B U R K E 2 0 0 1 , 1 5 . I M P E Y / M A C G R E G O R 1 9 8 5 ; Forschungsbericht zur Sammlungsgeschichte bis 1 9 9 4 bei H E R K L O T Z 1 9 9 4 . Stellvertretend seien hier genannt: DILLY 1 9 7 9 ; G R A S S K A M P 1 9 8 1 ; G A E H T G E N S 1 9 9 2 ; JOACHIMIDES 1 9 9 5 ;
14
POMIAN
15
D A C O S T A KAUFMANN 1 9 9 3 ; D A C O S T A KAUFMANN 1 9 9 5 ; FINDLEN 1 9 9 6
DACOSTA KAUFMANN
1979;
11 12
SCHEICHER
JOACHIMIDES 2 0 0 1 ; K U H R A U 2 0 0 5 ; SAVOY 2 0 0 6 .
1988; B R A U N G A R T 1989; B R E D E K A M P 1993a; G R O T E 1994; P E A R C E 1994; F I N D L E N 1994; B U R K E 2001; F E L F E 2003a; S C H R A M M 2003a; S C H R A M M 2003b. Zum Thema Sammeln in psychoanalytischer, literaturanthropologischer, phänomenologischer Perspektive: M U E N S T E R B E R G E R 1995;ASSMANN 1998; SOMMER
16
1999.
zur Herrschaftsrepräsentation und wissenschaftlichen Nutzungen der Sammlungen. So etwa E C K E R / S T A N G E / V E D D E R 2 0 0 1 ; TE H E E S E N / S P A R Y 2 0 0 1 ; F E L F E / L O Z A R 2 0 0 6 ; B A L 2 0 0 6 ; F E L F E / W A G N E R [im Druck], B R E D E K A M P 1993a zur verzeitlichenden Perspektive der Kunstkammern.
12
Einleitung
Präsentation von Objekten umfasste - seien sie nun aufwendig und von daher leicht als solche zu identifizieren oder eher unauffällig und damit den Sehgewohnheiten und Wahrnehmungskonventionen entsprechend gestaltet. Ebenso rückte der Aspekt der Erzählung stärker in den Blick. Die Sammlung wurden dabei nicht als Medium gesehen, das eine Geschichte wiedergab, sondern im Zusammenhang mit den Präsentationsformen ein Narrativ entwarf. Die Anordnung von Bildern, Objekten, Schautafeln, Ausstellungsmöbeln in einer Ausstellung wurde als visuell anschauliche Zusammenstellung betrachtet, die eine Erzählung und gleichzeitig im Prozess des Betrachtern und Lesens ihre Aktualisierung und Modifizierung produzierte. Vor diesem Hintergrund wurde Sammeln und Ordnen als ein komplexer kultureller Handlungszusammenhang betrachtet, in dem sich - von vielfältigen Interessen und Praktiken geprägt - kunsthistorische, wissenschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte überlagerten. Vorliegende Untersuchung knüpft an die politische Funktion des Sammeins an und versucht, ihr eine weitere Ausrichtung zu geben. Erörtert werden Argumentationsstrategien aus Museologie und Staatsbeschreibung mit Blick auf Handhabung und Aufbereitung der gesammelten Informationen und Objekte. Welche Rolle spielte dabei die Praxis des Sammeins und Ordnens? Welche Verfahren kamen zur Anwendung? Mit welchen Modellen wurde in Museologie und Staatsbeschreibung operiert? Am Beispiel der Kunstkammer und der neuzeitlichen Statistik soll die enge Verbindung von Museologie und Staatsbeschreibung für das späte 17. und 18. Jahrhundert aufgezeigt werden. Wurde der Staat in der Regel durch den Körper des Regenten und dessen Repräsentationssysteme sichtbar, stehen hier Visualisierungen staatlicher Zusammenhänge im Zentrum, die nicht unmittelbar den Körper des Königs betreffen. Die Kunstkammern mit ihren Sammlungen universalen Zuschnitts dienten neben der Nobilitierung und Legitimation von Herrschaft dazu, die Welt im verkleinertem Maßstab abzubilden, Beziehungen zwischen den Dingen herzustellen und sie in geordnete, qualitative Abfolgen zu bringen. Die Statistik als eine spezifische Form der Staatsdarstellung dokumentierte ein Wissen, das den Staat aus systematisch gesammelten Daten, Fakten und Erfahrungswerten erfasste. Sowohl in der Kunstkammer als auch in der Statistik sollten Verhältnismäßigkeiten sichtbar gemacht werden; die Vergleichbarkeit beider Bereiche ergibt sich aus dem grundsätzlich gleichen Anspruch: Es galt jeweils einen Überblick über ein kaum zu überblickendes Feld zu gewinnen. Die Zusammenstellung der gesammelten Daten in der Statistik eröffnete einen Raum für politische Entscheidungen und Handlungen, die sich an den staatlichen Interessen orientierten. Es wird darum gehen, anhand der Kunstkammer, des Setzkasten, der Staatstafel und der Tabelle zu zeigen, inwiefern diese ebenso ein Bild des Staates zu konstruieren suchten. Zwei Vorannahmen dienen dabei als Leitfäden: 1. Sammlungspraktiken werden als Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden, die konstituierenden Anteil an eben diesen Verhältnissen hatten; sie bildeten nicht nur ab oder spiegelten wider, sondern sie produzierten sie unweigerlich mit. Eine Sammlung ist in diesem Sinne als ein prozesshaftes, gegenwärtiges Geschehen zu verstehen.
13
Einleitung
2. Sammeln und Ordnen umfasst einen Handlungszusammenhang, an dem verschiedene Personengruppen (Sammlungsbesitzer, Produzent, Betreuer, Besucher etc.) mit unterschiedlichen Interessen beteiligt waren und an dem verschiedene Aspekte (Präsentation, Rezeption, Formen der Verzeichnung, Einbindung in Bibliothek, Werkstatt, Labor, Garten etc.) mitwirkten. Die Sammlungskonzepte erschöpfen sich nicht darin, Anleitungen und Vorgaben zu formulieren, wie dieses oder jenes Objekt zu sortieren sei, vielmehr beschreiben sie ein Beziehungsgefüge von Handlungen, an dem die Bestände Anteil hatten und eingebunden waren.
Kunstkammer als Ort sowie als Ordnungs- und Erkenntnisprinzip In dem Bestreben, sich die Welt anzueignen und sie zu erklären, wurden in den Kunstkammern die gesammelten Gegenstände sortiert und in einem geordneten Zusammenhang zur Anschauung gebracht.17 Die Bezeichnung „Kunstkammer" ist dabei auf mehreren Ebenen zu definieren. Zum einen bezog sie sich auf einen Ort, an dem eine konkrete Sammlung untergebracht war. Zum anderen kann „Kunstkammer" aber auch als Ordnungsprinzip an sich verstanden werden, das Beziehungen zwischen den Objekten her- und darstellte und somit losgelöst vom Ort der Sammlungen seine Bedeutung erhielt, gewissermaßen als Prinzip. Verschiedene Formen kirchlicher und profaner Sammlungen, die seit dem 16. Jahrhundert im höfischen Kontext, privat von Vertretern des Adels oder von Bürgern angelegt wurden, repräsentierten den Wunsch einen Überblick über die Welt zu erhalten. Dem Glauben, sich ein enzyklopädisches Wissen aneignen zu können, lag dabei von Anfang an das Paradox zugrunde, dass die Objekte in ihrer Bedeutung nicht ein-eindeutig zu bestimmen waren und sich zum Teil außerhalb der Konventionen und der gewohnten Wahrnehmungsmuster bewegten, sie jedoch durch eine systematische Erschließung als gesamtes menschlichen Wissen dienstbar gemacht werden sollten. Beschrieben und theoretisiert wurden die Bedeutungsebenen der Kunstkammer in den zeitgleich verfassten museologischen Schriften. Die Museologie, die man als Wissenschaft im Allgemeinen eher mit dem 19. und 20. Jahrhundert assoziiert, wird als Ordnungswissenschaft verstanden, die sich parallel mit dem Aufkommen der Kunstkammer entwickelte. Sie markiert die Schnittstelle von Theorie und Praxis im Sammlungs- und Ordnungsprozess; als museologische Schriften werden jene Texte begriffen, die sowohl theoretische Reftektionen über das Sammeln und Ordnen beinhalten, als auch konkrete Vorgaben zur Aufbewahrung, Verwaltung, Präsentation und Vermittlung der Bestände formulierten. Viele Sammler des 16. und 17. Jahrhunderts publizierten Kataloge zu ihren Sammlungen, die sowohl Inhalt und Reichtum wie auch deren Systematik darlegten. Die Schriften lieferten zum einen Modelle dafür, wie eine Sammlung beispielhaft aufgebaut und eingerichtet 17 Zu den Begriffen Kunstkammer/Museum: S T U R M 1704; Z E D L E R 1737, Bd. 15, Sp. 2143-2144; Z E D LER 1739, Bd. 22, Sp. 1375-1378; K R Ü N I T Z 1801, Bd. 55, 374-425; K R Ü N I T Z 1805, Bd. 98, 449-525; SCHEICHER 1 9 9 6 ; A B T
1996.
Einleitung
14
werden konnte. Zum anderen bilanzierten sie das theoretische und praktische Wissen in Bezug auf die zusammengetragenen Objekte.18 Die Bestände wurden ihren Erscheinungen nach beschrieben, aus denen sich Gemeinsamkeiten ableiten und Gruppen zusammenfassen ließen. Einzeldarstellungen trug man zusammen und gliederte sie in Ober- und Untergruppen, wobei sich die Ordnung an verschiedenen Merkmalen wie Erscheinungsbild, formalen oder strukturellen Ähnlichkeiten, Gebrauch und Verwendung, Materialität, topografischen Gesichtspunkten oder chronologischen Abläufen orientierte. Neben diesen Sammlungsbeschreibungen verfassten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen Abhandlungen, in denen sie unter dem Eindruck der Sammlungen, die sie besucht hatten, allgemeine Ordnungsvorstellungen und Vorgaben zur Einrichtung theoretisch reflektierten. Als frühestes und beispielgebendes Werk gilt Samuel Quicchebergs „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi" von 1565, das den Beginn der Museumslehre in Deutschland markiert und mit dem die vorliegende Untersuchung einsetzt. In Deutschland erschienen in der Nachfolge Gabriel Kaltemarckts „Bedenken wie eine Kunst-Cammer aufzurichten seyn möchte" (1587), Johann Daniel Majors „Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalie-Kammer ins gemein" (1674), Daniel Wilhelm Mollers „Commentatio de techno-physiotameis sive germanice von Kunst- und Naturalien-Kammern" (1704), Leonhard Christoph Sturms „Die Geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer" (ebenfalls 1704) und Caspar Friedrich Neickelius' „Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum" (1727).
Staatsbeschreibung und Statistik als Ordnungs- und Regierungskunst Die Bedeutung der statistischen Datenerhebung, die im Hinblick auf Bevölkerung, Steuerpflicht und Warenhandel bereits in der Antike formuliert worden war, erhielt mit der Gründung souveräner Staaten im 17. Jahrhundert eine neue Qualität. Mit zunehmender Konkurrenz der Mächte verlor die zuvor universalistische Rechtskonzeption des politischen Denkens ihre verbindliche integrative Kraft und Funktion.19 Fragen nach dem Verhältnis der Staaten untereinander wurden aufgeworfen, deren rechtliche Grundlagen es von theoretischer Seite aus neu zu bestimmen galt; Staatsdenken und Staatsverständnis standen also in Wechselwirkung mit der Theoriebildung und den gegebenen innen- und außenpolitischen Machtverhältnissen.20 18 Bekannte Beispiel sind Ferrante Imperatos „Dell'Historia Naturale" von 1599, Francesco Calzolaris „Musaeum Francisci Calceolari" von 1583 (erneut 1622 beschrieben), Ole Worms „Museum Wormianum" von 1655, Ferdinando Cospis „Museo Cospiano" von 1677, Athanasius Kirchers Sammlungsbeschreibung im „Romani Collegii Societatis Jesu Musaeum Celeberrimum" von 1678 und Johann Ernst Hebenstreits „Museum Richterianum" von 1743. 19 STOLLEIS 1987; STOLLEIS 1990 zur Entstehung des modernen Staats, zur politischen Theorien und zur Bedeutung der Gesetzgebung; ASCH/FREIST 2005 zur Staatenbildung aus kulturhistorischer Perspektive; WARNKE 1992; HOFMANN 1997; BREDEKAMP 2000b; BREDEKAMP 2003 zu den visuellen Strategien staatstheoretischer Lehren. COLLIN/HORSTMANN 2004 zur Bedeutung von Wissen für die Staatstätigkeit. 20
BREDEKAMP 2 0 0 3 ; REINHARD 1 9 9 9 ; VOGL 2 0 0 2 ; JÖCHNER 2 0 0 3 .
Einleitung
15
Im Bereich der politischen Staatsordnung konstituierte sich ein Wissensfeld, das eine wesentliche Grundlage des militärischen und politischen Handelns darstellte.21 Es bildete neben den Bevölkerungs- und Güterverhältnissen auch die staatlichen Verwaltungsstrukturen ab. Statistik und Staatsbeschreibung bereiteten dieses Wissen auf und stellten es zur Verfügung. Seit dem 17. Jahrhundert wurden verstärkt die gesammelten Informationen über einzelne Landesregionen, Staaten oder ganze Staatsverbände in Form von Verwaltungsaufzeichnungen und Berichten zu handbuchartigen Staatsbeschreibungen zusammengefasst.22 Die Zusammenstellung des Materials erfolgte nach qualitativen und klassifikatorischen sowie zunehmend auch quantitativen Kriterien, mittels derer die Sachverhalte erfasst und in eine gegliederte Struktur gebrachten wurden. Dabei stellte die Statistik das methodische Verfahren der Datengewinnung dar. Die Statistik entwickelte sich zu einer Form der Staatsbeschreibung und wirkte prägend auf verschiedene ökonomische Schulen (u. a. Kameralistik, Merkantilismus, Physiokratie), auf Universalgeschichte, politische Publizistik und Reiseliteratur.23 Die Notwendigkeit, eine genauere Vorstellung von den landeseigenen Ressourcen zu erhalten, führte dazu, dass sich verschiedene statistische Methoden entwickelten. Neben die Beschreibung der Gegenwart trat die zahlenmäßige Durchleuchtung historischer Abläufe, die versuchte, Gesetzmäßigkeiten des Sozialverhaltens festzustellen.24 In der Erfassung, Gruppierung und systematischen Darstellung wurden Tatbestände erschlossen, die sich aus einer großen Anzahl von Einzelerscheinungen ergaben. Auf diese Weise wurden wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Verhältnisse in messbare Größen, Mengenbegriffe und Zahlen übersetzt. Die Aufzeichnungstechniken entwickelten sich zu einer spezifischen Form der Staatstechnologie und Regierungskunst.25 Inwiefern auch bei der Kunstkammer die Praxis des Sammeins und Ordnens Ausdruck eines politischen Handelns war, welches das jeweilige Wissen in den Dienst der staatlichen Interessen stellte, wird hier in zwei aufeinander aufbauenden Teilen erörtert. Dabei geht es um Modi der Verzeichnung, der Präsentation und der Inszenierung sowie um die Beweglichkeit der Sammlungsbestände und neue Bedeutungszuweisungen - also, um immer noch zentrale Fragen der Sammlungsgeschichte. Der erste Teil arbeitet anhand von Quellentexten die engen Bezüge von Museologie und Staatsbeschreibung heraus, wobei der Schwerpunkt insbesondere auf den Argumentationsstrategien und Verfahrensweisen liegt. Ausgehend von der Staatstabelle als einer spezifischen Form der Staatsdarstellung, die der Verwaltungsfachmann Friedrich Anton von Heinitz 1785/86 publizierte, wird der Umgang mit gesammelten Informationen und
22
VOGL 2 0 0 2 , 5 5 - 5 9 sowie VOGL 2 0 0 0 , 2 9 4 . Zur Geschichte der Staatsbeschreibung: RASSEM/STAGL
23
RASSEM/STAGL 1 9 8 0 .
21
1994.
24 Zu den Verfahren der politischen Arithmetik, Kausal- und mathematischen Statistik sowie zur Einfuhrung der Statistik an den Hochschulen (Universitätsstatistik): K E R N 1 9 8 2 ; HERRLITZ/KERN 1 9 8 7 ; NIKOLOW 2 0 0 1 . 25
SIEGERT 2 0 0 3 , 2 1 - 1 9 0 ,
insb.
50-51.
16
Einleitung
Objekten aus museologischer Perspektive untersucht.26 Im Hinblick auf die hier als These aufgestellte Analogie von Museologie und Staatsbeschreibung werden die spezifischen Verfahren geschildert, die dazu dienten, die Ordnungsvorstellungen umzusetzen. Wesentliche Quellentexte sind die museologischen Schriften Samuel Quicchebergs (1565) und Johann Daniel Majors (1674/1688) sowie Gottfried Wilhelm Leibniz' Abhandlung über die Staatstafel (1680) und Carl von Linnes Ordnung des Natursystems (1730er/40er Jahre). Gemeinsam ist diesen Schriften, dass sie sowohl die ordnungstechnischen Vorgänge in den Prozess des Erkenntnisgewinns, als auch die Praxis des Sammeins und Ordnens selbst in den Kontext staatlicher Interessen stellten. Die Überlegungen der Autoren basieren jeweils auf einem Sammlungskonzept, zugleich thematisieren sie alle - wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten - die Verknüpfung der verschiedenen medialen Ebenen Schrank, Kasten, Katalog, Inventar, Bild und Bildarchiv, die im Verbund miteinander gesehen wurden. Anliegen dieses ersten Teils ist es, die Parallelen zwischen dem in der Kunstkammer angewendeten Kasten- und Fächersystem und dem Speichermedium Tafel und Tabelle aufzuzeigen. Kammer, Kasten, Tafel und Tabelle als Ordnungseinheiten dienten zur Bewältigung und sukzessiven Verdichtung umfassender Objekt- und Datenmengen. Dabei implizierten sie bestimmte Steuerungs- und Regelungsvorgänge und schufen die Voraussetzungen für ein weiteres operationales Handeln mit der gesammelten Materie.27 Die grafischen Darstellungen im Schaubild der Tabelle, des Diagramms oder der Karte werden dabei nicht in Hinblick auf ihren onthologischen Status, sondern auf ihre formale Leistungsfähigkeit in verschiedenen Gebrauchskontexten befragt.28 Die Verknüpfung von Informationen in Tabelle, Diagramm oder Karte als Teil einer Überzeugungsstrategie visualisiert zugleich auch immer ein Set von Beziehungen.29 Der systematischen Betrachtung folgt im zweiten Teil der Bezug auf ein historisches Beispiel. Anhand der Berliner Kunstkammer werden die Wechselbeziehungen von Sammlung und Staat auf praktischer Ebene aufgezeigt. Im Zentrum stehen die Zeiträume um 1700 und um 1800, da sich um die jeweiligen Jahrhundertwenden maßgebliche Veränderungen im Staatswesen mit entsprechenden Konsequenzen für die Sammlungen der Kunstkammer ereigneten. Gerade die Situation Brandenburg-Preußens als zusammengesetzter Territorial26 Heinitz' Staatssystematik und die Bedeutung des Sammeins und Ordnens spielen auch im zweiten Teil, im Zusammenhang mit der Berliner Diskussion, eine wichtige Rolle. 27 Zur Bedeutung des Kastens in erkenntnistheoretischer, pädagogischer, marktwirtschaftlicher und mediengeschichtlicher Perspektive: L U H M A N N 1981; TE H E E S E N 1997a; TE H E E S E N 1999; P E T S C H A R / STROUHAL/ZOBERNIG 1999; M Ü L L E R - W I L L E 2001; KRAJEWSKI 2002; TE H E E S E N / D E M A N D T 2007. 28 Seit 2003 erscheint die von Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner herausgegebene Zeitschrift „Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik", die das Augenmerk auf die formalen Leistungen des Bildes unterschiedlicher Herkunft legt; ferner B R E D E K A M P 2008; BRUHN 2008, 161-175. 2 9 Stellvertretend seien hier genannt zur Tabelle: G O O D Y 1 9 7 7 ; H I L G E R S / K H A L E D 2 0 0 4 ; BRENDECKE 2 0 0 3 ; B R E N D E C K E 2 0 0 4 ; zum Diagramm: B O N H O F F 1 9 9 3 ; G O R M A N S 2 0 0 0 ; B O G E N / T H Ü R L E M A N N 2 0 0 3 ; SIEGEL 2 0 0 9 ; zur Karte: N I K O L O W 1 9 9 9 ; N I K O L O W 2 0 0 1 ; V E L M I N S K I 2 0 0 6 ; übergreifend: G U G E R L I / O R L A N D 2 0 0 2 ; BREDEKAMP 2 0 0 8 .
Einleitung
17
Staat zum Ende des 17. Jahrhunderts und die Entwicklung der preußischen Monarchie ist ein anschauliches Fallbeispiel, anhand dessen sich zeigen lässt, wie eng die Sammlungen mit den politischen Verhältnisse und Interessen verknüpft waren. Ordnung und Umgestaltung der Sammlungsbestände im Kontext der neugegründeten Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen sowie deren Reformierung werden im Zentrum stehen. Der zeitliche Rahmen spannt den Bogen von der Rangerhöhung des brandenburgischpreußischen Herrscherhauses zum Königtum bis zu den Reformbestrebungen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzten. Die Kunstkammer wird auf der Grundlage der unterschiedlichen Quellen Inventar, schriftliche und bildliche Darstellung untersucht. Es steht also weniger ein einzelnes Objekt oder die Rekonstruktion von dem, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Sammlungen vorhanden war, im Vordergrund, als vielmehr die verschiedenen Medien, mittels derer die Sammlungen in ihren verschiedenen Facetten begreifbar und als ein bewegliches Gefuge veranschaulicht werden sollen.
I. MUSEOLOGIE UND STAATSBESCHREIBUNG
Der Verwaltungsfachmann und Ökonom Friedrich Anton von Heinitz, der 1777 als Leiter des Berg- und Hüttendepartements in preußische Dienste trat, stellte in seinem 1785 publizierten „Essai d'economie politique" in Form von Tabellen eine Übersicht über die gesamte Staatsökonomie dar. 1786 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Tabellen über die Staatswirthschaft".1 Beiden Ausgaben ist auf den Titelblättern ein Sallust-Zitat aus einem Brief an Cäsar über die Ordnung des Staates beigegeben. Demnach sei dafür Sorge zu tragen, dass man wisse, wie viel an Waffen, an Männern und an Geldern der Staat besitze.2 Das Zitat illustriert die Vorstellung, dass erfolgreiche Staatsführung und Staatsordnung vom Wissen davon abhängig war, über welche militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten der Staat verfüge. Um diese Abhängigkeit anschaulich zu machen, entwarf Heinitz vier Tabellentafeln, die sich jeweils aus bis zu drei Tabellen zusammensetzen (Abb. 1 ^ ) . Gemeinsam geben sie Auskunft über den Bevölkerungszuwachs, die soziale Ordnung, den Ertrag der Landwirtschaft, Steueraufkommen und Staatseinnahmen.3 Es handelt sich also um eine spezifische Form der Staatsbeschreibung, die sich der Tabellenform als Darstellungsmodus bediente. Die Tafeln sind auf großformatige Blätter gedruckt, die an einer Randseite in den Text eingefügt sind und auseinandergefaltet werden müssen. Jedem Blatt folgt ein erläuternder Text. Die Tabellen selbst gliedern sich in Tabellenkopf, Unterkopfzeile und Tabellenfiiß. Durch ein System sichtbarer und unsichtbarer Linien wird das Datenmaterial zu Teilmengen angeordnet, die ihrem Inhalt nach voneinander abgesetzt oder zu einer Einheit verbunden werden. Optisch durch eine 1 Vollständiger Titel der deutschen Ausgabe: Tabellen über die Staatswirthschaft eines europäischen Staates der vierten Größe, nebst Betrachtungen über dieselben, Leipzig 1786 (im Folgenden: H E I N I T Z (Tabellen) 1786a). 2 Der Text auf dem Titelblatt lautet: „In republica cognoscenda multam magnamque curam habui, uti quantum armis, viris, opulentia, ea posset, cognitum haberem"; Sallust. ad Caesar, re republ. ordin epist. II. c. I. 3 Titel der Tabellen: „Erste Tabelle. Über die Staatswirthschaft eines Staates, dessen Bevölkerung und Vertheilung der Einwohner in ihre verschiedenen Wohnplätze, nebst einer Tabelle vom Nationalfleiß derselben."; „Zweite Tabelle. Über die Fruchtbarkeit und den Ackerbau des Staats und das nöthige Getraide zur Nahrung der Einwohner und ihrer Pferde in jeder Provinz."; „Dritte Tabelle. Über die Einnahmen und Ausgaben der verschiednen Classen, welche den Schatz des Staats ausmachen."; „Vierte Tabelle. Der Staatswirthschaft eines Staates über das ein- und ausgehende bare Geld, um zu beurtheilen, ob der Nationalreichthum sich vermehre oder vermindere."
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Museologie und Staatsbeschreibung -H
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Abb. 1. Friedrich Anton von Heinitz, Erste Tabelle. Über die Staatswirthschafit eines Staates, dessen Bevölkerung und Vertheilung der Einwohner in ihre verschiedenen Wohnplätze, nebst einer Tabelle vom Nationalfleiß derselben, 1786
größere Schrifttype hervorgehoben sind im Tabellenkopf die Überschriften als Inhaltsangaben gesetzt. In der darunter folgenden Unterkopfzeile wird die Einteilung der ersten Ordnung jeweils weiter differenziert. In dem abschließenden Tabellenfuß wird das Datenmaterial in Schriftform und durch Zahlangaben aufgeschlüsselt. In der Unterkopfzeile und im Tabellenfuß werden zudem zur weiteren Differenzierung oder Zusammenfuhrung der Datenteilmengen geschweifte Klammern eingesetzt. Nach dem Stand damaliger Satztechnik gehörte der Druck von Tabellen zu den kompliziertesten Vorgängen des Druckwesens. Notwendige Voraussetzungen für die Anlage einer Tabelle waren aufwendige Rechenverfahren und Kompositionsüberlegungen, nach denen das Zusammenspiel von horizontalen und vertikalen Spalten berechnet wurde.4 Inhaltlich gleichgewichtige Spalten wurden gleich groß gesetzt. Die Komplexität einer Tabelle war abhängig von den benutzen satztechnischen Standards, die wiederum von den zu ordnenden Inhalten bestimmt wurden. Die Zerlegung des Datenbestands in ein4 Zum Vorgang des Setzens, zur Berechnung des Manuskripts und Organisation des Satzes: GIESECKE 1998, 90-105. Zunächst waren die Setzer auch Schriftgießer, die sich Drucktypen unterschiedlicher Größe je nach Bedarf gössen. 1737 entwickelte Pierre Simon Founier das typographische Maßsystem, das 1785 von Francis Ambroise Didot überarbeitet und von Hermann Berthold im 19. Jahrhundert an das metrische System angepasst wurde. Zum Tabellensatz: MEHNERT 1 9 6 6 . Historischer Abriss zur Tabelle: STEIN 1 9 1 6 .
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Museologie und Staatsbeschreibung
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Abb. 3. Friedrich Anton von Heinitz, Dritte Tabelle. Über die Einnahmen und Ausgaben der verschiednen Classen, welche den Schatz des Staats ausmachen, 1786 3MW iillfr Srtifri bcr Simulynra im!) Sbligata In Μη ικίφτ toi βφαυ Μ etiiati m^mdien, in btn ;tlm Vrotinjcn.
Abb. 4. Friedrich Anton von Heinitz, Vierte Tabelle. Der Staatswirthschaft eines Staates über das ein- und ausgehende bare Geld, um zu beurtheilen, ob der Nationalreichthum sich vermehre oder vermindere, 1786
Ordnungsmodelle
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zu stellen. Die in den Kunstkammern gesammelten Gegenstände spiegelten, ähnlich wie die Staatstabelle, die Dimensionen der Besitztümer des Landesherren wieder. Aufgrand der Heterogenität des Sammlungsbestands in der Kunstkammer waren komplexe Ordnungsvorgänge erforderlich, um die Objekte in einen übergeordneten Zusammenhang zu bringen. Sowohl die Kunstkammer als auch die Staatstabelle hatten den Anspruch, eine Welt- und Staatsordnung zu veranschaulichen. Zu fragen ist, welche Vorgehensweisen dabei mit welchen Argumenten formuliert wurden und wo sich Parallelen zwischen den mit der Kunstkammer verbundenen Ordnungsprozessen und der tabellarischen Darstellungen von Mengen- und Zahlenangaben ergaben, die einen Staat oder eine bestimmte Landesregion umschreiben sollten.
1. Ordnungsmodelle Die Kriterien, die Heinitz zufolge für die tabellarische Darstellung sprachen, hatte bereits Samuel Quiccheberg gut 200 Jahre zuvor in seinem Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi" von 1565 aufgeführt. Der Text, der im Zusammenhang mit der Kunstkammer Albrechts V. in München entstanden war, stellt die erste museumstheoretische Abhandlung der frühen Neuzeit und den Beginn der Museumslehre in Deutschland dar.7 Die Analogien zu Heinitz ergeben sich auf zwei Ebenen: Zum einen geht Quiccheberg auf den Nutzen einer Sammlung wie der Kunstkammer für den Staat ein; zum anderen sah er in der Tabelle ebenso wie Heinitz ein Ordnungsinstrument, welches das Wissen bündelt und in eine gegliederte Struktur bringt. Der aus Antwerpen stammende Quiccheberg, der von 1559 bis zu seinem Tod 1567 im Dienst von Herzog Albrecht V. von Bayern stand, erläuterte in seinem Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi" ein theoretisches Klassifizierungssystem aller irdischen Dinge sowie konkrete Vorstellungen zu deren Aufbewahrung und Präsentation. Er formulierte bereits aus museologischer Perspektive den Vorteil einer Sammlung von „Büdern und Dingen" für den Staat: „Ich meine nämlich, daß die Rede keines Menschen ausdrücken kann, wie viel Umsicht und Nutzen bei der Verwaltung des Staates, sowohl in seinen zivilen und militärischen, als auch in seinen kirchlichen und kulturellen Belangen, aus dem Einblick und der Beschäftigung mit Bildern und den Dingen, die wir empfehlen, erwachsen können. Es gibt auf Erden nämlich keine Lehre, kein Studium und keine Übung, die nicht folgerichtig nach ihren Werkzeugen aus diesem empfohlenen Bestand verlangten."8
7
B E R L I N E R 1928,328; H A U G E R 1991,130. Mit der Herausgabe, Übersetzung und Kommentierung durch Harriet Roth (=Hauger) liegt dieser wichtige Text in einer deutschen Übersetzung vor: R O T H 2000. Die folgenden Quiccheberg-Zitate werden als Q U I C C H E B E R G 1 565/ROTH 2000 angegeben. Zu Quiccheberg und seinem Traktat auch: S T O C K B A U E R 1874, 8-11; B E R L I N E R 1928; H A R T I G 1933a; F A L G U I E R E S 1992; M I N G E S 1998, 62-76; B R A K E N S I E K 2003, 40-81.
8
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91.
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Den Nutzen für die staatliche Verwaltung aus der „Beschäftigung mit Bildern und Dingen" gewährleistete die von Quiccheberg entwickelte Ordnungsstruktur; er selbst habe den „Rat zur Gründung und Ordnung" der gesammelten Dinge gegeben und die entsprechenden Kategorien entwickelt.9 Als Anregungen dienten ihm die auf seinen Reisen besuchten Sammlungen.10 Bevor Quiccheberg in den Dienst des Herzogs von Bayern trat und mit der Klassifizierung der Kunstkammer beauftragt wurde, hatte er bereits für die Fugger-Familie als Bibliothekar und Betreuer von deren Sammlung gearbeitet. Unmittelbares Anschauungsmaterial für seinen Museumsentwurf boten ihm die Sammlungen Albrechts V." Zwischen 1563 und 1567 wurde für die Kunstkammer ein neues Gebäude errichtet, dessen Räumlichkeiten als Rundgang über zwei Ebenen angelegt waren. Die Vermutung, Quicchebergs Traktat sei eine Auftragsarbeit zur Neuordnung der herzoglichen Sammlungen gewesen, liegt nahe, lässt sich jedoch nicht belegen. Ebenso unsicher ist, ob die 1567 in das neue Gebäude der Kunstkammer überführten Teile der Bestände nach Quicchebergs Ordnungssystem eingerichtet worden sind.12 Im Text, dem keine Abbildungen beigefügt sind, schlägt Quiccheberg eine Präsentation der Objekte in Form eines Rundgangs vor; er beschreibt einen großen, ovalen, mit Bögen errichteten Bau in Form einer Wandelhalle, der „in den vier Himmelsrichtungen weit offen" sein sollte.13 Der Text selbst gliedert sich in fünf Abschnitte, betitelt mit „Inscriptiones" (Überschriften), „Musea et Officina" (Museen, Werkstätten und Archive), „Admonitio et Consilium" (Ermahnungen und Ratschläge), „Digressiones et Declarationes" (Erörterung und Erklärungen) und „Exempla ad Lectorem" (Beispiele für den Leser). Schon die einzelnen Abschnitte des Traktats zeigen, dass es Quiccheberg nicht nur um die Ordnung eines Objektbestandes ging, sondern ebenso um dessen Erforschung in Bibliotheken und Werkstätten. Er spannte einen Rahmen, der die Sammlung, den Benutzer, den Besucher und den Sammler sowie die Forschungseinrichtungen miteinander in Beziehung setzte. Im ersten Abschnitt nimmt Quiccheberg die Einteilung und Auflistung sämtlicher Gegenstände vor und ordnet sie in fünf Klassen. Die Gliederung besteht zunächst lediglich aus dem Wort „Classis" mit entsprechendem Zahlwort. Die folgende Unterordnung, wiederum durch das Wort „Inscriptiones" angegeben, sortiert die einzelnen Objektgruppen, deren Charakteristika kurz beschrieben werden. Über- und Unterordnungen glie9
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107.
10 Quiccheberg reiste bereits seit 1553 im Auftrag Albrechts V. zu verschiedenen Sammlern. 1563 fuhr er über Frankfurt nach Bologna, Padua und Rom und besuchte die Sammlungen Ulisse Aldrovandis in Bologna und Francescos I. de Medici in Florenz. Es liegt nahe, dass er auch die anatomische Sammlung Gabriele Fallopias in Padua, die Sammlung Francesco Calzeolaris in Verona und Michele Mercatis „Metallotheca" in Rom gesehen hat. R O T H 2000, 7-9. 11 Zu den Sammlungen Albrechts V.: STOCKBAUER 1875, vor allem 8-18; SCHLOSSER 1978 (zuerst 1908 erschienen), 142-150; HARTIG 1933b; SEELIG 1985; SEELIG 1986; SEELIG 1993. 12
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dem den Objektbestand in Begriffsblöcke, die mittig auf der Buchseite als schmale Kolonne gesetzt sind. Insgesamt ist die vorgeschlagene Ordnung, in der typologische und topografische Kriterien zu finden sind, als pragmatisch zu bezeichnen. Darüber hinaus kommen im Text kosmologisch-astrologische wie theologische Ordnungsprinzipien zur Anwendung.14 Ausgesucht nach inhaltlich-thematischen und hierarchischen Aspekten fasst Quiccheberg in den Klassen Objekte verschiedener Gattungen, Materialien und Techniken zusammen. Die im Laufe des 16. Jahrhunderts etablierte Unterteilung der Bestände einer Kunstkammer nach „Artificialia", „Scientifica" und „Naturalia" wird von ihm nicht strikt eingehalten. In der ersten Klasse führt er im Zusammenhang mit dem Repräsentationsbedürfnis des Fürsten Bilder mit heilsgeschichtlichen Themen, eine Ahnengalerie sowie Darstellungen historischer Ereignisse, Stadt- und landestopografische Ansichten auf. Daneben stehen Modelle von repräsentativen Bauten und Maschinen. Die zweite Klasse beinhaltet kunsthandwerkliche Gegenstände aller Gattungen, darunter auch wissenschaftliche Geräte, die sich durch ihre handwerklichen Qualitäten auszeichnen. Quiccheberg nennt hier beispielsweise Maße, Gewichte, Klafter und „alles für die Erdvermessung Nötige, das in den verschiedenen Reichen und Staaten benutzt wird."15 Die dritte Klasse umfasst Objekte aus der Natur und solche, die ihr nachgebildet sind. Die Untergliederung erfolgt nach Tieren16, Pflanzen und Mineralien - eine Einteilung, die seit Plinius' enzyklopädisch und systematisch angelegter „Naturalis historia" ein gängiges Ordnungsschema war. Die vierte Klasse listet verschiedene musikalische und wissenschaftliche Instrumente sowie Werk- und Spielzeuge, Waffen und wertvolle Textilien aus dem Ausland auf. In der fünften Klasse stellt Quiccheberg verschiedene Bildmedien zusammen, die er nach technischen und typologischen Gesichtspunkten sortiert. Diese Klasse ist insofern von besonderem Interesse, da Quiccheberg hier eine Grafiksammlung als eigenständige Sammlung und Kunstgattung definiert.17 Nach der Auflistung der Objekte im ersten Textabschnitt folgt die Beschreibung der Werkstätten und Bibliothek, die zur praktischen und theoretischen Beweisführung gedacht waren.18 Es schließen sich Ermahnungen und Ratschläge an, erst dann erläutert er die im ersten Textabschnitt genannten Objektgruppen ausführlicher. Schon der Aufbau des Traktats zeigt, dass Quiccheberg an der Verbindungsstelle zwischen den Objekten an sich und ihrer Einordnung in ein Ord-
14
ROTH 2 0 0 0 , 2 2 8 - 2 3 3 .
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16 Neben Tieren, die in ihrem „ursprünglichen" und getrockneten Zustand vorhanden sind, beschreibt Quiccheberg „gegossene Tiergestalten: aus Metall, Gips und Ton. [...] Durch diese Kunst erscheinen sie alle lebendig." QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 , 5 5 . Gerade die Abgüsse von Naturmodellen führen das Spiel mit den Grenzen von Kunst und Natur sowie von Leben und Tod auf das Anschaulichste vor. Zu diesem Verfahren: KRIS 1 9 2 6 . 1 7 ROTH 2 0 0 0 , 2 4 4 , 2 8 4 . Zum Konzept und Ordnung der Kupferstichsammlung: ROTH 2 0 0 0 , 2 8 3 - 2 8 8 ; BRAKENSIEK 2 0 0 3 , 5 7 - 7 8 . Zu der Geschichte der Kupferstichsammlung: HAJOS 1 9 5 8 . 1 8 Quiccheberg beschreibt Drucker-, Drechsel-, Gieß- und Prägewerkstatt. QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 , 8 1 - 8 3 sowie ROTH 2 0 0 0 , 2 5 5 - 2 5 8 , der Kommentar dazu.
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nungssystem operierte. Sein Entwurf iußte auf der Vorstellung, dass durch den Prozess des Ordnens und Klassifizierens die heterogenen Einzelobjekte in einen übergeordneten Zusammenhang zu bringen sind. Sein Konzept macht dabei das Paradoxon deutlich, dass die Objekte in ihrem Bedeutungsgehalt nicht ein-eindeutig zu zuordnen waren, gleichzeitig aber der systematischen Erschließung des gesamten menschlichen Wissens dienstbar gemacht werden sollten.
Vernetzung der Objekte In der fünften Klasse fuhrt Quiccheberg verschiedene Bildgattungen auf: er nennt Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Stiche. Quicchebergs Umgang mit diesen gewährt einen Einblick in die komplexe Struktur des Traktats. Als inhaltlich-thematische Objektgruppen ordnet er sie ihrer Darstellung nach in den „Inscriptiones" unterschiedlichen Funktionskontexten zu. So stehen die Gemälde und Grafiken, die Quiccheberg in der ersten Klasse auflistet, im Zusammenhang mit der Person des Souveräns und dem Staatsgebiet. Er stellt die Bilder hier unabhängig von ihrer Gattung aufgrund ihrer Ikonografie zusammen - wenn auch unter verschiedenen Überschriften. Stammbäume, die sich auf das Fürstengeschlecht beziehen, ordnet Quiccheberg in der ersten Klasse der zweiten Überschrift zu. „Landeskundliche Tafeln" wie Welt-, Meeres- und Sternkarten fuhrt er unter der vierten Überschrift auf. In der fünften Klasse stellt er die Bestände hingegen nach Hierarchie und Bewertung der künstlerischen Medien zusammen; an erster Stelle kommen Ölgemälde. Als Kriterium für die Zusammenstellung benennt er das Sujet sowie die formale Bearbeitung.19 Hier ist es also nicht mehr der fürstliche Repräsentationsrahmen wie noch in der ersten Klasse, sondern die ästhetische Beurteilung, welche die Auswahl maßgeblich bestimmt. Nach den Gemälden folgen Aquarelle von „berühmten Malern von überallher, die mit größte[m] Aufwand gesammelt wurden".20 Unter der nächsten Überschrift fasst Quiccheberg „Stiche und andere Bilder aus Papier auf großen und kleinen Blättern, die nach Mappen und ihren Abteilungen säuberlich so wie in einer gesonderten Bibliothek ausgelegt sind" zusammen.21 Anschließend nennt er „Tafelbilder mit religiösen und profanen Themen", „historische Verzeichnisse und Chronologien", „Genealogien und andere [Tafeln], die in eben dem Maße die Einteilung der einzelnen Wissenschaften [...] vor Augen fuhren".22 Die Tafeln mit tabellarisch diagrammatischen Darstellungen - wie die etwa zeitgleich entstandenen Überblickstafeln des französischen Dialektikers Pierre de la Ramee - spiegelten die zeitgenössische Debatte um die Gliederung und Präsentation des vorhandenen Wissens wider. Pierre de la Ramee, besser bekannt als Petrus Ramus, führte im 16. Jahrhundert eine neue Lehrmethodik ein. Jedes Thema sollte in eine dialektische Ordnung gebracht und 19 QUICCHEBERG 1565/ROTH 2 0 0 0 , 6 9 - 7 1 . 20
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in einer schematischen Überblicksdarstellung sichtbar gemacht werden. Die Veranschaulichung des Wissens ging vom Allgemeinen zum Besonderen. Ramus wiederum orientierte sich in seinem Verfahren an dem von Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert entwickelten tabellarischen System. 23 Quiccheberg spricht in seinem Traktat im Zusammenhang mit den tabellarischen und diagrammatischen Tafeln von einer zweiten Grafiksammlung. Darüber hinaus listet er „sehr umfangreiche Stammbäume von überall her" 24 als eigene Objektgruppe auf, und zwar unabhängig von jenen Stammbäumen, die in der ersten Klasse dem Fürstengeschlecht und in der fünften Klasse den ,,Stiche[n] und andere[n] Bilder[n] aus Papier" zugeordnet werden. Weiterhin führt er in der fünften Klasse Porträts auf, die im Zusammenhang mit den zuvor aufgeführten Stammbäumen standen, sowie Wappen adliger Familien, Waffen und Stammbaumtafeln von Beamten, die am Hof Albrechts V. arbeiteten; wiederum eine eigene Kategorie bilden Spruchbänder und Sinnsprüche.25 In der Art und Weise, wie Quiccheberg das Traktat gliederte, ergaben sich Querverbindungen, welche die hierarchische Abfolge von Ordnung und Unterordnung durchbrachen und so eine vernetzte Struktur im Text evozierten. Quiccheberg übertrug also die Eigenschaft der Objekte, nämlich Assoziationen auszulösen und dadurch Verbindungen zwischen den Objekten herzustellen, auf die Anlage des Textes. Er benutzte nicht nur mehrere Gliederungsprinzipien, sondern führte Objekte und Objektgruppen auch mehrfach im Text auf. Durch mehrfaches Verzeichnen konnten die Bestände in unterschiedlichen Funktions- und Bedeutungszusammenhängen gedacht und damit gedanklich in Bewegung gesetzt werden. Vergleichbar ist sein Vorgehen mit der Art und Weise, wie der Mediziner und Philologe Konrad Gesner in der „Bibliotheca Universalis" von 1545 und den „Pandectarum sive Partitionum universalium" von 1548 das zu erwerbende Wissen klassifizierte und anordnete. Quiccheberg stand während seiner Studienzeit an der medizinischen und philosophischen Fakultät in Basel von 1547 bis 1550 und auch noch danach in regem Kontakt zu Gesner. Gesner hatte in seinem umfassenden Bibliotheksprojekt Titel und Inhalte auf zweierlei Weise, nämlich alphabetisch und thematisch gegliedert. Im ersten Teil der „Bibliotheca Universalis" führte er eine alphabetisch geordnete Bibliographie von ungefähr 3000 Autoren mit über 10.000 Buchtiteln auf. Die Bücher wurden nach Inhalt und Form beschrieben, teilweise noch durch Exzerpte ergänzt. Der zweite Teil seiner „Bibliotheca Universalis", der 1548 unter dem Titel „Pandectarum sive Partitionum universalium" erschien, war thematisch nach Stichworten sortiert. Gesner gliederte das Wissen in 21 Hauptklassen, die er in Unterklassen (tituli) und weiter in „partes" und „segmenta" ordnete. Auf diese Weise nahm er nicht nur eine Klassifikation des Wissens vor, sondern bot darüber hinaus eine
23 Zu Ramees Methode: O N G 1958; GILBERT 1963, 129-163; YATES 1994 (zuerst 1966 erschienen), 214-224; SIEGEL 2 0 0 9 , 6 6 - 6 9 , im Kontext von Christophe de Savignys diagrammatisch organisierter Begriffsordnung in seinem „Tableaux" von 1587. 24 QUICCHEBERG 1565/ROTH 2000, 73. 25 QUICCHEBERG 1565/ROTH 2000, 75-77.
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Orientierung, wie das zu erwerbende Wissen angeordnet werden könnte.26 Wichtig war, dass die Materialien jederzeit abrufbar und vor allem in ihrer Disposition beweglich gehandhabt werden konnten.27 Dieses Prinzip übernahm Quiccheberg für seinen Museumsentwurf. Er nutzte die Mehrfachverzeichnung, um die Mehrdeutigkeit der Objekte und die Verknüpfung der Bestände untereinander anschaulich zu machen und übertrug dieses Vorgehen auch auf die Struktur des Textes selbst. Durch Wiederholung einzelner Aspekte in den fünf Textabschnitten sowie durch übergreifende Querverbindungen schuf er eine Struktur, welche die Passagen miteinander verschränkte. Dieses Charakteristikum, das eben auch die Objekte selbst auszeichnete, bildete den grundlegenden erkenntnistheoretischen Aspekt in Quicchebergs Ordnungsmodell.
Doppelcharakter des Bildes Quiccheberg erwähnt im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Gebäudeanlage für die Sammlungen Giulio Camillos „Theatrum mundi", das wie ein materialisiertes Gedächtnis alle menschlichen Errungenschaften bildlich und mittels Text in einem konstruierten Ordnungssystem vereinen sollte. Camillos Ordnungsentwurf orientierte sich an den damals bekannten sieben Planeten.28 Sein Welttheater erschien 1550 in Buchform unter dem Titel „L'Idea del Theatro" in Florenz, sechs Jahre nach seinem Tod. Mit finanzieller Unterstützung des französischen Königs hatte Camillo bereits Anfang der 1530er Jahre begonnen, in Venedig ein Holzmodell des Theaters zu bauen, das er allerdings nicht vollendete; ein weiteres Modell fertigte er in Paris für den französischen Hof um 1534 an.29 Sowohl Camillo als auch Quiccheberg legten ihren Konzepten mnemotechnische Verfahren zu Grunde und verknüpften Architektur und Erinnerungskunst. Beide Konzepte standen in der Tradition der „ars memorativa", in der Lern- und Gedächtnismethodologie eng miteinander verbunden waren und in der die planvolle Anordnung der Materie, verknüpft mit einer Architekturvorstellung, das Wissen sicherte.30 In seiner für Humanisten der Renaissance vorbildhaften Schrift „De oratore" argumentierte der römische Redner und Staatsmann Cicero, dass, wer seinen Geist trainieren wolle, bestimmte Plätze wählen müsse, um die Dinge im Gedächtnis zu behalten: 26
Z u G e s n e r s S y s t e m a t i s i e r u n g s m o d e l l : FISCHER 1 9 6 6 ; ZEDELMAIER 1 9 9 2 , 1 0 - 5 2 ; MÜLLER 1 9 9 8 ; ROTH 2 0 0 0 , 14, 2 3 1 ; KRAJEWSKI 2 0 0 2 , 1 6 - 2 0 , 2 3 - 2 5 ; BRAKENSIEK 2 0 0 3 , 7 1 .
27 KRAJEWSKI 2002, 24, hat daraufhingewiesen, dass sich in Gesners „Pandectarum" eine der frühesten Beschreibungen des Systems eines Zettelkastens findet. 28 QUICCHEBERG 1 565/ROTH 2000,107,111. Zu Giulio Camillos „L'Idea Theatro" und der Beziehung zu Quicchebergs Text: BOLZONI 1994; ROTH 2 0 0 0 , 2 5 - 3 4 ; BRAKENSIEK 2 0 0 3 , 4 6 - 5 6 ; weitere Literatur zu C a m i l l o : HAJOS 1 9 5 3 ; BERNHEIMER 1 9 5 6 ; YATES 1 9 9 4 ( z u e r s t 1 9 6 6 ) , 1 5 0 - 1 6 1 .
29 YATES 1994 (zuerst 1966), 123-125. Quiccheberg könnte Skizzen oder kleinere Modelle dieses Welttheaters auf seiner Italienreise 1550 gesehen haben. ROTH 2000, 28. 30 Zur „ars memorativa" und der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst: BERNS/NEUBER 1993; BERNS/NEUBER 1998. Zum Sammeln und dem Aspekt der Gedächtniskultur: BOLZONI 1994.
29
Ordnungsmodelle „So werde die Reihenfolge dieser Plätze die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir könnten die Plätze an Stelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen".31
Die Erkenntnis, gespeist aus der Erinnerung und Vorstellung, wurde als Wissensansammlung mittels eines Trägers fixiert und erhielt einen Ort. Camillo wie auch Quiccheberg greifen die Methode des Sich-Wieder-Vergegenwärtigens durch Bilder und Orte auf. Quiccheberg spricht sich jedoch für eine „leichtere Ordnung gemäß der Gestalt der Dinge" aus, die er von der komplizierteren, kosmologischen Ordnung Camillos absetzt. In seiner Formulierung „gemäß der Gestalt der Dinge" bezieht er sich auf Plinius' „Naturalis historia", in der die Materialien ein maßgebliches Ordnungskriterium bildeten.32 Um „der Gestalt der Dinge" und einer „leichteren Ordnung" Rechnung zu tragen, führte Quiccheberg im vierten Textabschnitt, in dem er die Objektgruppen ausführlich erläuterte, ein weiteres Ordnungsinstrument ein. In Abgrenzung zur ausgestellten Sammlung, die von ihm als Theater bezeichnet wird, sei „in Form mehrerer Kisten oder Vitrinen" ein Bildarchiv einzurichten, das „Stiche und andere Bilder aus Papier" umfasst. Auf „einen Haufen zusammengetragen", „eventuell auseinandergefaltet in Vitrinen liegend" sollten die Blätter aufbewahrt werden.33 Dieses Bildarchiv umfasste Kupferstiche, Handzeichnungen und Aquarelle; gegliedert in drei Bereiche mit je zehn oder elf thematisch geordneten Unterpunkten diente es der Ergänzung der aufgeführten Objektgruppen, aber auch als Ersatz für solche Objekte, die nicht in der Sammlung vorhanden waren.34 Indem es Ordnungsaspekte der Sammlung als auch der Bibliothek aufgriff und Objekt, Bild und Schrifttext verknüpfte, stellte es eine Schnittstelle zwischen dem Theater und der Bibliothek dar. Das Bildarchiv, von Quiccheberg auch als „gesonderte Bibliothek der Bilder" bezeichnet, sollte „von sorgsamen Stiftern so sehr vermehrt [werden], daß man die Kenntnis möglichst vieler Wissenschaftsfächer allein aus diesen Bildnissen erwerben" konnte.35 Er beschreibt also ein umfassendes Ausstellungssystem, in dem unter anderem mittels Reproduktionstechniken möglichst viele Artefakte aus vielen Wissenschaften zusammengebracht werden sollten. In der angestrebten Totalität zeigt sich zugleich deren Unmöglichkeit - Eigenleben und Verfügbarkeit der Objekte waren Teil eines Prozesses nicht immer vorhersehbarer Bedeutungszuschreibungen. Dem Bild kam also nicht allein die Funktion zu, den Erinnerungsmechanismus zu befördern; vielmehr unterstützte und beförderte die Wieder-Vergegenwärtigung 31 Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner, übers, und hg. von Harald Merklin, 2. Auflage, Stuttgart 1990, 433; zitiert nach: TE H E E S E N 1997a, 142. 32
QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 ,
111.
33
QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 ,
113.
34 Quicchebergs Schilderung der Ordnung des Bildarchivs: Q U I C C H E B E R G 1565/ROTH 2000, 139-145; Roths Kommentar: R O T H 2000, 244-246. R O T H 2000, 251, zur Ergänzung der Sammlung durch die Kupferstiche. Eine Aufstellung der Kategorien der Kupferstiche innerhalb der drei Abteilungen bei R O T H 2000, 285-286 sowie B R A K E N S I E K 2003, 67-68. 35
QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 ,
139.
Museologie und Staatsbeschreibung
30
von Objekten durch Bilder den Denkprozess. Das Betrachten eines Bildes allein - so Quiccheberg - beeindrucke „das Gedächtnis nämlich mehr als die tägliche Lektüre vieler Seiten."36 In dem Spannungsverhältnis von Objekt, Bild und Text fand demnach eine Verschiebung zu Gunsten des Bildes statt. Die unterschiedlichen Bildgattungen, die Quiccheberg in der fünften Klasse der „Inscriptiones" (erster Textabschnitt) und im Bildarchiv in den „Digressiones" (vierter Textabschnitt) zusammenfasst, gingen über die illustrative und repräsentative Funktion hinaus und zeichneten sich als interpretative Bedeutungsträger aus. In der Zuordnung der Bilder in verschiedene Klassen und damit Ordnungszusammenhänge machte sich Quiccheberg die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Bildes zunutze. Dabei sollten Kisten und Vitrinen als Aufbewahrungsmöbel und zugleich als Ordnungsinstrumente dienen. Quiccheberg plädierte für eine lose, unmontierte Form der Blätter, was den Vorteil der Beweglichkeit und der unkomplizierten Erweiterung bot.37 Entsprechend bedurfte es eines Systems von Kästen, Regalen und Schubladen zur Aufbewahrung des Bildarchivs. Im Kunstkammerinventar von 1598 wird unter anderem ein „langer aschfarbener Casten baiderseits mit 74 Schubladen" beschrieben, der „mit gestochenen Kupferstichen und von der handt gericcenen, aufgezogenen, und unaufgezogenen stuckhen, sambt etlichen holzschnitten angefüllt" war.38 Mit diesem System unterschied sich Quiccheberg von den Grafiksammlungen, die in Buchform gebunden wurden. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte der römische Altertumsforscher und Sammler Cassiano dal Pozzo eines der wohl bekanntesten „Papiermuseen" in gebundener Form angelegt. Seine über 6.500 Blätter umfassende Grafiksammlung ließ er in 23 Büchern, geordnet nach Themen binden. Dal Pozzo selbst bezeichnete seine Sammlung als „Museo Cartaceo" (Papiermuseum). Er ließ römische Antiken sowie frühchristliche Objekte abzeichnen, mit dem Ziel, eine umfassende Dokumentation der antiken Kultur zu liefern. Daneben sammelte er Zeichnungen mit naturkundlichen Darstellungen und Blätter von Künstlern aus dem 16. Jahrhundert.39 Auch dal Pozzos imaginäres Museum vermittelte die Totalität eines enzyklopädischen Wissens. Im Gegensatz zu diesen fixierten Bildersammlungen konnten bei Quiccheberg die Bedeutungsinhalte flexibel abgerufen werden. Jenseits der Möglichkeit, das Bildarchiv als ordnungsstiftendes Vermittlungs- und Erkenntnisinstrument einzusetzen, reflektierte Quiccheberg im vierten Textabschnitt - in
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QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 ,
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38 Johann Baptist Fickler, Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer, 1598; zitiert nach: BRAKENSIEK 2 0 0 3 , 7 5 . Edition des Inventars, das in zwei Handschriften vorliegt, bei: DIEMER 2 0 0 4 . 3 9 Zu dal Pozzo und seinem „Museo Cartaceo": M C B U R N E Y 1 9 9 7 ; HERKLOTZ 1 9 9 9 sowie die mehrbändige Publikation: The Paper Museum of Cassiano dal Pozzo. A Catalogue Raisonnee. Drawings and Prints in the Royal Library at Windsor Castle, the British Museum, the Insitut de France and other Collections, hg. von Francis Haskell und Jennifer Montagu, London 1997-2004; angelegt in zwei Serien: Series A: Antiquities and Architecture, hg. von Amanda Claridge (umfasst zehn Themenbände, die von einzelnen Fachwissenschaftlern herausgegeben wurden); Series Β: Natural History, hg. von David Freedberg (umfasst neun Bände, ebenfalls von einzelnen Fachwissenschaftlern editiert).
Ordnungsmodelle
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den „Digressiones" - den Vorgang der Verdichtung von Sachverhalten und Tatbeständen in Form der Tabelle. Zum Ende der Erklärungen zu den Überschriften der fünften Klasse heißt es: „[...] während das übrige gemeinschaftliche Handwerkszeug aller Wissenschaften die Bücher sind, wird hier alles aus der Betrachtung der Bilder, der Untersuchung der Stoffe und der Ausrüstung mit Werkzeugen der ganzen Welt heraus, für die bald gliedernde Tabellen und Wahrheitsgemäße Zusammenfassungen deutlich sind, zugänglich und klarer."40
In dieser knappen Formulierung fasst Quiccheberg nicht nur eine Reihe von Operationen zusammen, die für das Erstellen einer Tabelle Voraussetzung waren, er stellt hier auch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen materieller Objektwelt und tabellarischer Informationsaufbereitung her. Die Tabelle diente als formales Gliederungsinstrument der Erforschung der irdischen Welt und gleichzeitig dem Erkenntnisprozess. Sie wurde als Bildtafel einerseits, wie etwa in der ersten Klasse, zur Veranschaulichung thematischsachlicher Zusammenhänge genutzt; andererseits war sie, wie in der fünften Klasse, in ihrer Eigenschaft als bildliches Medium konstitutiver Bedeutungsträger von Sinnzusammenhängen. Quiccheberg ging in seinem Traktat vom Objekt aus und räumte seiner Materialität und seinen unterschiedlichen Bedeutungsebenen Priorität ein. Bei ihm materialisierte sich die von Cicero nur in Bildern gedachte Welt; das Prinzip der Welterfahrung und Weltaneignung hing von den Gegenständen und ihrer Ordnung ab. Eine zentrale Bedeutung kam den Ausstellungs- und Aufbewahrungsmöbeln zu, da sie Struktur und Zusammenhänge stifteten. Aus den einzelnen Details, Fragmenten, Motiven und Themen ergab sich erst aus der Aufstellung heraus eine Sinnkonstellation. Zum Abschluss des ersten Textabschnitts führt Quiccheberg in der fünften Klasse „überall bereitstehende Archivmöbel" auf.41 Die folgende Aufzählung - „kleine Schränke, Truhen, Schreine, Vitrinen, Binsenkörbchen, Tragkörbe, geflochtene Körbchen (in Gestalt einer offenen Lilie), abgestufte Katheder, kleine Tröge oder Schanzkörbe, Kisten und eventuell verhängte Koffer an den Wänden" - vermittelt einen Eindruck des reichen Spektrums, das er für die Zurschaustellung der Bestände vorsah. Die Sammlung und vor allem die Form der Unterbringung rege den Betrachter an, „immer neue Themen im Geiste zu erfassen und zu untersuchen."42 Für Quiccheberg standen also Assoziierbarkeit und eine logische, den Zusammenhang der Objekte zum Menschen veranschaulichende Ordnung mit pädagogischer Funktion im Vordergrund. Das umfassende Wissen, das sich „aus der Betrachtung der Bilder, der Untersuchung der Stoffe und Ausrüstung mit Werkzeugen"43 ergab, stellte er in eine direkte Verbindung mit den Landes- und Staatsinteressen. Keine Rede könne ausdrücken,
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QUICCHEBERG 1565/ROTH 2 0 0 0 , 1 6 1 .
41 QUICCHEBERG 1565/ROTH 2000, 77. Quiccheberg führt noch weiter aus: „Und für bestimmte Zwischenräume des Theaters Tische. Außerdem sind die kleinen Schränke selbst Bögen, Türmchen und Pyramiden nachgestaltet." 42
QUICCHEBERG 1565/ROTH 2 0 0 0 , 9 1 .
43
QUICCHEBERG 1565/ROTH 2 0 0 0 , 1 6 1 .
Museologie und Staatsbeschreibung
32
„wie viel Umsicht und Nutzen bei der Verwaltung des Staates, sowohl in seinen zivilen und militärischen, als auch in seinen kirchlichen und kulturellen Belangen, aus dem Einblick und der Beschäftigung mit Bildern und den Dingen, die wir empfehlen, erwachsen können."44
Quiccheberg beschreibt ein integratives Konzept, in dem die „Büder und Dinge" nicht additiv nebeneinander standen, sondern Verbindungen miteinander eingingen. In der Synthese von Sammlung und entsprechenden Forschungseinrichtungen sah er einen zentralen Punkt für den Erkenntnisgewinn. Er fahrt fort, dass es „auf Erden nämlich keine Lehre, kein Studium und keine Übung [gäbe], die nicht folgerichtig nach ihren Werkzeugen aus diesem empfohlenen Bestand verlangten."45 Der erkenntnistheoretische Nutzen konnte und sollte für die Landes- und Staatsinteressen genutzt werden. Staat wird von Quiccheberg dabei nicht im Sinne der absoluten Herrschaftsidee (göttliche Legitimation, Souveränitätslehre und juridische Kodifikation), sondern in erster Linie als Ordnungskonstrukt gedacht. Der Fürst und Theaterbesitzer ist ausführende Autorität dieses Ordnungsprogramms. Das Sammeln von Objekten sowie ihre inventarisierende und kategoriale Erfassung und Zusammenstellung schufen also im Feld der politischen Vorgaben einen ideellen Raum, in dem sich der Staat oder die Staatstopographie darstellte. Die Sammlung musste geordnet werden; durch dieses geordnete Wissen konnte auch der Staat verortet werden. Der Sammlungsbestand inkorporierte somit das gesamte Staatsgebiet. Die Objekte und das über sie im Zusammenspiel von Bibliothek und Werkstätten erworbene Wissen spiegelten den Staat im repräsentativen wie auch faktischen Sinne. Die Kunstkammern des 16. Jahrhunderts mit ihren universalen Sammlungen waren in diesem Sinne Vorbilder und Vorläufer der literarischen Staatsutopien des 17. Jahrhunderts.46 So bildete in Tommaso Campanellas und Johann Valentin Andreaes utopischen Staatsentwürfen von 1602 und 1619 die Verbindung von Staatsvorstellung und enzyklopädischer Sammlung den zentralen Gedanken der literarischen Utopien.47 Wesentliches Charakteristikum dieser Texte war das Zusammenspiel von Natur, Kunst, Wissenschaft und Technik, wie es die Kunstkammer bereits exemplifizierte hatte.48 In Andreaes „Christianopolis" befand sich die Sammlung in einer Tempelanlage, die im Zentrum seines Entwurfs stand; Bibliothek, Apotheke, „Theatrum physicum" und „Theatrum mathematicum" bildeten darin das Kernstück. Ebenso lässt sich Campanellas utopisches Stadtmodell in seiner „Civitas Solis" als Kunstkammer begreifen. Das Ringsystem, das den
44
QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 , 9 1 .
45
QUICCHEBERG 1 5 6 5 / R O T H 2 0 0 0 , 9 1 .
Zur Kunstkammer im Zusammenhang mit den utopischen (Staats-)Entwürfen: BRAUNGART 1 9 8 9 (zum utopischen Gehalt der Kunstkammer vor allem: 106-147). Zum Aufbau und zur inhaltlichen Konzeption der Kunstkammer am Beispiel von Studiolo und Tribuna des Francesco I. de Medici mit Bezug auf Andreaes, Campanellas und Bacons literarische Utopien: SÜNDERHAUF 1 9 9 6 . 47 Das Manuskript von Campanellas „Sonnenstaat" entstand 1602 und wurde in überarbeiteter Form 1623 unter dem Titel „Civitas Solis" (la Cittä Del Sol) veröffentlicht. Andreae publizierte seine „Reipublicae Christianopolitanae Descriptio" 1619. Johann Valentin Andreae, Christianopolis, in: BIESTERFELD 1 9 7 5 , 6 4 - 7 5 ; Tommaso Campanella, Sonnenstaat, in: HEINISCH 1 9 6 0 , 1 1 1 - 1 6 9 . 4 8 BRAUNGART 1989, 111; BREDEKAMP 1993a, 57; WOLF 1997, 4 1 . 46
Gedächtnisorte
33
Aufbau bestimmte, bildete auf den Mauerinnenseiten den Kosmos in Form einer enzyklopädischen Sammlung ab, welche die Einheit von Religion, Kunst und Wissenschaft veranschaulichte. Die sieben ringförmigen Mauern, die das äußere Bild der Stadt bestimmen, waren mit Darstellungen aus Astronomie, Mineralogie, Botanik und Zoologie sowie mit Bildern von Werkzeugen und Zeichnungen der Mechanik bedeckt. Die Kunstkammer mit ihrem integrativen, konzeptuellen Ansatz - von Quiccheberg erstmals theoretisch formuliert - stellte also die Ordnungs- und Organisationsformen eines Wissens bereit, das in Analogie zum Staat stand.
2. Gedächtnisorte Quicchebergs Ordnungsvorstellungen setzten sich als maßgebliche Organisationsverfahren in den Sammlungen und den entsprechenden museologischen Schriften durch. Repräsentatives Beispiel und wichtig für die Entwicklung der Kunstkammer sind die Schriften des Mediziners Johann Daniel Majors, der 1674 - gut 100 Jahre nach Quiccheberg - seine museologische Abhandlung „Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein" veröffentlichte. Neben seinen ,,Unvorgreiffliche[n] Bedencken" publizierte Major, der als Leibarzt am Hof Schleswig-Holstein-Gottorf und als Medizinprofessor an der Kieler Universität arbeitete, weitere museologische Schriften, darunter ein dreiteiliges Kompilationswerk, in dem er die Kunst- und Naturalienkammern in Amerika und Asien (1674), Afrika und Europa (1675) und den italienischen Städten Neapel und Rom (1675) beschrieb. Mit seiner „Seefahrt nach der neuen Welt ohne Schiff und Segel" von 1670 verfasste er darüber hinaus ein Wissenschaftsprogramm als Staatsutopie, das ebenfalls auf einer universalen Sammlung sowie auf der Synthese von Kunst und Natur beruhte und diese in den Kontext staatlicher Organisationsstrukturen stellte.49 Dieses Programm versuchte Major später in seinem „Museum Cimbricum" konkret umzusetzen. Das „Museum Cimbricum" war eine aus privaten Mitteln finanzierte Museumseinrichtung, die 1688/89 in Kiel eröffnet wurde und als allgemein bildende Institution der ,,studierende[n] Jugend oder andere[n] Kunst- und Tugendliebende[n] Personen" dienen sollte.50 1688 veröffentliche Major seine Beschreibung dieser Einrichtung unter dem Titel „Museum Cimbricum, oder insgemein so-genennte Kunst-Kammer mit dem darzu gehörigen Cimbrischen Conferenz-Saal". Wie für Quiccheberg war auch für Major die Sammlung ein Beziehungsgefüge; Mehrfachverzeichnung und flexible Handhabung der Objekte sowie die Anlage eines Bildinventars stellten auch für ihn die entscheidenden Ordnungsinstrumente dar. In seinen Abhandlungen beschreibt er Kammer, Schrank und Kasten als Formen der Vergegenwär49
50
Zu Majors „Seefahrt nach der neuen Welt": BRAUNGART/BRAUNGART 1 9 8 7 ; BRAUNGART 1 9 8 9 (vor allem 1 4 8 - 1 6 9 ) . VALTER 1 9 9 5 , 8 5 - 9 8 , zum utopischen Gehalt der Museologie Johann Daniel Majors. Zu Majors Wissenschaftskonzept, das auf den Lehren Descartes basierte: STECKNER 1 9 9 4 , 6 1 3 . M A J O R 1 6 8 8 , I V . Capitel, §. 7 , 2 2 . Zum „Museum Cimbricum": STECKNER 1 9 9 4 .
Museologie und Staatsbeschreibung
34
tigung und als Speichersysteme, zu deren Einrichtung er sehr konkrete Vorgaben formulierte. Katalog und Bildinventar - im Unterschied zu Quiccheberg plädierte Major für eine gebundene Form der Bildersammlung - waren die wesentlichen Verzeichnungstechniken, die im Verbund mit den Einheiten Kammer, Schrank und Kasten standen. Zusammen bildeten diese Verfahren die Voraussetzung für den Lern- und Erkenntnisprozess. Um diesen Prozess anschaulich zu machen, führte Major die Tafel als Erinnerungsträger und Erkenntnisinstrument ein.
Tafel, Setzkasten, Schrank In seiner museumstheoretischen Schrift „Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein" von 1674 schildert Major, wie Adam im Paradies, geleitet von der Neugier, gelernt habe, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Er habe „gleichsam von der Taffei seines Gehirns / so viel schön- und herrliche darin-aufgezeichnete Dinge / vorsetzlich / ja grausam und thöricht außgelescht: jedennoch / und zum wenigsten / ist itzt-gedachte geblößte Taffei / so fern uns noch geblieben / daß wiederumb und aufs neu was darauf-notiret werdn kan/ und gleichsam von selbstbegierig / was Scheinbahres anzunehmen / nach dem gemeinen Sprichwort: Natura Humana Novitatis avida; Ein jeder Mensch mag von Natur gern etwas Neues wissen." 51
Major definiert das Gehirn hier als Tafel, auf der sich bereits „aufgezeichnete Dinge" löschen und neu notieren lassen. Er umschreibt mit dem Tafelmotiv einen Zustand, der einen zunächst strukturfreien, nicht hierarchisierten Raum markiert. Jenseits von sozialer Konditionierung und Vorbestimmung ist der Mensch in der Lage, geleitet von seiner Neugier und ohne vorgeprägtes Wissen, die Dinge anzuschauen, Eindrücke zu sammeln, für interessant oder weniger interessant zu erachten und sich diese zu vergegenwärtigen. Die Sammlung bot einen derartigen Raum; die Form der Ordnung gab eine entsprechende Struktur und einen Leitfaden an die Hand. Die Tafel stellte in diesem Zusammenhang das Medium dar, auf dem die Sachverhalte aufgezeichnet, gegebenenfalls gelöscht und wieder neu aufgeschrieben werden konnten; sie stellte die Zusammenhänge also immer wieder neu her. Mit dem Tafelmotiv veranschaulichte Major den konzeptuellen Ansatz der Kunstkammer, Flexibilität, Mehrdeutigkeit und geordnete Strukturen miteinander zu verknüpfen. Er verstand sie als Analogon des Gehirns und als Medium, über welches das Paradies zurückgewonnen werden konnte.52 Seine Charakterisierung der Kunstkammer als Speichersystem setzte die Planung und Verfügbarkeit verschiedener Ordnungs- und Steue51 M A J O R 1 6 7 4 , 1. Capitel, § 7 (ohne Paginierung). Zu Aufbau und Struktur des Textes und Majors
Museumswissenschaft:
S C H U L Z 1990; B E C K E R 1 9 9 2 / 9 3 ; STECKNER 1 9 9 4 ; VALTER 1 9 9 5 , 9 3 - 9 8 ; B E C K E R
1996, 1 0 - 1 8 . 5 2 B R E D E K A M P 1993b, 7 1 . M E D I C U S 1994, 90, beschreibt im Zusammenhang mit der Kunstkammer Fer-
dinands II. auf Schloss Ambras, dass Sammlungen wie die der Kunstkammer eine Spiegelfunktion ausübten, welche die Vielheit einer makrokosmischen Harmonie in der Form eines wiedergewonnenen mikrokosmischen Paradieses reflektiere.
Gedächtnisorte
35
rungsoperationen der gesammelten Materie voraus, durch die das in den Sammlungen enthaltene Wissen klassifizierbar wurde und summarisch zusammengezogen werden konnte. In seinen Schriften reflektiert Major ein strategisches Wissen, das genaue Planungsschritte zur Art der Vorgehens- und Verfahrensweise beinhaltete. In seinen „Unvorgreifflichefn] Bedencken" schildert er in acht durch einzelne Paragrafen unterteilten Kapiteln neben den räumlichen Vorraussetzungen die Ordnungsgrundsätze und Ordnungsverfahren einer Sammlung. Generell plädiert er für eine thematische Gliederung der Bestände. Jedoch reiche eine „scheinbahre eintheilung der natürlichen Cörper in Mineralia oder Fossilia, Vegetabilia und Animalia" nicht aus, die sich „hernach der einfältigen Alphabetischen Ordnung" bediene. Es gelte, „viel herrlich- und nötige Subdivisiones oder fernere Special-eintheilungen der dinge" zu schaffen.53 Eine differenziertere Gliederung soll laut Major durch Setzkasten, Schrank, Katalog und Bildinventar erfolgen. Zur Gewährleistung einer funktionierenden Ordnung formulierte er genaue Vorgaben für die Unterbringung in Setzkästen und Schränken sowie für die Verzeichnung im Katalog und für die Anlage des Bildinventars. Die gesammelten Gegenstände sollten in „Repositoria" oder Schachteln untergebracht und „nachgehende weiter und weiter vermehrt / und einiger massen in Ordnung behalten werden."54 Eine Abbildung in Majors Text zeigt, wie er sich die Aufbewahrung dreidimensionaler Gegenstände in beschrifteten Kästen vorstellte (Abb. 5); das jeweils anschaulichste Stück war einem Stellvertreter ähnlich an der Stirnseite zu platzieren.55 Dieses Setzkastenverfahren hatte den Vorteil, dass die aufbewahrten Dinge beweglich gehandhabt werden konnten, mit der Option, neue Dispositionen einzurichten. Major beschreibt im Text Kästen aus bemaltem Blech, Pappe und Holz, die er sich für seine eigene Sammlung hatte anfertigen lassen. Die einzelnen Kästen sollten zu Klassen als nächst größere Einheit zusammengefasst werden. Zwischen die Kästen der verschiedenen Klassen sollten mit den Klassennamen beschriftete Holzblöcke gestellt werden, um die Möglichkeit der Erweiterung des Systems zu gewährleisten: „Also ist auch nützlich / und dient sehr / so wol zur Information der Frembden / als allezeit frischer Erinnerung des Praefecti, eben dieselbigen Titulos, singulis Specierum Classibus voranzusetzen / geschrieben auf ein Papier; und dieses voran-geleimet auf eine Seite eines länglichen / 1. Zoll-hohen / und fein glatt-behobelten Stücklein Holtzes / wie gleichfalls aus beygefügtem Schemate, cum Titulo des Petrefactis, zu sehen." 56
Im „Museum Cimbricum" von 1688 beschreibt Major ausführlicher die dort vorgesehenen Sammlungsschränke: 53 54
1674, VIII. Capitel, §. 2 (ohne Paginierung). 1674, III. Capitel, §. 1 (ohne Paginierung). 5 5 M A J O R 1 6 7 4 , VIII. Capitel, §. 8 (ohne Paginierung). „[...] und in Repositories vorwärts / als nach der Schnure stehen und richte darinn eines von den besten Exemplaren der Speciei auf / die andern meistentheils zu boden legend; äusserlich aber füge Ich ein Zettelgen an / mit auf-schreibung des Nahmens". 56 M A J O R 1674, VIII. Capitel, § . 1 1 (ohne Paginierung). Im Zusammenhang mit der Disposition der Dinge formuliert Major bereits im siebten Kapitel, Paragraph 4, dass sowohl im Katalog als auch in der Sammlung selbst Platz für neue Zugänge gelassen werden müsse. MAJOR
MAJOR
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Museologie und Staatsbeschreibung
Abb. 5. Kasten zur Aufbewahrung der Objekte nach Johann Daniel Majors Vorgaben in seinen ,,Unvorgreiffliche[n] Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein", Kiel 1674
„[...] der West-Seite gleich gegen über befindlich sind / in acht absonderlichen / und eben so viel Fuß hohen / geschlossenen Schräncken, deren ein jeder inwendig als ein Repositorium anzusehen / in 15 Fächer unterschieden ist / welche alle (ausgenommen das oberst und unterste) beweglich sind / mit ihren darauf-stehenden Cörpern / ganz bequem herausgenommen / und wieder hinein geschoben werden können; und zwar nicht horizontal, sondern oblique, und nach der schräge / auf den 20 biß 25sten grad des Circuls aufgerichtet stehen / daß wenn die aus und einwendig-gemahlten Thüren der Schräncke / in der Ost-Seite des Cabinetts / insgesamt geöffnet werden / sie alle zugleich eine gantz freundliche parade machend / den gantzen Vorrat dero bei nahe anderthalb-tausent Sorten der Dinge auf einmal zeigen." 57
Die Dinge, untergebracht in einem Raum, in einem Schrank, in einem Kasten, sollten also „auf einmal" gezeigt und gesehen werden. Die Zusammenschau in den gestaf57
MAJOR
1688, IV. Capitel, §. 8, 23.
37
Gedächtnisorte
feiten Sammlungseinheiten und der Überblick über die ausgestellten Bestände waren ein zentrales Thema in den museologischen Schriften. Die Kästen gaben dabei vor, welche Ordnungsschritte anzuwenden waren. Die Wahl der Aufbereitung implizierte und erzeugte bereits bestimmte Schlussfolgerungen bezüglich der Bewertung einzelner Objekte und Objektgruppen. Schrank-, Kasten- und Fächersystem schufen demnach die Voraussetzungen für das weitere operationale Handeln mit den Sammlungsbeständen.58 Bei der Anordnung der Gegenstände spielten auch formale Kriterien wie Reihung und symmetrische Ausrichtung eine maßgebliche Rolle. Bei ihrer Präsentation legte Major Wert darauf, dass „alles zugleich im ersten Anblick Venerabel und prächtig scheine".59 Explizit fordert er unter Berücksichtigung der Raumwirkung - er bezieht sich auf Decken und Wände, also auf ein dreidimensionales Erlebnis dass die Objekte nach Größe der Körper, „gleichsam staffelweise oder als wie die Orgelpfeiffen stehen / [ . . . ] / und in solcher Proportion, wo sichs thun läst / eine Wand der andern gleichmässig correspondiren lassen."60 Zum einen benennt er mit der Formulierung „gleichsam staffelweise oder als wie die Orgelpfeiffen" eine im Kontext höfischer Repräsentation gängige Form der Ausstellung kostbarer Gegenstände wie Tafel- und Silbergeschirr. Zum anderen greift er mit der Vorgabe, dass eine Wand mit der anderen „gleichmässig correspondiren" müsse, ein maßgebliches Kriterium der Kunstkammer auf: Aus der Gruppierung nach ästhetischen und systematischen Gesichtspunkten ergaben sich Ordnungsgefüge, welche die einzelnen Gegenstände miteinander in Beziehung setzten. Das Verorten von Dingen im Raum - das ,,gleichmässig[e] correspondiren lassen", wie Major es beschreibt - , fand einen wechselseitigen Niederschlag in der bildlichen Darstellung des Sammlungsinterieurs. In den museologischen Schriften beschrieben und in ihrer Bedeutung für die Wissensordnung reflektiert, wurden die Ordnungselemente Kammer, Schrank und Kasten auch als bildgebende Verfahren benutzt. Künstler wie Georg Hinz oder Domenico Remps entwickelten mit ihren gemalten Regal- und Schrankbildern eine spezifische Form des Sammlungsinterieurs, die den Bildgegenstand an sich und seine Anordnung auf der Bildfläche in den Vordergrund rückte (Abb. 6-7). Im 17. Jahrhundert entwickelte sich mit den Regal-, Schrank- und Steckbrettbildern, die in Trompe-l'ceil Manier gemalt waren, innerhalb der Gattung der Stilllebenmalerei ein eigenständiges Bildsujet. Die Trompe-l'ceil Malerei, die mit dem bewussten Vorsatz der Augentäuschung antrat, hatte sich ebenfalls als eigene Bildform etabliert.61 Hinz führte mit seinen gemalten Kunstkammerregalen aus den 1660er Jahren das Ordnungsverfahren des Setzkastens als bildliches Verfahren ein. Insgesamt schuf er vier Typen
58
Zur Bedeutung dieser Ordnungssysteme: P E L Z 2 0 0 1 ; K R A J E W S K J 2 0 0 2 ; TE H E E S E N
59
MAJOR
60
MAJOR 1 6 7 4 , V I I I .
61
TE H E E S E N
1997a;
TE H E E S E N
1999;
MÜLLER-WILLE
2001;
2007.
1674, VIII. Capitel, §. 4 (ohne Paginierung). Capitel, §. 6 (ohne Paginierung). Zum Trompe-l'oeil und den gemalten Schrank-, Regal- und Steckbrettbildern: 1 9 9 9 ; STIL-LIFE PAINTINGS 1 9 9 9 ; EBERT-SCHIFFERER
2002.
B U R D A 1 9 6 9 ; ILLUSIONS
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Museologie und Staatsbeschreibung Abb. 6. Georg Hinz, Kunstkammerregal mit Pistolen, um 1665, Öl auf Leinwand, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Schloss Köpenick
von Regalbildem, die er in zwei, drei, elf oder fünfzehn Fächern aufteilte.62 Die Bildform ist damit erklärt worden, dass es sich um die Wiedergabe einer konkreten Sammlung handelte. Bislang konnte allerdings nicht rekonstruiert werden, um welche Sammlung es sich auf den Gemälden hätte handeln können. Einige der Bilder stammen aus höfischem Besitz, jedoch konnte keines der Werke in Bezug auf einen Käufer oder Auftraggeber zurückverfolgt werden.63 Kennzeichen dieser Bilder ist, dass die Regalbretter ohne Scharniere oder verglaste Türen in Nahsicht, wie in einer optischen Vergrößerung gezeigt, die gesamte Bildfläche einnehmen. Während auf Bildern wie dem Kunstkammergemälde von Frans Francken (Abb. 8) der Raum in eine perspektivisch konstruierte Bildtiefe fuhrt und unterschiedliche Raumschichten miteinander verschränkt, entwickelte Hinz den Bildraum in 62 Grundlegende Untersuchung der Bilder von Hinz bei B A S T I A N 1984. Die Ausstellung „Georg Hinz. Das Kunstkammerregal" von 1996 und der gleichnamige Katalog haben überzeugend die Verortung der Bilder von Hinz in die Tradition der gemalten, still liegenden Dinge einerseits und der Kunstkammer andererseits gezeigt. G E O R G H I N Z 1996. 63
HEINRICH 1 9 9 6 ,
19.
Gedächtnisorte
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Abb. 7. Domenico Remps (?), Kunstkammerschrank, zweite Hälfte 17. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, Museo dell 'Opifcio delle Pietre Dure, Florenz
Richtung des Betrachters. Der Bildaufbau ergibt sich aus einem horizontalen und vertikalen Liniengerüst. Die Auswahl der Gegenstände zeigt eine charakteristische Zusammenstellung typischer Kunstkammerobjekte, die im 16. und 17. Jahrhundert gesammelt wurden. Hinz gibt sie, eingepasst in die rigide Felderstruktur der Regalkonstruktion, annähernd in ihrer Originalgröße wieder. Er verfugte über ein Repertoire an Einzelmotiven, aus dem er unter Hinzufügung neuer Details seine Gesamtmotive konstruierte.64 Die Anordnung ermöglichte das vergleichende Sehen verschiedenster Objekte; Übereinstimmungen ergaben sich bei gleichzeitiger Verschiedenheit. Die gewählte Form des Bildsujets führte das Verfahren vor, wie sich aus einer vermeintlich beliebigen Auswahl von Artefakten eine Sammlung zusammensetzte. Mittels des Fächersystems wurden Kombination, Umstellung, Vertauschung und Variation als Verfahren der Inszenierungs- und Ordnungsstrategien veranschaulicht. Der Setzkasten ermöglichte es die Größenverhältnisse der Objekte zueinander einzuschätzen. Anders als bei den guckkastenähnlich angelegten Interieurs auf Franckens Gemälde (Abb. 8) oder auf den Frontispizen zu den Sammlungsbeschreibungen Ferrante Imperatos „DeH'Historia Naturale" von 1599 (Abb. 9) oder Fernando Cospianos „Museo Cospiano" von 1677 (Abb. 10) ordnete die Regalkonstruktion der Hinzschen Gemälde den Blick wie ein Fensterrahmen oder Fadenkreuz. Während die Frontispize eine panoramaartige Sicht auf ein dichtes Nebeneinander verschiedenster Artefakte zeigen,65 isoliert die Fächerkonstruktion auf den Bildern von Hinz die Objekte zunächst voneinander. Beide Typen des 64 Einige der dargestellten Gegenstände lassen sich identifizieren. Er selbst kannte verschiedene Kunstkammersammlungen sowie Formen der Aufbewahrung und Präsentation aus Sammlungsbeschreibungen. H E I N R I C H 1 9 9 6 , 1 8 - 1 9 . Als Anschauungsmaterial dienten ihm neben Objekten auch gemalte oder grafische Vorlagen. B A S T I A N 1 9 8 4 , 2 1 7 - 2 2 3 . 65 Zu den Rauminszenierungen der Kunstkammerdarstellungen: VALTER 2000. Zu den Darstellungen der Kunstkammer im Kontext von Theatralisierung und Medialisierung musealer Räume: F E L F E 2003b; W E N Z E L 2006.
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Museologie und Staatsbeschreibung
Abb. 8. Frans Francken d.J., Kunst- und Raritätenkammer, um 1625, Öl auf Holz, Kunsthistorisches Museum, Wien
Sammlungsinterieurs zielten jedoch auf eine auf Totalität angelegte Präsentation ab, die auf einen Blick erfasst werden sollte. Bei den guckkastenähnlich angelegten Ansichten auf den Frontispizen war der gesamte Raum Spielfläche kompositioneller Ordnungs- und Dekorationshierarchien. Aus der kompakt angelegten Raumkonstruktion, vor allem aber durch das enge Nebeneinander der Objekte ergab sich eine netzartige Dichte, so dass die Darstellungen trotz zentralperspektivischer Anlage dem Betrachter keinen eindeutigen Bezugspunkt boten, der als Fokus für einen hierarchisch gegliederten Raum hätte dienen können. Der Betrachter muss sich folglich den Raum Schritt für Schritt erobern, er muss die Sammlung Stück für Stück durchwandern, sich mit Blicken hin- und herbewegen. Die gemalten Setzkastenbilder hingegen veranschaulichen auf der Grundlage des Fächersystems eine vernetzte Ordnungsstruktur. Wie die Bildrahmung lenkt es den Blick, gibt einen Ausschnitt vor, fragmentiert die Einheit und ermöglicht gleichzeitig eine Kombina-
Abb. 9. Ansicht des „Dell'Historia Naturale", aus Ferrante Imperato, Dell'Historia Naturale, Neapel 1599
Abb. 10. Ansicht des „Museo Cospiano", aus Lorenzo Legati, Museo Cospiano, Bologna 1677
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Museologie und Staatsbeschreibung
tion der isoliert dargestellten Elemente.66 Das Frontispiz zu Michael Bernhard Valentinis „Museum Museorum, oder vollständige Schaubühne aller Materialien und Specereyen" von 1704 - 1714 erschien der zweite Band - verdeutlicht diesen Ausschnittcharakter, indem es lediglich einzelne Sequenzen eines Sammlungsraums zeigt (Abb. 11). Mit den Begriffen Museum und Schaubühne werden bereits im Titel Überblicksperspektive und szenografische Repräsentation angesprochen. Neben den Darstellungen sämtlicher Artefakte aus Natur, Kunst und Technik enthielten die zwei Bände eine Bibliographie zum Sammelwesen, Beschreibungen diverser höfischer und bürgerlicher Kunst- und Naturaliensammlungen sowie einige, vollständig abgedruckte, museumstheoretische Texte.67 Das Titelblatt des ersten Bandes zeigt ein Arrangement von Objekten, aufgeteilt in Bildfelder, die voneinander isoliert Einblicke in verschiedene Sammlungszusammenhänge und -Präsentationen geben. In den Feldern oberhalb und unterhalb der Titelei werden die Objekte an Wand und Decke gehängt, in beschrifteten Kästen sortiert und auf Regalen ausgelegt präsentiert. Der Eindruck der Fragmentierung und Zusammenschau zugleich wird dadurch unterstützt, dass Teile des Blattes aus Sequenzen des Frontispizes zu Ole Worms „Museum Wormianum" von 1655 (Abb. 12) zusammengesetzt sind. Das Titelblatt zu Valentinis „Museum Museorum" veranschaulicht, dass Bildmontage und Aufteilung in einzelne Bildfelder in Analogie zur Aufbewahrung der Materialien in Schränken, Kästen oder auf Regalen standen. Kasten- und Fächersystem dienten auch in anderen Zusammenhängen als Ordnungsund ,Denk'-Instrumente. In Bezug auf die Organisation von Informationen und die vorzunehmende Ordnung schildert der Natur- und Sprachforscher Georg Philipp Harsdörffer im dritten Band der „Deliciae physico-mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden" von 1653 „wie die Register in die Bücher / ohne grosse Mühe" mit Hilfe eines Zettelkastens zu machen wären. Alphabetisch eingerichtet, sei es „sehr dienstlich / dass man eine Schachtel mit 24 Fächern habe / deren jedes mit einem Buchstaben bezeichnet ist: [...] [man] schreibet den Inhalt / [...] / auf ein Papyr / schneidet es in absonderliche Stücklein / und leget jedes in sein Buchstabenfach: von dar nimmt man sie zu letzt wieder heraus / ordnet einen Buchstaben nach dem andern / und klebet entweder die Papyrlein ordentlich auf / oder schreibet sie noch einmal." 68
Der Kasten als Ordnungsmöbel lieferte demnach die Voraussetzungen für die weitere Organisation des Wissens auf dem Papier. Von kaufmännischer Seite empfahl der Jurist und Ökonom Paul Jacob Marperger den Geschäfts- und Kaufleuten in seinem lexikonar66 Zum gerahmten Bild als eine den Blick lenkende Orientierung: M E Y E R SCHAPIRO 1994, 2 5 7 - 2 5 8 . TE H E E S E N 1997b zum zusammengesetzten Bildtableau und seiner pädagogischen Bedeutung im 18. Jahrhundert. 67 Zu Valentinis „Museum Museorum": B E C K E R 1996,40—43; zum Frontispiz des „Museum Museorum" sowie zum Warenkabinett und Warencharakter von Sammlungen: TE H E E S E N 1997a, 159-160. 68 HARSDÖRFFER 1653, 57. Die „Deliciae physico-mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden" wurden von dem Mathematiker und Orientalisten Daniel Schwenter als großes Sammel- und Fortsetzungswerk 1636 angelegt und behandelten alle Gebiete der Natur- und Geisteswissenschaft. Harsdörffer ergänzte das Schwentersche Werk um zwei Bände. Zu Harsdörffers Ergänzung der „Deliciae physico-mathematicae": B E R N S 1991.
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VALENTIN I
NATUR Ultl*
MATERIALIEN Λα mine ι Xitel) Schreiben utti> RAIT'OJCFEX
Abb. 11. Frontispiz aus Michael Bernhard Valentini, Museum Museorum, oder vollständige Schaubühne aller Materialien und Specereyen, Frankfurt am Main 1704
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Abb. 12. Ansicht des „Museum Wormianum", Frontispiz aus Ole Worm, Museum Wormianum, Leiden 1655
tigen Werk „Das in Natur- und Kunst-Sachen Neu-eröffnete Kauffmanns-Magazin" von 1708 die Einrichtung eines Schranks mit Schubladen, um darinnen „gehörige Materialia, sie bestehen gleich ex Mineralibus, Vegetabilius, Animalibus, oder aus Compositis, jedes seiner Sorte nach daselbst hinein" zu sammeln.69 Zur Organisation schlug er ein System aus 24 Schubladen vor, die alphabetisch jeweils mit einem Buchstaben bezeichnet werden sollten. Er selbst habe sich zum „eigenen Gebrauch" eines eingerichtet und ,jede dieser Schub-Laden wieder in 64. und also zusammen in 1536 Fächer abgetheilet".70 Marperger sprach sich zudem bei der Bestimmung von Waren und Proben für die Lektüre von Sammlungsbeschreibungen wie auch allgemeinen Abhandlungen über Kunst- und Naturalienkammern aus. Darunter erwähnte er die Schilderung des Museums Francesco Calzolaris, die Schriften Johann Daniel Majors, die Sammlungsbeschreibungen Ole Worms und George Everhard Rumphs sowie das groß angelegte Sammelwerk des Romanautors Eberhard Werner Happel.71 Marpergers Buchempfehlungen wie auch seine 69 Paul Jacob Maiperger, Das in Natur- und Kunst-Sachen Neu-eröffnete Kauffmanns-Magazin, Hamburg 1708, Vorrede; zitiert nach: TE HEESEN 1997a, 155. 70 Marperger 1708 (Anm. 69). 71 Marperger 1708 (Anm. 69).
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Anregung zur Gestaltung eines Sammlungsschranks zeigen, in welch hohem Maße die Kunst- und Naturalienkammern mit ihrem integrativen Konzept unterschiedliche Interessensfelder bedienten und nützliches Wissen bereitstellten.72 Dass sich der Kasten als wichtiges Ordnungsmöbel und Erkenntnisinstrument durchgesetzt hatte und als System so überzeugend war, zeigt auch die Bildersammlung des Theologen Johann Siegmund Stoy in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ausgehend von dem Kasten als welterzeugendes Ordnungsinstrument entwarf Stoy mit seiner „Bilder-Akademie für die Jugend" (1780-84) eine enzyklopädische Propädeutik, die er in einem Kasten mit unterschiedlich großen Fächern einrichtete. In den Fächern sortierte er auf Karten aufgezogene Kupferstiche, welche die Welt geordnet in Bildern erklären sollten.73 Die Anordnung von Objekten im Kasten, ihre Zusammenstellung wie auch ihre Separierung, hatte sich als ein elementares Verfahren medialer Sinnproduktion etabliert. Die Sammlungsinterieurs von Hinz oder Remps zeigen, wie mittels Kasten oder Schrank aus einer (zufälligen) Zusammenschau der Dinge eine systematische Ordnung hergestellt werden konnte. Die Vorteile des Kastens waren die überschaubare Größe und die flexible Handhabung des Materials: ob die Ordnung nun systematisch oder unsystematisch angelegt war, das gesammelte Material konnte wiederholt neu und umgeordnet werden.
Verzeichnung der Objekte Ein weiteres Ordnungssystem der Kunstkammer neben Tafel, Kasten und Schrank war für Major der General- und Universalkatalog. Bevor man die Objekte in Schränke und „Repositoria" setze, solle der zuständige Verwalter und Aufseher der Sammlung - von Major Kunstkämmerer genannt - die Objekte „im Kopff herumbtrage[n]" und in einem Generalkatalog „zu Papier projectire[n]".74 Zu berücksichtigen sei bei der Anlage des Katalogs, dass „nicht allein diejenigen Dinge / die würklich zugegen seyn" verzeichnet werden, „sondern auch andere", die „künfftig hinein gesetzet werden", einen entsprechenden Platz eingeräumt bekommen müssen.75 Nicht nur im Katalog, auch in der Sammlung selbst sollte Raum für Neuzugänge eingeplant werden.76 An die Stelle von 72 Zum Warenkabinett und zum Bezug Kunst- und Naturalienkammern: TE H E E S E N 1997a, 152-157. 73 Zur Sammlung Stoy und der Bedeutung des Kastens: TE H E E S E N 1997a. TE H E E S E N 1999 zur Funktion des Sammlungsschranks in Naturalienkabinetten des 18. Jahrhunderts. Eine Geschichte des Schranks als verwaltungstechnisches und wissenschaftliches Möbel bei TE H E E S E N / D E M A N D T 2007. Zum Zettelkasten und Karteisystem als Daten verarbeitende und Ordnungsstrukturen entwerfende Einheiten: KRAJEWSKJ 2002. Zu Kästen, Vitrinen, Alben und Katalogen als ästhetische Objekte und wie sie organisiert werden: P E L Z 2001. 74 M A J O R 1674, VII. Capitel, §. 4 (ohne Paginierung). 7 5 M A J O R 1 6 7 4 , V I I . Capitel, §. 4 (ohne Paginierung). 76 M A J O R 1674, VII. Capitel, §. 4 (ohne Paginierung). Wegen „neu-ankommender Stücke willen / [kann] das gantze Werck nicht allezeit umbgesetzt" werden. Darum sollten „die gegenwärtigen Dinge anfangs was weitläufiger von einander zu setzen; so kann das / was ferner dazu komt / ohn alle Müh fein artig an seinen gehörigen Ort da-zwischen gethan" werden.
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Objekten, die aufgrund ihrer Größe nicht am entsprechenden Platz ausgestellt werden konnten, sollte „ein nach verjüngtefm] Maßstab gezeichnetes kleines Conterfait in die jenige stellen" gesetzt werden, „wohin das grössere Original / der Physikalischen Ordnung nach gehöret."77 Die Funktion des Universalkatalogs erschöpfte sich demnach nicht in der bloßen Verzeichnung der Objekte in Form von Namen und Nummer. Er diente als Richtschnur für den gezielten Erwerb noch fehlender Objekte.78 In Ergänzung und „Completirung" des Katalogs empfahl Major, ein „Raritäten-Buch" als umfassendes Bildinventar anzulegen. In seinen ,,Unvorgreiffliche[n] Bedencken" schreibt er abschließend, dass „es aber einem Kunst-Kämmerer nicht übel an [stünde] / zu Perfectionirung Natürlicher Wissenschafft / und zu Completirung Seines Universal Catalogi, alles dergleichen demselbigen einzuverleiben / und beynebenst auf Unkosten der Obrigkeit / ein groß Raritäten-Buch / da alle Ihm-bewußte Raritäten der Welt / in der aller-accuratesten Ordnung / mit Wasser-Farben / in natürlicher Grösse und Colör / oder / wo die Cörper zu groß / nach dem eqüngte MaaßStab gemahlt / in groß-Folio zu beschaffen / mit dazwischen-gefügte Beschreibunge / nicht allein wie alles heisse / was es seye / und wohin es nach Hause gehöre / &c. sondern zugleich und fürnemlich auch / seiner inneren Qualitäten nach / und fürnehmsten glaubwürdigen Experimenten / die jemahls / und in diesem Seculo voraus / in Teutschland / Italien / Frankreich / Dennemarck / Holl- und Engelland / &c. in Physico-Mathematico-Technicis, zu nützlicher Kundschaft kommen." 79
Während die von Quiccheberg in seinem Traktat als „gesonderte Bibliothek der Bilder" bezeichnete Grafiksammlung lose in Kästen, Schränken oder Vitrinen aufbewahrt werden sollte, plädierte Major für eine gezeichnete Bildersammlung, die in Form eines gebundenen Buches in Großfolioformat zur Verfugung stand. Der Bezug zu Cassiano dal Pozzos „Museo Cartaceo" - bereits im Zusammenhang mit Quiccheberg zitiert - liegt nahe.80 Majors Bildinventar war jedoch stärker in das operationale Handeln mit den Sammlungsbeständen eingebunden. Sein „Raritäten-Buch" stand einerseits in wechselseitiger Beziehung zum Universalkatalog, andererseits diente es der „Perfectionirung Natürlicher Wissenschafft" und war damit Bestandteil des Erkenntnisprozesses. In seiner Beschreibung des Museums Cimbricum von 1688 präzisierte er seine Vorstellungen von der Verzeichnung der Sammlungsbestände noch: „die gesammelten Dinge aber /[...] [müssen] von einem / der Philosophie verständigen KunstKämmerer / unter verschiedene andere Titul in Registern gebracht und unter den andern aber nur anweisungsweise / eingeschrieben werden."81
Als Beispiel für diese mehrfache Verzeichnung führt er ein Mikroskop an, dass, wie alle anderen Objekte,
77
MAJOR
1674, VIII. Capitel, §. 5 (ohne Paginierung).
78 JAHN 1 9 9 4 , 4 8 3 .
79 MAJOR 1674, VIII. Capitel, §. 13 (ohne Paginierung). 80 Literaturangaben zu Cassiano dal Pozzos Papiermuseum: Anm. 39. 8 1 MAJOR 1 6 8 8 , V. Capitel, § . 9 , 2 5 .
Staatsverwaltung
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„auch nicht in einen Orth [gehöret] / sondern theils unter den Titul (OPTICA) theils ad Sulfura Naturae Concreta, theils zum Titul (FABRILIS in Metallo) theils unter die Metalla, und wiederum unter den Titul (TOREVTICA) zuschreiben." 82
Wie Quiccheberg dachte Major also das Objekt in verschiedenen Kontexten. Durch mehrfaches Verzeichnen wurden unterschiedliche Qualitäten des Objekts deutlich, das Objekt selbst wurde in verschiedene Bedeutungszusammenhänge gebracht. Sich gegenseitig ergänzend, stellten seine Ordnungs- und Aufbewahrungsprinzipien ein System dar, das durch Beweglichkeit und Offenheit gekennzeichnet war. Die ordnungsästhetischen Überlegungen waren nicht von ökonomischen Argumenten zu trennen. Die Serie von Kammer, Schrank und Kasten stellte eine Dreiheit dar, durch die die Materie in überschaubarer werdenden Einheiten verzeichnet wurde. Es handelte sich jedoch nicht um eine Abfolge oder einen Ablösungsprozess der einen durch die andere Sammlungseinheit, vielmehr existierten sie parallel in verknüpfter Form nebeneinander; Tafel und Tabelle lassen sich als weiteres Glied in diese Reihe einfügen. Kasten und Tafel stellten als Ordnungsinstrumente die kleinste transportable Einheit dar. Quiccheberg beschreibt in Bezug auf die Sammlung materieller Objekte, dass die Erkenntnisse, die sich „aus der Betrachtung der Bilder, der Untersuchung der Stoffe und der Ausrüstung mit Werkzeugen der ganzen Welt heraus" ergeben, „bald in gliedernde[n] Tabellen [...] zugänglich und klarer" zusammengefasst werden.83 Major geht einen Schritt weiter, indem er in seiner Abhandlung über die Kunst- und Naturalienkammer das Gehirn als Tafel definiert. Die von ihm vorgeschlagene räumliche Disposition, zusammen mit der Verzeichnung in Katalog und Bildinventar, sollte eine Sicherheit im Erkenntnisprozess in doppelter Hinsicht erzeugen: nicht nur die auf Totalität angelegte Präsentation der Objekte konnte und sollte auf einen Blick erfasst werden, Katalog und Bildinventar vermittelten zudem die Gewissheit, das Richtige auf die richtige Art und Weise auf der 'Tafel des Gehirns' abzuspeichern. Majors Vorgaben zur Handhabung der Objekte machen dabei deutlich, dass die Fragen nach dem Gebrauchszweck, nach der formalen Anordnung und der Präsentationsform in unmittelbarer Beziehung zueinander standen.
3. Staatsverwaltung Mit Gottfried Wilhelm Leibniz und anschließend Carl von Linne werden zwei Autoren vorgestellt, deren Schriften für die Bereiche Staatsverwaltung und Naturgeschichte von wesentlicher Bedeutung waren und die darüber hinaus den Komplex einer Sammlung als wesentlichen Baustein ihrer Ordnungsvorstellungen reflektierten. Sowohl Leibniz als auch Linne stellten ihre Ordnungskonzepte in den Dienst staatlicher Interessen, in82 MAJOR 1688, VII. Capitel, §. 10, 35. Major weist zudem auf die Kunst des Buchhaltens hin, die bei der Verzeichnung der Bestände von großem Nutzen wäre. 83
QUICCHEBERG 1565/ROTH 2 0 0 0 , 1 6 1 .
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Museologie und Staatsbeschreibung
dem sie sie auf politische und wirtschaftliche Zusammenhänge übertrugen. Anhand der Schriften beider Autoren lässt sich nachvollziehen, wie die Systematisierungstendenzen, die sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hatten, im späten 17. und dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihre volle Wirkungsmacht entfalteten. Im 17. Jahrhundert formierte sich in enger Verbindung mit der neuzeitlichen Statistik und Staatsbeschreibung die politische Ökonomie, welche die Belange des Staates organisieren sollte. In Deutschland wurde sie aufgrund der fürstlichen Finanzverwaltung, der camera, als Kameralismus bezeichnet. Programm war, die „unzähligen Einfalle, Erfindungen, Projekte und Anschläge" in einen begründeten Zusammenhang einer Universalökonomie zu überführen.84 Die ökonomische Lehre umfasste die Gebiete der Finanz-, Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaft sowie der Naturgeschichte, Medizin und des Sittenwesens; darunter entwickelten sich Polizei und „Policey-Wissenschaft" zu einem Verwaltungsorgan, das die Aufgabe hatte, das Leben zu organisieren und den Menschen zu Glück und Zufriedenheit zu verhelfen.85 Der Begriff der politischen Ökonomie tauchte 1611 in Louis de Mayerne Turquets Traktat „La monarchie aristodemocratique" auf, in dem er Beobachtungen zur Ökonomie und zu den Beziehungen zwischen Ökonomie und Staat schilderte.86 Vier Jahre später publizierte der Beamte Antoine de Montchretien in Anlehnung an Turquet seinen „Traite de l'CEconomie politique" von 1615, in dem er beklagt, dass es dem Staat an genauem Wissen über sich selbst und damit an einem exakten Bild seiner Stärke fehle.87 Das Vorhaben, eine genauere Vorstellung über die Staatskräfte zu erhalten, unter denen man die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bevölkerungsentwicklung, Exportgeschäft und Handelsbilanz verstand, hatte die intensive Vermessung, Registrierung und Verwaltung des Raums, der Lebewesen und der Ressourcen zur Folge.88 Statistik und Staatsbeschreibung waren in diesem Aneignungsprozess zentrale Verfahren. In der Erfassung und Inventarisierung der staatlichen Kapazitäten kam zudem der Buchhaltung eine we84 So der Kameralist Georg Heinrich Zincke über das Anliegen des Arztes und Ökonoms Johann Joachim Becher, in: Johann Joachim Becher, Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte und Länder oder Gründliche Anweisung zur Stadt- Wirthschaft und Policey der deutschen Staaten [...], hg. von Georg Heinrich Zincke, Frankfurt/Leipzig 1754, aus der Vorrede (ohne Paginierung); zitiert nach: VOGL 2002, 64. 85 Zum Kameralismus im Kontext industrieller Entwicklung und der Verschiebung der Naturbetracht u n g : TROITZSCH 1 9 6 6 ; BRÜCKNER 1 9 7 7 ; VOM BRUCH 1 9 8 5 ; BAYERL 1 9 9 4 ; BAYERL/MEYER 1 9 9 6 . Z u r
Bedeutung der Polizei und „Policey-Wissenschaft": SIMON 2004. 86 KING 1948, 230. Vollständiger Titel des Traktats: La monarchie aristodemocratique ou le gouvernement compose et mesle des trois formes de legitimes Republiques. Der Text wurde eventuell schon 1590 verfasst. 87 VOGL2002, 39. 88 PORTER 2001, 12, zeigt die Verbindung von Ökonomie mit der Geschichte des Messens auf. Zur Bedeutung des Messens und Zählens in der politischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts: KERN 1982; KAUFHOLD/SACHSE 1 9 8 7 ; JOHANNISSON 1 9 9 0 ; HAMBERGER/KATZMAIR 1 9 9 6 . Z u r p o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e
als Ordnungswissenschaft im Konzept der Kameralwissenschaft im 18. Jahrhundert: VOGL 2002 (insb. 6 0 - 6 8 ) . Zu den administrativen Praktiken im Staatsbildungsprozess: GOTTSCHALK 2004.
Staatsverwaltung
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sentliche Rolle zu; auf staatlicher Ebene angewandt stellte sie eines der grundlegenden Instrumente der effizienten Regierungsführung dar.89 Im Zusammenhang mit der Frage, wie das Wissen über die Staatskräfte zu bündeln und die wissenschaftlichen Ressourcen für die landeseigenen Interessen zu nutzen seien, formulierte Gottfried Wilhelm Leibniz in den 1670er Jahren verschiedene Programmschriften zur Einrichtung einer Akademie sowie zur Handhabung und Aufbereitung von Informationen, die den Staat betrafen. Leibniz, der von 1667 bis 1672 als juristischer Berater am Mainzer Hof gearbeitet hatte, verfasste während seiner Zeit dort zwei grundlegende Schriften zur „aufrichtung einer Societät in Teutschland zu auffnehmen der Künste und Wissenschafften".90 In beiden Denkschriften forderte er die Einrichtung einer an den nationalen Bedürfnissen orientierten Institution, deren Arbeit auf die ökonomischen Bereiche wie Handel, Gewerbe und Bergbau ausgerichtet sein sollte. Kennzeichnend für beide Texte ist die Verknüpfung kultureller und politischer Zielsetzungen. Als grundlegendes Argument für eine Sozietätsgründung führte Leibniz den göttlichen Auftrag fürstlicher Fortschrittsförderang an und zog damit den Monarchen direkt in die politische Verantwortung.91 Als Vorbilder dienten ihm die in London 1660 gegründete „Royal Society of London for the Promotion of Natural Knowledge" und die in Paris 1666 eingerichtete „Academie des Sciences" zur gemeinschaftlichen Erforschung der Natur. Leibniz hatte sich von 1672 bis 1676 in Paris aufgehalten und sich dort auch auf eine Stelle an der „Academie des sciences" beworben. Die Ablehnung ließ ihn 1676 an den Hannoverschen Hof wechseln. In der Zusammenarbeit von Gelehrten und Praktikern aus den verschiedenen Bereichen Kunst und Natur - wie es die Akademien in London und Paris propagierten sah auch Leibniz den Nutzen von Wissenschaft. Wie für Quiccheberg gut 100 Jahre zuvor, bildete auch für Leibniz ein Museums-, Sammlungs- und Archivkomplex samt Bildarchiv und Bibliothek den grundlegenden Baustein seines Akademiekonzepts. Hauptanliegen war die Einrichtung eines „Theatrum naturae et artis oder Kunst-, Raritäten- und Anatomiae-Kammer", um eine „leichte erlernung aller dinge" zu ermöglichen.92 Im Zusammenhang mit seinen Akademieplänen für Berlin, Dresden, Wien und
89
SIEGERT 2003,50. Im 18. Jahrhundert wurde die Buchhaltung als „staatswirtschaftliches Buchhalten" in den Definitionsbereich der „Kameralontologie" aufgenommen. VOGL 2002, 60. 90 Zitiert aus dem Titel von Leibniz' Akademieschrift „Grundriß eines Bedenkens von aufrichtung einer Societät in Teutschland zu auffnehmen der Künste und Wißenschafften", die um 1671 entstand (LEIBNIZ (Grundriß) 1671a). Die zweite Denkschrift „Bedencken von aufrichtung einer Academie oder Societät in Teutschland, zu Aufnehmen der Künste und Wißenschafften" verfasste er ebenfalls um 1671 (LEIBNIZ (Bedencken) 1671b). Bereits 1668 und 1669 hatte Leibniz mit der „Societas Philadelphica" und der „Societas Confessionum Conciliatrix" zwei Ideenschriften einer Gelehrten-sozietät vorgelegt, die sich durch einen übernationalen und überstaatlichen Charakter auszeichneten; vergleichbar mit den Staatsutopien des 16. und 17. Jahrhunderts. Zu den Sozietätsplänen, die Leibniz während seiner Zeit am Mainzer Hof verfasste: B Ö G E R 1997, 54-96. 91
BÖGER 1 9 9 7 , 8 6 .
92
LEIBNIZ
(Grundriß) 1671a, 537.
50
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St. Petersburg spielte er dieses Vorhaben immer wieder durch.93 In einer Denkschrift an den brandenburgischen Kurfürst Friedrich III. aus dem Jahr 1700 schreibt er, dass „zu allen diesen Wißenschafften Bibliothecken, Iconothecae (oder Collectanea von Kupferstücken, Rissen, Bildungen und Gemählden), Kunst- und Raritäten-Kammern, Zeug- und RüstHäuser, Gärten vieler Art, auch Thier-Behältnissse, und die grossen Wercke der Natur und Kunst selbsten [dienen], von welchen all, zum Theatro Naturae et Artis, bey Churfürstl. Durchlaucht kein Mangel" ist.94
Das Konzept des Theaters der Natur und Kunst geht auf den Arzt und Ökonom Johann Joachim Becher zurück, der in seiner „Methodus didactica" von 1668 in Anknüpfung an Gedächtniskunst und Erinnerungstheater eine insgesamt vier Stockwerke umfassende Gebäudekonstruktion entworfen hatte. Dieses von ihm als „Theatrum Naturae & Artis" bezeichnete Modell basierte methodisch auf der Verknüpfung von ,,Wörter[n] mit den Sachen".95 Die Untersuchung der Beziehungen zwischen den Dingen und den Begriffen war für Becher konstitutives Element für das Verständnis von Bedeutungsproduktion. Leibniz griff diesen Ansatz in seinen Akademieentwürfen auf.96 In seinem 1675 in Paris entstandenen „Dröle de Pensee" schilderte er ein Theater der Natur und Kunst, in dem er gleich einem umfassenden museologischen Programm seine Überlegungen zur Aufstellung, Vorführung und Vermittlung der Exponate darlegte.97 Er projektierte in diesem Text eine „Academie der Spiele" mit Theater- und Varietevorführungen zur Unterhaltung, Bildung und Zerstreuung.98 Auch Johann Daniel Major beschrieb in seinem ein Jahr zuvor publizierten Traktat „Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein" (1674), dass eine derartige Sammlung der „Belustigung" sowie „Ergötz- und nützlichen Beschauung" dienen sollte.99 Während Major noch bedauerte, dass die Kunstkammer räumlich begrenzt sei, durchbrach Leibniz in seinem „Dröle de Pensee" den 93
Zu den Akademieschriften und -plänen Leibniz' für die verschiedenen Städte: GUERRIER 1 8 7 3 ; BENZ 1 9 4 7 (zu den russischen Akademieplänen); WIEDEBURG 1 9 6 2 / 1 9 7 0 ; BRATHER 1 9 9 3 (zum Berliner Akademieprojekt); BÖGER 1 9 9 7 (grundlegende Untersuchung zu Leinbinz' Sozietätsplänen); WERRETT 2 0 0 0 ; BREDEKAMP 2 0 0 4 ,
94
170-189.
Gottfried Wilhelm Leibniz, Denkschrift I I an den Kurfürst Friedrich
III., 1 7 0 0 ;
zitiert nach:
BRATHER
1993, 77.
95 Johann J. Becher, Methodus didactica, München 1668, 4r-^lv; zitiert nach: BREDEKAMP 2004, 40. 96 Zur Auseinandersetzung Leibniz' mit Bechers Theaterkonzept: BREDEKAMP 2004, 40-44. 97 LEIBNIZ (Gedankenscherz) 1675. Vollständiger Titel seines museologischen Programms: Dröle de Pensee, touchant une nouvelle sorte de REPRESENTATIONS. Die deutsche Übersetzung „Gedankenscherz, eine neue Art von REPRESENTATIONEN berührend", mit Kommentar von Arno Victor Nielsen in: WUNDERKAMMER DES ABENDLANDES 1994,122-126. Überarbeitete Übersetzung „Gedankenscherz, eine neue Art von REPRESENTATIONEN, betreffend ", nach der im Folgenden zitiert wird, durch BREDEKAMP 2004,237-246. Zum „Dröle de Pensee": WIEDEBURG 1962/1970, Bd. 2, 1, 610-639; ENNENBACH 1981; BÖGER 1997, 97-109; BREDEKAMP 2000a; BREDEKAMP 2004, 45-63. Zur Bedeutung der Museologie für Leibniz: ENNENBACH 1978; ENNENBACH 1981; BREDEKAMP 2000a; BREDEKAMP 2004. 9 8 Zur „Akademie der Spiele": WIEDEBURG 1 9 6 2 / 1 9 7 0 , Bd. 2 , 1 , 6 2 2 ; BÖGER 1 9 9 7 , 1 0 5 - 1 0 6 ; BREDEKAMP 2004, 60.
99
MAJOR
1674, III. Capitel, §. 2 (ohne Paginierung).
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fixierten Ort der Sammlung. 100 Als Vorbild dienten ihm (freilich) dennoch die auf seinen Reisen besuchten Kunst- und Naturaliensammlungen. 101 Anhand dieser Eindrücke skizzierte er im Text eine Theatersituation als Beschreibungsmodell, in dem Aufführung und Schauspiel die Relationen der irdischen Welt zur Anschauung bringen sollten. So entstehe ein „allgemeines Auskunftsbüro", an das sich alle Interessierten wenden könnten: „Man hätte dort bald ein Theater aller nur denkbaren Dinge: eine Menagerie; ein Heilkräutergarten, ein Labor, ein anatomisches Theaterm, ein Raritätenkabinett. Alle Wißbegierigen könnten sich dorthin wenden. [...] Und man würde Akademien, Kollegien, Ballspielhäuser und anderen angliedern; Konzerte und Gemäldegalerien. Konversationen und Konferenzen." 1 0 2
Leibniz schilderte also auch ein Konzept, dass sich wie Quicchebergs Traktat nicht in der Zusammenstellung von Gegenständen erschöpfte, sondern in seinem Umfang alles einschloss, was gesammelt werden konnte und in Verbindung mit entsprechenden Forschungseinrichtungen die Erkenntnis förderte. Zur Handhabung dieser Menge an Objekten und Informationen entwickelte er wie Quiccheberg und Major verschiedene Instrumentarien der Aufbereitung, die durch Zusammenfuhrung und Verdichtung eine Übersicht ermöglichen sollten und im Verbund miteinander standen.
Nützliche Bilder - „leicht und mit Lust" Weiterführender Plan der Wissenschaftsorganisation bei Leibniz war das Projekt einer umfassenden Universalenzyklopädie, die aus einem theoretischen und einem praktischen Teil bestehen sollte und deren Konzept er in sechs Manuskriptteilen verfasste. 103 Seine Überlegungen zielten darauf ab, die Denkvorgänge überschaubar zu machen und den Forschungsaufwand zu rationalisieren. Im fünften Manuskriptteil führt er einen „Atlas Universalis" auf, der dem Gesamtwerk der Universalenzyklopädie zur Seite gestellt werden sollte.104 Der Atlas war als Bildersammlung angelegt, welche die Objekte aus der Natur und Kunst, die in den Sammlungen und Museen aufbewahrt wurden, im Bild reproduzierte und in großformatigen Foliobänden zusammenfasste. Die Dinge galt es zu sammeln, „damit in Sternwarten, Laboratorien, Bergwerken, Gärten, zoologischen Gärten und Rüstkammern neue Experimente durchgeführt und die erfassten nach der be100 Leibniz'Ausstellungskonzept, in dem alle Künste, Wissenschaften, neueste Erfindungen und Spiele präsentiert werden sollten, steht in der Tradition der Gedächtnistheater Quicchebergs und Camillos und lässt sich bis zu den Weltausstellung im 19. Jahrhundert verfolgen. G O L D M A N N 1 9 8 2 , 159. 101 Zu den von Leibniz besuchten Sammlungen: E N N E N B A C H 1 9 7 8 ; B R E D E K A M P 2 0 0 4 , 2 9 - 3 4 . 1 0 2 LEIBNIZ (Gedankenscherz) 1675; zitiert nach: B R E D E K A M P 2 0 0 4 , 2 4 2 . Leibniz erwähnt verschiedene Sammlungen als Beispiel, darunter das Museum Athanasius Kirchers in Rom, dessen Sammlung eine der imposantesten Kunstkammer zu der Zeit war. 1 0 3 Zum Konzept der Universalenzyklopädie: B Ö G E R 1 9 9 7 , 1 1 6 - 1 4 3 . Der erste, vierte, fünfte und sechste Konzeptteil sind ediert in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, 4. Reihe, Bd. 3, Politische Schriften 1677-1689, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1986, 775-781, 782-786, 786-789, 789-795. 104
BÖGER
1 9 9 7 , 121. Zur Konzeption des Bilderatlas:
BREDEKAMP
2004, 156-160.
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reits begründeten Enzyklopädie als Ergänzung hinzugefügt werden können."105 Leibniz spricht von „Tafeln, figuren und wohlgemachter auch da nöthig und nützlich illuminirter Zeichnungen oder Abriße".106 Der Atlas sollte das Wissen zur Anschauung bringen, um damit „dem Menschlichen gemüth alles leicht und mit Lust beyzubringen".107 Im vierten Manuskriptteil spitzt er seine Argumentation noch zu: Der Vorteil eines derartigen Bilderatlasses bestünde darin, das Wissen „in einem blick" und „ohne umbschweiff der worthe" zu erfassen.108 Seine bildtheoretischen Überlegungen sind von den Aspekten Nützlichkeit und Effizienz geprägt. Die Lehrmethode führte nicht von den Wörtern zu den Dingen, sondern das Bild als Sinnzusammenhang und Sinngefüge übernahm die (willkürliche) Bedeutungsverleihung, in deren Rahmen neue Zusammenhänge gesetzt werden konnten. Der Atlas sollte somit die Möglichkeit bieten, die Realität durch die gesammelten Bilder zu verstehen. Anregung für ein solches Bildinventar hatte Leibniz während seiner Zeit in Paris erhalten. 1667 verkaufte Michel de Marolies, Abbe de Villeloin, auf Vermittlung Jean Baptiste Colberts seine Grafiksammlung an Ludwig XIV. Nach dem Verkauf an den französischen Hof legte er in kurzer Zeit eine zweite Sammlung an.109 Es war vor allem die Sammlung Marolles, die Leibniz den Impuls gegeben hatte, einen universalen Bilderatlas zu konzipieren.110 Bei Marolles handelte es sich um ein Kontingent von 123.400 gezeichneten und gedruckten Blättern, die thematisch geordnet und auf weiße Bögen aufgezogen in 400 großen und 120 kleinen Bänden gebunden aufbewahrt wurden. Mit Ankunft der Bände in der königlichen Bibliothek in Paris beauftragte Colbert den Abbe, die Sammlung neu zu ordnen und mit königlichem Wappen auf dem Buchdeckel neu binden zu lassen.111 Welchen Eindruck die Sammlung Marolles auf Leibniz gemacht hat, belegt eine Passage im Projektentwurf zur Universalenzyklopädie, in der er sich auf diese Sammlung bezieht und sie als „wunderbares" Beispiel anführt, das der Schulung der Einbildungskraft diene.112 Die gebundenen Grafikblätter ergaben ein strukturiertes Sinn- und Ordnungsgefüge; gleichzeitig kennzeichnete sie eine Technik, eine Methode und eine Form der Wahrnehmung. Es mag dieses Moment gewesen sein, dass Leibniz so faszinierte und ihn zu seinem Bilderatlas inspirierte. 105 Leibniz (im sechsten Manuskriptteil zur Universalenzyklopädie); zitiert nach: BREDEKAMP 2 0 0 4 , 157. 106 Leibniz (im vierten Manuskriptteil zur Universalenzyklopädie); zitiert nach: B Ö G E R 1 9 9 7 , 123. 107 Leibniz (im vierten Manuskriptteil zur Universalenzyklopädie); zitiert nach: B Ö G E R 1 9 9 7 , 123. 108 Leibniz (im vierten Manuskriptteil zur Universalenzyklopädie); zitiert nach: BREDEKAMP 2 0 0 4 , 157.
109 Zur Sammlung Marolies - Struktur und Montage der Blätter vor dem Verkauf - und zum Verkauf im Kontext der Geschichte des Grafiksammelns (von Quiccheberg bis zu Adam von Bartsch): BRAKENSIEK 2003. 110 B R E D E K A M P 2004, 154. B R E D E K A M P 2004, 151-152, weist zudem auf Claude Perraults „Memoires pour servir a L'Histoire Naturelle des Animaux" von 1671 hin - einer der ersten Bildenzyklopädien, deren Tafeln von Sebastien Le Clerc gezeichnet und radiert wurden - , durch die Leibniz weitere Anregungen erhielt. 111 BRAKENSIEK 2003, 18. Bei BRAKENSIEK 2003, 107-109, auch der Bezug zu Cassiano dal Pozzos „Museo Cartaceo". 112 Leibniz (im sechsten Manuskriptteil zur Universalenzyklopädie); zitiert nach: BREDEKAMP 2 0 0 4 , 155.
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Die Funktion einer Bildersammlung war auch von museologischer Seite aus reflektiert worden. Quiccheberg konzipierte in Abgrenzung zum Theater ein Bildarchiv, dessen Sammlung nach inhaltlich-thematischen Objektgruppen geordnet war. Er schilderte nicht nur eine eigenständige Grafiksammlung, sondern auch ein Ordnungsinstrument, das zwischen den Ebenen der Sammlung und der Bibliothek vermittelte und Zusammenhänge aufzeigte. Major plädierte für die Anlage eines Universalkatalogs und in Ergänzung dazu für ein „Raritäten-Buch", in dem alle ,,bewußte[n] Raritäten der Welt" in Wasserfarben abgebildet werden sollten.113 Alle drei Autoren wiesen dem Bild eine erkenntnistheoretische und pädagogische Funktion zu. Das Bild fasste mehrere Sinneseindrücke zusammen; es synästhesierte das Wissen und machte es auf einen Blick erfassbar. Die Idee eines Bildarchivs oder einer „Iconotheca" - wie Leibniz es nannte - fand ungefähr 40 Jahre später in der St. Petersburger Kunstkammer seine konsequente Umsetzung. Leibniz hatte auch hier die Einrichtung eines groß angelegten Sammlungsund Forschungskomplexes wiederholt vorgeschlagen.114 1718 wurde mit einem Neubau für Kunstkammer, Bibliothek, anatomisches Theater und Observatorium begonnen. Zar Peter I. (regiert von 1682-1725) verfolgte gezielt den Ausbau der Sammlungen; während seiner Regierungszeit entwickelte sich die über 20.000 Objekte umfassende Kunstkammer zu einer der imposantesten Einrichtungen in Europa." 5 In den 1720er Jahren wurde mit dem bis dahin wohl ehrgeizigsten Projekt der Sammlungsgeschichte, der vollständigen Übertragung der Bestände in das Medium der Zeichnung, begonnen. Auf Einladung des Zaren arbeiteten diverse Künstler in der Kunstkammer an diesem Bildarchiv. Das mehrere tausend Blätter umfassende Konvolut wurde in 58 Kassetten in den Sammlungsräumen verwahrt." 6 Die Aufbewahrung der Zeichnungen im Portfolio und nicht in Klebebänden mit fester Bindung ermöglichte eine flexible Handhabung und Benutzung der Blätter. Auf den Blättern wurden Schrank- und Folgenummer des Objekts vermerkt." 7 Die Zeichnungen dienten als Anschauungsmaterial und als Grundlage für die Forschungsprojekte der Akademiemitglieder. Je nach Bedarf konnten sie als Capitel, §. 1 3 (ohne Paginierung). Zu Leibniz'Plänen einer russischen Akademie: GUERRIER 1 8 7 3 ; B E N Z 1 9 4 7 ; B Ö G E R 1 9 9 7 , 4 5 6 - 4 9 7 ; WERRETT 2 0 0 0 . Ferner die Beiträge in: BUBERL/DÜCKERSHOFF 2 0 0 3 , Bd. 2 , in denen Leibniz und seine Akademiepläne für Russland immer wieder thematisiert werden. Zur Petersburger Kunstkammer: RADZUN 1 9 9 6 ; Werrett 2 0 0 0 ; BUBERL/DÜCKERSHOFF 2 0 0 3 . MEIJERS/ROEMER 2 0 0 3 , 1 6 8 . Unter Leitung von Renee Kistemaker, Debora Meijers, Natalja Kopanewa und Georgi Wilinbachow hat eine russisch-niederländische Forschergruppe 1999 mit der Rekonstruktion und kulturgeschichtlichen Interpretation dieses „gezeichneten Museums" begonnen. Von den ca. 4.000 Zeichnungen liegt der größte Teil im Archiv der Petersburger Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften. Weitere Zeichnungen befinden sich in der Eremitage und des Russischen Museums. Zum Forschungsprojekt: M A C G R E G O R 2 0 0 1 . Zur „gezeichneten Museum" der Petersburger Kunstkammer: MEIJERS/ROEMER 2 0 0 3 ; KOPANEWA 2 0 0 3 . MEIJERS/ROEMER 2 0 0 3 , 1 7 3 , 1 7 5 , 1 8 2 . Mit Hilfe der Zeichnungen konnte die Bespielung der Schränke rekonstruiert werden. Meijers und van de Roemer haben im Falle von verschiedenen Porträtbüsten anhand der Zeichnungen die Abfolge identifizieren können.
1 1 3 MAJOR 1 6 7 4 , V I I I . 114
115 116
117
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Vorlage für Veröffentlichungen verwendet werden. Verschiedene Zeichnungen tragen einen Tafelvermerk, der sie als letzte Vorstufe einer Druckausgabe kennzeichnet.118 Der Vorteil eines derartigen Bildarchivs war, dass es unabhängig von der Einrichtung der Bestände benutzt und in seiner Disposition variiert werden konnte. In der Verdoppelung der Sammlung im Medium der Zeichnung reichte die Bedeutung des Bildes über eine Stellvertreterfunktion als Ergänzung der Sammlung oder als Ersatz für nicht vorhandene Objekte hinaus. Die Zeichnungen bildeten innerhalb der Sammlung ein eigenständiges Ordnungs- und Repräsentationsinstrument, das Sinnzusammenhänge stiftete.
Konnexion der Dinge Betrachtet man Leibniz' Schriften zur Einrichtung einer Akademie und zum Projekt einer Universalenzyklopädie zusammen mit seinen Texten zur Handhabung und Ordnung von Informationen, die ein Land oder einen Staat betreffen, so ergibt sich eine konsequent gedachte Linie von den Wissenschaftsprogrammen zu einer optimierten Staatsverwaltung. In seiner Denkschrift „Entwurff gewisser Staatstafeln" von 1680 beschreibt er ein Verfahren der Informationsverdichtung im Medium der Tafel, das dem Fürsten einen Überblick über die gesamten Staatskräfte ermöglichen sollte. Zwei Jahre zuvor - im September 1678 - hatte Leibniz in der Denkschrift „Gedanken zur Staatsverwaltung", die an Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg gerichtet war, den Plan eines umfassenden Inventarisierungsprojekts skizziert, in dem sowohl das gesamte in einem Land vorhandene Archivmaterial als auch die gegenwärtigen Rahmenbedingungen des Landes in Form eines politischen Handbuchs erfasst werden sollten.119 Leibniz wurde 1676 von Herzog Johann Friedrich als Hofrat und Bibliothekar in Hannover angestellt. Neben seiner Tätigkeit in Hannover arbeitete er ab 1690 auch als Bibliothekar in Wolfenbüttel, wo ihm die Katalogisierung der Bibliotheksbestände anvertraut wurde.120 In der Denkschrift über die Staatstafeln greift Leibniz seinen in den „Gedanken zur Staatsverwaltung" formulierten Plan der Informationsverdichtung auf und spitzt seine Überlegung im Hinblick auf die Funktion der Tafeln zu:
So lassen sich beispielsweise Stiche aus Johann Christian Buxbaums „Plantarum minus cognitarum centuria I-V, complectens plantas circa Byzantium et in Oriente observatas", 1728-1740 erschienen, auf Zeichnungen der Kunstkammerobjekte zurückführen. 119 LEIBNIZ (Gedanken zur Staatsverwaltung) 1678. Im weiteren inhaltlichen Zusammenhang mit der Denkschrift über die Staatstafeln und Staatsverwaltung stehen die Texte „Von nützlicher einrichtung eines Archivi" und „Von der Bestellung eines Registratur-Amtes", beide 1680 verfasst. LEIBNIZ (Archivi) 1680a; LEIBNIZ (Registratur-Amtes) 1680b. 1 1 8 MEIJERS/ROEMER 2 0 0 3 , 1 7 1 .
1 2 0 KRAJEWSKI 2 0 0 2 , 3 1 .
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Staatsverwaltung „Ich nenne Staats-Tafeln, eine schriftliche kurze Verfassung des Kerns aller zu der Landes-Regierung gehörigen Nachrichtungen. [...] diese Staatstafel [soll] ein schlüßel seyn, aller Archiven und Registraturen des ganzen Landes, als deren Rubriken und Register also einzurichten, daß sie endlich in diese Staatstafel als in ein centrum zusammen lauffen." 121
Ähnlich wie zuvor in Bezug auf das Bild argumentierte Leibniz auch in Bezug auf die Tafel. Als Schlüssel der Archive und Registraturen habe sie den Vorteil - so Leibniz später im Text - , alles „was zusammengehöret, gleichsam in einem augenblick" überschaubar zu machen, „denn das ist das amt der tafel, daß die Connexion der dinge sich darin auf einmal furstellet, die sonst ohne mühsames nachsehen nicht zusammen zu bringen [sind]."122 Wie bei Major die Einrichtung eines Katalogs und eines Bildinventars dazu verhelfen sollte, das Richtige auf die richtige Art und Weise auf der ,Tafel des Gehirns' abzuspeichern, diente die Tafel auch bei Leibniz einem Erkenntnisprozess in doppelter Hinsicht: Sie repräsentierte die Dinge nicht nur auf einen Blick in einer Übersichtsperspektive, sondern zeigte zugleich auch die möglichen Verbindungen auf. Inhaltlich Zusammengehöriges, das auf mehreren Ebenen nach bestimmten Gesichtspunkten aufgeschlüsselt und in Listen und Registern fixiert war, setzte die Tafel miteinander in Beziehung. Es ging demnach nicht um eine Übersetzung in additive Ursache-Wirkungs-Reihen, sondern um die Veranschaulichung von Beziehungen, die in einer „schriftlichen kurzen Verfassung" zusammengezogen wurden, weil „man nicht allzeit die dinge in Natura vor äugen haben und besichtigen, auch nicht alles in Modelle bringen, oder abmahlen und vorbilden kan".123 Mit der Staatstafel schlug Leibniz eine extrem verdichtete Form der Informationsaufbereitung vor, die eines „der beqvemsten Instrumente [darstelle], deren sich ein Herr zu erleichterung der löblichen selbst-regierung bedienen köndte".124 Die Verschiebung von der Regulierung zur Selbstregulierung staatlicher Prozesse brachte eine neue Qualität mit sich, die zu einem Kernpunkt der ökonomischen Lehre wurde.125 Als Instrument der „selbst-regierung" implizierte die Tafel Selbstorganisation und Kontrollmöglichkeit staatlicher Prozesse und Vorgänge. Überlegungen, durch bestmögliche Zusammenstellung und Organisation Arbeits- und Zeitaufwand zu optimieren, standen daher in unmittelbarer Abhängigkeit zu einer adäquaten Aufbereitung des Materials:
121 122 123 124 125
LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 341. Analyse der Leibnizschen Staatstafel bei: SIEGERT 2000b; VOGL 2002, 58-64; SIEGERT 2003, 156-190. LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 345. LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 341. LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 345. Nach dem Vorbild technischer Regelkreise wurden wirtschaftspolitische Theoreme entwickelt. VOGL 2000, 232. Zu den wirtschaftspolitischen Vorstellungen in Analogie zu technischen Regelkreisen: MAYR 1 9 6 9 ; MAYR
1971.
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Museologie und Staatsbeschreibung „Nun ist gewiß, daß es in den meisten dingen der weit an rechten inventariis mangle, und man offt wohl materi gnug, nicht aber die form, einrichtung, Ordnung und zum nötigen geschwinden fürfallenden gebrauch erforderte leichtigkeit habe, dadurch es dann geschieht, daß man alsdann erst die dinge zusammensuchen will, wenn man deren vonnöthen, da es auf das glück ankomt, ob man alles finden und nicht vielmehr das beste übersehen wird, zu geschweigen, der unruhe und ungelegenheit, die man bei solchen Sachen hat". 126
Leibniz verhandelte wie Quiccheberg ein Ordnungsmodell, auf dessen Basis der Staat gedacht werden sollte. Was Quiccheberg in Bezug auf die „gliedernde Tabelle" als Erkenntnisinstrument formulierte und Major über die Tafel als Speichermedium im Kontext des Steuerungswissens der Kunstkammer beschrieb, stellte Leibniz in seiner Denkschrift konsequent in Bezug zum Staat und zur staatlichen Verwaltung. Er entwickelte, ausgehend von den Dingen und ihren Beziehungen zueinander, ein Ordnungskonstrukt sowie eine Erkenntnistheorie, die an die materielle Anschauung geknüpft war.127 Dreh- und Angelpunkt war dabei sein relationales Konzeptdenken, in dem die Bestimmung des Standorts, die Lagebeziehungen und die Distanzverhältnisse die zentralen Aspekte bildeten. Leibniz führt dazu aus, dass man einen „solchen Vortheil der tafel bey Land und Seekarten, bey abrissen, bey der Buchhalterkunst und wohlgefaßeten rechnungen [findet], als welche ihre gewiße gleichsam Mathematische beständige Modelle und form haben sollen, dadurch alles in die enge getrieben, und augenscheinlich oder handgreiflich gemacht wird. In der Staats und Regierungs-Sachen aber hat man dergleichen noch nie versuchet, da doch daran am aller meisten gelegen." 128
Die Form der Ordnung, die nach dem Prinzip der Verknüpfung die Bestandteile der Welt miteinander in Beziehung setzte, war gleichzeitig der Katalysator, der Prozesse und Bewegungen in Gang setzte. Als historisches Beispiel bezog sich Leibniz auf den französischen König Ludwig XIV., der das, was ihm der Kardinal Mazarini vor seinem Tod diktiert hatte, in einem „Eisern Kästlein" bei sich führte, „weilen darinn der begriff seines ganzen staats enthalten" sei.129 Auch Leibniz diente also der Kasten als Möbel zur Aufbewahrung umfassender Datenmengen. In der Beschreibung schilderte er eine Mischung aus Zettelkasten und Exzerptebuch. Vorbild mag sein eigener Exzerpteschrank gewesen sein, den er vom hannoveranischen Sekretär Clacius erworben hatte und der dem bei Vincentius Placcius abgebildeten Schrank nachgebaut worden war.130 Im Anhang seiner LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 3 4 4 . Um Form, Einrichtung und Ordnung zu gewährleisten, hatte Leibniz mit dem Dualsystem und der Begriffskombinatorik die methodisch mathematisch-logischen Voraussetzungen geschaffen. Dazu sowie zur Verbindung zu William Pettys politischer Arithmetik: SIEGERT 2000b, 250. Pettys Text entstand zwischen 1671-1676 und wurde 1690 unter dem Titel „Political Arithmetick, or a Discourse Concerning the Extent and Value of Lands, People, Buildings" in London veröffentlicht. 127 SIEGERT 2000b, 252-253, führt Leibniz' erkenntnistheoretischen Ansatz weiter aus und zieht die Verbindung zu seinem Konzept einer allgemeinen Charakteristik. Die Charaktere - so Leibniz - stellen „geschriebene, gezeichnete oder plastische Zeichen" dar, die sich als geschriebene und eingeschnittene Linien in der Fläche entwickeln. 128 LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 3 4 5 . 1 2 9 LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 3 4 4 . 130 K R A J E W S K I 2002, 28-29.
126
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Abb. 13. Exzerpteschrank, abgebildet in Vincentius Placcius' „De Arte Excerpendi. Vom gelahrten Buchhalten", Hamburg 1689
„De Arte Excerpendi. Vom gelahrten Buchhalten" von 1689 zeigt Placcius einen Exzerpteschrank (Abb. 13), in dessen Innerem an auswechselbaren Leisten Zettel - an Nadeln aufgehängt oder „kreuzweise an den Ecken durchgestochen" - sortiert werden konnten (Abb. 14).131 Bevor sich Placcius in Hamburg als Advokat und Gymnasialprofessor niederließ, hatte er an verschiedenen Bibliotheken gearbeitet und sich mit Fragen der Katalogisierung beschäftigt. Placcius'Abhandlung über die Kunst des Exzerpierens erschien in einer Zeit, in der intensiv über die Art und Weise diskutiert wurde, wie wissenschaftlich exzerpiert werden sollte und welche Form der Aufbewahrung zu favorisieren sei - lose in Form einer flexiblen Verzettelung oder dauerhaft in Buchform fixiert. Ende der 1650er Jahre hatten die Schüler und Nachlassverwalter des Hamburger Naturforschers und Philosophen Joachim Jungius diese Diskussion ausgelöst. Jungius hatte bis zu seinem Tod 1657 seine gesammelten Notizen auf Zetteln ohne Anlage von Registern unhierarchisch verzettelt. Placcius hingegen warnte eindringlich vor der losen Form der Aufbewahrung und sprach sich für die in Buchform fixierte Exzerptesammlung aus. Leibniz selbst organisierte seine Notizen, Gedanken, Beobachtungen und Exzerpte in loser Zettelform, nach dem Vorbild Jungius'. 132 Der Nürnberger Jurist und Büchersammler Christoph Gottlieb von Murr beschreibt 1779 den Exzerpteschrank von Leibniz sowie seine Methode und gibt Jungius als Vorbild an.133 131 Vincentius Placcius, De Arte Excerpendi. Vom gelahrten Buchhalten, Stockholm/Leipzig 1689,155; zitiert nach: KRAJEWSKJ 2 0 0 2 , 2 8 - 2 9 . SIEGEL 2 0 0 9 , 4 3 - 4 6 . 1 3 2 KRAJEWSKJ 2 0 0 2 , 2 6 . 133
MURR
1779.
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Museologie und Staatsbeschreibung Abb. 14. Aufhängungs- und Sortiermöglichkeiten für gesammelte Exzerpte, abgebildet in Vincentius Placcius' „De Arte Excerpendi. Vom gelahrten Buchhalten", Hamburg 1689
Leibniz' Staatstafel und seine umfassenden Archivierungs- und Inventarisierungspläne lassen sich jedoch noch in einen weiteren Kontext stellen: In den 1650er und 1660er Jahren entwarfen niederländische Künstler wie Cornells Brize, Cornells Gijsbrechts, Samuel van Hoogstraten und Wallerant Vaillant mit ihren so genannten Steckbrettern gemalte Zettelwirtschaften.134 Wenngleich sich nicht nachweisen lässt, inwiefern Leibniz sich von diesen Bildern hat inspirieren lassen, fällt doch die strukturelle Ähnlichkeit der Konzepte sofort ins Auge. Auch auf den Gemälden ist die Ordnung von Papier und Informationen maßgebliches Thema. Bei Gijsbrechts, van Hoogstraten und Vaillant (Abb. 15-17) setzt sich der Aufbau der Bilder aus Horizontalen, Vertikalen und Diagonalen zusammen. Auf 134 Zu den Steckbrettbildern im Kontext der Stillleben- und Trompe-l'oeil-Malerei: B U R D A 1969; MiRIMONDE 1971; M I L M A N N 1984; SCHULZE 1993, 312-313; BRUSATI 1995; ILLUSIONS 1999; STILL-LIFE PAINTINGS 1999 (darin vor allem der Aufsatz von Celeste Brusati, Capitalizing the Counterfeit: Trompe L'Oeil Negotiations, 59-71); EBERT-SCHIFFERER 2002.
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einer gemalten, vertikalen Holzwand wird mit Stoffbändern ein Felder- oder Linienraster abgesteckt. In einem scheinbar zufälligen Arrangement sind Briefe und Schriftstücke sowie verschiedene Artefakte an die Wand gehängt oder lose hinter die gespannten Bänder gesteckt. Die über die Stoffbänder hängenden Papiere sind so dargestellt, als würden sie in den Raum des Betrachters hineinreichen. Das formale Gerüst aus Horizontalen und Vertikalen bildet das grundlegende Kompositionsschema, das sich durch eine große Variationsmöglichkeit für die jeweiligen Befestigungs- und Hängevorrichtungen der einzelnen Gegenstände auszeichnete.135 Durch Verzicht auf die Horizontlinie und durch minimale Tiefenwirkung werden dem Betrachter Standortwechsel ermöglicht. Die Bilder zeigen den Besitz, die wirtschaftlichen Beziehungen sowie den kulturellen Hintergrund einer Person oder eines Netzwerks von Personen.136 Auf den Dokumenten lassen sich Namen und Adressen, teilweise auch die Inhalte, identifizieren und lokalisieren; ebenso sind die Münz- und Medaillenbildnisse zu bestimmen. Die Anordnung der Schriftstücke und Gegenstände stellt die Beziehung zwischen den Objekten her. Ausgehend von einem Gegenstand konnten Verbindungslinien auf der Fläche geknüpft und durch Kombination variiert werden. Noch interessanter in Bezug auf Leibniz' Überlegungen zur Staatstafel ist das Bild „Konto- und Rechnungsbücher der Schatzkammer der Stadt Amsterdam" (Abb. 18), das Bezug auf die städtische Verwaltung nahm. Der Künstler Comelis Brize zeigt hier - ähnlich wie Gijsbrechts, van Hoogstraten oder Vaillant - in Form von Verträgen, Urkunden, Grundstücksplänen und Geldsäcken den Besitz der Stadt Amsterdam. Stärker noch als die Steckbrettbilder lässt sich Brizes Gemälde, das er 1656 als Auftragswerk für die Schatzkammer des neuen Rathauses in Amsterdam schuf, wie eine bildliche Entsprechung der Leibnizschen Staatstafel verstehen. Der Betrachter blickt auf eine Holzwand, an der an Nägeln acht mittel-große Karten aus Karton gehängt sind, beschrieben mit den Rubriken „Reijsen ghelt", „processen", „Fabryck ampt", „Extraordinaris Quitantien", „Ordinaris wedden", „quitantien van grooten excijs", „copinge van Ervente" and „Barning". Die nach diesen Rubriken sortierten Dokumente sind auf Fäden aufgezogen, die jeweils mittig an der Kartonkarte befestigt sind. Ein Schleifenknoten verhindert das Abrutschen der Schriftstücke. Einige Papiere sind entfaltet auf die Fäden gezogen worden, andere wurden mehrfach gefaltet aufgefädelt. Papiere und Kartonkarten sind geringfügig größer dargestellt als die Papiere, die tatsächlich in der Schatzkammer gesammelt wurden.137 Vom unteren Bildrand angeschnitten, liegen mehrere Geldsäckchen und eine Hängetasche aus Samtstoff. Hinter diese sind zwei Zeichnungen sowie mehrere Schriftstücke zu sehen - so als wären sie zufällig heruntergefallen und dort stecken geblieben.138 In 135 BURDA 1 9 6 9 , 7 9 - 8 3 , bezeichnet dieses Kompositionsschema als grundlegendes Schema für die
gesamte holländische Trompe-l'oeil Malerei des 17. Jahrhunderts. 1 3 6 BURDA 1 9 6 9 ,
109.
1 3 7 STILL-LIFE PAINTINGS
1999,230.
138 Die eine Zeichnung lässt sich als Tizians „Heilige und profane Liebe" identifizieren. Bei dem zweiten Blatt lässt sich lediglich das Thema, Allegoriedarstellung mit mehreren Figuren um eine weibliche nackte Aktfigur, beschreiben. STILL-LIFE PAINTINGS 1 9 9 9 , 2 2 9 .
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Museologie und Staatsbeschreibung Abb. 15. Cornelius Gijsbrechts, Quodlibet (Steckbrett), 1665, Öl auf Leinwand, Museum für Hamburgische Geschichte, Hamburg
der Dokumentation der schriftlich fixierten Handelsabschlüsse und Verträge stellt Brize die Amsterdamer Kaufmannsgesellschaft und deren wirtschaftliche Aktivitäten dar. Sein Bild konkurriert allein aufgrund seiner Größe - knapp zwei Meter in der Höhe und zweieinhalb Meter in der Länge - mit der Gattung des Historienbildes. Die Größe lässt sich im Zusammenhang mit dem prominenten Ort erklären, fur den Brize das Werk schuf; umso erstaunlicher ist die Wahl des Bildgegenstands. Während die übrigen Gemälde im Vorraum zur Schatzkammer Allegorien biblischer und antik-mythologischer Bildthemen darstellten, griff Brize mit den Schriftdokumenten auf einen der typischsten Gegenstände und eine der nahe liegendsten Versinnbildlichungen einer Schatzkammer zurück. Auch wenn das dargestellte Verzettelungsverfahren im Büroalltag wenig praktikabel gewesen sein mag - nur die auseinander gefalteten Dokumente hätten beim Durchblättern schnell überblickt werden können - so überzeugend ist dennoch die Umsetzung in der bildlichen Darstellung. Das mit dem Begriff der Zettelwirtschaft oft assoziierte unsystematische Chaos zeigt sich im Bild als übersichtliche Organisationsform.
Staatsverwaltung Abb. 16. Samuel van Hoogstraten, Trompe-l'oeil Stillleben, 1666/78, Öl auf Leinwand, Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe
Abb. 17. Wallerant Vaillant, Ein Brett mit Briefen, Federmesser und Schreibfeder hinter roten Bändern, 1658, Öl auf Papier auf Leinwand gezogen, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden
61
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Museologie und Staatsbeschreibung
Abb. 18. Cornells Brize, Konto- und Rechnungsbücher der Schatzkammer der Stadt Amsterdam, 1656, Öl auf Leinwand, Amsterdam Historisch Museum, Amsterdam
4. Natursystematik als Staatstopografie Die bisher vorgestellten Ordnungsverfahren und Konzepte haben gezeigt, dass mit dem Anspruch, eine Übersicht und Ordnung herzustellen, zwangsläufig Fragen nach den Darstellungsmitteln, der visuellen Gestaltung und damit nach der formalen Bearbeitung ins Spiel kamen; pragmatisches Kalkül in Bezug auf den Gebrauchszweck war nicht von ästhetischen Betrachtungen zu trennen, sondern vielmehr implizit enthalten. In diesem Sinne formulierte der Mediziner Johann Ernst Hebenstreit im Katalog „Museum Richterianum" von 1743 in Bezug auf die „gute Ordnung" einer Sammlung, dass diese nicht allein einem nützlichen Zweck diene, „sondern auch eine[r] gewisse[n] Ergötzlichkeit, welche nur denjenigen bekandt ist, welche einen Theil ihrer müßigen Zeit damit zubringen, daß sie das übereinstimmende der erschaffenen Welt betrachten [...]." 1 3 9 139 Johann Ernst Hebenstreit, Museum Richterianum: continens fossilia, animalia, vegetabilia mar illustrata, Leipzig 1743, 18; zitiert nach: BREDEKAMP 1993a, 84.
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Im „Museum Richterianum" beschreibt Hebenstreit die Fossilien, die Tiere und die Pflanzen der Sammlung des Leipziger Bankiers Johann Christoph Richter. Hebenstreit, Mediziner und Naturforscher, war von Richter damit beauftragt worden die Sammlung zu kuratieren und anschließend zu publizieren. Der Katalog mit handkolorierten Kupferstichen, entworfen von dem Kupferstecher und Aquarellisten Christian Friedrich Boetius, war zusammengebunden mit der Beschreibung von Richters Gemmensammlung, die der Altertumsforscher und Numismatiker Johann Friedrich Christ unter dem Titel „Museum Richteriani Dactyliotheca Gemmas Scalptas Opere Antiquo Plerasque complexa" vorgelegt hatte. Neben die pragmatischen Überlegungen, die für eine gute Ordnung sprachen und die sie erforderlich machten, stellte Hebenstreit in der zitierten Passage das Moment der „Ergötzlichkeit", also die Freude, die im Zusammenhang mit einer solchen Ordnung stand. Die Ordnung selbst basiere - so Hebenstreit - auf dem Verfahren, das Ähnliche von dem Unähnlichen zu trennen und „gleich mit gleichem zu vergesellschaften".140 Der Vorgang des Vergesellschaftens richtete sich danach, inwieweit Form und Konstruktionszusammenhang der Dinge übereinstimmten. Dieser methodische Ansatz fußte auf Ordnungsentwürfen von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen, die sich darum bemüht hatten, die Terminologie der Objekt- und speziell der Naturwelt enger zu fassen. Durch vergleichende Beobachtungen wurden Begriffe eingeführt und charakteristische Merkmale bestimmt. Ausgehend von der Betrachtung der Objekte wurden deren morphologische Struktur und deren Regelmäßigkeiten beschrieben. Auf der Grundlage dieser Klassifizierung erhielten die Dinge ihren Namen; symmetrische Anordnung und serielle Reihung zielten ebenso wie in den museologischen Schriften darauf ab, ein Regelsystem zu schaffen. Der Naturforscher Joachim Jungius entwickelte aus der Kombination von genau definierten Begriffen mit Zahlenwerten eine wissenschaftliche Kunstsprache, die Ende des 17. Jahrhunderts von dem englischen Botaniker John Ray aufgenommen wurde. Ray konzipierte auf dieser Grundlage eines der ersten Klassifikationssysteme der Tiere und Pflanzen.141 Die sukzessive Durchsetzung einheitlicher klassifikatorischer und nomenklatorischer Prinzipien erhielt dann vor allem durch die Abhandlungen des schwedischen Arztes, Museologen und Naturforschers Carl von Linne in den 1730er Jahren wesentliche Impulse. Wie Hebenstreit in Bezug auf die „gute Ordnung" für das Vorgehen der Vergesellschaftung plädierte, ging Linne methodisch nach dem Prinzip der wechselseitigen Verwandtschaft vor, verbunden mit der Vergleichbarkeit von Form und Gestalt. In der Dissertation „Oeconomia naturae" von 1749 führte er aus, dass derjenige, der „seine Aufmerksamkeit auf die Dinge lenkt, die auf unserer Erde vorkommen, zuletzt bekennen [wird], daß es nötig ist, daß jedes Einzelne nach solcher Serie und wechselseitiger Verknüpfung geordnet ist, daß es auf denselben Endzweck hinzielt." 142
140 Hebenstreit 1743 (Anm. 139), 18; zitiert nach: BREDEKAMP 1993a, 84. 141 JAHN 1 9 7 9 , 157.
142 Carl von Linne, Oeconomia naturae, 1749/1787, 2/3, § I; zitiert nach: MÜLLER-WILLE 1999, 272.
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Als Endzweck definierte er die „äußerst weise Anordnung, die der Schöpfer bei den Naturdingen getroffen hat, nach der diese zu gemeinsamen Zwecken und zur Hervorbringung wechselseitigen Nutzen[s] geeignet sind."143 Seine Ordnungsvorstellungen waren vor allem von den Prinzipien Serie, Symmetrie und Ähnlichkeit in der formalen Struktur geprägt. Nützlichkeit und Schönheit der Ordnung standen für ihn - wie für Hebenstreit - im Fokus der systematischen Überlegungen; ökonomische Gedanken waren dabei unabdingbar mit Fragen der Ästhetik verknüpft. Vor dem Hintergrund einer Wirtschaftspolitik, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts weg von einem Gleichgewichtssystem hin zu auf eine Wachstumswirtschaft entwickelt wurde, spielten Ordnungs- und Klassifikationsmaßnahmen eine wichtige Rolle: Mit dem Ziel, die natürlichen Ressourcen und hier in erster Linie die pflanzlichen Stoffe als Rohstoffe und Waren im Sinne der landeseigenen Interessen zu nutzen, wurde gezielt nach einheimischen Heilpflanzen und Nutzpflanzen aus dem Ausland gesucht, um Schweden möglichst unabhängig von ausländischen Importen zu machen.144 Die systematische Erfassung und Bestimmung der Natur war eine wesentliche Voraussetzung dafür, diesen Prozess in Gang zu setzen.
Formale Ordnungen Linne zergliederte mit obsessivem Eifer die Natur in Einheiten, benannte sie und gab ihnen einen bestimmten Platz. Orientiert an Baustruktur und stammesgeschichtlicher Verwandtschaft, unterteilte er die Organismen mittels des Vergleichs nach einem hierarchischen Gefüge in Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen und Stämme.145 Bereits in seinem 1735 veröffentlichen „Systema naturae" hatte er die Ordnung der Natur in einen zeitlich enthobenen, tabellarischen Raum übertragen. Aufbauend auf den Pflanzensystemen Joseph Pitton de Tourneforts und Hermann Boerhaaves entwickelte er ein Ordnungsmodell, das nur auf wenigen Merkmalen beruhte, die er a priori aufgrund ihrer Wichtigkeit auswählte.146 Für Tournefort, Boerhaave und die folgenden Systematiker waren Ableitung in Oberund Untergruppen sowie präzise Unterscheidung von Gattung und Art wichtige Neuerungen und Voraussetzungen auf der Suche nach Methoden gewesen, die Natur in ihren Erscheinungen zu ordnen. Der italienische Arzt Andrea Cesalpino führte in seiner 1583 veröffentlichten „De Plantis libri XVI" ein System von Ober- und Untergruppen zur Pflanzenbeschreibung ein, in dem er ausgehend von der Einteilung in holzige, krautige 143
Carl von Linne, Oeconomia naturae,
1 7 4 9 / 1 7 8 7 , 2 / 3 , § I;
zitiert nach:
MÜLLER-WILLE 1 9 9 9 , 2 7 2 .
1 4 4 LIEDMAN 1 9 8 9 .
Weiterführend zu Linne, seiner naturwissenschaftlichen Systematik und Beschreibungsmethoden: JAHN 1 9 8 3 ; BLUNT 2 0 0 1 ; HÖVEL 1 9 9 9 ; KOERNER 1 9 9 9 ; MÜLLER-WILLE 1999. Linne charakterisierte sein System als künstlich, was jedoch nicht durchgängig zutraf. Zur Entwicklung eines natürlichen Systems bei Linne: MÜLLER-WILLE 1 9 9 9 ; MÜLLER-WILLE 2 0 0 1 . 1 4 6 JAHN/SENGLAUB 1 9 7 8 , 3 7 . Zur Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeit des Naturforschers und Philosophen Joachim Jungius' für Linnes Systematik: BRYK 1 9 1 9 , 16, 5 2 .
1 4 5 JAHN/SENGLAUB 1 9 7 8 .
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und samenlose Pflanzen nach der Zahl der Samen und dem Bau der Früchte unterschied. Der Schweizer Botaniker Gaspard Bauhin nahm in seiner 1623 erschienenen „Pinax Theatri Botanici [...]" eine binäre Bezeichnung nach Stammpflanzen vor. Er ersetzte die alphabetische Reihenfolge durch eine Ordnung, die sich nach Verwandtschaftsverhältnissen richtete, und teilte die Pflanzen abhängig von bestimmten Merkmalen in natürliche Gruppen ein.147 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Tourneforts Pflanzensystem das gebräuchlichste und vor Linnes Modell auch das einflussreichste.148 1694 war seine „Elemens de botanique" erschienen, die 1700 in einer erweiterten Fassung in lateinischer Übersetzung unter dem Titel „Institutiones rei herbariae, seu Elementa botanica" veröffentlicht wurde. Diese dreibändige, lateinische Ausgabe umfasst einen Textband und zwei Bildbände mit 489 Kupferstichtafeln. Einleitend wird die Einteilung der Pflanzen in Gattungen erläutert. Die Einträge sind nach einem einheitlichen Textmuster gestaltet, in dem zuerst der lateinische und dann der französische Name genannt werden. Es folgen die Definition und Auflistung sämtlicher bekannter Arten einer Gattung.149 Im Randbereich ist jeweils ein Hinweis auf die Bildtafel gesetzt. Der Umfang der Abbildungsbände verdeutlicht, wie wichtig die bildliche Darstellung fur die Beweisführung war.150 Anders als die zeitgleichen Naturselbstdrucke, stellten die Bildtafeln bei Tournefort keine naturgetreue Abbildung dar. Die Naturselbstdrucke gaben ein sehr exaktes Bild der Natur wieder (Abb. 19). Die gepressten und getrockneten Pflanzen wurden mit Druckerschwärze eingefärbt und anschließend als Druckform benutzt.151 Tourneforts Tafeln hingegen zeigen die Pflanzen entblättert, zerlegt und aufgeschnitten in Teilmengen (Abb. 20), welche die unterschiedlichen Elemente auf weißem Grund nebeneinander darstellen. Je nach Komplexität der Pflanze beziehungsweise ihrer Blüten- und Fruchtorgane erfolgte die Aufgliederung in eine unterschiedliche Anzahl von Einzelbildern. Zusammengehalten wird die Folge von Bildelementen lediglich durch eine doppelte Rahmenlinie. Boerhaave, der nicht nur durch seine Arbeiten, sondern auch als Förderer prägend fur Linne war, entwickelte eine botanische Taxonomie, die auf der vergleichenden Betrachtung der Blüten und Früchte basierte. Anhand dieser Vergleiche zeigte er Strukturveränderungen in Gestalt und Form der jeweiligen Blüten und Früchte auf. 1710 veröffentlichte er seinen „Index Plantarum quae in Horto academico Lugduno-Batavo reperiunter". 1720 folgte der „Index alter Plantarum quae in Horto academico Lugduno-Batavo alun1 4 7 JAHN/SENGLAUB 1 9 7 8 , 1 1 .
Zu den naturgeschichtlichen Systementwürfen des
WOLF 1 9 3 5 ; RYTZ 1 9 4 7 ; HOPPE
1 4 8 JAHN/SENGLAUB 1 9 7 8 , 1 3 , 2 0 ; NICKELSEN 2 0 0 0 ,
149 150
151
16.
und
17.
Jahrhunderts:
1976. 15.
2002, 3. Dort auch die Analyse der Informationsvermittlung durch Text, Bild und Diagramm in der Naturgeschichte. Zur Bedeutung der Pflanzenzeichnung in der Naturwissenschaft: N I S S E N 1 9 6 6 / 1 9 7 1 ; NICKELSEN 2 0 0 0 ; M Ü L L E R - W I L L E 2 0 0 2 . Zur Bedeutung des Bildmaterials und der Visualisierungen in den Wissenschaften: RUDWICK 1 9 7 6 (speziell in der Geschichte der Geowissenschaften). Zu diesem Verfahren: G E U S 1 9 9 5 ; L A C K 2 0 0 1 , 1 4 0 - 1 4 7 . Zu Tournefort und den Naturselbstdrucken: MÜLLER-WILLE
NICKELSEN 2 0 0 0 , 2 9 .
66
Museologie und Staatsbeschreibung Abb. 19. David Heinrich Hoppe, Ectypa plantarum ratisbonensium, Naturselbstdruck 1787-1793
iAümCUJ NIGRA
tur conscriptus", in dem Boerhaave etwa 5800 Pflanzenarten, teilweise in Kupfer gestochen (Abb. 21), sowie die Geschichte des botanischen Gartens in Leiden schilderte.152 Sowohl Tournefort als auch Boerhaave nahmen die methodische Bestimmung der Pflanze durch Vergleichen und Abgleichen vor, um so ihrer Struktur auf die Spur zu kommen. Dieses Verfahren beinhaltete eine mehrmalige Überarbeitung, in deren Zuge Typisierungen und Vereinfachungen vorgenommen wurden. Es wurde eine Auswahl von Merkmalen für die Zeichnung getroffen, die darauf abzielte, die theoretische Aussage zu bestätigen.153 Die Anordnung auf den Bildern strukturierte die Wahrnehmung, organisierte Sehweisen und Denkmuster und prägte damit letztendlich die Erfassung der Natur. Für Linne waren beide Autoren prägend. Seine Vorgehensweise war gekennzeichnet von der Betrachtung der (äußeren) Form und Gestalt und durch den Prozess des Zergliederns und Isolierens. In der genauen Darstellung des Stoffs sollten klare Begriffsmuster entstehen, die eine Übersicht vermittelten sollten und die als Lehrinstrumente eingesetzt werden konnten. Bereits 1731 hatte Linne für seine ersten botanischen Unterrichtstun152 Zu Boerhaave: KNOEFF 2002. Zur Beziehung Boerhaave/Linne auch: MÜLLER-WILLE 1999, passim. 1 5 3 NICKELSEN 2 0 0 0 , 9 0 - 9 1 .
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Abb. 20. Bildtafel der Mandragora-Pflanze in Joseph Pitton Toumefort, Institutiones rei herbariae, Paris 1719
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mm
Abb. 21: Bildtafel der Chamaemelum in Hermann Boerhaave, Index plantarem", Leiden 1727
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den ein elf Punkte umfassendes Schema zur Pflanzenbeschreibung entworfen, das er 1736 zu einem siebenteiligen Methodenmuster modifizierte und in einem tabellarischen Schaubild publizierte. Unter dem Titel „Die Methode des Schweden Carolus Linnaeus, nach der ein Physiologus genau und erfolgreich die Untersuchung eines jeden Natursubjekts verkünden kann, [wie sie] in diesem folgenden Paragraphen dargestellt ist" gab Linne folgende Beschreibungspunkte vor: I. Nomina (Namen), II. Theoria (Theorie), III. Genus (Gattung), IV. Species (Art), V. Attributa (Merkmale), VI. Usus (Gebrauch), und VII. Literaria (Literarische Hinweise).154 1735 veröffentlichte er sein „Systema naturae", das den Anfang eines umfassenden Regelsystems bildete und das er beständig ausbaute und verfeinerte. Erste handschriftliche Darstellungen sind bereits aus dem Jahre 1730 überliefert.155 Die Ausgabe von 1735 umfasst dreizehn Großfolioseiten, inklusive des Titelblatts.156 Die folgenden Editionen wurden im Hinblick auf die Vielfalt der Arten immer wieder von ihm überarbeitet. Die letzte von Linne noch selbst durchgesehene zwölfte Ausgabe von 1768 war auf über 2300 Seiten angewachsen und führte 7000 Arten auf.157 In der ersten Ausgabe formuliert er einleitend in einem zwanzig Punkte umfassenden Schema seine allgemeinen Beobachtungen über die drei Reiche der Natur. Ziel sei es, den „ganzen Zusammenhang aller natürlichen Cörper in einem Anblick" zu zeigen, „damit der curieuse Leser hieraus gleich als aus einer Landkarte wisse könne, wohin er seine Reise in diesen so weitläuffigen Reichen zu richten habe."158 Seine allgemeinen Beobachtungen abschließend erwähnt Linne, dass die Wissenschaftler Johann Friedrich Gronovius und Isaac Lawson ihn dazu bewegt hätten, diese ,,kurze[n] Tabellen und Anmerckungen der gelehrten Welt" mitzuteilen.159 Wie schon die vorgestellten Autoren zielte auch Linne auf die Darstellung komplexer Zusammenhänge auf einen Blick ab. Wiederum ist es die Aufbereitung - Linne verglich seine Tabellen mit einer Landkarte - , die garantiere, dass der Leser richtig gefuhrt und die richtige Struktur an die Hand bekomme, um sich zu orientieren. Die Systematik des Stein-, Pflanzen- und Tierreichs legte Linne in fünf Tabellentafeln dar, die er durch jeweils kurzgefasste Erläuterungen ergänzte (Abb. 22-26). Die Gliederung erfolgte nach den hierarchisch gestaffelten Merkmalen in Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten.160 Die einzelnen 154 Der lateinische Originaltitel lautet: „Caroli Linnaei, Sveci, / Methodus / Juxta quam Physiologus accurate & feliciter concinnare potest / Historiam cujuscunque Naturalis Subjecti, sequentibus / hisce Paragraphis comprehensa"; zitiert nach: SCHMIDT 1 9 5 2 , 3 7 0 . Anleihen machte Linne mit seinem Ordnungsschema bei den älteren Systematiken Konrad Gesners, Ulisse Aldrovandis, Johannes Jonstons und John Rays. SCHMIDT 1 9 5 2 , 3 6 9 ; CAIN 1 9 9 2 , 2 3 5 - 2 3 9 . 1 5 5 MÜLLER-WILLE 1 9 9 9 , 5 5 .
Faksimile der ersten Ausgabe: LINNE 1 7 3 5 / E N G E L / E N G E L - L E D E B O E R 1 9 6 4 . Die deutsche Ausgabe des „Systema naturae" erschien 1740 im verkleinerten Quartformat und beinhaltete - neben einem Vorwort des Übersetzers Johann Joachim Langen - auch den lateinischen Text (im Folgenden als L I N N £ 1 7 3 5 / L A N G E N 1 7 4 0 zitiert).
1 5 6 LINNE 1 7 3 5 .
1 5 7 LEPENIES 1 9 7 6 , 5 4 . 158 159
Zitiert nach der deutschen Übersetzung des „Systema naturae": Zitiert nach der deutschen Übersetzung des „Systema naturae":
1 6 0 JAHN/SENGLAUB 1 9 7 8 , 4 6 .
LINNE 1 7 3 5 / L A N G E N 1 7 4 0 , 4 . LINN£ 1735/LANGEN
1740,4.
70
Museologie und Staatsbeschreibung
HP
C A R Ο L I
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Abb. 22. Erste Doppelseite aus Carl von Linne, Systema naturae, Leiden 1735. Tabellarische Ordnung des Steinreichs mit den entsprechenden Beobachtungen auf der gegenüberliegenden Seite
Natursystematik als Staatstopografie
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Ο B S E R V A T I O N ES I
REGNUM
Ν
LAPIDEUM.
1. Prrmogemtas Terns tantummodo Gkrcam & Argillam nominamus , e quibus, Ekanentorum opc , tocum Regoum Lapideum criftimamm ciTc produ&um.
Hinc rcliqui Lapides teroporö, a Crcatiooc pntterlapfi , progenies funt.
2. Geoemio Lapidum Stmplicmm & Aggregat***
per appofiriooem particularura ort er nam fit j & fi hi prineipio aliquo Mioerali, forte (ali-
no , in humore quodam foluto, imprxgnanrar , Compefüi dicuncur.
Hinc geoeratio in Regno Lapideo nulla ex ovo.
Hinc nulle humo-
rora per vaia circulatio , ut in rdiquis Naturae Regais. 3. Petram omnem, vix ulll excepti, e Terra originem ducere extra controverfiam eft. e. gr. ex Homo vegetabili paluftri Scbißus, c GUrea Cts , ex Argilla Marmor. 4. Petra cum foerit impregnate materiA aliqul, reipechi ad Simplices , peregrin!, Minera dicitur. minatur ; fed noo vice verfi.
Tcrri mixta fi coocteicat Concreto* dicitur.
Petra vel Minera comminota Tirrt
no.
Pctrtficala foepius cx Argilla in Calccm mutata oriimtur, pau-
cis tarnen exceptis. 5. Saxa , Lapides vulgatiffimos , rupium Sc montium pleroromqoe hafes, in Prineipio Bon creata fmife doccat partes illorum conftitnajttj , OK omaes in Düano generates fw/Te, confirmat frequens autopfia üloram Saxonim, qua: indies produeuntur. Si enim particulas coram conibtudva: probe examinentur, Aren« proprietäres , in locti adjacentibus v d fubjedis obvix , monftrant. f . Qyorttum , c quo originem duierit, maxime dnbitarunt Mineralogi. f ü u gmrmt
Hinc fummus Mineralogus ExcelL H E N C K E L : 0 Sikx !
SUtxi
> Omne Qyartzum tSSt petram parafidcam docet autopfi»; geoeratur enim in cavo alioram lapidum Sc indc exerefcit. Ex
Aqua ioque in fiflürii lapidum reteua , cxhalatioDibus lapideis imprzgnara , forte etiam ab acre adjuta , in fuperficie lapidij exerefcere ineipk , 4c concinuo augetur.
Ι α generali putamus.
In fttüdo Aqueo primam peraAim fuiße generation;^ docenr fegetabilia fcpius in-
dufi obfervata. 7. Mino« Qvartzi noftrum, feu Cryftallum, Qvattium eile doce»proprieata omoes, exeepd duritic & figurä 1 ßgaram obtinet ipfiffinura veriffimamque Nitri, (ine dubio itaqoe Nitro aqux primordidi lapidum admifto adfcribenda Dt; mmtm etiam lüam a file hoccc obti. nuüle vcroümile ndetnr. 8. Gtmrna itaque pretiollc pdlucidac , t Nitro Qyartti, Bon ot TO« Ipecies , fed nt Tiriadooes , colore tantum difttndlc diffcmoL
Hinc
vanut qui bag taoti telbmac 1 Itukus qui m mediana cxbibet. J. Hemm omnis i r^etabili rel animali deftrodo oritur. 10. Virilit
Hinc qooddie augetur, fed longa die etiam in lpeciem Aren« tranfic.
cum duo tantum naturalk obfemmua , hinc duplices tantum Pyrite & totidem recenfemus Ocbras , quarum generator eft Vkrio·
lum i verum in bis contrario modo. 1 1 . Pari/kM
phuium Auiäonm! recentiorum dcliÖK Sc Srenes , ad tot genera quot fpecies (hot, redaiäa fiwe , eodem proriia modo quo
Hortulani fius planus difponunt, qui tot fpecies Tuliparum , Hyacinthorum , Ancmonum See. quot font horum variation« , fmgunc. Ad (eptem tarnen genera redüci poflünt omnia Petriicata , nec plura polübilia funt, adeoque ftodii minus ftmäuofi limites poäus coardan , quam ampüari debent. la. Lithophyia ad Regnum Vegetabile , noo autem Lapideum , perrinere , docet figura , ftrwäura , geoeratio 8c analgia. 13.' Artijkiaiti lapides omnes merito excludimus , ut Ctramwm , Boracem, Armemecem , Vitriola iäibtia 8cc. e. gr. Vmitlm
Pkmh icu Sac-
charum Satunu , per confequens Ocbrm plmbi feu Cerufläm , See. 14. Apjm dixi ak» lapides , qui diutiffimc vi ignis refiftunt St cooficiendia inftnimentis Chemicis maxime idooei funt.
Nihil tarnen in 1
rcrum natura , De Argentum quidem & Aurum ignis fummi , fpeculo cauftico produdi, vehementiam cludere poceft.
z:.-
Äfe,·'
Museologie und Staatsbeschreibung
72
REGNUM qvi Menllurgis Svecis dicumur peregtißis impntgnitl
LAPIDEUM. III· FOSSILIA
fmt Lapid« AGGREGAT!, qvikSvecii dicuntur Gri/irta. conihnt particulia petrofti vel mineralioa muiis-
Abb. 23. Zweite Doppelseite aus Carl von Linne. Systema naturae, Leiden 1735. Fortsetzung der Tabelle zum Steinreich, gegenüberliegend ist der Ordnungsschlüssel zum Sexualsystem des Pflanzenreichs gesetzt
Natursystematik als Staatstopografie
CLAVIS SYSTEMATIS SEXUALIS.
MONANDRIA. i μ . « · » ua, «C Ai t IT
Si*mt* *mt*m ι»fltrtbvmtfbnJitt.
D1ANDRJA. Mint ι duo in eodem coojugio.
α
Sumte dtt nJUrt btrmiferiAli.
Flos eft planurum gaudium.
TR1ANMÜA.
lit
Summt me mßtrt bir**fbr*Jitr.
TETRANDR1A. Minti quatoor in eadon conjugio.
Snmr* fttlttr I* rtdtmflirtturn frtl*. Ob£ Si Sitmit* > rrttim* trmir*f*u. ,,r: Aar, Lat. ArofaLacmTigutinui f. mil. Inter HonnfioamlWtx" ICalv.m Reli- iRdigicnii Intet Septem Fo»** fWntu in fontificiorum fuperat & Reform.,- iContifi-IßicatKe gio. 1 ettetu numeral Calvuia no rum iqvat. BBidiriß. 1 1. · · pua cum trawa atd: IV. * Schwitua ord:V.Womtem dcuiö ^ « ^ J i · tetttn traüu te * « » . J ^ f c S ? J^t-n Arn».«», mjpjttmAuftnacorum Jurum o c u « « , it Sylvinieniib*' Vltua Pijn»a "Ι Anno IJ» W * » } d t m D m p t ; ^ r r r . m . |'iKtruin 1.ί.3 ? I i » " ! S e «MduWugiadto^Uenn: latrnonuh» jo m: Germ:-" jt.mil. |i.nil.
Mml. a.mil.
«.mil. (.nil. 1a.m1l. 4,1ml, ^ ι .
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.e^unmjLLPamn;.. 1 6.?.|.H. DtmO{nn«WilJtiU, UMILWKOTM.
t.mll. tmiJ. ii.mil. 4.mil. fciwl i 1 ^ I.mil. 4. mil, t.nu). t.mil. a.mil, . . m l f * ί-ΙΒίΙ.
EJmtiiml).
«-mil a.mil.
Abb. 31. Tabellarische Darstellung der Schweiz aus Johannes Peter Anchersen, Descriptio Statum Cultiorum inTabulis, Hafniae/Lipsiae 1741
Fließtext und Feldersystem Es gab jedoch auch Kritiker der tabellarischen Darstellungsform. So sprach sich der Göttinger Historiker und Statistiker Gottfried Achenwall explizit gegen die Tabelle aus. In seiner „Staatsverfassung der Europäischen Reiche"203 von 1752 organisierte er Plan und Ordnung des Textes nach der thematischen Begriffsordnung der Staatskenntnis: 1. Staatsveränderung, 2. Länder, 3. Einwohner, 4. Staatsrecht, 5. Staatsgeschäfte und 6. Interesse. Die beschriebenen Sachverhalte fasste er in einzelnen Paragrafen zusammen, die durchlaufend nummeriert sind. Achenwall erklärte, dass er anfangs kurze Sätze entworfen und diese nach und nach verbessert habe. In der ständigen Überarbeitung 203 Achenwalls Beschreibung erschien zuerst 1749 unter dem Titel „Abriss der neuesten Staatswissenschaft". Für die zitierte zweite Auflage von 1752 änderte er den Titel in „Staatsverfassung der Europäischen Reiche im Grundrisse" mit der Begründung, dass der Begriff Staatswissenschaft die Politik andeute und von daher nicht in Frage käme. Gegen den Begriff der Statistik spreche, dass diese sich „bloß mit Erfahrungen" beschäftige. So wäre nur „der Name der Staatslehre oder der Lehre von der Staatsverfassung" geblieben. ACHENWALL 1752, Vorrede (ohne Paginierung).
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habe er „Ursachen" für die Betrachtung der Reiche gefunden, die ihn dazu bewogen haben, „bey diesem einmal erwähnten Leitfaden meiner Statistischen Stunden beständig zu bleiben."204 Während bei Heinitz, Anchersen und auch bei Linne die Informationen im Feldersystem der Tabelle neben- und untereinander angeordnet wurden, erfolgte die Darstellung des Materials bei Achenwall in Form eines Fließtextes. Lediglich die Einteilung in Paragrafen unterbricht den Textfluss und setzt die zu Einheiten zusammengezogenen Sachverhalte optisch voneinander ab. Die Informationen konnten so zwar schneller überblickt werden, die Darstellung blieb jedoch Teil einer linearen Struktur. In dieser charakteristischen Eigenschaft evozierte der Fließtext Kontinuität, während die Tabelle in ihrer vertikalen und horizontalen Anordnung von Datenmengen auf Diskontinuität basierte.205 Der Fließtext baute auf der Darstellung eines Zusammenhangs, eines geschichtlichen Ablaufs auf. Er bildete eine konventionalisierte, kausale Struktur, aus der einzelne Informationen oder Informationsteilmengen schwerlich extrahiert werden konnten, um sie dann unabhängig von der Erzählstruktur miteinander in Beziehung zu setzen. Die Tabelle hingegen isolierte die Daten voneinander und konnte in verschiedenen Richtungen gelesen werden. Indem sie den Informationsfluss fragmentarisierte, machte sie die nach Kategorien geordneten Daten zur Kombination verfügbar. Obgleich beide Formen - Tabelle als auch Fließtext - auf Ordnungsleistungen beruhten, die im Vorfeld operationale Prämissen festlegten, schloss der durch eine Narration bestimmte Fließtext Variationsspielräume weitgehend aus. Die Felderstruktur der Tabelle brach den Zusammenhang der linearen Erzählung auf. Die Leistung einer derartigen Organisationsstruktur lag darin, dass die miteinander in Beziehung gesetzten Tatbestände neue sachliche Zusammenhänge erschlossen sowie Fragen produzierten. Achenwalls Einteilung und Anordnung in Paragrafen lässt beim Betrachten und Lesen den Eindruck eines kohärenten Argumentationsfadens entstehen. Demgegenüber ermöglichte die von Leibniz und Heinitz gewählte Form der Informationsaufbereitung, dass die einzelnen Daten in unterschiedliche Beziehungen miteinander gesetzt werden konnten. Leibniz führte in seiner Denkschrift zur Staatstafel aus, dass die Tafel, indem sie das Wissen über den Staat zusammenführe und vernetze, eines „der beqvemsten Instrumente" darstelle, „deren sich ein Herr zu[r] erleichterung der löblichen selbst-regierung bedienen köndte."206 Ähnlich argumentierte Heinitz in Bezug auf Tabellen: Die Größe der Staatsfläche, die Struktur der Bevölkerung sowie die Menge und Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen konnten ohne entsprechende Ordnungsinstrumente nicht übersehen werden. Um diese Informationen auf einen Blick erfassen zu können, wurde das statiVorrede (ohne Paginierung). 1977, 81. Goody untersucht die Auswirkungen dieser räumlichen Anordnung von Sprache und ihre grafische Repräsentation auf kognitive Prozesse. Er differenziert zwischen Tabellen, Listen und Formeln. Zur Tabellentheorie: HILGERS/KHALED 2 0 0 4 . Hilgers und Khaled zeigen am Beispiel des mittelalterlichen Zahlenkampfspiels, wie auf der Grundlage tabellarischer Ordnungsstrukturen Sinn- und Sachkonflikte ausgetragen wurden. Zu Tabellenwerken in der frühen Neuzeit, Darstellungsform und Funktion: BRENDECKE 2 0 0 3 ; BRENDECKE 2 0 0 4 ; STEINER 2 0 0 8 . 206 LEIBNIZ (Staatstafeln) 1680c, 3 4 5 . 2 0 4 ACHENWALL 1 7 5 2 , 205
GOODY
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stische Material im Schaubild der Tabelle gebündelt. Mit ihrer Hilfe sei der Fürst in der Lage „das Ganze der Staatswirthschafit [zu] übersehen" und seine Pflicht „viel getreuer" zu erfüllen.207 Als zentrales Qualitätsmerkmal der Tabelle wurde also die Zusammenschau betont, die in der tabellarischen Darstellung auf einen Blick erfasst werden konnte. Die Tabelle ermöglichte es, an sich heterogene Informationen thematisch zu gliedern und miteinander in Beziehung zu setzen. Heinitz erläutert einleitend, er habe die erhaltenen Nachrichten „in vier Tabellen gebracht und gefunden, daß sie, auf diese Art verkürzt, von einem weit allgemeinern Nutzen sind."208 Er fährt fort, dass erst die Tabellen ihn dazu geführt haben, „die verschiedenen Systeme der Staatsökonomie zu vergleichen und über eine Materie aufzuklären, welche man gewöhnlich auf eine so verwickelte und so dunkle Art vorstellt, weil man keine bestimmten und sichern Begriffe hat, und die Dinge nicht aus ihrem rechten Gesichtspunkt ansieht." 209
Es war demnach die formale Gestaltung der tabellarischen Darstellung, die für Heinitz wesentliches Kriterium im Vermittlungs- und Erkenntnisprozess war. In einem solchen Sinne wird die Tabelle auch in Johann Heinrich Zedlers „Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste" 1744 charakterisiert. Unter dem Stichwort „Tabellen" werden die Aspekte, wie sie im Zusammenhang mit der Materialanordnung in den Sammlungen erläutert worden sind, als wesentliche Merkmale der tabellarischen Darstellung beschrieben. Die Tabelle wird dabei als Bild definiert, das den Blick lenkt und den Denkprozess katalysiert und vorantreibt: „Man begreifft eine Tabelle auf einen Blick, und drücket durch lange Betrachtung derselben, dem Gedächtniß ein gewisses Bild davon ein, dergestalt, daß man dieselbigen dem Verstände vorstellen und gleichsam so offi ansehen kan, als es eine[m] beliebig ist. [...] Weil die Tabelle alles, was uns von einer Sache bekannt worden ist, in einer geschickten Kürtze in sich fassen, daß man es gantz, in kurzer Zeit durchgehen kan: so dienen sie gar fein zur Wiederholung desjenigen, was wir von einer Sache gelernt haben." 210
Durch die Tabelle bekommt der Betrachter „ein Muster [...] von dem deutlichen Begriffe, und der Weise, wie man sich denselbigen machet". 2 " Sie dient als Gedächtnis- und Erinnerungsträger, der Inhalt wird zur besseren Memorierbarkeit komprimiert. Die Aufteilung in Orte gibt eine definierte Felderstruktur auf der Bildfläche vor, die den Blick lenkt und das Denken befördert, indem die Augen „von der Einrichtung der Stellen gelencket [werden]" und „in der richtigen Bahn von einem zum andern fortgehen".212 Wieder sind es die Übersicht und der Blick - und damit das Auge - , die thematisiert werden. Das Sehen wurde durch Gestalt, Anordnung und Struktur der Tabelle Steuer- und manipulierbar. 207 208
(Tabellen) 1786a, Vorrede (ohne Paginierung). (Tabellen) 1786a, Vorrede (ohne Paginierung). 2 0 9 H E I N I T Z (Tabellen) 1786a, Vorrede (ohne Paginierung). 210 Z E D L E R 1732-1754, hier 1744, Bd. 41, Sp. 1288-1289 (bis zur ersten Textauslassung), anschließender TextSp. 1291. 211 Z E D L E R 1732-1754, hier 1744, Bd. 41, Sp. 1291. 212 Z E D L E R 1732-1754, hier 1744, Bd. 41, Sp. 1291. HEINITZ
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Die Inhalte der Tabellenfelder, durch die Rasterstruktur klar definiert, konnten so miteinander verrechnet und verglichen werden. In der Verdichtung des Datenmaterials auf der zweidimensionalen Bildfläche wurde die Tabelle zum Erkenntnisträger im Denkprozess. Sie war demnach ein Ordnungsraum sowie ein Schreib- und Beschreibungssystem, das in seiner grafischen Darstellung die Funktion eines grundlegenden erkenntnistheoretischen Instruments ausübte.213 Auf Heinitz' erster Tafel über die Staatswirtschaft (Abb. 32) stellt er in der oberen Tabelle einen Vergleich der Einwohnerzahlen „vor und nach einem langen Krieg und eine[r] großefn] Hungersnoth", die „Anzahl der Feuerstellen in den Städten und auf dem Lande" und das „Allgemeine Verhältniß zwischen beiden Geschlechtern und dem Alter" her. Unterteilt in kleinere Raumeinheiten unterscheidet er zwischen Stadt und Land sowie den Kategorien „Große Vorwerke", „Große", „Mittlere", „Kleine Städte und Flecke" und „Dörfer". In der unteren Tabelle, überschrieben mit „Uebersicht einer allgemeinen Tabelle des Nationalfleißes fur die Mannspersonen", gibt er die Anzahl und Verteilung der Handwerke an. Heinitz ordnet hier nach Pflanzen-, Mineral- und Tierreich. Diese Einteilung der Gewerbe nach den „gemeinsamen Rubriken aus dem animalischen, vegetabilischen und mineralischen Reich" entsprach einer amtlichen Forderung, die diese Gliederung aus Gründen der Übersichtlichkeit verfugte.214 Heinitz überträgt die Dreiteilung auf den Staat. Als Begründung für diese Übertragung gibt er die Zweckdienlichkeit der Naturordnung an, da sie den Staatshaushalt befördere und reguliere. Im erläuternden Text fuhrt er aus, dass die „Eintheilung der Handwerker, nach den drey Reichen der Natur, so wohl wegen der darinn herrschenden Ordnung, als wegen der Einfachheit, welche sie den Geschäften selbst verschaft, [von großem Nutzen sei]. Ich will mich erklären: wenn die politischen Geschäfte nach einem solchen systematischen Unterschied zwischen den verschiedenen Räthen des Finanzdepartements vertheilt würden, so scheint es mir, daß sie gewinnen würden, weil diejenigen, welche von gleicher Beschaffenheit sind, und unter sich einen gewissen Bezug haben, von einem und demselben Minister besorgt werden würden, auch von ihm um so eher ergründet, und, indem er das Ganze mit Sicherheit vereinet, zu einem viel höhern Grad der Vollkommenheit könnte gebracht werden." 215
Indem also die Tabelle, die von einem einzelnen Betrachterstandpunkt aus unübersehbaren Tatbestände in einem einzigen Schaubild vereinte und so überhaupt sichtbar machte, eröffneten sich effektivere Handlungsschritte. Heinitz' Essay machte demnach nicht nur die Bedeutung der Ökonomie als grundlegende Kraft gesellschaftlicher und politischer Ordnung deutlich. Vielmehr war der Staat ohne Statistik und Tabellendarstellung nicht effizient regierbar. Dem von ihm veröffentlichten Zahlenmaterial lag eine Gegenüberstelbenutzt den Begriff „matrix of vertical columns and horizontal rows". Ähnlich beschreidie Tabelle als „Unterlage zur Ausführung von Ordnungsarbeiten". 2 1 4 BATHOW 1 9 9 1 , 1 1 0 . Die Einteilung, die seit Plinius' „Naturalis historia" ein gängiges Ordnungsschema war, wurde in der Nachfolge immer wieder von Vertretern unterschiedlichster wissenschaftlichen Disziplinen als Ordnungsmuster aufgegriffen. 215 HEINITZ (Tabellen) 1786a, 9 . 2 1 3 GOODY 1 9 7 7 , 5 3 ,
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HILGERS/KHALED 2 0 0 4 , 1 6 7 ,
Der geordnete Raum der (Staats-)Tabelle
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Abb. 32. Friedrich Anton von Heinitz, Erste Tabelle. Über die Staatswirthschaft eines Staates, dessen Bevölkerung und Vertheilung der Einwohner in ihre verschiedenen Wohnplätze, nebst einer Tabelle vom Nationalfleiß derselben, 1786
lung zweier Datenerhebungen in Sachsen aus den Jahren 1754 und 1774 zu Grunde.216 In der Vorrede äußert er allerdings, er habe „geschriebene Nachrichten" erhalten, wisse aber nicht, ob der Staat, der dort beschrieben werde, existiere, oder ob „der Verfasser, aus seiner feurigen Einbildung, einen habe schaffen und ihn als wirklich darstellen wollen."217 Es ist anzunehmen, dass Heinitz, der bis 1774 - also bis zum Zeitpunkt der zweiten Zählung - im sächsischen Staatsdienst arbeitete, wusste, woher das Material stammte. Dass er die Herkunft im Unklaren lässt, mag mit dem Umstand zusammenhängen, dass die von staatlicher Seite erhobenen Daten in der Regel der Geheimhaltung unterlagen und nicht veröffentlicht wurden.218 Indem Heinitz sich nicht auf einen bestimmten Staat oder Staatenverbund bezieht, erhält seine Darstellung jedoch stärker den Charakter eines allgemeinen volkswirtschaftlichen Modells, das auf der Grundlage eines methodisch reflektierten, statistischen Verfahrens beruhte. 216
WEBER 1 9 7 6 ,
181.
217 HEINITZ (Tabellen) 1786a, Vorrede (ohne Paginierung). 218 Erst mit der Einrichtung amtlicher statistischer Büros zu Beginn und im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die erhobenen Daten regelmäßig publiziert. Als erste Einrichtung dieser Art wurde 1805 in Berlin das Königlich Preußische Bureau eingerichtet. Zur Gründung des Berliner Büros: B O E C K H 1 8 6 3 ; BEHRE
1905.
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Die Gestaltungs- und Kombinationsmöglichkeiten in der tabellarischen Darstellung eröffneten auch Entscheidungs- und Handlungsspielräume; entsprechend ließen sich Zusammenhänge und Aussagen lenken und manipulieren. Dabei spielten die formale Anlage der Tabelle und die Anordnung der Daten eine entscheidende Rolle. Die Tabellen von Anchersen, Linne und Heinitz sind zwar nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, dennoch unterscheiden sich die Darstellungen indem, wie sie die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit des Betrachters organisieren. Während Heinitz' Tabellen (Abb. 1-4) in ihrem formalen Aufbau stärker hierarchisiert sind und dadurch die neben- und untereinander angeordneten Datenmengen eher in der vertikalen Anordnung wie der einer Liste wahrgenommen werden, erfordert die Betrachtung der Tabellen von Anchersen (Abb. 31) zur Orientierung stärker eine wechselnde Augenbewegung zwischen vertikaler und horizontaler Ebene. Ähnlich funktionieren Linnes Tabellen für das Stein- und Tierreich (Abb. 22, 23,26). Die Ausrichtung erfolgt hier zu Gunsten der horizontalen Ebene, von der aus der Betrachter die Beziehungen zur Vertikalen herstellen kann. Bei der Darstellung des Pflanzenreichs (Abb. 24-25) teilt die doppelte Strichlinie auf der vertikalen Ebene das Tafelbild in sechzehn Spalten. Durch die Abfolge der 24 Klassen werden die Augen des Betrachters in einer schlangenlinienförmigen Bewegung von links nach rechts über das Tafelbild geführt. In der deutschen Ausgabe von Linnes „Systema naturae" von 1740 wurden die großformatigen Tabellen entsprechend des Quartformats in verkleinerter Form gedruckt. Der Übersetzer Johann Langen begründet dies im Vorwort mit der unhandlichen Größe der Linneschen Tafeln. Aus „Unbequemlichkeit" wegen dem „allzugrossen Format" sei es nötig gewesen, „die zu einem jeden Reich gehörige Tabellen, nach den Classen und Ordnungen auseinander zu setzen, doch so, daß nichts dadurch zerrissen würde."219 Damit der Leser aber trotzdem den „ganzen Zusammenhang [...] miteinmal übersehen könne" habe er den einzelnen Reichen jeweils eine „Einleitungstabelle" vorangestellt. So war es für ihn möglich, auf den folgenden Tabellen „viel Raum [zu] erspare[n]".220 Langen fahrt fort, dass auf diese Weise ein jeder „leicht sehen können [wird], daß wenn er nach dem Sinn des Herrn Verfassers, sich ein völligen Begrif von der Art, wohin ein jeder Körper zu rechnen sey, machen wolle, er sodenn bey dem Pflanzenreiche den Schlüssel, und bey dem Stein- und Thierreiche die Einleitungstabellen, mit den besondern Tabellen dergestalt zusammen halten müsse, damit er die Beschreibungen nach den Classen und Ordnungen, den Geschlechtern und den Arten gehörige Verbindung sogleich erkennen könne." 221
Was die Konzeption angeht, sind Langens Tableaus im Vergleich zu den Linneschen klarer gegliedert. In den Einleitungstabellen nimmt er eine Einteilung nach „Classen" und „Ordnungen" vor, die im Tabellenfuß durch geschweifte Klammern hergestellt wird (Abb. 33). Nach diesem Gestaltungsprinzip sind auch die Angaben zum Stein- und Tier-
219 220 221
1740, (a) 2 verso. 1740, (a) 2 verso. 1735/LANGEN 1740, (a) 3 recto.
LINNE
1735/LANGEN
LINNE
1735/LANGEN
LINNE
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Abb. 33. Einleitungstabelle für das Stein-Reich, Doppelseite aus der deutschen Übersetzung von Carl von Linnes „Systema naturae" durch Johann Joachim Langen, Halle 1740
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reich im Tabellenfuß organisiert.222 Das Pflanzenreich ist nach der von Linne vorgenommenen Einteilung in 24 Klassen geordnet. Anders als in Linnes Ausgabe von 1735 erhält jede Klasse eine eigene Spalte in der Tabelle (Abb. 34). In der Art, wie das Datenmaterial im Feldersystem der Tabelle ausgerichtet und hierarchisiert wurde, konnte also nachhaltig in den Wahrnehmungs- und Verständnisprozess eingegriffen werden.
Diagramm und Karte Die Wahl der Aufzeichnungsverfahren und visuellen Aufbereitung spielte im Kontext gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Überlegungen eine entscheidende Rolle; dabei galt es, die (sich ändernden) Sehgewohnheiten und Wahrnehmungskonventionen zu berücksichtigen und sich ihnen gegebenenfalls anzupassen. In diesem Zusammenhang ebenso effektiv und suggestiv arbeitete das Diagramm.223 Ein wirtschaftstheoretisch wichtiges Beispiel ist das „Tableau economique" (Abb. 35) des französischen Nationalökonomen, Naturphilosophen und Leibarztes von Ludwig XV. Francois Quesnay, der in Form einer Bildtafel die Grundzüge des wirtschaftlichen Systems darlegte. Wie für Heinitz stellte auch für Quesnay die Ökonomie die grundlegende Kraft der staatlichen Ordnung dar. In Frankreich hatte sich im 17. Jahrhundert allerdings eine Sondersituation entwickelt, als dass der Schwerpunkt der geforderten Gewerbeindustrie bei den Luxusprodukten lag - und hier in erster Linie in der Textilherstellung.224 Als Reaktion auf die andauernde Förderung der merkantilen Wirtschaftspolitik formierte sich eine Bewegung, die sich forciert der Landwirtschaft zuwandte, in der die Basis des staatlichen Wohlstands gesehen wurde. Quesnay, der zu den Hauptvertretern der Physiokraten zählte, entwickelte mit seinem „Tableau economique" eine Darstellung des Wirtschaftskreislaufs - und wurde damit wegweisend für die Kreislaufbetrachtung in der modernen Volkswirtschaftslehre. Wenngleich Physiokraten und Kameralisten jeweils unterschiedliche Konzepte zur Beförderung der ökonomisch geordneten Natur formulierten, sahen doch die Vertreter beider Richtungen in der Regulation, die als ein dynamisches Gleichgewicht gedacht wurde, einen der wesentlichen Aspekte im ökonomischen Denken.225 222 Die Gliederung zum Steinreich erfolgt im Tabellenfuß nach „Geschlechts-Name", „Kennzeichen des Geschlechts", „Unterschied der Arten, wie der Autor solche angegeben" und „Name der Arten". Beim Tierreich erfolgt die Einteilung in die Rubriken „Die Ordnungen", „Die Geschlechter", „Die Kennzeichen der Geschlechter" und „Die Arten". 223 Zur Aufbereitung von Datenmaterial in grafischer Form, zu den Entstehungsbedingungen und F u n k t i o n e n dieser Bilder: TUFTE 1990; GUGERLI/ORLAND 2 0 0 2 ; BREDEKAMP 2 0 0 8 . Z u m D i a g r a m m : BOGEN/THÜRLEMANN 2 0 0 3 ; BILDWELTEN DES WISSENS 2 0 0 5 ; SIEGEL 2 0 0 9 .
224 Die Herstellung von Luxusartikeln als maßgeblicher Faktor in der Industrieproduktion führte zu einer spezifisch französischen Ausformung des Merkantilismus. RATH 1963, 117-120, 124. 225 Zum System der Physiokraten und Zusammenhang von Wirtschafts- und Kreislauftheorie: MONTHOUX 1993; KLINGEN 1992. Zeitgenössische Rezeption bei: Christian Wilhelm Dohm, Über das physiokratische Sistem, Wien 1782.
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Der geordnete Raum der (Staats-)Tabelle
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