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German Pages [165] Year 2013
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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Handlungskompetenz im Ausland herausgegeben von Alexander Thomas, Universität Regensburg
Vandenhoeck & Ruprecht
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Alexander Thomas Saskia Lackner
Beruflich in Österreich Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte
Vandenhoeck & Ruprecht
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Mit 7 Cartoons von Jörg Plannerer.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-49152-2 ISBN 978-3-647-49152-3 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, USA www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: H Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung in das Training . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Das interkulturelle Trainingskonzept . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Bearbeitung des Trainingsmaterials . . . . . . . . . . . . 15 Themenbereich 1: Personenbezug . . . . Beispiel 1: Das Meeting . . . . . . . . . . . . Beispiel 2: Das Gespräch auf dem Flur . . . . Beispiel 3: Die Projektvergabe . . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Personenbezug«
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23 . 23 . 27 . 32 . 37
Themenbereich 2: Indirekte Kommunikation . . . . . Beispiel 4: Die Verabredung . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 5: Die Krisensitzung . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 6: Der Konzeptvorschlag . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Indirekte Kommunikation«
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. 41 . 41 . 45 . 49 . 54
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. 59 . 59 . 63 . 68 . 72
Themenbereich 3: Harmoniestreben und Konfliktvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 7: Die Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 8: Das Mitarbeitergespräch . . . . . . . . . Beispiel 9: Der Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 10: Die Beschwerde . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Harmoniestreben und Konfliktvermeidung« . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenbereich 4: Titelorientierung . . . . . . Beispiel 11: Die Lieferung . . . . . . . . . . . . . Beispiel 12: Die Rundmail . . . . . . . . . . . . . Beispiel 13: Die Arztpraxis . . . . . . . . . . . . . Beispiel 14: Die Versicherungskarte . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Titelorientierung«
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. . . . 77 . . . . . .
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. 81 . 81 . 85 . 88 . 91 . 95 5
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Themenbereich 5: Regelrelativierung . . . . . Beispiel 15: Die Grippewelle . . . . . . . . . . . . Beispiel 16: Die steuerliche Absetzbarkeit . . . . Beispiel 17: Die Kirchensteuerzahlung . . . . . . Beispiel 18: Der Quartalsbericht . . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Regelrelativierung«
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99 99 102 106 110 113
Themenbereich 6: Netzwerkmanagement . . . . . Beispiel 19: Der Schulwechsel . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 20: Der neue Kollege . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 21: Der Opernball . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 22: Die Vergünstigungen . . . . . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Netzwerkmanagement«
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119 119 123 128 132 137
Themenbereich 7: Verfreundete Nachbarn . . . . Beispiel 23: Die Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 24: Die Fußballfehde . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 25: Das Stammhaus . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Verankerung von »Verfreundete Nachbarn«
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141 141 146 151 155
Kurze Zusammenfassung der Kulturstandards . . . . . 159 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Vorwort
Österreich! Welche Fülle an Assoziationen steigen da sofort auf: Berge, Seen, Städte, klassische Musik, Festspiele, Wien, Trachten, Dialekte, bildende Kunst, Wein, Kaffeehäuser, Sachertorte, Wiener Jugendstil, Schlösser und Burgen, Neujahrskonzert, Austro-Pop, Kabarettisten und, und, und . . . Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Denn der rege Tourismus in dieses Land prägt nachhaltig die Einstellung und die Klischees, um so positiver, je besser die eigenen Erfahrungen sind. Outdoorfreunde finden hier garantiert ihre Nische. Die Professionalität der Organisation des Tourismus (Beispiel: Tirol-Werbung) und die Vielfalt der touristischen Angebote – vom Donauradweg über Kanu- und Klettertouren oder Wellnesslandschaften bis zum Reiturlaub im Mühlviertel – ist unübertrefflich. Auch Theater- und Musikliebhaber kommen regelmäßig hierher, um beispielsweise Aufführungen der unnachahmlichen Wiener Philharmoniker oder den für viele Künstler wegweisenden Salzburger Festspielen beizuwohnen. Kenner der bildenden Kunst lieben die grandiosen Museen und einfallsreichen Ausstellungen Wiens, vertiefen sich in das Studium der reichhaltigen Architektur dieser und anderer Städte, Kirchen und Klöster. Stets und überall steht eine gute Küche samt leckerster, weithin bekannter Süßspeisen zur Stärkung bereit. Österreich. Was kann man da nicht alles schreiben. Es ist der Nachbar im Süden, mit dem uns eine 784 Kilometer lange Grenze verbindet. Mit dem wir eine lange gemeinsame Geschichte haben. In dem ebenfalls Deutsch gesprochen wird in den für die dortigen Regionen üblichen Dialekten. Mit dem wir wirtschaftlich enge Bande haben und dessen Haupthandelspartner mit deutlichem Abstand zu anderen wir Deutsche sind (vgl. Deutsche Auslandshandelskammern, GTAI, Germany Trade & Invest, 7 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
2012). In dem die Habsburger Träger der römischen (deutschen) Königskrone waren und es zu einem bedeutenden Vielvölkerstaat brachten. Historiker, Wirtschaftsfachleute und Statistiker können Bände füllen über das Land, und auch über die geschichtliche Verflochtenheit der Staatsgebiete, die heute Österreich und Deutschland heißen. Erst ab 1918 setzt die Entwicklung ein, die Österreich zum heutigen Österreich werden lässt: mit 8,4 Millionen Einwohnern und einer Fläche von gut 83.000 Quadratkilometern. Österreich? Und wer sind die Menschen, die hier leben? Was wissen wir über sie? Machen wir uns überhaupt darüber Gedanken? Oder nehmen wir bei unseren Besuchen ihre oft erlebte Freundlichkeit und ihren wunderbaren Humor schlicht für selbstverständlich – trotz der Tatsache, dass das Arbeiten im (Tagungs-)Tourismus sehr hart und fordernd ist? Kann – wenn Deutsche mit Österreichern geschäftlich zusammenarbeiten – hinter der oft gehörten Zuschreibung, es ginge im Berufsleben vor allem stets »etwas gemütlicher« zu, anderes stecken, als uns so manche hierzulande erzählten Österreicher-Witze glauben machen? Wie prägte die höfische Gesellschaft der Habsburger ihre deutschsprachigen Einwohner in den Ländern ihres Hausmachtbereichs? Welche Relikte haben bis heute überdauert, in Wien wie in den diversen Bundesländern? Wie lebt es sich als deutlich kleinerer Nachbar der Piefkes? Dieses Buch nimmt sich diese Fragen einmal vor. Und beantwortet sie nun für diejenigen, die es unbedingt wissen sollen: Geschäftsleute und berufliche Partner, die nicht nur ein kurzes Ferienamüsement suchen, sondern langfristig als Deutsche mit österreichischen Kollegen, Chefs und Mitarbeitern zusammenarbeiten. Ihr Erfolg wird maßgeblich davon abhängen, wie gut man sich versteht – trotz der gemeinsamen Sprache. Denn genau die vermeintliche Vertrautheit mit dem Land und die unterstellte Gemeinsamkeit kann unversehens zur Falle werden, weil man leicht übersieht, dass es auch im deutsch-österreichischen Kontakt Kulturunterschiede zu überbrücken gilt. Den Autoren ist es geglückt, sowohl einen Einblick in die österreichische Seele zu gewähren als auch uns Deutschen zu spiegeln, wie wir wirken, wenn wir deutsche Erwartungen ein8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
fach auf österreichische Partner übertragen. Beides ist nötig, um die Österreicher zu verstehen und sich besser auf sie einstellen zu können. Viel Spaß bei der Lektüre, die eine Entdeckungsreise vieler Facetten und Nuancen sein wird, die – beachtet man sie –dazu verhelfen können, ein erträglicher bis geschätzter Geschäftspartner zu sein. Sylvia Schroll-Machl, interkulturelle Trainerin (www.schroll-machl.de)
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Einführung in das Training
Viele werden sich fragen: Wozu braucht ein deutscher Manager, eine deutsche Fach- und Führungskraft ein Training zur Vorbereitung auf die Zusammenarbeit mit österreichischen Partnern? In Österreich ist doch sowieso alles so wie in Deutschland. Die Österreicher sprechen deutsch und das private und öffentliche Leben, die Mentalität der Österreicher ist der der Menschen in Bayern doch sehr ähnlich. Zudem kennt nahezu jeder Deutsche Österreich von Urlaubsbesuchen oder der Durchreise zum Südosten Europas her. Seine Bewohner sind gemütlich, freundlich, feiern gern und wissen es zu leben, in Österreich ist alles nicht so hektisch wie in Deutschland. Dazu kommt die fantastische Landschaft mit Wiesen, Seen und Bergen sowie mit Schlössern, Burgen, Kirchen und dazu noch die dörfliche Idylle. Nach einem Urlaub in Österreich denkt wohl so mancher berufstätige Deutsche daran, sich nach seiner Pensionierung in Österreich niederzulassen. Für Österreich ist Deutschland zudem der wichtigste Handelspartner. Die deutsche respektive bayerische Geschichte ist eng mit Österreich verzahnt und dies nicht erst nach dem umstrittenen »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, dem 1938 nahezu 90 % der österreichischen Bevölkerung zugestimmt haben. Also, was soll die beiden Länder denn so trennen, dass jedes eine so eigene und gegenüber dem anderen so unterschiedliche Kultur entwickelt hat, dass ein deutscher Manager und deutsche Fach- und Führungskräfte die österreichischen Partner nicht verstehen, weil sie sich aus der Sicht der deutschen Partner so unerwartet anders, irritierend und »falsch« verhalten? Sicher, auf die Zusammenarbeit mit Chinesen, Brasilianern, Indern, eventuell auch Amerikanern und Russen sollte man sich 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
vorbereiten, um keine »bösen« Überraschungen zu erleben und zeitweise die Orientierung zu verlieren, aber doch nicht auf eine berufliche Zusammenarbeit mit Österreichern! Österreicher und Deutsche nutzen zwar zur Verständigung die deutsche Sprache, aber wie die Sprache im kommunikativen Kontext eingesetzt wird, wie welche Worte gewählt werden und wann lang und ausgiebig oder kurz und knapp miteinander gesprochen wird, was eine angemessene und höfliche Ausdrucksweise ist und was beleidigend wirkt, unterscheidet sich in der Sprachpraxis in Deutschland und Österreich erheblich voneinander. Wer mit der Einstellung in der beruflichen Zusammenarbeit mit Österreichern geht, als gäbe es keine kulturell bedingten Unterschiede in der Wahrnehmung, im Denken und Urteilen, in Bezug auf die Emotionen und das Verhalten zu beachten, da alles so ist wie in Deutschland, kann schnell zu Fehlurteilen kommen. Beobachtet er oder sie nämlich, dass ein Österreicher sich erwartungswidrig verhält und ist er dann von dessen Verhaltensreaktionen irritiert, wird er die Ursachen dafür sofort intrapersonal attribuieren, das heißt, das irritierende Verhalten wird als persönliche Absonderlichkeit, Schwäche oder Versagen des Partners bewertet und er wird entsprechend behandelt. Hat er aber interkulturelle Handlungskompetenz in Bezug auf die berufliche Zusammenarbeit mit Österreichern aufgebaut, wie das mit den in diesem Buch präsentierten Trainingsmaterialien möglich ist, dann weiß er, wie kulturell bedingte Ausprägungen des kommunikativen und interaktiven Verhaltens von personenspezifischen Verhaltensmerkmalen zu unterscheiden sind und kann somit Fehlurteile vermeiden. Besonders dann, wenn man eine harmonische, von Missverständnissen weitgehend freie Kommunikation und eine irritationsfreie Kooperation erwartet, fallen erwartungswidrige Verhaltensweisen besonders auf und irritieren nachhaltig. Es dauert dann auch länger, bis die Erkenntnis reift, dass in Österreich wohl doch nicht alles so läuft wie in Deutschland und dass man als Deutscher beruflich im Nachbarland nur erfolgreich sein kann, wenn man mit Verständnis, Sensibilität und Wertschätzung auf die Besonderheiten seiner österreichischen Partner reagiert und eingeht. 12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Das interkulturelle Trainingskonzept Die Bereitschaft und Fähigkeit zum interkulturellen Lernen sind Voraussetzung zum Aufbau interkultureller Handlungskompetenz. Interkulturelle Handlungskompetenz entwickelt sich aber, wie viele wissenschaftliche Studien zeigen (Thomas, Kinast u. Schroll-Machl, 2005), nicht von allein oder automatisch durch »learning by doing«, also im Zuge eines längeren beruflichen Auslandsaufenthalts, sondern erst auf der Grundlage interkulturellen Lernens und im Kontext lernwirksamer interkultureller Trainings. Das Ziel interkultureller Trainings muss es sein, nicht so genanntes »träges Wissen« aufzubauen, sondern »aktives Wissen«, also ein Wissen über kulturspezifische Bedingungen, Verlaufsprozesse und Wirkungen sozialer und interpersonaler Verhaltensreaktionen der fremden Partner und darauf aufbauend angemessene und kulturadäquate eigene Verhaltensweisen. Dieses Wissen ist so zu vermitteln, dass es in einer konkreten Interaktions- und Kooperationssituation gelingt, die passenden und zur Problemlösung geeigneten Wissensbestände zu aktivieren, damit ein gegenseitiges wertschätzendes Verständnis aufgebaut werden kann (Kammhuber, 2000). Das hier präsentierte interkulturelle Training für deutsche Manager, Fach- und Führungskräfte zur Vorbereitung auf die berufliche Kooperation mit österreichischen Partnern geht von einigen im Folgenden näher gekennzeichneten Grundlagen aus: 1. Alles, was mit »Kultur« bezeichnet wird, ist nicht irgendwo auffindbar oder etwa vorgegeben, sondern immer vom Menschen konstruiert: »Kultur ist der vom Menschen gemachte Teil der Umwelt«, definierte Herskovitz (1955). Kultur ist zudem ein universelles Phänomen, denn alle Menschen haben zu allen Zeiten und in allen Gegenden der Welt »Kultur« entwickelt. Alle Menschen leben in einer spezifischen Kultur und entwickeln sie weiter. Kultur manifestiert sich immer in einem für eine Nation, Gesellschaft, Organisation oder Gruppe typischen Bedeutungs-/Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen, zum Beispiel Sprache, Gestik, Mimik, aber auch Werten, Normen, Sitten, Gesetz und Brauchtum etc. gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft, 13 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Gruppe etc. tradiert. Das Orientierungssystem definiert für alle Mitglieder ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft und ermöglicht ihnen ihre ganz eigene Umweltbewältigung und Lebensgestaltung. Das Orientierungssystem beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Urteilen, Werten, die Emotionen und Motivation sowie das Handeln aller Menschen der jeweiligen Gesellschaft (Thomas, 1996). Das Training dient dazu, bei deutschen Managern, Fach- und Führungskräften interkulturelle Kompetenz in Bezug auf die berufliche Zusammenarbeit mit Österreichern aufzubauen. 2. Interkulturelle Handlungskompetenz ist die notwendige Voraussetzung für eine angemessene, erfolgreiche und für alle Seiten zufriedenstellende Kommunikation, Begegnung und Kooperation zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Interkulturelle Kompetenz ist das Resultat eines Lern- und Entwicklungsprozesses. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz setzt die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Orientierungssystemen voraus, basierend auf einer Grundhaltung kultureller Wertschätzung. Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, die kulturelle Bedingtheit der Wahrnehmung, des Urteilens, des Empfindens und des Handelns bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen (Thomas, 2011a). 3. Interkulturelles Training umfasst allgemein alle Maßnahmen, die darauf abzielen, einen Menschen zur konstruktiven Anpassung, zum sachgerechten Entscheiden und zum effektiven Handeln unter fremdkulturellen Bedingungen und in kulturellen Überschneidungssituationen zu befähigen. Das Ziel dieses Trainings besteht in der Qualifizierung der Führungskräfte zum Erkennen und zur konstruktiven und effektiven Bewältigung der spezifischen Managementaufgaben, die sich ihnen gerade unter den für sie fremden Kulturbedingungen und in der Interaktion mit fremdkulturell geprägten Partnern stellen. Dabei ist nicht nur an die Bewältigung der berufsbedingten Anforderungen zu denken, sondern auch an die persönliche Lebensgestaltung im Ausland. Gerade unter den Bedingungen beruflicher Tätigkeit im Ausland verschmelzen oft berufliche und persönliche Handlungs- und Erfahrungsbereiche miteinander. 14 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
In den meisten Fällen wird das Training interkultureller Handlungskompetenz als eine den Auslandseinsatz vorbereitende Trainingsmaßnahme organisiert. Zusätzlich gibt es auch den Arbeitsaufenthalt im Ausland begleitende Verlaufstrainings sowie Nachbereitungstrainings nach Rückkehr in die Heimat, in denen die interkulturellen Erfahrungen untereinander und mit Experten diskutiert und reflektiert werden können, um so zu einem vertieften Verständnis der fremdkulturellen Arbeitssituation und Lebensweisen vorzudringen (Thomas, 2003).
Die Bearbeitung des Trainingsmaterials Das hier präsentierte Trainingsmaterial kann als individuelles Einzeltraining und als Baustein in interkulturellen Gruppentrainings zum Einsatz kommen. Zentraler Bestandteil des Trainingsmaterials sind von deutschen Managern, Fach- und Führungskräften in der konkreten Zusammenarbeit mit österreichischen Kollegen und Mitarbeitern erlebte, authentische Interaktionssituationen, in denen sich die österreichischen Partner nicht so verhalten haben, wie die deutschen Manager, Fach- und Führungskräfte das erwartet hatten. Sie waren dann irritiert und ratlos, weil sie nicht in der Lage waren, eine Erklärung für das Verhalten zu finden. Diese so genannten kulturell bedingten »kritischen« Interaktionssituationen in der Zusammenarbeit mit Österreichern wurden im Zuge von Interviews mit deutschen Managern, Fach- und Führungskräften immer an deren Arbeitsplätzen in Österreich erhoben. Es handelt sich also um Situationen, bei denen das irritierende Verhalten der österreichischen Partner nicht nur einmal, sondern immer wieder, auch bei wechselnden Partnern, beobachtet und bemerkt wurde. Diese Situationen wurden dann von Experten aus Deutschland und aus Österreich, die sich mit den kulturell bedingten Handlungsdeterminanten in beiden Ländern gut auskannten und zum Teil auch selbst kulturvergleichende deutsch-österreichische Forschungsprojekte durchgeführt hatten, ausgewertet, mit dem Ziel, zu jeder Situation Antworten auf folgende Fragen bekommen: 15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
1. Wie typisch ist Ihrer Meinung nach das Verhalten der österreichischen Interaktionspartner? 2. Wie erklären Sie sich das Verhalten der österreichischen Interaktionspartner? 3. Welche Aspekte aus der österreichischen Kultur (Tradition, Geschichte, Politik, Religion, Lebensphilosophie) könnten als Erklärung für das immer wieder beobachtete Verhalten dienen? Auf der Basis dieser Aussagen konnten insgesamt sieben so genannte Kulturstandards generiert und benannt werden, denen die kritischen Interaktionssituationen zugeordnet werden konnten. Unter Kulturstandards versteht man Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft (Nation, Gesellschaft, Gruppe etc.) für sich und andere als normal, typisch und verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird aufgrund dieser zentralen Kulturstandards beurteilt und reguliert. Die individuelle und gruppenspezifische Art und Weise des Umgangs mit zentralen Kulturstandards zur Verhaltensregulation kann innerhalb eines gewissen Toleranzbereichs variieren. Verhaltensweisen, die sich außerhalb der bereichsspezifischen Grenzen bewegen, werden von der sozialen Welt abgelehnt und sanktioniert (Thomas, 2011b). Die in diesem Training zur Erklärung der kritischen Interaktionssituationen herangezogenen sieben österreichischen Kulturstandards sind aus den Interaktionserfahrungen deutscher Manager, Fach- und Führungskräfte in der Zusammenarbeit mit österreichischen Partnern gewonnen worden und besitzen deshalb zunächst einmal nur in diesem Kontext Gültigkeit. Für das Training wurden aus insgesamt 99 kritischen Interaktionssituationen 28 Situationen ausgesucht, die in dieser oder ähnlicher Art im beruflichen Alltagsleben erlebt wurden und zu erheblichen Irritationen beim deutschen Manager sowie Fachund Führungskräften führen können. Der Aufbau des Trainings orientiert sich an dem in vielen Evaluationsstudien bewährten Konzepts des so genannten CultureAssimilator-Trainings (Triandis, 1984). Es handelt sich hierbei 16 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
eindeutig nicht um ein Training zur »kulturellen Anpassung« an eine fremde Kultur, sondern um eine Sensibilisierung für kulturelle Einflüsse auf Prozesse der Wahrnehmung, des Denkens und Urteilens, des emotionalen und motivationalen Verhaltens und des Handelns, immer häufiger wird die Bezeichnung »CultureSensitizer-Training« verwendet. Dieses Trainingskonzept erfüllt genau die Forderungen, die an die Vermittlung »aktiven« Wissens gestellt werden, nämlich die Lerninhalte in lebensnahe und authentische, zielgruppenspezifische Kontexte eingebaut zu präsentieren und durch die Bearbeitung des Materials die erwünschten Lernprozesse in Gang setzen. Auf der Grundlage aktueller lernpsychologischer Erkenntnisse zu verstehensorientierten interkulturellen Trainings (Thomas, 2009) wurde eine Neustrukturierung des Trainingsmaterials vorgenommen, um mehr als bisher die eigenständige Bearbeitung des an deutschen Managern, Fachund Führungskräften in Österreich erhobenen Interaktionsmaterials anzuregen. Dabei wurden auch die Ergebnisse der Expertenbefragung zum Aufbau des Trainings genutzt. Verstehensorientierte Trainings gehen von der Annahme aus, dass Kognitionen handlungssteuernd wirken. Das Ziel verstehensorientierter Trainings ist die Vermittlung von Wissen über ein spezifisches fremdkulturelles Orientierungssystem. Die Trainingsteilnehmer sollen verstehen lernen, – wie sich ihre Partner aus der jeweiligen Zielkultur in bestimmten Situationen abweichend verhalten von dem, wie sie es von zu Hause gewohnt sind (fremdkulturelles Handlungswissen); – warum sie sich so verhalten (kulturell isomorphe Attributionen); – welches Verhalten die Partner von ihnen erwarten, welche Einstellungen, Bewertungen, Schemata und Scripts sie bei ihren Partnern durch bestimmte Verhaltensweisen erzeugen oder verstärken (interkulturelles Antizipieren); – welcher Nutzen sich aus kulturdivergenten Orientierungssystemen, Verhaltensregeln und Situationsinterpretationen zur gemeinsamen Zielerreichung ziehen lässt (interkulturelle Wertschätzung). Das Training umfasst entsprechend der sieben Kulturstandards 17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sieben Themenbereiche, die mit einer passenden Illustration des Kulturstandards eingeleitet werden. Danach folgt eine kritische Interaktionssituation, in die sich der Bearbeiter des Trainingsmaterials hineinversetzen soll, um dann die Frage zu beantworten: »Wie lässt sich das Verhalten des österreichischen Partners erklären?« Diese Frage sollte der Bearbeiter sinnvollerweise schriftlich, eventuell nach nochmaligem Lesen der kritischen Interaktionssituationen, beantworten. Danach hat er vier unterschiedliche »Deutungen« der Situation zu bearbeiten und auf je einer Skala von »sehr zutreffend« bis »nicht zutreffend« im Hinblick auf Stimmigkeit und Relevanz zur Erklärung des Verhaltens des österreichischen Partners zu bearbeiten. Diese Einstufung der vier Deutungen soll der Bearbeiter für sich schriftlich begründen und danach erst die vorgegebenen »Bedeutungen« als Erläuterungen zu den vier Deutungen lesen. Auf diese Weise erhält er Detailinformationen, weil einige Deutungen mit den zugehörigen Erläuterungen des Verhaltens des österreichischen Partners nur zum Teil übereinstimmen, überhaupt nicht passend sind oder eine tatsächlich zutreffende Erklärung liefern. Danach sollte der Bearbeiter überlegen und schriftlich festhalten, was er denn als deutscher Manager, Fach- und Führungskraft zur Lösung der irritierenden Situation vorschlagen würde. Erst wenn dieser Teil der Arbeit erledigt ist, sollte er die vorgegebene Lösungsstrategie bearbeiten und mit dem eigenen Vorschlag vergleichen. Zu jedem Themenbereich sind mehrere kritische Interaktionssituationen zu bearbeiten. Am Ende eines jeweiligen Themenbereichs wird eine so genannte »kulturelle Verankerung« des Kulturstandards präsentiert, das heißt, es werden Hinweise auf Besonderheiten der geschichtlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Österreichs gegeben, die begründen können, warum sich der österreichische Kulturstandard in Bezug auf diese spezifische Zielgruppe von Manager, Fach- und Führungskräften in dieser verhaltenssteuernden Weise entwickelt hat. Das Buch enthält zum Schluss noch eine tabellarische Übersicht über die einzelnen Merkmale der sieben Kulturstandards. Eine Literaturliste zu den im Text aufgeführten Literaturangaben und eine Liste mit Literaturempfehlungen zur Vorbereitung 18 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
auf die Zusammenarbeit mit österreichischen Partnern beschließen das Werk. Leser, die das Trainingsmaterial allein, ohne Unterstützung durch Gruppendiskussionen, bearbeiten, sollten folgende Anweisungen beachten, wenn sie die Wirkungen des Trainings zum Aufbau interkultureller Handlungskompetenz mit österreichischen Partnern optimal ausschöpfen wollen: 1. Holen Sie erst einmal selbst aus den kritischen Interaktionssituationen soviel, wie Ihnen dazu einfällt heraus, bevor Sie weiterlesen. 2. Halten Sie Ihre Einfälle, Vermutungen sowie Erklärungen schriftlich fest. Bemühen Sie sich um Genauigkeit, Präzision und Detailreichtum so intensiv, wie Sie das im Rahmen einer wichtigen Prüfungsarbeit tun würden. 3. Denken Sie immer wieder daran, dass die Deutschen deshalb vom Verhalten des österreichischen Partners irritiert sind, weil sie aufgrund ihres deutschen kulturellen Orientierungssystems (Schroll-Machl, 2007) anderes erwartet haben. Also reflektieren Sie immer auch die Sichtweise des deutschen Partners mit. 4. Lesen Sie erst dann die vorgegebene Lösungsstrategie, nachdem Sie selbst eine entwickelt und zu Papier gebracht haben. Dann vergleichen Sie die beiden Fassungen und versuchen Sie, Differenzen und Übereinstimmungen zu erfassen und zu begründen. 5. Vergleichen Sie auch einmal unabhängig von den kritischen Interaktionssituationen die deutschen und österreichischen Kulturstandards miteinander und machen Sie sich Gedanken darüber, wie unterschiedlich ein von diesen kulturspezifischen Orientierungssystemen gesteuertes Verhalten auch in Situationen ausfallen kann, die Sie im Training nicht bearbeitet haben, die Sie aber aus Ihrer beruflichen Erfahrung kennen. Zum Schluss noch ein Hinweis: Bei allen vorhandenen Unterschieden, die sich in der Kooperation zwischen deutschen und österreichischen Managern, Fach- und Führungskräften feststellen lassen, gibt es auch viele Gemeinsamkeiten, die das Leben und Arbeiten in Österreich erleichtern und die zu erfreulichen Erfah19 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
rungen führen können. Interkulturelle Wertschätzung gegenüber dem kulturspezifischen Orientierungssystem der österreichischen Partner, welches der Handlungssteuerung und seinen Wirkungen dient, gepaart mit Sensibilität gegenüber irritierenden Verhaltensabweichungen und eine feste Überzeugung, dass die Zusammenarbeit gelingen wird, garantieren über kurz oder lang den Erfolg in der beruflichen Zusammenarbeit und im persönlichen Zusammenleben. In diesem Sinne wünschen die Autoren dem Leser ein gutes Gelingen.
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Themenbereich 1: Personenbezug
Beispiel 1: Das Meeting Situation Herr Schmitt ist von seiner deutschen Mutterfirma als stellvertretender Geschäftsführer einer größeren Werbeagentur nach Wien entsandt worden. Nun ist er seit einigen Wochen tätig, hat sich in seine Aufgabe eingearbeitet und fühlt sich in der Lage, einen laufenden Auftrag mit dem österreichischen Geschäftsführer, Herrn Pichler, den er bis jetzt kaum kennen gelernt hat, ausführlicher zu besprechen. Er macht mit Herrn Pichler einen Termin aus, um die Auftragsdetails zu klären. Er ist sich sicher, dass die Sache schnell besprochen werden kann, und geht daher davon aus, das Meeting nach dreißig Minuten zu beenden. Herr Schmitt wird sehr freundlich von Herrn Pichler begrüßt und ihm wird zuallererst Kaffee angeboten. Obwohl offiziell Rauchverbot in der Agentur herrscht, werden ihm auch Zigaretten gereicht, die Herr Schmitt allerdings ablehnt. Herr Pichler verwickelt Herrn Schmitt nun in ein längeres Gespräch über frühere Aufträge und deren Abwicklung, aber auch über private Angelegenheiten und vieles mehr, was aber überhaupt nichts mit dem anstehenden Auftrag und den zu besprechenden Details zu tun hat. Herr Schmitt versucht in mehreren Anläufen, das Gespräch auf die zu besprechende Angelegenheit zu lenken, bleibt aber erfolglos und fragt sich, wohin das Gespräch führen soll. Herr Pichler bricht das Treffen nach einer Stunde mit der Begründung ab, dass er noch eine weitere Verabredung habe. Herr Schmitt ist nicht nur überrascht, sondern 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
auch völlig ratlos, denn über den Zweck des Treffens wurde kein einziges Wort verloren. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Herr Pichler wollte Herrn Schmitt einfach näher kennen lernen, bevor er mit ihm Details des Auftrags bespricht. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Herr Pichler glaubt, dass Herr Schmitt die Aufgabe allein bewältigen kann, und möchte sich nicht einmischen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Für Herrn Pichler ist die ganze Angelegenheit völlig bedeutungslos und er weiß gar nicht, warum Herr Schmitt mit ihm überhaupt über die Auftragsdetails sprechen will.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Herr Pichler hat schon einige Erfahrungen im Umgang mit Deutschen gesammelt, will Herrn Schmitt nun testen, hat dessen Ungeduld ob des Geplauders wahrgenommen und hat nun genug von ihm. Der angebliche Besprechungstermin ist nur vorgeschoben. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
24 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterungen zu a): Herr Pichler möchte den neuen Mitarbeiter erst einmal näher kennen lernen und sich mit ihm vertraut machen, denn dazu hatte sich bisher noch keine Gelegenheit ergeben. Sympathie und soziale Nähe sind in Österreich wichtige Werte, man möchte sich näherkommen und gut verstehen, bevor man zur Zusammenarbeit übergeht. Eigentlich hätte das Kennenlernen schon viel früher geschehen sollen, denn ein gutes Verhältnis zu seinen Kollegen und Mitarbeitern zu haben, zählt viel und wird als wichtig eingeschätzt. Deshalb versucht Herr Pichler eine lockere Atmosphäre herbeizuführen und sich auch über private Dinge mit Herrn Schmitt auszutauschen. Auf diesem Hintergrund kann die Diskussion über Auftragsdetails warten und auf ein nächstes Treffen verschoben werden. Erläuterungen zu b): Wahrscheinlich kann Herr Pichler schon recht gut einschätzen, was Herr Schmitt kann und was nicht. Da es bis jetzt keine Nachfragen gegeben hat, lässt er die Dinge einfach so weiterlaufen und nutzt die Gelegenheit, mit Herrn Schmitt ein bisschen über unverbindliche Dinge wie die Abwicklung früherer Projekte zu plaudern. Dies könnte Herr Schmitt sogar als Zeichen des Vertrauens werten. Da Herr Schmitt und Herr Pichler aber offensichtlich bislang noch keine Gelegenheit hatten, sich näher kennen zu lernen, erscheint diese Deutung eher unwahrscheinlich. Erläuterungen zu c): Immerhin erscheint Herr Pichler persönlich zu dem Gespräch mit Herrn Schmitt und nimmt sich auch viel Zeit, mit ihm über alle möglichen vergangenen und gegenwärtigen persönlichen 25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Angelegenheiten zu plaudern. Wenn ihm das Treffen so unwichtig gewesen wäre, hätte er ihm sicher schriftlich eine entsprechende Mitteilung zukommen lassen, denn offensichtlich steht ja schon bei diesem Gespräch Herr Pichler unter erheblichem Zeitdruck. Bei ihm jagt anscheinend ein Termin den anderen. So recht überzeugend ist diese Deutung nicht. Erläuterungen zu d): Es ist zu erwarten, dass Herr Pichler bereits Erfahrungen mit Deutschen hat und auch weiß, dass Deutsche sich normalerweise nicht viel Zeit zum Plaudern nehmen, sondern schnell zur Sache kommen wollen, hier also zur Besprechung der Auftragsdetails. Vielleicht hat er auch schon etwas von der Unruhe Herrn Schmitts gespürt, weil viel über alles Mögliche geredet wird, aber nicht über das eigentliche Thema des Treffens. Aus der Situationsschilderung heraus gibt es aber keine Hinweise darauf, dass Herr Pichler verärgert ist und den Besprechungstermin vorschiebt. Eine andere Deutung ist vermutlich zur Erklärung der Situation zutreffender.
Lösungsstrategie Aus der Sicht von Herrn Schmitt ist das Treffen mit Herrn Pichler wichtig um eine Auftragserledigung in Gang zu bringen. Dazu möchte er mit ihm ein Gespräch führen. Natürlich weiß er, dass es bisher noch zu keinem näheren Kennenlernen gekommen ist, aber das steht für ihn gegenwärtig nicht im Vordergrund. Er will die Auftragsdetails besprechen und bei dieser Gelegenheit kann man sicher etwas übereinander erfahren, gegenseitige Sympathien entwickeln oder das eine oder andere persönliche Wort austauschen. Aus der Sicht von Herrn Pichler ist möglicherweise auch eine Besprechung der Auftragsdetails wichtig und notwendig, doch zunächst einmal möchte er Herrn Schmitt näher kennen lernen. Dazu übernimmt er die Rolle des Gastgebers, bewirtet ihn mit Kaffee und Zigaretten (auch wenn das Rauchen im Zimmer nicht gestattet ist) und beginnt mit unverbindlichen Gesprächen über die vergangenen, früheren Auftragsabwicklungen 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
und über persönliche Details. Er möchte auf Herrn Schmitt einen guten Eindruck machen und alles daran setzen, eine angenehme und sehr persönliche Gesprächsatmosphäre zu schaffen. So zieht sich das Gespräch hin, ohne dass Herr Pichler überhaupt eine Notwendigkeit sieht, auf die Auftragsdetails zu sprechen zu kommen. Er freut sich, Herrn Schmitt kennen gelernt zu haben, und er scheint ihm auch sympathisch zu sein, denn sonst hätte er sicher nicht so lange mit ihm geplaudert, bis er das Gespräch wegen eines weiteren Termins abbrechen muss. Herr Schmitt sollte lernen, dass es im Unterschied zu Deutschland in vielen Ländern, und so auch besonders in Österreich, darauf ankommt, dass die Personen, die miteinander kooperieren wollen bzw. müssen, sich erst einmal näher kennen gelernt haben müssen. Das dient die Herstellung einer angenehmen, von Arbeitsstress und Arbeitsthemen freien Gesprächsatmosphäre. So lassen sich Gemeinsamkeiten der Herkunft, des Berufs, der Familie, der Hobbys usw. erkunden, Sympathien aufbauen und persönliche Beziehungen knüpfen kann. Dazu muss man sich Zeit nehmen und zwar umso mehr, je bedeutsamer die zukünftige Zusammenarbeit für die Auftragserledigung und die eigene Persönlichkeit ist. Wenn Herr Schmitt noch wenig Erfahrung mit der Gestaltung solcher Kennenlernsituationen hat, sollte er sich bei österreichischen Freunden erkundigen, wie man so etwas organisiert und wie viel Zeit man dafür aufwenden muss, denn diese sind seit ihrer Kindheit daran gewöhnt und haben ein entsprechendes Verhalten verinnerlicht. Herr Schmitt kann also noch etwas lernen!
Beispiel 2: Das Gespräch auf dem Flur Situation Herr Lauter hat seit einigen Wochen eine Führungsposition in einer großen IT-Firma in Wien angetreten. Sein Vorgänger war Herr Maierhofer aus Linz, der plötzlich in ein anderes Unternehmen gewechselt ist. Nun muss sich Herr Lauter einarbeiten, denn vieles ist liegen geblieben und er ist daher sehr unter Druck. Auf 27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
dem Weg in sein Büro hält ihn ein österreichischer Mitarbeiter, Herr Fegerl, auf und fängt ein Gespräch an. Herr Lauter hat für den Vormittag einen genauen Zeitplan, den er einhalten möchte, da er sich noch auf einen Kundentermin vorbereiten muss. Da der Kollege kein bestimmtes Anliegen thematisiert, blockt Herr Lauter das Gespräch schnell ab und vertröstet Herrn Fegerl auf die Mittagspause. In der Mittagspause ist Herr Fegerl jedoch nicht auffindbar. Im Laufe der nächsten Tage merkt er, dass seine Mitarbeiter immer wieder im Flur in verschiedenen Gruppen zusammenstehen und miteinander plaudern, obwohl es doch im Augenblick sehr viel zu erledigen gibt. Herr Lauter ärgert sich darüber und sieht sich gezwungen, ein Meeting einzuberufen, um mit seiner Mannschaft über das Thema Arbeitsmoral und Einhalten der Arbeitszeit zu sprechen. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Herr Fegerl hatte wohl ein wichtiges Anliegen, das er mit Herrn Lauter besprechen wollte, doch zuerst beabsichtigte er vorzufühlen, wie bei seinem Chef die Stimmungslage ist. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) In diesem österreichischen Unternehmen gehört es zur Firmenkultur, auch während der Arbeitszeit kurze Gespräche über Privatangelegenheiten zu führen, um ein gutes Arbeitsklima herzustellen und danach wieder umso motivierter an die Arbeit zu gehen. sehr zutreffend
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nicht zutreffend
c) Herr Fegerl hat schlicht und einfach Angst vor dem neuen Chef aus Deutschland und deshalb will er nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen, sondern sich vorsichtig an ihn herantasten. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
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d) Die österreichischen Mitarbeiter von Herrn Lauter wissen, dass ihr Chef sich erst einmal einarbeiten muss, unter gehörigem Druck steht, um den nötigen Durchblick zu bekommen. Sie nutzen die Gelegenheit aus, ihre gewohnten Gesprächspausen während der Arbeitszeit so weit wie möglich auszudehnen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterungen zu a): Offensichtlich ist Herr Lauter bei seinen Mitarbeitern noch nicht so recht eingeführt worden. Man kennt sich eben noch zu wenig. Das weiß auch Herr Fegerl, der offensichtlich in einer persönlichen, womöglich die Arbeitsgruppe betreffenden Angelegenheit mit Herrn Lauter sprechen möchte. Mithilfe eines unverbindlichen, harmlos wirkenden Vorgesprächs versucht er abzutasten, ob Herr Lauter in der Lage ist, sich mit seinem womöglich recht komplexen Anliegen befassen zu wollen. An Herrn Lauters Reaktionen merkt er, dass dies ein außerordentlich ungünstiger Zeitpunkt ist und er mit seinem Anliegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei seinem Chef nicht landen kann. Für ihn ist klar, dass 29 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
er damit warten muss, und er kommt gar nicht erst auf die Idee, Herrn Lauter in der Mittagspause anzusprechen. Diese Deutung hat durchaus etwas für sich, doch ist der geschilderten Situation nicht ohne Weiteres zu entnehmen, dass Herr Fegerl wirklich ein delikates Thema ansprechen will. Eine andere Deutung wird zutreffender sein. Erläuterungen zu b): Auch Gespräche auf dem Flur oder beim Rauchen schaffen Vertrautheit, hier tauschen sich die Kollegen kurz aus, bekommen nebenher wichtige Informationen. Auch kann man sich hier gemeinsam über Projekte oder die Geschäftsführung auslassen, was die Gemeinsamkeit fördert. So haben die Kollegen das Gefühl, alle im selben Boot zu sitzen. Wenn für diese wichtige Beziehungspflege allerdings die Zeit fehlt, gebietet es die Höflichkeit, dies zu kommunizieren und das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt auch wirklich nachzuholen, zum Beispiel außerhalb der Arbeitszeit. In Österreich wird die Trennung zwischen Arbeits- und Privatleben nicht so streng gesehen wie in Deutschland. Daher ist es wichtig, Vertrauen zu schaffen, indem man versucht, sich privat näherzukommen und kennen zu lernen. Das kann zwar etwas länger dauern, lohnt sich aber immer. Erläuterungen zu c): Ein neuer Chef wird in jedem Betrieb und in jeder Abteilung zunächst einmal vorsichtig beäugt, man spricht miteinander über ihn und wenn möglich holt man extern Informationen ein, um sich ein Bild zu machen. Die Mitarbeiter werden auch versuchen herauszubekommen, ob und wie er ansprechbar ist für kritische Anliegen. Es könnte also durchaus sein, dass Herr Fegerl ein persönliches Anliegen an seinen neuen Chef hat oder auch von der Gruppe der Mitarbeiter mit einem sie betreffenden Anliegen vorgeschickt wurde und nun an ihn herantritt. Die Art der Ansprache ist aber für Herrn Lauter so wenig klar und eindeutig, dass er nicht recht weiß, was Herrn Feger eigentlich will, und vermutet, er will nur etwas plaudern. Genau dazu aber hat Herr Lauter jetzt keine Zeit und wimmelt ihn ab. So recht überzeugend ist diese Deutung zur Erklärung der geschilderten Situation nicht. 30 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Erläuterungen zu d): Tatsächlich beobachtet Herr Lauter, dass seine Mitarbeiter schwatzend auf dem Gang herumstehen, anstatt an ihren Arbeitsplätzen die anstehenden Aufgaben zu erledigen. Er hat den Eindruck, dass sie ungerechtfertigterweise während ihrer Arbeitszeit Pausen einlegen, um sich zu unterhalten und zu amüsieren. Das ist er von qualifizierten Mitarbeitern nicht gewohnt und beabsichtigt nun im Rahmen einer Mitarbeitersitzung das Thema anzusprechen und dafür zu sorgen, dass die Arbeitszeit auch wirklich als Arbeitszeit genutzt wird. Er wird vermutlich außerdem erläutern, dass er von seinen Mitarbeitern, wenn sie mit einem Anliegen an ihn herantreten, klare und eindeutige und auf das zu besprechende Thema zugeschnittene, sachliche Aussagen erwartet. Ein Drumherumgerede, ein vorsichtiges Vorfühlen, eine lange unverbindliche Einleitungsrede hält er für überflüssig und nutzlos und das wird er an Beispielfällen seinen Mitarbeitern erläutern. All dies ist aber zur Erklärung des Verhaltens der österreichischen Mitarbeiter nicht so recht zielführend.
Lösungsstrategie Herr Lauter ist zweifellos in einer schwierigen Situation. Er hat einen Chefposten in einem österreichischen Unternehmen angetreten, sein Vorgänger war Österreicher und seine Mitarbeiter sind ebenfalls in Österreich aufgewachsen und haben sich in die österreichische Arbeitswelt eingearbeitet. Es kann durchaus sein, dass es zur Unternehmenskultur speziell dieses Betriebs gehört, den Mitarbeitern Freiräume einzuräumen, sich während der Arbeitszeit über persönliche Angelegenheiten zu unterhalten, miteinander zu plaudern und die zu erledigenden Arbeiten ausgiebig miteinander zu besprechen. Es kann auch sein, dass der Vorgänger von Herrn Lauter, Herr Maierhofer, ein solches Verhalten eingeführt oder einfach nur geduldet hat. Höchstwahrscheinlich aber gehört es zur Tradition in Österreich, dass im Unterschied zu Deutschland erst dann sachliche und arbeitsrelevante Themen besprochen werden, wenn man sich vorher persönlich ein wenig ausgetauscht und eine gute, angenehme Kommunikationsatmosphäre geschaffen hat. 31 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Herr Lauter muss lernen, dass seine österreichischen Mitarbeiter ihn umso mehr schätzen, je eher er bereit ist, informelle, persönliche Gespräche am Arbeitsplatz zu dulden, sich daran zu beteiligen oder sie sogar zu initiieren. Es wäre völlig verfehlt, als neuer Chef nach dieser kurzen Zeit der Einarbeitung und Beobachtung des Verhaltens seiner Mitarbeiter sofort eine Gruppensitzung einzuberufen, um die Mitarbeiter, wie man so sagt, »zusammenzustauchen«, um sie »auf Vordermann zu bringen«. Mit einer solchen Aktion würde er jeden Kredit bei seinen Mitarbeitern und darüber hinaus auch bei seinen Kollegen verspielen. Die Mitarbeiter würden ihn als »typisch deutschen autoritären Chef« ablehnen und ihm, wo auch immer es ihnen möglich ist, Steine in den Weg legen. Ein motivierendes und zufriedenstellendes Arbeitsklima könnte er so nicht schaffen und damit wäre es ihm nicht möglich, seine gesetzten Ziele zu erreichen. Wenn ihm die Nebengespräche seiner Mitarbeiter zu viel werden und er den Eindruck hat, dass mehr geplaudert als gearbeitet wird, dann könnte er, nachdem er das »Spiel« eine längere Zeit selbst mitgemacht hat, das Thema ansprechen und versuchen, einen Kompromiss zu finden zwischen dem, was in Österreich üblich ist und was seine österreichischen Mitarbeiter praktizieren, und dem, was er aus Deutschland kennt und noch für vertretbar hält. So könnte er gegenüber seinen Mitarbeitern und ihren Arbeitsgewohnheiten Verständnis signalisieren und andererseits seine Interessen deutlich zum Ausdruck bringen.
Beispiel 3: Die Projektvergabe Situation Herr Krause arbeitet seit über einem Jahr in einem großen Architekturbüro und ist hier für mehrere Projekte verantwortlich. Vor kurzem wurde er befördert und ist nun auch für die Vergabe umfangreicherer Projekte zuständig. Die Stimmung innerhalb der Firma empfindet er als positiv, oft unternehmen er und seine österreichischen Kollegen privat etwas gemeinsam. Auch sein 32 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Vorgesetzter scheint sehr daran interessiert, dass alle sich gut verstehen. Nun steht ein neues Projekt mit einem wichtigen Kunden an, und Herr Krause hat die Aufgabe, die Arbeitsgebiete zu verteilen. Herr Krause verteilt die Hauptverantwortung an einen jungen österreichischen Kollegen, Herrn Grachegg, wobei Herr Krause aber das Projekt weiterhin leitend betreut. Herr Grachegg soll nun ein Konzept für den Kunden entwerfen und dieses vorstellen. Herr Krause glaubt bei der Präsentation, dass das Konzept nicht den Vorstellungen des Kunden entspricht, und teilt dies anschließend ganz sachlich, klar und deutlich Herrn Grachegg mit. Herr Krause überträgt die Hauptverantwortung daraufhin im nächsten Meeting an seine junge Kollegin Frau Zasky, da diese die besseren Konzeptvorstellungen zu haben scheint. Als Herr Krause Herrn Grachegg am nächsten Tag in der Firma trifft, grüßt er diesen, wird aber kaum zurückgegrüßt und Herr Grachegg geht ihm offensichtlich aus dem Weg. Dies geht die nächsten Tage so weiter. Herr Krause empfindet das Verhalten von Herrn Grachegg als kindisch, aber so langsam trübt sich die gute Stimmung im Büro ein. Herr Krause meinte doch nur im Sinne seines Arbeitsauftrags gehandelt zu haben. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Herr Grachegg wusste schon vorher, dass er der übertragenen Aufgabe fachlich eigentlich nicht gewachsen sein würde, doch mit Unterstützung von Herrn Krause, der ihm die Aufgabe ja offensichtlich zutraute, wollte er es versuchen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
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nicht zutreffend
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b) Für Herrn Krause war die Übertragung des Projekts an Herrn Grachegg von Anfang an eine Verlegenheitslösung, weil er erst einmal keine bessere Alternative sah, bis ihn dann der Vorschlag von Frau Zasky überzeugte. Auf die Empfindlichkeiten von Herrn Grachegg wollte und konnte er aus sachlichen Gründen keine Rücksicht nehmen. sehr zutreffend
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c) Herr Grachegg fühlt sich vor seinem Kollegen gedemütigt, weil ihm der so plötzlich den Auftrag entzog, und deshalb vermeidet er den Kontakt zu ihm. sehr zutreffend
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d) Herr Grachegg wollte von sich aus schon aus dem Team aussteigen, nachdem Herr Krause als Deutscher die Projektleitung übernommen hatte. Er hat schon schlechte Erfahrungen mit deutschen Vorgesetzten gemacht und weiß, dass die Zusammenarbeit atmosphärisch nicht gut geht.
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nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Nach dieser Deutung hat Herr Grachegg die Beauftragung mit der Projektleitung durch Herrn Krause wohl als ein »Fördern durch Fordern« empfunden und sich auf die Unterstützung von Herrn Krause bei der Projektabwicklung verlassen, ohne dessen 34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Bereitschaft dazu vorher zu erkunden. Wenn er nun ausführlich und sachlich erklärt bekommt, warum ihm so schnell der Auftrag wieder entzogen wird, hätte er mit Herrn Krause über das Für und Wider diskutieren sollen oder er hätte froh sein sollen, gar nicht erst in eine solche ihn und sein Können überfordernde Situation gebracht zu werden. Das ausweichende und den Kontakt zu Herrn Krause vermeidende Verhalten ist damit nicht zufriedenstellend zu erklären. Erläuterung zu b): Auch für Herrn Krause ist die neue Aufgabe einer Herausforderung, aber für ihn ist sie verbunden mit einer Beförderung. Er hat sich also als kompetente Fachkraft bewährt. Es ist deshalb eher unwahrscheinlich, dass er nur auf gut Glück Herrn Grachegg mit der Leitung beauftragt hat und nicht sofort nach einer aus seiner Sicht geeigneteren und kompetenteren Fachkraft für das Projekt gesucht hat. Verlegenheitslösungen, die dann so schnell scheitern, wird er sich in seiner Position gar nicht leisten können. Erläuterung zu c): Direkte Kritik vor anderen Kollegen im Meeting zu äußern, schickt sich in Österreich nicht. Herr Grachegg fühlt sich gedemütigt, dass ihm der Auftrag öffentlich entzogen wurde, und weiß vermutlich nicht, wie er reagieren soll. Wahrscheinlich hätte er sich eine weitere Chance erhofft. Die Angelegenheit ist ihm äußerst peinlich, weil jetzt auch noch alle Bescheid wissen. Herr Krause hätte ihm das in einem persönlichen Gespräch vermitteln und es dementsprechend wertschätzend den anderen Kollegen kommunizieren können. Herr Grachegg hat das Gefühl, sein Gesicht verloren zu haben, und reagiert mit Unmut. Er wünscht sich wahrscheinlich einige aufmunternde Worte über seine Arbeit vom Projektleiter, um weiterhin motiviert zu bleiben. Herr Krause hätte gut daran getan, Herrn Grachegg nur unter vier Augen zu kritisieren und dies möglichst vorsichtig und wertschätzend, um es sich mit ihm nicht zu verscherzen. Erläuterungen zu d): Es gibt aus der Fallschilderung keine Hinweise darauf, dass Herr Grachegg wegen seines neuen deutschen Chefs aus dem Team 35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
ausscheiden wollte. Das wäre auch verwunderlich, da Herr Krause ja offensichtlich bei seinen Kollegen so gut angekommen ist und zu vielen private Beziehungen unterhält. Die Stimmung im Unternehmen und wohl auch im Team ist gut und entspricht dem Wunsch des Chefs von Herrn Krause. Diese Deutung kann die Entwicklung der Beziehungen zwischen Herrn Krause und Herrn Grachegg nicht erklären, da sie von nicht nachvollziehbaren Voraussetzungen ausgeht.
Lösungsstrategie Herr Krause hat aus fachlichen Erwägungen genau richtig gehandelt. Anstatt Herrn Grachegg gewähren zu lassen, obwohl sein Konzept nicht überzeugt, entzieht er im rechtzeitig die Verantwortung, auch zu dessen Schutz. Die sachliche und ausführliche Begründung für diesen Schritt sollte genügen, um Herrn Grachegg nicht allzu sehr zu beschädigen und um ihn als motivierten Mitarbeiter weiter im Team zu halten. Aus deutscher Sicht muss ein Mitarbeiter eine solche Entscheidung des Chefs »verkraften« können. Für österreichische Verhältnisse hat Herr Krause Herrn Grachegg zu viel zugemutet. Gerade weil in der Abteilung ein so gutes und auf persönlichen Beziehungen aufbauendes Gruppenklima entwickelt worden war, was zudem der Unternehmenskultur entsprach, hätte Herr Krause das soziale Umfeld von Herrn Grachegg mit in seine Überlegungen zur Übermittlung seiner Entscheidung einbeziehen müssen. In dem Gespräch mit Herrn Grachegg hätte Herr Krause nicht nur sachlich argumentieren dürfen, sondern zum Ausdruck bringen müssen, wie sehr er seine fachlichen und sozialen Kompetenzen zu schätzen weiß. Er hätte mit ihm über zukünftig anstehende verantwortungsvolle Aufgaben, die er ihm zu übertragen gedenkt, reden müssen. Herr Grachegg benötigt von seinem Chef Argumente, die er gegenüber seinen Kollegen verwenden kann, damit nicht der Eindruck entsteht, er sei zu nichts zu gebrauchen und würde mit dem Entzug der Projektleitung einfach abserviert. Die kulturspezifische Sozialisation von Herrn Grachegg als 36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Österreicher und als Mitarbeiter mit Führungsverantwortung in eben diesem Unternehmen, in dem die Vorgesetzten und die Teams besonderen Wert darauf legen, dass sich alle gut verstehen, hat bei Herrn Grachegg zu Erwartungen bezüglich der für ihn selbstverständlichen Regeln und Normen des Verhaltens von Herrn Krause geführt, denen dieser so nicht entsprochen hat. Zur Bereinigung der entstandenen Irritationen und Verletzungen muss Herr Krause auf Herrn Grachegg zugehen und ihm seine Wertschätzung für die weitere Zusammenarbeit so zu verstehen geben, dass wieder eine motivierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich wird.
Kulturelle Verankerung von »Personenbezug« In Österreich spielt die fachliche Kompetenz zwar eine wichtige Rolle, ausschlaggebender ist allerdings die persönliche Beziehung zum Gesprächspartner. In der Kommunikation ist – bei aller Vorsicht – der Grundton ein überaus freundlicher, da man niemanden verprellen möchte, auf den man später noch einmal angewiesen sein könnte. Man achtet darauf, sich kooperativ, vertrauenswürdig, rücksichtsvoll, umgänglich und charmant darzustellen, wobei die Sachebene nicht so sehr ins Gewicht fällt wie die Beziehungsebene. Arbeits- und Privatbereich werden weniger voneinander getrennt, was sich unter anderem durch Arbeitstreffen in Kaffeehäusern und Restaurants äußern kann, in denen durchaus mehr über Privates geredet wird, bevor man »zur Sache« kommt. Die österreichische Gastfreundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass man es »gemütlich« möchte, was meist in Verbindung mit Genuss steht und in den vielen Beisln und Heurigen (Wirts- und Schankstuben) ausgelebt werden kann (vgl. Grohmann, 2006). Da die Beziehungsebene als wichtiger erachtet wird als die sachliche Ebene, müssen soziale Beziehungen gepflegt werden und das nimmt wiederum Zeit in Anspruch. Durch die Diffundierung der verschiedenen Lebensbereiche kann es vorkommen, dass Arbeitstreffen zu ungewöhnlichen Zeiten stattfinden, viel über Persönliches gesprochen wird, bei dem man sich selbst auch 37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
offenbart, um als sympathisch und zugänglich in Erscheinung zu treten. Das sichert die persönliche Bindung und das Vertrauensverhältnis und gehört zur beruflichen Zusammenarbeit dazu. Informelle Treffen werden nicht als Zeitverschwendung angesehen, sondern als Möglichkeit, an wichtige Informationen zu gelangen, an die man sonst nicht herankommen kann. Guten Beziehungen und deren intensive Pflege kommen daher große Bedeutung zu. Um eine lockere Atmosphäre und die Festigung der sozialen Beziehungen zu erreichen, bedienen sich Österreicher unter anderem verschiedener Formen von Humor. Das Spektrum ist sehr vielfältig: Sehr beliebt ist jedoch das Mittel der Selbstironie, um sich als sympathisch und lustig darstellen zu können und gleichzeitig durch das Eingestehen eigener Schwächen und dem Kokettieren mit dieser Angst gegenüber dem anderen abzubauen. Verlegenheitsmomente können auf diese Weise durchbrochen und Witzeleien als Eisbrecher eingesetzt werden. Viele nehmen den typischen Österreicher vorrangig als Genussmenschen wahr, für den Wein, Musik, das gemütliche Beisammensein im Vordergrund stehen. Über dieses von den Österreichern selbst gepflegte Lebensgefühl gibt es schon seit mehreren Jahrhunderten Berichte (vgl. Bruckmüller, 1996, in denen das Interesse der Österreicher an Luxus, Konsum und Statusorientierung betont wird. Anthropologen sind der Meinung, dass diese Verhaltensorientierung vor allen Dingen auf den hohen Anteil der Österreicher zurückgeht, die in Dörfern und Kleinstädten leben, also in Gemeinden mit weit unter 10.000 Einwohnern, in denen das enge Miteinander und das aufeinander Angewiesensein immer schon von existenzieller Bedeutung war. Unabhängig vom äußeren Erscheinungsbild, politischen Ansichten und Wertesystemen sorgt der »dörfliche Zwang« für ein Gefühl der Zugehörigkeit und gegenseitiger Nähe (vgl. Mappes-Niediek, 2004).
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Themenbereich 2: Indirekte Kommunikation
Beispiel 4: Die Verabredung Situation Herr Graf ist seit einem halben Jahr als Steuerberater in Salzburg tätig und gerade dabei, sich in der Stadt einzuleben. Er möchte seinen Bekanntenkreis ausweiten und schlägt seinem österreichischen Bekannten Alfred Gruber, den er über einen Kollegen kennengelernt hatte, einen gemeinsamen Kinobesuch vor. Alfred Gruber ist begeistert: »Ach wundervoll, das ist eine ganz großartige Idee, das müssen wir unbedingt machen.« Sie verabreden, noch einmal zu telefonieren. Herr Graf ruft Herrn Gruber später an, um zu fragen, wann und wo sie einander denn treffen sollen. Alfred Gruber betont noch einmal, wie sehr er sich über den Anruf freue, und erzählt Herrn Gruber sofort von einem aktuell laufenden Auftrag. Herr Graf fragt erneut nach einem Terminvorschlag. Herr Gruber weicht immer noch aus. Schließlich antwortet er Herrn Graf, dass er wirklich an dem Film interessiert sei, dass der Film ganz tolle Kritiken bekommen habe und ja auch sicher noch einige Wochen im Kino sei. Er möchte sich außerdem wirklich gern mit Herrn Graf treffen, aber vielleicht könnte es am übernächsten Wochenende eventuell besser passen. Herr Graf ist verwundert. Warum sagt Herr Gruber denn nicht gleich, dass er keine Zeit hat? Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darun41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
ter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Herr Gruber ist einfach ein Mensch, der nicht Nein sagen kann, wenn ihm etwas nicht passt und er anderes vorhat.
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b) Herr Gruber hat eigentlich keine Lust, sich mit Herrn Graf zu treffen, weiß aber nicht, wie er das sagen soll. sehr zutreffend
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c) Herr Gruber mag Herrn Graf, möchte ihn treffen und etwas mit ihm unternehmen, aber er ist so eingespannt, dass er für ein solches Treffen keine Zeit hat, er hat eben gegenwärtig andere Prioritäten. sehr zutreffend
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d) Herr Graf ist auf Herrn Gruber zugegangen weil er seinen Bekanntenkreis in Salzburg erweitern möchte. Herr Gruber fühlt sich sehr geehrt von diesem Angebot. Da er sich Herrn Graf aber nicht gewachsen fühlt und Minderwertigkeitsgefühle ihm gegenüber hegt, versucht er einen zu engen Kontakt zu vermeiden und schiebt Terminprobleme vor. sehr zutreffend
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nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. 42 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Bedeutungen Erläuterungen zu a): Solche Menschen, die anderen, die mit einer Bitte oder einem Vorschlag zu gemeinsamen Unternehmungen an sie herantreten, nichts abschlagen und nicht Nein sagen können, gibt es tatsächlich. Sie fühlen sich der Situation, ein klares Nein auszusprechen, und den daraus möglicherweise entstehenden Konsequenzen nicht gewachsen, haben Angst und versuchen auszuweichen. Der Interaktionspartner glaubt nach wie vor daran, dass sein Anliegen Gehör gefunden hat und beachtet wird, was aber ein Trugschluss ist. Die Situationsschilderung legt jedoch als Ursache eher eine andere Deutung nahe als ein so spezifisches Persönlichkeitsmerkmal. Erläuterung zu b): Herr Gruber hat vielleicht in der Tat keine Lust, Herrn Graf zu treffen, möchte es sich aber auch nicht mit ihm verscherzen, da er noch auf Herrn Graf angewiesen sein könnte. Daher vertröstet er Herrn Graf auf einen späteren Zeitpunkt. Vielleicht ergibt sich da tatsächlich noch ein Treffen, vielleicht auch nicht. Auf diese Weise kann man es offen lassen, aber bei Bedarf auch wieder aufleben lassen. Viele Ortsansässige haben natürlich auch einen ausgedehnten Bekannten- und Freundeskreis und sind somit sehr eingebunden und weniger auf neue, soziale Kontakte angewiesen. Diese Bedeutung hat wohl etwas für sich, doch ist zu bedenken, dass Herr Gruber keinerlei Äußerungen in diese Richtung macht und auch keine indirekten Hinweise gibt, die diese Deutung nahe legen. Erläuterung zu c): Herr Gruber ist in einer für ihn recht peinlichen Situation. Herr Graf drängt auf ein Treffen und darauf, gemeinsam etwas zu unternehmen. Herr Gruber wünscht sich das auch, hat aber gegenwärtig zu viel zu tun und andere Prioritäten. Das kann er aber so direkt Herrn Graf nicht sagen, denn das wäre unhöflich und beleidigend. Deshalb versucht er eine konkrete Verabredung hinauszuzögern, in der Hoffnung, dass Herr Graf seine indirekten 43 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
»Aussagen« versteht oder aus seinem Verhalten erschließt, dass er gegenwärtig seinen Wünschen nicht entsprechen kann. Für Herrn Graf scheinen diese indirekten Signale keinen Sinn zu machen. Er wundert sich nur über die Widersprüchlichkeiten im Verhalten von Herrn Gruber, denn einerseits scheint er an einem näheren Kontakt mit ihm interessiert zu sein, und andererseits weicht er bei jedem Versuch, Verabredungen zu treffen, immer wieder aus. Diese Deutung erklärt die Situation recht zutreffend. Erläuterung zu d): Minderwertigkeits- und Unterlegenheitsgefühle können tatsächlich Abwehr- und Vermeidungsverhalten hervorrufen. Wenn Herr Gruber sich den Kontaktversuchen von Herrn Graf nicht gewachsen fühlte, würde er sich in seiner Gegenwart auch nicht wohl fühlen und deshalb von vornherein jeden Kontakt vermeiden. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall, denn er betont immer wieder, dass er den Kontakt mit Herrn Graf gern pflegen würde, nur konkrete Vereinbarungen kann und will er im Augenblick nicht treffen. Für diese Deutung gibt es in der Situation keine ausreichenden Hinweise. Im Gegenteil, beide scheinen sich auf Augenhöhe zu begegnen und einen Kontakt, wenn er denn nun zu Stande kommen würde, als Bereicherung zu empfinden.
Lösungsstrategie Aus Sicht von Herrn Graf besteht eine ambivalente Situation, einerseits signalisiert Herr Gruber, dass er Interesse an einem näheren Kennenlernen mit ihm hat, andererseits lässt er keine entsprechenden Taten folgen. Mehr noch, er zögert gemeinsame Aktivitäten immer wieder heraus und ergreift selbst keine Initiative zur Vereinbarung eines passenden Begegnungstermins. Die vorgebrachten Gründe sind für Herrn Graf zu vage, um sie so deuten zu können, dass er sich eine zufriedenstellende Begründung zurechtlegen kann. Herr Graf tut gut daran, noch keine endgültigen Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern das weitere Verhalten von Herrn Gruber zu beobachten. Vielleicht erkennt er dann von selbst, dass Herr Gruber ein indirektes Signal nach dem 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
anderen aussendet, woraus zu schließen ist, dass er gegenwärtig andere Prioritäten hat und das Treffen verschoben werden muss. Falls Herr Graf die Signale dennoch nicht zu deuten weiß, ist es ratsam, mit Schlussfolgerungen wie »Herr Gruber möchte keinen Kontakt zu mir!« so lange zu warten, bis er merkt, dass Herr Gruber tatsächlich keinerlei eigenen Initiativen unternimmt, ein Treffen zu Stande kommen zu lassen. Grundsätzlich gilt: In vielen Kulturen ist es üblich, direkte Absagen, das Ausschlagen geäußerter Wünsche und klare Aussagen, dass einem irgendetwas nicht passt, zu vermeiden, entweder weil die Etikette das vorschreibt, weil man es sich mit dem Partner nicht verderben will oder weil sonst der möglicherweise eintretende Gesichtsverlust zu groß ist. Statt direkter verbaler Aussagen werden dann indirekte Formen der Kommunikation eingesetzt, die ein Kulturfremder nur schwer oder überhaupt nicht zu deuten versteht. Auch wenn man als Deutscher noch kein Verständnis für solche indirekten Äußerungen entwickeln konnte, ist es aber wichtig, sie zu kennen und sensibel und aufmerksam zu sein, wenn Situationen entstehen, in denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass indirekte Signale statt direkter Aussagen den Kommunikationsprozess bestimmen.
Beispiel 5: Die Krisensitzung Situation Herr Schäfer ist Bereichsleiter in einem deutschen Unternehmen in Österreich. Seine Kollegen kommen alle aus Wien und aus Linz. In einer »Krisensitzung« bespricht er mit seinen Kollegen, wie es bei einem bestimmten Projekt weitergehen soll, damit alles zur Zufriedenheit eines wichtigen Kunden abläuft. Er sieht als Hauptproblem den Zeitmangel, da bis zum Treffen mit dem Kunden in einer Woche noch sehr viele Dinge organisiert werden müssen. Es wäre noch möglich, dies zu schaffen, wenn »ordentlich Gas gegeben wird«, und daher ruft er seinen Kollegen zu, dass jetzt alle Opfer bringen müssen und »sich hinter das Projekt klemmen« sollen, damit zeitlich alles noch reibungslos funktioniert. 45 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Die Kollegen reagieren mit Schweigen und keiner stimmt ihm so richtig zu. Herr Schäfer ist verwirrt, denn er erwartet nun nach diesem Appell Zustimmung. Ein österreichischer Kollege nimmt Herrn Schäfer nach der Besprechung zur Seite und sagt, dass er mit dieser dringlichen Ansage an die Mannschaft zwar völlig recht habe, man das aber hier »nicht so sagen« könne. Herr Schäfer versteht das nicht, wie sollte er es denn sonst sagen, damit alle die Tragweite dieser »Notsituation« verstehen? Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Die österreichischen Kollegen sind geschockt, wie der deutsche Bereichsleiter mit ihnen umspringt und in welcher Art er sie anspricht. So lassen sie sich nicht motivieren! sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Es ist schon wiederholt vorgekommen, dass Engpässe auftraten und alle mit anfassen und Überstunden machen sollten. Die österreichischen Kollegen fragen sich, ob man solche Arbeitsaufträge im Vorfeld nicht besser managen kann.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die österreichischen Kollegen kennen die Arbeitssituation und das Kundengeschäft in Österreich besser als Herr Schäfer und sehen überhaupt keinen Anlass, den Arbeitsprozess zu beschleunigen. Kunden haben es in Österreich nicht so eilig mit Auftragserledigungen wie Herr Schäfer das vermutet. 46 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die österreichischen Kollegen von Herrn Schäfer nutzen diese Gelegenheit, um ihrem autoritär auftretenden deutschen Chef einmal klarzumachen, dass er hier nicht so viel zu sagen hat, wie er immer vorgibt. Die österreichischen Kollegen haben nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, Herrn Schäfer etwas zurechtzustutzen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Herr Schäfer war wahrscheinlich so von seiner Sache überzeugt, dass er dies dementsprechend kommuniziert hat. In Österreich spielt aber die Art der Kommunikation tatsächlich eine große Rolle. Nur für die Sache allein lässt sich hier niemand motivieren. Viel lieber möchten die Kollegen einbezogen werden, indem an ihr Gruppengefühl und die gemeinsam zu erbringende Leistung appelliert wird. Erläuterung zu b): Diese Deutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Solche Engpässe sind, besonders wenn sie häufiger auftreten, antizipierbar und ein qualifiziertes Management stellt sich so darauf ein, dass nicht immer plötzlich der »Notstand« ausgerufen werden muss. Es gibt in der Situationsschilderung aber keine Hinweise darauf, dass solche Fälle bereits zum Alltag gehören und eine Folge von Missmanagement sein könnten oder als solche wahrgenommen werden. 47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Erläuterungen zu c): Österreich ist nicht Deutschland. Es kann schon sein, dass in Österreich einiges anders läuft als in Deutschland. Man hat vielleicht mehr Zeit, nimmt sich mehr Zeit zur »Auftragserledigung« oder Kunden haben mehr Verständnis dafür, wenn einmal ein Lieferprozess ins Stocken gerät und warten geduldig ab. Herr Schäfer kennt vielleicht die Details noch nicht so genau und haut zur Verblüffung seiner Kollegen viel früher »auf die Pauke«. Gegen diese Deutung spricht allerdings, dass der österreichische Kollege Herrn Schäfer zwar in Bezug auf den Inhalt des Appells an die Mannschaft Recht gibt, aber die Art der Ansprache für unpassend hält. Es muss also eine andere Deutung geben, die diese Situation besser erklärt. Erläuterung zu d): Diese Deutung unterstellt, dass nicht die Art des Appells unpassend ist, sondern generell das autoritäre Auftreten von Herrn Schäfer, unter dem die ganze Mannschaft leidet. Dazu passt aber nicht, dass sein österreichischer Kollege Herrn Schäfer beiseite nimmt und ihn vorsichtig auf seine unpassende Kommunikation hinweist. Damit stutzt er Herrn Schäfer ja nicht zurecht, sondern versucht ihn zu unterstützen, damit ihm zukünftig solche Fehler nicht mehr passieren. Diese Deutung führt nicht zur Klärung, sondern verwirrt eher.
Lösungsstrategie Das soziale Klima in der Kollegenschaft von Herrn Schäfer scheint gut zu sein, denn sonst hätte er es nicht gewagt, mit einem solchen Appell die Motivation zu steigern. Entgegen seiner Erwartungen reagieren die Kollegen auf seine »aufmunternden Worte« mit Schweigen, ohne mit einem Wort den Sachverhalt zu kommentieren. Das allein hätte Herrn Schäfer sofort zu denken geben müssen. Der österreichische Kollege liefert ihm die Begründung, aber so, dass Herr Schäfer damit nicht viel anfangen kann, denn er hat wohl keine Erfahrung damit, was diese Art der »Motivierung« seiner Mitarbeiter, mit der er ja in Deutschland 48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
keine Probleme, sondern Erfolg zu haben schien, im österreichischen Kontext bewirken kann. Er hätte durchaus seinen österreichischen Kollegen fragen können, wie in einem solchen Fall sinnvollerweise vorzugehen sei, welche Art von Ansprache und welche Worte er wählen sollte und was seine Gruppenmitglieder in einer so stressigen Situation von ihm erwarten, damit er sie motivieren und somit zu zusätzlichen Arbeiten ermuntern kann. Dann hätte er erfahren, dass Österreicher sich schnell bevormundet fühlen, besonders von Deutschen. Er hätte sinnvollerweise erst einmal Worte der Dankbarkeit für die bisher geleistete Arbeit zum Ausdruck bringen sollen, verbunden mit der Äußerung, dass alle an einem Strang ziehen müssen, um gemeinsam als Gruppe das Projekt zur Zufriedenheit aller abwickeln zu können. Im Mittelpunkt der Ansprache an die Kollegen sollte die Betonung der gemeinsam zu erbringenden Leistung stehen, verbunden mit der Überzeugung, dass nur so der angestrebte Erfolg sichergestellt werden kann und die aktuelle »Notsituation« gemeinsam zu meistern ist.
Beispiel 6: Der Konzeptvorschlag Situation Herr Diethelm ist Leiter der Kommunikationsabteilung einer größeren österreichischen Bank in Wien und in diesem Rahmen unter anderem für die Redaktion der Mitarbeiterzeitung zuständig. Eine ähnliche Position hatte er vorher bei einer anderen Bank in Deutschland inne. Die Bank möchte den bisherigen Kommunikationsrahmen ausweiten und vermehrt mit Social Media arbeiten, weswegen Herr Diethelm ein Projektteam zusammengestellt hat, das ein entsprechendes Konzept entwickeln soll. Dieses Konzept will Herr Diethelm dann, zusammen mit einem Budgetvorschlag, dem Vorstand präsentieren. Die Teammitglieder sind allerdings parallel auch für andere Projekte zuständig und so bekommt er das geforderte Konzept erst relativ spät. Als sich Herr Diethelm die Präsentation durchliest, entdeckt er einige gravierende Fehler, die seiner Meinung nach hätten auffallen und be49 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
reinigt werden müssen. In der Teamsitzung äußert er deshalb seinen Unmut; das Konzept sei insgesamt schlampig erstellt und die Kollegen sollten sich das nächste Mal gefälligst besser konzentrieren. Eine Person aus dem Team sollte sich nun melden und das Konzept noch einmal durcharbeiten. Als sich keiner freiwillig meldet, ist Herr Diethelm sehr verärgert über seine Mitarbeiter, denn immerhin hatte das Team den Auftrag zu erfüllen und nun ist keiner zur Fehlerbeseitigung bereit. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Das Team ist überlastet und hat sich nicht ausreichend einarbeiten können. Daher meldet sich niemand freiwillig für die Korrekturarbeiten. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die Kollegen fühlen sich zu Unrecht massiv angegriffen. Weil die Kritik in einer solchen Befehlsform geäußert wurde, möchten sich niemand dem Diktat von Herrn Diethelm unterwerfen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Herr Diethelm hat es versäumt, dem Projektteam klare und ausdifferenzierte Anweisungen für die Konzepterarbeitung zu geben. Deshalb konnte das erstellte Produkt seinen Ansprüchen nicht genügen und keiner fühlt sich autorisiert, nachzuarbeiten. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nicht zutreffend
d) Das so genannte Projektteam wurde eher formal, bestehend aus einzelnen Experten zusammengestellt, die ihre eigenen Projekte gleichzeitig zu bearbeiten hatten. So hat jeder für sich an dem neuen Kommunikationskonzept gearbeitet und eine echte Teamarbeit fand gar nicht statt. Deshalb fühlt sich auch keiner verantwortlich.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Möglicherweise ist das Team mehr als ausgelastet und hatte vielleicht auch nicht genügend Zeit. Vielleicht sind ihnen die Fehler peinlich und sie merken jetzt erst, wie hoch die Anforderungen ihres neuen Vorgesetzten sind. Es kann auch sein, dass eine bestimmte Person aus der Gruppe für die Endredaktion zuständig war, der die Fehler hätten auffallen müssen. Nun will man diese aber nicht vor dem Vorgesetzten bloßstellen. Daher schweigen lieber alle, anstatt sich zu äußern. Da die Mitarbeiter aber über die fachliche Kompetenz verfügen und an dem Projekt interessiert sein dürften, erklärt diese Deutung die Situation nicht vollständig. Erläuterung zu b): Herr Diethelm hat als Vorgesetzter so richtig losgepoltert und der Gruppe Versagen vorgeworfen. Ein österreichischer Vorgesetzter hätte behutsamer auf die Flüchtigkeitsfehler hingewiesen und sein Team gebeten, sich die Präsentation noch einmal genauer durchzulesen. Vielleicht hätte er auch mehr Verständnis gezeigt, da das Team eben auch andere Projekte bearbeitet und das ganze 51 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Feld für sie neu ist. Die autoritäre Art von Herrn Diethelm stößt seine Mitarbeiter im Kommunikationsteam gehörig vor den Kopf. Sie haben das Gefühl, Befehle ausführen zu müssen und kein Mitspracherecht mehr zu haben. Außerdem fühlen sie sich gemaßregelt und sind daher nicht motiviert, sich nun freiwillig für die Überarbeitung zu melden. Diese Deutung trifft den Kern. Erläuterung zu c): Diese Deutung hat einiges für sich. Oft glaubt der Auftraggeber für ein in Teamarbeit zu entwickelndes Projekt alles Wichtige bereits mitgeteilt zu haben, und dann stellt sich bei der Konzepterarbeitung heraus, dass zentrale Details unklar geblieben sind. Falls diese Deutung stimmen würde, müsste man von einem solchen Expertenteam erwarten können, dass sie um ein Informationsgespräch mit Herrn Diethelm ersuchen, um die Informationslücken zu beseitigen oder um ihn vor Abgabe des Konzepts darüber zu informieren, was bei der Bearbeitung nicht klar geworden ist. Davon wird aber in der Situationsbeschreibung nichts berichtet. Erläuterung zu d): Mit dieser Deutung wird ein sehr wichtiges Thema der Teamarbeit angesprochen. Wenn Herr Diethelm ein Projektteam mit der Erarbeitung eines Kommunikationskonzepts beauftragt, geschieht das sicher mit der Überzeugung, dass ein Team von Spezialisten besser geeignet ist, diesen Auftrag zu erfüllen, als ein einzelner Mitarbeiter. Es reicht aber nicht aus, Experten mit Erfahrung aus unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens an einen Tisch zu holen und sie mit einer Konzeptentwicklung zu beauftragen, die eine enge Zusammenarbeit erfordert. Hinzu kommt, dass jeder für sich gleichzeitig eigene Projekte abzuwickeln hat. Herr Diethelm hat offensichtlich kein qualifiziertes Teammanagement betrieben und auch niemanden sonst explizit damit beauftragt. Wenn die Experten nicht vorher schon viel zusammengearbeitet haben und Erfolg mit ihrem Team hatten, besteht die Gefahr, dass jeder seinen Beitrag zum Kommunikationskonzept leistet und die einzelnen Beiträge dann unter dem entstehenden Zeitdruck nur noch irgendwie zu einem Konzept 52 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
zusammengefasst werden. Dabei entstehen unwillkürlich inhaltliche Fehler, Lücken und Wiederholungen, das präsentierte Konzept ist im Endeffekt nicht stimmig und der Chef tobt. Die Situationsschilderung enthält allerdings keine Informationen, die diese Deutung stützen.
Lösungsstrategie Herr Diethelm hat das Projektkonzept durchgesehen und ist unzufrieden mit der Teamarbeit. Er ist es aus Deutschland gewohnt, nicht um solche Schwächen herumzureden, das Papier im Prinzip als passable Leistung zu loben und dann darauf hinzuweisen, dass einige Stellen einer Überarbeitung bedürfen. Er spricht klare und eindeutige Worte der Kritik aus und macht deutlich, dass die Arbeit nicht seinen Ansprüchen genügt und Nacharbeit erforderlich wird. Herr Diethelm weist darauf hin, dass er zukünftig solche schlampigen Ergebnisse nicht mehr sehen will und sich alle mehr auf die Aufgabenstellung konzentrieren müssen. Nun erwartet er, dass sich einer aus dem Team freiwillig zur Überarbeitung des Textes meldet. Aber genau das geht so in Österreich nicht. Wenn Herr Diethelm mit diesem Team gut zusammenarbeiten will, ihm weiterhin anspruchsvolle Aufträge zu übertragen gedenkt und erwartet, dass alle motiviert und konzentriert arbeiten, muss er von seiner »Ich-bin-der-Chef«-zentrierten Ansprache zu einer »Wir-sind-das-Team«-zentrierten Ansprache übergehen. So hätte er zunächst einmal die Stellen erwähnen sollen, die sein Lob verdient haben. Er hätte dieses Konzept als Gruppenleistung wertschätzen sollen, mit dem Hinweis darauf, dass nun etwas vorgelegt werden muss, das für die Kommunikation über Social Media für das gesamte Unternehmen von Bedeutung ist. Gerade wegen dieses hohen Anspruchs sollte aber das Konzept noch an einigen Punkten etwas differenziert ausgearbeitet, erweitert oder verändert werden. Dann hätte er die erforderliche Überarbeitung einzelnen Gruppenmitgliedern übertragen oder gemeinsam mit der Gruppe überlegen können, wer dies aus fachlicher Sicht am besten erledigen könnte und wie man diese Person für die Zusatzarbeit entlohnen oder von anderen Aufgaben 53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
entlasten kann. Diese rücksichtsvolle, vorsichtige, indirekte Art der Annäherung an die Schwachstellen und die Lösung des Nachbearbeitungsproblems ist hier besonders deshalb wichtig, weil Herr Diethelm als Deutscher bei den österreichischen Teammitgliedern sonst sehr schnell die auf Deutsche zielenden nationalen Stereotype wie arrogant, besserwisserisch, hochnäsig, kalt-rational etc. aktivieren könnte. Werden sie ihm zugeschrieben, hat er keine Chancen mehr, ein motiviertes und konzentriert arbeitendes Team für seine Projektaufträge formen zu können.
Kulturelle Verankerung von »Indirekte Kommunikation« In Deutschland bevorzugt man eine eher direkte und explizite Kommunikation und einen analytisch-rationalen Argumentationsstil. Die sachlichen Aspekte des Kommunikationsgeschehens stehen im Vordergrund und haben mehr Bedeutung als personale Befindlichkeiten. Für Deutsche ist es von entscheidender Bedeutung, sich präzise, auf den Punkt genau und unmissverständlich so auszudrücken, dass Klarheit und Eindeutigkeit herrschen und wenig Interpretationsspielraum besteht. Bei Sylvia Schroll-Machl (2007) wird für Deutsche im Berufsleben »schwacher Kontext als Kommunikationsstil« so beschrieben: »Der deutsche Kommunikationsstil ist allseits bekannt für seine große Explizitheit und Direktheit: Deutsche formulieren das, was ihnen wichtig ist, mit Worten und benennen die Sachverhalte dabei klar und eindeutig. [. . .] Das deutsche Muster, direkt zu sein, ist einfach: Wir kommunizieren ohne doppelten Boden. Auf eine klare Frage gibt es eine klare Antwort. Auf eine klare Aussage gibt es einen klaren Kommentar – weiterhin ohne Schnörkel, ohne ‚Geschenkpapier‘, ohne Umschweife. Das halten wir menschlich für ehrlich, aufrichtig, authentisch und glaubwürdig, beruflich für professionell, da zielführend und zeitsparend, und es erspart Missverständnisse. Das sind für uns positive Werte! Möglich ist dieser Stil, weil der inhaltliche Fokus klar auf der Sachebene liegt« (S. 172 ff.). 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Österreicher empfinden den deutschen Kommunikationsstil als zu direkt, undiplomatisch, teilweise sogar als rücksichtslos und verletzend in Bezug auf den Kommunikationspartner. Aus ihrer Sicht nehmen Deutsche in der interpersonalen Kommunikation viel zu wenig Rücksicht auf die mit den kommunikativen Handlungen gestalteten persönlichen Beziehungen zwischen den Partnern. Österreicher bevorzugen einen eher indirekten, vorsichtigen kontextgebundenen Kommunikationsstil, in dessen Rahmen positive Aspekte thematisiert und bewusst Interpretationsspielräume zugelassen werden. Von zentraler Bedeutung ist es, so weit wie möglich das Gesicht des Anderen und das eigene Gesicht zu wahren. Mehrdeutigkeiten werden deshalb zugelassen und in Kauf genommen. Sich daraus ergebende Missverständnisse lassen sich im weiteren Gesprächsverlauf immer noch klären. Die Hauptsache ist, eine für beide Seiten angenehme Kommunikationsatmosphäre kann entstehen bzw. bleibt erhalten (vgl. Mappes-Niediek, 2004). Österreicher wie Deutsche nutzen zwar Deutsch als Umgangssprache und viele schließen daraus, dass es keine ernst zu nehmenden Probleme in der gegenseitigen Verständigung gibt. Tatsächlich aber bereitet gerade der unterschiedliche Umgang mit Interpretationsspielräumen in der Kommunikation zwischen Deutschen und Österreichern erhebliche Schwierigkeiten. Sachorientierung steht Personenorientierung, direkte, eindeutige, unmissverständliche Ausdrucksweise steht indirekter, mehrdeutiger Kommunikation gegenüber. Für Deutsche ist es schwierig, die interpretativen Spielräume in der österreichischen Kommunikation zutreffend zu deuten, und Österreichern fällt es schwer, die aus ihrer Sicht harsche, verletzende Art der deutschen Kommunikation zu akzeptieren. Beiden fällt es schwer, einen Mittelweg zu finden, der daraus bestehen könnte, Direktheit und Klarheit der Aussage mit einem rücksichtsvollen Umgang und einer Sensibilität für die kontextgebundenen Befindlichkeiten des Kommunikationspartners zu verbinden. Sprachwissenschaftler wie Hanisch (1994, S. 243) führen die Indirektheit der österreichischen Kommunikation auf die josephinische Tradition zurück, die eine Neigung zu einer »verschnörkelten, unscharfen, phrasenhaften« Sprache aufweist und 55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
eher einem Feuilletonbeitrag entspricht als einer »packenden Analyse«. Die Kontextgebundenheit der Sprache bedeutet, dass sprachliche und nichtsprachliche Kontexte als auch die situativen Merkmale, unter denen die Äußerungen erfolgen, zu beachten sind. Diese Merkmale schließen Elemente wie Ort und Zeit der Äußerung, den sozialen und kulturellen Hintergrund der Kommunikationspartner zum Beispiel hinsichtlich Position, Status, Rolle, Herkunft, den Grad der Formalität ebenso mit ein wie auch das Thema und den Zweck des Kommunikationsgeschehens. Der Kontext von Äußerungen ist demnach stark kulturell geprägt. Das in Österreich gesprochene Deutsch unterscheidet sich eben nicht nur im Kontext, sondern auch im Stil. Mit dem Begriff »Nonchalance« ist der Wechsel zwischen Distanzsprache und Nähesprache bzw. zwischen konzeptioneller Mündlichkeit, konzeptioneller Schriftlichkeit, medialer Mündlichkeit und medialer Schriftlichkeit gemeint (vgl. Grzega, 2003). Im Vergleich zu Deutschland gibt es in Österreich in diesem Punkt eher fließende Grenzen als eine festgelegte Standardsprache. Für Deutsche ist es kein Problem, die »Sache« zu kritisieren und nach abgeschlossener Kritik wieder auf die persönliche Ebene zu wechseln. Da aber durch die indirekte Kommunikation der Österreicher sowie deren Personenbezug Kritik nicht nur auf der Sachebene, sondern zu einem großen Teil auch auf der Beziehungsebene wahrgenommen wird, entstehen viele Missverständnisse. Deutsche verstehen deshalb oft nicht, warum Österreicher nach einem negativen Feedback beleidigt reagieren, während Österreicher nicht nachvollziehen können, dass Kritik so direkt und ohne Verschönerungsfloskeln formuliert wird.
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Themenbereich 3: Harmoniestreben und Konfliktvermeidung
Beispiel 7: Die Diskussion Situation Herr Dr. Lehmann ist Geo-Ökologe an einem Forschungsinstitut in Wien und hat dort seit einigen Monaten eine leitende Position inne. Im Rahmen eines Forschungsprojekts arbeitet er mit mehreren Kollegen zusammen, die ebenfalls in leitenden Positionen in verschiedenen Bereichen tätig sind. Das Forschungsprojekt ist nicht nur interdisziplinär, sondern direkt an die Industrie angebunden und von dieser finanziert, sodass die beteiligten Kollegen aus der Wissenschaft als auch aus der Praxis kommen. In einer einberufenen Projektbesprechung werden nun verschiedene Details der Konstruktionsfälle zusammen durchgegangen. Die meisten Kollegen scheinen sich einig zu sein, wie man in einem bestimmten Fall vorzugehen hat. Herr Lehmann ist aber anderer Meinung und widerspricht deshalb dem, was einige Kollegen vorschlagen. Er zitiert eine bestimmte Untersuchung, die zu anderen Ergebnissen gekommen ist. Die Kollegen geben Herrn Lehmann weitgehend recht und verfolgen deshalb den Fall zunächst nicht weiter, obwohl eine Entscheidung getroffen werden muss. Bei den nächsten Fällen geht es Herrn Lehmann ähnlich. Die Diskussion wird oft im Keim erstickt oder zieht sich in Herrn Lehmanns Augen sinnlos in die Länge, ohne dass eine Entscheidung fällt. Seiner Meinung nach kann man doch so nie zu einem Ergebnis kommen! 59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) In kollegialen Meetings Widerspruch zu äußern, ist in Österreich verpönt. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die Art und Weise, wie Herrn Lehmann als Deutscher den Einspruch äußert, lässt bei den österreichischen Kollegen das Bild des überheblichen und besserwisserischen Deutschen entstehen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Meetings ziehen sich oft hin, da man versucht, eine Einigung für alle zu finden, gerade wenn unterschiedliche Interessengruppen aufeinandertreffen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Den österreichischen Kollegen gefällt es, statt angestrengt an ihren Arbeitsplätzen zu sitzen und über einem Problem zu brüten, lange und ausgiebig miteinander zu diskutieren. Deshalb ziehen sie Entscheidungen in die Länge.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Widerspruch wird auch in Österreich geäußert und im Grunde genommen akzeptiert, zumal dann, wenn er so gut begründet ist wie der Widerspruch, den Herr Lehmann vorgetragen hat. Immerhin verweist er auf eine Studie, deren Ergebnisse seinen Widerspruch stützen. Der Widerspruch als solcher ist hier auch nicht das Problem, sondern dass Diskussionen im Keim erstickt und Entscheidungen ohne ersichtlichen Grund in die Länge gezogen werden. Erläuterung zu b): Diese Deutung ist nicht von der Hand zu weisen. Die direkte, sachliche und keinen Widerspruch duldende Art und Weise, wie Deutsche ihre Überzeugungen vortragen und wie sie durchaus sachlich gerechtfertigte Kritik und Widerspruch gegenüber einem sich abzeichnenden Gruppenkonsens artikulieren, irritiert Menschen aus Kulturen, die auf soziale Wohlbefindlichkeit und auf Gruppenharmonie immer und zu jeder Gelegenheit großen Wert legen. Besonders aufgrund des spezifischen deutsch-österreichischen Verhältnisses, unter anderem geprägt durch die gemeinsame nationalsozialistische Vergangenheit und den damit verbundenen unterschiedlichen historischen Sichtweisen im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung, könnte Herr Lehmann mit seinem Widerspruch allein deshalb anecken, weil er Deutscher ist. Erläuterung zu c): Gerade da unterschiedliche Stakeholder an dem Projekt beteiligt sind, traut man sich weniger, eine Entscheidung allzu vorschnell zu formulieren. In den Meetings wird oft zirkulär auf eine Einigung hingearbeitet, mit der dann alle leben können und sollen. 61 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Da man aber die anderen nicht überfahren möchte, werden viele kritische Einwände zunächst übergangen, da man die Stimmung innerhalb der Gruppe auch nicht verschlechtern möchte. Andererseits wird die Rolle des »Querulanten« auch gern an Deutsche abgetreten, da man meint, dass diese das besonders gut können und es außerdem in das Bild passt. Solche »Entscheidungen« werden sogar im Nachhinein und zum Teil im Scherz offen kommuniziert. Diese Deutung ist einleuchtend. Erläuterung zu d): Diese Deutung unterstellt den österreichischen Kollegen Faulheit, Bequemlichkeit und die Absicht, sich vor der Arbeit zu drücken. Dafür gibt es aber in der Situationsschilderung keinerlei Hinweise.
Lösungsstrategie Herr Lehmann erlebt einerseits Zustimmung zu seinem Widerspruch und andererseits eine unnötige Diskussion verbunden mit Entscheidungsaufschub. Für ihn ergibt das Verhalten der österreichischen Kollegen aus fachlicher Sicht und auch aus sozialen Gründen keinen Sinn. Sein Widerspruch wird akzeptiert, man könnte ihn auch noch diskutieren, woran aber kein Interesse besteht. Also kann man aus seiner Sicht sofort entscheiden, was aber nicht passiert. Das alles sind höchst komplexe, widersprüchliche und verwirrende Vorgänge. Herr Lehmann ist anzuraten, erst einmal innezuhalten und eine eher diagnostische Haltung einzunehmen, anstatt sofort zu intervenieren. So könnte er feststellen, dass immer dann, wenn die Gefahr besteht, dass Störungen der Stimmungslage und der Gruppenatmosphäre zu befürchten sind, die Behandlung und Diskussion kritischer Einwände zu unterlassen ist. Besser man übergeht kritische Einwände, lässt sie ins Leere laufen, anstatt das Risiko einzugehen, dass sich jemand übergangen oder überfahren fühlt. Zu einem Ergebnis kommen heißt in Österreich, dass man möglichst alle mit ins Boot nimmt und ein harmonisches Gleichgewicht hergestellt hat. 62 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die österreichischen Kollegen sehr wohl wissen, dass der Problemlösungsvorschlag, auf den die Gruppendiskussion hinsteuert, nicht optimal ist und kritisiert werden müsste, dennoch traut sich niemand zu opponieren, um nicht als Querulant in Erscheinung zu treten. So lässt man die Diskussion, ohne eine Entscheidung zu treffen, so lange es geht einfach laufen, in der Hoffnung, dass Herr Lehmann als Deutscher diese unangenehme Rolle übernimmt, möglichst ohne es selbst zu bemerken. Herr Lehmann muss in einem solchen Fall abwägen, welche Konsequenzen die Übernahme einer solchen Rolle bezüglich seines Verhältnisses zu den österreichischen Kollegen und bezüglich seiner Stellung in der Gruppe haben könnte und ob sich der Einsatz lohnt. Er könnte versuchen, sowohl in die sachbezogene Argumentation zu investieren als auch in den Erhalt und die Stärkung eines positiven Gruppenklimas. Gerade in diesem Fallbeispiel, in dem offensichtlich alle beteiligten Kollegen in leitender Position sind und wohl niemandem formal die Leitung der Projektbesprechung zusteht, wäre ein entsprechendes Gleichgewicht angebracht, um eine produktive und zugleich zufriedenstellende Gruppenarbeit zu ermöglichen.
Beispiel 8: Das Mitarbeitergespräch Situation Herr Hahn ist seit einigen Monaten in Wien in der Personalabteilung einer größeren Bank tätig, in der er bereits in einer ähnlichen Position in Deutschland gearbeitet hat. Im Rahmen seiner Aufgabe ist er für Personalentwicklung und vor allem für das Qualitätsmanagement verantwortlich. Er muss daher den Mitarbeitern Feedback über deren geleistete Projektarbeit geben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im Quartal sind von der Personalabteilung angeordnete Mitarbeitergespräche durchzuführen. Als er einem österreichischen Mitarbeiter, Herrn Zangerl, beim ersten Gespräch ein sachliches, aber auch durchaus kritisches Feedback über dessen Projektarbeit gibt, äußert sich Herr Zan63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
gerl überhaupt nicht zu den angesprochenen Punkten. Herr Hahn und Herr Zangerl haben sich bislang immer sehr gut verstanden und sich schon ein paar Mal zum Mittagessen getroffen. Herr Hahn ist verwundert, dass Herr Zangerl seine Sichtweise nicht darlegt und auch im weiteren Verlauf nicht an einer Verbesserung der kritisierten Punkte zu arbeiten gedenkt. Beim zweiten Mitarbeitergespräch drei Monate später spricht Herr Hahn Herrn Zangerl bezüglich der bereits erwähnten Punkte noch einmal an, weil er ihn anspornen möchte, das Beste aus sich herauszuholen. Nun merkt er, dass Herr Zangerl entsetzt und beleidigt reagiert. Herr Hahn versteht nicht, warum sich Herr Zangerl so schwer tut, seine konkret formulierten Verbesserungsvorschläge anzunehmen bzw. Gegenvorschläge zu machen. Darin liegt doch der Sinn eines Mitarbeitergesprächs. Als er ihn nach dem Gespräch fragt, ob er zusammen mit ihm Mittag essen möchte, lehnt Herr Zangerl sofort ab. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Herr Zangerl fühlt sich bevormundet und ungerecht behandelt. Er ist in dieser Situation überhaupt nicht in der Lage, Gegenvorschläge zu machen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Herr Zangerl ist einfach schnell beleidigt und kann mit Kritik nicht umgehen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
64 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nicht zutreffend
c) Zwischen dem ersten und zweiten Mitarbeitergespräch hat Herr Zangerl natürlich mit seinen Kollegen über das Mitarbeitergespräch diskutiert und alle waren der Meinung, dass er zukünftig jeden Kontakt mit Herrn Hahn vermeiden sollte, denn so etwas könne er sich nicht gefallen lassen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Herr Zangerl hat überhaupt nicht verstanden, wozu ein Mitarbeitergespräch dienen soll. Noch nie hat ihm jemand vorgeschlagen, von sich aus an der Verbesserung seiner Qualifikationen zu arbeiten.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Herr Zangerl fühlt sich vielleicht tatsächlich angegriffen, da die Kritik auch sehr direkt formuliert wurde. Jetzt ist er verunsichert und weiß gar nicht mehr, wie er reagieren soll, geschweige denn Gegenvorschläge einbringen soll. Er hat den Eindruck, sein Gesicht verloren zu haben. Er kann außerdem nicht sofort von der Sachebene wieder auf die Beziehungsebene wechseln. Erläuterung zu b): Es gibt tatsächlich Menschen, die schnell beleidigt sind, besonders dann, wenn sie das Gefühl haben, ungerechtfertigt kritisiert zu werden. Kritik an erbrachten Leistungen, die den gesetzten Maßstäben nicht gerecht werden, wird schon in der Schule geäußert und ist Herrn Zangerl selbstverständlich vertraut. Wenn er 65 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
gegenüber Kritik so überempfindlich wäre, hätte er es vermutlich nicht zu dieser Position im Unternehmen gebracht. Diese Deutung befriedigt nicht so recht. Erläuterung zu c): Es ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass Herr Zangerl zwischen den beiden Mitarbeitergesprächen mit seinen Kollegen gesprochen hat. Es ist aber unwahrscheinlich, dass sie ihm geraten haben, jeglichen Kontakt mit Herrn Hahn zu vermeiden, denn das wäre in mehrfacher Hinsicht kontraproduktiv. Vermutlich würden sie Herrn Zangerl sogar geraten haben, die Einladung zum gemeinsamen Mittagessen anzunehmen, um dabei zu versuchen herauszufinden, ob Herr Hahn ihn im Grunde genommen als Mitarbeiter, trotz der vorgetragenen Kritik, doch schätzt. Erläuterung zu d): Diese Deutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, denn aus der Situationsschilderung geht nicht hervor, ob Herr Zangerl über den Sinn der Mitarbeitergespräche informiert wurde oder ob sie einfach als eine Selbstverständlichkeit im Rahmen der Unternehmenskultur eingeführt wurden. Es ist aber unwahrscheinlich, dass Herr Zangerl nicht weiß, was Mitarbeitergespräche sind und wozu sie dienen, denn dazu ist er in einer viel zu exponierten Position. Zudem hat Herr Hahn im ersten und zweiten Mitarbeitergespräch deutlich darauf hingewiesen, dass ihm an der Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Qualifikation von Herrn Zangerl gelegen ist. Aus dem Verlauf der Gespräche ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass Herr Hahn seinen österreichischen Mitarbeiter nur kritisiert, um ihn zu maßregeln. Deshalb ist diese Deutung nicht zielführend.
Lösungsstrategie Zur Lösung der in diesem Beispielfall geschilderten Probleme gibt es mehrere Möglichkeiten. Sie richten sich danach, wie Herr Hahn die weitere Entwicklung von Herrn Zangerl einschätzt. Wenn er glaubt, Herrn Zangerl problemlos durch einen für die Projektarbeit besser qualifizierten Mitarbeiter ersetzen zu kön66 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nen oder wenn er Herrn Zangerl für nicht weiter förderungswürdig eingeschätzt, dann wird er ihm bald ein anderes Arbeitsfeld zuweisen müssen und für ihn ist dann das Problem gelöst. Wenn er aber glaubt, Herr Zangerl sei entwicklungsfähig und er könne auch weiterhin Aufträge verantwortlich übernehmen sowie erfolgreich durchführen, dann muss er dafür sorgen, dass dieser an Qualifizierungsprogrammen teilnimmt, um die noch vorhandenen Schwächen zu beseitigen. Dazu muss er erst einmal mit Herrn Zangerl ins Gespräch kommen. Die Einladung zum gemeinsamen Mittagessen war schon ein entscheidender Schritt in diese Richtung, der aber wohl etwas zu plötzlich und unerwartet kam und mit dem Herr Zangerl noch nichts anzufangen wusste. Herr Hahn könnte erst einmal abwarten und darauf achten, ob Herr Zangerl von sich aus etwas zu Qualitätsverbesserung unternimmt, und zwar in der Richtung, die auch Herr Hahn im Auge hat. Die von ihm ausgesprochene Kritik ist vielleicht bei Herrn Zangerl sogar auf innere Zustimmung gestoßen, weil er selbst sehr häufig bemerkt hat, dass ihm bei der Projektbearbeitung Fehler unterlaufen. Er war zwar nicht in der Lage, das so offen Herrn Hahn gegenüber zu kommunizieren, unternimmt aber jetzt eigenständige Schritte zur Verbesserung seiner Kompetenzen. Wenn diese von ihm selbst initiierte Entwicklung allerdings ausbleibt, sollte Herr Hahn die Arbeitsleistungen von Herrn Zangerl eine Zeit lang beobachten und erst dann eingreifen, wenn er erneut Fehler bei der Projektabwicklung bemerkt. Treten solche Schwächen auf, sollte er in einem Gespräch unter vier Augen Herrn Zangerl zunächst einmal sehr konkret über Details des Personalentwicklungskonzepts des Unternehmens aufklären und dabei auch die bei ihm beobachteten Leistungsschwächen ansprechen. So könnte er ihn zum Sprechen bringen und zur Mitdiskussion der entstandenen Probleme bewegen. Wenn auf diese Weise ein vertrauliches und einvernehmliches Gesprächsklima erreicht worden ist, könnte Herr Hahn ihn nochmals auf die Verbesserungsmöglichkeiten bei der Projektabwicklung ansprechen und dies sehr konkret, indem er ihm Ort, Zeit und Art geeigneter Fortbildungsprogramme zur Qualitätsverbesserung benennt, verbunden mit der Erwartung der Firmenleitung, dass Herr Zangerl bereit ist, an solchen Programmen teil67 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
zunehmen. Dies sollte so klar, deutlich und nachvollziehbar begründet werden, dass Herr Zangerl merkt, dass dies ein Auftrag ist, dem er nachkommen muss, wenn er seine Stelle und Position im Unternehmen behalten will. Neben allen Varianten einer Lösungsstrategie zur Behebung der Schwachstellen bei Herrn Zangerl sollte sich Herr Hahn bewusst sein, dass in Österreich Kritik immer sehr schnell persönlich genommen wird und er deshalb vorsichtig und delikat jede Art von Kritik formulieren muss, verbunden mit viel Lob und Anerkennung für die geleistete Arbeit, damit ein auf gegenseitiger Wertschätzung beruhendes Gesprächsklima erhalten bzw. aufgebaut wird.
Beispiel 9: Der Antrag Situation Herr Krüger ist seit einigen Monaten in Österreich in leitender Position in einem Logistik-Unternehmen als juristischer Berater tätig. Seit kurzem gibt es in seiner Abteilung Probleme mit einem bestimmten Mitarbeiter, Herrn Bacher. Herr Bacher sollte einen Antrag an das Ministerium stellen und hat dies nicht entsprechend der Vorgaben erledigt. Herr Krüger ist der Hauptverantwortliche für das Projekt, legt aber großen Wert darauf, dass seine Mitarbeiter sich bei der Projektabwicklung eigenständig und gleichberechtigt engagieren. Er möchte das Problem daher direkt ansprechen und bittet Herrn Bacher deshalb zu einem Gespräch unter vier Augen in sein Büro. Herr Krüger sagt Herrn Bacher geradeheraus, dass er den Antrag nicht akzeptabel findet, weil er die Vorgaben nicht berücksichtigt hat, und fordert ihn auf, sich das nächste Mal mehr an die Richtlinien zu halten. Herr Bacher scheint entsetzt und reagiert offensichtlich beleidigt. Von einem anderen gemeinsamen Mitarbeiter erfährt Herr Krüger, dass sich Herr Bacher angegriffen fühle und sich fragt, ob Herr Krüger ihn nicht mögen würde. Herr Krüger versteht das Verhalten von Herrn Bacher nicht, er hat ihn schließlich nur auf einen Fehler aufmerksam gemacht, sodass Herr Bacher in Zukunft besser da68 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
rauf achten kann. Das hat doch mit seinen generellen Leistungen und seiner Anerkennung als Mitarbeiter nichts zu tun, Herr Bacher muss das doch nicht gleich persönlich nehmen. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Herr Krüger ist erst seit kurzem in Österreich und hat noch nicht verstanden, dass Vorgaben von den österreichischen Mitarbeitern in der Regel ignoriert werden. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Herrn Bacher ist nicht klar, welche Bedeutung die Vorgaben für die Antragserstellung haben, er hat sie deshalb nicht berücksichtigt. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Herr Bacher hat sich mit dem Antrag an das Ministerium viel Mühe gegeben. Die Vorgaben waren ihm wohl bekannt, er konnte sie aber nicht in allen Punkten berücksichtigen, da sie nicht recht zu passen schienen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Nach all der vielen Arbeit, die Herr Bacher in die Antragsstellung investiert hat, fühlt er sich durch die Kritik von Herrn Krüger zu Unrecht gemaßregelt. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Herr Krüger ist als juristischer Berater tätig und weiß natürlich, wie ein Antrag an ein Ministerium auszusehen hat. Vermutlich enthalten die Vorgaben juristisch relevante Angaben, die unbedingt und ausnahmslos bei jeder Antragstellung zu berücksichtigen sind, und das auch in Österreich. Die Unterstellung, dass solche Vorgaben in Österreich keine Beachtung finden, ist nicht gerechtfertigt und wird auch durch die Situationsschilderung nicht gestützt. Erläuterung zu b): Herr Bacher ist Herrn Krüger unterstellt und mit der Antragstellung an das Ministerium beauftragt. Er ist dazu also befugt und verfügt über die sachliche Kompetenz. Die zu beachtenden Vorgaben sind anscheinend allgemein bekannt und müssten auch Herrn Bacher vertraut sein. Mangelnde Kenntnis und Unwissenheit bezüglich der Beachtung der Vorgaben können die Situation wohl nicht hinreichend erklären. Erläuterung zu c): Bei der Antragstellung könnten durchaus Inkompatibilitäten zwischen sachlichen Details des Projekts und den zu berücksichtigenden Vorgaben auftreten. Das ist aber noch kein überzeugender Grund dafür, dass Herr Bacher die Vorgaben außer Acht lässt. In einem solchen Fall hätte er das Problem mit seinem Chef besprechen müssen, um sicherzustellen, dass er bei der Antragsformulierung keine Fehler macht, die möglicherweise bei der Projektbearbeitung negative Konsequenzen nach sich ziehen könnten. Auch als Herr Krüger Herrn Bacher zur Rede stellt, wird mit 70 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
keinem Wort auf solche Inkompatibilitäten verwiesen. Diese Deutung bietet keine überzeugende Erklärung der Situation. Erläuterung zu d): Offensichtlich hat Herr Bacher, aus welchen Gründen auch immer, die ihm bekannten Vorgaben bei der Antragstellung nicht ausreichend beachtet und wird nun von Herrn Krüger, seinem Chef, zum Gespräch unter vier Augen über dieses Versäumnis einbestellt. Die konkrete Konfrontation mit der negativen Beurteilung des erarbeiteten Antrags durch seinen Chef kann Herr Bacher persönlich nicht verkraften. Er fühlt sich persönlich angegriffen, ist überzeugt, dass sein Chef ihn nicht schätzt und ihm das so nun deutlich zu verstehen gibt. Die Art, wie Herr Krüger Herrn Bacher auf den Fehler anspricht, wird von diesem nicht mehr nur als sachliche Kritik interpretiert, sondern als Kritik an seiner Person, an seiner Zuverlässigkeit, seiner Vertrauenswürdigkeit und seiner Fachkompetenz. Die strikte Unterscheidung zwischen sachbezogener und fallbezogener Kritik einerseits und Zweifel an seiner Integrität, Kompetenz und Qualifikation andererseits kann Herr Bacher nicht nachvollziehen. Er fühlt sich verletzt und gekränkt.
Lösungsstrategie Herr Krüger ist der Überzeugung, dass auch bei dem hier zu erstellenden Antrag an das Ministerium die bekannten Vorgaben strikt zu beachten sind. Daran gibt es nichts zu kritisieren, denn er ist als juristischer Berater des Logistikunternehmens der ausgewiesene Fachmann für solche Auflagen. Herr Bacher hat aus Sicht seines Chefs einen nicht akzeptablen Antrag verfasst, weil er die Vorgaben nicht ausreichend berücksichtigt hat. Der Antrag muss offensichtlich überarbeitet werden, bevor er eingereicht werden kann. Deshalb bestellt Herr Krüger seinen Mitarbeiter zu einem Gespräch ein und konfrontiert ihn mit dem Sachverhalt. Anstatt aber zu begründen, warum er die Vorgaben nicht beachtet hat, und daraufhin mit seinem Chef zu diskutieren, wie ein akzeptabler Antrag zu erstellen ist, zieht Herr Bacher sich belei71 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
digt zurück und beschwert sich noch bei seinen Kollegen darüber, dass Herr Krüger ihn wohl nicht mag und ihn ablehnt. Auch wenn Herr Krüger nicht versteht, warum man eine fachlich begründete Kritik nicht auf der Sachebene diskutieren kann, ohne sofort beleidigt zu sein, wird er sich in Österreich eine andere Strategie zur Kritikpräsentation angewöhnen müssen. In einer Kultur, in der Harmonieorientierung und indirekte Formen der Konflikt an der Tagesordnung sind, wird von einem qualifizierten Vorgesetzten erwartet, dass er bei aller Sachlichkeit immer auch die persönliche Befindlichkeit der Kollegen und Mitarbeiter beachtet. Herr Krüger hätte erst einmal mit Herrn Bacher über die Antragserstellung als solche und seine dabei erbrachte Arbeitsleistung sprechen sollen. Dazu hätte er ihn fragen können, warum er bestimmte Vorgaben nicht eingearbeitet und beachtet hat. Es könnte ja dafür Gründe gegeben haben, die Herr Krüger noch nicht kennt. Wenn sich im Gespräch herausstellen sollte, dass Herr Bacher wirklich schlampig gearbeitet hat, unkonzentriert war oder die relevanten Vorgaben womöglich nicht kannte, hätte Herr Krüger zusammen mit Herrn Bacher besprechen können, wer bis wann den Antrag wie überarbeitet und vor der endgültigen Fertigstellung noch einmal kontrolliert. Die gemeinsamen Anstrengungen zur Erstellung eines runden und stimmigen Antrags müssten dabei im Vordergrund des Gesprächs stehen. Auf diesem Wege bekäme Herr Bacher auf eine indirekte Art und Weise genügend Hinweise bezüglich seiner eigenen Versäumnisse und über die Schwachstellen bei der Antragserarbeitung.
Beispiel 10: Die Beschwerde Situation Herr Knobel ist seit kurzem stellvertretender Leiter der HumanRessources-Abteilung einer größeren IT-Firma in Wien. In seiner Abteilung herrscht ein sehr kollegialer Umgang und Herr Knobel hat das Gefühl, dass er sich recht rasch eingearbeitet und eingelebt hat. Das Unternehmen beschäftigt auch einige Werkstudenten und befristete Angestellte und daher hat er es beinahe mit 72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
allen Abteilungen des Unternehmens zu tun. Er ist sehr bemüht, seiner neuen Aufgabe nachzukommen. Als er bei den einzelnen Abteilungsleitern nachfragt, wie sich die Werkstudenten so machen, hört er aus mehreren Abteilungen Beschwerden über den einen oder anderen neuen Mitarbeiter und die Art, wie sie arbeiten. So heißt es, einige wüssten anscheinend nicht, was genau ihr Aufgabenbereich sei, und kämen öfters später als vorgesehen. Herr Knobel sieht es als seine Pflicht an, für die berichteten Beschwerden Lösungen zu finden. So überlegt er, ein Abmahnungssystem einzuführen und künftig bei Einstellungsgesprächen dafür zu sorgen, dass pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz angesprochen wird. Außerdem hält er genaue Arbeitsplatzbeschreibungen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Abteilungsleitern für sinnvoll, um den berichteten Missständen vorzubeugen. Als er dies den Abteilungsleitern in einem Meeting vorschlägt, reagiert die Mehrheit mit Unverständnis. Es heißt jetzt, die Vorkommnisse seien gar nicht so schlimm gewesen. Viele der Kritikpunkte könnten sie nicht bestätigen. Die Mitarbeiter seien ja erst am Anfang und noch neu im Unternehmen und sie bräuchten deshalb auch noch etwas Zeit. Ein Abmahnungssystem sei wirklich zu streng, und Arbeitsplatzbeschreibungen müssten ja arbeitsbereichs- und personenspezifisch erstellt werden, was viel zu aufwändig wäre. Herr Knobel versteht nicht, warum seine Lösungsvorschläge abgeblockt werden. Es haben sich doch alle bei ihm beschwert! Wozu dann das Gejammere? Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Die Abteilungsleiter wollen Herrn Knobel einfach »testen« und schauen, wie er auf Beschwerden reagiert. 73 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die klagenden Mitarbeiter wollen die Werkstudenten loswerden, weil sie ihnen zu viel Arbeit bereiten.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die Gewerkschaft will die hohe Zahl an Werkstudenten reduzieren, weil sie der Meinung ist, dass ohne diese »billigen Hilfsarbeiter« mehr Fachkräfte angestellt würden.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Beschwerden sind zwar in dem Augenblick, in dem sie geäußert werden, ernst gemeint, dienen aber eher dazu, sich allgemein einmal Luft zu verschaffen und Frustrationen abzubauen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Es kommt schon vor, dass Abteilungsleiter prüfen wollen, inwieweit ihr neuer Chef – Herr Knobel – sich für ihre Belange einsetzt. Da aber ein gutes Klima in dem Unternehmen herrscht, ist davon nicht unbedingt auszugehen. Außerdem könnten sie sonst ihre Werkstudenten selbst abmahnen oder dies mit dem Vorstand besprechen. 74 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Diese Deutung liefert keine ausreichende Erklärung dafür, warum die Vorschläge von Herrn Knobel abgelehnt werden. Erläuterung zu b): Wenn diese Deutung zuträfe, hätten sich für den sich beklagenden Mitarbeiter viele andere und effektivere Möglichkeiten geboten, als sich bei Herrn Knobel zu beschweren und anschließend so zu tun, als sei das nicht so ernst zu nehmen. Eine andere Deutung ist zur Erklärung der Situation passender. Erläuterungen zu c): Von einer Auseinandersetzung zwischen der Unternehmensleitung, Herrn Knobel und den Gewerkschaftsvertretern oder von gewerkschaftlich orientierten Plänen der Personal- und Arbeitsgestaltung ist in der Situationsschilderung an keiner Stelle etwas zu finden. Erläuterung zu d): Die Beschwerden sind wahrscheinlich ernst gemeint, doch haben die Abteilungsleiter gar nicht damit gerechnet, dass Herr Knobel nach Lösungen sucht. Die vorgeschlagenen Lösungen mögen zwar sinnvoll sein, würden aber auch für Unruhe im Unternehmen sorgen, was keiner möchte. Vielleicht wurde an der einen oder anderen Stelle auch übertrieben, und das Jammern sollte eher deutlich machen, wie belastend die Arbeit ist oder was man alles leisten muss. Außerdem kann man sich in einem solchen Rahmen eben gut Luft zu verschaffen und es hilft, seine Aggressionen, die sich in einem Klima von Konfliktvermeidung ja auch anstauen können, herauszulassen. Herr Knobel wird dadurch in die internen Vorgänge eingeweiht, aber man rechnet nicht mit Veränderungen. Die Vorschläge werden daher abgewehrt, weil ihre Verwirklichung viel zu aufwändig wäre und zu unnötigen Reglementierungen und Zusatzarbeit führen würde.
Lösungsstrategie Herr Knobel gerät in eine schwierige Situation. Einerseits beklagen sich die Mitarbeiter über Probleme mit den Werkstudenten 75 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
und andererseits stoßen seine Lösungsvorschläge nicht auf Zustimmung und die Beschwerden werden zum Teil zurückgenommen. Es gibt grundsätzlich keine betriebliche Zusammenarbeit, bei der es nicht hier und da zu Beschwerden kommt, die durch entsprechende Veränderungen beseitigt werden könnten. Herr Knobel hat mit seiner Nachfrage bei den Abteilungsleitern, wie sich die neuen Werkstudenten so machen, geradezu die Türen aufgestoßen, Beschwerden zu thematisieren und Frust loszuwerden, und genau das nutzen die alteingesessenen Mitarbeiter ohne zu ahnen, dass Herr Knobel sofort auf den ihm vorgetragenen Beschwerden aufbauend nachhaltige und alle Mitarbeiter betreffende Maßnahmen zur Problemlösung entwickelt. Hier reagiert Herr Knobel zu voreilig und übereifrig. Da er erst seit kurzem die Funktion des Leiters der Human-Ressources-Abteilung übernommen hat, hätte er die Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit der Belastungen und Beeinträchtigungen der Arbeitsprozesse, auf die sich die Beschwerden beziehen, untersuchen müssen. Dazu wären gezielte Beobachtungen und vertiefende Befragungen erforderlich gewesen. Herr Knobel hätte bei der Entwicklung und vor der Präsentation der von ihm ausgearbeiteten Problemlösungen erst einmal sorgfältig überlegen müssen, was die Einführung von Abmahnungsverfahren, Arbeitsplatzbeschreibungen und die Beachtung von Pünktlichkeit für die gesamte Mannschaft bedeutet hätte und ob er für diese »Neuerungen« Zustimmung erwarten könnte. Beschwerden sind immer schnell vorgetragen und man fühlt sich danach erleichtert: »Das musste einfach mal gesagt werden!« Aber unter Berücksichtigung der daraus möglicherweise erwachsenden Neuerungen, der Veränderung der Arbeitsroutinen, der genaueren Beobachtung und der Konzentration auf spezifische Arbeitsaspekte ist das doch zu lästig und erscheint überflüssig. Aufwand und Erfolg stehen nicht im Verhältnis, deshalb lehnen die Mitarbeiter die Vorschläge von Herrn Knobel ab und reduzieren die Dramatik der Beschwerdepunkte. Herrn Knobel ist zu raten, es dabei auch bewenden zu lassen. Immerhin wird er erreicht haben, dass die Mitarbeiter ihn nun noch mehr schätzen als vorher, denn er hat sie zu ihren Befindlichkeiten befragt, sich die Beschwerden angehört und sofort en76 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
gagiert Problemlösungen erarbeitet und vorgeschlagen. Das erhöht sein Ansehen, wenn die Lösungsvorschläge selbst auch als unnötig angesehen werden.
Kulturelle Verankerung von »Harmoniestreben und Konfliktvermeidung« Österreicher tendieren dazu, Konflikte zu umgehen, wobei vielfache Verhaltensmuster dabei zum Tragen kommen. Die indirekte Kommunikation ist ein Weg, da so Mehrdeutigkeiten zugelassen werden und eine eindeutige und offene Konfrontation vermieden wird. Es gilt als vorausschauend, sich nicht genau festzulegen. Vorhandene Konflikte werden ungern angesprochen, da dies alle Beteiligte als peinlich empfinden. Daher werden schon im Vorhinein Maßnahmen getroffen, die eine Eskalation verhindern, was sich darin äußert, dass ständig ein Konsens gesucht wird und man bestrebt ist, das harmonische Miteinander auf Biegen und Brechen aufrechtzuerhalten (vgl. Grohmann, 2006). Mit diesem Verhalten können Deutsche nur sehr schwer umgehen, da es in ihrer Kultur als ehrlich gilt, Konflikte geradeheraus anzusprechen, sie möglichst sachlich zu klären und später wieder auf die Beziehungsebene zu wechseln. Da in Österreich aber auch die Beziehungsebene immer mit hineinspielt, können hier nicht zu reparierende Beschädigungen im Beziehungssystem entstehen. Die Konfliktvermeidung hat eine lange Tradition in Österreich (vgl. Bruckmüller, 1996). Vielfach bekannt ist in diesem Zusammenhang ein österreichisches Sprichwort, welches sich auf einen Ausspruch Kaiser Maximilians bezieht und die Heiratspolitik der Habsburger thematisiert: »Kriege mögen andere führen, du glückliches Österreich heirate. Denn was Mars den anderen, gibt dir die göttliche Venus.« Österreich sieht sich als Land in der Mitte Europas immer schon der Diplomatie verpflichtet. Das hat sich auch in dem seit 1955 bestehenden Neutralitätsvertrag gezeigt, aus dem die österreichische Politik für sich die Rolle als Vermittler zwischen Ost und West in Zeiten des Kalten Krieges abgeleitet hat. So hat das Land versucht, sich aus den harten Auseinander77 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
setzungen zwischen den Großmächten herauszuhalten. Diese selbstverständliche Neutralität fußt allerdings auf der Annahme, dass bei tatsächlicher Bedrohung dennoch Hilfe von außen, beispielsweise von UNO und NATO, geleistet würde. Zudem war mit dem Neutralitätsvertrag die Wiederherstellung Österreichs als freier und unabhängiger Staat in den 1938 festgelegten Grenzen verbunden, ein Friedensvertrag mit Deutschland, in dem Deutschland angehalten wird, die Souveränität und Unabhängigkeit Österreichs zu achten und auf politische sowie territoriale Forderungen zu verzichten. Auch heute sieht sich Österreich noch als Mittler zum Osten Europas und betrachtet sich selbst als Tor zum Osten, zu dem aufgrund der historisch gewachsenen Verbundenheit noch viele Handelsbeziehungen bestehen (vgl. Beller, 2007). Auch der Mythos über Maria Theresia als »Mutter der Nation«, die durch ihren Charme, ihre Schönheit und ihre Güte regierte, spielt im kollektiven Bewusstsein der Österreicher eine wichtige Rolle. So ist bis heute die Konsensorientierung in der österreichischen Bevölkerung als Konstante und als kennzeichnendes Element der politischen Kultur sowie als zentraler Stabilitätsfaktor in der österreichischen Demokratie verankert. Das drückt sich in der Bevölkerung in der Ablehnung konfrontativer Politikstile aus (Plasser u. Ulram, 2002). Als ein weiterer Ausdruck des österreichischen Harmoniestrebens kann die Sozialpartnerschaft angesehen werden, die sich in einem kooperativen Verhältnis von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden (Sozialpartner) niederschlägt. Hier besteht das Ziel, Interessensgegensätze durch Konsenspolitik zu lösen und offene Konflikte zu vermeiden. Immerhin gibt es diese österreichische Sozialpartnerschaft seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts und kann als ein Musterbeispiel für die Beziehungen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften in Europa gesehen werden.
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Themenbereich 4: Titelorientierung
Beispiel 11: Die Lieferung Situation Herr Dr. Lang ist seit circa einem Jahr in leitender Position in einem Labor der Universität Wien angestellt. Nun hat er bei einer lokalen Firma ein bestimmtes Ersatzteil für sein Labor bestellt und wartet auf dessen Anlieferung. Zum ausgemachten Termin ist aber das benötigte Teil nicht geliefert worden. Herr Lang ruft daher bei der Firma an und fragt nach. Scheinbar fühlt sich jedoch niemand verantwortlich, denn es wird nicht zurückgerufen. Als ihn zwei Tage später ein Mitarbeiter der Firma anruft, ist Herr Lang gerade in einer Besprechung. Einige Tage später wird zwar ein Ersatzteil geliefert, dass er jedoch nicht bestellt hat und was auch nicht benötigt wird. Daher ruft Herr Lang wieder bei der Firma an, um sich zu erkundigen. Die Firma sagt ihm zu, das richtige Teil umgehend zu liefern, doch nichts passiert. Auch reagieren die Mitarbeiter nicht auf seine Anrufe. Schließlich wird es Herrn Lang zu bunt und er beschwert sich schriftlich mit dem Universitätslogo bei der Firma. Einen Tag später ruft ihn ein Verantwortlicher der Firma an, entschuldigt sich mehrfach beim »Herrn Doktor« und gewährt ihm einen ungewöhnlich großzügigen Rabatt. Zwei Tage danach wird endlich das richtige Teil geliefert. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative 81 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Die Lieferfirma hat interne Koordinationsprobleme zwischen der Abteilung für die Auftragsannahme und der Versandabteilung.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die Universität hat immer ihre Laborgeräte über diese Firma bezogen. Erst als ein Schreiben mit dem Doktortitel des Bestellers und dem Universitätslogo vorliegt, wird der Vorgang korrekt bearbeitet. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die telefonisch von Herrn Dr. Lang durchgegebene Bestellung des Ersatzteils war nicht genau genug, um die Lieferung korrekt auszuführen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Firma liefert nur aufgrund schriftlicher Bestellungen und nicht nach einem Telefonanruf. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. 82 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Bedeutungen Erläuterung zu a): Wenn interne Koordinationsprobleme zwischen Auftragseingang und Versand die Ursache für das anstehende Problem wären, wie ist dann die schnelle Auftragserledigung nach Eingang der schriftlichen Beschwerde von Dr. Lang auf Briefpapier mit Universitätslogo zu erklären? Diese Deutung könnte grundsätzlich durchaus etwas für sich haben, denn solche abteilungsübergreifenden Koordinationsprobleme gibt es häufig, aber in diesem Fall ist diese Deutung zu Erklärung des Liefervorgangs wohl nicht recht geeignet. Erläuterung zu b): Die Universität Wien als Betrieb hat sicher ein eingespieltes Bestellsystem und Auftragssystem zur Lieferung von Laborgeräten und Ersatzteilen entwickelt. Gerade bei Ersatzteilen muss schnell gehandelt werden, das heißt bestellt und geliefert werden, damit der laufende Betrieb nicht ins Stocken gerät. Insofern ist eine telefonische Bestellung sicher nicht unüblich, wenn dann später die schriftliche Bestellung nachgereicht wird. Herr Lang ist zwar seit einem Jahr in Wien in einem Universitätslabor tätig, aber es wird nicht berichtet, ob er in dieser Zeit schon Geräte bestellt hat. Er hat sich telefonisch wohl nur mit »Lang« gemeldet und die Lieferadresse angegeben und so ist der Vorgang wie jede andere Bestellung behandelt worden und nicht so, wie es für Doktoren an der Universität Wien im Lieferunternehmen vorgesehen ist. Auch die Lieferung eines nicht bestellten und unbrauchbaren Ersatzteils deutet darauf hin, dass der Lieferauftrag nicht korrekt zugeordnet und damit schlampig abgewickelt wurde. Erst mit Nennung des Doktortitels und der Universität als Auftraggeber kommt der Liefervorgang in Gang, die Firmenvertreter entschuldigen sich und räumen unaufgefordert einen erheblichen Preisnachlass ein. Erst der akademische Titel des Bestellers verbunden mit dem Empfängerlogo »Universität« bewirkt bei der Lieferfirma eine zügige Auftragserledigung. Erläuterung zu c): Wenn Herr Lang telefonisch nicht alle erforderlichen Angaben durchgegeben hätte, hätte die Lieferfirma nachfragen müssen, 83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
und dies bei Nichterreichen des Auftraggebers auch mehrfach, anstatt den Auftrag unbearbeitet liegen zu lassen und erst auf Nachfrage ein nicht passendes Ersatzteil zu liefern. Es ist aber möglich, dass Herr Lang das erste Mal etwas bei der Firma bestellt hat, dort niemandem bekannt war und so keiner recht wusste, was er mit dem telefonischen Auftrag anfangen sollte. Vielleicht hat die entsprechende Abteilung auch auf eine schriftliche Auftragserteilung gewartet, bevor sie den Lieferauftrag weiterleitete. Aber so recht ist mit dieser Deutung der Sachverhalt nicht geklärt. Erläuterung zu d): Es kann schon sein, dass so hochwertige und teure Laborgeräte nie ohne schriftliche Auftragserteilung bearbeitet werden. Andererseits weiß jede Lieferfirma, dass Ersatzteile für Labors unverzüglich und möglichst in wenigen Stunden verfügbar sein müssen, damit der Laborbetrieb nicht ins Stocken gerät. Telefonische Bestellungen mit später erfolgender Nachreichung entsprechender Unterlagen sollten also hier keine Ausnahme, sondern Routine sein. Diese Deutung ist so nicht passend.
Lösungsstrategie Herr Dr. Lang, für den im Universitätsalltag der Doktortitel nicht wichtig ist, da außer den technischen Mitarbeitern alle einen Doktortitel haben, sollte sich merken, bei allen Dienstgeschäften außerhalb der Universität den Doktortitel und seine Position im Universitätsgefüge zu nennen, wenn er in Österreich schnell, korrekt und womöglich bevorzugt behandelt werden möchte. Die Nennung akademischer Titel und Positionen in Unternehmen und Behörden erlauben es den Kommunikationspartnern, sich schnell ein zutreffendes Bild von Position, Status und Rolle des Gegenübers zu verschaffen. Das erleichtert das Kennenlernen, schafft Vertrauen und dient alles in allem der Orientierung, besonders in einer Kultur wie der österreichischen, in der Herkunft, Titel, Status und Position bedeutungsträchtige und im kollektiven Bewusstsein verankerte Merkmale zur Beurteilung von Per84 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sonen sind. Wenn Herr Lang all dieses beachtet hätte, wäre die Lieferung sofort und zu seiner vollen Zufriedenheit erfolgt.
Beispiel 12: Die Rundmail Situation Herr Dr. Richter ist seit circa einem Jahr als Dozent an der Universität Wien tätig und schreibt seinen Studenten nach einem abgeschlossenen Hauptseminar in einer Rund-E-Mail, dass er nun alle Hausarbeiten der Student(inn)en erhalten habe und zwei bis drei Wochen zur Korrektur benötigen werde. In der Rundmail verzichtet er auf eine direkte Anrede. Unter den Angeschriebenen befindet sich ein älterer Student, der Herrn Dr. Richter ziemlich aufgebracht zurückschreibt. Der Student findet es eine ausgemachte Unhöflichkeit, dass Herr Richter es versäumt habe, seinen Titel – nämlich Hofrat – zu nennen. Deshalb möchte er auf den Schein als auch auf einen weiteren Kontakt zu Herrn Richter verzichten. Herr Richter könne zudem seine Hausarbeit in den Papierkorb werfen. Herr Richter ist entsetzt über die heftige Reaktion und findet diese übertrieben. Schließlich musste er doch in der Rundmail alle gleich behandeln, denn sonst hätte er jeden Studenten einzeln anschreiben müssen. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Der Student befürchtet, aufgrund seiner Leistungen eine schlechte Note zu bekommen, und hofft nun, dass Herr Richter ihn als Hofrat besser bewertet. 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Der Student ist es offensichtlich überhaupt nicht gewohnt, sich einer Leistungsmessung und -bewertung unterziehen zu müssen. Für ihn zählt nur der Titel Hofrat und das muss genügen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Nachdem der Student die Rundmail gelesen hatte, ging er davon aus, dass er als Hofrat noch eine persönliche Benachrichtigung bekommt. Nachdem diese Erwartung nicht erfüllt worden ist, beschwert er sich bei Herrn Dr. Richter. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Hofräte sind so wichtige Personen, dass diese Tatsache immer hervorgehoben werden muss. Herr Richter hat dies ignoriert und wird dafür kritisiert.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Diese Deutung unterstellt, dass man sich in Österreich mithilfe des Titels Hofrat bessere akademische Noten an Universitäten »besorgen« kann. Wenn das der Fall wäre, hätte der Student sicher nicht bis zu dieser Rundmail gewartet, um Herrn Dr. Richter 86 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
mit seinem Titel Hofrat vertraut zu machen. Das hätte er dann sicher alles schon vorher im persönlichen Kontakt in die Wege geleitet. Ein solches »offenes« Schreiben ist denkbar ungeeignet, eine so geartete Bevorzugung zu erreichen. Eine andere Deutung erklärt die Situation treffender. Erläuterung zu b): Sicherlich erwartet der Herr Hofrat eine besondere Behandlung, aber wahrscheinlich belegt er das Studium tatsächlich »nur« zur eigenen Fortbildung. Dass er das Notensystem nicht aushebeln kann, ist ihm genauso bewusst. Jedoch ist er es wahrscheinlich gewohnt, etwas bevorzugter behandelt zu werden als viele österreichische Bürger, und könnte daher diese Erwartungshaltung auch mit in die Universität bringen. Erläuterung zu c): Von einem Studenten an der Universität Wien kann man erwarten, dass er weiß, welche Bedeutung Rundmails dieser Art haben. Herr Richter ist nicht verpflichtet, den Studenten mitzuteilen, wie lange es dauert, bis er die Klausurarbeiten durchgesehen und bewertet hat. Er erbringt hier eine lobenswerte Zusatzleistung für alle Studenten und dies erledigt er mit einem möglichst geringen Aufwand. Diese Deutung erklärt aber nicht den Grund der Irritation. Erläuterung zu d): Titel sind in Österreich beinahe gleichbedeutend mit Status und spielen eine überaus wichtige Rolle. Indem Herr Dr. Richter seine besondere gesellschaftliche Position, die mit dem Titel des Hofrats einhergeht, ignoriert hat, hat er auch den Herrn Hofrat als Person negiert und ihm Wertschätzung abgesprochen. Akademische Titel aber auch alle sonstigen Titel werden in Österreich sehr ernst genommen und man ist um eine korrekte und genaue Ansprache der Person bemüht. Im Zweifelsfall wird ein höherer Titel gewählt, um den Status zu honorieren, oder aber es wird peinlich genau recherchiert, um keinen sozialen Fehler zu begehen. Titel sind Statussymbole und werden auch in der Vorstellung der eigenen Person, im Briefkopf und am Klingelschild gebührend dokumentiert. Diese Deutung erklärt am ehesten die Situation. 87 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Lösungsstrategie Herr Richter könnte das Schreiben einfach ignorieren in der Erwartung, dass der Student versteht oder über andere erfährt, dass Rundschreiben grundsätzlich keine zusätzliche an Einzelpersonen gerichtete Korrespondenz erfordern, sondern dass alle Informationsbedürfnisse damit abgedeckt sind. Er kann aber auch dem Studenten schreiben, dass er keine Zeit hat oder aufzuwenden gedenkt, ihn als Hofrat noch persönlich zu informieren. Diese persönliche Reaktion wird dem Studenten vielleicht sogar genügen, denn damit hat er sein Ziel erreicht, aus der »Masse« der mit der Rundmail angesprochenen Studenten herausgehoben zu sein. Die passende Reaktion hängt davon ab, wie wichtig Herrn Richter der zukünftige Kontakt zu seinem mit Herrn Hofrat anzusprechenden Studenten ist.
Beispiel 13: Die Arztpraxis Situation Frau Dr. Neumann hat als Ärztin vor wenigen Monaten eine Anstellung als Dauervertretung in einer Praxis in Wien angenommen. Die angestellten Arzthelferinnen sind sehr freundlich und hilfsbereit zu ihr und stellen sich Frau Neumann sogleich mit ihrem Vornamen vor. Frau Neumann ist es auch von ihrer vorherigen Arbeitsstelle gewohnt, dass sich alle duzen, und bietet dies daher den Arzthelferinnen auch an. Die Arzthelferinnen reagieren verhalten und sprechen sie weiterhin mit Frau Doktor an. Frau Neumann ist darüber sehr verwundert, schließlich hat sie es den Arzthelferinnen doch selbst angeboten. Mögen die Arzthelferinnen sie etwa nicht leiden und bestehen deshalb auf einer distanzierten Anrede? Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 88 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) Österreicher(innen) tun sich schwer damit, akademische Titel zu ignorieren, gerade wenn sie hierarchisch untergeordnet sind. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Frau Dr. Neumann ist neu in der Praxis und ihre Arzthelferinnen brauchen einfach noch etwas Zeit, um sich an sie und das Du ihrerseits zu gewöhnen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Frau Dr. Neumann hat aus der Tatsache, dass die Arzthelferinnen sich hier mit Vornamen vorstellen, falsche Schlussfolgerungen gezogen. Eine Beziehung per Du war damit überhaupt nicht beabsichtigt. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Arzthelferinnen wollen auf jeden Fall vermeiden, dass sie Frau Dr. Neumann auch duzen, weil sie dann befürchten, ein zu persönliches Verhältnis mit ihr einzugehen und bei auftretenden Problemen in der Zusammenarbeit nicht mehr unbefangen genug agieren zu können. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
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Bedeutungen Erläuterung zu a): Die Arzthelferinnen sind es höchstwahrscheinlich nicht gewohnt, dass ihre Vorgesetzten bei der Anrede auf ihre Titel verzichten wollen und so schnell das Du anbieten. Es gehört sich einfach als Zeichen des Respekts in einer österreichischen Praxis, die Ärztin gerade vor anderen Personen mit Frau Doktor anzureden. Eine andere Regelung würde die soziale Ordnung durcheinanderbringen und es wäre für die Patienten schwer, zu unterscheiden, wer jetzt die Ärztin und wer Arzthelferin ist. Erläuterung zu b): Vielleicht waren die Arzthelferinnen von dem Angebot überrumpelt, da es auch in Österreich einfach Zeit braucht, sich näher kennen zu lernen. Frau Dr. Neumann ist hier beim Angebot des Du vielleicht etwas zu forsch vorgegangen und hat zu schnell zu viel erwartet. Erläuterung zu c): Es kommt immer wieder vor, dass Personen in einer ihnen fremden Kultur das Partnerverhalten so deuten, wie sie es aus ihrer eigenen Kultur gewohnt sind. Das Angebot, sie beim Vornamen zu nennen, hat Frau Dr. Neumann so verstanden, dass sich nun alle immer und in jeder Situation duzen werden. Dem stimmt sie voll zu und betrachtet dies auch als ein Vertrauensbeweis, also als ein aus ihrer Sicht erwünschtes Zeichen, dass alle in der Arztpraxis ihren Dienst gleichberechtigt versehen und Rangunterschieden aufgrund akademischer Titel keine Bedeutung beigemessen wird. Diese Deutung weist auf ein Missverständnis in der Kommunikation zwischen Frau Dr. Neumann und den Arzthelferinnen hin, erklärt die Situation aber nicht zufriedenstellend. Erläuterung zu d): Manche Menschen glauben wirklich, dass dann, wenn man von jemandem mit »Du« angeredet wird, in Konfliktfällen nicht mehr so frei und ungezwungen agiert werden kann, als würde man einander mit »Sie« ansprechen. Frau Dr. Neumann und die Arzthelferinnen scheinen sich aber zu verstehen und es herrscht ein 90 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
einvernehmliches Beziehungsverhältnis unter den beteiligten Partnern. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die Arzthelferinnen schon jetzt Probleme in der Zusammenarbeit und Konfliktfälle antizipieren und dementsprechend Wert darauf legen, gegenüber Frau Dr. Neumann beim Sie zu bleiben und sie mit Frau Doktor anzusprechen. Eine andere Deutung liefert eine zutreffendere Erklärung für die Situation.
Lösungsstrategie Welche Regelungen bezüglich der Anrede Frau Dr. Neumann mit ihren Arzthelferinnen auch immer treffen würde, in jedem Fall ist zu erwägen, welche Auswirkungen die vereinbarte Anrede auf die Öffentlichkeit, das heißt auf den Kontakt mit Patienten, Ärztekollegen und Pharmavertretern, in dieser österreichischen Praxis hätten. Darüber müsste gesprochen werden, um eine tragfähige Lösung zu finden. Hier müsste Frau Dr. Neumann die Initiative ergreifen. Denkbar wäre, dass sich in der internen Kommunikation alle duzen, aber in der Öffentlichkeit Frau Neumann mit Frau Dr. angesprochen wird und sie selbst ihre Arzthelferinnen mit deren Vornamen anspricht. Damit würde dem Ranggefüge und der akademischen Stellung von Frau Dr. Neumann gegenüber der Öffentlichkeit genüge getan und zugleich deutlich gemacht, dass Frau Dr. Neumann gegenüber ihren Mitarbeiterinnen ein recht persönliches und vertrauensvolles Verhältnis pflegt.
Beispiel 14: Die Versicherungskarte Situation Frau Krämer hat an einer deutschen Universität erst vor kurzem ihr BWL-Studium abgeschlossen und ist seit einigen Wochen Berufseinsteigerin bei einer größeren Bank in Wien. Als Frau Krämer ihre Stelle antrat, wurde sie automatisch bei der Wiener Gebietskrankenkasse versichert und hat dort ihre »e-card«, also 91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Versicherungskarte, beantragt. Nach drei Monaten ist ihr diese aber immer noch nicht zugesandt worden. Frau Krämer ist nun beunruhigt, da auch die Personalabteilung die Daten benötigt. Sie war zwar weder krank noch musste sie bis jetzt einen Arzt in Anspruch nehmen, aber sie möchte das dennoch sofort klären. Daher ruft sie bei der Krankenkasse an. Die zuständige Sachbearbeiterin, Frau Gastager, teilt ihr mit, dass der Vorgang so lange dauern würde, da die Krankenkasse zunächst überprüfen müsse, ob ihr Diplomtitel in Österreich anerkannt wird, bevor man ihn auf die e-card drucken lassen könne. Frau Krämer teilt der Sachbearbeiterin mit, dass sie auf den Titel keinen Wert lege, sie möchte nur so schnell wie möglich zum Arzt gehen. Anschließend berichtet sie der Personalabteilung, warum die e-card immer noch nicht vorliegt. Die Personalverantwortliche, Frau Csanady, rät ihr, umgehend bei der Krankenkasse anzurufen und den akademischen Titel eintragen zu lassen, auch wenn es länger dauert. Frau Krämer versteht nicht, warum das wichtiger sein soll, als die e-card schnell vorliegen zu haben. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Die Prüfung der akademischen Titel ist nur vorgeschoben, weil die Krankenkassenverwaltung zu langsam arbeitet. Die Vorlage des Abschlusszeugnisses der deutschen Universität hätte völlig ausgereicht. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Frau Csanady weiß, dass der gedruckte Titel dauerhaft Vorteile verschaffen kann, auf die Frau Krämer nicht verzichten sollte. 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Frau Csanady findet es einfach schöner, den Titel auf der e-card zu haben. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Sachbearbeiterin Frau Gastager hat die Karte aus Versehen nicht zum Eintragen des akademischen Titels weitergereicht. Sie möchte das aber gegenüber Frau Krämer nicht zu geben.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Diese Deutung hat schon etwas für sich, denn in der Regel wurden immer schon in Deutschland und Österreich erworbene akademische Titel vom jeweiligen deutschsprachigen Nachbarland anerkannt. Insofern hätte die Vorlage des Abschlusszeugnisses der deutschen Universität genügt und ein langwieriger Anerkennungsprozess wäre nicht nötig gewesen. Aber diese Deutung erklärt noch nicht die unbedingte Notwendigkeit, den akademischen Titel auf der Versicherungskarte eintragen zu lassen. Erläuterung zu b): Bei Arztbesuchen ist es üblich, seine e-card vorzuzeigen, hat man diese nicht dabei, muss man zum Teil sogar eine geringe Strafgebühr zahlen. Ist auf der Karte der akademische Titel eingetragen, kann einem dies längere Wartezeiten ersparen, da Akademiker in 93 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
vielen Bereichen noch bevorzugt behandelt werden. Auch beim Einreichen von Rechnungen und Rückzahlungen (so genannten Refundierungen) bei der Wiener Gebietskrankenkasse kann dies Vorteile bringen. Erläuterung zu c): Viele Österreicher verstehen den lockereren Umgang mit Titeln nicht wirklich. Hat man einen Titel, sollte man diesen auch einsetzen, schließlich steht er nicht nur für die eigene Leistung, sondern auch für die gesellschaftliche Position. Frau Csanady kennt nichts anderes und rät daher auch dazu. Diese Deutung hat durchaus etwas für sich, insbesondere in einem Land wie Österreich mit einer sehr titelorientierten Kultur. Erläuterung zu d): Wenn Frau Gastager in einem in ihre Kompetenz fallenden Vorgang ein Fehler unterlaufen sein sollte, könnte sie versuchen, diesen ohne Aufsehen zu erwecken zu beheben, auch wenn sich dadurch die Bearbeitungszeit ungebührlich verlängert. Für Zeitverzögerungen gibt es immer wieder Ausreden. Diese Deutung ist aber recht spekulativ und trägt nicht viel zur Erklärung des Problems in der Situation bei.
Lösungsstrategie Frau Krämer ist die Versicherungskarte wichtiger als die Eintragung ihres akademischen Titels, weil sie sich ohne Krankenversicherungskarte unwohl und unsicher fühlt. Allerdings ist der Rat von Frau Csanady nicht von der Hand zu weisen. In einer Kultur wie der österreichischen, in der auf akademische Titel, auf Orden und Ehrenzeichen immer noch sehr viel Wert gelegt wird, werden, wenn ein Ermessensspielraum vorhanden ist, Titelträger bevorzugt behandelt, ihnen wird eher als anderen Glauben geschenkt und man gibt sich besonders viel Mühe, ihre Wünsche zu erfüllen. Daher sollte sich Frau Krämer so lange gedulden, bis der akademische Titel eingetragen ist. Dann wüssten alle, die zukünftig mit ihrer e-card zu tun haben, wie sie sich ihr gegenüber zu verhalten haben, und das hat in Österreich sicherlich Vorteile. 94 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Kulturelle Verankerung von »Titelorientierung« Titel sind in Österreich bis heute der Weg zu einer großen Karriere, mit denen die Tür zur »Welt der Bedeutsamen« geöffnet wird (vgl. Grohmann, 2006). Sie gelten als Eintritt in die (höhere) Gesellschaft, wobei neben akademischen Titeln, Ausbildungsbezeichnungen, Berufsbezeichnungen, Berufstiteln, Amtstiteln, Diensttiteln, Dienstgraden, Standesbezeichnungen im Rahmen von Kirchen und Religionsgemeinschaften auch von politischen Repräsentanten verliehene Orden und Ehrenzeichen große Bedeutung haben. Durch das Weglassen von Titeln oder die falsche Anrede einer titeltragenden Person können durchaus berufliche Beziehungen beeinträchtigt werden. Es gibt sogar Ratgeber für die richtige Verwendung von Titeln, die Hilfestellungen geben zur korrekten Anrede bei Korrespondenzen, bei Empfängen und immer dann, wenn Statussymbole von Bedeutung sind. Der österreichische »Titelwahn« stellt schon eine Besonderheit gegenüber den anderen europäischen Ländern dar. Vor dem Ersten Weltkrieg hingen Macht, Besitz und Prestige noch eng mit dem hohen Adel zusammen und vielfach waren nur Adlige in politischen Positionen oder in der politischen Verwaltung tätig, die starken Einfluss ausüben konnten. Als Vertreter des Kaisers in der Provinz agieren zu können, galt als sehr attraktiv, und auch die hohe Politik, die Ministerien und der diplomatische Dienst waren bis 1908 hauptsächlich von Adligen besetzt. Mit dem Gesetz von 1913 wurde durch die konstituierende Nationalversammlung die Monarchie abgeschafft, womit der Adel in Österreich offiziell aufgehoben wurde und auch seine politische Vormachtstellung verlor. Dadurch konnte zwar die Ehrfurcht vor dem Adeligen reduziert werden, nicht aber unbedingt die Ehrfurcht vor Hierarchien, die sich eben in Titeln niederschlägt. Historiker wie Beller (2007) sehen die Gründe für die stark ausgeprägte Titelverwendung in der Vorliebe der Österreicher für Autoritäten und Obrigkeiten. Jeder hat bedingt durch den Titel seinen klar definierten Platz, seine Position, und die Höhergestellten sorgen immer dafür, dass alles seine Ordnung hat und jeder weiß, wer oben und unten steht. Auch sehen Historiker die Tradition der starken Titelorientierung im Barock begründet, der 95 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
eine klare Hierarchie in der Gesellschaft hervorbrachte. Trotz Abschaffung der Adelstitel lebte die Kaiserzeit noch nach und förderte laut Hanisch (1994) eine spezifische österreichische »Leidenschaft für Titel«. Man folgt also weiterhin einem Zeremoniell, welches eben nicht nur auf den Hof beschränkt blieb, sondern auch auf die Kirche und Zünfte und selbst die spätere Arbeiterbewegung übergriff.
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Themenbereich 5: Regelrelativierung
Beispiel 15: Die Grippewelle Situation Frau Kummer, eine deutsche Kinderärztin, ist seit fast einem Jahr in einer Wiener Gemeinschaftspraxis tätig, in der noch drei weitere Ärzte arbeiten. Normalerweise trägt sie für die Abrechnung genau in ihre Akten ein, welche Leistungen ein Patient zu welchem Zeitpunkt bekommen hat. Als eines Tages aufgrund einer Grippewelle und einiger unvorhergesehener Notfälle besonders große Hektik in der Praxis herrscht, fällt ihr erst am Abend auf, dass sie einige Eintragungen vergessen hat und der Praxis aus diesem Grund 50 Euro fehlen könnten. Sie möchte daher ihren Fehler umgehend ihren Kollegen mitteilen und ruft diese sofort an. Ihre Kollegen scheint dies nicht besonders zu stören und alle sagen, dass man ja nicht immer alles perfekt machen könne. Frau Kummer möchte am nächsten Tag ihre Eintragungen komplettieren und stellt dann in den Büchern fest, dass auch ihre Kollegen keine korrekten Eintragungen vom Tag davor gemacht haben. Frau Kummer ärgert sich und fragt sich, ob sie die Einzige ist, die hier sorgfältig und ehrlich arbeitet. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) Die Kollegen haben nur auf diesen Fall gewartet, weil sie testen wollen, wie vertrauenswürdig Frau Kummer ist. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die Kollegen sehen die Vorgaben nicht so streng wie Frau Kummer und können daher gelassener reagieren. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die Kollegen sind einfach schlampig mit ihren Abrechnungen und möchten dies nicht aufgedeckt wissen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Kollegen tragen ihre Leistungen ein, bisher hat aber niemand die Liste auf Vollständigkeit hin überprüft. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Die Kollegen von Frau Kummer nehmen die geforderten Eintragungen wohl nicht ernst und gehen sehr lässig damit um. Deshalb ist die Deutung nicht zutreffend, denn wer testet schon einen Kollegen gerade auf Zuverlässigkeit mithilfe von Maßstäben, denen er selbst nicht folgt? 100 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Erläuterung zu b): Wahrscheinlich sehen sie die Eintragungen tatsächlich nicht so streng, am Ende weiß sowieso jeder, was er/sie gearbeitet hat und die anderen Kollegen wissen das auch. Dass hier und da etwas nicht ganz so perfekt ist, wird weniger ernst genommen. Eine penibel genaue Dokumentation der Einzelleistungen interessiert niemanden und wird deshalb als unnötig empfunden. Mit dem Anruf bei ihren Kollegen hat sich Frau Kummer sehr wahrscheinlich sogar als vertrauenswürdig erwiesen und gewinnt an Sympathie. Diese Deutung erklärt die Situation schon recht gut, aber noch nicht vollständig. Erläuterung zu c): Die Kollegen sind vielleicht tatsächlich nicht pedantisch bei ihren Abrechnungen, sie wissen aber auch, dass die anderen Mitarbeiter Einsicht in die Bücher haben. Unter den Kollegen besteht ein bewährtes Vertrauensverhältnis, deshalb muss nicht unbedingt überprüft werden, welche Leistungen der Einzelne wann erledigt hat. Diese Deutung trifft den Kern. Erläuterung zu d): Ärzte fühlen sich berufen, Krankheiten zu diagnostizieren und zu therapieren. Sie befassen sich mit den Patienten und verabscheuen jede Art von Büroarbeit. Penibel genaue Eintragungen vorzunehmen und dann noch entsprechende Kontrollen durchzuführen, kommt ihnen überhaupt nicht in den Sinn. Diese Deutung hat sehr wohl einiges für sich, aber nachdem Frau Kummer sich bei ihren Kollegen für ihr eigenes Versäumnis entschuldigt hat, hätte sie doch eine Rückmeldung erwarten können. Die bleibt aber aus und so ist diese Deutung eher spekulativ, zumal Ärzte zwar immer über zu viel Papierkram stöhnen, aber zur korrekten Abrechnung der von ihnen erbrachten Leistungen müssen sie sich auch mit Büroarbeit befassen. Diese Deutung befriedigt nicht so recht.
Lösungsstrategie Frau Kummer, aufgewachsen und sozialisiert in der deutschen Kultur, in der die Einhaltung von Regeln allgemein üblich ist und 101 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
als Zeichen der Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit hoch geschätzt wird, ist zunächst einmal sehr betroffen, dass sie selbst in der Hektik der Praxisarbeit einige erforderliche Eintragungen ihrer erbrachten Leistungen unterlassen hat. Sie informiert sofort ihre Kollegen über das Versäumnis, entschuldigt sich und korrigiert den Fehler. Erst dabei bemerkt sie die Abweichungen ihrer Kollegen im Umgang mit dieser eigentlich in jeder ärztlichen Gemeinschaftspraxis üblichen Regelung. Die korrekte Dokumentation der von jedem Arzt in der Gemeinschaftspraxis erbrachten Leistungen ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, dass die Abrechnung mit den Kassen und den Patienten stimmt. Damit können die Einkünfte jedes einzelnen Arztes in der Praxis zuverlässig berechnet werden. Es handelt sich also nicht um eine unbedeutende Dokumentation zu irgendwelchen statistischen Zwecken. Deshalb ist Frau Kummer so irritiert über den schlampigen Umgang mit diesen Regeln. Frau Kummer sollte mit ihren Kollegen darüber sprechen und sich Klarheit verschaffen, ob es sich hier nur um ein mehr zufälliges, unbeabsichtigtes Versehen handelt oder ob ihre Kollegen aus Mitleid bei einigen Patienten ihre Leistungen nicht berechnen oder ob sie kleinere und unbedeutendere Leistungen nicht so wichtig nehmen, um sie für die Abrechnung zu dokumentieren. In speziell dieser Gemeinschaftspraxis herrscht vielleicht ein so bewährtes gegenseitiges Vertrauensverhältnis, dass man auf jede Art von Kontrolle verzichtet. Erst wenn Frau Kummer die Gründe für die aus ihrer Sicht mangelhafte Dokumentation geklärt hat, kann sie sich auf die in dieser Praxis praktizierten diesbezüglichen Regelungen einstellen.
Beispiel 16: Die steuerliche Absetzbarkeit Situation Frau Meier arbeitet seit einem Jahr in Österreich und zahlt wegen einer gesetzlichen Änderung seit 2008 sowohl in Deutschland als auch in Österreich ihre Rentenversicherung. Da sie vorhat, die nächsten Jahre in Österreich zu bleiben, fragt sie beim Finanzamt 102 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
den zuständigen Beamten, ob sie die Rentenzahlungen nach Deutschland von der Steuer absetzen kann. Der Beamte sieht sie verdutzt an und sagt ihr, dass er sich damit nicht auskenne. Frau Meier fragt ihn daraufhin, wer sich denn damit auskennen und an welche Stelle sie sich wenden könnte. Der zuständige Beamte kann ihr daraufhin keine Antwort geben und erklärt ihr, dass sich wahrscheinlich niemand damit auskennt. Sie solle einfach die Zahlung in die Spalte im Formular eintragen und der Fall wäre erledigt. Der Beamte erklärt ihr zudem, dass es Österreich auch egal sein kann, was sie nach Deutschland zahlt. Frau Meier möchte, um sicherzugehen, sogar noch bei einem anderen Beamten nachfragen, ob es korrekt ist, den Betrag einfach einzutragen. Auch der andere Beamte gibt ihr eine ähnliche Antwort und sichert ihr zu, dass sie es so eintragen und damit absetzen könne. Frau Meier ist verwundert, dass scheinbar keiner der Beamten Bescheid weiß und sich auch keiner weiter erkundigt. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Die Beamten haben keine Lust, sich mit einer so speziellen und für sie außerdem nebensächlichen Frage auseinanderzusetzen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Den Beamten ist es unangenehm, dass sie die Antwort nicht wissen, und sie geben Frau Meier daher irgendeine Antwort, um sie schnell loszuwerden.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
c) In Österreich ist es nicht üblich, Finanzbeamte um Auskunft zu bitten. Ihre Aufgabe besteht allein darin, Steuern einzutreiben.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Es gibt sicher auch für diesen Fall bilaterale Steuerabkommen zwischen Österreich und Deutschland, aber in der Praxis kommt es selten vor, dass einzelne Finanzbeamte sich damit auskennen müssen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Wahrscheinlich haben die Beamten tatsächlich keine Lust, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, da dies einen erheblichen zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeuten würde. Zudem müssten sie noch nach den gesetzlichen Grundlagen der deutsch-österreichischen Steuervereinbarungen suchen, um eine zutreffende Auskunft geben zu können. Die Serviceeinstellung in den Steuerämtern ist nicht gerade hoch ausgeprägt. Also ersparen sich die Beamten diese Zusatzarbeit. Zudem gehen sie von der Tatsache aus, dass »das schon so passen wird«. Diese Einstellung ist in österreichischen Behörden tief verankert, da es, wie die Praxis gezeigt hat, »sich auch immer irgendwie ausgeht«. Daher raten sie Frau Meier reinen Gewissens zu dem Schritt, die in Deutschland getätigten Rentenzahlungen einfach als Ausgabe in der österreichischen Steuererklärung einzusetzen und dann abzuwarten, was passiert, denn gravierende Konsequenzen würden sich aus ihrer 104 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Sicht wohl nicht ergeben. Diese Deutung erklärt die Situation recht passend. Erläuterung zu b): Möglicherweise ist es den Beamten unangenehm, die Antwort nicht zu wissen, da sie sich aber erkundigen könnten, wie es sich in solchen Fällen verhält, ist diese Deutung nur bedingt zutreffend. Wahrscheinlich gehen sie davon aus, dass es wirklich keiner weiß und es daher auch egal sein kann, ob Frau Meier den Betrag nun einträgt oder nicht. Erläuterung zu c): Wenn diese Deutung zuträfe, hätten die Finanzbeamten jegliche Auskunft Frau Meier gegenüber verweigern können mit der Begründung, dass Beratung nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. Stattdessen aber versuchen sie, sich irgendwie herauszureden, und tun so, als gäben sie Frau Meier gute Ratschläge. Erläuterung zu d): Es gibt sicher zwischen Österreich und Deutschland ein bilaterales Steuerabkommen, in dem solche Fälle wie der von Frau Meier geregelt sind. Selbst wenn nicht jeder Finanzbeamte bei der Anfrage eines Steuerpflichtigen sofort die entsprechenden Paragraphen verfügbar hat, um eine zutreffende Auskunft geben zu können, müsste er aber wissen, wo solche Informationen zu finden sind und wo er sie nachschlagen kann. Diese Deutung befriedigt nicht.
Lösungsstrategie Frau Meier weiß, dass die deutsche Steuergesetzgebung so komplex und kompliziert ist, dass selbst Steuerberater und Finanzbeamte oft nicht auf Anhieb wissen, welche Regeln wann und wo gelten und wie sie anzuwenden sind. Deshalb fragt sie, bevor sie möglicherweise etwas falsch macht, bei den »Experten« für das Steuerwesen in Österreich nach. Sie will sich unnötige Mehrarbeit und womöglich Mahnungen und Strafnachzahlungen ersparen. Sie will alles in Ordnung haben! Die befragten österreichi105 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
schen Finanzbeamten aber sind offensichtlich nicht gut informiert, schieben einander die Verantwortung zu und geben ihr dann eine Auskunft, der Frau Meier nicht so recht traut. Nun könnte sie alle diese Vorgänge und Versuche, Informationen einzuholen in einer Art Gesprächsprotokoll mit Angabe von Ort, Datum und Namen der befragten Finanzbeamten festhalten und dann die Zahlungen an die Rentenversicherung in Deutschland in ihre Steuererklärung in Österreich als abzugsfähige Ausgaben eintragen und abwarten, ob sie anerkannt werden oder nicht. Das ist zweifelsohne der bequemste und auch von den österreichischen Beamten empfohlene Weg. Sie könnte auch einen deutschen oder österreichischen Steuerberater mit der Recherche beauftragen oder selbst versuchen, über das Internet die entsprechenden Paragraphen der deutsch-österreichischen Steuervereinbarungen ausfindig zu machen. Welchen Weg sie beschreitet, richtet sich danach, wie wichtig ihr die Regelung des Steuerabzugs ist und wie sehr sie persönlich Wert darauf legt, eindeutige und bis ins Detail geklärte Kenntnisse in Bezug auf ihre Steuererklärung zu besitzen und entsprechende Regelungen vorzunehmen, um nicht »ständig« in Unsicherheit leben zu müssen. Manche Menschen, auch in Deutschland sozialisierte, können mit einer eher offenen, pragmatischen Lösung, wie die österreichischen Beamten sie ihr vorgeschlagen haben, gut leben. Andere wiederum halten die damit verbundenen Unsicherheiten nur schwer oder überhaupt nicht aus und wollen alles sofort genau und »wasserdicht« geregelt haben.
Beispiel 17: Die Kirchensteuerzahlung Situation Frau Hartmann lebt nun seit einem Jahr in Österreich und wird von der Kirche angeschrieben, weil sie vergessen hat, sich nach dem Umzug bei der Kirche einzuschreiben, denn sie ist kirchensteuerpflichtig. Frau Hartmann erwartet, dass sie den Betrag für das gesamte Jahr auf einmal nachzahlen muss, was ihr bei dem gegenwärtig verfügbaren Einkommen schwer fallen würde. Des106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
halb erkundigt sie sich persönlich beim Kirchensteueramt nach der Höhe des zu zahlenden Betrags und erfährt von dem Kirchenbeamten, dass sie erst ab jetzt bezahlen muss, weil es schließlich das Verschulden der Kirche sei sie nicht rechtzeitig benachrichtigt zu haben. Frau Hartmann ist erleichtert, dass ihr keine Nachzahlung droht, möchte aber zu ihrer Rückversicherung eine schriftliche Bestätigung von dem Kirchenbeamten über diesen Vorgang und seine Auskunft haben. Der Beamte schaut sie aber nur verwundert an und sagt ihr, dass sie doch keine Bestätigung seiner Aussage brauche. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Da die Kirchensteuer nicht sofort abgezogen wurde, ist dies rechtlich ein Graubereich, da es sich um eine »freiwillige« Spende handelt. Daher ist es tatsächlich das Verschulden der Kirche und der Betrag wird erlassen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Der Beamte war einfach nett, hatte Mitleid mit Frau Hartmann und nutzte den verfügbaren Entscheidungsspielraum zu ihren Gunsten aus. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Der Beamte wurde in ähnlichen Fällen noch nie nach einer Bescheinigung gefragt. Er versteht nicht, was Frau Hartmann damit bezwecken will. 107 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Der Beamte ist eigentlich nicht befugt, eine solche auf die Person von Frau Hartmann zugeschnittene Entscheidung zu treffen, hat ihr aber aus Mitleid die Zahlung der Kirchensteuern für das vergangene Jahr erlassen. Eine Bescheinigung kann er ihr darüber aber nun nicht ausstellen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Die Kirchensteuerregelung enthält tatsächlich einen Graubereich, da man den Kirchensteuerbetrag auch anderen Organisationen spenden kann und das Nichteinzahlen auch nicht rechtlich geahndet wird. Aus österreichischer Sicht gilt es, ein zahlendes Mitglied an die Institution zu binden und ihm mit Freundlichkeit zu begegnen, da Frau Hartmann ja auch an eine andere Wohlfahrtseinrichtung zahlen könnte. Außerdem wird der Zeitpunkt nicht so eng gesehen: Ab dem jetzigen Zeitpunkt zahlt sie ja und damit ist alles geregelt. Die Kirche ist es gewohnt, dass auch Österreicher die Steuer oft nicht zahlen und beispielsweise ein geringeres Einkommen als das tatsächliche angeben, um Kirchensteuer zu sparen. Diese Deutung erklärt aber noch nicht, warum der Beamte ihr die erbetene Bestätigung verweigert. Erläuterungen zu b): Der Beamte hatte vielleicht wirklich Mitleid und da Frau Hartmann sich bemühte, wollte er ihr es nicht noch schwerer machen. Da der persönliche Bezug eine größere Rolle spielt, kann er hier 108 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
eine Ausnahme machen, da er ja jetzt weiß, in welcher Lebenslage sich Frau Hartmann befindet und wer sie ist. Daher muss er nicht stur an der Regel festhalten, die er vielleicht sogar selbst hinterfragt. Oft wird der Interpretationsspielraum von Regeln in seiner Gänze genutzt, da die Regeln nicht als absolut gültig angesehen werden. Deshalb kann der Beamte hier auch eine Ausnahme machen. Diese Deutung erklärt die Situation recht gut. Erläuterungen zu c): Frau Hartmann will eine Sicherheit haben, dass sie nicht doch noch plötzlich den gesamten Jahresbetrag nachzahlen muss, die mündliche Auskunft allein reicht ihr nicht. Der Beamte hat alles getan, um Frau Hartmann entgegenzukommen und wundert sich nun, dass sie ihm offensichtlich nicht recht traut. Bisher hatte er die Erfahrung gemacht, dass alle, die ihn um eine Regelung baten, mit der mündlichen Auskunft zufrieden waren. Wenn diese Deutung zuträfe, hätte der Beamte sie doch fragen können, warum sie unbedingt nach diesem Gespräch auch noch eine schriftliche Bestätigung über die mündliche Zusage haben möchte. Das tut er aber nicht. Erläuterungen zu d): Grundsätzlich könnte diese Deutung die Verweigerung der Bescheinigung erklären. Andererseits aber ergibt sich aus der gesamten Situationsschilderung, dass der Kirchenbeamte, mit dem Frau Hartmann es zu tun hat, offensichtlich für den gesamten kirchensteuerrelevanten Vorgang verantwortlich ist und hier kompetent handeln kann und ihm auch ein gewisser Ermessensspielraum zur Verfügung steht. Lösungsstrategie Frau Hartmann tut gut daran, sich mit der mündlichen Auskunft und Regelung des Vorgangs durch den Kirchenbeamten zufriedenzugeben und nicht weiter auf eine Bescheinigung zu bestehen, denn immerhin hat der Beamte ihr den gesamten Vorgang nachvollziehbar erklärt und ist ihr in Bezug auf die eigentlich noch anstehende Nachzahlung entgegengekommen. Wenn sie 109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
auf eine schriftliche Bestätigung dieser Vereinbarung besteht, wäre das sicherlich aus der Sicht des Beamten nur als ein Zeichen von Misstrauen zu deuten.
Beispiel 18: Der Quartalsbericht Situation Frau Wolf hat nach ihrem Jurastudium in Deutschland vor zwei Jahren eine Stelle in einem österreichischen Softwareunternehmen in Wien angetreten. Nun hat sie den Auftrag übernommen, für den 15. Januar eine Jahresabschlusspräsentation vorzubereiten. Dazu benötigt sie von ihrem Kollegen, Herrn Hofer, den Bericht über das letzte Quartal des vergangenen Jahres. Sie hat mit ihm vereinbart, diesen Bericht spätestens zum 3. Januar zu bekommen, damit sie die darin enthaltenen Zahlen zur Vorbereitung ihrer Präsentation vorliegen hat. Als sie zu dem vereinbarten Termin den Bericht noch nicht erhalten hat, ist Frau Wolf verunsichert. Am Abend des vereinbarten Abgabetermins ruft sie Herrn Hofer an, um nachzufragen, was passiert sei und ob er den Bericht schon losgeschickt habe. Herr Hofer reagiert sehr höflich, entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten und verspricht ihr, diesen in den kommenden zwei Tagen zuzusenden. Frau Wolf wird ungeduldig, als der Bericht nach zwei Tagen immer noch nicht vorliegt, und ruft erneut ihren Kollegen an, damit er ihr zumindest schon einmal die benötigten Daten des Quartalsberichts zuschickt. Sie möchte endlich die Präsentation vorbereiten. Frau Wolf ist verärgert, als sich die Deadline noch einmal verschiebt. Sie versteht nicht, warum Herr Hofer denn nicht wenigstens anruft, wenn er weiß, dass er den vereinbarten Termin nicht einhalten kann. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) Herr Hofer hat die Erfahrung gemacht, dass »alles nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird«.
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eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Herr Hofer ist mit der Erstellung des Quartalsberichts überfordert und schafft es daher nicht, die Daten pünktlich an Frau Wolf weiterzuleiten bzw. den Verzug mitzuteilen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Herr Hofer ist nicht bereit, sich von einer Frau herumkommandieren und unter Druck setzen zu lassen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Herr Hofer sieht den vereinbarten Termin eher als eine ungefähre Richtlinie und nicht als Endtermin an und lässt sich dementsprechend Zeit. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist schon möglich, dass Herr Hofer glaubt, die Terminsetzung von Frau Wolf sei nicht ganz so ernst zu nehmen. Aber spätestens 111 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nach der zweiten Ermahnung hätte ihm klar sein müssen, dass Frau Wolf stark unter Druck steht, weil er den vereinbarten Termin nicht einhält. Diese Deutung kann deshalb die Situation nicht ausreichend erklären. Erläuterung zu b): Möglicherweise ist Herr Hofer mit der Erstellung des Quartalsberichts tatsächlich überfordert. Er kann das aber nicht angemessen kommunizieren, da er weiß unter welchem Druck Frau Wolf steht. Als er zum zweiten Mal von ihr zur Einhaltung des vereinbarten Termins angemahnt wird und sie ihn bittet, ihr zumindest die benötigten Daten aus dem noch nicht erstellten Quartalsbericht zukommen zu lassen, weiß er überhaupt nicht mehr, wie er nun reagieren soll. Erläuterung zu c): Wenn Herr Hofer wirklich nicht bereit wäre, sich von einer Frau eine Terminsetzung vorschreiben und sich damit unter Druck setzen zu lassen, dann hätte er bei der ersten Ermahnung nicht so höflich und einsichtig reagiert. Vermutlich hätte er überhaupt nicht reagiert. Diese Deutung erklärt die Situation deshalb nicht wirklich. Erläuterung zu d): Herr Hofer hat die Terminvereinbarung nicht als zwingend empfunden und kann daher die Hektik, mit der Frau Wolf reagiert, nicht nachvollziehen. Es ist nicht unüblich, dass einige Male angemahnt, also »urgiert« werden muss, um die Wichtigkeit einer Vorlage und die Einhaltung eines Termins zum Ausdruck zu bringen. Herr Hofer hat einfach angenommen, dass es zeitlich noch einen größeren Puffer gibt, der ihm Spielraum verschafft, eine für einen Österreicher durchaus typische Einstellung.
Lösungsstrategie Aus der Situationsbeschreibung geht nicht genau hervor, ob die Erstellung einer Jahresabschlusspräsentation ein einmaliges Ereignis im Unternehmen ist oder ob das jedes Jahr erfolgt. Es ist 112 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
eher wahrscheinlich, dass es sich um ein jährlich wiederkehrendes Ereignis handelt, wobei dann unklar bleibt, ob Frau Wolf zum ersten Mal damit beschäftigt ist und Herr Hofer auch erstmalig den Quartalsbericht pünktlich fertig haben muss, damit die darin enthaltenen Daten für die Jahresabschlusspräsentation zur Verfügung stehen. Wenn zu vermuten ist, dass Herr Hofer solche Terminvereinbarungen nicht allzu ernst nimmt, weil er glaubt, es ist immer noch genügend Zeit, die erforderlichen Unterlagen beizubringen, und wenn darüber hinaus zu vermuten ist, dass dieser lasche Umgang mit vereinbarten Lieferfristen etwas mit der in Österreich üblichen Regelrelativierung zu tun hat, dann muss sich Frau Wolf auf diese Gewohnheiten einstellen. Wenn sie es gewohnt ist, Terminvereinbarungen als Regeln zu handhaben, die strikt eingehalten werden müssen, weil das Nichteinhalten solcher Vereinbarungen nachhaltig negative Folgen für die Zusammenarbeit unter Kollegen hat, dann muss sie bei Terminvereinbarungen in Österreich längere Fristen einplanen und häufiger nachhaken, und das nicht nur telefonisch, sondern durch den direkten persönlichen Kontakt. So hätte sie auch in diesem Fall Herrn Hofer in seinem Büro aufsuchen können, um ihn konkret zu bitten, ihr die erforderlichen Daten sofort zur Einsicht zur Verfügung zu stellen, noch bevor er mit dem Quartalsbericht fertig ist. Sie sollte sich auch darauf einstellen, dass ihre österreichischen Kollegen Regeln nicht als Gebote auffassen, sondern eher als Leitlinien, die je nach situativen und personalen Bedingungen in Bezug auf ihre strikte oder eher lasche Einhaltung zu interpretieren sind. Dieser eher freizügige und pragmatische Umgang mit Regeln wird sie zwar immer wieder irritieren, weil sie aufgrund ihrer deutschen Biografie anderes gewohnt ist, aber sie sollte sich bewusst sein, dass diese österreichische Art der Regelinterpretation kulturspezifisch determiniert ist und bei ihren österreichischen Kollegen zur Selbstverständlichkeit gehört.
Kulturelle Verankerung von »Regelrelativierung« Mit Regelrelativismus wird eine in Österreich häufig zu beobachtende Verhaltensgewohnheit bezeichnet, mit Regeln, Vorgaben 113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
und Plänen flexibler und pragmatischer umzugehen, als dies in Deutschland meist der Fall ist. Die Liebe zum Detail ist bei Österreichern tendenziell nicht so stark ausgeprägt wie in Deutschland, und dies betrifft auch das rigide Festhalten an Regeln und Strukturen (vgl. Fink, Novy u. Schroll-Machl, 2001). Ebenso flexibel gehandhabt werden zeitliche Vorgaben oder die strikte Verfolgung von Zielen. Regeltreue hat für Deutsche einen absoluten und zentralen Stellenwert, während Regeln für Österreicher eher eine mögliche Richtlinie symbolisieren (vgl. Brück, 2001). Stimmen sie mit den eigenen Bedürfnissen und Zielen überein und widersprechen sie ihnen nicht, stellen sie kein Problem dar und werden befolgt. Dennoch herrscht eine gewisse Skepsis gegenüber Regeln und strikt einzuhaltenden Vorgaben. Daraus erwächst eine Tendenz, ihre Sinnhaftigkeit zu hinterfragen und sie, wenn sie sich als wenig zielführend erweisen, auch außer Kraft zu setzen. Dies bedeutet nicht, dass Österreicher tendenziell gern jede Regel brechen, sondern nur, dass sich der Umgang in Bezug auf Regeln vom Deutschen unterscheidet. Während aber für Deutsche Regeln, Vorschriften und Pläne eine stark handlungsregulierende Funktion haben und ihrer strikten Beachtung große Bedeutung geschenkt wird, gehen Österreicher damit viel flexibler und pragmatischer um. Regeln sind für Österreicher eben eher eine Leitlinie als ein Maßstab. Gegenüber Regeln gibt es in Österreich ein grundlegendes Misstrauen und das führt dazu, dass man sie auf ihren Nutzen hin untersucht und durchaus auch, was ihre allzu strikte Beachtung betrifft, infrage stellt. Die Gelassenheit gegenüber diesen zeigt sich oft im Umgang mit vereinbarten Terminen, die je nach Kontextbedingungen und individueller Befindlichkeitslage flexibel gestaltet werden, ausgeweitet und abgesagt werden können. Wenn jemand so flexibel mit Vereinbarungen umgeht, also die mit einem Partner einmal getroffene Vereinbarung und die damit verbundene Festlegung auf eine Regel (z. B. Besuchstermin) öfter missachtet, wird er von Deutschen als unzuverlässig und inkompetent angesehen. Hingegen forscht ein Österreicher eher nach, was jemanden wohl von der Befolgung der Vereinbarung abgehalten haben könnte, zum 114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Beispiel Arbeitsüberlastung, plötzliche Prioritätenverschiebungen oder unerwartete Ereignisse. Der in Österreich nach wie vor praktizierte Pragmatismus und die Relativierung im Umgang mit Regeln lassen sich auch aus dem bis heute in Österreich noch weitgehend intakten dörflichkatholischen Milieu erklären. Die Mehrzahl der Bevölkerung sind Dorfbewohner, die nach wie vor eingebunden sind in Regeln und Traditionen, die von der Natur, dem Wechsel der Jahreszeiten und der Abhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten geprägt sind. Eine Dorfgemeinschaft folgt Regeln, die sich im Verlaufe von Jahrhunderten entwickelt haben und die sich in spezifischeren Formen von Brauchtum, Ritualen, Festen, Umzügen, Prozessionen, Beerdigungs- und Hochzeitsbräuchen etc. niederschlagen. Regeln und Rituale, die im Zusammenhang mit der im (österreichischen) Katholizismus gepflegten religiös-kulturellen Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Kirche entstanden sind und tradiert wurden, üben einen starken Einfluss auf die Ausbildung des regelgeleiteten Verhaltens und den Umgang mit Regeln aus. Dies zeigt sich in einem intensiv gepflegten katholischen Vereinsleben, dass das Alltagsleben der Bevölkerung und die Gestaltung von Festen und Festlichkeiten bestimmen. Wenn zum Beispiel für die Bevölkerung eines Dorfes wichtige Entscheidungen zu treffen sind, dann werden diese nicht auf einer zu einem fixierten Zeitpunkt einberufenen Sitzung besprochen, sondern zwischen dem Bürgermeister, dem Hauptlehrer und dem Pfarrer am Stammtisch im Dorfwirtshaus vorbereitet und diskutiert. Beim »Stammtisch« oder in der Wirtsstube und im Kaffeehaus wird auf strenge Pünktlichkeit bezüglich des Erscheinens und des Beginns einer Diskussion im städtischen Sinne kein Wert gelegt. Hauptsache ist, die wichtigsten Personen treffen irgendwann einmal ein. Nichts lässt sich eigentlich in einem solchen Lebensmilieu so ganz genau vorher bestimmen und festlegen. Regeln gibt es, sie sind auch bekannt und werden befolgt, aber sie dienen eher der Orientierung, eröffnen Gestaltungsräume und werden pragmatisch und den Gegebenheiten der Natur und den Befindlichkeiten und Bedürfnissen der beteiligten Personen angepasst. Regeln haben keine Gesetzesfunktion, sondern dienen der Erleichterung 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
und Harmonisierung des Zusammenlebens der Menschen, mit denen man es alltäglich zu tun hat. Folgendes Bild passt gut dazu: Der Glockenschlag der Kirche gab noch bis ins 20. Jahrhundert hinein weithin den Lebensrhythmus der Menschen in Österreich vor. Zudem gab es eine Zeiteinteilung, die sich ausschließlich nach den Vorgaben der Natur richtete bzw. nach dem bäuerlichen und handwerklichen Alltag. Mit der Industrialisierung und Verstädterung wurden die Zeitangaben zwar standardisiert, da der Fabrikbetrieb, die Industrieproduktion, Fahrpläne etc. ein diszipliniertes Einhalten von Regeln erforderte, aber im Alltagsleben wie auch im Berufsleben versuchte man sich einer strikten Reglementierung, soweit es eben möglich war, zu entziehen und die sich noch bietenden Freiräume eigenständig und pragmatisch zu gestalten(vgl. Altermatt, 1989).
116 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
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Themenbereich 6: Netzwerkmanagement
Beispiel 19: Der Schulwechsel Situation Herr Franck ist seit drei Jahren als Chemiker in Graz tätig. Seine Tochter wurde in eine Grundschule eingeschult. Mit der Lehrerin gab es aber schon zu Beginn massive Probleme, die Herr und Frau Franck nicht direkt lösen konnten. Daher entschließen sie sich zu einem Schulwechsel und teilen dies dem Rektor der Schule mit. Der Rektor aber erklärt ihnen, dass ein Schulwechsel nur möglich ist, wenn die Bezirksschulrätin einverstanden ist. Die Bezirksschulrätin entscheidet dann auch, an welche Schule und in welche Klasse die Tochter von Herrn und Frau Franck kommt. Herr und Frau Franck sind irritiert darüber, dass sie diese Entscheidung nicht einfach selbst treffen dürfen. Die Bezirksschulrätin Frau Dr. Napetschnig bittet die Eltern einige Tage später zu einem Gespräch, um den Fall zu besprechen. Während des Treffens verweist die Bezirksschulrätin darauf, dass so ein Schulwechsel eher unüblich und außerdem schwer zu bewerkstelligen sei, und lehnt diesen schließlich ab. Herr und Frau Franck sind enttäuscht und überlegen sich nun, rechtliche Schritte einzuleiten. Herr Franck fragt nun seinen Vorgesetzten, Herrn Eiglsreiter, nach einem geeigneten Rechtsanwalt, der ihnen in diesem Fall helfen könnte. Herr Eiglsreiter verspricht Herrn Franck, einen Bekannten im Ministerium anzurufen, der sich in solchen Fällen auskennt bzw. die Bezirksschulrätin recht gut kennt. Einige Tage später bekommen Herr und Frau Franck die Zusage und sie dürfen sogar mit aussuchen, an welche Schule ihre Tochter wechseln darf. 119 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Das Problem des Schulwechsels regelt sich nach dem Prinzip: »Wer sich kennt, der hilft sich!« sehr zutreffend
eher zutreffend
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nicht zutreffend
b) Frau Dr. Napetschnig hat sich ihre Entscheidung noch einmal überlegt und ist zu einem Entschluss gekommen, der einen Schulwechsel ermöglicht. sehr zutreffend
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c) Eltern aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, wollen immer wieder Sonderregelungen. Deshalb ist der Schulleiter nicht bereit, den Wunsch der Francks zu erfüllen. sehr zutreffend
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d) Der Schulleiter würde gern die mit der Lehrerin aufgetretenen Probleme intern lösen, damit ein Schulwechsel nicht nötig ist, weil das alles ein schlechtes Licht auf seine Schule wirft. sehr zutreffend
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eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. 120 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Bedeutungen Erläuterung zu a): Herr Eiglsreiter kann als Einheimischer auf ein gut ausgebautes Netzwerk zurückgreifen, was er ohne zu überlegen auch tut. Solche »helfenden« Maßnahmen sind in Österreich üblich und werden als ganz normal angesehen. Es ist nun einmal ein Glück, die richtigen Personen zu kennen und viele Entscheidungen (auch für Jobs, Wohnungen etc.) laufen über persönliche Kanäle. Deshalb ist auch die Pflege des Netzwerkes von außerordentlicher Bedeutung. Herr Franck ist durch seine Stelle bei Herrn Eiglsreiter nun Teil eines Netzwerkes, daher scheut er keine Mühen, wenn er so seinem Mitarbeiter Vorteile verschaffen kann. Umgekehrt wird dies genauso erwartet. Ist man zum Beispiel auf der Suche nach einem bestimmten Facharzt, ist es üblich, die Bekannten und Kollegen zu fragen, da sie ja schon jemanden kennen und empfehlen könnten. Auf Tipps aus dem Netzwerk wird viel Wert gelegt. Erläuterung zu b): Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Frau Dr. Napetschnig sich ihren Entschluss noch einmal überlegt hat. Nach dem Gespräch mit den Eltern wird ihr klar geworden sei, dass sie diese nicht umstimmen kann und einen Ermessensspielraum für eine Entscheidung im Sinne der Eltern hat sie nicht. Also wird die ganze Angelegenheit irgendwie ihren Lauf nehmen müssen. So recht befriedigend ist diese Deutung aber nicht. Erläuterung zu c): Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder, das gilt sowohl für den Besuch der Schule im Inland wie im Ausland. Im Auslandseinsatz können allerdings kulturelle Bedingungen gegeben sein, die dazu führen, dass deutsche Eltern mit der Art des Erziehungssystems nicht einverstanden sind, zum Beispiel wenn sie ihr Kind eher dialogorientiert erziehen, in der Schule aber ein eher autoritätsorientierter Stil praktiziert wird. Die Situation enthält allerdings keine näheren Angaben über die Ursachen des unlösbaren Problems zwischen der Lehrerin und dem Ehepaar Franck. Jedenfalls scheint, aus Sicht der Eltern, als Ausweg nur ein Schul121 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
wechsel möglich zu sein, was auch der Rektor der Schule einsieht, denn sonst hätte er die Francks nicht auf die Genehmigungspflicht durch die Bezirksschulrätin verwiesen, sondern versucht, das entstandene Problem irgendwie zu lösen. Diese Deutung trifft nicht den Kern des Problems. Erläuterung zu d): Kein Schulleiter liebt ungelöste Probleme zwischen Eltern und seinen Lehrern und schon gar nicht eine Problemlösung durch einen Schulwechsel des Kindes, der dann auch noch im Bezirksschulamt aktenkundig wird. Die geschilderte Situation enthält aber keinen Hinweis darauf, dass der Rektor der Schule ernsthafte Versuche unternommen hat, den Eltern den Wunsch nach einem Schulwechsel auszureden und andere Optionen vorgeschlagen hat, die eine hausinterne Problemlösung ermöglichen könnten. Es gibt eine zutreffendere Deutung.
Lösungsstrategie Herr und Frau Franck wissen zwar auch aus Erfahrung in Deutschland, dass manche Probleme leichter zu lösen sind, wenn man Kontakte zu Personen hat, die sich gut auskennen und entsprechende Verbindungen haben. Sie wissen aber auch, dass ein behördlich durch Verordnungen oder sogar Gesetze geregeltes Verfahren wie das eines Schulwechsels nicht einfach durch »Beziehungen« außer Kraft gesetzt werden kann,selbst dann nicht, wenn man eine Person kennt, die persönliche Kontakte bis zur Hierarchiespitze, wie hier bis ins Ministerium, hat. Sie kennen die Ermessensspielräume, aber auch die Grenzen von Einflussmöglichkeiten. Aus der Situationsschilderung ergibt sich, dass es kurz nach der Einschulung der Tochter so gravierende Probleme mit der Grundschullehrerin gegeben hat, dass Herr und Frau Franck nur noch einen Schulwechsel für ihre Tochter als Lösung ansehen. Vermutlich ist auch dem Rektor der Schule klar, dass dies der einzig gangbare Weg ist, das Problem aus der Welt zu schaffen, denn er versucht sie nicht von dem Schulwechsel abzubringen, sondern betont, dass darüber nur die Bezirksschulrätin entscheiden kann. 122 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Nach Anhörung der Eltern weist die Bezirksschulrätin nun auf die Schwierigkeiten hin, die mit einem Schulwechsel verbunden sind, und verweigert ihre Zustimmung. Erst als die Francks einen verlässlichen und kompetenten Rechtsanwalt suchen, der für sie gegen die Entscheidung rechtliche Schritte einleiten kann, kommt der Vorgesetzte von Herrn Franck, Herr Eiglsreiter, mit seinen Beziehungen bis ins Ministerium hinein ins Spiel. Ohne nähere Begründung bekommt Herr Franck nun die Zusage für einen Schulwechsel, sogar verbunden mit einer eigenen Wahlmöglichkeit für die passende Schule. Daraus können die Francks lernen, wie weit in Österreich die Entscheidungsspielräume reichen, wenn die passenden Personen an den richtigen Stellen in den behördlich-administrativen Hierarchien von so einflussreichen Personen wie Herrn Eiglsreiter angesprochen werden. Sie müssen sich nun entscheiden, ob sie zukünftig diese Wege der Problemlösung mithilfe von Beziehungen nutzen wollen oder nicht. Im gegebenen Fall ist ihnen diese Möglichkeit quasi zugefallen. Sollten sie aber zukünftig von solchen Möglichkeiten häufiger Gebrauch machen wollen, ist es sinnvoll und notwendig, ein intensives Netzwerkmanagement zu betreiben, also zu wissen, wer mit wem so gut bekannt ist, dass er Einfluss nehmen kann. Sie müssen dann auch selbst bereit sein, in soziale Beziehungen zu investieren, insbesondere zu mächtigen und einflussreichen Personen Kontakte zu initiieren, vorhandene Kontakte zu stabilisieren und nachhaltig zu pflegen. Ein solches soziales Beziehungssystem lebt und funktioniert nur nach dem Prinzip »Geben und Nehmen«. Herr Franck muss wissen, dass sein Chef Herr Eiglsreiter eventuell zukünftig auch einmal auf ihn zukommen wird, um Rat und Unterstützung zu bekommen, und dann von ihm auch »vollen Einsatz« erwartet.
Beispiel 20: Der neue Kollege Situation Herr Bach arbeitet seit einem halben Jahr als Steuerberater in einer österreichischen Firma. Er hat sich von Anfang an bemüht, einen 123 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
guten Eindruck zu machen, und deshalb in der Vergangenheit oft Überstunden gemacht. Er bekommt mit, dass seine Kollegen öfter zusammen zum Mittagessen gehen und sich gern einmal Zeit lassen, während er meistens im Büro nur eine Kleinigkeit zu sich nimmt. Von seinem Vorgesetzten wurde er bereits für sein effizientes Arbeiten gelobt, worüber Herr Bach sich sehr gefreut hat. Herr Bach bemerkt, dass sich seine Kollegen untereinander recht gut verstehen und sich auch privat treffen. Anfangs ging Herr Bach auch öfter mit, um seine Kollegen kennen zu lernen, aber es ging immer so viel Zeit dabei verloren, dass er Sorge hatte, sich nicht intensiv genug auf seine neuen Aufgaben konzentrieren zu können. Herr Bach versteht sich zwar gut mit seinen Kollegen, alle sind freundlich zu ihm, aber nach einer Weile wird er schon gar nicht mehr gefragt, ob er mit zum Mittagessen gehen möchte. Als ein neuer Kollege, Herr Waldhäuser, eingestellt wird, merkt Herr Bach, dass Herr Waldhäuser von Anfang an mit zum Essen und zu abendlichen Aktivitäten geht. Nach einer Weile bemerkt er, dass Herr Waldhäuser in viel kürzerer Zeit viel mehr über firmeninterne Vorgänge in Erfahrung gebracht hat als er. Herr Bach hat oft wichtige Entwicklungen im Unternehmen nicht mitbekommen. Der ärgert sich, dass diese Informationen nicht allgemein bekannt gemacht werden und er somit von all diesen Vorgängen ausgeschlossen ist. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Die Kollegen schätzen Herrn Waldhäuser, weil er überall mit dabei ist und sich somit sehr schnell und gut integriert hat und deshalb wichtigere Informationen erhält.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
124 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
nicht zutreffend
b) Herr Waldhäuser und die Kollegen sind einfach mehr auf einer Wellenlänge. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die österreichischen Kollegen betrachten den Arbeitseifer von Herrn Bach als Bedrohung und als ein bewusstes Einschmeicheln bei den obersten Chefs.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Österreicher sind Ausländern gegenüber immer eher skeptisch. Herr Bach müsste mehr in die Beziehungspflege investieren, um anerkannt zu werden. Dann käme er auch an die »lebenswichtigen« internen Informationen heran.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Da Herr Waldhäuser sich an persönlichen Kontakten interessierter zeigt als Herr Bach, wird er natürlich auch mehr eingebunden. Gerade zu Beginn einer neuen Arbeitsstelle ist das Kennenlernen wichtig, man möchte schließlich wissen, mit wem man es zu tun hat. Die Netzwerkpflege kann viel Zeit in Anspruch nehmen, birgt aber auch Vorteile. Zum einen stärkt sie den Gruppenzusammenhalt, die Kommunikation unter den Kollegen intensiviert sich, sie stärkt das gegenseitige Vertrauen und zum anderen erhält man so schneller wichtige Informationen. Es muss von der 125 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Gruppe gar nicht intendiert sein, Herrn Bach auszuschließen, aber wichtige interne Informationen werden eben nur auf diese informelle Art übermittelt. So kann man die Stimmung einschätzen, Kollegen aus anderen Abteilungen kennen lernen und sich am Firmengeschehen beteiligen. Auch bei Konferenzen und Abteilungsbesprechungen wird oft ein bisschen mehr Zeit »zum Plaudern« eingeplant, da dies für den gegenseitigen aktuellen Austausch zwischen den Kollegen wichtig ist. Erläuterung zu b): Herr Waldhäuser ist keineswegs von Anfang an auf einer Wellenlänge mit den Kollegen. Er ist, wie auch Herr Bach, im Unternehmen ein Neuling und muss sich einleben. Insofern erklärt diese Deutung nicht ausreichend, was hier anders läuft als bei Herrn Bach. Das Gemeinschaftsgefühl ist in Österreich oft höher ausgeprägt als in Deutschland. Da die Trennung zwischen Berufs- und Freizeitleben nicht so klar ist, ist es wichtig, sich mit den Kollegen gut zu verstehen. Herr Waldhäuser investiert mehr in die persönlichen Kontakte als Herr Bach und ist deshalb immer gut informiert. Erläuterung zu c): Herr Bach ist neu in ein österreichisches Arbeitsteam eingeführt worden. Sicher ist es richtig, dass er sich eifrig bemüht, die ihm übertragenen Aufgaben zu erledigen. Zugleich aber sollte er sich bemühen zu erkunden, wie arbeits- bzw. personenbezogene Aktivitäten in der Gruppe über die Arbeitszeit hinweg verteilt sind. Es ist nicht auszuschließen, dass sein Arbeitseifer, den er auf Kosten sozialer Kontaktpflege an den Tag legt, als Bedrohung und Einschmeicheln bei den obersten Chefs interpretiert wird. Dennoch erklärt diese Deutung die Gesamtproblematik der Situation nicht zufriedenstellend. Erläuterung zu d): Es gibt zumindest in der Situationsschilderung keine Hinweise darauf, dass Herr Bach als Ausländer gemieden wird. Er hat nur zu oft die von der Gruppe seiner Kollegen als selbstverständlich initiierten Angebote zur persönlichen Begegnung, ob aus Arbeitseifer oder Desinteresse am »Plaudern«, nicht wahrgenom126 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
men. Deshalb verliert er mehr und mehr den Kontakt zu seinen Kollegen, wird nicht mehr eingeladen oder bekommt so von den internen informellen Treffen überhaupt nichts mehr mit. Vom Informationsfluss ist er damit automatisch abgekoppelt. Jedenfalls ist die Deutung, dass er als Ausländer gemieden wird, sicher nicht zutreffend.
Lösungsstrategie Herr Bach hat einen guten Start in dem neuen Unternehmen hingelegt. Er hat sich gut in die Kollegengruppe eingelebt, wird wohl gemocht und ist anerkannt. Seine fachlichen Leistungen werden geschätzt und das ist ihm besonders wichtig. Es gibt viel zu tun und die Bearbeitung der ihm übertragenen Projekte ist herausfordernd. Da bleibt für unnötig langes »Geplauder« auf dem Flur oder sonst während der Arbeit nicht mehr viel Zeit und Kraft übrig. Was Herr Bach nicht beachtet, ist, dass in diesem Kollegenteam und in Österreich allgemein auf gute persönliche Kontakte, vertrauensvolle Zusammenarbeit, Sympathie und ein angenehmes Gruppenklima sehr viel Wert gelegt wird, jedenfalls mehr, als es Herr Bach aus Deutschland gewohnt ist. Erst die Neueinstellung von Herrn Waldhäuser und die Beobachtung seines Sozialverhaltens öffnen Herrn Bach etwas die Augen. Nun ärgert er sich, dass Herr Waldhäuser rascher als er intensive Kontakte zu den Kollegen knüpft, schnell in die Gruppe integriert wurde, dass er über alles Bescheid weiß, was im Unternehmen passiert und wichtig ist, aber nicht öffentlich bekannt gemacht wird. Herr Bach sollte als erfahrene Fachkraft wissen, dass viele wichtige Informationen die man zum Verständnis der Firmenkultur und der internen Dynamik und Ablaufprozesse in der Zusammenarbeit mit den Kollegen und zwischen den verschiedenen Abteilungen benötigt, nicht allgemein zugänglich sind. Sie werden vielmehr von Person zu Person, von oben nach unten, von rechts nach links und umgekehrt weitergegeben, interpretiert, verändert und bewertet. Herr Bach muss seinen Ärger in Bezug auf seine Kollegen un127 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
bedingt unterdrücken und stattdessen eine Strategie entwickeln, mit der er ein Gleichgewicht herstellen kann zwischen den notwendigen Investitionen in soziale Kontakte und Investitionen in die fachliche Arbeit. In Österreich sind mehr soziale Investitionen erforderlich als in Deutschland. Er muss ein gezieltes und strategisches Netzwerkmanagement betreiben, das sich an den kulturellen Traditionen des Landes, an der jeweiligen Firmenkultur und an dem orientiert, was diese spezielle Gruppe seiner Kollegen in diesem österreichischen Unternehmen an interpersonalen Aktivitäten erwartet.
Beispiel 21: Der Opernball Situation Frau Dr. Heinrich-Schröder ist eine deutsche Medizinprofessorin und seit kurzer Zeit an der Universitätsklinik Wien als Professorin tätig. Sie hat einen guten Draht zu den Kollegen und wird auch bereits nach wenigen Wochen zum Wiener Opernball eingeladen, da sie ja neu in der Stadt ist. Frau Dr. Heinrich-Schröder und ihr Mann, ebenfalls Mediziner, gehen zusammen zum Ball und werden umgehend mit allen bekannt gemacht und so in den Kreis der Kollegen integriert. Alle sind sehr freundlich zu ihnen und in den nächsten Wochen erhalten sie eine Einladung nach der anderen, zum Beispiel zu den Pfadfindern, zu den Rotariern, zu Akademikertreffen sowie vielen anderen kulturellen Veranstaltungen. Frau Prof. Dr. Heinrich-Schröder ist erstaunt, wie schnell die Kontaktanbahnung vor sich geht, wie schnell sie in das doch schon lange existierende Netz der Medizinerkollegen integriert werden. Sie hat dafür keine zufriedenstellende Erklärung. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 128 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) Allein weil Frau Dr. Heinrich-Schröder es als Frau bis zur Medizinprofessorin gebracht hat, sind alle Kollegen von ihr so fasziniert, dass sie den Kontakt suchen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Das Ehepaar Heinrich-Schröder ist einfach menschlich so nett und unkompliziert, dass alle den Kontakt suchen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Mediziner sind einfach sehr beliebt in Österreich und so fällt der Einstieg leicht. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Österreicher erwarten sich großzügige Spenden bei Charity-Veranstaltungen von einer Medizinprofessorin.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist sicher auch in Österreich keine Selbstverständlichkeit, dass in einem so traditionellen Berufsstand wie dem der Mediziner Frauen zu Professorinnen aufsteigen. Dies würde aber allenfalls zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für das Ehepaar Heinrich129 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Schröder führen, erklärt aber für sich allein noch nicht das Bemühen, beide so schnell wie möglich in den Kollegenkreis zu integrieren und sie sofort zum Wiener Opernball, dem gesellschaftlich wichtigsten Ereignis des Jahres, einzuladen. Erläuterung zu b): Es ist sicher einfacher, in einen Kreis von Kollegen integriert zu werden, wenn man kontaktfreudig, gesprächsbereit und offen auf Menschen zugeht und in der Lage ist, Sympathien zu wecken. Das gesamte Erscheinungsbild einer Person bzw. des Paares HeinrichSchröder übt auf die österreichischen Kollegen offensichtlich eine sehr positive Wirkung aus. Üblicherweise dauert es aber einige Zeit, bis eine offensichtlich so eng vernetzte soziale Gemeinschaft wie die der Wiener Medizinerkollegen bereit ist, einen »Neuling« so aufzunehmen und zu integrieren, wie das hier geschieht. Dafür muss es neben der positiven persönlichen Ausstrahlung und Wirkung noch andere Gründe geben. Erläuterung zu c): Über den Status als Medizinprofessorin an der Universität Wien und eine gute Netzwerkpflege werden Frau Dr. Heinrich-Schröder sämtliche Türen zu weiteren Netzwerken geöffnet. Dass sie sich außerdem an sozialen Kontakten interessiert zeigen, erleichtert den Zugang zusätzlich. Beide sind Mediziner und sie ist zudem noch Professorin an der Universität Wien. Ihnen wird allein deshalb ein extrem hoher Status zugebilligt. Die Netzwerke in Österreich sind dafür sehr empfänglich. Ohne Netzwerk ist es viel schwieriger, wenn gar unmöglich, erfolgreich voranzukommen, besonders in Wien. Veranstaltungen wie der Opernball oder Rotarier-Treffen eignen sich für die Netzwerkpflege ideal, da man unter seinesgleichen ist. In diesem Verhalten zeigen sich auch Überreste des traditionellen Umgangs adeliger Personen untereinander: Man weiß, wer auf welchen Stammbaum zurückblicken kann, auf welcher Stufe in der Adelshierarchie jemand steht, welchen Respekt man ihm zu zollen hat und wie weit man sich auf ihn verlassen kann. Erläuterung zu d): Sicherlich erhoffen sich die Österreicher früher oder später auch einmal einen Vorteil aus dem Kontakt zu dem Paar Heinrich130 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Schröder, denn schließlich wäscht eine Hand die andere. Doch auf Almosen sind die meisten dieser Netzwerkmitglieder nicht angewiesen. Sie wissen um die soziale Bedeutung einer Person in der Position einer Medizinprofessorin, dass sich ein solcher Kontakt lohnen kann und dass ihre Mitgliedschaft auch das Netzwerk ehrt. Aber diese Deutung erklärt die Gesamtsituation nicht.
Lösungsstrategie Die auf das Ehepaar Heinrich-Schröder einstürmende Offenheit und Kontaktfreudigkeit ihres sozialen Umfeldes, die vielen Einladungen, Empfänge und Vergünstigungen, sowie die Karten für die Teilnahme am Wiener Opernball verpflichten auch. Alle diese Aktivitäten müssen erwidert werden. Gegeneinladungen, Geschenke und eine ideelle Bereicherung der Kollegengruppe durch das Ehepaar Heinrich-Schröder etc. werden erwartet und diese Erwartungen sind in einer Art und Weise zu befriedigen, wie das in der österreichischen Kultur bzw. in der Kultur der österreichischen Mediziner in Wien üblich ist. Die Heinrich-Schröders sollten sich bei einer vertrauensvollen Person erkundigen, welche Initiativen, Aktivitäten, sozialen Kontakte wie, wann, wo, mit wem und unter welchen Kontextbedingungen zu organisieren und zu gestalten sind. Sie müssen in Erfahrung bringen, wie sie feststellen können, ob und wann die Erwartungen erfüllt sind. Gerade für Personen wie die HeinrichSchröders, die in der deutschen Kulturtradition aufgewachsen sind und dort ihre berufsspezifische Sozialisation als Mediziner in Deutschland erfahren haben, ist ein solcher sachkundiger Rat zur Integration in den österreichischen und hier speziell den Wiener Medizinerkreis von hohem Nutzen. Wenn die HeinrichSchröders inaktiv bleiben und an den reichhaltigen, häufigen und zeitraubenden Kontakten kein Interesse haben oder sie in vollen Zügen genießen, aber nicht erwidern, wird die Integrationsbereitschaft und die Unterstützung zum Einleben in das neue soziale Umfeld schnell beendet sein. Entweder die Heinrich-Schröders nehmen die Angebote ihres sozialen Umfelds an, machen mit und zeigen sich interessiert und erkenntlich, oder sie bleiben 131 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
ausgeschlossen, trotz der so überschwänglichen Anfangseuphorie, die sie durch ihre Medizinerkollegen erfahren haben.
Beispiel 22: Die Vergünstigungen Situation Herr Schneider ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter eines Forschungsprojekts an der Wirtschaftsuniversität Wien. In diesem betriebswirtschaftlichen Projekt vergleicht er unter anderem Managementstile verschiedener österreichischer Unternehmen. Zu diesem Zweck interviewt er die Manager und CEOs der Top-Unternehmen und hat daher auch direkt mit ihnen zu tun. Die Interviews laufen recht gut, Herr Schneider kommt mit seiner Forschung voran und hat bereits viel Material gesammelt. Alle Gesprächspartner waren zu potenziellen weiteren Interviews bereit und schienen sehr interessiert an seinem Projekt. In der folgenden Weihnachtszeit erhält er von einem der Manager einen großen Geschenkkorb. Herr Schneider wundert sich ein bisschen, lässt diesen aber umgehend zurückgehen und geht von einem Versehen aus. Seine Sekretärin meint zwar, dass er den Geschenkkorb ruhig annehmen könnte, aber Herr Schneider möchte nicht bestechlich erscheinen. Ein paar Wochen später erhält er von einem CEO eines anderen Unternehmens eine Einladung zu einem Jagdausflug und von einem anderen Manager vergünstigte Konzertkarten. Herrn Schneider ist das peinlich und deshalb bespricht er sich mit seinem Vorgesetzten. Der sieht darin aber kein großes Problem. Herr Schneider ist irritiert, denn es gehört zu seinem selbstverständlichen Forscherethos, dass man keine solche Vergünstigungen oder Geschenke annimmt! Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 132 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) Die Konkurrenz unter den österreichischen Unternehmen ist so groß, dass die Führungskräfte alles versuchen, nach vorn zu kommen, und so möchten sie auch in Herrn Schneiders Untersuchung als ein gutes und nach modernen Methoden geführtes Unternehmen dastehen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die Führungskräfte möchten, dass ihr jeweiliges Unternehmen besonders gut dargestellt wird und versuchen daher, mit Geschenken an Herrn Schneider etwas nachhelfen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) In Österreich ist es üblich, guten und interessanten Geschäftspartnern Geschenke zu machen, besonders zur Weihnachtszeit.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Die Interviewpartner wollen sich bei Herrn Schneider bedanken, dass er sie für seine Untersuchung über vergleichende Managementstile ausgewählt hat.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. 133 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Bedeutungen Erläuterung zu a): Konkurrenz und Wettbewerb zwischen Unternehmen, besonders wenn sie zu ein und derselben Branche gehören, sind überall gegeben und jeder weiß das. Das ist also keine österreichische Besonderheit. Die Arbeit von Herrn Schneider ist eine wissenschaftliche Untersuchung über Managementstile in verschiedenen Unternehmen und die dabei gewonnenen Daten werden nach den Regeln empirischer Forschung anonymisiert, sodass für Außenstehende nicht erkennbar ist, in welchem Unternehmen welche Managementstile gepflegt werden. Davon kann man auch bei dieser Arbeit ausgehen, weswegen diese Deutung nicht zutreffend sein kann. Erläuterung zu b): Es ist ganz natürlich, dass Führungskräfte von Unternehmen ein positives Image ihres Unternehmens vermitteln möchten. Allerdings kann man hier das Wissen erwarten, dass Herr Schneiders Forschung wissenschaftlichen Standards entsprechen muss, was beinhaltet, dass die erhobenen Daten nicht unternehmensspezifisch veröffentlicht werden. Das hat zur Folge, dass die Ergebnisse letztendlich nicht mehr einzelnen Unternehmen zugeordnet werden können. Demnach könnten die Führungskräfte mit ihren Geschenken für sich und ihr Unternehmen keinen Vorteil erzielen. Erläuterung zu c): Österreich ist zwar ein stark katholisch geprägtes Land, in dem ethische und viele andere Standards gelten, aber die Geschenke verfolgen wohl eher den Zweck, Herrn Schneider, der durch seine Forschungen für viele Partner interessant erscheint, für verschiedene Netzwerke zu gewinnen. Dies wird durch Geschenke, Vergünstigungen, Einladungen symbolisiert und soll der Beziehungspflege dienen. Herr Schneider scheint für seine Gesprächspartner attraktiv zu sein und auch sein Vorgesetzter sieht darin kein Problem, sondern eher eine Ehre für Herrn Schneider. Zudem entspricht dies den gängigen Gepflogenheiten in der österreichischen Geschäftswelt. Personen, die einmal nützlich für einen persönlich oder für das Unternehmen sein könnten, wer134 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
den umgarnt und man ist um nachhaltigen Beziehungsaufbau und entsprechende Beziehungspflege bemüht. Erläuterung zu d): Den meisten Führungskräften und Unternehmen sind solche Befragungen, wie Herr Schneider sie anstellt, lästig. Sie nehmen Zeit in Anspruch und der Gewinn für das Unternehmen ist meist nicht ersichtlich. Manager haben zudem wenig Zeit und machen oft die Erfahrung, dass sie zwar Daten für wissenschaftliche Analysen liefern, aber von den Ergebnissen nie mehr etwas zu sehen bekommen und wenn doch, dann können sie damit recht wenig anfangen. Vielleicht taucht das eigene Unternehmen irgendwo unter der Rubrik »Danksagungen« auf, aber auch das ist wegen der Vorschrift der Anonymisierung der Daten eher selten. Die Geschenke und Zuwendungen an Herrn Schneider müssen einen anderen Grund haben.
Lösungsstrategie In Deutschland ist es üblich, den persönlichen vom beruflichen Lebensbereich zu trennen. Nach den Forschungen von Sylvia Schroll-Machl kann »Trennung von Persönlichkeits- und Lebensbereichen« als ein für deutsche Fach- und Führungskräfte handlungswirksamer Kulturstandard angesehen werden: »In Deutschland entstehen Freundschaften selten bei der Arbeit viel mehr bei allen möglichen Freizeitaktivitäten, in Sportvereinen, Interessensgemeinschaften, Initiativen. Die gemeinsame Interessensbasis dort stellt bereits eine gewisse erste Annäherung dar. Im Berufsalltag hat die Arbeit Vorrang. Das Privatleben bleibt mehr oder weniger ausgespart. Kollegen wissen daher voneinander kaum etwas, außer offensichtlichen persönlichen Merkmalen (z. B. Familienstand, öffentliche Ämter, offensichtliche Hobbys, augenblicklicher Gesundheitszustand). Über private Dinge und daraus resultierende Gefühle wird am Arbeitsplatz häufig nicht gesprochen, man erkundigt sich nach ihnen auch weniger (und erst bei einer vertrauten Beziehung). Zum einen ist das nicht der Ort dafür, zum anderen könnten aus persönlichen Umständen 135 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
resultierende Leistungseinbrüche in Konkurrenzsituationen zum Nachteil für die betroffenen Personen verwendet werden. Auch ein Chef wird sich hüten, sich für das Privatleben seiner Mitarbeiter zu interessieren, es könnte als Einmischung verstanden werden, deren Beweggründe nicht klar sind« (Schroll-Machl, 2007, S. 145). Die Arbeit und alles, was sie an Kontakten und sozialen Beziehungen mit sich bringt, ist in Österreich mit dem persönlichen Leben verflochten. Die Arbeit bietet Chancen, andere Menschen, Gruppen und soziale Gemeinschaften jeder Art kennen zu lernen. Alles das, was mit der beruflichen Arbeit an sozialen Strukturen und Beziehungen verbunden ist, lässt sich daraufhin prüfen, ob und wie es zum eigenen Wohl oder zum Wohl der eigenen Zugehörigkeitsgruppen nutzbar gemacht werden kann, indem man mit Schlüsselpersonen anderer Netzwerke Kontakt aufnimmt und enge Beziehungen pflegt. Genau dies ist bei Herrn Schneider der Fall, denn er erscheint manchen Personen interessant genug zu sein, um mit ihm weiterhin, also außerhalb der Interviewsituation, bekannt zu sein und in Erinnerung zu bleiben. Als Projektleiter eines unternehmensrelevanten Forschungsprojekts, angesiedelt an der renommierten Wirtschaftsuniversität Wien, kann er für viele Führungskräfte und Unternehmen in Zukunft interessant werden und deshalb ist es sinnvoll, schon einmal für nachhaltige soziale Beziehungen zu sorgen. Herr Schneider sollte die Geschenke und Vergünstigungen als persönliche Anerkennung und als Gunstbeweis im Zusammenhang mit seiner Position und den Erwartungen an seine zukünftige beruflichen Entwicklungen ansehen und nicht als Bestechungsversuch im Rahmen der konkreten Forschungsarbeit. Wenn er dauerhaft in Österreich leben und arbeiten will, sollte er sich mehr Kenntnisse über die Details der landesüblichen Netzwerkbildung und des nachhaltigen Netzwerkmanagements aneignen und danach entscheiden, wie er damit umgehen will. Wichtig ist allerdings immer, die Grenzen zu beachten zwischen Geschenken und Vergünstigungen in Sinne von persönlicher und fachlicher Anerkennung einerseits und Bestechungsversuchen zur Erlangung von Vorteilen auf unredliche und moralisch nicht zu vertretender Art und Weise andererseits. 136 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Kulturelle Verankerung von »Netzwerkmanagement« Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Netzwerk und die Verknüpfung mit weiteren wichtigen Netzwerken sind in Österreich sehr ausgeprägt, da wichtige Informationen auf informellem Wege gewonnen werden. Durch die indirekte Kommunikation und den starken Personenbezug werden innerhalb der Netzwerke viele Dinge des Alltagslebens geregelt, Geschäfte abgeschlossen, Dienstleistungen gewährt, wichtige Informationen generiert, Arbeitsplätze und Wohnungen verteilt, Kredite gewährt etc. Da man dabei auf die Gefälligkeiten im jeweiligen Netzwerk Höherstehender angewiesen ist, werden soziale Hierarchien gefestigt. Wer vielen Netzwerken angehört, hat meist wirksame und wichtige Kontakte und Informationen und ist zudem für andere sozial attraktiv. Für Außenstehende sind die Netzwerke oft undurchschaubar (vgl. Mappes-Niediek, 2004). Netzwerke können dabei ganz unterschiedlicher Art sein. Sie reichen von Zünften, Gesellschaften, Vereinen, Parteien, Clubs, Kirchengemeinden, Wirtschaftsvereinigungen, Burschenschaften bis hin zu akademischen Gruppen jeder Art. Viele Netzwerkbeziehungen entstehen darüber, dass Kinder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bestimmte Schulen besuchen und damit die Eltern dieser Kinder über die Schule Kontakte zu begehrten Netzwerken erhalten. Für den Zugang zu bestimmten Netzwerken sind persönliche Beziehungen, Titel und Status bedeutsam. Weiterhin ist es wichtig, sich mit dem jeweiligen Netzwerk zum großen Teil zu identifizieren, da viel Zeit in dessen Aufbau und Pflege investiert werden muss. Die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk bedeutet zu jeder Zeit auch Verpflichtungen zu übernehmen, da der Austausch von Informationen, die Gewährung von Vorteilen und Gütern nicht einseitig verläuft. Das Netzwerk lebt immer vom gegenseitigen Austausch und der Loyalität der Mitglieder untereinander. Historiker wie beispielsweise Bruckmüller (1996) oder Beller (2007) führen das Interesse der Österreicher an der Zugehörigkeit zu bestimmten Netzwerken und das Leben und Wirken darin auf die höfische Tradition der Monarchie zurück. Österreich war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs eine Monarchie und ist auch 137 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
noch fast 100 Jahre später von der höfischen Gesellschaft dieser Zeit beeinflusst. Zudem war Österreich seit jeher ein Vielvölkerstaat und damit vielen kulturellen Einflüssen aus verschiedenen Regionen ausgesetzt. Das über Jahrhunderte währende Regime der Habsburger (1273–1918) übt noch heute einen gewissen Einfluss auf die Gesellschaft aus. Die Landesfürsten herrschten auch während der Habsburgerzeit nicht souverän, sondern die Herrschaft beruhte stets auf Gegenseitigkeit und dem Konsens mit den Untertanen. Dabei verpflichtete die Herrschaft den Fürsten zu »Schutz und Schirm«, was sich sowohl in militärischem Schutz als auch im exklusiven Schutz durch Fürsorge und dem Erhalt von Gemeinschaftseinrichtungen ausdrückte. Die Gemeinschaft wiederum sollte seinen Fürsten bei der Erledigung seiner Aufgaben, zum Beispiel bei gerichtlichen und militärischen Angelegenheiten durch Entrichten von Steuern und dem Erbringen von Dienstleistungen, unterstützen. Dabei führte die individuelle oder familiäre Nähe zum Landesfürsten zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Position (Beller, 2007). Es herrschten klare Hierarchien und die Ständegesellschaft entwickelte sich bis ins 20. Jahrhundert fort.
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Themenbereich 7: Verfreundete Nachbarn
Beispiel 23: Die Tagung Situation Frau Dr. Sendtner-Vollendorff ist seit etwas über einem Jahr als Ärztin in einer leitenden Position an der Wiener Uniklinik tätig. Daher erhält sie eine Einladung zur jährlichen Tagung der österreichischen Ärztegesellschaft. Ein Tagesordnungspunkt ist die »Zukunft des österreichischen Arztes«, der während der Tagung diskutiert werden soll. Als sich einige Kollegen äußern und meinen, dass die größte Bedrohung die ausländischen, insbesondere die deutschen Fachärzte wären, die nach Österreich kommen, fühlt sich Frau Dr. SendtnerVollendorff angegriffen. Sie entgegnet, so hoch sei die Anzahl der ausländischen respektive der deutschen Ärzte in Österreich gar nicht und sie verstände nicht, wieso das eine Bedrohung sein sollte. Wenn jemand besser qualifiziert sei, spornte das doch an, sich selbst weiter zu qualifizieren. Sie stellt außerdem noch die Frage, ob das möglicherweise ein Angriff gegen sie persönlich sei, aber niemand geht auf diese Frage ein. Frau Dr. Sendtner-Vollendorff kann die Bemerkung ihrer Kollegen nicht verstehen, weil das, was sie zum Thema beitragen, aus ihrer Sicht überhaupt keinen Sinn ergibt. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 141 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) Da über die Zukunft des österreichischen Arztes diskutiert wird, wird alles, was mit dieser Thematik zusammenhängt, angesprochen – ohne auf die Herkunft von Frau Dr. SendtnerVollendorff direkt Bezug zu nehmen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Die Kollegen nutzen die Gelegenheit, ihren Frust darüber, dass Frau Dr. Sendtner-Vollendorff ihnen die leitende Position weggeschnappt hat, loszuwerden. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die österreichische Ärzteschaft ist, wie in vielen Ländern, eher konservativ eingestellt und dazu noch sehr nationalistisch. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Frau Dr. Sendtner-Vollendorff fühlt sich zu Unrecht angegriffen, weil die Diskutanten nur ein allgemein in Österreich weit verbreitetes Vorurteil gegenüber Deutschen thematisieren.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen. Bedeutungen Erläuterung zu a): Die deutsch-österreichische »Fehde« geht weit zurück. Seit der Öffnung der österreichischen Universitäten für Studenten aus in 142 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutschland zulassungsbeschränkten Fächern wie beispielsweise der Medizin und der riesigen Menge an deutschen »NC-Flüchtlingen« keimt immer wieder die Diskussion auf, dass gerade die Deutschen den Österreichern die Studienplätze wegnehmen, um danach wieder abzuwandern oder später sogar noch die attraktiven Arbeitsplätze in Österreich zu besetzen. Da sich Österreicher oft in Konkurrenz zu Deutschen sehen und in den eigenen Augen bei Leistungsvergleichen zu oft nicht so gut abschneiden, wird diese Ablehnung auch öffentlich geäußert. Viele Österreicher haben ein klares Stereotyp des »Deutschen« vor Augen, während die meisten Deutschen vor einer Übersiedlung nach Österreich wenig über Österreich, das Land und seine Bewohner wissen, was über die Vorstellung, dass Österreich ein traditionelles Touristenland mit Alpen und Volksmusikgaudi ist, hinausgeht. Die Art und die Differenzierungen sowie die Stereotypisierungen der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Österreichern und Deutschen sind sehr unterschiedlich und führen zu Missverständnissen, wie sie hier thematisiert werden. Erläuterung zu b): Möglicherweise wollen es die Kollegen auch Frau Dr. SendtnerVollendorff zeigen, aber solche Äußerungen finden auch unbedacht statt und dies wiederholt. Das deutsch-österreichische Verhältnis wird immer wieder bei passenden, oft auch bei unpassenden Gelegenheiten angesprochen. Man muss sich das dann anhören, ob man will oder nicht. Dies ist oft sehr ermüdend, weil sich vieles immer wiederholt. Das hat mit der Abgrenzung Österreichs zu Deutschland zu tun, aber auch damit, dass Deutschland als Bezugspunkt für alle möglichen Vergleiche herangezogen wird. Auch wenn einige Vergleiche aus Sicht der Österreicher zu ihren Gunsten ausfallen, bleiben Argwohn und Unsicherheit, dass andere es vielleicht doch ganz anders sehen könnten. Feindseligkeiten gegenüber Deutschen können immer und zu jeder Gelegenheit öffentlich geäußert werden, da man Deutsche als überheblich und arrogant empfindet und mit jeder Art von Kritik bei seinen österreichischen Landsleuten auf Zustimmung stößt. Die persönliche Konkurrenz gegenüber Frau Dr. SendtnerVollendorff reicht nicht aus, um die Situation zu erklären. 143 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Erläuterung zu c): Mit dem Tagungsthema »Die Zukunft des österreichischen Arztes« ist die nationale Thematik direkt angesprochen. Die Kollegen äußern sich also direkt dazu, obwohl sie mit der angeblichen Bedrohung der österreichischen Ärzteschaft durch deutsche Fachärzte, die sich in Österreich niederlassen, ein gängiges Vorurteil bedienen, das, wie Frau Sendtner-Vollendorff zu Recht bemerkt, auf fehlerhaften Daten und deren Interpretation beruht. Auch ihr Hinweis darauf, dass Konkurrenz motivierende und qualifizierende Konsequenzen nach sich ziehen könnte, gehört in die Tagungsthematik. All dies hat also im Kern nichts mit übertrieben konservativem Denken zu tun. Erläuterungen zu d): Frau Dr. Sendtner-Vollendorff ist irritiert, weil all das, was ihre Kollegen auf dieser wissenschaftlichen und berufsständigen Tagung über die Bedrohung der österreichischen Ärzteschaft durch ausländische Fachärzte, besonders solche aus Deutschland, vortragen, aus ihrer Sicht überhaupt keinen Sinn ergibt. Die hier thematisierte Deutung wird auch nicht viel zu einem besseren Verständnis beitragen, denn die Wiederholung eines weit verbreiteten Vorurteils dient ja nicht der Klärung der Zukunft des österreichischen Ärztestandes. Lösungsstrategie Die Tatsache, dass Frau Dr. Sendtner-Vollendorff zu der jährlichen Tagung der österreichischen Ärztegesellschaft eingeladen wurde und sich aktiv an der Diskussion beteiligt, zeigt, wie gut sie ins Ärztekollegium integriert ist. Die womöglich etwas voreiligen und vorurteilsbehafteten Bemerkungen einiger Kollegen über die Gefahren, die von der zunehmenden Zahl ausländischer, besonders deutscher Fachärzte für die Zukunft der österreichischen Ärzteschaft ausgehen, hat Frau Dr. SendtnerVollendorff souverän pariert, indem sie die angeblich hohen Niederlassungszahlen ausländischer Ärzte infrage stellt und betont, dass auch hier wie überall Wettbewerb eine Chance zur Qualitätssteigerung beinhalten kann. Damit ist die Bühne frei für eine lebhafte Diskussion über die »Zukunft des österreichi144 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
schen Arztes« unter den Bedingungen der in Europa möglichen Niederlassungsfreiheit für Berufstätige. Die Bemerkungen der Kollegen sind vermutlich überhaupt nicht als persönlich gemeinter Angriff auf Frau Dr. Sendtner-Vollendorff als deutsche Fachärztin zu verstehen, sondern lediglich als Ausdruck dessen, was viele Österreicher empfinden, nämlich dass Ausländer – speziell Deutsche – Österreich und seine Bewohner nur zum eigenen Vorteil ausnutzen. Frau Dr. Sendtner-Vollendorff ist gut beraten, wenn sie das thematisierte Bedrohungsszenarium durch den Zuzug deutscher Fachärzte nach Österreich weiter kritisch betrachtet, durch fachlich-sachliche Nachfragen die Begründungen für dieses Vorurteil im Detail auf Stichhaltigkeit prüft und sonst die Sticheleien gegen die als arrogant, überheblich und besserwisserisch auftretenden Deutschen nicht so ernst nimmt. Ein wirtschaftlich, technisch, wissenschaftlich und politisch so mächtiger Nachbar wie Deutschland kann für ein kleineres, in der Vergangenheit einmal politisch bedeutsames Land in Europa sehr schnell zu einer Bedrohung werden. Dies trifft besonders dann zu, wenn die Bevölkerung auch noch dieselbe Sprache des dominierenden Nachbarn spricht und kulturhistorisch betrachtet immer schon enge Beziehungen zwischen beiden Ländern bestanden haben bzw. auch heute noch bestehen. Frau Dr. Sendtner-Vollendorff muss lernen, daraus resultierende Ressentiments und Kritik bis hin zur Schadenfreude, wenn es in Deutschland einmal nicht so läuft wie gewünscht, hinzunehmen, ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen. Sie könnte versuchen, ihren österreichischen Kollegen den Blick zu weiten dafür, dass es in Europa und in der Welt auch noch andere Maßstäbe gibt, die nicht auf Deutschland bezogen sind und die sich für Österreicher, wenn es um Leistungs-, Machtund Einflussvergleiche geht, besser eignen.
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Beispiel 24: Die Fußballfehde Situation Herr Kruse ist seit einem Jahr in Österreich als Architekt tätig. So fußballinteressiert ist er zwar nicht, stimmt aber zu, sich mit einigen österreichischen Bekannten zum Fernsehen in einer Kneipe zu treffen, um sich ein Fußballspiel anzusehen. An diesem Tag haben sowohl Österreich als auch Deutschland ein Qualifikationsspiel für die Europameisterschaft. In der Kneipe herrscht eine fröhliche und ausgelassene Stimmung, bis das Spiel startet. Herr Kruse ist verwundert, dass parallel an zwei verschiedenen Bildschirmen sowohl das österreichische als auch das deutsche Spiel gezeigt werden, da er sich sicher ist, dass in Deutschland nur das deutsche Spiel gezeigt würde. Beim Spiel der österreichischen Mannschaft geht das Spiel unentschieden aus, was von den Kneipenbesuchern einfach hingenommen wird. Aber die gesamte Kneipe bricht in Jubel aus, als die deutsche Mannschaft ein Tor kassiert und letztendlich das Spiel verliert. Die Freude darüber scheint so groß, als ob Österreich gewonnen hätte. Herr Kruse muss sich ständig Witzeleien über »seine« Verlierermannschaft anhören, nimmt dies jedoch nicht sonderlich ernst. Er hatte ja seinen Bekannten schon vorher deutlich gemacht, dass er nicht besonders fußballinteressiert ist. Als aber sogar die Sprecherin in den Nachrichten erwähnt, dass Österreich zwar unentschieden gespielt, aber als »Schmankerl« Deutschland verloren habe, ist Herr Kruse doch sehr verwundert. Die nächste Zeit muss er sich ständig Witze über die Niederlage seiner Mannschaft und über Deutsche anhören. Er kann nicht verstehen, warum das für die Österreicher so wichtig ist, dass sie die Niederlage der deutschen Mannschaft sogar in den Nachrichten erwähnen wird. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 146 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Deutungen a) In der Kneipe hat sich in Windeseile herumgesprochen, dass ein Zuschauer aus Deutschland, Herr Kruse, anwesend ist, und damit steigt die antideutsche Stimmung automatisch an. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Österreicher freuen sich immer, wenn jemand in einem Wettbewerb verliert, da sie selbst stark misserfolgsorientiert sind. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Schadenfreude über deutsche Niederlagen im Fußball sind sozial anerkannt und ein Ventil, dem Konkurrenzgefühl Ausdruck zu verleihen. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Fußball spielt in Österreich eine so wichtige Rolle, dass sogar der Spielstand der Nachbarländer immer in den Nachrichten kommuniziert wird. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Bei so wichtigen Fußballspielen wie den hier geschilderten Qualifikationsspielen für die Europameisterschaft wird sich in einer 147 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
vollbesetzten Kneipe nicht so schnell herumsprechen, dass ein Zuschauer aus Deutschland anwesend ist. Daraus wird auch nicht automatisch eine spannungsgeladene Stimmung folgen, selbst nicht in Österreich. Erläuterung zu b): Die motivationspsychologische Forschung hat belegt, dass es Menschen gibt die sich in leistungsorientierten Situationen eher erfolgsmotiviert zeigen, also fest davon überzeugt sind, dass sie eine respektable Leistung erbringen werden, und andere eher misserfolgsmotiviert sind, also mit erheblichen Bedenken bezüglich ihrer eigenen Leistungsfähigkeit an Aufgaben herangehen. Was für einzelne Individuen zutrifft, gilt sicherlich auch für Gruppen, wenn sich dort viele einflussnehmende Personen finden, die eher misserfolgsmotiviert sind. Es ist aber höchst spekulativ, diese Ergebnisse auf das kollektive Bewusstsein einer ganzen Nation zu übertragen und als Erklärung für die hier dargestellten Irritationen von Herrn Kruse zu nutzen. Erläuterung zu c): Hier spielt tatsächlich Schadenfreude eine große Rolle. 1978 siegte die österreichische Fußballmannschaft das letzte Mal über die deutsche – dieses Gefühl möchten viele Österreicher wieder erleben! Die österreichische Mannschaft ist zwar nicht besonders erfolgreich, aber auf die Spiele mit Deutschland wird besonders geschaut. Zu solchen Zeiten ist das deutsch-österreichische Verhältnis noch mehr Thema als sonst. Viele Anhänger halten auch bei Spielen, bei denen Österreich nicht beteiligt ist, traditionell zu der Mannschaft, die gegen Deutschland spielt. Es gibt sogar ein überaus beliebtes Theaterstück mit dem Titel »Cordoba«, das speziell die deutsch-österreichischen Beziehungen thematisiert und auf humorvolle Weise behandelt. Eine deutsche Niederlage wird immer wie ein österreichischer Sieg gefeiert. So sonderbar manchem Deutschen dieses Verhalten der Österreicher auch erscheinen mag, es erklärt die Situation zutreffend. Erläuterung zu d): Fußball spielt – da die österreichische Mannschaft auch nicht unbedingt herausragend erfolgreich ist – eigentlich nicht so eine 148 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
große Rolle, es sei denn in Bezug auf Deutschland. Andere Nationalmannschaften werden nicht derart in den Vordergrund gestellt wie die deutsche. Da die deutschsprachigen Medien oft deutschlandbezogen sind, bekommt Österreich auch mehr von Deutschland mit als umgekehrt.
Lösungsstrategie Deutsche Staatsbürger werden in Deutschland nie als Deutsche, sondern allenfalls als Rheinländer, Sachsen oder Franken bzw. als Kölner, Hamburger oder Berliner wahrgenommen. Siedeln sie dann nach Österreich über, also in ein Land, in dem ihre Heimatsprache gesprochen wird und auf den ersten Blick vieles genau so oder ähnlich ist, wie sie es von zu Hause gewohnt sind, sind sie oft irritiert, dass Österreicher sie speziell als Deutsche ansprechen, selbst bei so »nebensächlichen« Ereignissen wie irgendeinem internationalen Fußballspiel. Herr Kruse wundert sich, dass in der Kneipe ein österreichisches und ein deutsches Qualifikationsspiel auf zwei Monitoren gleichzeitig gezeigt wird und die österreichischen Zuschauer in Begeisterungsstürme ausbrechen, als die Deutschen verlieren, und das von der österreichischen Mannschaft erzielte Unentschieden allenfalls nebenbei zur Kenntnis nehmen. Er wundert sich auch über die Witze seitens seiner österreichischen Bekannten, dass »seine« Mannschaft verloren hat. Er selbst ist nicht fußballbegeistert, sondern hält Sport überhaupt für eine relativ unbedeutende Nebensache. Eine Identifikation mit einer Fußballmannschaft ist ihm völlig fremd. Er weiß zwar auch, dass solche Witzeleien und die Schadenfreude darüber, dass eine nicht allzu beliebte Fußballmannschaft verloren hat, die Stimmung in einer Kneipe und am Stammtisch aufheizt. Dass aber eine Nachrichtensprecherin im Fernsehen quasi als Repräsentant der öffentlichen Meinung ins gleiche Horn bläst und die Niederlage der deutschen Mannschaft in einer Nachrichtensendung als »Schmankerl« bezeichnet, kann er nun wirklich nicht nachvollziehen. In Österreich muss sich Herr Kruse, was Themen, die einen Vergleich, meist einen Leistungs- und Ansehensvergleich, zwi149 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
schen Österreich und Deutschland betreffen, ein dickes Fell zulegen und alles an Humor aktivieren, was in ihm steckt. Entweder er bringt schon genügend Kreativität für humorvoll wirkende Reaktionen mit oder er muss trainieren, nie beleidigt, sondern immer wohlwollend, verständnisvoll und freundschaftlich zu reagieren. Deutsche gelten, besonders in Österreich, als humorlos, ernst, sachlich und rational-analytisch denkend und handelnd. Wenn Herr Kruse auf die Witzeleien und die Schadenfreude seiner Kollegen beleidigt und aggressiv reagiert, entspricht er dem deutschen Stereotyp und bedient und verstärkt alle schon vorhandenen Vorurteile. Eine Reaktion wie »Die Deutschen haben extra so schlecht gespielt, um beim nächsten Länderspiel allen zu zeigen, was sie so drauf haben!«, oder »Das schadet der Mannschaft gar nichts, jetzt wissen sie endlich, dass sie sich anstrengen müssen, zum Beispiel, wenn sie mal wieder gegen Österreich spielen wollen oder müssen!«, wäre schon passend – vorausgesetzt, es wird lächelnd und auf eine Weise vorgetragen, dass jeder merkt, dass ihm das eigentlich nicht so wichtig ist, er aber doch die Begeisterung für das Spiel teilt. Eine Detailanalyse des Spielverlaufs mit dem Ziel zu beweisen, wie gut die deutsche Mannschaft gespielt hat und eben nur kein Glück hatte, ein Tor zu erzielen, würde selbst dann, wenn sie den Tatsachen entspricht, nicht gut ankommen. Es geht den österreichischen Bekannten nämlich darum, die Freude darüber zu teilen und auszukosten, dass die immer so starken und mächtigen Deutschen nun mal unter den Österreichern stehen: Wir haben ein Unentschieden »erreicht«, die aber haben das Spiel »verloren«! Wenn Herr Kruse alles das, was sich in der Kneipe abspielt, einfach an sich abprallen lässt, auf keine Witze reagiert, sich weder freut noch ärgert und sich auch an fachsimpelnden Gesprächen nicht beteiligt, weil ihn weder Fußball noch Sieg oder Niederlage der deutschen Mannschaft interessieren und er sich auch nicht als Deutscher ansprechen lassen will, wird er als Miesepeter abgehakt. Bei der nächsten Gelegenheit wird Herr Kruse nicht mehr mitgenommen – mit der Konsequenz, dass er zumindest in diese Gruppe nicht integriert wird und Chancen zur Netzwerkbildung vergibt (siehe Themenbereich 6: Netzwerkmanagement). 150 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Beispiel 25: Das Stammhaus Situation Frau Koch arbeitet seit drei Monaten bei einer großen deutschen Firma in Österreich,die eng mit dem deutschen Stammhaus verbunden ist. Sie fühlt sich recht wohl, da alle Kollegen freundlich sind, und stößt hier auch auf wenig Unterschiede zum deutschen Stammhaus, in dem sie vorher gearbeitet hat. Nun bekommt Frau Koch ein Projekt zugeteilt, das sie zusammen mit zwei österreichischen Kollegen bearbeiten soll und macht sich sogleich an die Arbeit. Die Vorgaben für dieses Projekt entsprechen denen, die sie aus ihrem deutschen Stammhaus kennt, weswegen sie sich genau an diese hält. Sie merkt aber nach kurzer Zeit, dass ihre beiden österreichischen Kollegen diese Vorgaben scheinbar bewusst unterlaufen. Noch erstaunter ist sie, dass beide sich übermäßig freuen, dass das deutsche Stammhaus sie bezüglich des Projektablaufs gewähren lässt. Frau Koch versteht das Verhalten ihrer Kollegen nicht und spricht diese darauf an. Ihre Kollegin Frau Rettenbacher ergreift das Wort und erklärt ihr, dass sie sich in der Vergangenheit oft vom deutschen Stammhaus überrollt gefühlt haben und ihnen besonders das Arbeitstempo und die strategischen Vorgehensweisen nicht liegen. Frau Koch ist erstaunt und kann sich das nicht erklären, denn ihrer Meinung nach ist doch bei Einhaltung der Stammhausvorgaben die Projektabwicklung einfacher und unkomplizierter. Wie lässt sich diese Situation erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.
Deutungen a) Die österreichischen Kollegen von Frau Koch haben zwar bisher schon im Tochterunternehmen gearbeitet, aber immer 151 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
noch nicht richtig verstanden, wie die Zusammenarbeit zwischen Stammhaus und Tochterunternehmen funktioniert. Dieses Wissensdefizit ist bisher nur niemandem aufgefallen.
sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
b) Was aus Deutschland kommt, wird kategorisch abgelehnt, selbst dann, wenn man in einer österreichischen Niederlassung arbeitet. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
c) Die Kolleginnen versuchen nur ihr unqualifiziertes Verhalten zu rechtfertigen und erfinden Begründungen dafür. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
d) Frau Koch wird das Projekt zugeteilt, weil das Stammhaus hofft, dass sie in der Lage ist, die österreichischen Kolleginnen so auf Vordermann zu bringen, dass sie in der Lage sind und im weiteren Verlauf lernen, den unumgänglichen Vorgaben strikt Folge zu leisten, was bisher nie der Fall war. sehr zutreffend
eher zutreffend
eher nicht zutreffend
nicht zutreffend
– Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie Ihre Überlegungen stichpunktartig fest. – Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.
Bedeutungen Erläuterung zu a): Diese Deutung kann dann zutreffen, wenn die österreichischen Kolleginnen bislang mit Projekten befasst waren, die keine große 152 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Genauigkeit und systematische Arbeitsweise nach den Vorgaben des Stammhauses erforderten. Man war im Stammhaus vielleicht zufrieden, zwei fachlich qualifizierte Mitarbeiterinnen im österreichischen Tochterunternehmen zu haben, und ließ ihnen mehr oder weniger freie Hand. So frei konnten sie aber nicht arbeiten, denn sie erklärten Frau Koch, dass sie sich vom Stammhaus überrollt fühlten und ihnen das erwartete Arbeitstempo und die festgelegten Vorgehensweisen bei der Projektentwicklung nicht zusagten. Erläuterung zu b): Deutsche Produkte oder Unternehmen werden in Österreich zwar nicht per se abgelehnt, aber durchaus mit viel Skepsis betrachtet. Das Verhältnis zu Deutschland und seinen wirtschaftlichen und industriell-technischen Leistungen, aber auch seiner kulturellen Entwicklung ist in Österreich sehr ambivalent und die Einstellungen schwanken zwischen Bewunderung und Ablehnung. Daher sind die Kolleginnen bestrebt, sich nicht einfach so den Vorgaben des Stammhauses zu beugen, sondern testen ihre Grenzen aus. Lässt man sie gewähren, freuen sie sich daran, dass doch nicht alles so perfekt läuft, wie »die Deutschen« das gern hätten. Außerdem haben sie den Eindruck, dass das deutsche Stammhaus gar nicht erst versucht, sie so arbeiten zu lassen, wie das in einer österreichischen Niederlassung sinnvoll wäre, sondern ihnen ihre Vorgehensweise aufzwingt – auch wenn das unter den gegebenen Bedingungen nicht effizient ist. Deshalb glauben sie, dagegen argumentieren zu müssen, obwohl es aus der Sicht von Frau Koch fachlich angemessener und klüger wäre, den deutschen Vorgaben Folge zu leisten. Erläuterung zu c): Möglicherweise ist es ein Vorwand, um das eigene Verhalten zu rechtfertigen, doch werden gerade solche Argumente vergleichsweise häufig angeführt. Das Spannungsverhältnis zwischen Österreich und Deutschland findet man auf vielen Ebenen, es wird oft humorvoll, manchmal auch direkt oder indirekt feindselig, thematisiert. Diese Deutung hat schon etwas für sich, erklärt aber die Gesamtsituation nur unzureichend. 153 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Erläuterung zu d): Nach dieser Deutung kommt Frau Koch einer Art Kontrollfunktion zu, da die bisherigen Arbeitsleistungen ihrer österreichischen Kolleginnen im Stammhaus als nicht zufriedenstellend bewertet wurden. Demnach wird sie mit dem Projekt vertraut, das in Kooperation mit den österreichischen Kolleginnen abgewickelt werden soll, mit dem Ziel, ihnen zu zeigen wie sie den Stammhausvorgaben entsprechend zu arbeiten haben. Wenn dies zutreffen würde, hätten die Stammhaus-Vorgesetzten dies Frau Koch explizit mit auf den Weg gegeben und nicht nur gehofft, dass sich dieser Effekt einfach so aus der Zusammenarbeit ergibt und sich quasi nebenher einstellt. Bezüglich einer solchen Anweisung an Frau Koch ist aber der Situationsschilderung nichts zu entnehmen.
Lösungsstrategie Frau Koch hat es hier mit zwei Problemen zu tun. Einmal wird das leidige Thema der schwierigen Zusammenarbeit zwischen Stammhaus und Tochterunternehmen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit relevant und zum anderen gibt es grundsätzliche Vorbehalte gegenüber Arbeitsvorgaben aus dem deutschen Stammhaus. Stammhausführungskräfte haben meist wenig oder gar keine Kenntnisse über das, was in einem Tochterunternehmen, das in einem anderen Kulturkreis angesiedelt ist, anders läuft. Sie kennen auch die besonderen Arbeitsablaufprozesse nicht und wie unter den veränderten kulturellen Bedingungen Projekte abgewickelt werden können. Stammhausführungskräfte nehmen aber oft für sich in Anspruch, zu wissen, was richtig und effizient ist, nach dem Motto: Was bei uns im Unternehmen, im Stammhaus funktioniert, muss auch anderswo gut funktionieren, wenn man sich nur Mühe gibt. Wenn dann kulturspezifisch bedingte Hindernisse im Arbeitsablaufprozess auftauchen und zur Überwindung Modifikationen der Vorgaben erforderlich werden, wird meist über die mangelhafte Durchsetzungsfähigkeit und Führungskompetenz der Mitarbeiter im Tochterunternehmen geklagt, anstatt dass man kul154 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
turadäquaten Anpassungen der Vorgaben zustimmt. So fühlen sich Mitarbeiter in Tochterunternehmen oft ungerechtfertigt kritisiert, zur Anwendung unpassender standardisierter Arbeitsvorgaben gezwungen und somit dominiert. Frau Koch geht wohl auch davon aus, dass im österreichischen Tochterunternehmen die im deutschen Stammhaus bewährten Vorgaben eins zu eins angewandt werden können. Da sie aber erst seit drei Monaten in Österreich tätig ist, sollte sie das, was ihr Frau Rettenbacher über ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem deutschen Stammhaus berichtet ernst nehmen, gut zuhören, weiter nachfragen und detailliert erkunden, was die Gründe für den geäußerten Unmut sind. Sie könnte dann erfahren, was davon sachlich gerechtfertigt ist, welche Vorgänge sich aus den grundsätzlichen Machtasymmetrien zwischen Stammhausmitarbeitern und Mitarbeitern in Tochterunternehmen ergeben und was davon den ambivalenten deutsch-österreichischen Beziehungsverhältnissen geschuldet ist. Vielleicht müsste Frau Koch auf den Grundlagen der so gewonnenen Informationen versuchen, die betrieblichen Vorgaben den österreichischen Verhältnissen anzupassen, sie im Stammhaus für jede Projektabwicklung in Österreich durchzusetzen und diese Änderungen ihren österreichischen Kolleginnen als ein gemeinsam erarbeitetes Ergebnis präsentieren. Hinzukommen müssten Erklärungen, welche positiven Wirkungen davon für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Stammhaus und Tochterunternehmen zu erwarten sind. Auf diese Weise würde sie ein außerordentlich motivierendes und kooperatives Gruppen- und Arbeitsklima schaffen.
Kulturelle Verankerung von »Verfreundete Nachbarn« Die Bezeichnung »Verfreundete Nachbarn« für diesen Kulturstandard ist dem gleichnamigen Titel einer 2005 im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn veranstalteten Ausstellung zu den Beziehungen zwischen Deutschland und 155 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Österreich entnommen und trifft tatsächlich genau den Kern dieses sehr ambivalenten Beziehungsverhältnisses. Während Deutschland als das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich potenteste Land in Europa gilt und als Mitglied der Europäischen Union und der NATO ein eigenes Selbstbewusstsein, wenn auch mit der Kriegsschuld des Zweiten Weltkriegs behaftet, aufgebaut hat, definiert sich Österreich oft, für viele zu oft, über den realen oder konstruierten Unterschied zu Deutschland. Deutsche, besonders die bayerische Bevölkerung, empfinden Österreich oft nicht nur als Teil des deutschen Sprachraums und als ein beliebtes Urlaubs- und Touristenland, sondern als ein eigentlich zu Deutschland gehörendes Bundesland, obwohl jeder weiß, dass Österreich seit 1945 eine eigenständige Nation ist. Beide Länder haben viele kulturelle und politische Gemeinsamkeiten, die auf eine über mehrere Jahrhunderte bestehende Verbindung zurückgehen und durch die gemeinsame Sprache gefestigt sind. Beide Länder sind vom Trauma der NS-Zeit, dem Verlauf und den Folgen des Zweiten Weltkriegs sowie der Nachkriegszeit, in der sich Deutschland und Österreich in Europa politisch neu zu formieren hatten, geprägt. Die gemeinsame tragische und leidvolle Geschichte, besonders nach dem Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich unter Adolf Hitler, hat nach 1945 zu einer Abgrenzung voneinander geführt, was sich für die Österreicher in ihrem Neutralitätsstatus dokumentierte. Diese Abgrenzung von Deutschland war im Nachkriegsösterreich eine Frage des nationalen Überlebens und ein Kernstück der politischen Selbstbehauptung und der kulturellen Selbstvergewisserung. Das deutsch-österreichische Verhältnis wird durch die gemeinsame Geschichte wechselseitig als stark ambivalent empfunden und schwankt zwischen Gemeinsamkeit und Differenzerfahrung, zwischen starken Verwandtschaftsgefühlen und heftigen Abgrenzungsbedürfnissen. Aufgrund der gemeinsamen Sprache und der gemeinsamen bzw. eng verbundenen Geschichte beider Länder existieren immer schon und bestehen auch noch heute viele Gemeinsamkeiten in kultureller, politischer, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, wobei aus österreichischer Sicht Deutschland meist den Maßstab setzt, mit dem sich Österreich dann vergleicht. Viele dieser immer wieder thematisierten 156 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Leistungsvergleiche sind Deutschen gar nicht bewusst, da sie in Deutschland keine Bedeutung haben. In Österreich dagegen werden viele Statistiken im Hinblick auf vergleichbare deutsche Ergebnisse bewertet und es wird dann mit großer Freude zur Kenntnis genommen, wenn Österreich einmal besser abschneidet (vgl. Grohmann, 2006). Die ambivalenten Beziehungen zeigen sich heute zum Beispiel sehr deutlich beim Tourismus. Viele Österreicher leben vom deutschen Tourismus, zugleich aber verstärkt der Tourismus das Stereotyp vom »hässlichen Deutschen« und eine entsprechende Abneigung. Immer mehr deutsche Studierende besuchen Universitäten und Hochschulen in Österreich, weil sie dort ein gutes Ausbildungsniveau vorfinden. Viele Fachärzte, Fachkräfte und Vertreter akademischer Berufe lassen sich in Österreich nieder, weil es ihnen dort gefällt, die Verdienstmöglichkeiten gut sind und ihnen die zu erreichende Lebensqualität zusagt. Einerseits wird diese Entwicklung gern gesehen, weil Österreich attraktiv für Deutsche ist und viel zu bieten hat, andererseits wächst die Angst vor Überfremdung durch Deutsche und Ausländer generell, weil sie Österreichern Studien- und Arbeitsplätze wegnehmen könnten (vgl. Mappes-Niediek, 2004). Akademiker, Fachund Führungskräfte aus Deutschland werden auch als Konkurrenten angesehen, weil viele glauben, deren Leistungsniveau nicht gewachsen zu sein. Historisch betrachtet spielt die Abgrenzung und die Suche nach dem geeigneten Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland eine entscheidende Rolle für das Selbstverständnis der Österreicher. Österreich war Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des Deutschen Bundes, aber nicht Teil des Norddeutschen Bundes, des Bismarckreiches oder der Weimarer Republik und wurde schließlich erst durch den »Anschluss« wieder zugehörig zum »Deutschen Reich«. Die anschließende Abgrenzung Österreichs von Deutschland nach 1945 wurde einerseits von Seiten der Alliierten gefordert, hatte aber andererseits auch geschichtliche Wurzeln. Die Unabhängigkeitserklärung Österreichs vom 27. April 1945 diente einerseits dazu, Österreich in die Reihe der durch das Hitler-Regime besetzten und unterdrückten Länder zu stellen, und definierte andererseits 157 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
eine »nichtdeutsche Identität«, die die gesamte weitere Politik Österreichs gegenüber Deutschland und Europa beeinflusste und immer noch beeinflusst (vgl. Pelinka, 1995). Historiker sehen eine Ursache für das schwierige Nähe-Distanz-Verhältnis auch in der Ära des Nationalstaates begründet, die eine mittlere Position des Sowohl-als-auch ausschloss, da man gemäß des Nationalstaatenkonzepts entweder dazu gehörte, mitsamt der Identität und Loyalität, oder als Gegner betrachtet wurde. Österreich befand sich in der Zeit der Nationenfindung zwischen diesen Haltungen und galt als unentschlossen, was seine »Identität« betraf. Erst 1945 nach der Ablösung von Deutschland konnte eine eigene, nationalstaatliche Identität auf- und ausgebaut werden, die jedoch immer noch das Erbe des supranationalen, multinationalen Vielvölkerreiches mitträgt. Viele weisen darauf hin, dass die Identität Österreichs nur unter der Berücksichtigung des geographischen und historischen Umfeldes in Mittel- und Zentraleuropa zu begreifen ist, die durch Heterogenität und Pluralität geprägt war, wozu natürlich auch das heutige Deutschland gehört. Befragungen aus jüngster Zeit zeigen, dass 70 % der österreichischen Befragten Deutschland als besonders bedeutsam für die Pflege guter Beziehungen nennen, 75 % bereits in Deutschland waren und 66 % die Deutschen hinsichtlich ihrer Mentalität den Österreichern am ähnlichsten einschätzen (vgl. Grohmann, 2006). Die zu beobachtenden Wanderbewegungen der Eliten aus beiden Ländern, besonders aus Deutschland nach Österreich, werden in Zukunft vermutlich erheblich dazu beitragen, das Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland neu zu definieren – und das in einem Kontext eines gesamteuropäischen Einigungsprozesses.
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Kurze Zusammenfassung der Kulturstandards
Personenbezug – – – –
freundlicher Grundton in sozialen Begegnungen Beziehungsebene wichtiger als Sachebene informeller Informationsaustausch Diffusion zwischen Person und Sache
Indirekte Kommunikation – – – – – –
impliziter Kommunikationsstil Neigung zum »Bonmot« (geistreiche Redewendungen) Wechsel der Sprachebenen indirektes Äußern von Kritik Humor als Mittel der indirekten Kommunikation Höflichkeit
Harmoniestreben und Konfliktvermeidung – – – – –
kein direktes Ansprechen und Austragung von Konflikten indirekte Äußerung von Kritik Bevorzugung positiver statt negativer Äußerungen Einhalten der Etikette diplomatisches Verhalten im Alltag 159 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Titelorientierung – Titel eröffnen Chancen – Titel strukturieren soziale Beziehungen – Neigung zum Senioritätsprinzip
Regelrelativierung – Nachsicht bei Regelverletzungen – flexibler Umgang mit Regeln – Beachtung kontextueller Bedingungen bei der Anwendung von Regeln – flexibler Umgang mit Zeit
Netzwerkmanagement – – – –
Personenbezug führt zu engen Netzwerken Zwang zum Netzwerkmanagement Zugang zu Netzwerken durch Beziehungen, Status und Titel Einsatz von Netzwerken zur Zielerreichung
Verfreundete Nachbarn – – – –
Deutschland als Referenznation ambivalente Beziehungen gegenüber Deutschland Konkurrenzempfinden gegenüber Deutschland Identitätsfindung in Abgrenzung zu Deutschland
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Literatur
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dete Nachbarn. Deutschland Österreich (S. 12–17). Bielefeld: Kerber. Pelinka, A. (1995). Österreich ist nicht gleich Österreich ist nicht gleich . . . In S. Breuss, K. Liebhart, A. Pribrsky (Hrsg.), Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich (S. 7–11). Wien: Sonderzahl. Plasser, F., Ulram, P. A. (2002). Das österreichische Politikverständnis. Von der Konsens- zur Konfliktkultur? Wien: Universitätsverlag. Schroll-Machl, S. (2007). Die Deutschen, wir Deutsche. Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Triandis, H. C. (1984). A theoretical framework for the more effective construction of culture assimilators. International Journal of intercultural relations, 8, 301–310. Thomas, A. (1996). Analyse der Handlungswirksamkeit von Kulturstandards. In A. Thomas (Hrsg.), Psychologie interkulturellen Handelns (S. 107–135). Göttingen: Hogrefe. Thomas, A. (2003). Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns. In A. Thomas (Hrsg.), Kulturvergleichende Psychologie (2. Aufl., S. 433–486). Göttingen: Hogrefe. Thomas, A. (2009). Interkulturelles Training. Gruppendynamik & Organisationsberatung, 2, 128–152. Thomas, A. (2011a). Interkulturelle Handlungskompetenz. Versiert, angemessen und erfolgreich im internationalen Geschäft. Wiesbaden: Gabler. Thomas, A. (2011b). Das Kulturstandardkonzept. In W. Dreyer, U. Hößler (Hrsg.), Perspektiven interkultureller Kompetenzen (S. 97–12). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thomas, A., Kinast, E.-M., Schroll-Machl, S. (Hrsg.) (2005). Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation, Bd. 1: Grundlagen und Praxisfelder (2. Aufl.) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
162 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Literaturempfehlungen
Mappes-Niediek,Norbert (2001).Österreich für Deutsche.Einblicke in ein fremdes Land. Berlin: Ch. Links Verlag. Der Journalist Mappes-Niediek lebt seit über neun Jahren in Österreich und hat seine Beobachtungen in einem Sachbuch zusammengefasst. Eingehend setzt er sich in seinem Buch mit dem eigenwilligen Nationalgefühl, dem politischen System, seinen gesellschaftlichen Strukturen, Wirtschaft und geschriebenen und ungeschriebenen Regeln auseinander und beschreibt diese ironisch, treffend und voller Sympathie für das Nachbarland. Maier, Martina (2007). Leben und Arbeiten in Österreich. Berlin: GD Verlag. Die Journalistin Martina Meier ist 2006 selbst nach Österreich ausgewandert und liefert in ihrem Buch praktische Tipps für den Alltag »Zugereister«: Nützliche und wertvolle Informationen zu verschiedenen Themen wie Aufenthaltsgenehmigung, Alltagsleben, Bildung, Arbeitssuche und Firmengründung, Immobilien (Miete/Kauf ), Banken/Versicherung und vieles mehr werden dabei behandelt. Nebenbei beschreibt sie auch das besondere Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern. Auch wenn das Buch 2007 erschienen ist, liefert es dennoch wertvolle Hinweise zum Zurechtfinden. Steffen, Eva (2009). Wir sind gekommen, um zu bleiben: Deutsche in Österreich. Wien: Czernin Verlag. Verschiedene Autorinnen und Autoren beschreiben in diesem Sammelband, welche Erfahrungen sie als Deutsche in Österreich zu unterschiedlichen Themengebieten gesammelt haben und wie sie diese beurteilen. Durch die Vielzahl der Autoren ergibt sich ein differenzierter und amüsanter Blick auf ein spannendes Thema. 163 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523
Stermann, Dirk (2012). Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung. Berlin: Ullstein Taschenbuch. Der Kabarettist Dirk Stermann lebt seit 1987 in Wien und hat einen Roman in mehreren Episoden verfasst, in dem er auf ganz eigene Weise seine Erfahrungen als Deutscher in Österreich einfängt. Er prägte die treffende Aussage: »Ich hatte keine Meinung zu den Österreichern. Aber womit ich nicht gerechnet hatte: Jeder Österreicher hatte eine Meinung zu den Deutschen.« Vocelka, Karl (2009). Geschichte Österreichs: Kultur, Gesellschaft, Politik. München: Heyne Verlag. Kelten, Römer, Babenberger und Habsburger, der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch der Monarchie, das Rote Wien, Austrofaschismus, der Zweite Weltkrieg und der Neubeginn nach 1945, der Fall des Eisernen Vorhangs und die veränderte Position der Alpenrepublik in einem neuen Europa: Karl Vocelka liefert eine Gesamtdarstellung der österreichischen Geschichte und lässt neueste Forschungsthesen dabei nicht aus.
164 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491522 — ISBN E-Book: 9783647491523