Beruflich in Bolivien: Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte 9783666491566, 9783525491560


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Beruflich in Bolivien: Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte
 9783666491566, 9783525491560

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Handlungskompetenz im Ausland herausgegeben von Alexander Thomas, Universität Regensburg

Vandenhoeck & Ruprecht

Mariela I. Georg Carlos Kölbl Alexander Thomas

Beruflich in Bolivien Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 7 Cartoons von Jörg Plannerer.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-49156-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, USA www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: H Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung in das Training . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Hintergrund . . . . . . . Aufbau, Ablauf und Ziele des Trainings

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. 13 . 13 . 13 . 16

Themenbereich 1: Sympathieorientierung Beispiel 1: Die Begrüßung . . . . . . . . . . . Beispiel 2: Der »colado« . . . . . . . . . . . . Beispiel 3: Die »caserita« . . . . . . . . . . . . Beispiel 4: Wann geht es mal voran? . . . . .

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. 21 . 21 . 24 . 28 . 31

Kulturelle Hintergründe zu »Sympathieorientierung« . . . . 35 Themenbereich 2: Indirekte Kommunikation Beispiel 5: Die Kündigung . . . . . . . . . . . . . Beispiel 6: Der Hausbau . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 7: Kein Geld für das Dorfprojekt . . . . Beispiel 8: Das Kirchdach . . . . . . . . . . . . .

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. 39 . 39 . 43 . 46 . 50

Kulturelle Hintergründe zu »Indirekte Kommunikation« . . 52 Themenbereich 3: Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Beispiel 9: Einfach aus- und umsteigen . . . . . . . . . . . . 57 Beispiel 10: Was willst du machen? . . . . . . . . . . . . . . . 60 Kulturelle Hintergründe zu »Flexibilität« . . . . . . . . . . . 63 Themenbereich 4: Zeitverständnis (»Hora boliviana«) Beispiel 11: Ich komme gleich an der Plaza an . . . . . . Beispiel 12: Die Einladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 13: Der Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 67 . 67 . 69 . 72

Kulturelle Hintergründe zu »Zeitverständnis (›Hora boliviana‹)« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5

Themenbereich 5: Indigenität . . . . . . . . . . . . . . . 79 Beispiel 14: Die Herzoperation . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Kulturelle Hintergründe zu »Indigenität« . . . . . . . . . . 82 Themenbereich 6: Synkretismus . . . . . Beispiel 15: Die »Virgencita« . . . . . . . . Beispiel 16: »Mesas« . . . . . . . . . . . . . Beispiel 17: »El Tío« in Potosí . . . . . . . . Beispiel 18: Auf dem Dorf . . . . . . . . . . Kulturelle Hintergründe zu »Synkretismus«

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Themenbereich 7: Hierarchieorientierung . . . . . Beispiel 19: Götter in Weiß . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel 20: Wir haben es schon immer so gemacht . . Beispiel 21: Die Beschimpfung des Kassierers . . . . . Kulturelle Hintergründe zu »Hierarchieorientierung«

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Besonderheiten im bolivianischen Alltag Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Verwaltung . . . . . . . . . . . .

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Informationen zu Bolivien . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Eine kurze Geschichte Boliviens . . . . . . . . . . . . . . . 128 Landeskundliche Fakten im Überblick . . . . . . . . . . . . 143 Kurze Zusammenfassung der kulturellen Themen und der Besonderheiten im bolivianischen Alltag . . . 150 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

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»Si se dice que Bolivia es una formación abigarrada es porque en ella no sólo se han superpuesto las épocas ecónomicas (las del uso taxonómico común) sin combinarse demasiado, como si el feudalismo perteneciera a una cultura y el capitalismo a otra y ocurrieran sin embargo en el mismo escenario o como si hubiera un país en el feudalismo y otro en el capitalismo, superpuestos y no combinados sino en poco. Tenemos, por ejemplo, un estrato, el neurálgico, que es el que proviene de la construcción de la agricultura andina o sea de la formación del espacio; tenemos de otra parte [. . .] el que resulta del epicentro potosino, que es el mayor caso de descampesinización colonial; verdaderas densidades temporales mezcladas no obstante no sólo entre sí del modo más variado, sino que también con el particularismo de cada región porque aquí cada valle es una patria, en un compuesto en el que cada pueblo viste, canta, come y produce de un modo particular y hablan lenguas y acentos diferentes sin que unos ni otros puedan llamarse por un instante la lengua universal de todos.« »Wenn man sagt, dass Bolivien ein buntscheckiges, heterogenes Gebilde ist, so deswegen, weil sich in ihm nicht allein die ökonomischen Epochen (diejenigen der üblichen Taxonomie) übereinander geschichtet haben, ohne sich allzu sehr zu vereinen – so als ob der Feudalismus zu einer und der Kapitalismus zu einer anderen Kultur gehören würde, obgleich sie sich auf derselben Bühne abspielen, oder so als ob es ein Land im Feudalismus und ein anderes im Kapitalismus gäbe, übereinander geschichtet und allenfalls in geringem Maße miteinander verbunden. Wir haben zum Beispiel eine Schicht, die neuralgische, die aus der Konstruktion der andinen Landwirtschaft stammt, also aus der Formung des Raumes; wir haben andererseits [. . .] die Schicht, die aus dem 7

Epizentrum Potosís resultiert, das den größten Fall der kolonialen ›Entbäuerlichung‹ darstellt; das sind wirkliche zeitliche Verdichtungen, die sich gleichwohl nicht nur in sich in höchst variabler Art und Weise vermischen, sondern die sich auch mit dem Partikularismus jeder Region vermischen. Denn hier ist jedes Tal ein Vaterland, in einer Zusammensetzung, in der sich jede Bevölkerung auf eine besondere Art kleidet, singt, isst und produziert und wo unterschiedliche Sprachen und Akzente gesprochen werden, ohne dass die einen oder die anderen sich für einen Augenblick für die universale Sprache aller erklären könnten.« René Zavaleta Mercado (1983, S. 17) (Übersetzung: C. K.)

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Vorwort

Bolivien übt durch seine kulturelle, klimatische und landschaftliche Vielfalt, seine oftmals dramatische und widersprüchliche Geschichte und Gegenwart eine große Faszination aus. Dieser Faszination erlag etwa im 19. Jahrhundert der französische Naturforscher Alcides d’Orbigny, der schrieb, Bolivien repräsentiere in den Grenzen einer einzelnen Nation die ganze Welt (d’Orbigny, 1844/1945). Auch Deutsche hat es immer wieder aus ganz unterschiedlichen Gründen in dieses Land gezogen. Darunter etwa Hans Ertl, der Leni Riefenstahls Kameramann gewesen war und dessen Tochter Monika mit Régis Debray die Entführung des ebenfalls in Bolivien lebenden AltNazis Klaus Barbie plante und die schließlich als Guerillera in der Nachfolge Che Guevaras getötet wurde (Schreiber, 2009). Darunter auch zahlreiche deutsche Juden, die vor der nationalsozialistischen Vernichtung geflohen waren, wie der aus Breslau stammende und erst vor wenigen Jahren verstorbene Werner Guttentag, der mit »Los amigos del libro« (»Die Freunde des Buches«) einen der einflussreichsten und ambitioniertesten bolivianischen Verlage gegründet und jahrzehntelang geleitet hat (Gurtner, 2012). Davor, daneben und danach haben sich seit den Tagen der Unabhängigkeitskämpfe zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutsche Kaufleute, Militärs, Techniker, Bierbrauer und andere Einwanderer in Bolivien dauerhaft niedergelassen oder dort zeitweise gelebt und haben auf je eigene Art und Weise das Land mitgeprägt. Aktuell – auch dies übt (so oder so) eine starke Faszination aus – steht Bolivien im Zeichen mehr oder weniger tiefgreifender, widersprüchlicher und mitunter schwer zu beurteilender gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die mit der Zurückdrängung der sogenannten 9

neoliberalen Eliten, dem Erstarken unterschiedlicher sozialer und indigener Bewegungen sowie dem Amtsantritt von Evo Morales zu tun haben. Dessen Regierung hat sich nichts weniger als die innere Entkolonialisierung sowie die Anerkennung der Plurikulturalität und -nationalität Boliviens und eine insgesamt gerechtere Sozial- und Wirtschaftsordnung, kurzum: eine »Revolution in Demokratie«, vorgenommen. Kritiker – und das sind keineswegs bloß ewig gestrige Reaktionäre – werfen der Regierung allerdings eine Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien, die Gefährdung der Pressefreiheit, Autoritarismus und Korruption vor. Bolivien ist nicht China und doch darf man erwarten, dass auch ein Training »Beruflich in Bolivien« auf Interesse und einen entsprechenden Bedarf stößt. Dass Bolivien nicht China ist, ist selbstverständlich nicht allein geographisch, sondern auch ökonomisch zutreffend. Während die großen deutschen Industrieunternehmen häufig Mitarbeiter nach Fernost entsenden und sich davon eine deutliche Erhöhung ihrer Firmengewinne versprechen, gehört das nach gängigen ökonomischen Standards gemessen sehr arme Bolivien mit Sicherheit nicht zu denjenigen Nationen, in die massenhaft Führungskräfte deutscher Wirtschaftsunternehmen geschickt werden. Dennoch gibt es solche Auslandsentsendungen auch im Falle Boliviens, zumal das Land reich an Bodenschätzen ist. In der Kolonialzeit richtete sich die Ausbeutung insbesondere auf das Silber, das man aus dem »Cerro Rico« (»Reicher Berg«) Potosís gewann, später – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein – auf das Zinn, das »Teufelsmetall«, wie einer der sozialkritischen Romane des bolivianischen Schriftstellers Augusto Céspedes betitelt ist. Heute spielen vor allem Erdgas, Eisenerz oder Lithium eine wichtige Rolle. Dem Lithium – dem »weißen Gold« – wird dabei eine große Zukunft als moderner Energiespeicher in Handys oder Notebooks vorhergesagt. Dass der Reichtum an Bodenschätzen nicht nur als Segen, sondern immer wieder auch als Fluch empfunden worden ist und bis heute zu erbitterten politischen Auseinandersetzungen führt, weiß man nicht erst seit Eduardo Galeanos (1971/1991) anklagender Schrift über die »offenen Adern Lateinamerikas« (speziell zum Lithium s. Beutler, 2011). 10

Über den erwähnten Personenkreis der in Industrieunternehmen Tätigen hinaus gibt es zahlreiche deutsche Managerinnen und Manager, Fach- und Führungskräfte gerade auch aus anderen Bereichen als der Wirtschaft, die es beruflich mit Bolivien mehr oder weniger lang zu tun haben. Zu ihnen gehören etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter politischer Stiftungen, diplomatischer Dienste, der Internationalen Zusammenarbeit, von Bildungseinrichtungen, verschiedener NGOs oder Kirchen. Ihre berufliche Tätigkeit dürfte nicht zuletzt durch die vielschichtige kulturelle, sozioökonomische und politische Realität des Landes sowie seiner facettenreichen und bekanntlich auch nicht immer leichten Beziehungen zu Europa motiviert sein. An sie alle richtet sich das vorliegende Buch, das zu den anderen Lateinamerika-Trainings der Reihe »Handlungskompetenz im Ausland« hinzutritt und sie – so hoffen wir jedenfalls – bereichert: Mexiko (Ferres, Meyer-Belitz, Röhrs u. Thomas, 2005), Brasilien (Brökelmann, Thomas, Fuchs u. Kammhuber, 2005), Argentinien (Foellbach, Rottenaicher u. Thomas, 2002), Chile (Ellenrieder u. Kammhuber, 2009) und Peru (Maurial de Menzel u. Thomas, 2012). Letzteres ist für unseren Zusammenhang besonders wichtig, weil Bolivien und Peru eine lange gemeinsame Geschichte teilen sowie vielfache geographische und gesellschaftliche Ähnlichkeiten aufweisen. Das Anliegen unseres Trainings ist es, zu einer ersten vorbereitenden Orientierungshilfe beizutragen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei gilt es, die hohe Komplexität der bolivianischen Gesellschaft und ihre »Buntscheckigkeit« – im Sinne des eingangs zitierten bolivianischen Soziologen und Politikers René Zavaleta – stets im Bewusstsein zu halten. Abschließend möchten wir uns noch herzlich bei allen Interviewpartnerinnen und -partnern bedanken, die mit ihren detaillierten Schilderungen kritischer Interaktionen die empirische Grundlage für unser Training geliefert haben. Ohne ihr Interesse für unser Vorhaben, ihr Vertrauen und die Bereitschaft, ihre spannenden Erfahrungen mitzuteilen, wäre das vorliegende Buch nicht möglich gewesen. Unser Dank gilt auch der großen Hilfsbereitschaft zahlreicher Personen vor Ort, die 11

Kontakte zu potenziellen Interviewpartnerinnen und -partnern unbürokratisch angebahnt haben. Last but not least danken wir Andrea Kreuzer (Bayreuth) für ihre wertvollen Kommentare zu einer früheren Fassung des Buches. Mariela I. Georg Carlos Kölbl Alexander Thomas

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Einführung in das Training

Einleitung In modernen Gesellschaften sind im Zuge von Prozessen der Globalisierung und Migration Begegnungen mit anderen Kulturen alltäglich geworden, nicht zuletzt im Kontext beruflicher Aufgaben. Dies bringt es mit sich, dass der – wie auch immer näher definierte – Erfolg beruflichen Handelns nicht allein von fachlichen Kenntnissen abhängt, sondern gerade auch von interkultureller Kompetenz (Kölbl u. Kreuzer, 2014). Das betrifft selbstverständlich Mitarbeiter von Organisationen, die ins Ausland entsandt werden; interkulturelle Kompetenz ist aber auch für die Daheimgebliebenen von Bedeutung, insofern als sie in internationalen Organisationen tätig sind oder medial vermittelt (beispielsweise per Telefon oder E-Mail) mit Angehörigen anderer Kulturen interagieren (müssen). Eine Grundsensibilität für die Besonderheiten einer uns zunächst einmal fremden Kultur – im vorliegenden Falle der bolivianischen – und darauf aufbauendes interkulturelles Wissen sind hilfreich, um tragfähige Beziehungen zu den Interaktionspartnern aufzubauen, mit denen man produktiv zusammenarbeiten möchte. Das vorliegende Training soll zum Verständnis einiger zentraler Besonderheiten der bolivianischen in Relation zur eigenen Kultur beitragen, so dass mögliche Konfliktfelder frühzeitig antizipiert und das eigene Verhalten darauf abgestimmt werden können.

Theoretischer Hintergrund Kultur kann aufgefasst werden als eine historisch gewordene Ganzheit aus aufeinander verweisenden kollektiv bedeutsamen 13

Regeln, Normen, Werten, Zielen, Deutungsmustern, Symbolen und Geschichten. Dabei richtet Kultur explizit und implizit das Handeln, Wollen, Fühlen und Denken derjenigen Menschen aus, die dieser Kultur angehören (Thomas, 2000; Straub, 2007). Kultur stellt mithin einen Rahmen oder ein Orientierungssystem für das Handeln und Erleben von Menschen dar und wird zugleich selbst durch das Handeln und Erleben von Menschen verändert, ist also nicht allein Struktur, sondern ebenso Prozess (Boesch, 1991). Im Übrigen ist es durchaus nicht eindeutig, wer wann und warum einer Kultur angehört oder nicht, vielmehr ist dies oftmals eine politisch und gesellschaftlich heiß umkämpfte Frage. Darüber hinaus gilt für den Begriff der Kultur – heute mehr denn je –, dass – Kulturen keine homogenen, sondern in sich differenzierte Gebilde sind, weshalb Redeweisen wie die von einer »bolivianischen« und einer »deutschen Kultur« drastische Vereinfachungen darstellen; – er auf Kollektive einer variablen Größe und variablen temporalen Dauer verweist; – Kulturen oder kulturelle Elemente nicht territorial verankert sein müssen; – er auf »hochkulturelle« genauso wie auf Phänomene der Alltagskultur beziehbar ist; – es multiple kulturelle Zugehörigkeiten gibt (s. hierzu Straub, 2007). Die Zugehörigkeit zu einer Kultur bietet in Interaktionen mit Angehörigen derselben Kultur eine gewisse Sicherheit bezüglich des eigenen Verhaltens und Erlebens und desjenigen des Interaktionspartners. Wir wissen, was in etwa erwartbar, angemessen und kulturkonform ist und was eher nicht. Zwar gibt es gewisse Spielräume, aber es gibt auch – nicht immer leicht zu identifizierende – Grenzen dessen, was in einer Kultur als akzeptabel gilt und was als sanktionsbedürftig angesehen wird. Dabei fällt uns in der Regel nicht ohne Weiteres auf, welche Normen, Regeln, kollektiv geteilten Ziele, kulturell bedeutsame Geschichten, Deutungsmuster und Verhaltensweisen wir für selbstverständlich erachten. Im Zuge der Sozialisation sind solche Normen, Regeln, Deutungsmuster und dergleichen von uns so stark internalisiert 14

worden, dass wir wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser sind, die das sie umgebende Element gar nicht erkennen (können). Im Umgang mit Angehörigen anderer Kulturen verfügen wir freilich in viel geringerem Ausmaß über die angesprochene Sicherheit im Verhalten und Erleben. Mancherlei am Verhalten des Anderen erscheint uns fremdartig, irritierend und erklärungsbedürftig, weil wir es nicht vergleichsweise problemlos an die uns verfügbaren Schemata anpassen können. Das vorliegende Training soll einen Beitrag dazu leisten, mögliche Irritationen in deutsch-bolivianischen Interaktionen im Hinblick auf das fremd- und das eigenkulturelle Orientierungssystem zu reflektieren. Die Grundlage dieses Trainingsprogramms sind Interviews mit deutschen bzw. deutsch-bolivianischen Managerinnen und Managern, Fach- und Führungskräften aus ganz unterschiedlichen Berufskontexten sowie Studierenden, die zu selbst erlebten, kritischen Interaktionssituationen mit bolivianischen Partnern vorzugsweise in ihrem Arbeits-, aber auch in ihrem privaten Umfeld befragt wurden. Mithilfe bewährter Methoden der interkulturellen Forschung (Thomas, 2000) wurden aus den Interviews zentrale kulturelle Themenbereiche herausgearbeitet. Ergänzend wurden auch Ergebnisse aus Interviews mit deutschen Studierenden, die einen längeren Bolivienaufenthalt absolviert haben, herangezogen (Georg, 2010; Ergebnisse aus dieser Arbeit fließen insgesamt immer wieder in das Buch ein). Durch Gespräche mit Experten, die mit der bolivianischen Kultur vertraut sind und Lektüren einschlägiger kulturwissenschaftlicher, insbesondere anthropologischer und historischer Literatur, sowie bolivianischer Belletristik und durch Rückgriff auf Dokumentar- sowie Spielfilme wurden kulturell angemessene Erklärungen zu den Situationen erarbeitet. Die in diesem Buch vorgestellten kritischen Interaktionssituationen beruhen allesamt auf authentischen Begegnungen, die aber sprachlich aufbereitet, zugespitzt, pseudonymisiert und verfremdet wurden, nicht zuletzt um die Anonymität der Interviewpartnerinnen und -partner zu gewährleisten. Während solcherart Trainings früher als »Culture-Assimilator« bezeichnet wurden, spricht man heute – unseres Erachtens zu Recht – lieber von »Intercultural Sensitizer« (Leenen, 2007). 15

Aufbau, Ablauf und Ziele des Trainings Das vorliegende Training kann im Selbststudium durchgearbeitet werden. Es besteht aus insgesamt 21 deutsch-bolivianischen Begegnungssituationen, die in sieben Themenbereiche zusammengefasst sind. Bei diesen idealtypischen Situationen handelt es sich um Interaktionen mit Bolivianerinnen und Bolivianern – seltener auch um Interaktionen zwischen Bolivianern –, die von deutscher Seite häufig erlebt und in ganz unterschiedlichen Hinsichten als kritisch, irritierend oder unverständlich interpretiert werden; in Ausnahmefällen kann es sich auch um Situationen handeln, die zwar nicht häufig erlebt worden sind, aber eine so hohe kulturelle Relevanz aufweisen, dass sie dennoch mit aufgenommen wurden. Jedem Themenbereich sind ein bis vier Beispielsituationen zugeordnet, die einen speziellen Aspekt bzw. ein spezielles Bündel von Aspekten eines relevanten kulturellen Themas deutlich machen sollen. Der Aufbau ist dabei stets wie folgt: Zunächst wird eine Situation vorgestellt, die für die deutschen Interaktionspartner (potenziell) irritierend ist. Daran schließt sich die Frage an die Leser an, ob sie das als kritisch empfundene bolivianische Verhalten erklären können. Hierzu werden meistens vier Antwortalternativen präsentiert, die in ihrem Erklärungswert einzuschätzen sind. Dabei können mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert haben – eine davon ist aber die, die die Situation am besten erklärt. Die Antwortalternativen werden anschließend erläutert und die Leser zur Reflexion im Hinblick auf einen sinnvollen Umgang mit solchen Situationen aufgefordert. Nach der Durcharbeitung weiterer thematisch verwandter Situationen werden die kulturellen Hintergründe des Themenbereiches deutlich gemacht. Es ist hervorzuheben, dass die einzelnen Themenbereiche aufeinander verweisen und nicht immer völlig trennscharf unterschieden werden können. Durch das skizzierte Vorgehen sollen die Leser fremdkulturelle Verhaltensweisen kennenlernen, die zu Unverständnis bzw. Missverständnissen zwischen Deutschen und Bolivianern führen können. Dabei soll es aber selbstverständlich nicht bleiben. Vielmehr soll die gedankliche Auseinandersetzung mit möglichen Erklärungen für die beschriebenen Verhaltensweisen und die an16

schließenden Erläuterungen zu den Erklärungen sowie die Ausführungen zu den kulturellen Hintergründen des jeweiligen Themenbereiches dazu beitragen, die Situationen gewissermaßen mit »bolivianischen Augen« sehen zu können. Das ist aber noch nicht alles. Mindestens genauso wichtig ist nämlich die (im Idealfall) erreichte Sensibilisierung für die kulturelle Standortgebundenheit des eigenen Verhaltens, Fühlens, Wollens und Denkens. Solch eine Sensibilisierung bedarf der Kontrastierung mit fremdkulturellen Verhaltensweisen und Deutungsmustern, um überhaupt ins Blickfeld geraten zu können. Informationen zu Besonderheiten im bolivianischen Alltag und zu Bolivien allgemein, wie eine kurze Geschichte Boliviens und eine Übersicht über landeskundliche Fakten, leiten die abschließende Zusammenfassung der kulturellen Themen ein, bevor Literaturempfehlungen das Buch abrunden. Wenn dieses Training nach und nach durchgearbeitet wird, wird es im gelingenden Fall zu einer ersten orientierenden Sensibilisierung für deutsch-bolivianische Begegnungen führen. Im Zuge der Sammlung konkreter Erfahrungen vor Ort kann kulturspezifisches Wissen weiter ausdifferenziert werden und an Komplexität gewinnen. Insbesondere wird aus dem expliziten, ein implizites Handlungswissen werden. Bevor mit der Durcharbeitung des Trainingsmaterials begonnen wird, müssen einige »Vorwarnungen« und Grenzen angesprochen werden, die teilweise schon angedeutet worden sind. Ein solcher „Beipackzettel“ mit Risiken und Nebenwirkungen erscheint uns deshalb notwendig zu sein, weil die unreflektierte Nutzung interkultureller Trainingsbausteine rasch in das Gegenteil dessen münden kann, wofür sie eigentlich gedacht sind: – Die Situationen, die auf den folgenden Seiten präsentiert werden, beruhen auf Erfahrungsberichten von Deutschen in Bolivien. Die Charakterisierung »der bolivianischen Kultur« erfolgt aus »deutscher Sichtweise«.1 Die kulturellen Themen, die vorgestellt werden, sind also nicht kulturelle Themen, die an 1 Im Folgenden setzen wir aus Gründen der Lesbarkeit nicht permanent Wörter in Anführungszeichen, die Leserinnen und Leser werden aber gebeten, sich diese oftmals mitzudenken.

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und für sich Gültigkeit für Bolivien beanspruchen können, sondern sind stets in Relation zur deutschen Perspektive zu sehen. Die kulturellen Themen sind mithin relationale Konstrukte (Straub, 2007). Für jemanden aus – sagen wir einmal Peru oder Japan – mögen sich manche der hier vorgestellten Interaktionen keineswegs als kritisch darstellen, dafür aber andere, die im Folgenden nicht aufgeführt sind, weil sie von den deutschen Interviewpartnerinnen und -partnern nicht erlebt oder nicht für berichtenswert erachtet wurden. – Das Material, mit dem dieses Training arbeitet, besteht aus den angesprochenen Interviews mit Deutschen und Deutsch-Bolivianern, die in Bolivien arbeiten bzw. gearbeitet oder studiert haben. Die Anlage dieser Interviews fordert dazu auf, einer bis zum Zeitpunkt des Interviews meist fremden Interviewerin kritische Interaktionen zu berichten. Es liegt nahe anzunehmen, dass nicht alle kritischen Interaktionen, die man erlebt hat, in so einer Situation ohne Weiteres erzählt werden und es liegt ebenfalls nahe anzunehmen, dass nicht alle kritischen Interaktionen den Interviewpartnern gleich zur Verfügung stehen und problemlos versprachlicht werden können. – Kulturelle Themen sind höchst komplex und sich mit allen möglichen Besonderheiten davon auseinanderzusetzen, wäre eine dramatische Überforderung und würde den Rahmen eines Orientierungstrainings in jedem Falle sprengen. Insofern wurde die komplexe kulturelle Realität Boliviens auf wenige, aber zentrale Aspekte reduziert. Man muss sich dieser Reduktion aber bewusst sein, um die damit einhergehenden Vereinfachungen niemals für das Ganze zu halten. – Eine ernst zu nehmende Gefahr, die von interkulturellen Orientierungstrainings ausgehen kann, ist es, eher zur Bildung von Stereotypen als zur interkulturellen Sensibilisierung beizutragen. Daher sollte man sich bei der Bearbeitung dieses Trainings stets vor Augen halten, dass es auch so etwas wie Familien-, Organisations-, Gruppen- und regionale Kulturen gibt. Selbstverständlich verhalten sich nicht alle Bolivianer so wie in den kritischen Interaktionen beschrieben. Kulturen sind keine homogenen Gebilde, sondern in sich kulturell differenziert und heterogen bzw. hybrid. 18

– Neben kulturellen Faktoren tragen auch persönlichkeitsbedingte, situative, soziale oder sozioökonomische Faktoren zu Irritationen in zwischenmenschlichen Begegnungen bei. Personen sind nicht einfach bloße Träger einer Kultur. Außerdem partizipieren Personen in variierenden Graden an unterschiedlichen Kulturen. Ein Aymara, der beispielsweise in La Paz an der Universität studiert hat, war anderen kulturellen Einflüssen ausgesetzt als ein Aymara, der sein ganzes Leben im heimischen »Ayllu« (dörfliche Gemeinschaft der Aymaras) gelebt hat. – Interkulturelles Lernen ist ein niemals abschließbarer Prozess. Interkulturelles Lernen kann durch die Durcharbeitung eines Trainings wie diesem, durch die Teilnahme an stärker verhaltensorientierten Trainings, durch Lektüren sowie leibhaftige Begegnungen mit Angehörigen anderer Kulturen und der Reflexion der eigenen kulturellen Standortgebundenheit erfolgen, doch interkulturelle Kompetenz, die man ein für alle Mal »fix und fertig« besitzt, kann all dies nicht bringen. Schon deshalb nicht, weil Kulturen einer permanenten Dynamik unterworfen sind. Nicht zuletzt Manager, Fach- und Führungskräfte, die ins Ausland entsandt werden, also Sie, tragen zu solchen Dynamiken bei. Dies ist auch der Grund dafür, dass ein Training wie das hier vorgelegte zwangsläufig veraltet: Das, was für Deutsche im Umgang mit Bolivianern im Jahre 2015 noch kritisch sein mag, ist es vielleicht schon in zehn Jahren kaum noch – dafür aber möglicherweise anderes. – Im Folgenden werden ausschließlich potenziell konflikthafte oder verwirrende Situationen vorgestellt. Freilich verläuft eine Vielzahl deutsch-bolivianischer Interaktionen konfliktfrei. Darüber hinaus gibt es selbstverständlich nicht allein kulturelle Differenzen, sondern auch eine Fülle an Gemeinsamkeiten. Im Übrigen dürfte ihren Interaktionspartnern zumeist nicht verborgen bleiben, dass Sie aus dem Ausland sind und dass Sie sich darum bemühen, sich »richtig« zu verhalten. In solchen Fällen dürften Sie des Öfteren auch Wohlwollen und Nachsicht erfahren. Wir wünschen Ihnen viel Freude und Erfolg bei der Bearbeitung der Trainingseinheiten und bei Ihrem Bolivienaufenthalt! 19

Themenbereich 1: Sympathieorientierung

Beispiel 1: Die Begrüßung Situation Katharina Bäumler studiert Romanistik und hat ihren Schwerpunkt auf Spanisch gelegt, nicht zuletzt, weil sie mit der »Weltsprache Spanisch im Gepäck« immer schon einmal nach Lateinamerika wollte und es blöd gefunden hätte, ohne Sprachkenntnisse dorthin zu gehen. Deshalb freut sie sich, als ihre Bemühungen um einen Auslandsaufenthalt in einem lateinamerikanischen Land aufgehen, und sie ein Semester lang an der altehrwürdigen »Universidad San Francisco Xavier de Chuquisaca« in Sucre studieren kann. Dort angekommen fällt ihr bald auf, dass der Umgang mit ihren bolivianischen Mitstudierenden ein anderer ist als der mit ihren deutschen Mitstudierenden. So sagen Kommilitoninnen zu ihr, dass sie »beste Freundinnen« wären, obwohl sie sich erst seit ein paar Wochen kennen. Oder sie wird bei der Begrüßung gefragt, wie es ihr denn gehe, wobei ihr dann aber überhaupt keine Zeit zum Antworten gegeben wird. Heute trifft sie sich mit einer Gruppe von Mitstudierenden auf der Plaza. Einige kennt sie ganz gut, andere nur so vom Sehen. Diejenigen, die sie besser kennt, begrüßt sie mit einem Küsschen auf die Wange – das hat sie schon mehrfach beobachtet, selbst erlebt und, obwohl es ihr anfangs schon ein wenig seltsam vorkam, auch für sich übernommen –, die anderen mit einem kurzen »Hola«. Einer der Bolivianer ist verwundert und spricht Katharina Bäumler darauf an. Wie erklären Sie die Verwunderung des Bolivianers? 21

– Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Für Deutsche ist diese Form der Höflichkeit nicht immer verständlich, sie halten zu Leuten, die sie noch nicht so gut kennen, lieber ein bisschen mehr Abstand. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) In Bolivien werden Männer von Frauen grundsätzlich mit einem Küsschen auf die Wange begrüßt, unabhängig vom Bekanntheitsgrad. Dass Katharina Bäumler dies nicht tut, ist für den Bolivianer eine Beleidigung, wie überhaupt jeder andere bolivianische Mann dies als Beleidigung empfinden würde. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Leute, die man nicht kennt, küsst man auch nicht. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Die Unterscheidung zwischen Freunden und Bekannten oder Unbekannten bei der Begrüßung einer großen Runde gilt in Bolivien als unhöflich. sehr zutreffend

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eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Deutsche differenzieren ihre Beziehung zu anderen Personen stark nach Bekanntheits- und Vertrautheitsgrad und verhalten sich je nach dem auch anders. Dies ist also eine eher deutsche Perspektive auf die Situation, gefragt wird aber nach der Verwunderung des Bolivianers. Erläuterung zu b): Ein lateinamerikanischer Macho mag dies so empfinden, jeder bolivianische Mann aber sicher nicht, wie diese Antwort insgesamt vermutlich eher stereotypen Vorstellungen im Hinblick auf geschlechtsspezifische Verhaltensweisen in Südamerika entsprungen sein dürfte. Erläuterung zu c): Zu Begrüßungen in Bolivien gehören ein Kuss oder ein Küsschen auf oder neben die Wange(n) (gewissermaßen in die Luft gehaucht) dazu und ist nichts Ungewöhnliches. In Deutschland verhält sich dies durchaus anders, und man würde dort Leute, die man nicht kennt, nicht in dieser Art begrüßen. Erläuterung zu d): Freunde von Bekannten zu unterscheiden, ist in Bolivien nicht nur unhöflich, sondern als Differenzierung sehr viel weniger üblich als in Deutschland. In Deutschland gibt es eine relativ klare Abstufung je nach Bekanntheits- und Vertrautheitsgrad: Fremder, Bekannter, guter Bekannter, Freund, guter Freund, bester Freund. Auch wenn Bolivianer beste Freunde haben und engere Freundeskreise, zählen die meisten Bekannten als Freunde oder gute Freunde. Während in Deutschland ein erster Kontakt eher unverbindlichen Charakter hat und folgenlos bleibt, bezeichnet man sich in Bolivien oftmals schon nach dem ersten freundlichen und herzlichen Treffen als Freunde. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest. 23

Was halten wir für einen möglichen Umgang mit der Situation? Hierzu gleich mehr. An dieser Stelle möchten wir aber noch ausdrücklich betonen, dass es sich bei den hier und im weiteren Verlauf des Trainings unter der Überschrift »Ein möglicher Umgang mit der Situation« versammelten Ausführungen genau um das handelt, eben um Vorschläge zu einem, aber keineswegs dem einzigen oder gar dem einzig richtigen möglichen Umgang mit der Situation.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Katharina Bäumler könnte ihrem bolivianischen Kommilitonen erklären, dass sie die anderen Mitstudierenden deswegen anders begrüßt, weil sie es aus Deutschland gewohnt ist, dass man Leute, die man näher kennt, auch anders begrüßt als Menschen, die man nicht so gut kennt. Hierbei kann sie unterstreichen, dass sie damit keinesfalls eine Geringschätzung den anderen Kommilitonen gegenüber ausdrücken wollte. In zukünftigen ähnlich gelagerten Situationen mag sie sich an das bolivianische Begrüßungsverhalten anpassen oder auf ihrer bisherigen, deutschen Abstufung im Begrüßungsverhalten beharren. Letzteres dürfte allerdings immer wieder zu Irritationen führen, deren kommunikative Auflösung auf die Dauer stört. Wie sehr selbst so banal wirkende Phänomene wie die angesprochenen Begrüßungsformen uns beschäftigen können, zeigt die Aussage einer unserer Interviewpartnerinnen, die sagte, dieses ganze Küsschen hier, Küsschen dort, gehe ihr manchmal so dermaßen auf die Nerven, dass sie bisweilen einen ehrlichen, ernst gemeinten, festen Händedruck wirklich vorziehen würde.

Beispiel 2: Der »colado« Situation Caroline Jäger ist vor ein paar Monaten gemeinsam mit zwei anderen Deutschen, Karin Maurer und Elena Röder, in einem 24

deutsch-bolivianischen Unternehmen angestellt worden, in dem mehrheitlich Bolivianerinnen und Bolivianer beschäftigt werden. Letzten Monat wurde eine bolivianische Freundin von Frau Jäger auf eine Party eingeladen und wollte Frau Jäger einfach als Gast mitbringen. Frau Jäger war überrascht und kam auch nicht mit, denn sie kannte den Gastgeber ja überhaupt nicht. Gestern wurde Frau Jäger von Ana Montes, einer Kollegin, die allerdings in einer ganz anderen Abteilung arbeitet und die Frau Jäger allenfalls flüchtig kennt, auf eine Feier eingeladen. Frau Maurer und Frau Röder, die Frau Montes nur dem Namen nach kennt, sollten doch auch mitkommen, das wäre doch schön. Frau Jäger findet das ähnlich seltsam wie die Geschichte von vor einem Monat und fragt sich, ob sie diesmal auf die Party gehen soll. Wie erklären Sie das Verhalten der Bolivianerinnen? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Die südamerikanischen Kulturen sind durch das Leben in Großgruppen und Großfamilien geprägt, was die Bolivianerinnen dazu veranlasst, rasch neue Personen in ihren Kreis aufzunehmen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Jemanden auf eine Party mitzubringen sowie eine ganze Gruppe einzuladen, zu der jemand gehört, ist in Bolivien ganz normal und gilt als ein Zeichen von Gastfreundschaft. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

25

c) Da Frau Jäger aus einem anderen Land kommt, ist sie ein interessanter und begehrter Partygast. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Frau Jäger wird als Vorführobjekt eingeladen, andere wollen sich mit ihr schmücken. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Großfamilien und die Verbundenheit zu einer bzw. mehreren Gruppe(n) sind in Bolivien durchaus verbreitet und nicht etwa allein auf den ländlichen Raum oder sozio-ökonomisch wenig privilegierte Sektoren beschränkt. Erläuterung zu b): Die Einladung, eine Party zu besuchen, erfolgt in Bolivien meistens informell. Es ist kein Problem, weitere Leute (einerlei ob Ausländer oder Bolivianer), die nicht eingeladen worden sind, zu einem Fest mitzubringen. Die Person, die ohne Einladung auf eine Party kommt, wird umgangssprachlich »colado« genannt, wobei »colar« »sieben« oder »einschmuggeln« bedeutet, »jemanden mitzubringen« wird mit »colar a alguien« bezeichnet. Eine Ausnahme sind offizielle Einladungen, wo eine persönliche Einladung am Eingang vorgezeigt werden muss, dennoch herrscht auch hier relative Flexibilität. Hinzu kommt, dass auch komplette Freundesgruppen – oder solche, die man dafür hält – von Bolivianern als Gruppe und nicht allein als Individuen auf Partys eingeladen werden. Erläuterung zu c): Die Gastgeberin und die Freundin mögen an Frau Jäger auch deswegen interessiert sein, weil sie aus Deutschland kommt. Allerdings lädt man in Bolivien auch Bolivianer und Bolivianerinnen, die man nicht kennt, auf Partys ein bzw. dürfen sie ohne Weiteres auf eine Party mitkommen. 26

Erläuterung zu d): Europäische Gäste bei einer Party dabei zu haben oder auf einer Party mit europäischen Gästen aufzutauchen, erscheint manchen Bolivianern als ein Mittel, den eigenen Status zu unterstreichen oder zu »verbessern«. Doch auch komplette Freundesgruppen von Bolivianern werden als Gruppe und nicht immer nur als Individuen eingeladen, und auch Bolivianer, die man nicht selbst eingeladen hat, die aber ein eingeladener Gast mitbringt, sind auf einer Party willkommen. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Sobald Frau Jäger erfahren hat, dass es in Bolivien bei informellen Partys üblich ist, jemanden mitzubringen, der nicht explizit eingeladen worden ist, bzw. auch Leute einzuladen, die man zwar nicht wirklich persönlich kennt, kann sie solche Feste besuchen oder eben auch nicht. In letzterem Fall sollte sie sich aber vorher dennoch ausgiebig für die Einladung bedanken und ihrem Bedauern darüber Ausdruck verleihen, dass sie dieses Mal leider nicht kommen könne, weil sie zum Beispiel bereits etwas anderes vorhabe (s. Themenbereich »Indirekte Kommunikation«). Jedenfalls muss sich Frau Jäger keine weiteren Gedanken darüber machen, ob das Hingehen zur Party nun angebracht ist oder nicht, und sie muss sich auch nicht mehr über das zunächst eigenartig anmutende Verhalten der Bolivianer wundern. Das bolivianische Verhalten ist für Frau Jäger aber natürlich nur vor dem Hintergrund ihrer »deutschen« Vorstellung eigenartig, auf Partys gleich welcher Art dürften nur die hingehen, die auch explizit eingeladen worden sind, oder eingeladen werden würden nur Leute, die man persönlich kennt.

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Beispiel 3: Die »caserita« Situation Martina Schmitt studiert Volkswirtschaftslehre und Politologie und absolviert ein Auslandssemester in Boliviens Hauptstadt Sucre. Zunächst hatte sie ja eigentlich ein Semester in Brasilien angestrebt, weil das Land als einer der BRICS-Staaten zu den Nationen mit einer aufstrebenden Volkswirtschaft gehört. Nicht zuletzt, weil sie etwas Spanisch gelernt hat, aber so gut wie kein Portugiesisch beherrscht, gestaltete es sich allerdings einfacher, nach Bolivien zu gehen. Mittlerweile ist sie von dem Land fasziniert, in dem sie gerade im Hinblick auf ökonomische und politische Prozesse auch außerhalb des Hörsaals andauernd etwas Neues lernt. Neues lernt sie ebenfalls in Bezug auf ganz alltägliche Dinge. So muss sie auf ihrem Weg nach Hause regelmäßig den »Mercado Central« (»Hauptmarkt«) überqueren. Dort ist sie immer wieder von der Fülle an Lebensmitteln begeistert, wie etwa den vielen unterschiedlichen Kartoffelsorten, von deren Existenz sie bis dahin keine Ahnung hatte. Eines Tages entdeckt sie sogar einen Stand mit einem besonders breiten Brotsortiment. Nach so etwas hatte sie schon lange gesucht, denn bei aller Liebe zur bolivianischen Küche (insbesondere »Salteñas«, das sind zumeist mit Fleisch und Gemüse gefüllte Teigtaschen, isst sie gerne), das ständige Weißbrot zum Frühstück ist nicht so ganz ihr Fall – da fühlt sie sich ganz deutsch. Als sie noch denkt, dass »Pan de quinua« (»Quinuabrot«; Quinua ist ein Getreide, das auch »Inkakorn« oder »Andenhirse« genannt wird) wirklich interessant klingt, wird sie von der Verkäuferin angesprochen und gefragt, ob sie denn nicht bei der Familie Aguilar wohne. Martina Schmitt ist über die Frage verwundert – woher weiß die Frau das? Sucre ist zwar nicht Berlin, aber mit seinen knapp 200.000 Einwohnern auch kein Dorf, in dem jeder jeden kennt. Da die Frau aber freundlich ist, bejaht sie die Frage – sie wohnt bei der Familie Aguilar nämlich tatsächlich zur Untermiete. Daraufhin schenkt ihr die Frau ein kleines Gebäck und bittet sie der Familie, die regelmäßig bei ihr einkauft und ihr von dem Gast aus Deutschland erzählt hat, schöne Grüße auszurichten. Martina Schmitt ist etwas überrascht und unsicher, ob sie das Gebäck überhaupt an28

nehmen soll, denn in Deutschland würden allenfalls Kinder etwas beim Einkaufen geschenkt bekommen. Da die Verkäuferin ihr das Backwerk aber quasi direkt unter die Nase hält, nimmt sie es, bedankt sich und verspricht, die Grüße auszurichten. Bei der ganzen Aufregung vergisst sie leider den Kauf des Quinuabrots und kommt sich beim Nachhauseweg auch etwas blöd vor. Warum verhält sich die Brotverkäuferin so? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Familie Aguilar ist sehr angesehen, so dass es sich bei dem Gebäck um ein Höflichkeitsgeschenk handelt bzw. um ein Geschenk, mit dessen Hilfe sich die Brotverkäuferin mit der Familie gut stellen möchte. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Brotverkäuferin kennt die Gastfamilie von Martina Schmitt und mag sie sehr. Das Geschenk ist als eine nette Geste gemeint, mit der sie ihre Sympathie ausdrücken möchte. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Familie Aguilar ist seit Jahren Kunde bei dieser Brotverkäuferin. Kunden, die regelmäßig bei derselben Verkäuferin einkaufen, und zwecks Kundenbindung auch Neukunden, wird in Bolivien üblicherweise eine Kleinigkeit geschenkt. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

29

d) Das Verhalten der Verkäuferin ist ein typischer Bestandteil bolivianischer Verkaufsverhandlungen. Das Geschenk ist als wohlwollende Geste zu sehen, jedoch wird von wohlhabenden Käufern im Gegenzug erwartet, den Betrag in Form eines großzügigen Trinkgeldes auszugleichen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist durchaus möglich, dass Familie Aguilar sehr angesehen ist. Allerdings erhalten auch ganz normale Familien von Verkäuferinnen ein kleines Geschenk. Nur besonders angesehenen Familien etwas zu schenken, ist keine weitverbreitete Verhaltensweise. Erläuterung zu b): Es kann sein, dass die Verkäuferin besondere Sympathie für die Familie empfindet, sie würde das kleine Geschenk aber vermutlich auch dann mitgeben, wenn sie eine solche besondere Sympathie nicht empfinden würde. Erläuterung zu c): Wenn man regelmäßiger Kunde einer bestimmten Verkäuferin am Markt ist, nennt man sie »caserita«. Kunden bleiben der caserita treu, kaufen immer bei ihr ein und die caserita schenkt solchen treuen Kunden und Neukunden eine »yapita« (Aymara für »Geschenk« oder »Zuschuss«). Die yapita stellt so etwas wie eine Belohnung bzw. ein Mittel der Kundenbindung und einen Ausdruck von Sympathie dar. Auch die Kundin selbst wird »caserita« bzw. bei männlichen Kunden »caserito« genannt. Die yapita ist also ein Ausdruck der bestehenden (Geschäfts-)Beziehung sowie der Vertrautheit, die die Verkäuferin in diesem Fall der Familie und ihrem Gast zeigen möchte. Erläuterung zu d): Das kleine Geschenk wird zur Kundenbindung eingesetzt, was natürlich bedeutet, dass die Verkäuferin hofft, die Kunden möch30

ten auch tatsächlich wieder kommen und Stammkunden bleiben oder werden – die Kompensation des Geschenks mit einem großzügigen Trinkgeld wird allerdings nicht erwartet und würde im Gegenteil wohl eher für Irritation sorgen. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation In Unkenntnis des kulturellen Hintergrundes für das Verhalten der Brotverkäuferin mag Martina Schmitt zögern, das Geschenk überhaupt anzunehmen oder sich zumindest dabei unbehaglich fühlen. Vermutlich spürt sie aber schon, dass eine Nichtannahme des Geschenks »nicht geht«. Insofern würde sie wohl auch ohne das entsprechende Wissen die yapita annehmen und damit selbst nicht für eine kulturelle Irritation auf Seiten der Brotverkäuferin sorgen. In Kenntnis der Bedeutung, die eine caserita und yapitas haben, kann Martina Schmitt das Geschenk dagegen ganz bedenkenlos annehmen, sich über die nette Geste freuen und auch an ihren eigenen Brotkauf denken.

Beispiel 4: Wann geht es mal voran? Situation Ralf Schneider arbeitet seit kurzem in leitender Funktion an einem Wasserprojekt im Osten Boliviens. Vor diesem Aufenthalt hatte er schon einmal in Bolivien gelebt und hat dort auch einen Teil seines Zivildienstes abgeleistet, nämlich in der einstigen Silber- und Zinnhochburg Potosí im Südwesten des Landes. Ihm war vorher nicht so klar, wie unterschiedlich doch die Andenregion und der »Oriente« (»der Osten des Landes«) sind. Während ihm die Menschen im »Altiplano« (»Hochebene«) als eher verschlossen und ernst in Erinnerung sind, erscheinen ihm die 31

Leute hier im Osten irgendwie offener und fröhlicher – er ist sich aber nicht ganz sicher, ob ihn seine Wahrnehmung hier nicht ein wenig täuscht und er lediglich Klischees aufsitzt. Dennoch glaubt er, die Verhaltensweisen der Bolivianer im Großen und Ganzen ganz gut zu kennen. Als er jedoch in die Arbeitswelt einsteigt, bemerkt er teilweise neue Aspekte. Jeden Morgen nach Ankunft am Arbeitsplatz wird aus Herrn Schneiders Sicht zunächst einmal unglaublich lange über private Angelegenheiten geredet – was mit den Kindern ist, dass das Auto schon wieder in die Werkstatt muss, wie das Wochenende war und dergleichen mehr. Was in Deutschland normalerweise nach seiner Erfahrung kaum länger als fünf Minuten dauern würde, erstreckt sich an seinem Arbeitsplatz in Bolivien morgens sowie am Anfang jeder Teamsitzung um ein zehnfaches, gefühlt noch länger. Dass man über persönliche Themen mit den Kolleginnen und Kollegen spricht, erscheint der jungen deutschen Fachkraft zwar unerwartet, ist ihr aber nicht unbedingt unangenehm, denn es herrscht eine entspannte und freundliche Atmosphäre. Trotz dieses angenehmen Gefühls, wird er im Laufe der Monate immer unruhiger und denkt oft, dass die Prozesse »mal endlich« etwas vorangehen sollten. Er entscheidet sich, bei einer Sitzung mehr oder weniger abrupt das persönliche Gespräch zu unterbrechen und direkt mit der Diskussion des sachlichen Inhalts zu starten. Die bis dahin gute Stimmung ist merklich getrübt, bei der nächsten Teamsitzung kommen Herrn Schneider seine Kolleginnen und Kollegen irgendwie reserviert vor. Er ahnt natürlich schon, dass das mit seinem Verhalten bei der letzten Sitzung zu tun hat, ist aber dennoch etwas irritiert. Wie lässt sich das Verhalten der Kolleginnen und Kollegen erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

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Deutungen a) Die Kolleginnen und Kollegen finden Herrn Schneiders Verhalten unhöflich und sind deshalb etwas reserviert. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Privates und Berufliches wird in Bolivien nicht so strikt wie in Deutschland getrennt. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit bildet der persönliche Kontakt eine wichtige Voraussetzung. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Durch die abrupte Beendigung des persönlichen Gesprächs signalisiert Herr Schneider seinen Kolleginnen und Kollegen, dass er sie für inkompetent hält.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Bolivianer sind es nicht gewohnt, hart zu arbeiten und möchten nicht auf ihre Gesprächspausen verzichten. Sie fürchten um ihren gemütlichen Büroalltag.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist richtig, dass die Kolleginnen und Kollegen Herrn Schneiders Verhalten unhöflich finden und deshalb etwas reserviert sind. Weshalb aber finden sie sein Verhalten unhöflich? Erläuterung zu b): In Bolivien ist es in einigen beruflichen Kontexten durchaus üblich, auch über persönliche Angelegenheiten zu sprechen und nicht allein über das Projekt, die Sache, die nächste Aufgabe. Dies dient dem Kontaktaufbau und der Schaffung einer vertrauens33

vollen Basis, vor deren Hintergrund man dann zur Sache kommen und effektiv gemeinsam arbeiten kann. Erläuterung zu c): Hätte Herr Schneider die Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen nicht genügend gewürdigt oder gar mehr oder weniger offen kritisiert, hätten sie dies als ein Zeichen gewertet, dass Herr Schneider sie für inkompetent hält. Das Beenden des persönlichen Gesprächs hingegen dürften sie anders bewerten. Erläuterung zu d): Bolivianer sind es gewohnt, so hart oder so wenig hart zu arbeiten wie Menschen in anderen Regionen der Welt auch. Die Vorstellung, Bolivianer seien es nicht gewohnt hart zu arbeiten, entspringt vermutlich einem Vorurteil dahingehend, in »Drittweltländern« seien die Menschen nicht so arbeitsam wie die Menschen im »Norden«; ein Vorurteil, das dann auch zur Legitimation von Wohlstandsunterschieden auf globalem Niveau eingesetzt werden kann. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest. Ein möglicher Umgang mit der Situation Ralf Schneider hätte vielleicht weiterhin geduldig sein können, um seine Kolleginnen und Kollegen nicht vor den Kopf zu stoßen. Andererseits möchte ja nicht nur er, dass es »mal vorangeht«, sondern die Organisation, für die er arbeitet, möchte sicher ebenfalls Ergebnisse. Insofern befindet sich Herr Schneider natürlich nicht in einer handlungsentlasteten Situation, was ihn auch jenseits persönlicher Erwartungshorizonte unter Druck setzen mag. Eine Möglichkeit, der Reserviertheit seiner Kollegen zu begegnen, kann es sein, zumindest zum Teil zum früheren Modus zurückzukehren und nach und nach zu versuchen, den Anteil persönlicher Gespräche etwas einzuschränken bzw. auf die Pausen umzulenken und auf gemeinsame Aktivitäten jenseits des Arbeitsplatzes. Gespräche abrupt zu beenden, wäre jedoch in keinem Fall eine sinnvolle, geschweige denn taktvolle Verhaltensweise. 34

Kulturelle Hintergründe zu »Sympathieorientierung« Sympathieorientierung zeichnet sich durch einen herzlichen und persönlichen Umgang miteinander aus. Sympathieorientierung bedeutet zudem, dass es für die Person relevant ist, von anderen als liebenswert, beliebt, attraktiv und unterhaltsam wahrgenommen zu werden. Beziehungsaspekte stehen im Vordergrund, Sachaspekte sind demgegenüber nachrangig, da die Bedürfnisse nahestehender Personen als wichtiger angesehen werden. Sympathieorientierung zeigt sich schon in der ersten Begegnung mit Bolivianern: ihre Kontaktfreudigkeit ist für deutsche Verhältnisse sehr groß, ihre Begrüßungen herzlich. Wenn sich Bolivianer begrüßen, häufig mit Küsschen und Umarmungen, erscheint es Deutschen bisweilen so, als wären sie alte Freunde. Das muss aber keineswegs der Fall sein, denn Bolivianer begrüßen sich auch dann vergleichsweise herzlich, wenn sie sich nicht so gut kennen. Jemanden in der Gruppe nicht herzlich zu begrüßen, gilt als unhöflich bzw. wirkt so, als würde man ihn ausschließen wollen. Persönliche Beziehungen zu anderen zu haben, hat einen hohen Stellenwert, das möchte man durch Herzlichkeit und Freundschaftsangebote ausdrücken. Schon beim ersten Kontakt bemühen sich Bolivianer häufig, eine Freundschaft anzubahnen oder zumindest interpersonale Distanz zu minimieren. So kommt es dazu, dass man in Bolivien Personen, die man in Deutschland vielleicht als Bekannte ansehen würde, sehr schnell als Freunde betrachtet oder als Freunde, gar als »hermanos« (»Brüder«) anspricht. Der herzliche, persönliche Umgang miteinander zeigt sich sowohl im Privat- als auch im Geschäftsleben. Auch im Geschäfts- und allgemein im Berufsleben versucht man zuerst, die Personen besser kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen, eine so deutliche Trennung von Beruflichem und Privatem wie das zumeist in Deutschland der Fall ist, gibt es in Bolivien seltener. Insofern können Bolivianern Deutsche, die im alltäglichen Berufsleben immer nur von dem Projekt, der Aufgabe, der 35

Sache sprechen, aber nie etwas von sich selbst erzählen, kalt und undurchsichtig erscheinen. Eine Ausklammerung persönlicher Gespräche kann dazu führen, dass sich die Kolleginnen und Kollegen bzw. Mitarbeiter kaum mit ihrer Arbeit und ihrem Arbeitsplatz identifizieren. Es ist also die Basis des persönlichen Kontakts und Vertrauens, auf der Geschäfte gemacht werden, Zusammenarbeit stattfindet und eine persönliche Bindung entstehen kann. Eine solche Bindung mag sich etwa in Äußerungen wie »en la vida nunca te voy a fallar« (»niemals werde ich dich hängen lassen«) äußern, wobei es schwer sein kann zu erkennen, inwiefern die Äußerung authentisch oder strategisch ist. Beim Beziehungsaufbau wird auch schnell das »Du« (»tú« bzw. »vos«) angeboten oder es wird gleich ohne Anfrage geduzt. Dies symbolisiert Freundlichkeit, Offenheit, Herzlichkeit und Nähe. Freilich dient so ein Beziehungsaufbau eher einer Kontaktaufnahme und -pflege und nicht notwendigerweise einem Beziehungsaufbau im Sinne einer engeren Freundschaft. Die persönliche Beziehung wird im Geschäfts- und Berufsleben manchmal auch instrumentalisiert, was »muñeca« (»Handgelenk«) genannt wird. Das bedeutet, dass man einen »Freund«, einen »hermano«, um einen Gefallen bitten und von seiner beruflichen Position oder seinen Beziehungen profitieren kann. Die Grenzen zu Klientelismus, Korruption und Vetternwirtschaft können hier mitunter fließend sein. Deutsche erscheinen Bolivianern mitunter als allein an der Sache interessiert. Umgekehrt kommen Bolivianer Deutschen oftmals als nahezu ausschließlich an der Beziehung orientiert vor. Solche gegenseitigen mitunter reichlich stereotype Zuschreibungen können zu Irritationen in der deutsch-bolivianischen Zusammenarbeit führen. Wird die Sympathieorientierung der Bolivianer von der deutschen Seite als positiv empfunden, so wird das bolivianische Gegenüber als warm, höflich, empathisch und charmant wahrgenommen; im negativen Fall als unecht, oberflächlich und manipulativ. In bolivianischer Perspektive mag das deutsche Gegenüber im positiven Fall als korrekt und effizient erscheinen, im negativen Fall als kalt, distanziert und am Gegenüber nicht wirklich interessiert. Für diese Sympathieorientierung, die auch in anderen latein36

amerikanischen Ländern zu finden ist, wird geltend gemacht, dass sie in Ländern mit mangelnder Rechtssicherheit und eingeschränkten sozialen Absicherungen unterschiedlicher Art (Krankenversicherung, Haftpflichtversicherung etc.) funktional ist (Foellbach, Rottenaicher u. Thomas, 2002).

37

Themenbereich 2: Indirekte Kommunikation

Beispiel 5: Die Kündigung Situation Rita Arnold ist die Leiterin einer sozialen Einrichtung für Kinder in Bolivien. In der Einrichtung arbeitet auch die Köchin Domitila Mamani, die aber nicht allein für die Küche verantwortlich ist, sondern auch erzieherische Aufgaben wahrnehmen soll. Die Mitarbeiter und die Kinder sind mit Frau Mamanis Kochkünsten zufrieden und auch die Leiterin der Einrichtung kann sich an kulinarisch schlechtere Zeiten erinnern. Frau Arnold kommt mit Frau Mamani insgesamt gut zurecht, findet sie engagiert und hat den Eindruck, dass sie gerne zur Arbeit kommt. Allerdings hält sie ihr Verhalten den Kindern gegenüber oftmals für wenig angemessen; sie meint, die Köchin würde mit den Kindern viel zu viel herumalbern und ihnen dabei zu wenige Grenzen setzen, was aber dringend nötig sei, denn speziell die Kinder in dieser Einrichtung bräuchten klare Ansagen und eine klare Struktur. Da Frau Mamani ihren lockeren Umgang mit den Kindern immer wieder zeigt, spricht Frau Arnold sie eines Tages in einer Teamsitzung darauf an und erläutert ausführlich ihre Bedenken. Frau Mamani scheint die Rückmeldung gelassen und verständnisvoll aufzunehmen, sie nickt immer wieder zustimmend bei dem, was Frau Arnold sagt, so dass diese den Eindruck gewinnt, ihre Botschaft sei bei der Köchin angekommen und Frau Mamani werde sich nun sicher in Zukunft in ihrem Sinne verhalten. Nur wenige Zeit nach dieser Teamsitzung kündigt zu Frau Arnolds großer Überraschung die Köchin ihre Stelle. 39

Warum tut Frau Mamani das? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Frau Mamani empfindet die deutsche Leiterin als zu wenig emotional im Umgang mit den Kindern, als zu kühl und sieht sich in ihren Vorurteilen gegenüber Deutschen bestätigt. Sie selbst hält das nicht für die richtige Art, mit Kindern umzugehen und sie zu erziehen. So möchte sie nicht mit Kindern arbeiten, deshalb kündigt sie. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Köchin hat in der Zwischenzeit eine weitaus attraktivere Arbeitsstelle angeboten bekommen und kündigt deswegen ihre Stelle in der sozialen Einrichtung für Kinder. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Frau Mamani fühlt sich in der Teamsitzung bloßgestellt und sieht keine Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Die Doppelbelastung aus handfester Küchenarbeit und erzieherischem Auftrag ist der Köchin auf Dauer einfach zu viel geworden.

sehr zutreffend

40

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es kann sein, dass Frau Mamani ihren eigenen Umgang mit den Kindern für angemessener hält als den Umgang, den Frau Arnold von ihr fordert, deshalb kündigt und sich nach einer anderen Stelle umsieht. Andererseits dürften ihr Frau Arnolds Vorstellungen im Hinblick auf Kindererziehung nicht erst jetzt deutlich geworden sein. Erläuterung zu b): Es ist nicht ausgeschlossen, dass Frau Mamani eine attraktivere Arbeitsstelle angeboten bekommen hat und deshalb kündigt. Allerdings ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, denn sie scheint ja gern zu ihrer Arbeit zu kommen und sich dort zu engagieren. Erläuterung zu c): Die offene Äußerung von Kritik ist in Bolivien eher ungewöhnlich. Mit kritischen Rückmeldungen wird in Bolivien weniger auf einer sachlichen Ebene umgegangen, vielmehr werden sie – insbesondere, wenn sie auch noch in Gegenwart anderer Personen, gar in einer Teamsitzung stattfinden – als persönliche Zurückweisung empfunden. Erläuterung zu d): Vielleicht empfindet Frau Mamani die Arbeit in der Küche und den Umgang mit den Kindern wirklich als Doppelbelastung, der sie auf Dauer nicht mehr gewachsen ist. Aus der Situationsbeschreibung geht jedoch nicht hervor, dass dem so wäre. Vielmehr scheint es doch so zu sein, dass ihr Essen allen schmeckt und sie gerne mit den Kindern zu tun hat. Weshalb würde sie sonst mit ihnen herumalbern? – Beantworten Sie bitte folgende Frage Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

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Ein möglicher Umgang mit der Situation Was aus Frau Arnolds Perspektive eine ganz normale Rückmeldung darstellt, mit der man sich konstruktiv und professionell auseinandersetzen kann und auch sollte, um die tägliche Arbeit zu verbessern, erscheint Frau Mamani als eine starke Kränkung, die ihr eine Weiterarbeit in der sozialen Einrichtung unmöglich macht. Frau Arnold sieht sich als Vorgesetzte in der Pflicht, ihre Mitarbeiter auf Dinge hinzuweisen, die ihrer Ansicht nach verbesserungsbedürftig sind, gerade auch im Hinblick auf den pädagogischen Auftrag ihrer Einrichtung, letztlich zum Wohle der dort betreuten Kinder. Frau Mamani fühlt sich nicht nur in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt, sondern auch als Person überhaupt. Sollte die Leiterin der Einrichtung also am besten über das Verhalten der Köchin hinwegsehen? Dies wäre wohl nicht sinnvoll. Günstig wäre, wenn sich Frau Arnold insgesamt stärker um eine warme, kollegiale Atmosphäre in ihrer Einrichtung kümmern würde, in der auch die Vorgesetzte als Mensch und nicht allein als kühle Funktionsträgerin wahrgenommen wird. Vor solch einem Hintergrund könnte nach und nach ein Klima etabliert werden, in dem auch negative Aspekte der Arbeit angesprochen und Verbesserungsvorschläge gemeinsam erarbeitet werden können. Eine Dosierung kritischer Rückmeldungen, deren eher indirekte Mitteilung sowie die Einbettung in wertschätzende Kommentare mögen ebenfalls für das Miteinander am Arbeitsplatz förderlich sein. Freilich sollte es sich bei wertschätzenden Kommentaren tatsächlich auch um solche handeln, bloße Wortgirlanden verfehlen nicht nur ihre Wirkung, sondern dürften letztlich kontraproduktiv sein. Ferner sollte Frau Arnold auch nicht vergessen, dass sie es bei Frau Mamani ja nicht mit einer ausgebildeten pädagogischen Fachkraft zu tun hat. Schließlich könnte die Leiterin zudem darüber nachdenken, inwiefern sie selbst gegenüber Frau Mamani lediglich eine ethnozentrische Vorstellung von guter Erziehung mit der Macht der höheren Position durchsetzen möchte.

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Beispiel 6: Der Hausbau Situation Maria Werner und ihr bolivianischer Mann haben sich nach einigen Jahren Ehe in Bolivien entschieden, ein Haus zu bauen. Für das Haus haben sie eingeschränkte Mittel zur Verfügung. Da einer ihrer Freunde Architekt ist, entscheiden sie sich dafür, ihn mit der Planung des Hauses zu beauftragen. Der Freund kennt die ökonomischen Spielräume des Ehepaars, daher erwartet es, dass dieser einen entsprechenden Plan des Hauses mit einem angemessenen Kostenvoranschlag erstellt. Der Architekt legt nun die Pläne vor und es stellt sich heraus, dass er etwas viel Größeres geplant hat als das, was sich das Ehepaar gewünscht hat und bezahlen kann. Das Ehepaar möchte darüber mit dem Architekten sprechen. Frau Werner und ihr Ehemann teilen ihm mit, dass er die Pläne auch ohne zusätzlichen Lohn entsprechend des Budgets ändern soll. Der Architekt erscheint jedoch nicht zum festgelegten Termin und lässt auch wochenlang nichts von sich hören. Als es dem Ehepaar gelingt, mit ihm zu sprechen, äußert er viele Ausreden, weswegen er sich nicht gemeldet hat und die Pläne nicht ändern konnte. Das Ehepaar glaubt ihm kein Wort, insbesondere Maria Werner ist irritiert. Wie lässt sich das Verhalten des Architekten erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Der Architekt hat die genauen Angaben des Ehepaares vielleicht nicht vorliegen gehabt oder diese wurden nur mündlich mitgeteilt, so dass es dadurch eventuell zu Missverständnissen gekommen ist, die er sich jetzt eingestehen musste. 43

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Da Bolivien ein sehr armes Land ist, hat der Architekt selbst vermutlich auch nicht viel Geld und wollte aus der Freundschaft Kapital schlagen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Bolivianer nehmen es nicht so genau mit zeitlichen Vorgaben und Absprachen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Der Architekt hat sich mit den Plänen große Mühe gegeben. Anstatt dies anzuerkennen, wird ihm erst einmal um die Ohren gehauen, dass das Ganze zu groß geraten sei und er die Pläne sofort wieder ändern müsse. Er fühlt sich schlecht behandelt und verschwindet deshalb erst einmal in der Versenkung.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es könnte tatsächlich sein, dass der Architekt keine genauen Angaben hatte und es deswegen zu Missverständnissen gekommen ist. Warum aber erscheint der Architekt nicht zu einem Termin, der offensichtlich vereinbart worden ist, und meldet sich auch danach nicht? Erläuterung zu b): Gemessen nach gängigen ökonomischen Kriterien ist Bolivien in der Tat ein sehr armes Land. Auch wenn dies nicht gerade für die Güte der Freundschaft zwischen dem Ehepaar und dem Architekten sprechen würde, mag es auch sein, dass letzterer aus der Beziehung Gewinn schlagen wollte, wie das im Übrigen ja auch 44

in reichen Nationen geschehen könnte. Wäre dem so, würde man allerdings feststellen müssen, dass sich der Architekt hierbei nicht besonders geschickt anstellt. Erläuterung zu c): Zeit und Absprachen werden in Bolivien mitunter anders gehandhabt als man es etwa in Deutschland gewohnt ist (s. den Themenbereich »Zeitverständnis [›Hora boliviana‹]«). Einfach in der Versenkung zu verschwinden, lässt sich aber nicht mit einem anders gearteten Zeitverständnis oder einer wie auch immer genauer gearteten Flexibilität und Spontaneität erklären. Erläuterung zu d): Wenn man in Bolivien sein Gegenüber kritisiert, tut man das zumeist auf Umwegen, implizit, verpackt, und nicht ohne Umschweife. Dies dient der Aufrechterhaltung positiv konnotierter Beziehungen, die durch direkt geäußerte Kritik empfindlich beeinträchtigt werden können, da das Gegenüber sich rasch nachhaltig persönlich gekränkt fühlen kann. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass der Architekt eingeschnappt ist. Dass er nicht zum verabredeten Termin erscheint, telefonisch nicht erreichbar ist und dann, als er nun endlich erreicht wird, längere Erklärungen dazu abgibt, warum er sich nicht gemeldet und die Pläne geändert habe, statt etwa zu sagen, er habe sich gekränkt gefühlt, passt ebenfalls ins Bild. Es dürfte einerseits ein Zeichen seines Eingeschnapptseins darstellen, andererseits aber ebenfalls ein Ausdruck indirekter Kommunikation sein, mit der der Architekt mitteilt, dass er sich gekränkt fühlt und dass er die Zusammenarbeit nicht fortzusetzen gedenkt, ohne dies explizit kundzutun. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest. Ein möglicher Umgang mit der Situation Das Ehepaar hätte sich mit dem Architekten zusammensetzen und zunächst einmal die Pläne würdigen können. Anschließend hätte es langsam dazu übergehen können, darauf hinzuweisen, dass sein 45

Budget – sollte das Haus genau nach diesen Plänen gebaut werden – bedauerlicherweise nicht reiche. Schließlich könnte die Frage nach einer Modifikation der Pläne im Sinne eines engeren finanziellen Spielraums erörtert werden. »Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist«, bliebe die Möglichkeit der Schadensbegrenzung. Diese könnte so aussehen, dass dem Architekten im Nachhinein für seine Mühe gedankt wird und man das eigene Verhalten als Ausdruck der gespannten Situation erklärt, in der man sich mit dem Bau eines Hauses befinde.

Beispiel 7: Kein Geld für das Dorfprojekt Situation Günther Fuchs arbeitet in Bolivien als Projektleiter im Bereich der nachhaltigen ländlichen Entwicklung. Er hat von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit einen klaren Auftrag bekommen, welche Projekte er zusammen mit dem bolivianischen »Contraparte« (»Partner«) durchführen soll. Herr Fuchs ist als Projektleiter nicht nur bei dem lokalen Partner bekannt, sondern auch bei den Einwohnern des Dorfes. Pablo Choque, ein Vertreter der Dorfgemeinschaft, bittet Herrn Fuchs um finanzielle Unterstützung für ein aus seiner Sicht sehr relevantes Projekt im Dorf. Herr Fuchs hat jedoch nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung und kann darüber hinaus nicht einfach den Rahmen seines Arbeitsauftrages erweitern. Er versucht Herrn Choque zu erklären, dass er sich auf die bereits laufenden Projekte konzentrieren muss und weder Zeit noch Mittel hat, das vorgeschlagene Projekt zu unterstützen. Pablo Choque wirkt befremdet, er sagt, er könne nicht verstehen, warum Herr Fuchs nicht willens sei, ihm zu helfen. Wie lässt sich Herrn Choques Verhalten erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 46

Deutungen a) Herr Choque hält Herrn Fuchs aufgrund seiner Position als Projektleiter für den Hauptverantwortlichen und denkt fälschlicherweise, dass ihm alle Möglichkeiten offen stehen. Darum bringt er das Handeln oder Nichthandeln von Herrn Fuchs lediglich mit dessen Willen oder mangelnden Willen in Verbindung. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Herr Choque sieht Herrn Fuchs als persönlichen Freund an, weil er den Leuten in der Region hilft. Er denkt, dass Herr Fuchs jedem hilft, der ihn um seine Hilfe bittet. Von der Bürokratie hinter dem Hilfsprojekt hat er keine Ahnung. Deswegen kann er nicht verstehen, warum Herr Fuchs ihm seine Hilfe verwehrt.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Herr Choque geht davon aus, dass Entwicklungshelfer eine generelle Verpflichtung zum Helfen empfinden und ihr auch nachkommen müssen. Insofern kann er nicht glauben, was ihm Herr Fuchs hier erklärt. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Herr Choque fühlt sich durch Herrn Fuchs’ Ablehnung seines Ansinnens vor den Kopf gestoßen. Ihm leuchtet ja ein, dass Herr Fuchs nicht einfach schalten und walten kann, wie er will. Herr Fuchs ist aber andererseits auch eine Person mit einem beträchtlichen Einfluss, ferner müsste ihm die Dringlichkeit von Herrn Choques Anliegen einsichtig sein und er könnte dessen Erfüllung doch zumindest versuchen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

47

Bedeutungen Erläuterung zu a): Herr Choque mag vielleicht wirklich nicht überblicken, welchen Einfluss Herr Fuchs hat und welchen nicht und wie die Verantwortlichkeiten in Herrn Fuchs’ Arbeitsfeld überhaupt genau geregelt sind. Andererseits erklärt Herr Fuchs ihm dies ja und wenn es sich allein um ein Missverständnis im Hinblick auf professionelle Zuständigkeiten handeln würde, könnte Herr Choque ja seinem Bedauern darüber Ausdruck verleihen, dass er offensichtlich falsch lag, sich bedanken und gehen. Dem ist aber nicht so. Erläuterung zu b): Der Vertreter der Dorfgemeinschaft mag tatsächlich in Herrn Fuchs weniger einen Funktionsträger, sondern eher einen Freund sehen, weil er der Region hilft. Dass dies im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit geschieht, die in vielfältige Sachzwänge eingebunden ist, ist für ihn möglicherweise nicht so ohne Weiteres ersichtlich. Von einem Freund darf man erwarten, dass er nicht einfach wie ein Bürokrat agiert, sondern sich stark engagiert. Erläuterung zu c): Bolivien blickt auf eine lange Kolonialgeschichte zurück und für manche Bolivianer mag die Entwicklungszusammenarbeit eine Art Fortsetzung dieser Geschichte darstellen. Gerade an Orten, an denen bereits eine Reihe von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit durch Nordamerikaner oder Europäer mehr oder minder erfolgreich durchgeführt worden sind, können einige Menschen daran gewöhnt sein, Hilfen und Spenden unterschiedlicher Art zu bekommen. So mag es sein, dass Menschen in ländlichen Regionen wirklich meinen, dass »Weiße« verpflichtet sind etwas (zurück-)zugeben und dass sie Mittel im Überfluss haben. Erläuterung zu d): Auch wenn Herr Choque bemerkt, dass die Angelegenheit für Herrn Fuchs schwierig ist, sieht er in ihm eine Person, die Einfluss hat und diesen auch geltend machen könnte. Selbst wenn die Fürsprache nicht so große Aussichten auf Erfolg haben sollte, möchte Herr Choque doch nicht die vielleicht sachlich richtige, 48

aber desillusionierende Antwort hören, Herr Fuchs könne nichts für ihn tun. Eine derart direkte, rasche und offene Aussage überrumpelt und kränkt ihn, und er unterstellt, Herr Fuchs interessiere sich offensichtlich doch nicht so sehr für die Dorfgemeinschaft. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Fuchs sollte keine Unwahrheiten erzählen und einfach suggerieren, er werde sicher etwas für Herrn Choque und das für die Dorfgemeinschaft offenbar wichtige Anliegen tun können. Mithin könnte der Projektleiter durchaus auf die komplizierten Zuständigkeiten in seinem Arbeitsfeld und auch auf seine begrenzten Ressourcen hinweisen. Zugleich sollte er aber die Wichtigkeit von Herrn Choques Anliegen ausführlich würdigen, ihn vielleicht an andere Personen verweisen und ansonsten mitteilen, dass er schauen werde, was er allen Widrigkeiten zum Trotz doch tun könne. Mit solch einem Vorgehen würde Herr Fuchs Folgendes erreichen: – Er würde Herrn Choque signalisieren, dass er ihn und die Dorfgemeinschaft mit ihrem Anliegen ernst nimmt. Das ist insofern natürlich wesentlich, als Herr Fuchs in dieser Region beruflich tätig ist und auf das Wohlwollen und die Anerkennung der dort lebenden Menschen angewiesen ist; – Herr Fuchs würde aber Herrn Choque dennoch schonend schon einmal darauf vorbereiten, dass er ihm möglicherweise doch nicht wird helfen können; – auch wenn Herr Fuchs in seiner Position selbst nicht wird tätig werden können, um Herrn Choque zu helfen, fallen dem Projektleiter ja vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt doch noch Mittel und Wege ein (etwa über andere Personen), wie das Anliegen der Dorfgemeinschaft bearbeitet werden kann. 49

Beispiel 8: Das Kirchdach Situation Otto Walther hat in Bolivien eine berufliche Position inne, die es mit sich bringt, dass oftmals Menschen zu ihm ins Büro kommen und ihn um Hilfe bitten. Bei einer Gelegenheit suchen sechs Dorfbewohner sein Büro auf und reden sehr lange, über sehr viele verschiedene Aspekte ihres Dorfes und ihres Lebens. Nach einiger Zeit hat Herr Walther den Eindruck, dass sie um den »heißen Brei« herum reden und sich nicht trauen, ihr eigentliches Anliegen darzulegen. Er denkt, dass sie sich vielleicht eingeschüchtert fühlen, weil er relativ einflussreich ist. Nach einer halben Stunde erzählen sie nun endlich, dass die Dorfkirche repariert werden müsse, weil das Dach eingestürzt sei. Trotz der Dringlichkeit der Situation nehmen sie sich sehr viel Zeit bis sie zur Bitte um Finanzierung kommen. Herr Walther hat fast schon die Geduld verloren und hat sich später gedacht, dass er in solchen Situationen seine Geduld mit den Bolivianern ganz gut üben könne. So richtig nachvollziehbar ist ihm das Verhalten der Dorfbewohner allerdings nicht. Wie kann man das Verhalten der Dorfbewohner erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) In Bolivien fällt man nicht gleich mit der Tür ins Haus, sondern versucht erst einmal eine vertrauensvolle Situation herzustellen und vorsichtig zu sondieren, was man sagen kann und was nicht, bevor man dann zum eigentlichen Kern der Sache vorstößt. 50

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Länge der Ausführungen steht in einem direkten Verhältnis zur Dringlichkeit des Anliegens. Die Dorfbewohner wollten ganz deutlich machen, wie wichtig ihnen die Finanzierung der Dachreparatur ist.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Um Geld zu bitten, ist generell keine schöne Angelegenheit, und die Dorfbewohner hassen es, von anderen abhängig zu sein und sich als Bittsteller präsentieren zu müssen. Deshalb reden sie so lange um den »heißen Brei« herum.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Gerade die ländliche Bevölkerung hat immer wieder schlechte Erfahrungen mit Ämtern, öffentlichen Institutionen und dergleichen gemacht. Aus Furcht vor der Wiederholung solcher Erfahrungen wagen sie sich mit ihrem Anliegen nur langsam vor.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Insbesondere in Behörden oder anderen institutionalisierten Kontexten, in denen Asymmetrien dergestalt herrschen, dass die eine Seite etwas geben oder vorenthalten kann und die andere um etwas nachsucht, wird zunächst einmal vorsichtig agiert und an einer mehr oder weniger vertrauensvollen Situation gearbeitet. Zu solch vertrauensbildenden Maßnahmen zählt auch, dass man nicht gleich in medias res geht, sondern sein Anliegen umkreist und abtastet, wann man sein Anliegen offenlegen kann. 51

Erläuterung zu b): Solch ein Verhältnis gibt es nicht, man unterstreicht in Bolivien nicht die Dringlichkeit eines Anliegens damit, dass man lange Ausführungen »vorschaltet«. Erläuterung zu c): Möglicherweise möchten die Dorfbewohner tatsächlich nicht als Almosenempfänger betrachtet werden und es fällt ihnen deshalb schwer, ihr Anliegen geradeheraus vorzubringen. Erläuterung zu d): Es ist richtig: Die ländliche Bevölkerung hat eine lange Tradition unguter Erfahrungen mit öffentlichen Institutionen. Allerdings verhalten sich nicht nur Bewohner ländlicher Gebiete so, sondern auch Bolivianer, die in urbanen Kontexten leben. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Walther könnte solche Situationen nicht nur als Anlass nehmen, sich in Geduld zu üben, sondern die Erzählungen mit dem Interesse desjenigen verfolgen, der als Ausländer mit vielen Facetten des Landes, in dem er lebt und arbeitet, noch nicht so gut vertraut ist. Darüber hinaus dürfte sich der »Vorspann« bis hin zur Kommunikation des eigentlichen Anliegens im Laufe der Zeit verkürzen, wenn Herr Walther selbst stärker zu einem positiv konnotierten Gesprächsklima beizutragen gelernt hat.

Kulturelle Hintergründe zu »Indirekte Kommunikation« Bolivianer bemühen sich in der Regel um Harmonie in interpersonalen Beziehungen. Der Achtung vor der anderen Person, ihren Bedürfnissen, Befindlich- und Empfindlichkeiten wird ein gro52

ßer Stellenwert eingeräumt, der auch in einer ausgeprägten Sympathieorientierung (s. den gleichnamigen Themenbereich) Ausdruck finden kann. Höflichkeit, eine angenehme, positiv konnotierte Stimmung in Situationen des Privat-, aber auch des Geschäftslebens gelten als erstrebenswert. Hierzu gehört ein eher indirekter, impliziter Kommunikationsstil, der die Äußerung von Kritik nur in engen Grenzen zulässt. Unangenehme Wahrheiten werden vermieden oder in abgeschwächter Form vorgebracht, bisweilen wird auch lieber auf eine »mentira blanca« (»weiße Lüge«), also eine sozial verträgliche Lüge zurückgegriffen. Ein offenes und endgültiges »Nein« wird so lange wie möglich umschifft, es wird eher darauf gesetzt, dass die andere Person im Lauf der Zeit von selbst bemerkt, dass etwas nicht geht, nicht eintreten, nicht eingehalten werden wird usw. Eine Interviewpartnerin drückte es so aus: »Man kann Bolivianern nicht einfach ›Nein, es geht nicht‹ sagen. Sie müssen es im Lauf der Zeit selbst begreifen«. »Nein« wird als Ablehnung der eigenen Person gewertet, lieber möchte man hören, dass der andere es zumindest versuchen wird. Die Bolivianer selbst können durchaus zwischen unterschiedlichen Formen, ein »Nein« zu vermeiden, differenzieren, und erkennen auch in umeinander bemühten Gesprächen die Indikatoren für Kritik, die aus Höflichkeit mitunter zwar höchst implizit, aber durch para- und nonverbale Aspekte (wie Betonung, Lautstärke oder Mimik) für den geübten Gesprächspartner wahrnehmbar sind. Bemerkt werden dann aber eben nicht allein die Kritik, sondern auch die Bemühungen des Gegenübers, diese in einer Gesicht wahrenden Form zu übermitteln. Was Deutschen an der Kommunikation in Bolivien zu Beginn oftmals seltsam erscheinen mag, verinnerlichen sie im Laufe der Zeit mitunter selbst so stark, dass ihnen erst in einem anderen kulturellen Kontext auffällt, wie »bolivianisch« sie geworden sind. So berichtete eine der Interviewten, dass sie nach einigen Jahren für kürzere Zeit wieder in Deutschland gelebt und gearbeitet habe und sich ihre Kolleginnen und Kollegen dort anfangs wegen des aus ihrer Sicht ganz und gar umständlich-höflichen Kommunikationsstils unserer Interviewpartnerin amüsiert hätten. Deutsche werden in Bolivien aufgrund ihres eher sachlichen und direkten Kommunikationsstils als effizient geschätzt, öfters 53

aber auch als geradezu schockierend offen empfunden, was mitunter zu massiven Irritationen führen kann. Das in Deutschland auch im Berufsleben geschätzte offene Wort oder das Klartextreden stoßen in Bolivien auf Befremden. Wenn nun in einer Situation Kritik geäußert werden soll, bietet es sich an, nicht auf die Kritik zu verzichten, sie aber so mitzuteilen, dass die Beziehung zueinander nicht gefährdet wird. So kann man beispielsweise darauf hinweisen, dass man selbst möglicherweise etwas übersehen, missverständlich ausgedrückt oder nicht ganz optimal gemacht hat, was dann wiederum mit zu der Situation geführt hat, mit der man sich nun möglichst konstruktiv auseinandersetzen muss. Vor dem Hintergrund einer bestehenden vertrauensvollen Beziehung wird eine (dosierte) direktere Kritik eher möglich sein, als wenn solch ein Vertrauen noch nicht vorhanden ist. Insofern kommt der vorgängigen Arbeit an einer guten Beziehung eine große Bedeutung zu. Deutsche schätzen oft die angenehme, wertschätzende Atmosphäre, zu der der indirekte Kommunikationsstil der Bolivianer beitragen kann, der nicht so sehr daran interessiert ist, das beste Argument in den Ring zu werfen, sondern die Güte der Beziehung aufrechtzuerhalten. Andererseits ist es für Deutsche aber auch bisweilen kaum zu ertragen, dass man nicht endlich »zur Sache kommt«, sondern um den »heißen Brei herumredet«. Dann werden die Bolivianer als umständlich, mitunter sogar als verlogen empfunden. Freilich wird nicht in allen Kontexten indirekt kommuniziert und vielen Bolivianern ist selbstverständlich auch bekannt, dass Angehörige anderer Nationalitäten mitunter einen anderen Kommunikationsstil pflegen als sie selbst. Es ist darüber spekuliert worden, ob solch ein auch in anderen Ländern Lateinamerikas üblicher Kommunikationsstil mit bestimmten historischen Prozessen zu tun haben könnte, deren Auswirkungen bis heute zu spüren seien (vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in den anderen Lateinamerika-Trainings dieser Reihe). Im Einzelnen geht es vor allem um die folgenden drei Komplexe bzw. eine Kombination aus ihnen: 1. die Eroberung durch die Spanier, 2. der spanische Katholizismus, 3. die Erfahrung mit Militärdiktaturen. Ad 1: Die Spanier hätten durch ihre mit Gewalt durchgesetzte Macht die Ureinwohner zu einem 54

vorsichtigen, impliziten und doppelbödigen Kommunikationsstil gezwungen. Ad 2: Der spanische Katholizismus sei an spirituellen und nicht an irdischen Interessen orientiert gewesen, was zu einer erhöhten Wertschätzung für Personen im Unterschied zu Sachen beigetragen haben könnte. Ad 3: Die vielen außerordentlich repressiven lateinamerikanischen Militärdiktaturen hätten die Menschen gelehrt, unbekannten Personen vorsichtig zu begegnen und ihnen gegenüber im Hinblick auf die Äußerung der eigenen Meinungen, Bewertungen und Überzeugungen zurückhaltend zu sein – aus Angst vor Verfolgung, aber auch aus der Befürchtung heraus, Konflikte zu provozieren (zu den bolivianischen Militärdiktaturen s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«). Während wir den zweiten Punkt nicht gänzlich als einen plausibilisierenden Faktor ausschließen wollen, erscheinen uns die Punkte eins und drei doch etwas triftiger zu sein, wobei alle drei Aspekte hochspekulativen Charakter haben. Ferner mag der auch schon beim Themenbereich »Sympathieorientierung« angeführte Hinweis Relevanz beanspruchen zu können. Dort war geltend gemacht worden, dass solch eine Orientierung in Ländern mit mangelnder Rechtssicherheit und eingeschränkten sozialen Absicherungen unterschiedlicher Art funktional sei. Dies liegt auch für die indirekte Kommunikation nahe, die ja mit Sympathieorientierung eng verbunden ist.

55

Themenbereich 3: Flexibilität

Beispiel 9: Einfach aus- und umsteigen Situation Harald Müller ist seit ein paar Monaten in einem Projekt der internationalen Zusammenarbeit im Departamento La Paz tätig. Heute muss er aus beruflichen Gründen nach Santa Cruz fliegen und wird von Alberto Quispe, einem Kollegen, zum Flughafen gebracht. Sie sind schon etwas später als geplant losgekommen. Zu allem Überfluss ist der Weg zum Flughafen, wie sich jetzt herausstellt, auch nicht ohne Weiteres passierbar, da sie auf eine Gruppe protestierender Menschen stoßen, die unglücklicherweise auch noch eine Straßenblockade errichtet haben. Herr Müller hat zwar durchaus Sympathien für die Anliegen der Protestierenden, ist aber gleichzeitig auch ärgerlich auf sie und sehr nervös, da er Angst hat, es nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen zu schaffen. Herr Quispe ist dagegen völlig gelassen und meint nur »das schaffen wir schon«. In aller Seelenruhe parkt Herr Quispe sein Auto am Straßenrand, beide steigen aus und nehmen auf der anderen Seite der Blockade ein Taxi, um weiter zum Flughafen zu fahren. Ohne weitere Zwischenfälle kommen Sie am »Aeropuerto Internacional El Alto« an und haben sogar noch Zeit, Herrn Müllers Nerven mit einem Coca-Tee zu beruhigen, bevor es in den Flieger zum »Aeropuerto Internacional Viru Viru« bei Santa Cruz geht. Wie lässt sich das Verhalten von Herrn Quispe erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. 57

– Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Deutsche nehmen alles immer fürchterlich genau und achten sehr auf Pünktlichkeit. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Herr Quispe ist Straßenblockaden und dergleichen gewohnt, bleibt dementsprechend gelassen und weiß, was zu tun ist. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) In Hektik kann man nicht klar und an Alternativen denken. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Herr Quispe geht davon aus, dass sich Herr Müller als reicher Europäer problemlos eine Umbuchung auf einen späteren Flug leisten kann und versteht die ganze Aufregung nicht. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Pünktlichkeit wird manchmal als etwas betrachtet, das in Deutschland verbreiteter als in Bolivien ist. Unabhängig davon, ob dies tatsächlich der Fall ist oder nicht, erklärt der Hinweis auf »deutsche« Pünktlichkeit aber nicht Herrn Quispes Verhalten – und nach diesem ist ja gefragt worden. 58

Erläuterung zu b): Bolivianer scheinen im Allgemeinen tendenziell gelassener bei Unterbrechungen des Geplanten zu reagieren, dann sind sie aber auch an Straßenblockaden und ähnliche außerparlamentarische politische Manifestationen gewöhnt. Mit einem Buchtitel von James Dunkerley (1984) könnte man argumentieren, in einem Land, das »Rebellion in den Adern« habe, könne man nur mit Gelassenheit reagieren oder andauernd verzweifeln. Speziell seit der Rückgewinnung der Demokratie im Jahr 1982 (s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«) sind offen ausgetragene politische Konflikte alltäglich geworden. Während der Regierung von Carlos Mesa (2003–2005) erreichten Straßenblockaden, Streiks, Kundgebungen und dergleichen einen ihrer Höhepunkte. In der lateinamerikanischen Zeitschrift »Nueva Sociedad« wurde gar der Begriff der »Blockadenmanie« verwendet (Koehler, Marconatto Marques u. Silva Seitenfus, 2007). Bolivien ist im Laufe seiner Geschichte, die über 250 Regierungen erlebt hat, immer wieder ökonomisch und politisch durchgerüttelt worden. Die oftmals bittere und schwierige Geschichte Boliviens hat bei vielen Männern und Frauen dazu geführt, dass sie ihre prekäre Situation ändern und die Geschicke ihres Landes deutlich mitbestimmen wollen – dies schließt natürlich nicht aus, dass es zahlreiche unterschiedliche Versuche der politischen Instrumentalisierung der Unzufriedenen gibt und sich nicht einfach die sogenannte reine Stimme des Volkes erhebt. Für die politisierten und organisierten Gruppen sind Straßenblockaden inner- und außerhalb der Großstädte probate Mittel, um auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen und sie auch durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Bolivianer eher gelassen und flexibel darauf reagieren. Für Deutsche mögen Straßenblockaden und dergleichen dagegen eher als unwillkommene Hindernisse empfunden werden, die ihre Pläne durchkreuzen. Erläuterung zu c): Die Antwort erklärt allenfalls Herrn Müllers Nervosität, nicht aber das Verhalten von Herrn Quispe, der ja eben alles andere als hektisch wird und offenkundig sehr wohl an Alternativen denken und sie in die Tat umsetzen kann. 59

Erläuterung zu d): Es ist nicht ausgemacht, dass Herr Quispe Herrn Müller überhaupt für reich hält, bloß weil er ein Europäer ist. Aber auch wenn dies so sein sollte, so geht es ja nicht um das Geld von Herrn Müller, denn es handelt sich ja um eine berufsbedingte Reise. Schließlich dürfte Herr Quispe auch davon ausgehen, dass Herr Müller keinen gesteigerten Wert auf die Unannehmlichkeiten legt, die mit einer Umbuchung verbunden sind. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest. Ein möglicher Umgang mit der Situation Wenn Herr Müller solch eine Situation noch nie erlebt hat, wird er wohl kaum aus seiner Haut können und sich deshalb ganz im Sinne seiner eigenkulturellen Prägung verhalten. Allenfalls könnte er seinem bolivianischen Kollegen vertrauen, der ja wahrscheinlich nicht ohne Grund keine Unruhe verbreitet, sondern Zuversicht ausstrahlt. Mit etwas mehr Erfahrung in dem Land dürfte Herr Müller solche und ähnliche Situationen dann öfter durchlebt haben und ebenfalls gelassener geworden sein bzw. besser wissen, wann tatsächlich Panik angezeigt ist und wann nicht.Er dürfte im Laufe der Zeit auch immer mehr Wissen darüber angesammelt haben, wie genau mit diesem oder jenem Hindernis umgegangen werden kann und was demgegenüber keine so geeigneten Mittel sind.

Beispiel 10: Was willst du machen? Situation Hans Bahr ist Soziologe und arbeitet im Zuge eines akademischen Austauschprogramms an einer Universität in Santa Cruz. Obwohl er noch gar nicht so lange in Bolivien lebt, hat er bereits einen bolivianischen Freundeskreis, mit dem er etwas unternimmt. Immer, wenn sich die Freunde treffen, wird Herr Bahr gefragt, was er denn gerne machen würde. Herr Bahr hat sich meistens schon im 60

Vorhinein überlegt, was das sein könnte und schlägt das dann auch vor. Nach einiger Zeit fällt ihm auf, dass es meistens er ist, der entscheidet, was unternommen wird. Als er dies bemerkt, ist er etwas irritiert und beginnt die Bolivianer zu fragen, worauf sie denn Lust hätten. Die darauf folgenden und aus Herrn Bahrs Sicht endlos langen Diskussionen führen allerdings meistens zu gar nichts, so dass er versucht, das Ganze abzukürzen und wieder selbst die Initiative ergreift. Herr Bahr wird das unangenehme Gefühl nicht los, noch immer wie ein Gast behandelt zu werden. Wie erklären Sie das Verhalten der Bolivianer? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Es ist völlig normal, dass Herr Bahr noch wie ein Gast behandelt wird, schließlich wohnt er noch nicht lange in Bolivien. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Bolivianer sind einfach etwas einfallslos, dagegen hat Herr Bahr gute, neue Vorschläge, auf die die Bolivianer nicht gekommen wären. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Bolivianer entscheiden eher spontan, in der Situation selbst, was sie mit ihren Freunden unternehmen wollen. Das kann dann allerdings wiederum etwas länger dauern, denn was man genau machen will, wird eben nicht im Voraus geplant.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

61

d) Die bolivianischen Freunde von Herrn Bahr wollen wie Europäer sein und ihm alles recht machen. Es ist ihnen unangenehm, das zu unternehmen, was sie normalerweise unternehmen, weil sie befürchten, das könnte Herrn Bahr nicht gefallen – sie wollen sich und ihm diese Peinlichkeit ersparen.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Obwohl Bolivianer zumeist sehr gastfreundlich sind und auf die Bedürfnisse ihrer Gäste eingehen, könnte diese Situation auch vorkommen, wenn Herr Bahr kein Gast wäre. Erläuterung zu b): Es mag sein, dass der konkrete Freundeskreis von Herrn Bahr einfallslos gewesen ist, aber Bolivianer sind per se selbstverständlich nicht langweiliger oder »dröger« als Deutsche, Chinesen oder US-Amerikaner. Erläuterung zu c): In Bolivien wird – getreu dem Motto »Planung ist der Tod der Freiheit« – oftmals spontan gehandelt, wodurch längere Diskussionen entstehen können, was denn nun gemacht werden solle, unabhängig davon, ob ein Ausländer in der Gruppe ist oder nicht. Natürlich wird so etwas besonders deutlich, wenn jemand wie Herr Bahr, der gern im Voraus plant, anwesend ist und sich entsprechend verhält. Längerfristige Planungen sind gerade in der Freizeit in Bolivien ziemlich unüblich. Zumeist wird erst kurz vorher entschieden, was unternommen werden soll. Tickets für Konzert-, Kino- oder Theaterbesuche müssen nicht unbedingt lange vorher besorgt werden, denn die meisten kaufen ihre Eintrittskarten erst an der Abendkasse. Erläuterung zu d): Zwar gibt es insbesondere in ökonomisch besser situierten Kreisen eine gewisse Bewunderung und eine damit einhergehende 62

Orientierung an Europa, eine solche Situation hätte sich aber auch unter Bolivianern abspielen können. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Bahr könnte sich in Frustrationstoleranz üben und es einfach ein paar Mal aushalten, dass aus seiner Sicht endlos lange diskutiert wird, was denn nun mit dem Abend angefangen werden solle. Dabei würde er vermutlich bemerken, dass diese Diskussionen ja irgendwann doch zu etwas führen, wenn auch möglicherweise nicht in der Geschwindigkeit, die Herr Bahr gewohnt ist. Er würde dann vielleicht auch Vorzüge darin erkennen, sich erst in der Situation selbst darüber Gedanken zu machen, was man denn nun machen wolle, statt immer schon vorher – wie er dies aus Deutschland gewohnt sein mag – einen »Schlachtplan« ausgearbeitet zu haben.

Kulturelle Hintergründe zu »Flexibilität« Das Konzept, das die vorangegangen Situationen erklären kann, ist das der Flexibilität. Es zeichnet sich dadurch aus, dass Personen ein eher kurzfristiges Planungsverhalten an den Tag legen, flexibel mit bereits bestehenden Plänen umgehen, Improvisationstalent zeigen und gelassen auf Störungen des geplanten Handlungsablaufs reagieren. Bolivianer planen oftmals spontan, wodurch Probleme oder lange Diskussionen entstehen können, wenn etwas unternommen werden soll, ganz unabhängig davon, ob sich ein Ausländer in der Gruppe befindet oder nicht. Dieses Merkmal wird aber umso offenkundiger, wenn ein Deutscher, der es gewohnt sein mag, länger im Voraus zu planen, anwesend ist und entsprechend seines Orientierungssystems handelt. Die Irritationen, die hiermit einhergehen, können – auch je nach der 63

speziellen Situation – von einer Bewertung des bolivianischen Verhaltens als chaotisch bis hin zu einer bewundernden Anerkennung eines kreativen Improvisationstalents reichen. Die bolivianische Flexibilität und Gelassenheit im Umgang mit Plänen, Störungen und Zeit (s. Themenbereich »Zeitverständnis [›Hora boliviana‹]«) kontrastiert mit dem, was gemeinhin als deutsches Orientierungssystem gilt. Die Fremd- und Selbsteinschätzungen Deutscher, die bekanntlich oftmals ins Stereotype gehen, stimmen darin überein, dass Deutsche alles genau planen und dass mangelhafte Organisation und Störungen im geplanten Handlungsablauf bei ihnen leicht Ärger erzeugen. Durch Planung wollen sie die Effizienz maximieren, was zwangsläufig ihre Spontaneität hemmt. In Bolivien ist das häufig anders. Besonders im Freizeitleben wird erst kurz vorher entschieden, was unternommen werden soll. Ist ein Plan gefasst, so ist es nicht unüblich, dass er auch wieder geändert wird. Veränderungen vorzunehmen ist immer möglich. Auch was politische Entscheidungen anbelangt, werden Projekte zwar geplant, im Verlauf aber den Gegebenheiten flexibel angepasst. Selbst bei Geschäftsverhandlungen und Tagesordnungen verhalten sich Bolivianer durchaus einmal emotional und passen den Diskussions- und Entscheidungsprozess ihrem eigenen momentanen inneren Zustand an. Dies schafft gewisse Freiheitsgrade, da sie erst im jeweiligen Moment entscheiden müssen, ob und wie sie eine Sache ausführen möchten. Im positiven Fall schätzen die Deutschen die Flexibilität von Bolivianern im Hinblick auf Pläne, Entscheidungen und gemeinsame Vorhaben, empfinden das vielleicht als eine entspannte und kreative Haltung, die mit einer gewissen Freiheit von äußeren Zwängen einhergeht. Im negativen Fall sehen sie darin mangelnde Verlässlichkeit und (negativ konnotierte) Unberechenbarkeit. Umgekehrt empfinden Bolivianer Deutsche im negativen Fall mitunter als starr, rigide, wenig spontan und einfallslos; im positiven Fall dagegen als berechenbar (in einem anerkennenden Sinne), planvoll und stringent. In einem Land, das auch in seiner jüngeren Geschichte (s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«) von rasch aufeinanderfolgenden Regimewechseln (etwa in den Jahren 1979 bis 1982 sowie den 64

Jahren 2002 bis 2005), Hyperinflation (1982 bis 1985), immer wieder aufflammenden Massenprotesten (zum Beispiel in den sogenannten »Kriegen« um das Wasser und das Gas, in den Jahren 2000 und 2003), aber auch häufig stattfindender »kleinerer« Straßenblockaden und Streiks sowie Rechtsunsicherheit gekennzeichnet ist, ist Flexibilität nicht Ausdruck eines irgendwie leichtfüßigen »Nationalcharakters«, sondern eine pragmatische und lebensnotwendige Haltung.

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Themenbereich 4: Zeitverständnis (»Hora boliviana«)

Beispiel 11: Ich komme gleich an der Plaza an Situation Kathrin Schumacher leitet seit einigen Jahren ein Kinderheim in einer bolivianischen Großstadt. Dort fährt sie sehr oft Bus und bekommt häufig die folgende Situation mit: »Ya estoy llegando a la Plaza« (»Ich komme gleich an der Plaza an«), sagt ein Bolivianer am Telefon dem anderen. Der Bus befindet sich aber noch sehr weit von der Innenstadt entfernt. Heute amüsiert sich Frau Schumacher manchmal über so etwas, früher fand sie solche Situationen eher verwirrend. Wie erklären Sie das Verhalten der Bolivianer? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Der Bus ist in Bolivien das schnellste Verkehrsmittel und hat beispielsweise an Kreuzungen und auf Sonderspuren Vorrang vor dem Autoverkehr. Mit dem Bus zu fahren bedeutet schnel67

ler anzukommen, deswegen ist die Zeiteinschätzung »gleich« hier gerechtfertigt.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Bolivianerinnen und Bolivianer nehmen es mit der Wahrheit manchmal nicht so genau und sagen deswegen schon einmal, dass sie »gleich« ankommen werden, obwohl das einfach nicht der Fall ist.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Bolivianer foppen einander gern und lassen deshalb ihr Gegenüber manchmal im Unklaren, wann sie wirklich zu einem ausgemachten Treffpunkt kommen werden.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Die Aussage »ich komme gleich« enthält in Bolivien einen anderen Spielraum als in Deutschland. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Der Bus ist keineswegs das schnellste Verkehrsmittel in Bolivien, Busfahrten können sich vielmehr entnervend lang hinziehen. Erläuterung zu b): Bolivianerinnen und Bolivianer nehmen es mit der Wahrheit so genau oder ungenau wie Menschen anderer Nationalitäten auch. Erläuterung zu c): Es gibt keine spezifisch bolivianische Lust am Foppen und Gefoppt-Werden, auch nicht im Hinblick auf Verabredungen. 68

Erläuterung zu d): Bolivianer wollen ihr Gegenüber nicht ärgern oder belügen, sondern haben mitunter einen etwas weiteren Begriff von »ich komme gleich« oder »wir treffen uns um vier Uhr«. Mit letzterem ist keineswegs immer genau um vier Uhr, sondern oftmals »so um vier Uhr herum« gemeint und mit einem eher weiten Toleranzbereich im Hinblick darauf, was noch als vier Uhr gelten kann, versehen. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Man kann sich natürlich permanent über die Unpünktlichkeit von Bolivianern ärgern und sein eigenes Zeitverständnis für das einzig richtige und sinnvolle halten. Da dies aber zu nichts führt, ist es wohl günstiger, sich darauf einzustellen, dass das Zeitverständnis in Bolivien mitunter von dem eigenen abweicht. Die Kunst, die es hierbei zu erlernen gilt, ist es, richtig einzuschätzen, wann ein »bolivianisches« und wann ein »deutsches« Zeitverständnis vom bolivianischen Gegenüber gemeint ist.

Beispiel 12: Die Einladung Situation Benedikt Moser arbeitet in einer Organisation der Internationalen Zusammenarbeit. Obwohl die Bolivianer ihm sehr freundlich begegnen, hat er nach wie vor Schwierigkeiten, Bekanntschaften zu machen oder gar Freundschaften zu schließen. Zunächst kommt er auch mit Redewendungen wie »mi casa es tu casa« (»mein Haus ist dein Haus«) nicht gut zurecht, weil er nicht weiß, dass das eine höfliche Formel ist, die aber nicht schon auf starke Bemühungen, eine Freundschaft zu etablieren, hindeutet, 69

und die schon gar nicht wörtlich zu verstehen ist. Seltsam findet er auch die Unverbindlichkeit, mit der man sich demnächst einmal auf einen Kaffee treffen will. Umso erfreuter ist er, als er tatsächlich eine ernst gemeinte Einladung von einem Kollegen, Umberto Suárez, erhält, zuerst zu ihm nach Hause zu kommen, um dann gemeinsam in die Stadt zu gehen. Als Herr Moser jedoch zur verabredeten Zeit vor der Haustür des Kollegen erscheint, muss er feststellen, dass dieser ihn etwas irritiert empfängt, ihn auf dem Sofa platziert, um dann erst eine ganze Weile später wiederzukommen und das auch noch mit umwickelten Handtuch, da er offenbar geduscht hat. Er müsse sich jetzt nur noch rasch anziehen, dann sei er auch ganz für Herrn Moser da. Mittlerweile sitzt dieser seit gut einer Stunde auf dem Sofa und weiß nicht so recht, was er tun soll. Wie erklären Sie das Verhalten von Herrn Suárez? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Da in Bolivien Freizeitaktivitäten spontan geplant werden, muss man sich kurz vorher telefonisch rückversichern, ob es mit der Verabredung tatsächlich klappt. Da Herr Moser das nicht getan hat, hat Herr Suárez nicht mehr mit seinem Erscheinen gerechnet. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Pünktlichkeit ist eine deutsche, aber keine bolivianische Tugend.

sehr zutreffend

70

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Genau spiegelverkehrt zu Deutschland ist es in Bolivien unhöflich, genau zur vereinbarten Zeit zu kommen oder gar noch früher. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Insbesondere in eher informellen Situationen wird nicht erwartet, dass jemand genau um die Zeit erscheint, die man ausgemacht hat. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist zwar richtig, dass Freizeitaktivitäten in Bolivien eher spontan geplant werden (s. Themenbereich »Flexibilität«), das heißt aber nicht, dass man sich kurz vor einer Verabredung noch einmal rückversichern muss, ob es nun tatsächlich klappt. Erläuterung zu b): So allgemein dürfte das nicht zutreffen, schon deswegen nicht, weil die deutsche Pünktlichkeit manchmal auch eher ein Klischee, denn tatsächliche Wirklichkeit ist. Erläuterung zu c): Nein, wirklich unhöflich ist es nicht, in Bolivien früher oder genau zur abgemachten Zeit zu kommen. Für manchen Bolivianer ist es aber – gerade in informellen Situationen – einfach ungewohnt und deshalb etwas irritierend. Erläuterung zu d): »Wir treffen uns um sechs Uhr« heißt nicht (s. Beispiel 11), dass man sich genau um sechs Uhr trifft und es keine Abweichung geben dürfe. Das Gegenteil ist der Fall und tatsächlich sind informelle Situationen wie eine Verabredung, am Abend gemeinsam etwas zu unternehmen, geradezu prädestiniert für ein eher weites Verständnis von »Sich-um-18-Uhr-Treffen«. 71

– Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Moser sollte sich nicht zu viel aus seinem Fauxpas machen und die Situation mit Humor nehmen. Vielleicht befindet sich in der Nähe des Sofas ja ein interessantes Buch, in dem er herumblättern kann oder er findet eine Zeitung mit Veranstaltungshinweisen für den heutigen Abend. Für künftige ähnliche Situationen empfiehlt sich dann ein etwas entspannterer Zeithorizont oder die Nachfrage, ob man sich denn »en punto« (»genau um xy«) oder »a la ›hora boliviana‹« (»zur bolivianischen Zeit«) treffen wolle.

Beispiel 13: Der Vortrag Situation Dieter Hahn hat im Rahmen seiner Tätigkeit in einer politischen Stiftung einen hochkarätigen Referenten gewinnen können, der zur Frage nach der historischen und gegenwärtigen Funktion der immer wieder erhobenen bolivianischen Forderung, einen Zugang zum Meer (wieder) zu erlangen, vortragen wird. Er hat auch sonst alles bestens vorbereitet und freut sich, dass der Referent so pünktlich am Veranstaltungsort ankommt, dass man noch in aller Ruhe die Power-Point-Präsentation seines Vortrags auf den Rechner speichern und ein wenig zwanglos miteinander plaudern kann. Als es jedoch immer später wird und nur vereinzelt Zuhörer in den Vortragssaal »hineintröpfeln«, beginnt Herr Hahn – anders als der Referent – unruhig zu werden. Ist etwa eine verkehrte Uhrzeit im Netz annonciert worden? Ist sonst etwas mit der Ankündigung des Vortrags schief gegangen? Am Referenten selbst kann es nicht liegen, denn der ist so einschlägig, dass er Vortragssäle, noch dazu einen so vergleichswei72

se übersichtlichen wie diesen hier, problemlos füllt. Der Referent macht sich nicht viel aus der Situation und rät noch abzuwarten, bevor er beginnt. Und tatsächlich ist der Saal eine gute halbe Stunde nachdem der Vortrag eigentlich losgehen sollte bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie erklären Sie das Verhalten des Referenten und das der Zuhörer? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Die Zuhörer und auch der Referent gehen davon aus, dass Termine nicht immer exakt um die angekündigte Zeit beginnen. Dies trifft auch auf Termine zu, die keinen rein informellen Charakter haben.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Das Thema und der Referent sind auch wieder nicht so interessant, dass das Publikum gleich von Anfang des Vortrags da sein möchte. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die Zuhörerschaft erwartet die wirklich wichtigen Ausführungen erst gegen Mitte des Vortrags, deshalb geht sie davon aus, dass es sich nicht lohne, pünktlich da zu sein.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

73

d) Bei öffentlichen Vorträgen gilt in Bolivien eine ähnliche Regelung wie sie auch in Deutschland an Universitäten üblich ist. Eine Veranstaltung beginnt c.t. (»cum tempore«), also mit geplanter Verspätung. In Bolivien sind allerdings 30 Minuten üblich statt wie in Deutschland 15.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Bei ganz offiziellen Terminen oder Einladungen gibt es keine zeitlichen Toleranzbereiche, in informellen (s. Beispiel 12), aber auch in Situationen, die nicht ganz offiziell sind, schon. Dies wissen sowohl der Referent als auch die Zuhörer, weshalb ersterer, im Unterschied zu Herrn Hahn, gelassen bleibt, und letztere nicht exakt zur angekündigten Zeit da sind. Erläuterung zu b): In der Situationsbeschreibung wird explizit hervorgehoben, dass der Referent so bekannt ist, dass er problemlos große Vortragssäle füllen kann. Insofern scheint es eher unwahrscheinlich, dass der Referent als so interessant auch wieder nicht angesehen wird und das Publikum nicht gleich zu Beginn des Vortrags da sein möchte. Boliviens verlorener Meereszugang ist darüber hinaus ein politischer Dauerbrenner und -aufreger. Außerdem: Was ist mit dem Verhalten des Referenten? Erläuterung zu c): Wer weiß schon genau, wann die interessanten Ausführungen zu erwarten sind? Und auch wenn man das wüsste, etwa weil man den Stil des Referenten schon gut kennt – wäre das schon ein hinreichender Grund, um später zu kommen? Ferner: Was ist mit dem Verhalten des Referenten? Erläuterung zu d): Eine solche Regelung gibt es in Bolivien nicht. 74

– Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Hahn kann sich an die »hora boliviana« anpassen, er kann aber auch konsequent die Veranstaltungen exakt um die Uhrzeit beginnen lassen, zu der sie angekündigt worden sind (vorausgesetzt der Referent ist auch da). Da es sich ja auch nicht um rein informelle Situationen handelt, dürfte das auch akzeptiert werden und sich herumsprechen.

Kulturelle Hintergründe zu »Zeitverständnis (›Hora boliviana‹)« Der Alltag in Bolivien ist nicht überall so straff organisiert wie in Deutschland. Dennoch wird etwa von Schülerinnen und Schülern erwartet, dass sie pünktlich zur Schule kommen und in manchen Firmen gibt es strenge, an feste Zeiten gebundene Tagesabläufe. Insgesamt herrscht in Bolivien aber nicht allein im Umgang mit Plänen und Organisation eine größere Flexibilität als in Deutschland (s. Themenbereich »Flexibilität«), sondern auch im Umgang mit Zeit. Pünktlichkeit mag zwar die Höflichkeit der Könige sein, in Bolivien zieht man es aber oftmals vor, Republikaner zu sein. Verspätungen sind selbstverständlich, manchmal sogar erwünscht und Entschuldigungen dafür oft schlicht überflüssig. Zum Mittagessen sollte man zwar schon so pünktlich sein, dass alle Familienmitglieder zur gleichen Zeit am Tisch sitzen. Wenn man aber auf ein Abendessen oder eine Party einlädt, wird vom Gastgeber erwartet, dass die Gäste sich etwa um eine halbe bis eine Stunde verspäten. Es ist allerdings auch nicht so, dass man vor dem Hintergrund eines solchen Wissens einfach immer getrost eine Stunde »draufschlagen« könnte. Möchte man sichergehen, wann man da sein soll, kann man sich auch vergewissern: »¿a las xy en punto?« (»genau um xy?«). Im positiven Fall empfinden Bolivianer Deutsche als gut orga75

nisiert und verlässlich, Deutsche Bolivianer als gelassen, spontan und nicht so sehr in zeitliche Zwänge eingeschnürt. Dies ermöglicht etwa, dass man auch hochrangige Personen mitunter kurzfristig erreichen kann. Ein Unternehmer berichtete auch davon, dass es ihm gar nicht so unrecht sei, dass nicht das »Just-intime«-Prinzip ubiquitäre Geltung habe, das entspanne seine Arbeitsabläufe erheblich. Im negativen Fall dagegen nehmen Bolivianer Deutsche als unflexibel und wenig spontan sowie als ständig unter Druck stehend wahr. Andererseits besteht die Gefahr, dass Deutsche Bolivianer, die wenig Wert auf Pünktlichkeit legen, als respektlos, chaotisch und unzuverlässig empfinden und eine gemeinsame Zusammenarbeit, das Voranbringen und erfolgreiche Abschließen von Projekten erschwert wird. Der unterschiedliche Umgang mit Zeit wird bisweilen auf ein »poly-« gegenüber einem »monochronen« Zeitverständnis zurückgeführt (Rottenaicher, 2003, S. 164). Ein polychrones Zeitverständnis gilt in Ländern, in denen unter anderem eine Sympathieorientierung (s. die Ausführungen zum gleichnamigen Themenbereich) vorherrscht als typisch, ein monochrones Zeitverständnis als typisch für die durchindustrialisierten bzw. postindustriellen Länder Nordund Mitteleuropas sowie Nordamerikas. In Kulturen mit einem polychronen Zeitverständnis werden zeitliche Verpflichtungen lockerer gehandhabt, Pläne werden geändert und Pünktlichkeit hat dabei einen vergleichsweise geringeren Stellenwert. Dies soll deswegen der Fall sein, weil unterschiedliche Dinge zur selben Zeit erledigt, Zeitpläne den aktuellen Gegebenheiten angepasst würden, Zeit nicht als eine knappe Ressource angesehen werde und die Einhaltung von Zeitplänen dem Umgang mit den Mitmenschen und sozialen Ereignissen untergeordnet sei. Bei einem monochronen Zeitverständnis ist dagegen die Organisation des menschlichen Lebens von großer Bedeutung und es wird großer Wert auf Terminpläne und Pünktlichkeit gelegt. Zum Aspekt der Pünktlichkeit kommt in Bolivien die Problematik des Straßenverkehrs hinzu.Dadurch,dass das Verkehrssystem Boliviens vergleichsweise wenig ausgebaut ist, ist es mitunter durchaus schwierig, pünktlich zu kommen, auch wenn man es gern möchte: Die bisweilen unpünktlichen öffentlichen Verkehrsmittel sowie häufige Streiks und Straßenblockaden ruinieren Zeitpläne schlicht. 76

Themenbereich 5: Indigenität

Beispiel 14: Die Herzoperation Situation Eva Becker lebt seit ein paar Jahren in Bolivien und arbeitet als Kardiologin in einer größeren Klinik einer Großstadt. Immer wieder kommen auch Patienten, die der Bevölkerungsgruppe der Aymaras angehören, in das Krankenhaus. Bisweilen gibt es Schwierigkeiten wegen der Finanzierung ihrer ärztlichen Behandlung. So auch im Falle des kleinen Jungen Juan Condori. Er benötigt dringend eine OP am Herzen, die Eltern können aber das Geld hierfür nicht aufbringen. Frau Becker findet das unerträglich und sammelt gemeinsam mit einem Kollegen das nötige Geld für die Operation. Das Ehepaar Condori ist sehr erfreut darüber. An dem Termin, der für die Operation festgesetzt worden ist, erscheint die Familie Condori jedoch nicht. Frau Becker macht sich Sorgen: Hatte Familie Condori vielleicht einen Unfall auf dem Weg zur Klinik? Ist sonst irgendetwas Schlimmes passiert? Ein paar Tage später erfährt sie, dass der Onkel des Jungen sein Veto gegen die Operation eingelegt hat, das Herz dürfe man nicht anfassen. Eva Becker versteht die Welt nicht mehr. Wie kann man das Verhalten der Familie Condori erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 79

Deutungen a) Der Familie scheint der Zusammenhalt innerhalb der Familie wichtiger zu sein als die Meinung der Ärzte. Dies rührt daher, dass in Bolivien eine für unser Verständnis traditionelle Lebensweise bevorzugt wird, bei der Familienmitglieder aus unterschiedlichen Generationen zusammenleben und einander unterstützen. So hat die Meinung des Onkels mehr Gewicht als die der Kardiologin. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Der Glaube der Aymaras verbietet es ihnen, eine solche OP durchführen zu lassen, weil alles einen vorherbestimmten Sinn hat und man gewisse Dinge einfach geschehen lassen muss. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Bei den Aymaras genießt eine nicht-invasive Heilkunde eine große Wertschätzung. Die westliche, oftmals invasive Medizin wird demgegenüber mitunter außerordentlich kritisch betrachtet. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Die Familie fühlt sich gekränkt, weil für sie Geld gesammelt wurde. Vielleicht möchten sie, besonders der Onkel, selbst für die Familie sorgen und somit auch für die Herzoperation aufkommen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Es ist wohl so, dass zumindest in Teilen der bolivianischen Gesellschaft das Familienleben mehrgenerational organisiert ist und 80

es hier mitunter einen stärkeren Zusammenhalt als in manch deutscher Familie geben kann. Der Meinung des Onkels mag deshalb durchaus ein bedeutendes Gewicht zukommen. Ob dies allerdings reicht, um zu plausibilisieren, dass die Eltern das Kind nicht zur Operation bringen? Was hat es mit der Vorstellung auf sich, man dürfe das Herz nicht anfassen? Erläuterung zu b): In der Tat hat das Verhalten der Familie mit dem Glauben oder der Kosmovision der Aymaras zu tun. Dass die Aymaras allerdings meinen, alles hätte einen vorherbestimmten Sinn und man müsse bestimmte Dinge einfach geschehen lassen, trifft so nicht zu. Erläuterung zu c): Die andine Kosmovision der Aymaras beinhaltet Vorstellungen des guten Lebens, zu denen Auffassungen zu Gesundheit, Krankheit und der Behandlung von Krankheiten gehören, die teilweise andere sind als die der sogenannten westlichen Medizin. Darunter fällt ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Misstrauen gegenüber invasiven Eingriffen, insbesondere solchen, die sich auf das Herz richten. Erläuterung zu d): Es könnte sein, dass sich eine Familie in ihrer Ehre getroffen fühlt, wenn sie das Geld für eine notwendige Operation nicht aufbringen kann und darauf angewiesen ist, dass ihr geholfen wird. Bei Familie Condori scheint das aber nicht der Fall zu sein, denn weshalb würde sich das Ehepaar darüber erfreut zeigen, dass Geld für die Operation gesammelt wurde? Auch erklärt dies nicht, weshalb das Veto des Onkels damit zu tun haben soll, dass man das Herz nicht anfassen dürfe. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

81

Ein möglicher Umgang mit der Situation Frau Becker könnte versuchen, das Ehepaar Condori, vielleicht auch mitsamt dem Onkel, (noch einmal) zu kontaktieren, um mit ihnen ein ausführliches Gespräch über ihre Befürchtungen im Hinblick auf die Herzoperation zu führen. Dabei dürfte eine respektvolle und authentisch-interessierte Haltung diesen Befürchtungen gegenüber notwendig sein, um das Ehepaar nicht zu überrumpeln. Vor diesem Hintergrund könnte die Ärztin dann möglichst nachvollziehbar ihre Sicht auf die Operation darlegen. Die Kooperation mit einem »Yatiri«, einem traditionellen Heiler der Aymaras, könnte ebenfalls hilfreich sein, wobei so etwas wohl kaum von heute auf morgen gehen dürfte, sondern einer längeren Anbahnung bedürfte, die wohl auch von der gesamten Institution getragen werden müsste. Schließlich wäre gerade für künftige ähnlich gelagerte Fälle eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen der indigenen Medizin bzw. Heilkunde in Bolivien vermutlich sinnvoll.

Kulturelle Hintergründe zu »Indigenität« Vorstellungen und Praktiken im Hinblick auf Gesundheit und Krankheit, die teilweise anders geartet sind als solche der sogenannten westlichen Medizin sind für einen Teil der indigenen Bevölkerung Boliviens charakteristisch und Teil einer andinen Kosmovision. Man muss allerdings über den medizinischen und auch über den andinen Bereich hinausgehen, da Indigenität für Bolivien diesseits und jenseits der Anden generell ein relevantes Thema ist – heute mehr denn je. Indigene Lebensformen, ihre Identitäten und Identitätspolitiken, ihre Sprachen, Wert-, Moralund religiösen Vorstellungen sowie spezifische indigene Formen der Rechtsprechung und eben auch der Medizin spielen im alltäglichen Leben Boliviens und in unterschiedlichen, gerade auch politisch aufgeheizten, Diskursen eine große Rolle. Gegenwärtig wird etwa immer wieder von einer »inneren Dekolonialisierung« gesprochen (s. Svampa, Stefanoni u. Fornillo, 2010). Diese hat – zumindest auf der Ebene politischer Programmatik – unter an82

derem die Revalorisierung der »Originarios« (»Ureinwohner«) zum Ziel, soll ihnen und ihren kulturellen Praktiken zu mehr Anerkennung verhelfen, soll die auch in religiösen Praktiken eingesetzte »hoja sagrada« (das Kokablatt, das auch als »heiliges Blatt« bezeichnet wird) unter der Losung »Coca sí, cocaína no« (»Koka ja, Kokain nein«) rehabilitieren und ein Konzept des »vivir bien« (»gutes Leben«; in unterschiedlichen indigenen Sprachen Boliviens: »Suma Qamaña«, »Sumaj Kausay«, »Ñande Reko«, »Teko Kavi«, »Qhapaj Nan«) gegenüber einem »westlich«-rücksichtslosen »vivir mejor« (»besser Leben«) stärken. Die zunehmende Anerkennung zumindest der indigenen Ethnien der Anden findet ihren Ausdruck auch darin, dass die »Wiphala« als Staatssymbol anerkannt worden ist – neben unter anderem der rot-gelb-grünen Trikolore, der Kantuta (eine Blume in den Farben der Nationalflagge) oder der Nationalhymne. Die Wiphala ist eine viereckige siebenfarbige Fahne, die insbesondere als Symbol der Aymaras gilt und in den politischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre eine Renaissance erfahren hat (s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«). All das Aufgeführte ist politisch heiß umkämpft, nicht in jeder Hinsicht neu und man darf keinesfalls davon ausgehen, dass es eine einzige »indigene Stimme« gebe. Vielmehr gab und gibt es eine Vielzahl indigener und indianistischer Diskurse und Praktiken, die sich zum Teil ergänzen, die aber auch miteinander konfligieren oder einander widersprechen und die – was wenig verwunderlich ist – auch oftmals mit sogenannten westlichen Elementen vielfache Verbindungen eingehen (s. Themenbereich »Synkretismus« sowie »Landeskundliche Fakten im Überblick«). Farthing und Kohl (2014, S. 147) äußern eine ähnliche Einschätzung: »The unitary indigenous identity often projected by the Bolivian state (as well as international agencies and NGOs) ignores the realities of ongoing conflicts and dissimilarities between indigenous peoples«. Wie diese Andeutungen anzeigen, handelt es sich bei dem gesamten Bereich um ein vielschichtiges und komplexes Thema. Wir beschränken uns auf ein paar wenige Hinweise zu drei ausgewählten Feldern. Es sind dies (anknüpfend an die Beispielsituation) 1. Gesundheit, 2. Bildung und 3. Recht. 83

1. Gesundheit: Operative Eingriffe, wie sie in der westlichen Medizin üblich sind, werden von Teilen der Aymaras skeptisch betrachtet. Diese Skepsis dürfte zum einen mit einer großen Wertschätzung von naturheilkundlichen Verfahren zusammenhängen, wie sie insbesondere von den traditionellen Heilern der Aymaras, den »Yatiris« praktiziert werden; zum anderen dürfte die Skepsis aber vermutlich auch mit schlechten Erfahrungen zusammenhängen, die Teile der indigenen Bevölkerung immer wieder mit einem medizinischen System gemacht haben, das oftmals ihre Sprache nicht versteht, ihr medizinisches Wissen nicht wertschätzt und sie auch sonst herablassend behandelt (s. Themenbereich »Hierarchieorientierung«). Spektakulär waren in diesem Zusammenhang die Ereignisse rund um Angehörige des USamerikanischen »Peace Corps« im Bolivien der 1960er und 1970er Jahre. Ihnen wurde vorgeworfen, sie würden mit ihrer Politik der massenhaften Verbreitung von Verhütungsmitteln auf eine Schwächung Boliviens zielen und zudem als »Agenten des USImperialismus« indigene Frauen ohne deren Wissen sterilisieren, um – wie Teile der nicht zuletzt durch »Che« Guevara radikalisierten bolivianischen Linken behaupteten – künftige Guerilleros schon im Mutterleib zu töten. Diese Vorwürfe nährte nicht zuletzt der überwiegend auf Quechua gedrehte Film »Yawar Mallku« (»Blut des Kondors«) von Jorge Sanjinés, der das Tun des Peace Corps in fiktionalisierter Form anprangerte. 1971 wurde das Peace Corps des Landes verwiesen. Jorge Sanjinés (*1936) ist einer der bekanntesten bolivianischen Filmemacher. Er hat mit der Gruppe UKAMAU (Aymara für »So ist es«) außer dem schon erwähnten Streifen »Yawar Mallku« eine Reihe von Filmen gedreht, die ihren Schwerpunkt auf die indigene Bevölkerung legen, der eine Stimme gegeben werden soll. Die Gruppe verfolgte das Ziel eines militanten und revolutionären Films. Der Film, der der Gruppe ihren Namen gab, eben »Ukamau«, kam 1965 in die Kinos. In ihm wird von den indigenen Laiendarstellern überwiegend Aymara gesprochen, was für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich war und zu einem großen Zustrom an Zuschauern führte. Ein weiterer prominenter Film der Gruppe ist »El coraje del pueblo« (1971, »Der Mut des Volkes«), in dem es um das Massaker in der Mine »Siglo 84

XX« 1967 im Zusammenhang mit der Guerilla des Che in Bolivien ging. Schließlich sei noch der Film »La nación clandestina« (»Die geheime Nation«) von 1989 erwähnt, der von dem Aymara Sebastián Mamani erzählt, der in La Paz lebt, weil er von seiner Gemeinde als Verräter angesehen und verstoßen worden ist. Im Laufe des Films kehrt der Protagonist in seine Gemeinde zurück, um seine Schuld zu sühnen. Der Film wurde auch in den dritten Programmen des deutschen Fernsehens ausgestrahlt. Mittlerweile werden auch vor dem Hintergrund des von der gegenwärtigen Regierung propagierten »SAFCI« (»Salud Familiar Comunitaria Intercultural«) verstärkt Curricula für Gesundheitsberufe implementiert, die traditionelle Medizin und interkulturelle Sensitivität beinhalten. Ferner bieten Krankenhäuser, etwa in Oruro und Potosí, Abschlüsse in »interkultureller Gesundheit« und die Zertifizierung traditioneller Heiler an (s. Farthing u. Kohl, 2014, S. 108 ff.). Erwähnt seien auch noch die »Kallawayas«, die Medizin aus pflanzlichen, tierischen und mineralischen Produkten mit speziellen Ritualen verbinden. Die Bezeichnung steht für eine Ethnie in den Anden und zugleich für deren Medizinmänner, die gerade auch ihrer »psychotherapeutischen Verfahren« wegen von westlicher Seite Aufmerksamkeit erfahren haben und zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören (Rösing, 1987; s. http://de.wikipedia.org/wiki/Kallawaya). 2. Bildung: Immer wieder hat es in Bolivien Bemühungen gegeben, auch in den Kontexten von Schule und Hochschule, indigenen Belangen stärkeres Gewicht zu verleihen. Bekannt geworden sind etwa die Bestrebungen der 1931 gegründeten Schule in Warisata, eine genuin »indigene Bildung« zu vermitteln, was beispielsweise einschlägige Sprachkenntnisse und die Erziehung zu bestimmten Werten anbelangte (Quispe, 2011). Bereits in die Zeit der Vizepräsidentschaft des Aymaras Victor Hugo Cárdenas (1993–1997) fallen verstärkte Bemühungen, an öffentlichen Schulen Unterricht in zumindest einer indigenen Sprache zu implementieren, um Boliviens Inter- und Multikulturalität gerecht zu werden. Darüber hinaus wurde immer wieder das »neokoloniale Erbe« von Schule und Bildung kritisiert, das es zu überwinden gälte. So erinnert sich Victor Pinaya, ein Mitarbeiter im Bil85

dungsministerium: »I remember my school book . . . it said, ›Mother eats cake.‹ First of all, I didn’t know what cake was. Second, there was a drawing of a mother, but she was blond, with a white complexion, and in a dress and shoes. But when I looked at my mother, she was brown-skinned with braids, short with sandals, with worn, swollen feet . . . Where did that type of education lead us? To admire that type of mother and look down on our own« (Farthing u. Kohl, 2014, S. 105 f.). Erwähnt sei schließlich noch die nördlich von La Paz gegründete »Universidad Indígena Boliviana Aymara ›Tupak Katari‹«, an der technische Fächer studiert werden können, die in der Hauptsache mit den Belangen der indigenen Gemeinden vor Ort zu tun haben sollen. 3. Recht: Im Bereich des Rechts besteht in manchen hauptsächlich von Indigenen bewohnten Gebieten eine »justicia comunitaria« (»kommunitäre Justiz«; zu dem ganzen Abschnitt vgl. Lessmann, 2010, S. 200–207). Diese kommunitäre Justiz enthält Elemente, die von der sonstigen an westlichen Prinzipien orientieren Rechtsprechung Boliviens differieren. So gibt es in dem an das Territorialitätsprinzip (nur die Mitglieder einer Gemeinschaft fallen unter die entsprechende Jurisdiktion) gebundenen Recht der kommunitären Justiz keine Trennung zwischen politischen und juristischen Autoritäten. Recht sprechen etwa als höchste Autoritäten einer Gemeinde der »Mallku« oder der »Jilakata«, der Ältestenrat oder die Gemeindevollversammlung. Die Bestrafungsformen beinhalten Arbeit für die Gemeinschaft sowie moralische Strafen, aber auch Auspeitschung und Verbannung bis hin zur Todesstrafe. Die Todesstrafe ist allerdings in der Verfassung ausdrücklich als Rechtsmittel ausgeschlossen. Künstlerisch dargestellt wurden Aspekte solch einer kommunitären Rechtsprechung etwa in dem bereits erwähnten Film »La nación clandestina«. Die neue Verfassung von 2009 strebt die teilweise Anerkennung der kommunitären Justiz an und versucht, bestimmte Elemente zu integrieren. Dies ist mit Spannungen verbunden. Kritiker befürchten unter anderem Rechtsunsicherheit aufgrund unklarer Verhältnisbestimmungen zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen und ihren jeweiligen Geltungsbereichen sowie einen Verlust staatlicher Kontrolle. Darüber hinaus gab und 86

gibt es wiederholt Fälle, in denen Selbst- und Lynchjustiz oder Akte politisch motivierter Gewalt (etwa gegen den früheren indigenen Vizepräsidenten Victor Hugo Cárdenas und seine Familie) von den Akteuren mit dem Hinweis auf kommunitäre Justiz legitimiert wurden. (Zu der komplizierten Materie des Verhältnisses von neuer Verfassung und indigenen Völkern überhaupt s. Schilling-Vacaflor, 2010; zu indigenen Konfliktbearbeitungsverfahren in den Andenländern s. Georg, 2012).

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Themenbereich 6: Synkretismus

Beispiel 15: Die »Virgencita« Situation Dirk Schneider arbeitet seit einigen Monaten für eine politische Stiftung in La Paz, ist kulturell sehr interessiert und möchte das berühmte Fest zu Ehren der »Vírgen de Copacabana« (»Jungfrau von Copacabana«) im Wallfahrtsort Copacabana auf der bolivianischen Seite des Titicacasees miterleben. Bei dieser Wallfahrt sieht er, wie die Statue der Jungfrau unter Gesängen und Gebeten zur Spitze des Kalvarienbergs getragen wird. Dies entspricht durchaus den Erwartungen, die Herr Schneider im Hinblick auf katholische Prozessionen hat. Vieles andere bei dieser Wallfahrt verwirrt ihn allerdings. So liest der Mann, der die Prozession leitet, aus einer spanischsprachigen Bibel vor, hält diese allerdings verkehrt herum und liest auch nicht in Spanisch, sondern in einer indigenen Sprache vor. Darüber hinaus begießt er die Erde mit Alkohol, ein Ritual zu Ehren der »Mutter Erde«, der »Pachamama«, wie Herrn Schneider andere Teilnehmer der Prozession erklären. Wie ist das für Herrn Schneider verwirrende Verhalten zu erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. 89

Deutungen a) Der Leiter der Prozession ist ein Scharlatan und macht den Leuten nur etwas vor, um sein Ansehen zu vergrößern. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Herr Schneider glaubt, dass seine religiösen Vorstellungen auch in allen anderen Teilen der Welt gültig sind und ist deshalb erstaunt, dass dies nicht auf die bolivianische Interpretation von Religion zutrifft. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Religion und Kirche werden eben überall anders interpretiert, wahrgenommen und erlebt.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) In der bolivianischen Gesellschaft überlagern und vermischen sich christliche und indigene religiöse Weltbilder und Praktiken. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): In der Regel leitet solch eine Wallfahrt kein Scharlatan, sondern ein »Yatiri«, der bei den Aymaras hohes Ansehen genießt und zwischen den Gottheiten der Anden und den Mitgliedern der Gemeinschaft vermittelt. Erläuterung zu b): Herr Schneider mag vielleicht fälschlicherweise generalisieren und glauben, dass sein religiöses Orientierungssystem für alle anderen Menschen in gleicher Weise gültig sei. Aber auch wenn 90

dies zuträfe, würde diese Antwort nur die Perspektive von Herrn Schneider und nicht das für ihn verwirrende Geschehen erklären. Erläuterung zu c): Solch eine Aussage ist wohl ganz allgemein zutreffend, erklärt aber die Situation nicht speziell für den bolivianischen Fall. Erläuterung zu d): Dass der Leiter der Prozession die Bibel andersherum hält, mag daran liegen, dass er vielleicht selbst kein Spanisch lesen oder sprechen kann oder aber auch daran, dass ihm das, was er sagen muss, schon höchst vertraut ist und er keines Blickes mehr in den Text bedarf. Wie dem auch sei: Das Wichtigste zur Erklärung der Situation ist, dass in Bolivien auch nach der Missionierung durch die Spanier weiterhin religiöse Vorstellungen und Praktiken existieren, die auf indigene Kulturen zurückgehen und bisweilen mit dem christlichen Glauben koexistieren, bisweilen aber auch Mischungen mit ihm eingegangen sind, die für Deutsche eigenartig anmuten mögen. Die Pachamama (Mutter Erde) ist sowohl für die Aymaras als auch für die Quechuas eine der wichtigsten Gottheiten. Das lässt sich wohl durch die existentielle Bedeutung der Landwirtschaft in zum Teil äußerst kargen Regionen erklären. Die heilige Jungfrau Maria, die auch in liebevollem Diminutiv »virgencita« (»kleine Jungfrau«) und »mamita« (»Mütterchen«) genannt wird, scheint mitunter mit der Pachamama zu verschmelzen. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Schneider kann sich darum bemühen, sein Erstaunen als etwas wahrzunehmen, das ihn zu weiterführenden Fragen bringen kann. Was passiert hier eigentlich genau? Warum ist das, was ich hier erlebe, in mancher Hinsicht genauso, wie ich es vor mei91

nem eigenen religiösen Hintergrund erwarte, und in manch anderer Hinsicht so fremdartig? Wenn es Herrn Schneider gelingt, seine widerstreitenden Gefühle und Gedanken, die ihm während der Wallfahrt kommen, aufzulösen, indem er das Erlebte nicht einfach abwertet, sondern zunächst einmal als neuartig für sich festhält, mag er etwas über religiöse Praktiken und Vorstellungen lernen, die zwar in Deutschland ungewöhnlich, in Bolivien aber ganz üblich sind. Das bedeutet nun selbstverständlich nicht, dass er diese religiösen Praktiken und Vorstellungen als für sich selbst gültig übernehmen müsste, aber er mag sie in Zukunft besser verstehen können.

Beispiel 16: »Mesas« Situation Ralf Scheller arbeitet für eine Organisation der Internationalen Zusammenarbeit an einem Projekt zur Wasserversorgung im Tiefland Boliviens. Heute ist er mit seiner bolivianischen Freundin Dolores Quiroga in Santa Cruz unterwegs. Sie studiert Ingenieurswissenschaften in Camiri und war des Öfteren im Ausland, auch in Deutschland. Herr Scheller hält sie für eine urban sozialisierte Person, die aufgeklärt und weltoffen ist. Sie gelangen zum Markt, wo Frau Quiroga an einem Stand mit »mesas« (»Tische«) stehen bleibt. Mesas sind in diesem Fall Ensembles kleiner Gegenstände und/oder Süßigkeiten, die Gesundheit, Geld, Liebe und anderes mehr symbolisieren sollen. Nach kurzer Überlegung kauft Frau Quiroga eine mesa, auf der sich unter anderem Süßigkeiten in Form von Fröschen, Herzen, Sonnen und Monden befinden. Diese mesa hat sie als Opfergabe für die Pachamama gekauft, was sie Herrn Scheller aber nicht erzählt, dieser aber beiläufig von einer gemeinsamen Bekannten erfährt. Für Herrn Scheller ist dies alles ein Zeichen von Aberglauben, den er seiner »aufgeklärten«, Ingenieurswissenschaften studierenden Freundin wirklich nicht zugetraut hätte. Wie erklären Sie das Verhalten von Dolores Quiroga? 92

– Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Viele Bolivianer sind katholisch getauft und führen trotzdem Handlungen aus, die eher mit präkolumbianischen als mit christlichen Praktiken zu tun haben. Das wird aber nicht als Aberglauben betrachtet, sondern als ein selbstverständlicher Teil der bolivianischen Kultur.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) In Bolivien ist es unüblich, offen über die Herrn Scheller befremdenden Handlungen zu sprechen, Frau Quiroga schämt sich für ihr esoterisches Tun.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Bildung und Aufklärung passen nicht mit Frau Quirogas Handlungen zusammen, weshalb sie Herrn Scheller auch nichts von ihnen erzählt. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Frau Quirogas Verhalten hat nichts mit Aberglauben zu tun, Bolivianer wachsen einfach mit anderen Norm- und Wertvorstellungen auf.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

93

Bedeutungen Erläuterung zu a) In Bolivien koexistieren und vermischen sich Katholizismus und indigene religiöse Praktiken und Vorstellungen. Eine der wichtigsten auch heute noch vollzogenen Praktiken, die ursprünglich aus dem Andenraum kommt, ist die »ch’alla«. Die ch’alla richtet sich an die Pachamama, ihr werden Essen und Trinken gegeben und andere Opfer dargebracht. Am Markt kauft man dazu mesas, die am Ende einer aufwändigeren Zeremonie verbrannt werden. Das können die erwähnten Ensembles mit kleinen symbolreichen Gegenständen, aber auch Kokablätter sein, um Krankheit und Unglück zu vertreiben. Manchmal handelt es sich auch um Lama-Föten, die der Pachamama geopfert werden. (Lama-Föten werden übrigens mitunter auch vor einem Hausbau in der Erde vergraben.) Die Binnenmigration und der damit einhergehende kulturelle Austausch innerhalb Boliviens haben zu einer Verbreitung dieser andinen Praktik in vielen Regionen Boliviens sowohl auf dem Land als auch in der Stadt geführt. Erläuterung zu b) Das Ritual der mesas ist in Bolivien weit verbreitet, den allermeisten Bewohnern des Landes bestens vertraut und ein selbstverständlicher Teil ihrer Kultur. Dies zu thematisieren käme ihnen daher nicht ohne Weiteres in den Sinn. Wenn man sie aber darauf anspräche, würden sie vermutlich offen darüber berichten, da sie solche Praktiken keineswegs für etwas halten, das man verheimlichen oder dessen man sich schämen müsste. Erläuterung zu c) In Bolivien üben auch gebildete, aufgeklärte Personen solche Praktiken aus, die als mehr oder weniger bedeutsame, keineswegs aber als sinnlose Handlungen empfunden werden. Erläuterung zu d) Diese Antwort trifft in ihrer Allgemeinheit wohl zu, erklärt die Situation aber nicht spezifisch genug. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in 94

einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Scheller sollte das Verhalten seiner Freundin nicht vorschnell abwerten, sondern andere Bolivianer oder andere Deutsche mit Bolivienerfahrung fragen, was es mit den mesas auf sich hat. Dann kann er sich immer noch über Frau Quirogas Verhalten wundern und muss selbst nicht auf die Idee kommen, mit einem Mal eine mesa als Opfergabe für die Pachamama zu kaufen, aber er wird ein kulturangemesseneres Verständnis für das ihn zunächst irritierende Verhalten gewinnen können.

Beispiel 17: »El Tío« in Potosí Situation Jochen Brandt macht mit zwei befreundeten Kollegen einen Ausflug nach Potosí und besucht dort die Minen des unter Weltkulturerbe stehenden »Cerro Rico« (»Reicher Berg«). Dort gibt es einen kleinen Gang, durch den man hindurch krabbeln muss, um zu der Statue eines roten Teufels zu gelangen. Als Herr Brandt schließlich vor der Statue steht, sieht er, dass diese geschmückt ist. Am Fuß der Statue liegen der Fötus eines Lamas und andere Gegenstände, die als Opfergaben abgelegt wurden, wie Zigaretten und Kokablätter. Der Führer erklärt ihm, dass diese Rituale von den Minenarbeitern praktiziert werden, damit der »Tío« (»Onkel«, so wird die furchteinflößende Statue genannt) sie vor den Gefahren der Mine beschützt. Herr Brandt empfindet dies irgendwie als esoterisch und überhaupt, die Bolivianer sind doch immerhin katholisch!? Wie lässt sich die Situation aus bolivianischer Perspektive erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. 95

– Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Herr Brandt hat katholische Rituale beobachtet, die er einfach nicht kennt. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Opfergaben für den Tío sind eine Art Aberglaube und haben in etwa die gleiche Bedeutung wie ein vierblättriges Kleeblatt in Deutschland.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Der Tío hat eine lange historische Tradition, die Praktiken um ihn herum enthalten sowohl Elemente indigener als auch christlicher Religiosität.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Die Kombination der Opfergaben – Lamaföten mit Koka und Zigaretten – passt eigentlich nicht zusammen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Die spanischen Eroberer führten den Tío während der Kolonialzeit ein, um den Minenarbeitern Furcht einzuflößen und dadurch ihre Leistung zu steigern. Im Laufe der Zeit fürchteten die 96

Minenarbeiter den Tío aber nicht nur, sondern sahen ihn als eine Art Gottheit, die sie vor den Gefahren der Mine schützen und den Ertrag der Arbeit in der Mine erhöhen könne. Trotz des spanischen Einflusses ist die Symbolik der Statue nicht rein katholischen Ursprungs. Erläuterung zu b): Die Bolivianer haben einen Weg gefunden, die von den Spaniern eingeführte Statue mit ihren indigenen Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken zu verbinden. Es handelt sich bei diesem Brauch um einen genuinen Bestandteil der Religiosität der Minenarbeiter und nicht um einen Aberglauben im engeren Sinn. Erläuterung zu c): 1545 wurde der Cerro Rico entdeckt. Der Berg ist heutzutage eine Art Denkmal für mehr als 450 Jahre lang andauernden Silberbergbau sowie ein Mahnmal für die Ausbeutung der Minenarbeiter. Schon in der frühen Kolonialzeit wurde Potosí als die »Eingangspforte« zur Hölle bezeichnet, einer Hölle, die von hunderttausend Tonnen Silber gepflastert war. Die besondere Perfidie der spanischen Konquistadoren bestand darin, auf vorkolumbianische Regeln zurückzugreifen, wie zum Beispiel die »Mita«, die ein Element des inkaischen Wirtschaftssystems darstellt und die verpflichtende Ableistung bestimmter Arbeiten vorsieht. Mit Hilfe der Mita nutzten die spanischen Unternehmen die ihnen von der spanischen Krone zur Verfügung gestellten Indios gnadenlos aus. Die Ausbeutung der Indios wurde durch die Spanier noch verschärft als sie entdeckten, dass das traditionelle Kauen von Kokablättern die Ausdauer der Indios steigerte sowie ihren Hunger und ihre Müdigkeit dämpfte. (Im eigentlichen Sinn gekaut werden die Kokablätter nicht, vielmehr werden sie an die Wange gedrückt und dort hin- und hergeschoben.) Darüber hinaus verstärkte auch die Schöpfung des Tíos die Ausbeutung der Indios. Der Tío wurde als Gottheit eingeführt, vor der die Minenarbeiter sich fürchten sollten, eine Furcht, die sie zur Arbeit anhalten sollte. Heutzutage hat der Tío insbesondere in Potosí eine wichtige Bedeutung, die Praktiken und Vorstellungen zu dieser Gestalt haben sich jedoch – in variierenden Graden – im ganzen Land verbreitet. 97

Erläuterung zu d): Bei rituellen Praktiken rund um den Tío haben Alkohol, Zigaretten und Kokablätter einen hohen symbolischen Wert. Aus bolivianischer Perspektive wäre es daher verfehlt zu meinen, es handle sich hierbei um eine unpassende Kombination. Alkohol wird in diesem Zusammenhang als ein kostbarer Besitz angesehen, der der durstigen Pachamama geopfert wird. Zigaretten repräsentieren ebenfalls ein wichtiges Gut, das die Minenarbeiter selbst konsumieren und das sie dem Tío opfern. Kokablätter gelten gleichfalls als wertvoll und werden von den Minenarbeitern heute noch konsumiert, um die tägliche harte Arbeit auszuhalten. Auch die getrockneten Lama-Föten sind im Ritual ein wertvolles Geschenk, denn sie symbolisieren eines der höchsten tierischen Güter im Hochland (Altiplano). Lamas werden dort als Lasttiere sowie als Lieferer von Wolle und Fleisch genutzt. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Brandt könnte seine Vorstellungen im Hinblick darauf, was Katholizismus in Bolivien bedeutet, modifizieren und sein Wissen zu präkolumbianischen religiösen Praktiken zu ergänzen suchen. Dies würde es ihm erlauben, die interessanten Verbindungen, die solche Praktiken und Vorstellungen mit Elementen des Katholizismus eingegangen sind, zu bemerken und möglicherweise besser zu verstehen. Dies mag in der Folge darüber hinaus auch dazu führen, für die Heterogenität katholischer Praktiken und Vorstellungen im eigenen Kulturkreis aufmerksamer zu werden, wo Abendmahl nicht gleich Abendmahl oder die Rolle der Jungfrau Maria nicht überall identisch ist und unter Heiligenverehrung auch nicht allerorten dasselbe verstanden wird. Im Falle des Tío würde dies allerdings noch nicht genügen, denn der Umgang mit ihm ist nicht oder zumindest nicht nur aus einer Amalgamierung katholischer und präkolumbianischer 98

Praktiken zu verstehen. Hier ist vielmehr die Kenntnis der historischen Hintergründe für die Einführung des Tíos durch die Spanier als Drohmittel und seine spätere kreative Anverwandlung durch die Minenarbeiter notwendig, um weitere Aufschlüsse über religiöse Praktiken und ihr Verständnis in Bolivien zu erlangen.

Beispiel 18: Auf dem Dorf Situation Lisa Möller arbeitet bei einem sozialen Projekt in einem Dorf im Departamento Chuquisaca. Am Abend des ersten Novembers begleitet sie einige Bekannte auf den Friedhof, wo die Grabstätten geschmückt werden. Alle Anwesenden beten zusammen und gießen um die Grabmäler Alkohol auf die Erde. Am nächsten Tag wird sie zum Haus einer Familie eingeladen, die im vorigen Jahr einen Trauerfall zu beklagen hatte. Sie findet dort einen großen Tisch mit Schalen, viel Gebäck und Alkohol vor, der dann auch reichlich konsumiert wird. Danach ziehen die Beteiligten zu anderen Häusern, in denen ebenfalls getrauert wird. In jedem Haus wird Frau Möller wiederholt aufgefordert, Alkohol zu trinken und ihn auch auf die Erde zu gießen – sie will und kann aber nicht so viel trinken. Die Bolivianer werden etwas böse und werfen ihr vor, sie hätte wohl kein Interesse daran, ihre Kultur kennenzulernen, da sie sich nicht an ihren Ritualen beteiligen wolle. Wie erklären Sie die Situation aus bolivianischer Perspektive? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

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Deutungen a) Alkohol mit Einheimischen zu trinken, ist ein Zeichen kulturellen Interesses. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Alkohol gilt als ein wertvolles Gut, daher wird er der Mutter Erde geopfert. Dass ein so wertvolles Gut abgelehnt wird, ist den Dorfbewohnern unbegreiflich. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Das Trinken gehört einfach zur Tradition. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Ein hoher Alkoholkonsum ist in Bolivien normal. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Bolivianerinnen und Bolivianer freuen sich, wenn andere Menschen sich für ihre Kultur interessieren, dass sich dies vor allem durch gemeinsamen Alkoholkonsum zeigen soll, würden sie sicher für falsch halten. Erläuterung zu b): Alkohol, Kokablätter und Tiere sind wertvolle Güter, vor allem für die Bewohner des bolivianischen Hochlands. Was Frau Möller erlebt, ist ein »Kanchaku«, der am 2. November gefeiert wird. Die Feierlichkeit gilt der Trauer über Angehörige, die in den letzten zwei Jahren gestorben sind. Es wird dabei ein Tisch mit symbolischen Geschenken – unter anderem Gebäck, Alkohol und Kokablätter – für die Verstorbenen vorbereitet. 100

Erläuterung zu c): Das Trinken von Alkohol gehört in der Tat in der Situation, die Lisa Möller erlebt, zur Tradition. Ein solcher Hinweis ist aber noch sehr allgemein, denn er lässt offen, in welcher Hinsicht das Trinken von Alkohol zur Tradition gehört und es wird auch nicht klar, um welche Tradition genau es sich handelt. Erläuterung zu d): Auch wenn mancherorts in Bolivien Alkohol hoch geschätzt wird und während bestimmter religiöser Praktiken sowohl konsumiert als auch geopfert wird, ist die Aussage, dass hoher Alkoholkonsum zur bolivianischen Normalität gehöre, falsch. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Frau Möller sollte sich bewusst sein, dass Alkohol, Kokablätter und Tiere insbesondere im Hochland wertvolle Güter sind. Bei allem Respekt für die kulturellen Praktiken, die sie beobachtet, braucht Frau Möller ihre eigenen Einstellungen, Vorstellungen und Überzeugungen aber nicht zu verleugnen. Vielmehr könnte sie versuchen, den Gastgebern deutlich zu machen, dass sie ihre Praktiken selbstverständlich achtet und sich für deren Hintergründe interessiert, dass sie aber nur in begrenztem Maße an ihnen teilnehmen kann, etwa weil sie nicht so viel Alkohol verträgt oder weil sie einen hohen Konsum von Alkohol für sich ablehnt (je nach dem, was für sie zutrifft).

Kulturelle Hintergründe zu »Synkretismus« Der in Bolivien zu beobachtende religiöse Synkretismus resultiert aus dem zunächst gewaltsamen Aufeinandertreffen unterschiedlicher religiöser Vorstellungen und Praktiken. Aymaras, Quechuas, Chiriguanos, Moxeños und viele weitere Ethnien auf dem 101

Boden des heutigen Boliviens waren Bekehrungsversuchen unterschiedlicher Art ausgesetzt – und sind es zum Teil nach wie vor, wobei heutzutage gerade auch evangelikale Missionierungsbestrebungen zu beobachten sind (Ströbele-Gregor, 1988). Mitunter gingen solche Versuche unter Androhung und Anwendung außerordentlich grausamer Gewalt vonstatten, bisweilen verliefen sie eher indirekt. Die Aufnahme der christlichen Religion durch die »Originarios« (die »Ureinwohner«) verlief facettenreich und umfasste etwa aktive Formen des Widerstands gegen den von den Spaniern propagierten katholischen Glauben, die lediglich oberflächliche Annahme christlicher Vorstellungen, die Aufgabe eigener Glaubensinhalte und Praktiken oder eigentümliche Vermischungen der religiösen Systeme bzw. die Integration bestimmter Elemente der anderen Religion in die eigene. Solche Integrationen oder Vermischungen wurden über die Jahrhunderte hinweg tradiert und unterlagen im Zuge solcher Tradierungsprozesse auch immer wieder dem Wandel. Besonders markant sind im heutigen Bolivien Synkretismen, die aus Verschmelzungen christlicher mit Elementen andiner Vorstellungen und Praktiken entstammen. In den Anden haben sich teilweise katholische Elemente in einem religiösen System integriert, das von üblichen Lesarten des Christentums weit entfernt ist und sich vielmehr rund um vorhispanische Glaubensvorstellungen und Praktiken strukturiert. Dies wird etwa bei Feierlichkeiten zu Ehren katholischer Heiliger in den Monaten Juni bis August deutlich. In diesem Zeitraum finden nämlich auch die »challacos« statt. Bei den challacos wird im Wesentlichen die Pachamama ernährt, »challar« bedeutet (im Aymara und im Quechua) der Erde zu essen und zu trinken geben. Dies geschieht unter anderem mit »chicha«, einem alkoholischen Getränk aus Mais, oder mit Schnaps, auch die in Beispiel 16 angesprochenen mesas kommen hier zum Einsatz. Letztere werden traditionell bei »chifleras« auf einem »mercado de las brujas« (einem »Hexenmarkt«) gekauft. Besonders berühmt ist hier der Markt von La Paz. Als die Spanier nach Bolivien kamen, waren die religiösen Praktiken und Vorstellungen des Tahuantinsuyos (des InkaReichs) dort noch stark verankert. Bedeutsam ist etwa der My102

thos des »Inkarri« (auch als »Viracocha« bekannt), der auf die Erde zurückkommen sollte, um Gerechtigkeit und Glückseligkeit wiederherzustellen. Der Eroberer Francisco Pizarro wurde zunächst für den erwarteten Viracocha gehalten, was immer wieder als Erklärung dafür angeführt wird, dass der Widerstand gegen die Spanier vergleichsweise spät einsetzte. Im Zuge der von den Spaniern betriebenen Christianisierung der indigenen Bevölkerung übernahm diese – gezwungenermaßen – zentrale Elemente des Katholizismus, verwandelte sich diese aber an und assimilierte sie dabei teilweise an eigene Vorstellungen, wie der des Inkarri, der mit dem Messias assoziiert wurde (s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«). Die Pachamama gilt als die höchste weibliche Gottheit der Quechuas und Aymaras. Es handelt sich um eine weibliche Gottheit, die produziert, erzeugt, die Erde befruchtet – ihre große Bedeutung wird vor dem Hintergrund der schwierigen landwirtschaftlichen Bedingungen des Andenraumes verständlich. Im Zuge der Missionierungsbestrebungen rückt die Pachamama im religiösen Denken und Handeln der indigenen Bevölkerung an die Heilige Jungfrau Maria heran. Ein Beispiel hierfür stellt etwa das in Beispiel 15 angeführte Fest zu Ehren der Vírgen von Copacabana dar. Grotehusmann (2010, S. 299 ff.; im Original zum Teil kursiv und fett) berichtet etwa: »Wer sich heute davon überzeugen möchte, wie der alte indianische Kult die römisch-katholische Glaubenspraxis überwuchert, findet im Wallfahrtsort Copacabana auf der bolivianischen Seite des Titicacasees beredte Anschauung. Am 5. August, dem Fest zu Ehren der Vírgen von Copacabana, habe ich den alten Kult mehrmals erlebt. [. . .] Ich beobachte, wie die Indígenas dem Bild mit der Vírgen von Copacabana dieselben Wunschobjekte vorhalten wie der Pachamama, wie weiter in der Nebenkapelle, in der Hunderte von Kerzen brennen, die Indígenas dabeistehen und zusehen, wie sich die Kerzen verhalten, die sie für ihre Angehörigen aufgestellt haben. Die Indígenas versäumen nicht, sie nur zum Teil abbrennen zu lassen, weil sonst schlechte Zeichen verstärkt und gute aufgehoben werden würden. Auf dem Indiomarkt von Copacabana werden noch im Tauschhandel kleine Stierchen aus Ton vertrieben. Sie sind der Pachamama geweiht 103

und gelten als Fruchtbarkeitssymbole, die man in den Feldern vergräbt. Dass sich auf den Sockeln der Kreuzstationen apachetas, Steinhaufen türmen, auf die jeder Besucher sein Steinchen wirft, damit die Müdigkeit von seinen Füßen weiche, das wundert schon nicht mehr«. Der Katholizismus ist in Bolivien nach wie vor sehr präsent, bisweilen allerdings in einer Form, die für Deutsche zunächst wegen seiner streckenweisen Amalgamierung mit indigenen, speziell andinen Traditionen befremdlich wirken mag. Die religiösen Amalgamierungen zeigen sich besonders deutlich bei allen möglichen Festen wie etwa Allerheiligen. Die angedeuteten religiösen Praktiken sind jedoch nicht auf den Andenraum beschränkt. Vielmehr finden Rituale wie die oben erwähnte challa auch im Tiefland Boliviens statt, denn die religiösen Praktiken und Handlungen des Andenraumes haben sich aufgrund der massiven Binnenmigration im ganzen Land verbreitet. Das trifft auch auf den Umgang mit dem Tío zu, der – wie in Beispiel 17 gezeigt wurde – nicht oder nicht allein aus einer Verbindung von Katholizismus und präkolumbianischen Praktiken erklärt werden kann, sondern gerade auch im Hinblick darauf, dass er von den Spaniern als Drohmittel erfunden wurde. Bisweilen dürften die beim vorliegenden kulturellen Thema angesprochenen Handlungen nicht im engeren Sinn tief religiös verankert sein, sondern oberflächlich bzw. gewissermaßen folkloristisch bleiben, wie etwa der Kauf und der Gebrauch bestimmter mesas – so wie hierzulande der Kauf und das Schmücken des Weihnachtsbaumes am 24. Dezember auch nicht bei allen Menschen, die das tun, tiefe religiöse Konnotationen aufweist.

104

Themenbereich 7: Hierarchieorientierung

Beispiel 19: Götter in Weiß Situation Jürgen Wiedemann ist seit ein paar Monaten Arzt in einer Klinik in La Paz. Er hat eine Unmenge neuer Eindrücke zu verarbeiten: Salteñas, ají, sajta de pollo oder quinua kamen in seinem Speiseplan bislang nicht vor (quinua und salteñas kamen bereits zur Sprache; unter »ají« versteht man sowohl scharfe Schoten als auch scharfe Soßen und eine »sajta de pollo« ist ein zumeist scharfes Hühnchengericht mit Gemüse; zur bolivianischen Küche s. http://www.bolivian.com/cocina); den Illimani und auch die anderen Berge der Königskordillere empfindet er als überwältigend; der Höhe kommt er anfangs mit »Sorojchi«-Tabletten (»Sorojchi« bedeutet »Höhenkrankheit«) bei, mittlerweile genügt ein »matesito de coca« (ein »Koka-Tee«). Seine Arbeit gefällt ihm, mit den Kolleginnen und Kollegen versteht er sich gut. Vor drei Wochen und dann immer wieder – als er gewissermaßen dafür sensibilisiert war – hat er allerdings einen ausgesprochen herablassenden Umgang mancher Kolleginnen und Kollegen gegenüber den Angehörigen der indigenen Bevölkerung wahrgenommen, der ihn nicht nur befremdet, sondern empört. So lassen sich die fraglichen Kollegen von diesen Patienten selbstverständlich siezen, duzen sie aber selbst ohne Weiteres, haben (angeblich) kaum Zeit für sie, erklären ihnen wenig bis gar nichts und verhalten sich überhaupt unerträglich arrogant. Die Patienten wiederum nehmen das oftmals hin und zeigen sich unterwürfig. 107

Wie lässt sich das Verhalten der Ärzte erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Bolivianische Ärzte arbeiten unter eher ungünstigen Bedingungen, zu denen eine mangelnde technische Ausstattung, schlechtes Gehalt, Überstunden und überfüllte Krankenhäuser bzw. Wartezimmer gehören. Diese Ärzte treffen auf eine vergleichsweise ungebildete Landbevölkerung, mit der konstruktive ärztliche Gespräche nur schwer möglich sind, weshalb sie mit zunehmenden Dienstjahren ungeduldiger und mitunter auch unfreundlicher werden. Da die Landbevölkerung aber – wie alle anderen Bolivianer auch – auf medizinische Versorgung angewiesen ist, erduldet sie das Verhalten der »Götter in Weiß«.

sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Ein Studium der Medizin ist zumeist nur Personen vergleichsweise wohlhabender Schichten möglich,die ihrenStatus und ihre soziale Zugehörigkeit mitunter auch dadurch ausdrücken, dass sie Patienten mit indigenen Wurzeln respektlos behandeln. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Ein solches Ärzteverhalten gegenüber Patienten ist nicht ungewöhnlich und keineswegs allein auf Bolivien beschränkt.

sehr zutreffend

108

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

d) Ein herablassender Umgang gehört zum üblichen Umgang von Ärzten mit ihren Patienten in bolivianischen Krankenhäusern. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): In der Tat arbeiten bolivianische Ärzte nicht immer unter guten Bedingungen und es ist auch zutreffend, dass ein größerer Teil der Landbevölkerung nicht über eine Bildung verfügt, die es Ärzten erleichtern würde, medizinische Gespräche mit ihnen zu führen. Insofern mag diese Antwort das Verhalten der Ärzte zum Teil erklären. Allerdings ist das von Herrn Wiedemann beobachtete Verhalten nicht auf Ärzte beschränkt, die unter ungünstigen Bedingungen arbeiten, und es richtet sich nicht allein gegen die ungebildete Landbevölkerung, sondern allgemeiner auf Patientinnen und Patienten mit indigenen Wurzeln. Erläuterung zu b): Eine ausgesprochene Status- und Klassenorientierung ist in manchen Sektoren der bolivianischen Gesellschaft noch bzw. immer wieder anzutreffen – selbstredend nicht permanent und nicht überall und gerade unter der Ärzteschaft gibt es zahlreiche Personen, die hochengagiert sind und denen eine respektvolle Haltung wichtig und selbstverständlich ist. Ferner ist der Umgang von Ärzten mit ihren Patienten auch in anderen Teilen der Welt nicht immer frei von Herablassung und auch andernorts bemühen sich Mediziner nicht immer darum, dass ihre Patientinnen und Patienten sie verstehen, und schließlich ist es auch nicht bolivienspezifisch, sich als Arzt nicht genug Zeit für seine Patienten zu nehmen. Dennoch: Das Benehmen von Ärzten oder anderen Statushöheren gegenüber Personen, die zumindest in professioneller Hinsicht von ihnen abhängig sind, zumal das Verhalten Teilen der indigenen Bevölkerung gegenüber, scheint in Bolivien bisweilen nach wie vor von einem arroganten »Clasismo« bestimmt zu sein, der mitunter durchaus auch rassistische Elemente enthalten kann. 109

Erläuterung zu c): Es ist richtig, dass auch in anderen Regionen dieser Welt Ärzte sich oft nicht ausreichend Zeit für Gespräche mit ihren Patienten nehmen und/oder sie von oben herab behandeln. Dies erklärt die Situation aber noch nicht in ausreichendem Maße. Erläuterung zu d): In solch einer Allgemeinheit kann dies nicht behauptet werden. Es ist nicht generell so, dass Ärzte ihre Patienten in Bolivien herablassend behandeln. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Herr Wiedenhöfer wird sich wohl kaum an das Verhalten seiner Kollegen anpassen wollen und selbst dazu übergehen, die Patientinnen und Patienten mit indigenen Wurzeln von oben herab zu behandeln. Sobald er seine Kollegen näher kennengelernt hat, kann er sie auf seine Beobachtungen hin ansprechen und seine Irritation mitteilen. Er sollte dabei aber auch aufpassen, nicht selbst von oben herab – quasi von einem hohen moralischen Ross – auf seine Kollegen herabzusehen. Möglicherweise ist ein Teil ihres Verhaltens ja tatsächlich ebenso mit vielfachen ungünstigen Bedingungen zu erklären (s. Erläuterung zu a), wenn natürlich auch nicht zu rechtfertigen.

Beispiel 20: Wir haben es schon immer so gemacht Situation Anna Neubert hat in einem Tourismus-Büro in Cochabamba gearbeitet. Im Laufe der Zeit sind ihr einige Dinge aufgefallen, die man ihrer Ansicht nach verbessern könnte. Immerhin hat sie ja 110

auch eine Ausbildung im Tourismusbereich absolviert. Vor diesem Hintergrund spricht Frau Neubert Maria Bacara, ihre Chefin, auf Prozesse an, die sie für optimierungsfähig hält. Frau Bacara scheint wenig erfreut hiervon zu sein und meint, dass sie die Sachen eben schon immer so gemacht habe, wie sie jetzt liefen. Frau Neubert lässt sich dadurch nicht entmutigen und fährt fort, proaktiv Vorschläge zu unterbreiten und versucht, Neues einzuführen. Ihre Chefin lässt all dies an sich abprallen und was Frau Neubert vielleicht noch mehr ärgert ist, dass Frau Bacara auch noch ihre Kolleginnen gegen sie aufhetzt. Wie ist das Verhalten von Frau Bacara zu erklären? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen a) Frau Bacara hat einen Hang zum Intrigantentum und stachelt deshalb die Kolleginnen von Frau Neubert gegen sie auf. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Frau Bacara kann Anna Neubert nicht leiden und macht ihr deswegen das Leben schwer, wo sie nur kann. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Frau Bacara fühlt sich in ihrer Position als Vorgesetzte gefährdet und fürchtet um ihre Autorität – bei Frau Neubert, aber auch bei Frau Neuberts Kolleginnen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

111

Bedeutungen Erläuterung zu a): Mag sein, dass Frau Bacara über unangenehme Persönlichkeitseigenschaften verfügt, unter denen Frau Neubert zu leiden hat. Frau Bacaras Verhalten hat allerdings mehr mit ihrer Rolle als mit ihrer Persönlichkeit zu tun. Erläuterung zu b): Frau Bacara scheint Frau Neubert wirklich nicht besonders zu schätzen. Aber weshalb eigentlich? Erläuterung zu c): In Bolivien werden einige Unternehmen und Organisationen autoritätsorientiert geführt, flache Hierarchien sind eher selten. Die oder der Vorgesetzte gibt die Richtung vor, eine Einbindung in Entscheidungsprozesse, proaktive Vorschläge und (konstruktive) Kritik von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind nicht vorgesehen und irritieren. Frau Neuberts Verhalten wird also nicht als willkommener Motor zur Verbesserung der Organisation angesehen, sondern als Bedrohung des hierarchischen Gefüges des Tourismus-Büros. Frau Neubert erscheint dann nicht als eine impulsgebende, kreative Mitarbeiterin, sondern als jemand, der offensichtlich seine Rolle nicht kennt, eine Grenze überschreitet und den Frieden der Organisation gefährdet. – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Frau Neubert kann sich natürlich nach einer neuen Arbeitsstelle umsehen, in der ihr Verhalten als Bereicherung erlebt wird und für das sie dementsprechend Anerkennung bekommt. Falls diese Option aber ausscheidet, weil es aktuell keine Alternative zu dieser Arbeitsstelle gibt, könnte sie versuchen, erst einmal eine Beziehung zur Vorgesetzten aufzubauen, in der die dosierte Äußerung konstruktiver 112

Kritik und von Verbesserungsvorschlägen nicht als Bedrohung oder Besserwisserei wahrgenommen wird. So etwas dürfte aber auch nur dort möglich sein, wo es bestimmte »Anker« gibt – wenn die Vorgesetzte ausschließlich als eine Person erscheint, die inkompetent und unsympathisch sowie lediglich auf das Ausspielen ihrer mächtigeren Position aus ist, dürfte es auch kaum Möglichkeiten zum Aufbau einer guten Beziehung geben und es bliebe nur ein auf die Dauer wenig befriedigender »Dienst nach Vorschrift«. Mitunter mag es auch angezeigt sein, sich selbst kritisch daraufhin zu befragen, ob die oder der Vorgesetzte tatsächlich inkompetent oder man selbst lediglich gekränkt ist, weil nicht jeder Vorschlag, den man macht, schon als Bereicherung angesehen wird.

Beispiel 21: Die Beschimpfung des Kassierers Situation Ulrike Abendroth arbeitet in leitender Funktion bei einer politischen Stiftung und erlebt kaum kritische Interaktionen in Bezug auf ihre eigene Person. Die Menschen sind zu ihr zumeist sehr freundlich, sie schätzt ihr bolivianisches Team und mit den Partnern ihrer Projekte kommt sie meistens auch gut klar. Irritierende Situationen erlebt sie dagegen eher in Bezug auf Interaktionen zwischen Bolivianern, wie unlängst beim Einkaufen im Supermarkt. Nach Erledigung aller Einkäufe stellte sie sich in die leider nicht ganz kurze Schlange an der Kasse, um zu bezahlen. Vor ihr stand eine schick gekleidete Frau mit einem kleinen Jungen. Der Junge hatte eine Packung Chips in der Hand, konnte offensichtlich nicht bis nach dem Einkauf warten, riss die Tüte auf und begann zu essen. Außerdem fing er an, aus einer Colaflasche zu trinken. Als nun der Kassierer die Einkäufe einscannen wollte, war dies bei der Chipspackung nicht mehr möglich, weil der Barcode zerrissen war. Daraufhin sprach der Kassierer einen der Jungen an, die immer da sind, um die Einkäufe einzupacken, und bat ihn, ihm eine neue Packung zu holen, damit er die nun einscannen könne. Dies wiederum brachte die Mutter des Jungen geradezu aus der Fassung. Sie begann sich furchtbar über den Kassierer aufzuregen, 113

ihm zu sagen, wie unmöglich sie sein Verhalten fände, denn sie hätte es sehr eilig. Dies geschah alles in einer äußerst herablassenden Art. Dass die Frau den Kassierer ganz selbstverständlich duzte, wohingegen er sie ebenso selbstverständlich siezte, war hier noch das Geringste. Frau Abendroth ist irritiert, vor allem aber ärgert sie sich über das Benehmen der Frau. Wie erklären Sie das Verhalten der Frau, aber auch das des Kassierers? – Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch. – Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala entsprechend an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen. Deutungen a) Die Mutter demonstriert mit ihrem Verhalten ihren höheren gesellschaftlichen Status, der es ihr – zumindest in ihrer Selbstwahrnehmung – erlaubt, den Kassierer von oben herab zu behandeln. Dem Kassierer widerfährt so etwas nicht zum ersten Mal, er hat verinnerlicht, sich in solchen Situationen nicht aus der Fassung bringen zu lassen. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

b) Die Frau hatte einfach einen schlechten Tag, wie ihn jeder einmal haben kann. sehr zutreffend

eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

c) Die Mutter ist mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert, war deshalb über die Maßen gestresst und hat ihren Stress an der nächstbesten Person ausgelassen und das war in diesem Fall der Kassierer – es hätte auch jemand anderes sein können. sehr zutreffend

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eher zutreffend

eher nicht zutreffend

nicht zutreffend

Bedeutungen Erläuterung zu a): Der Kassierer stellt für die klassenbewusste Frau keinen Interaktionspartner auf Augenhöhe dar, sondern jemanden, der im unteren Bereich von Boliviens Gesellschaft anzusiedeln ist. Insofern hat der Kassierer ihrer Ansicht nach sofort das zu tun, was sie möchte und nicht für unwillkommene Unterbrechungen in ihrem Alltag zu sorgen. Dass sie selbst bzw. ihr Sohn die eigentlichen Quellen für die Unterbrechungen sein könnten, kommt ihr gar nicht erst in den Sinn. Der Kassierer hat diese Interaktionsstruktur möglicherweise schon so weit verinnerlicht, dass er sie nicht als etwas empfindet, wogegen es sich zu protestieren lohnen würde. Erläuterung zu b): Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Mutter einen schlechten Tag hat und sich deshalb so benimmt. Andererseits: Warum lässt sie ihren Frust, Ärger, Stress oder was auch immer ihren Tag zu einem schlechten Tag gemacht haben mag, gerade an dem Kassierer und nicht etwa an ihrem Kind oder an jemand anderem aus? Und: Wie erklären Sie das Verhalten des Kassierers? Erläuterung zu c): Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Mutter mit der Erziehung ihres Kindes überfordert und deshalb gestresst ist. Weshalb aber lässt sie ihren Stress nicht an dem Jungen, sondern an dem Kassierer aus? Außerdem: Wie erklären Sie das Verhalten des Kassierers? – Beantworten Sie bitte folgende Frage: Wie würden Sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Halten Sie Ihre Gedanken in schriftlicher Form fest.

Ein möglicher Umgang mit der Situation Frau Abendroth mag sich vielleicht vorstellen können, womit das Verhalten der Frau erklärt werden kann – dies zwingt sie aber 115

natürlich nicht, die Sichtweise der Frau zu teilen und ihr Verhalten gut zu heißen. Vielmehr kann sie ja auch im Wissen darum (oder vielleicht gerade wegen dieses Wissens), dass sich im Benehmen der Frau eine Haltung äußert, die in bestimmten Teilen der bolivianischen Gesellschaft anzutreffen ist, dieses Verhalten kritisieren und dem Kassierer zur Seite stehen.

Kulturelle Hintergründe zu »Hierarchieorientierung« Unter Hierarchieorientierung subsumieren wir hier das, was klassischerweise als Hierarchieorientierung in Arbeitskontexten verstanden wird, aber auch Aspekte, die mit Klasse und Status zu tun haben. Klasse und Status: Bolivien ist eine Nation, in der das ökonomische, aber auch das soziale und das kulturelle Kapital sehr ungleich verteilt sind. Im Unterschied etwa zu Deutschland gibt es in Bolivien keine stark ausgeprägte Mittelschicht. Vielmehr sind die Angehörigen unterschiedlicher Klassen zum Teil deutlich voneinander getrennt und leben mitunter geradezu in unvereinbaren Lebenswelten. Hierzu trägt auch die eher geringe vertikale soziale Mobilität in der Gesellschaft bei, die zu einer ständigen Reproduktion der sozialen Verhältnisse führt. So unterschiedlich beispielsweise die Programme auch waren, die die Hauptakteure der bolivianischen Politik in den 1980er und 1990er Jahren verfolgt haben, so entstammte die politische Elite doch in weiten Teilen einer Gruppe von Personen, die dieselben Schulen und Universitäten besucht hatten. Das trifft schon auf die »Helden« der Revolution von 1952 zu, Juan Lechín, Victor Paz Estenssoro und Hernán Siles Zuazo. Die Klassenzugehörigkeit entscheidet über Prestige, Studienund Arbeitsmöglichkeiten sowie den Zugang zu politischen und anderen öffentlichen Ämtern. Klassenzugehörigkeiten und der mit ihnen verbundene Status werden unter anderem an Familiennamen, Herkunft und Bildungsabschlüssen abgelesen. Ob jemand Condori, Mamani, Fernandez de Córdoba oder Araníbar 116

heißt, ob jemand aus einem Ayllu aus dem Hochland, aus El Alto oder aus dem vornehmen Stadtviertel Calacoto in La Paz kommt, ob jemand an einer staatlichen oder einer privaten Universität, ob jemand im In- oder Ausland studiert hat, ob jemand eine »mujer de pollera« ist (eine »Frau, die eine Pollera trägt« – Polleras sind traditionelle Faltenröcke, die hauptsächlich von Frauen mit indigenen Wurzeln getragen werden) oder einen Hosenanzug trägt – all das und manches mehr macht im Hinblick auf soziale Positionierungen einen Unterschied aus (Goedeking, 2003). Der Status wird nicht zuletzt in Form von Titeln angezeigt. So ist die Anrede für Akademiker »Licenciado« bzw. »Licenciada« durchaus üblich und jemand, der in einer bestimmten Position arbeitet, aber kein »Licenciado« ist, wird argwöhnisch beäugt. In dem 2009 ausgestrahlten Film »Zona Sur« von Juan Carlos Valdivia (der Filmtitel bezeichnet den Teil der Stadt La Paz, in dem hauptsächlich wohlhabende Personen leben, Calacoto gehört dazu) wird eine auseinanderfallende bürgerliche Familie gezeigt, in deren Zentrum die auf ihre Klasse bedachte Mutter steht. Einen – wenn man so möchte – Vorläuferfilm, der ebenfalls die Klassengesellschaft speziell von La Paz zum Gegenstand hatte, gab es bereits im Jahr 1977. In »Chuquiago« (dies ist die Bezeichnung der Aymaras für La Paz) von Antonio Eguino werden vier Geschichten erzählt, die jeweils um eine Person kreisen: den Aymara-Jungen Isico, den in La Paz geborenen und aufgewachsenen Sohn indigener Eltern Johnny, den Staatsdiener Carloncho und die Tochter aus gutem Hause Patricia. Letztere wohnt in der Zona Sur, studiert Soziologie und Literatur, beteiligt sich an linken Protesten und ist mit einem Studentenführer liiert. All dies missbilligen die auf ihren guten Namen bedachten Eltern, die ihr raten, in Frankreich oder den USA zu studieren – am Ende wird Patricia standesgemäß heiraten und in der letzten Einstellung des Films aus einem Auto heraus dem Jungen Isico aus der ersten Geschichte ins Gesicht blicken. Manches – insbesondere im letztgenannten Film – dürfte obsolet, auch ein wenig klischiert sein, denn mag sich der soziale Aufbau Boliviens auch immer wieder reproduzieren, befindet er sich gerade heute durchaus auch im Wandel. Darüber hinaus gab es in Bolivien verstärkt seit der Revolution von 1952 immer wieder Bemühungen, die soziale Struk117

tur der bolivianischen Gesellschaft in Richtung größerer Egalität zu verändern, was zumindest in Teilen auch geschehen ist. Vor allem die gegenwärtige Regierung, aber auch die Regierung von Gonzalo Sanchez de Lozada und seinem Vizepräsidenten Victor Hugo Cárdenas, hat sich dieses Ziel dezidiert auf die Fahnen geschrieben, gerade auch im Hinblick auf die Partizipation der seit der Kolonialzeit immer wieder in unterschiedlichen Bereichen drastisch marginalisierten, stark benachteiligten, vielfach diskriminierten und manifesten wie latenten Rassismen ausgesetzten indigenen Teile der bolivianischen Bevölkerung. Nichtsdestotrotz dürften die oben angedeuteten Distinktionsmarker und Positionierungsmechanismen – auch wenn sie zumindest abgemildert worden sind – ihre Wirkung sicher nicht vollständig verloren haben. »Clasismo« geht mitunter mit Rassismus einher. Eine seiner Blüten konnte etwa vor zehn Jahren »bewundert« werden, als die damalige »Miss Bolivia« in einem Interview erklärte, leider herrsche im Ausland die Vorstellung vor, in Bolivien seien alle Indios, arm und klein. Dies habe jedoch mit der Realität des Ostens des Landes, aus dem sie komme, nichts gemein, denn dort seien die Menschen groß, weiß und sprächen Englisch (http://www. bolpress.com/art.php?Cod=2002080562). Darüber hinaus finden sich auch wechselseitige rassistische Zuschreibungen zwischen »Collas« (oft pejorativ verwendeter Ausdruck für die Bewohner der Andenregion, speziell der dortigen indigenen Bevölkerung) und den »Cambas« (Bewohner des Departamentos »Santa Cruz«). Schließlich sei noch auf den Rassismus von »t’aras« (»Indios«) gegenüber »k’aras« (»Weißen«) hingewiesen, einem Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen sozusagen. Rassismus hat in Bolivien eine lange Tradition (s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«) und ist mit dem Katholizismus verknüpft, in dem nicht nur zur Beginn der »Conquista« darüber debattiert wurde, ob die »Indios« eine Seele hätten und inwiefern sie überhaupt als Menschen zu betrachten seien. Auf der Grundlage dieser Fragen und Annahmen wurde ein großer Teil der indigenen Bevölkerung in den Minen und auf den Feldern als »pongos« (quasi-Sklaven) und auch sonst brutal ausgebeutet und erniedrigt, woran auch die Unabhängigkeitsbewegung von Spanien im 118

19. Jahrhundert nichts Wesentliches änderte, sondern erst die Revolution von 1952. In der bolivianischen Gesetzgebung ist jüngst ein umfangreiches Gesetz gegen Rassismus und jede Form der Diskriminierung verabschiedet und in Kraft gesetzt worden. In dessen Folge ging es auch um die Frage, inwiefern bestimmte als klassisch angesehene bolivianische Romane als rassistisch anzusehen seien und nicht mehr als Schullektüren benutzt werden dürften, und inwiefern solche Maßnahmen als Zensur zu gelten hätten. Dies betrifft insbesondere »Raza de bronce« (»Rasse aus Bronze«) von Alcides Arguedas (1919) und den dem Kostumbrismus zugerechneten Roman »La niña de sus ojos« (»Augenstern«) von Antonio Díaz Villamil (1948). Eine lesenswerte Studie zum ambivalenten Werk von Arguedas hat Paz Soldán (2003) verfasst. Zum Kostumbrismus zählen auch der Roman »La chaskañawi« (1947/1978 – »Die mit den schönen Augen«) von Carlos Medinacelli oder die Erzählung »La miskki simi« (1921/1989 – »Die mit dem schönen Mund«) von Adolfo Costa du Rels. Diese Erzählung (sowie eine weitere Erzählung) und ein berühmter Roman von Adolfo Costa du Rels standen für den 2007 ausgestrahlten Film »Los andes no creen en dios« (»Die Anden glauben nicht an Gott« – dies ist auch der Titel des Romans) Pate, den der schon erwähnte Regisseur Antonio Eguino gedreht hat. »La chaskañawi« wurde mit »Raza de bronce« und 13 weiteren Büchern im Jahr 2011 vom »Ministerio de Culturas« (»Ministerium der Kulturen«) zu den 15 grundlegenden Romanen der bolivianischen Literatur gekürt. Der Vizeminister für Dekolonialisierung, Félix Cárdenas, der dem Ministerio de Culturas unterstellt ist, kritisierte allerdings, dass die Romane der Liste »kolonial« und von »machos« seien. Auch in Presse, Funk und Fernsehen wurde das Gesetz kontrovers diskutiert. In Zeitungen finden sich ab diesem Zeitpunkt verstärkt Anzeigen, die eine antirassistische Haltung des jeweiligen Publikationsorgans dokumentieren sollen. So ist in der Zeitung »El Deber« etwa in jeder Ausgabe eine Abbildung mit vier Personen, die offenbar für die Multiethnizität Boliviens stehen sollen, gemeinsam mit dem Motto »Somos iguales. No a la discriminación« (»Wir sind gleich. Nein zur Diskriminierung«; http://www.eldeber.com.bo). 119

Hierarchie: In deutschen Organisationen ist oftmals ein eher partizipativer Führungsstil zu beobachten und es wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet, dass sie sich einbringen – mitunter auch dadurch, dass sie (konstruktive) Kritik an den Vorstellungen der Vorgesetzten üben. Das gibt es in Bolivien durchaus auch. Allerdings findet man dort häufiger eine Organisationskultur vor, in der die Hierarchie vertikaler und die Führung der Organisation autoritätsbezogener ist als in Deutschland. »Positionsmacht« geht häufig über »Expertenmacht« (Maurial de Menzel et al., 2012, S. 64). Die Äußerung von Kritik gestaltet sich aus deutscher Perspektive in Bolivien ohnehin schwierig (s. Themenbereich »Indirekte Kommunikation«), in Richtung Untergebener und Vorgesetzter allemal. Insofern empfiehlt sich, konstruktive Kritik erst bei einer guten Beziehung zum Vorgesetzten bzw. Untergebenen und auch dann eher indirekt zu äußern. Im Hinblick auf Fragen des Führungsstils kann der Einbezug der Mitarbeiter auch als Schwäche ausgelegt werden. Für Bolivien könnte das zutreffen, was Foellbach, Rottenaicher und Thomas (2002) für Argentinien geltend machen: »[D]aß Mitarbeitern wenig Entscheidungsmacht eingeräumt wird, liegt unter anderem auch daran, daß diese oft mangelhaft ausgebildet sind« (S. 61). Dies mag auch erklären, warum jemand, den man nicht als »Doctora« oder »Licenciado« ansprechen kann, schnell als inkompetent gilt. Denn diese Titel signalisieren ja, dass jemand ein Studium abgeschlossen hat. Ein duales Berufsausbildungssystem wie in Deutschland existiert in Bolivien nicht. Die Gesellschaften auf dem heutigen bolivianischen Gebiet waren auch in der Vergangenheit häufig stark hierarchisch orientiert (s. »Eine kurze Geschichte Boliviens«). Das gilt – selbstverständlich sehr grob gesprochen und natürlich in ganz unterschiedlicher Ausgestaltung – für die Inka- und die Kolonialherrschaft. Auch die Republik oder die Revolution von 1952 haben keineswegs zu einer durchgreifenden Verflachung aller Hierarchien geführt; dazu waren die grundlegenden Strukturen im Hinblick auf Eigentumsund Besitzverhältnisse sowie auf den Zugang zu führenden Positionen in Wirtschaft und Staat trotz allem einem zu geringen Wandel ausgesetzt. Darüber hinaus sind die Geschicke des Landes im 120

Verlauf seiner Geschichte mehr als einmal von Diktatoren oder sogenannten starken Männern gelenkt worden. Sicherlich haben die hier verkürzt und nur andeutungsweise dargestellten historischen Prozesse zu einer Hierarchieorientierung beigetragen, die auch im Berufsleben ihre Spuren hinterlassen hat.

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Besonderheiten im bolivianischen Alltag

In diesem Kapitel möchten wir Sie noch auf ausgewählte Besonderheiten des bolivianischen Alltags hinweisen, von denen sich in den Interviews gezeigt hat, dass sie bei den befragten deutschen Managern, Fach- und Führungskräften häufig zu Irritationen Anlass geben. Da es sich weniger um kulturelle Themen im engeren Sinne handelt, schildern wir zwar immer auch einen Fall, versuchen diesen Fall und das, wofür er in einem allgemeineren Sinn steht, in einen größeren Kontext zu stellen und zu plausibilisieren und geben auch Hinweise darauf, wie man sich jeweils verhalten könnte; wir verzichten aber auf die Formulierung von Deutungen und Bedeutungen. Im Einzelnen geht es um Besonderheiten hinsichtlich Straßenverkehr, Umweltschutz und öffentliche Verwaltung. Auch für diese »Besonderheiten« gilt aber natürlich, dass sie Besonderheiten nur vor dem Hintergrund bestimmter Erfahrungen und Erwartungen sind, eben deutscher, mithin nicht Besonderheiten an und für sich darstellen.

Straßenverkehr Annette Köhler ist erst seit Kurzem in der bolivianischen Hauptstadt für eine Organisation der wirtschaftlichen Zusammenarbeit tätig. Sie hat sich auf ihren beruflichen Aufenthalt im Ausland ausführlich vorbereitet: Hierzu gehörten etwa Gespräche mit Personen, die selbst in Bolivien gearbeitet haben, die Lektüre einschlägiger Sachbücher sowie ein interkulturelles Training für den lateinamerikanischen Kontext. Insofern kann sie manches, was sie in den ersten Wochen ihres Aufenthalts beobachtet, ganz gut 122

einordnen, wie sie findet. Für ihre Tätigkeit muss sie auch des Öfteren mit dem Auto aufs Land fahren, was sie allein schon wegen der imponierenden Landschaft gern macht. Auf einer dieser Fahrten läuft ihr eine Gruppe von Leuten fast vor die Motorhaube. Die drei Frauen, von denen eine auch noch ein Kind in ihrem »Aguayo« (das ist ein buntes Tuch, das typischerweise in der Andenregion verwendet wird) trägt, waren einfach ohne nach links oder rechts zu gucken über die Straße gegangen. Nur knapp konnte Frau Köhler einen schlimmen Unfall durch ein energisches Bremsen verhindern. Hierauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Ein paar Tage später fällt ihr in der Stadt darüber hinaus auf, dass – anders als in Deutschland – Kinder sehr oft an der Seite der Autos laufen, während ihre Eltern – quasi durch das Kind geschützt – neben ihrem Sohn oder ihrer Tochter laufen. In einem Land, das vergleichsweise dünn besiedelt und wenig motorisiert ist, ist ein Verhalten, das die Gefahren des Autoverkehrs im deutschen Sinn adäquat berücksichtigt, nicht immer anzutreffen. Durch die starke Migration von Teilen der Landbevölkerung in die Stadt, findet man mitunter auch in urbanen Kontexten ein Verkehrsverhalten vor, das man eher in ländlichen Gebieten erwarten würde. Hinzu kommt, dass es so ausführliche Verkehrserziehung, wie sie an deutschen Schulen üblich ist, in Bolivien kaum gibt. Zudem kann man sich in Bolivien den Führerschein kaufen, ohne eine Fahrschule dafür besucht haben zu müssen. Dies alles trägt dazu bei, dass das Verkehrsverhalten in Bolivien von vielen Deutschen als ausgesprochen leichtsinnig und gefährlich angesehen und mitunter auch gefürchtet wird. Darüber hinaus werden Regelverstöße im Straßenverkehr wenig geahndet. Die von Frau Köhler erlebte und andere ähnliche Situationen enthalten offenkundig keinen weiten Spielraum an Verhaltensalternativen. Mit anderen Worten: Etwas anderes, als besondere Vorsicht beim Autofahren, zumal auf dem Land, walten zu lassen, da man häufiger als in Deutschland mit gefährlichen Situationen rechnen muss, kann man hier nicht tun. Allenfalls kann man, wenn man in einer entsprechenden Position und einem entsprechenden Tätigkeitsfeld in Bolivien arbeitet – etwa im Rahmen 123

von Bildungseinrichtungen oder politischen Stiftungen –, versuchen, durch Bildungsprogramme oder Aufklärungskampagnen präventiv zu wirken.

Umweltschutz Anton Specker ist Lehrer an einer Privatschule in Santa Cruz. Im Großen und Ganzen ist er mit seiner Arbeit zufrieden: Das Kollegium ist in Ordnung und die meisten Schülerinnen und Schüler sind halbwegs aufmerksam und an seinem Unterricht interessiert. Was er allerdings eigenartig findet, ist, dass die Pausenhalle am Ende des Schultags immer wie der sprichwörtliche Saustall aussieht. Mehrfach hat er schon bemerkt, dass Schüler die Verpackung ihres Schokoriegels oder benutzte Taschentücher nicht in die Mülltonne, sondern einfach auf den Boden werfen und sich keiner daran stört. Gestern hat er sogar gesehen, dass der Schuldirektor ein zerknülltes Blatt Papier auch einfach hat fallen lassen. Mülltrennung, ausführliche Abfallverordnungen, ein Zurückdrängen von Plastiktüten oder Dosen und dergleichen mehr, sind in Bolivien anders als in Deutschland so nicht zu beobachten. Auch im Schulunterricht spielen Fragen des Umweltschutzes keine so ausgeprägte Rolle. Auf der Ebene der großen und nicht zuletzt ans Ausland gerichteten Politik wird der Umweltschutz in Bolivien hingegen gerade in den letzten Jahren sehr groß geschrieben (zum gesamten Themenkomplex vgl. Farthing u. Kohl, 2014, S. 78–127). So hat Präsident Morales immer wieder in der UNO die Rechte der Pachamama (s. Themenbereich »Synkretismus«) gegenüber einem die Natur zerstörenden ungebändigten Kapitalismus eingeklagt und einen »Día internacional de la Pachamama« (»Internationaler Tag der Mutter Erde«) mitdurchgesetzt. 2009 wurde ihm von der UNO sogar der Titel »World hero of mother earth« verliehen. Als Reaktion auf den von vielen Beobachtern als am wenigsten gelungen empfundenen Klimagipfel von Kopenhagen (2009) hat Bolivien im Frühjahr 2010 eine »Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel in Cochabamba« durchgeführt. Ferner sind Umweltschutzauflagen stren124

ger geworden. Seit 2007 gibt es auch den »Partido Verde de Bolivia« (»Grüne Partei Boliviens«). Andererseits werden die reichhaltigen Wälder Boliviens gegenwärtig so schnell abgeholzt wie in kaum einem anderen Land der Welt. Da die bolivianische Wirtschaft nach wie vor wenig divers ist und immer noch stark an der Ausbeutung von Rohstoffen orientiert ist, kommt es zu Konflikten mit Belangen, die einen wirkungsvollen Naturschutz verfolgen. Das zeigt sich nicht nur, aber auch an Konflikten um den Bau von Straßen zur Verbesserung der Infrastruktur. Einen besonderen Stellenwert haben hier die Auseinandersetzungen um TIPNIS (»Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Sécure« – »Nationalpark und Indigenenschutzgebiet Isiboro-Sécure«) erhalten, gerade auch weil die Regierung von Teilen der indigenen Tieflandbevölkerung als inkonsistent im Hinblick auf die neue Verfassung erlebt wurde, die bei solchen Projekten Konsultationen mit der indigenen Bevölkerung vorsieht. Auf der Ebene alltäglichen Verhaltens scheint es zwar so zu sein, dass es ein gesteigertes Umweltbewusstsein gibt, allerdings betrifft dies noch vergleichsweise sehr kleine Teile der bolivianischen Gesellschaft. Zumindest der oben erwähnte Herr Specker muss in der beschriebenen Situation nicht unbedingt tatenlos zusehen. Bildungskontexte sind Orte, an denen Verhaltensänderungen unterschiedlicher Art initiiert werden. Insofern ist die Schule dafür prädestiniert, Verhaltensweisen in Bezug auf den Umgang mit Müll zur Diskussion zu stellen und gegebenenfalls zu ihrer Veränderung anzuregen. Herr Specker kann mithin ein Gespräch mit dem Schuldirektor führen, sein und das Verhalten der Schülerinnen und Schüler mit Müll ansprechen und Bausteine zu einer Umwelterziehung im weiteren Sinne in der Schule anregen und dann auch selbst eventuell konzipieren und implementieren.

Öffentliche Verwaltung Herr Schill lebt schon seit einiger Zeit in Bolivien und hat dort in unterschiedlichen Feldern (Internationale Zusammenarbeit, Universität, Schulleitung) engagiert und erfolgreich gearbeitet. 125

Vor Kurzem hat er seinen neuen deutschen Pass von der Botschaft erhalten. Nun muss er zur Ausländerbehörde (»Migraciones«), um die Aufenthaltsgenehmigung vom alten auf den neuen Pass übertragen zu lassen. Er bezahlt die erforderliche Gebühr und soll – so der zuständige Beamte – drei bis vier Wochen warten, so lange würde die Bearbeitung seines Vorgangs dauern. Als Herr Schill sich nach Abschluss der vier Wochen meldet, sagt ein anderer Beamter – der für ihn zuständige Beamte ist durch ihn ersetzt worden –, er wüsste noch nichts über den Vorgang, es sei viel dazwischen gekommen, es würde noch eine Weile dauern. Drei Monate später wird Herrn Schill mitgeteilt, ihm könne keine Aufenthaltsgenehmigung gegeben werden, da Herr Schill vor sieben Jahren als ihm eine Genehmigung erteilt worden sei, eigentlich noch nicht alle Voraussetzungen dafür erfüllt habe, es müsse also irgendetwas damals schief gelaufen sein. Deshalb müsse er ein Bußgeld zahlen. Herr Schill sieht allerdings nicht ein, dass er für etwas ein Bußgeld zahlen soll, das nicht er, sondern allenfalls der Vorgänger des jetzigen Beamten in der Ausländerbehörde zu verantworten hätte. Der Beamte ist seinen Argumenten aber nicht zugänglich, weshalb Herr Schill eine Anwältin einschaltet, was den Prozess aber auch nicht beschleunigt. Das Ganze geht so aus, dass er das Bußgeld bezahlt und seinen Pass nach acht Monaten endlich wieder zurückbekommt. Korruption ist in Bolivien nach wie vor ein Dauerbrenner. Farthing und Kohl (2014, S. 63) machen darauf aufmerksam, dass Korruption insbesondere in Ländern, die vom Drogenhandel stark betroffen sind, und in Ländern mit einer Ökonomie, die vor allem auf die Ausbeutung von Rohstoffen ausgerichtet ist, ein starkes Problem darstellt. Für Bolivien trifft beides zu. In den Rankings von Transparency International – über deren methodische Güte jedoch natürlich gestritten werden kann, da Korruption naturgemäß schwer zu messen ist, wie Farthing und Kohl zu Recht anmerken – rangiert Bolivien unter den korruptesten Ländern der Welt (S. 174). Darüber hinaus: Eine effiziente Verwaltung benötigt Fachleute. Solche Fachleute müssen über eine ausgedehnte Expertise auf ihrem jeweiligen Gebiet verfügen und eine entsprechend anspruchsvolle Ausbildung hinter sich gebracht 126

haben. In Bolivien gilt bei der Vergabe von Ämtern in der öffentlichen Verwaltung aber weniger das Leistungsprinzip als eine Vergabepraxis, die eher an der Begleichung politischer Rechnungen orientiert ist: »Supporters expect that the government will furnish (or create) jobs [. . .]. Bureaucratic systems frequently function less as institutions promoting social or economic development than as sites for rent-seeking. Within the MAS government [aber keineswegs nur im Falle dieser Regierung; Anm.: M. G., C. K., A. T.], a strong sense of ›now it’s our turn‹ prevails among many who historically have been denied the perks of office, exposing the extent that grassroots organizations, as well as both urban and rural unions, internalize the assumptions underlying patronage politics« (S. 174). Vor diesem Hintergrund gestalten sich Interaktionen mit Teilen der öffentlichen Verwaltung des Öfteren als wenig erfreulich. Bei der von Herrn Schill erlebten und auch bei anderen ähnlich gelagerten Situationen bieten sich nicht viele Handlungsoptionen an. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Man kann natürlich weiterhin versuchen, den Beamten von der eigenen Einschätzung der Dinge zu überzeugen. Wie fruchtbar das allerdings ist, sei dahingestellt. Man kann natürlich auch versuchen, den Prozess durch ein Bestechungsgeld zu beschleunigen. In mehrerlei Hinsichten dürfte das aber keine gute Idee sein: – Es mag mit den eigenen moralischen Vorstellungen kollidieren. – Man trägt dazu bei, dass ein in Teilen korruptes System korrupt bleibt. – Es kann sein, dass die Situation tatsächlich nichts mit Korruption zu tun hat, sondern lediglich mit Ineffizienz und dann hätte der Bestechungsversuch möglicherweise negative Folgen auf die unmittelbare Interaktion mit dem Beamten oder aber auch unangenehme juristische Folgen. Wenn der Beamte den eigenen Argumenten nicht zugänglich ist, bleibt einem vermutlich nichts anderes übrig, als die Situation hinzunehmen und – wenn man so möchte – zu »erleiden«.

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Informationen zu Bolivien

Eine kurze Geschichte Boliviens Die kollektiv bedeutsame Vergangenheit orientiert das Handeln und Erleben der Mitglieder einer Kultur. Dabei unterliegt das, was als kollektiv bedeutsam gelten soll, genauso kontroversen Auseinandersetzungen wie die Frage, wer sich zu welchem Zeitpunkt welchem Kollektiv genau zugehörig fühlen kann, darf, soll oder muss. Geschichtsbewusstsein hat es mithin nicht mit toten historischen Fakten zu tun, sondern mit einer lebendigen und mitunter an Zumutungen reichen Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinragt, sie mitbestimmt sowie bestimmte Zukunftserwartungen nahe legt (Kölbl u. Straub, 2003; Ellenrieder u. Kammhuber, 2009, S. 155). Insofern bedarf interkulturelle Kompetenz auch einer historischen Tiefendimension (Weidemann, 2013). Im Rahmen des vorliegenden Trainings ist für Bolivien freilich lediglich eine schlagwortartige Andeutung dieser historischen Tiefendimension möglich – im Folgenden und in den bereits erfolgten Ausführungen zu den kulturellen Hintergründen der Themenbereiche. Die kurze Geschichte Boliviens orientiert sich vor allem an Mesa, Gisbert und Mesa (2003), Klein (2011) sowie Lessmann (2010).

Söhne der Sonne Auf dem Gebiet, das heute (in etwa) Bolivien darstellt, lösen vor der Ankunft der spanischen Eroberer einige teilweise sehr ausgedehnte Zivilisationen einander ab, von denen die bekanntesten die 128

Chavín-Kultur (800 v. Chr.), das Tiahuanaco-Reich (ca. 100 v. Chr. bis 1200 n. Chr.), die Fürstenreiche der Aymaras (ca. 13. bis 15. Jahrhundert) und das von den Quechuas ausgehende Inkareich sind, wobei letzteres vergleichsweise kurzen Bestand hatte. Nach dem rätselhaften Verschwinden Tiahuanacos nehmen die Aymara-Fürstentümer der nördlichen Hochebene eine beherrschende Stellung ein. Die soziale Struktur dieser Fürstentümer hat ihren Ursprung im Ayllu, der Dorfgemeinschaft oder Sippe, in der gemeinschaftlich gewirtschaftet wird und die von Jilakatas geführt werden. In der sozialen Hierarchie höher stehen die Kurakas, die so etwas wie regionale Feudalherren sind und eigenes Land besitzen. Das Land der Kurakas wird von den Ayllu-Mitgliedern sowie von Yanaconas bestellt, die eine eigene Klasse von Dienern und Sklaven bilden. Die Macht der Aymara-Fürstentümer wird durch die Quechuas gebrochen. Die Inkas (»Söhne der Sonne«) erobern die Fürstentümer in den 1460er Jahren und schaffen damit das Collasuyo, das zu einem Teil des Tahuantinsuyos (»Reich der vier Weltgegenden«) wird. Dabei übernehmen sie die interne Struktur der Aymara-Fürstentümer weitgehend (auch ihre Sprache wird nicht angetastet), solange sich diese der inkaischen Herrschaft unterordnet. Die strenge Organisation des inkaischen Imperiums mittels zentral administrierter planwirtschaftlicher Maßnahmen ist die Grundlage für die Versorgung der vielen in diesem Reich lebenden Menschen. Zur Wirtschaftsweise des Reichs gehört die »Mita«, ein regelmäßiger Arbeitsdienst, der auch von jedem Ayllu zu entrichten ist. Die Ankunft der Spanier unter Führung Francisco Pizarros in Peru 1532 stellt eine zentrale Zäsur dar, insofern sie das gewaltsame Ende des Tahuantinsuyos einläutet. Bei der Eroberung des Inkareiches kommt den Spaniern nicht nur ihre waffentechnische Überlegenheit zu Hilfe, sondern auch die Spaltung des Reichs in die Anhänger Atahuallpas und die Anhänger Huascars, die sich beide als legitime Nachfolger ihres Vaters, des Inka Huayna Capac, sehen.

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Kolonialzeit Die spanischen Kolonialherren gründen 1558 die »Audiencia de Charcas«, eine unabhängige regionale Regierung. In den darauffolgenden gut zwei Jahrhunderten wird die indigene Bevölkerung zum Teil gewaltsam umgesiedelt, mit Steuerabgaben belegt und zur Arbeit beim Abbau von Silber und Mineralien gezwungen. Ferner wird die Universität von Chuquisaca gegründet und die christliche Religion verbreitet – letzteres geschieht »mit Feuer und Schwert«, wie eine gängige Formulierung lautet. Hierbei kommt es aber nicht zu einer schlichten Ersetzung der bisherigen indigenen Praktiken und Vorstellungen, sondern zu eigentümlichen Amalgamierungen mit christlichen Elementen. Dies wird bisweilen als »Synkretismus« bezeichnet (s. den gleichnamigen Themenbereich). Die repressiv durchgesetzte (weitgehende) gesellschaftliche Ruhe erfährt mit den Aymara-Rebellionen von Túpac und Tomás Katari sowie Andrés Túpac Amaru in den Jahren 1780 bis 1782 deutliche Risse, ohne dass die Rebellen letztlich erfolgreich sind. In diesem Zusammenhang ist zweierlei besonders im kollektiven Gedächtnis Boliviens lebendig geblieben. Zum einen sind das die beiden Belagerungen von La Paz, zum anderen die Hinrichtung Túpac Kataris. Er soll vor seiner Vierteilung die immer wieder kolportierten und vielfach politisch in Dienst genommenen Worte gesagt haben: »Sie töten nur mich, aber ich werde wiederkommen und meiner werden Millionen sein«. Bisweilen wird diese Rebellion als Vorbild für die Kämpfe um eine von Spanien unabhängige Republik (1809 bis 1825) betrachtet.

Die Republik bis zur Revolution von 1952 Am 6. August (der seitdem Boliviens Nationalfeiertag ist) 1825 wird die unabhängige Republik Bolivien ausgerufen, die ihren Namen zu Ehren des südamerikanischen Befreiers Simón Bolívar erhält. Die ersten Jahrzehnte sind durch politische Unbeständigkeit – es werden unter anderem drei Verfassungen verabschiedet (1831, 1834 und 1839) – und große ökonomische Probleme ge130

kennzeichnet. Die indigene Bevölkerung bleibt von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen, ihr Leben verbessert sich gegenüber der Kolonialzeit keineswegs, lediglich die Vorzeichen ihrer Unterdrückung haben gewechselt. Insbesondere in der sechsjährigen Amtszeit des Präsidenten Mariano Melgarejo erfahren die Indios eine weitere Entrechtung: 1866 verabschiedet Melgarejo ein Dekret, welches vorsieht, dass die Indígenas teure Besitztitel für ihr Land erwerben müssen. De facto bedeutet dies oftmals ihre Enteignung. Melgarejos Präsidentschaft ist auch deshalb folgenreich, weil er in den bolivianisch-chilenisch-peruanischen Grenzstreitigkeiten in der Pazifikregion Verträge abschließt, die Bolivien zum Nachteil gereichen, da die strittigen Gebiete reich an Salpetervorkommen sind. Salpeter erfährt in den 1860er Jahren einen ökonomischen Aufstieg – so wird er beispielsweise für die Herstellung von Schießpulver und als Dünger genutzt. Diese Entwicklung verschärft die Grenzstreitigkeiten, die darin kulminieren, dass Bolivien 1879 Chile den Krieg erklärt, der bis 1884 andauert, als Pazifik- oder Salpeterkrieg bekannt geworden ist und aus dem Bolivien schwer angeschlagen hervorgeht: Es hat seinen Zugang zum Pazifik verloren, ist seit dieser Zeit ein Binnenland und bildet seine Marine seither am Titicacasee aus. Noch heute wird die Rückgewinnung des verlorenen Zugangs zum Meer in politischen und militärischen Reden beschworen und ist sogar Bestandteil der Verfassung. Bisherige Versuche zu einer einvernehmlichen diplomatischen Lösung mit Chile und Peru zu gelangen, sind alle gescheitert. Ist in der Kolonialzeit noch der südliche Altiplano die wirtschaftlich treibende Region, verschiebt sich das ökonomische Zentrum des Landes durch die zunehmende Bedeutung des Zinns hin zum bolivianischen Norden. Damit verliert Sucre in dem Maß an Bedeutung, in dem La Paz an Wichtigkeit gewinnt. Dies ist der Hintergrund für den Bürgerkrieg, den die Bewohner des Nordens 1898 gegen die Bewohner des Südens beginnen. Dabei schreiben sich erstere föderalistische Ideale auf die Fahnen, letztere werden als konservative Zentralisten bezeichnet. Freilich wiegen solch politisch-ideologische Auseinandersetzungen vergleichsweise leicht gegenüber handfesteren wirtschaftlichen Interessen. Der Bürgerkrieg endet 1899 mit einem Sieg der Liberalen 131

unter General Pando und führt zur Verlagerung des Regierungssitzes von Sucre nach La Paz. In starker Erinnerung ist der Bürgerkrieg aber auch wegen der Beteiligung einer Vielzahl an Indios auf liberaler Seite unter Führung von Zárate Willka. Nachdem die Liberalen die Unterstützung der Indios nicht mehr brauchen und diese ihnen in ihren politischen Forderungen unbequem werden, schlagen sie den indigenen Seitenarm des Bürgerkrieges brutal nieder. Um 1900 und noch einige Jahrzehnte darüber hinaus gelten vor allem drei Männer als besonders einflussreich in Bolivien. Es sind die »Zinnbarone« Patiño, Aramayo und Hochschild, die die »Rosca« (wörtlich das »Gewinde«; hier Begriff, der sich für die Zinnoligarchie eingebürgert hat) bilden und die bolivianische Politik maßgeblich bestimmen. 1932 kommt es zum Chaco-Krieg (der Chaco ist ein bis dahin wenig beachtetes Areal zwischen Bolivien und Paraguay). Der Krieg wird vom Präsidenten Daniel Salamanca in einer dramatischen Verkennung der Kräfteverhältnisse gegen Paraguay vom Zaun gebrochen, vorzugsweise um von innenpolitischen Problemen abzulenken. In ihm kommen Zehntausende von Menschen nicht allein in den im engeren Sinne militärischen Auseinandersetzungen um, sondern gerade auch in Folge widriger Umstände – Durst und einer Reihe tödlicher Krankheiten wie zum Beispiel Typhus. Aus dem 1935 endenden Krieg gehen lediglich diejenigen Teile der argentinischen Bourgeoisie als Gewinner hervor, die beide Kriegsparteien versorgt hatten. Nach dem Krieg drängt die »Generation des Chaco«, also diejenigen insbesondere jungen Männer, die an diesem Krieg teilgenommen hatten, auf deutliche, bisweilen radikale gesellschaftliche Veränderungen. Die bis dahin geltende Gesellschaftsordnung Boliviens wird massiv in Frage gestellt. Den letztlich erfolgreichsten Ausdruck des gesellschaftspolitischen Drängens bildet der MNR (»Movimiento Nacional Revolucionario«, »Nationalrevolutionäre Bewegung«) um Carlos Montenegro, Victor Paz Estenssoro (der später viermal zu Boliviens Staatsoberhaupt gewählt werden wird), Hernán Siles Zuazo und Walter Guevara Arce. Der MNR ist es, der 1952 die Revolution gegen die bestehenden Verhältnisse anführt, bis 1964 die Präsidenten der Republik stellt und soziale sowie wirtschaftliche 132

Umwälzungen einleitet. Dabei wird zu Beginn (und noch lange Zeit danach) von dem »poder dual« (die »doppelte Macht« – so auch ein Buchtitel von René Zavaleta, 1974) gesprochen, da der MNR sich die Macht gewissermaßen mit der einflussreichen gewerkschaftlich organisierten Minenarbeitergewerkschaft teilt, an deren Spitze Juan Lechín steht.

1952 und die Folgen Die lateinamerikanische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts kennt drei große Revolutionen: die mexikanische, die 1910 beginnt, die kubanische von 1956 und eben die bolivianische im Jahr 1952. Diese ist der vom Sozialisten Tristán Marof (alias Gustavo Navarro) schon in den 1920er Jahren ausgegebenen Losung »Die Minen dem Staat, das Land den Indios« verpflichtet. Ganz in diesem Sinne werden Minen verstaatlicht, allen voran diejenigen der Rosca, und Landbesitzer enteignet. Insbesondere die Landreform gilt auch heute noch als unvollendete Reform, insofern sie keineswegs sämtliche Latifundien beseitigt und insofern sie andererseits geradezu zur Schaffung von Minifundien geführt hat, zu landwirtschaftlichen Klein- und Kleinstbetrieben mit nur wenigen Hektar Betriebsfläche, die lediglich zur Eigenversorgung genutzt werden und die unwirtschaftlich sind (zu diesem Komplex in historischer wie aktueller Perspektive s. Farthing u. Kohl, 2014, S. 113–127; Lessmann, 2010, S. 156–167). Aber auch die Verstaatlichung der Minen hatte eine Reihe schwerwiegender Probleme zur Folge: Da sind zum einen die Entschädigungszahlungen an die Zinnbarone und an andere Minenbesitzer, die auf der neuen Regierung lasten; zum anderen wird die neu geschaffene »Corporación Minera de Bolivia« (COMIBOL) niemals wirklich gewinnbringend arbeiten, wofür unter anderem ihre überdimensionierte Bürokratie verantwortlich gemacht wird. Die dritte wesentliche Umwälzung der Revolution von 1952 besteht in der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für alle Bolivianer ab 21 Jahren. Gerade die Landreform und die Wahlrechtsreform sollen der Integration desjenigen Teils der bolivianischen Bevölkerung dienen, der jahrhundertelang exkludiert wurde: die indigene Bevölkerung. Dabei sieht die 133

neue Sprachregelung des MNR, die alte Diskriminierungen abbauen soll, vor, nicht mehr von »Indios«, sondern von »Campesinos« (»Bauern«) zu sprechen (zur Geschichte der politischen Kämpfe der »Bauernschaft« von 1900–1980 s. Rivera Cusicanqui, 1984 sowie Albó u. Barnadas, 1984). Die »Movimientistas« (die Angehörigen des MNR) sind in ihrem politischen Handeln alles andere als zimperlich. Gerade in der unmittelbaren Folge der Revolution übt die Regierung starken Druck auf politisch Andersdenkende aus und schafft mit Zwangslagern und dem »Control político« (»Politische Kontrolle«) Instrumente zur Repression – ein Thema, das auch in der jüngeren bolivianischen Belletristik bearbeitet wird (Ormachea Gutiérrez, 2007).

Die Zeit der Militärherrschaft Es sind nicht zuletzt die rasch aufbrechenden Konflikte zwischen den einst in der Revolution Verbündeten, insbesondere sind hier Paz Estenssoro, Siles Zuazo und Lechín zu nennen, die mit dazu führen, dass die MNR-Regierung (mit wechselnden Präsidenten) nach zwölf Jahren vom General René Barrientos Ortuño weggeputscht wird. Von 1964 bis 1982 steht das Land vorwiegend unter der Herrschaft rechtsgerichteter Militärs, wobei diese selten demokratisch legitimiert sind, meistens diktatorisch regieren und in variierendem Grad Gewalt ausüben. In die Amtszeit von Barrientos fällt die Gefangennahme und Tötung von Ernesto »Che« Guevara im Jahre 1967, die Bolivien schlagartig ins Zentrum der Weltöffentlichkeit rücken. Dabei hat das Unterfangen von Guevara von vornherein mit Schwierigkeiten zu kämpfen: Obwohl Bolivien zu dieser Zeit von einem Militär regiert wird – René Barrientos – und obwohl es der Revolution von 1952 zum Trotz noch immer himmelschreiende soziale Ungerechtigkeiten gibt, kann in Bolivien von einer revolutionären Stimmung keinesfalls die Rede sein. Zwar gibt es die hochpolitisierten linksgerichteten Minenarbeiter, aber es gibt auch die große Zahl der »Campesinos«, die keineswegs mit Guevara und seinen Mitstreitern sympathisiert, sondern sich im Gegenteil dem von Barrientos vielbeschworenen Pakt zwischen Militär und Bauernschaft verpflichtet fühlt, der – 134

so die Losung – die Errungenschaften der Landreform verteidigen soll. Im Übrigen ist Barrientos zu dieser Zeit demokratisch legitimiert und in großen Teilen der Landbevölkerung außerordentlich beliebt, versteht Barrientos, der nahezu fließend Quechua spricht, es doch gut, sich den Indios gegenüber als einer der Ihren zu präsentieren. 1970 erfolgt nach dem nie gänzlich aufgeklärten Unfalltod Barrientos’ die Übernahme der Macht durch den linksgerichteten Militär Juan José Torres, der allerdings schon im darauffolgenden Jahr durch Oberst Hugo Banzer Suarez, der deutsche Vorfahren hat, weggeputscht wird. Das hiernach folgende »Banzerato« dauert bis 1978 und ist gerade zu Beginn durch eine Fülle brutaler Repressionen gegenüber allen echten und vermeintlichen »Kommunisten« gekennzeichnet – die Bergarbeiterfrau Domitila Barrios (1937–2012) hat in dem sehr bekannt gewordenen Buch »Wenn man mir erlaubt zu sprechen . . .« auch über den Widerstand gegen Banzer berichtet (Viezzer, 1977). Dabei passt Banzer insofern in die Zeit, als er von ähnlich gesinnten und ähnlich brutal oder noch brutaler agierenden Militärs, die die Nachbarländer regieren, umgeben ist, man denke etwa an Augusto Pinochet in Chile. Nach einigen Wirren und der wohl grausamsten Diktatur der bolivianischen Geschichte durch Luis García Meza, der zahlreiche Menschen zum Opfer fallen, unter ihnen etwa der Sozialist und Schriftsteller Marcelo Quiroga Santa Cruz oder der Jesuitenpater und Menschenrechtsaktivist Luis Espinal, endet 1982 die Militärherrschaft und wird der Weg wieder frei für demokratische Verhältnisse.

Die Rückkehr zur Demokratie Die »Unión Democrática y Popular« (UDP; »Demokratische Volksunion«), ein Zusammenschluss linker Parteien, befördert 1982 Hernán Siles Zuazo zum zweiten Mal in das Präsidentenamt. Damit erfolgt ein eindeutiger Bruch zur langandauernden Herrschaft des Militärs, eine Rückkehr zur Demokratie, die bis heute nicht wieder ernsthaft durch die Armee gefährdet worden ist. Eines der sichtbaren Zeichen dieses Bruchs ist die durch das Engage135

ment des Ehepaars Serge und Beate Klarsfeld mitbewirkte Auslieferung des Alt-Nazis Klaus Barbie (des »Schlächters von Lyon«) an Frankreich, der unter dem Namen Klaus Altmann jahrzehntelang unbehelligt in Bolivien leben konnte und in die Machenschaften der Militärdiktaturen verstrickt war. Im Hinblick auf Barbie und andere Alt-Nazis in Bolivien gilt es im Übrigen aber auch Folgendes festzuhalten: »There is certainly irony, if not injustice, in the fact that for many Europeans and North Americans, Bolivia has acquired a reputation primarily as a place sheltering Nazi war criminals, while its role as a saving haven for thousands of Jewish and non-Jewish refugees and displaced persons is virtually unrecognized, if not unknown« (Spitzer, 1998, S. 175). Siles Zuazo erbt 1982 gravierende ökonomische Probleme und sieht sich einer permanenten Kritik sowohl seitens seiner Bündnispartner als auch der Opposition ausgesetzt, die ein Regieren zeitweise geradezu unmöglich macht. Die ökonomischen Probleme des Landes wachsen der Regierung über den Kopf. Im kollektiven Gedächtnis Boliviens fungiert die UDP-Regierung daher als Rückgewinnerin der Demokratie, mindestens aber ebenso als diejenige bolivianische Regierung, unter der das Land die größte Inflation seiner Geschichte zu erleiden hatte. Von außen und innen zerrieben entschließt sich Siles Zuazo dazu, sein Amt frühzeitig aufzugeben und Neuwahlen auszurufen (als ein interessantes Zeugnis aus dieser Zeit und lesenswert ist Hella Schlumbergers »Bolivien, schwankende Wiege der Freiheit: Land zwischen Kokainmilitärs und Demokraten« [1985], ein Buch, in dem später zu größerer Prominenz gekommene Personen wie Felipe Quispe oder Victor Hugo Cárdenas auftreten). Die Neuwahlen gewinnt 1985 Paz Estenssoro, der sich sofort nach seiner Amtsübernahme daran macht, die Inflation zu stoppen. In einer dramatischen Fernsehansprache stellt Paz fest: »Bolivia se nos muere« (»Bolivien stirbt uns weg«). Die Heilung des moribunden Patienten sieht der Präsident in der Anwendung drastischer ökonomischer und sozialer Maßnahmen, die im bis heute berühmt-berüchtigten Dekret 21060 ihren Niederschlag finden. Zu diesen Maßnahmen gehören die Zerschlagung der COMIBOL und die »Relokalisierung« (sprich: Entlassung) des Großteils der Minenarbeiter. Eine beträchtliche Anzahl der solchermaßen relokalisierten Arbeiter lässt 136

sich im Chapare (eine subtropische Gegend im Departamento Cochabamba) nieder, um dort als Kokabauern ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die verordneten Maßnahmen helfen tatsächlich dabei, die Inflation zu stoppen, die sozialen Kosten des 21060 sind allerdings beträchtlich. In der Folge erlebt Bolivien eine Zeit vergleichsweiser hoher politischer Stabilität vor dem Hintergrund eigentümlicher und vorher undenkbar erscheinender Koalitionen zwischen einst verfeindeten Parteien sowie der mehr oder weniger überzeugenden Wandlung eines einstigen Diktators – Hugo Banzer – zum Demokraten. Paz Estenssoro folgt der ehemals stark linksgerichtete Mitbegründer des MIR (»Movimiento de la Izquierda Revolucionaria«; »Bewegung der revolutionären Linken«) Jaime Paz Zamora als Präsident, der 1993 die Präsidentenschärpe an Gonzalo Sánchez de Lozada (»Goni«) weitergibt. In dessen erster Regierungszeit (1993 bis 1997) finden folgenreiche Veränderungen statt (s. Goedeking, 2003). Zwei zentrale Instrumente hierzu sind die »participación popular« (»Volksbeteiligung«) und die »capitalización« (»Kapitalisierung«). Die participación popular zielt auf eine deutliche Dezentralisierung der politischen Strukturen Boliviens ab und verlagert einen beträchtlichen Anteil an Entscheidungsbefugnissen und Wahlmöglichkeiten auf lokale Ebenen. Im Zuge der capitalización werden eine Reihe von Staatsunternehmen privatisiert, etwa die Elektrizitäts-, die Erdöl- oder die Fluggesellschaft. Darüber hinaus sind Bildungsreformen zu nennen, die vor allem die Beteiligung der indigenen Bevölkerung am Bildungssystem erhöhen sollen sowie Verfassungsänderungen, die die Multiethnizität und Plurikulturalität Boliviens anerkennen und das »indigene Gesicht« Boliviens sichtbarer machen sollen. Beides geht insbesondere auf den Vizepräsidenten Victor Hugo Cárdenas zurück, der der erste Aymara in diesem hohen politischen Amt ist und der ursprünglich aus dem revolutionären Indianismus kommt, zu deren Vordenkern etwa Franz Tamayo (1879–1956) und Fausto Reinaga (1906–1994) gehören (s. z. B. Reinaga, 1970, 1980; hierzu auch García Linera, 2005/2012a). Franz Tamayos in diesem Zusammenhang bekannteste Schrift ist die 1910 veröffentlichte Aufsatzsammlung »Creación de la pedagogía nacional« (s. Tamayo, 1910/1986 – »Schaffung der natio137

nalen Pädagogik«). Was Fausto Reinaga anbelangt, so propagierte er eine Form des radikalen Indianismus, der bisweilen in seinem Hass gegen die »blonden Bestien« bzw. die »k’aras« (»die Weißen« – im Unterschied zu den »t’aras«, den »Indios«), rassistische Züge annahm. Mit diesem Erbteil des Indianismus hat ein Victor Hugo Cárdenas nichts gemein und auch die gegenwärtige Regierung weist dies weit von sich. Nicht ganz so eindeutig ist dagegen die Haltung Felipe Quispes (s. im Folgenden). Es wird allerdings auch – unseres Erachtens zu Recht – geltend gemacht, dass Reinagas polemische, mitunter reichlich chaotisch und wirr anmutende Schriften (was einer akademischen Rezeption im Wege steht) auch interessante Entwürfe einer originellen Kritik des okzidentalen Rationalismus enthalten (Mansilla, Gamboa Rocabado u. Alcocer Padilla, 2014) sowie mitunter überaus klare und treffende soziologische Analysen der bolivianischen Gesellschaft (Macusaya, 2014). 1997 wird – dieses Mal demokratisch legitimiert – Hugo Banzer Präsident und steht (bzw. sein Vizepräsident Jorge »Tuto« Quiroga, der das Amt aufgrund von Banzers schwerer Krebserkrankung Mitte 2001 übernimmt) dabei einer »Megakoalition« aus ganz heterogenen Parteien vor, bis 2002 wieder Sanchez de Lozada in das Präsidentenamt gewählt wird.

Krisen, Blockaden, Präsidentensturz Die Regierung Banzer/Quiroga setzt sich das Ziel, den gesamten illegalen Kokaanbau im Chapare auszurotten. Das bringt ihr die erbitterte Feindschaft der gewerkschaftlich organisierten Kokabauern ein. Auch generelle wirtschaftliche Probleme im Land sowie Korruptionsskandale tragen zur Diskreditierung der Regierung bei. Schließlich scheint sich 2000 das schon ältere Diktum des Journalisten James Dunkerley (1984) von Bolivien als dem Land, das »Rebellion in the veins« habe, einmal mehr zu bewahrheiten: In diesem Jahr finden harsche Auseinandersetzungen in Cochabamba wegen Preiserhöhungen der mittlerweile privatisierten Wasserversorgung statt. Die Auseinandersetzungen steigern sich geradezu zu einem »Krieg ums Wasser«. Im selben Jahr 138

finden Straßenblockaden statt, die La Paz 20 Tage lang von der Außenwelt abschneiden und so etwas wie eine Reminiszenz an die Belagerung der Stadt durch Túpac Katari am Ende des 18. Jahrhunderts darstellen (s. S. 130). Diese Straßenblockaden gehen auf den damaligen Generalsekretär der Bauerngewerkschaft (CSUTCB) und heutigen Führer des »Movimiento Indígena Pachakuti« (»Indigene Bewegung Pachakuti«) Felipe Quispe (»El Mallku«, »der Kondor«) zurück, der die Blockaden damit legitimiert, die Regierung wolle den Titicacasee verstaatlichen und ein Fischverbot erlassen – beides stimmt nicht. Quispe ist einer der ehemaligen Kader der besonders in der zweiten Hälfte der 1980er/Anfang der 1990er Jahre agierenden Guerillabewegung EGTK (»Ejército Guerrillero Túpac Katari«, »Guerillaheer Túpac Katari«), der auch der gegenwärtige Vizepräsident Álvaro García Linera angehörte, der seinerzeit das Mauser-Gewehr unter dem roten Poncho getragen haben will. García Linera hat damals unter dem wenig bescheidenen Pseudonym »Qhananchiri« (Aymara für »Derjenige, der die Dinge klärt«) linksradikale Schriften sowie interessante Kommentare zu vergleichsweise wenig beachteten Texten Karl Marx’ zur bäuerlichen Wirtschaft bzw. zu Amerika verfasst (s. z. B. García Linera, 1989/2008). Der Widerstand gegen die als neoliberalistisch gebrandmarkten Regierungen seit derjenigen von 1985 unter Paz Estenssoro artikuliert sich in unterschiedlichen Formen und wird im Laufe der Jahre immer stärker. Dabei spielen die sozialen Bewegungen eine große Rolle. Zu ihnen zählen Nachbarschaftsgruppen (allen voran die von El Alto), indigene Bewegungen und die Bauerngewerkschaften. Die Kokabauern aus dem Chapare, an deren Spitze der Gewerkschaftsführer Evo Morales Ayma steht, gehören zu den Bauerngewerkschaften, die besonders einflussreich sind. Morales’ politisches Programm enthält die Forderungen der Kokabauern nach einer Entmilitarisierung des Chapares sowie einer Zurückdrängung des US-amerikanischen Einflusses auf die Gestaltung der bolivianischen Drogenpolitik und auf die bolivianische Politik im Allgemeinen. In der Frage der Drogenpolitik geben die Kokabauern die Losung aus »Coca si, cocaína no« (»Koka ja, Kokain nein«) (hierzu Farthing u. Kohl, 2014, S. 128–143; Lessmann, 2010, S. 182–197). Darüber hinaus schreibt Morales 139

sich später auch die Forderung nach der vollen gesellschaftlichen und politischen Anerkennung der indigenen Bevölkerung auf die Fahnen. Dabei agieren die Kokabauern im Zusammenschluss mit anderen sozialen Bewegungen und nutzen Demonstrationen, Straßenblockaden und Straßenschlachten (wie beim »Krieg ums Wasser«) als außerparlamentarische Instrumente zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. 1999 wird der MAS (»Movimiento al Socialismo«, »Bewegung zum Sozialismus«) als parlamentarisches Instrument unter großer Beteiligung der organisierten Kokabauern gegründet. In der zweiten Amtszeit von Gonzalo Sanchez de Lozada, der 2002 erneut, wenn auch nur knapp vor Evo Morales, der für den MAS kandidiert, zum Präsidenten gewählt wird, verschärfen sich die Konflikte zwischen Regierung/Staat auf der einen und den sozialen Bewegungen auf der anderen Seite. In diese Zeit fallen die harten Auseinandersetzungen um den richtigen Umgang mit Boliviens fossilen Brennstoffen (der »Krieg ums Gas«). Während die Einen Verträge mit ausländischen Firmen und Investoren für unabdingbar halten, denunzieren die Anderen solche Verträge als den Ausverkauf nationaler Interessen und die Personen, die sich hierfür einsetzen dementsprechend als »vendepatrias« (»Vaterlandsverkäufer«). Die Lage spitzt sich dermaßen zu, dass es zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen dem von Sanchez de Lozada eingesetzten Militär und Demonstranten bzw. Blockierern kommt. Carlos Mesa, ein angesehener Journalist und Historiker, den Sanchez de Lozada zu seinem Vizepräsidenten gemacht hatte, distanziert sich vom Handeln des Präsidenten und kritisiert es öffentlich. Der Druck der Protestierenden wird schließlich so groß, dass Sanchez de Lozada zurücktritt und ins Exil in die USA flieht. Sein Nachfolger wird Carlos Mesa, der zwei Jahre Bolivien unter schwierigen innenpolitischen Bedingungen regiert und 2005, wiederum unter dem Druck der sozialen Bewegungen, zurücktritt. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs Eduardo Rodriguez Veltzé wird in der Folge Interimspräsident und schreibt Wahlen aus, die der MAS mit seinem Kandidaten Evo Morales mit einem außerordentlich hohen Ergebnis für sich entscheidet.

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Bolivien heute Die neue Regierung bringt zum ersten Mal in der bolivianischen Geschichte einen Aymara an die Spitze des Staates. Dieser sucht außenpolitisch von Beginn an die Nähe zu Fidel Castro in Kuba sowie Hugo Chávez in Venezuela und macht sich daran, die Verträge mit den ausländischen Erdöl- und Erdgasunternehmen neu zu verhandeln und sozialstaatliche Programme aufzulegen – dies alles geschieht vor dem Hintergrund einer angestrebten »Revolution in Demokratie«. Dabei sind die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte sowie die Rohstoffe des Landes überaus günstig, so dass die ökonomische Situation Boliviens zu dieser Zeit im Vergleich zu vorangegangen Jahren sehr gut ist. Darüber hinaus wird eine verfassunggebende Versammlung gewählt. Trotz des hohen Wahlsiegs und einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung ist es nicht so, dass Morales und sein MAS einfach »durchregieren« könnten. Die Opposition gegen die neue Regierung ist besonders in den östlichen Departamentos Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija beheimatet, die ihrer geographischen Form wegen auch als »Halbmond« bezeichnet werden. Auseinandersetzungen finden vor allem um das Thema der regionalen Autonomie statt, das zu einer Frage der Unterstützung oder Ablehnung von Morales hochstilisiert wird. Auch die Debatten um die neue Verfassung verlaufen konfliktreich (zu Konfliktszenarien in der rezenten bolivianischen Geschichte insgesamt s. Goedeking u. Zuazo, 2006). Wenn auch Morales – wie angedeutet – lange Zeit hohe Popularität genießt und gerade die sozialstaatlichen Programme von Vielen begrüßt werden, spaltet sich Bolivien zunehmend in die Anhänger und die Kritiker des neuen politischen Kurses, was sich gerade auch in den Auseinandersetzungen um die neue Verfassung zeigt, die in einem eher zweifelhaften Procedere durchgesetzt wird. Seit 2009 hat Bolivien eine neue Verfassung (der Text kann über die Webseite des bolivianischen Justizministeriums heruntergeladen werden; zum Verhältnis neue Verfassung – indigene Völker s. Schilling-Vacaflor, 2010). Diese enthält unter anderem eine teilweise Anerkennung der indigenen »justicia comunitaria« (»kommunitäre Justiz«), die Anerkennung von 36 Ethnien sowie die Gleichstellung von »Wiphala« (Emblem der indigenen Bevölke141

rung) und Nationalflagge. In diesem Sinne ganz folgerichtig ist nicht mehr von der Republik Bolivien die Rede, sondern von Bolivien als »Estado plurinacional« (»plurinationaler Staat«). Grob gesprochen sehen die Regierungsanhänger hierin endlich die wirkliche Anerkennung der Multiethnizität und Multikulturalität Boliviens und das Land einen bedeutenden Schritt weiter auf dem Weg der inneren Entkolonialisierung (hierzu etwa Svampa, Stefanoni u. Fornillo, 2010), die Kritiker dagegen die Gefahr einer »Balkanisierung«, eines Zerfalls Boliviens (zur »Staatschwäche« Boliviens s. Jäger, 2009). In der zweiten Amtszeit von Morales ab 2010 scheint sein Rückhalt zunächst bei seinen einstigen Anhängern zu sinken. Auch frühere Verbündete wie der ehemalige Bürgermeister von La Paz Juan del Granado kritisieren die Regierung immer wieder aus einer (gemäßigt) linksgerichteten Perspektive. Del Granado war nicht nur von 1999 bis 2010 Bürgermeister von La Paz und einer der Mitbegründer des »Movimiento Sin Miedo« (MSM, »Bewegung ohne Angst«), sondern hat sich insbesondere auch als Menschenrechtsaktivist und Rechtsanwalt einen Namen gemacht, spätestens mit seinem zentralen Beitrag zur Verurteilung des Diktators Luis García Meza zu dreißig Jahren Haft. Del Granado tritt 2014 als Gegenkandidat von Morales um das Präsidentenamt an, wobei nicht er, sondern der Unternehmer Samuel Doria Medina der stärkere Kandidat ist. Den vielleicht deutlichsten Ausdruck findet Evo Morales’ geschwächter Rückhalt in den starken Protesten, die aufflammen, als die Subventionen für Diesel wegfallen sollen – eine Maßnahme, die gerade auch die ärmere Bevölkerung hart getroffen hätte und gegen die Evo Morales, selbst in der Zeit, als er noch nicht Präsident des Landes war, wohl am stärksten opponiert hätte; moderatere Versuche in der Amtszeit von Carlos Mesa stießen jedenfalls bei Morales und seinen Anhängern auf harsche Kritik und drastische außerparlamentarische Opposition. Unter dem Eindruck der Proteste wird diese Maßnahme wieder zurückgenommen. Vergleichbar schwierig gestalten sich Auseinandersetzungen im Nationalpark und Indigenenschutzgebiet TIPNIS, durch das die Regierung eine Straße bauen will, was aber auf den zum Teil erbitterten Widerstand der dort lebenden indigenen Bevölkerung stößt. Gegen Ende seiner zweiten Amtszeit kann die Regierung Morales zahlreichen Problemen zum Trotz aber 142

auch weiterhin auf eine vergleichsweise günstige ökonomische Situation blicken und erfreut sich in Umfragen wieder hoher Zustimmungswerte. Während Morales 2005 für den Wechsel stand und sich 2009 als der »Bestatter der Oligarchie« gerierte, sei es das Ziel des amtierenden Präsidenten für die Wahlen im Jahre 2014 – so der argentinische Journalist und Sozialwissenschaftler Pablo Stefanoni (2014), ein genauer Beobachter Boliviens –, die Wählerschaft von den Segnungen der Stabilität zu überzeugen. Mit einem Wahlergebnis von gut 60 % ist ihm dies offensichtlich gelungen. Sollte Morales die volle Amtszeit bis 2020 ausfüllen, würde er der am längsten am Stück regierende Präsident Boliviens werden – sogar noch länger als Andrés de Santa Cruz (1829–1839), der erste Präsident des Landes, der neun Jahre und neun Monate am Stück im Amt war. Er würde selbst Victor Paz Estenssoro überholen, der die Geschicke des Landes immer wieder im Verlauf von vier (nicht immer vollständigen) Amtsperioden zwölf Jahre und sechs Monate lang gelenkt hat. Ansonsten ist es natürlich unmöglich vorherzusagen, wie die Entwicklung Boliviens weitergehen wird.Unbestreitbar ist allerdings,dass die Regierung von Morales Bolivien in vielerlei Hinsichten stärker verändert hat, als so manche Regierung davor. Ob sein Amtsantritt ein bedeutenderes historisches Ereignis darstellt als die Revolution von 1952, wie bisweilen behauptet wird, ist abzuwarten, überaus einschneidend ist es allemal. In jedem Fall hat Bolivien schon lange nicht mehr eine so große Aufmerksamkeit aus dem Ausland erfahren wie heute.

Landeskundliche Fakten im Überblick Die landeskundlichen Informationen sind insbesondere Lessmann (2010), Pampuch und Echalar (2009), Farthing und Kohl (2014) sowie Angaben des »Instituto Nacional de Estadística« (http://www.ine.gob.bo) entnommen. Bevölkerung In Bolivien leben etwa 10 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte davon in Städten. Die durchschnittliche Lebenserwartung be143

trägt 64 Jahre, etwa 40 % der Einwohner sind unter 15 Jahre alt. Das Land ist mit etwa 8,6 Einwohnern pro Quadratkilometer vergleichsweise sehr dünn besiedelt, das jährliche Bevölkerungswachstum beläuft sich auf circa 2 %. Bolivien ist das »indianischste« Land Südamerikas. Zwei große Ethnien sind die Quechuas und die Aymaras. In unterschiedlichen Befragungen der letzten Jahre haben – mal mehr, mal weniger – etwa die Hälfte der Bevölkerung über sich angegeben, einer dieser beiden Ethnien anzugehören; andere (zahlenmäßig weniger ins Gewicht fallende) »Indígenas« (»Indigene«) bzw. »Originarios« (»Ureinwohner«) sind beispielsweise die Chiquitanos, die Guaraníes und die Moxeños. »Mestizen«, also Nachfahren indianisch-spanischer Verbindungen, stellen einen weiteren großen Teil der bolivianischen Bevölkerung, den Rest bilden Nachfahren der spanischen Eroberer, Afro-Bolivianer sowie Migranten aus unterschiedlichen Weltregionen. Die Zählung der bolivianischen Bevölkerung gesondert nach Ethnien ist ein politisch heiß umkämpftes Feld und die jeweils berichteten Zahlen variieren je nach Befragungsmodus und sind interpretationsbedürftig (s. zum Beispiel Albó, 2009; Zavaleta Reyles, 2009). So macht es einen Unterschied, ob Mehrfachnennungen möglich sind, die etwa sowohl eine Zuordnung zu den Quechuas als auch zu den Mestizen vorsehen oder nicht. Die oben erwähnte Information, dass sich um die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung den Quechuas und den Aymaras zugehörig fühlt, schließt nicht aus, dass sich ein Teil der Befragten auch als Mestizen begreift. Die Artikulation politischer Interessen unter dem Banner dezidierter ethnischer Identitäten ist von Seiten der Aymaras und Quechuas in der bolivianischen Gesellschaft am stärksten vernehmbar, die Indígenas aus dem Tiefland versuchen sich aber – mitunter auch im Konflikt mit Teilen der indigenen andinen Bevölkerung – ebenfalls vermehrt Gehör zu verschaffen, etwa im bereits erwähnten Streit um den Straßenbau durch den Nationalpark und das Indigenenschutzgebiet TIPNIS. Überhaupt wäre es natürlich naiv zu glauben, »die« indigene Bevölkerung würde mit einer Stimme sprechen (s. Themenbereich »Indigenität«).

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Verwaltungsaufbau und Geografie Der »Estado Plurinacional de Bolivia« (»Plurinationaler Staat Bolivien«; bis zur Verfassung von 2009 »Republica de Bolivia« – »Republik Bolivien«) liegt im Herzen Südamerikas, erstreckt sich auf über eine Million Quadratkilometer und grenzt an Peru, Chile, Argentinien, Paraguay und Brasilien. Bolivien ist in neun Departamentos – La Paz, Oruro, Potosí, Cochabamba, Chuquisaca (Sucre), Tarija, Santa Cruz, Beni und Pando (die Gruppe der vier letztgenannten Departamentos wird wegen ihrer Form »Media Luna«, »Halbmond« genannt) –, 98 Provinzen und 329 Gemeinden gegliedert. Die Hauptstadt ist Sucre, der Regierungssitz befindet sich in La Paz. Zu den größten Städten gehören Santa Cruz mit über 1,5 Millionen Einwohnern, El Alto und La Paz mit je etwa 900 000 Einwohnern und Cochabamba mit über 0,5 Millionen Einwohnern. Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten sind immer wieder Fragen einer größeren Autonomie der einzelnen Regionen (zum Teil überaus) heftig diskutiert worden. Dabei ging es auch um eine mögliche »nación camba« (als »cambas« werden die Einwohner des Departamentos Santa Cruz bezeichnet). Den in ihrer Radikalität variierenden Autonomiebestrebungen insbesondere des (ökonomisch starken) bolivianischen Ostens wurde von Seiten der Andenregion vorgeworfen, separatistischen Tendenzen zuzuarbeiten, die die Einheit des Landes ernsthaft gefährden würden. Die echten oder vermeintlichen, lediglich zugeschriebenen, Unterschiede – im Speziellen zwischen der Andenregion und dem Osten des Landes – spielen in politischen und öffentlichen Diskussionen und dem alltäglichen Leben immer wieder eine Rolle. In einem der erfolgreichsten bolivianischen Filme, »Mi socio« (»Mein Sozius«) vom italienisch-bolivianischen Regisseur Poalo Agazzi aus dem Jahr 1982, kommen solche Unterschiede im Hinblick auf Landschaft, Klima, aber auch Kleidungs- und Essgewohnheiten, Mentalitäten und Lebensformen in Gestalt eines Road-Movies ausführlich zur Geltung. Bolivien besteht geografisch betrachtet aus sieben großen Zonen: die Anden, der Altiplano, die Subpuna, die Yungas, der Regenwald, die Feuchtsavanne und der in der Geschichte des Landes so verhängnisvolle Chaco. Pampuch und Echalar (2009, 145

S. 16) bemerken hierzu: »Schon die europäischen Reisenden, die im 19. Jahrhundert Bolivien durchquerten [z. B. der französische Naturforscher Alcides d’Orbigny; Anm.: M. G., C. K., A. T.], berichteten, dass dieses Land eine Art Mosaik der ganzen Erde biete. Bolivien besitzt endlose Ebenen, hohe Berge, tiefe Schluchten, tropische Wälder, Sand- und Salzwüsten, gemäßigte Zonen und ewigen Schnee«.

Politik und Wirtschaft Bolivien ist – wie die meisten Länder Lateinamerikas – eine Präsidialrepublik. Der derzeit amtierende Präsident (seit 2005) ist Evo Morales Ayma von der Partei »Movimiento al Socialismo« (MAS), sein Vizepräsident Álvaro García Linera. Das Parlament verfügt über zwei Kammern und 166 Abgeordnete. Mit der Wahl von Evo Morales, die er 2005 überaus deutlich für sich entscheiden konnte, deren Ergebnis er 2009 sogar noch verbessern und 2014 in etwa halten konnte, haben die traditionellen Parteien wie MNR, MIR oder ADN bzw. PODEMOS stark an Bedeutung eingebüßt. Die Opposition zur Regierung und den sie unterstützenden sozialen Bewegungen bilden speziell in der ersten Amtszeit von Morales insbesondere Politiker und Unternehmer aus den Departamentos der sogenannten »Media Luna«. Ein Anliegen der derzeitigen Regierung – das etwa von García Linera (z. B. 2004/ 2012b) schon vor dem Amtsantritt von Morales propagiert worden ist – ist die komplexe Vermittlung der liberalen, repräsentativen Demokratie mit Elementen des indigenen »Kommunitarismus« und mit basisdemokratischen Elementen der Nachbarschaftskomitees und anderer sozialer Bewegungen, allen voran den Kokabauern, deren Gewerkschaftsführer noch immer – wie schon vor Beginn seiner Amtszeit als Präsident – Evo Morales ist. Trotz eines großen Reichtums an Rohstoffen gehört Bolivien zu den ärmsten Ländern der Welt, Lateinamerikas allemal. Schätzungen (etwa der Weltbank) gehen davon aus, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung in extremer Armut lebt. Während früher Silber und Zinn die größte Rolle unter den bolivianischen Roh146

stoffen spielten, tun dies heute vor allem Erdgas, Zink, Eisenerz und das Leichtmetall Lithium. Bolivien ist Südamerikas zweitgrößter Gasproduzent. Das Lithium befindet sich im »Salar de Uyuni« (»Salzsee von Uyuni«), von dem angenommen wird, dass er das weltweit größte Lithiumvorkommen enthält. Man verspricht sich von dessen Förderung eine Teilhabe an einem regelrechten Lithium-Boom, da dieses Leichtmetall für die Herstellung von Lithium-Ionen-Akkumulatoren benötigt wird, die etwa in Notebooks eingesetzt werden (s. Beutler, 2011; s. die Informationen der »Lithium-Initiative« der TU Bergakademie Freiberg). Die Landwirtschaft dient der Subsistenz, zunehmend aber auch dem Export. Vor allem Soja spielt hier eine große Rolle, mittlerweile kommt aber auch der Quinua (einem Getreide, das »Inkakorn«) Bedeutung zu. Der Koka-Anbau ist ebenfalls bedeutsam, wobei die Produktion für den Drogenmarkt ökonomisch profitabler ist als für den legalen Markt, in dem die Kokablätter etwa für Tee sowie die Herstellung von Medikamenten, Mehl oder Zahnpasta verwendet werden. Gemessen an solchen Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt oder der Staatsverschuldung steht Bolivien gegenwärtig so gut wie schon lange nicht mehr da (s. z. B. Stefanoni, 2013). Als grundlegendes Problem wird aber immer wieder auf die mangelnde Diversität der bolivianischen Ökonomie hingewiesen, die zu sehr auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen setze. García Linera (2004/2012b, S. 138 f.) geht vom Vorhandensein von vier »Zivilisationen« in Bolivien aus, die gerade auch durch unterschiedliche Ökonomien zu charakterisieren sind: – Die moderne marktwirtschaftlich-industrielle Zivilisation, deren Angehörige etwa im Bergbau, der verarbeitenden Industrie, im Bankwesen oder im öffentlichen Dienst arbeiten; – die Wirtschaft und Kultur, die sich um einfache unternehmerische Tätigkeiten hauswirtschaftlicher, handwerklicher oder bäuerlicher Art gebildet hat; – die kommunitäre Zivilisation mit ihren Technologien, die unter anderem auf der Verwaltung des Familien- und Gemeinschaftslandes beruht; – die Zivilisation des Amazonasgebietes, deren Grundlage eine 147

nomadische Produktionstätigkeit ist. (Dies ist im Übrigen ganz im Sinne des eingangs in diesem Buch zitierten René Zavaleta, der die »Buntscheckigkeit« Boliviens nicht zuletzt in der Heterogenität seiner Ökonomien sieht.)

Sprachen Als Amtssprachen gelten seit der neuen Verfassung von 2009 neben Spanisch Quechua, Aymara und Guaraní sowie 33 weitere indigene Sprachen, unter ihnen etwa Baure, Movima und Pacawara. Die neue Sprachpolitik, die eine verstärkte Präsenz indigener Sprachen in Behörden, Ämtern, Schulen und anderen Institutionen vorsieht, soll der politischen Anerkennung und der Verbesserung der Bildungs- und Arbeitschancen der indigenen Bevölkerung dienen. Ähnlich gelagerte sprachpolitische Bemühungen hat bereits in seiner Funktion als Vizepräsident Boliviens (1993 bis 1997) Victor Hugo Cárdenas forciert, der bei seinem Amtsantritt auf Spanisch, Quechua, Aymara und Guaraní gesprochen hat. Im Hinblick auf das Quechua am sprachlich geläufigsten dürften (auch allein oder hauptsächlich spanischsprechenden) Bolivianerinnen und Bolivianern noch die drei zentralen Gebote der Inkazeit sein, die im Übrigen auch Eingang in die neue Verfassung gefunden haben: »ama llulla« (»sei kein Lügner«), »ama quella« (»sei nicht faul«) und »ama sua« (»sei kein Dieb«). Ansonsten gibt es aber auch eine ganze Reihe an Wörtern aus dem Quechua bzw. Aymara, die nicht allein von der indigenen Bevölkerung, sondern allgemein in Bolivien verwendet werden (s. Muñoz Reyes u. Muñoz Reyes, 1982) wie etwa »Wawa«, »Wawita«, »Wawitay« (»Baby«), »imilla« (»Mädchen« – mit etwas despektierlicher Konnotation), »choclo« (»Maiskolben«), »palta« (»Avocado«), »chilchi« (»leichter, feiner Regen«), »Llocalla« (»Junge« – mit eher negativer Konnotation, etwa im Sinne von »Bengel«) oder »acullicar« (»Koka ›kauen‹«). Ferner enthält das bolivianische Spanisch auch eine Reihe von »Bolivianismen«. Beispiele hierfür sind etwa »operías« (»Blödsinn«), »haganse nigua« (»verschwindet«), »los hicimos talco« (»wir haben sie zu Staub gemacht« – z. B. bei einem Fußballspiel) oder »déjese de macanas« (»lassen Sie den Unsinn«). 148

Interkulturelles Verstehen ist an sprachliche Kompetenzen gebunden. Angesichts der bereits erwähnten sprachlichen Vielfalt Boliviens dürfte die Kenntnis des Spanischen offenkundig eine wichtige, aber nicht die einzige Voraussetzung für eine vertiefte interkulturelle Auseinandersetzung mit Bolivien darstellen. Deutsche, die es mit Bolivien zu tun haben, verfügen kaum über Kenntnisse in einer indigenen Sprache, wir, die Autoren, bilden hier leider keine Ausnahme.

Religion Wie in anderen Ländern Lateinamerikas auch gehört ein großer Teil der bolivianischen Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an (etwa 90 %), der Rest verteilt sich – sofern überhaupt eine Religionszugehörigkeit dokumentiert ist – auf Mitglieder der Evangelikalen Methodisten und andere Religionen wie den Islam. Freilich spielen eigenständige indigene religiöse Praktiken neben oder in einer eigentümlichen Amalgamierung mit christlichen Traditionen, bisweilen als »Synkretismus« (s. den gleichnamigen Themenbereich) bezeichnet, eine große Rolle.

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Kurze Zusammenfassung der kulturellen Themen und der Besonderheiten im bolivianischen Alltag

Sympathieorientierung – warmer, herzlicher Umgang mit der anderen Person – vergleichsweise geringe Differenzierung in »Freunde«, »Bekannte« oder »Fremde« je nach Vertrautheits- und Bekanntheitsgrad – vertrauter, persönlicher, von Sympathie getragener Umgang miteinander ist auch im Geschäftsleben wichtig

Indirekte Kommunikation – Kritik wird über Umwege und eher behutsam geäußert – eine »mentira blanca« (»weiße Lüge«) wird gegenüber einem direkten »Nein« bevorzugt – geringe Differenzierung zwischen beruflicher Rolle und ganzer Person

Flexibilität – eher kurzfristiges Planungsverhalten – Projekte werden in ihrem Verlauf den Gegebenheiten angepasst – vergleichsweise gelassener Umgang mit Unterbrechungen und Störungen 150

Zeitverständnis (»Hora boliviana«) – manche Abläufe sind nicht so »durchgetaktet« wie in Deutschland – mitunter weitgefasster Begriff von Pünktlichkeit – Vergewisserung durch die Frage »¿a las xy en punto?« (»genau um xy?«) möglich

Indigenität – in Bolivien gibt es eine Vielzahl an Ethnien mit jeweils eigenen Sprachen – teilweise gibt es spezifisch-indigene Überzeugungen, Praktiken und Wissensformen im Hinblick auf Moral, Ethik, Recht, Medizin und Bildung

Synkretismus – generell: zahlreiche Amalgamierungen von Katholizismus und indigenen religiösen Vorstellungen und Praktiken – speziell: Wichtigkeit der Pachamama und komplexe Relationierungen, Beziehungen von Pachamama und der Muttergottes Maria

Hierarchieorientierung – Bolivien ist in Teilen eine »sociedad clasista« – die Dokumentation von Status und Klassenzugehörigkeit ist bestimmten gesellschaftlichen Sektoren (noch immer) sehr wichtig – mitunter geht aufgrund einer mancherorts vorherrschenden Hierarchieorientierung Positions- vor Expertenmacht

Besonderheiten im bolivianischen Alltag – Eine Verkehrserziehung im engeren Sinne gibt es in Bolivien nicht, Verstöße gegen Regeln des Straßenverkehrs werden we151

niger als in Deutschland geahndet und Führerscheine können gekauft werden, ohne dass die Fähigkeit zur Benutzung des Fahrzeuges nachgewiesen werden muss. – Fragen des Umweltschutzes werden auf der großen politischen Bühne in Bolivien vermehrt thematisiert. Im Alltag schlägt sich dies zum Teil noch recht wenig nieder. – Korruption und Klientelismus prägen mitunter Interaktionen mit der öffentlichen Verwaltung und sind für ihre teilweise Ineffizienz verantwortlich.

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Literatur

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Literaturempfehlungen

Zur Geschichte Pampuch, T., Echalar, A. (2009). Bolivien (4., aktual. Aufl.). München: Beck. Die Autoren geben einen informativen Überblick zu Boliviens komplexer Geschichte, Kultur, Geographie, Politik und Wirtschaft. Klein, H. S. (2011). A Concise History of Bolivia (2nd. ed.). Cambridge: Cambridge University Press. Die in vielerlei Hinsichten turbulente Geschichte Boliviens von der präkolumbianischen Zeit bis heute wird hier überaus kenntnisreich und vergleichsweise knapp nachgezeichnet. Mesa, J. de, Gisbert, T., Mesa, C. (2003). Historia de Bolivia (5. Aufl.). La Paz: Editorial Gisbert. Das Buch des ehemaligen Präsidenten und Historikers Carlos Mesa und seiner Eltern ist sehr umfangreich, weshalb es gerade auch als Nachschlagewerk dienen kann. Carlos Mesa hat über dieses Buch (und viele weitere Bücher zu Aspekten der bolivianischen Geschichte) hinaus unter dem Titel »Bolivia Siglo XX« eine Vielzahl an Filmen zur Geschichte Boliviens produziert, die auch als DVDs erhältlich sind.

Zu aktuellen politischen Entwicklungen Lessmann, R. (2010). Das neue Bolivien. Evo Morales und seine demokratische Revolution. Zürich: Rotpunktverlag. Wer insbesondere an den aktuellen politischen Entwicklungen interessiert ist, die mit der Politik von Evo Morales und seinen 159

Anhängern verknüpft sind, erhält mit diesem Buch einen kundigen Einblick. Lessmanns eigene Haltung zu den Anliegen der Regierung von Morales ist die einer kritischen Sympathie. Unabhängig davon, ob man diese Haltung teilt oder nicht, ist die Lektüre gewinnbringend. García Linera, A. (2012). Vom Rand ins Zentrum. Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien. Zürich: Rotpunktverlag. Der Band versammelt Texte des amtierenden Vizepräsidenten und Soziologen Álvaro García Linera, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind und die unterschiedliche, gerade auch aktuellere Transformationsprozesse in Bolivien mit der Parteilichkeit desjenigen analysieren, der diese Transformationsprozesse entscheidend mitgestaltet. Farthing, L. C., Kohl, B. H. (2014). Evo’s Bolivia. Continuity and change. Austin: University of Texas Press. Das Buch bietet eine instruktive Lektüre zu den jüngsten politischen Entwicklungen in Bolivien.

Zeitungen Deutsche Tages- und Wochenzeitungen berichten vergleichsweise selten über aktuelle Entwicklungen in Bolivien, wohl aber die Monatszeitschrift »Lateinamerika Nachrichten« (http://www.lateinamerikanachrichten.de) sowie das Online-Magazin »Quetzal. Politik und Kultur in Lateinamerika« (http://www.quetzalleipzig.de). Spanischsprechenden stehen ferner die Online-Angebote der überregionalen Presse Boliviens problemlos zur Verfügung. Zu den großen Tageszeitungen zählen etwa »Los Tiempos« (verfügbar über: www.lostiempos.com) aus Cochabamba, »La Razón« (verfügbar über: www.la-razon.com) aus La Paz oder »El Deber« (http://www.eldeber.com.bo) aus Santa Cruz.

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Zur Ethnizität bzw. Indigenität der bolivianischen Gesellschaft Wie bereits mehrfach erwähnt spielt Ethnizität bzw. Indigenität eine große Rolle in der bolivianischen Gesellschaft, in der aktuellen Verfassung ist von 36 Ethnien in Bolivien die Rede. Als die drei prominentesten Ethnien gelten die Aymaras, die Quechuas und die Guaraníes, bisweilen ist von einer andin-amazonischen Zivilisation die Rede (Escóbar, 2008). Insbesondere den Aymaras ist in den Sozialwissenschaften Aufmerksamkeit zuteil geworden. Grotehusmann, D. (2010). Religion und Riten der Aymara. Feldforschungen in der Region um den Titicacasee in Bolivien und Peru. Münster: LIT. Grotehusmann widmet sich den Aymaras aus religionswissenschaftlicher Perspektive mit den Mitteln der ethnologischen Feldforschung. Dabei fließen seine langjährigen Erfahrungen als Pfarrer in La Paz in seine Veröffentlichung mit ein. Albó, X. (Hrsg.) (1988). Raíces de América. El mundo Aymara. Madrid: Unesco Alianza Editorial. Der Band versammelt Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten der Welt der Aymaras aus der Feder in- und ausländischer sowie indigener und nicht-indigener Autoren. Behandelt werden etwa Agrikultur, politisches Denken, Ästhetik und Widerstandskämpfe der Aymaras, letzteres durch den ehemaligen ersten indigenen Vizepräsidenten Víctor Hugo Cárdenas.

Belletristik Auch die Belletristik kann zum Verständnis eines Landes hilfreich sein. Bislang haben allerdings nur wenige bolivianische Romane eine Übersetzung ins Deutsche erfahren. Vom Boom lateinamerikanischer Romane in den 1960er und 1970er Jahren konnte die bolivianische Literatur nicht profitieren. Dies ist angesichts der Einwohnerzahl Boliviens und einer eher schwach ausgeprägten belletristischen Tradition, die mit der von Mexiko, Argentinien 161

oder Brasilien nicht zu vergleichen ist, auch nicht weiter verwunderlich. Dennoch gibt es selbstverständlich literarisch anspruchsvolle Bücher, etwa: Arguedas, A. (1919). Raza de bronce. La Paz: González y Medina. Cerruto, O. (1935/1984). Aluvión de fuego. La Paz: Ediciones Altiplano. Quiroga Santa Cruz, M. (1959/2004). Los deshabitados. La Paz: Plural editores. Alcides Arguedas (1879–1946) war ein schillernder und widersprüchlicher bolivianischer Intellektueller, der nicht allein als Romancier, sondern auch als Politiker, Historiker und Diplomat Prominenz erlangte. Sein Roman »Raza de bronce« (»Rasse aus Bronze«) wird als Beispiel für die bzw. als Vorläufer der Literatur des »Indigenismo« und in einem Atemzug mit dem später, nämlich 1958, erschienenen Roman »Los ríos profundos« (dt. »Die tiefen Flüsse«) des Peruaners José Maria Arguedas genannt; es wird kontrovers diskutiert, inwiefern dieser Roman rassistisch sei (s. den Themenbereich »Hierarchieorientierung«). Alcides Arguedas großangelegter 1909 erstmals und 1937 in einer überarbeiteten dritten Auflage erschienene Essay »Pueblo Enfermo. Contribución a la Psicología de los Pueblos Hispanoamericanos« (»Krankes Volk. Beitrag zur Psychologie der hispanoamerikanischen Völker«) vereint – in einem eher weiten Sinne – soziologische und psychologische Beobachtungen und Überlegungen mit unhaltbaren, eindeutig rassistischen Ausführungen, die insbesondere im »Mestizaje« (also der »Mischung« von Spaniern und Indios) das Grundübel Boliviens sehen. Gegen Ende der dritten Auflage des Buches bezieht sich Arguedas sogar affirmativ auf Hitlers »Mein Kampf«. Zu den zumindest in Bolivien bekannteren Autorinnen und Autoren gehören ferner auch Nataniel Aguirre, Adela Zamudio, Franz Tamayo, Raul Jaimes Freyre, Adolfo Costa du Rels, Carlos Medinaceli oder Guillermo Francovich. Zu den neueren und in Lateinamerika viel gelesenen bolivianischen Autoren zählt der als Professor für spanischsprachige Literatur an der Cornell University lehrende Edmundo Paz Soldán. Seine Bücher wurden in zahl162

reiche Sprachen übersetzt, ins Deutsche leider noch nicht. Er hat unter anderem den Roman »Palacio Quemado« (2006) veröffentlicht – der »verbrannte Palast« ist der Sitz der bolivianischen Regierung in La Paz. Paz Soldán, E. (2006). Palacio Quemado. Madrid: Alfaguara. Zwei besonders prominente auf Deutsch verfügbare Romane sind: Céspedes, A. (1946/1982). Teufelsmetall. Köln: Lamuv. Lara, J. (1952/1967). Verkauft wie Schaf und Huhn. Berlin: Volk und Welt. In Céspedes’ sozialkritischem Roman geht es um den Unternehmer Simón I. Patiño, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinem Zinnimperium als einer der reichsten Männern der Welt galt. Augusto Céspedes selbst zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Boliviens und war auch als Politiker sehr aktiv, nicht zuletzt als Mitbegründer des MNR. Jesús Lara schildert in seinem Roman die brutalen Verhältnisse, die auf den Haciendas vor der Revolution von 1952 herrschten, die prekäre Lage der in die Stadt migrierten Landbevölkerung und Versuche von indigener Seite, sich gegen ihre Ausbeutung zu wehren. Wer sich davon überzeugen möchte, dass die bolivianische Literatur nicht allein sozialkritische Romane hervorgebracht hat, sei auf Romane und Erzählungen von Jaime Saenz hingewiesen, die häufig in La Paz spielen und streckenweise surreal und absurd anmuten, zum Beispiel: Saenz, J. (1985/2001). Die Räume. Münster: Unrast. Eine schöne Anthologie bolivianischer Erzählungen bietet: Vargas, M. (1998). Die Heimstatt des Tío. Erzählungen aus Bolivien. Zürich: Rotpunktverlag. 163

Aktuell Im Verlag »Los amigos del libro« ist eine Fülle interessanter spanischsprachiger Bücher erschienen. Erwähnenswert ist hier insbesondere die umfangreiche und ambitionierte »Enciclopedia Boliviana« (»Bolivianische Enzyklopädie«). Eine vorzügliche Institution für relevante Arbeiten aus dem Feld der Bolivianistik stellt die Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin dar (http://www.iai.spk-berlin.de/bibliothek.html). Mit dem »Bolivian Studies Journal/Revista de Estudios Bolivianos« (http://bsj.pitt.edu/ojs/index.php/bsj) liegt ein Fachjournal zu ganz unterschiedlichen Facetten der bolivianischen Vergangenheit und Gegenwart vor, das Texte auf Spanisch, Englisch und verschiedenen indigenen Sprachen veröffentlicht. Überaus einschlägig ist auch die sozialwissenschaftliche Zeitschrift »T’inkazos« (http://www.scielo.org.bo/scielo.php?script=sci_serial& pid=1990-7451). Das Themenspektrum des von der FriedrichEbert-Stiftung herausgegebenen Journals »Nueva Sociedad« (http://www.nuso.org/about.php) richtet sich auf ganz Lateinamerika und enthält immer wieder auch Beiträge zu Bolivien. Neben der Friedrich-Ebert-Stiftung (http://www.fes-bolivia. org/) haben auch andere große deutsche politische Stiftungen wie die Konrad-Adenauer- (http://www.kas.de/bolivien/) und die Hanns-Seidel-Stiftung (http://www.hss.de/americalatina/ es/bolivia.html) Büros in Bolivien und fördern dort unterschiedliche – natürlich nicht zuletzt politisch unterschiedlich akzentuierte – Projekte und Veröffentlichungen. Die Heinrich-Böll(http://www.boell.de/de/navigation/lateinamerika-5113.html), die Rosa-Luxemburg- (http://www.rosalux.org.ec/es/contrapartes60/bolivia.html) und die Friedrich-Naumann-Stiftung (http:// www.freiheit.org/Lateinamerika/609c162/index.html) haben Niederlassungen in Nachbarländern und beobachten und kommentieren von dort aus bolivianische Entwicklungen, wobei gegenwärtig von diesen dreien allein die Rosa-Luxemburg-Stiftung von ihrem Büro in Quito (Ekuador) aus speziell an Projekten in Bolivien arbeitet. Ein Blick auf die jeweiligen Internetseiten ist oftmals lohnenswert.

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