Über die Wahrheit - De veritate.: 3. Teilband. Quaestiones Disputatae 3. 3787319034, 9783787319039

Thomas von Aquin ist 'der' Denker des Mittelalters, der die am längsten anhaltende Orientierung geboten, die i

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German Pages [368] Year 2011

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Inhaltsverzeichnis
X. ÜBER DEN GEIST
1. Artikel: Ist der Geist, insofern er für ein Abbild der Dreifaltigkeit gehalten werden kann, das Wesen der Seele?
2. Artikel: Ist das Gedächtnis im Geist?
3. Artikel: Unterscheiden sich Gedächtnis und Intellekt voneinander wie zwei Vermögen?
4. Artikel: Erkennt der Geist die materiellen Dinge?
5. Artikel: Kann unser Geist die materiellen Dinge als Einzeldinge erkennen?
6. Artikel: Empfängt der menschliche Geist von den wahrnehmbaren Dingen Erkenntnisse?
7. Artikel: Stellt der Geist auf Grund seiner Erkenntnis der materiellen Dinge ein Abbild der Dreifaltigkeit dar?
8. Artikel: Erkennt der Geist vom Wesen her oder durch irgendeinen Inhalt sich selbst?
9. Artikel: Erkennt unser Geist vom Wesen her Haltungen der Seele?
10. Artikel: Kann ein Mensch wissen, daß er die Liebe zu Gott hat?
11. Artikel: Kann der Geist noch auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen?
12. Artikel: Hat der menschliche Geist von Natur aus Kenntnis von der Existenz Gottes?
13. Artikel: Ist die Dreifaltigkeit der Personen durch die natürliche Vernunft erkennbar?
XI. ÜBER DEN LEHRER
1. Artikel: Kann ein Mensch lehren und Lehrer genannt werden oder allein Gott?
2. Artikel: Kann jemand Lehrer seiner selbst genannt werden?
3. Artikel: Kann ein Mensch von einem Engel belehrt werden?
4. Artikel: Ist Lehren eine Tätigkeit des aktiven oder des kontemplativen Lebens?
XII. ÜBER DIE PROPHETIE
1. Artikel: Handelt es sich bei der Prophetie um einen Habitus (dauerhafte Eigenschaft) oder einen Akt (einzelnen Vollzug)?
2. Artikel: Hat die Prophetie Schlußfolgerungen zum Gegenstand, die wissenschaftlich gewonnen werden können?
3. Artikel: Ist die Prophetie etwas Natürliches?
4. Artikel: Bedarf es, um Prophet zu sein, einer natürlichen Disposition?
5. Artikel: Muß der Prophet moralisch integer sein?
6. Artikel: Sehen die Propheten im Spiegel der Ewigkeit?
7. Artikel: Werden bei der prophetischen Offenbarung dem Geist des Propheten durch das Wirken Gottes neue Erkenntnisbilder eingeprägt oder nur ein geistiges Licht gegeben?
8. Artikel: Geschieht jede prophetische Offenbarung durch Vermittlung eines Engels?
9. Artikel: Wird ein Prophet immer den Sinnen entrückt, wenn er vom Geist der Prophetie angerührt wird?
10. Artikel: Ist es angemessen, die Prophetie in diese drei Arten zu unterteilen: Prophetie der Vorherbestimmung, des Vorherwissens und der Androhung?
11. Artikel: Ist in der Prophetie unwandelbare Wahrheit zu finden?
12. Artikel: Ist diejenige prophetische Erkenntnis, die auf einer rein geistigen Schau beruht, von höherem Rang als diejenige, bei der sich eine geistige Schau mit einer Schau in der Vorstellungskraft verbindet?
13. Artikel: Lassen sich die Grade der Prophetie anhand der (jeweiligen) Schau in der Vorstellungskraft unterscheiden?
14. Artikel: Hat Mose alle anderen Propheten überragt?
XIII. VOM RAPTUS
1. Artikel: Was ist ein Raptus?
2. Artikel: Schaute Paulus im Raptus die Wesenheit Gottes?
3. Artikel: Ist es möglich, daß der Intellekt eines Menschen im Pilgerstand zur Schau des göttlichen Wesens erhoben wird, ohne daß er dabei den Sinnen entrückt wird?
4. Artikel: Wie tiefgreifend muß die Entrückung sein, damit der Intellekt des Menschen Gott in seiner Wesenheit schauen kann?
5. Artikel: Was wußte der Apostel Paulus in Bezug auf seinen Raptus, und was wußte er nicht?
NACHWORTE
Zur Quaestion 10 von David Marshall (†)
Zur Quaestion 11 von Brigitte Berges
Zu den Quaestionen 12 und 13 von Marianne Schlosser
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
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Über die Wahrheit - De veritate.: 3. Teilband. Quaestiones Disputatae 3.
 3787319034, 9783787319039

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae

Thomas von Aquin

Quaestiones Disputatae

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung Herausgegeben von Rolf Schönberger Band 3

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

THOMAS VON AQUIN

Über die Wahrheit De veritate Teilband 3 Übersetzt und herausgegeben von Brigitte Berges, David Marshall (†) und Marianne Schlosser

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universitätsstiftung Lucia und Dr. Otfried Eberz, Regensburg

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographi­ sche Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1903-9 ISBN eBook 978-3-7873-3360-8

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2024. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speiche­ rung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§   53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.  – Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungs­beständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

INHALT

X. ÜBER DEN GEIST 1. Artikel: Ist der Geist, insofern er für ein Abbild der ­Dreifaltigkeit gehalten werden kann, das Wesen der Seele?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Artikel: Ist das Gedächtnis im Geist?  . . . . . . . . . . . 11 3. Artikel: Unterscheiden sich Gedächtnis und Intellekt ­voneinander wie zwei Vermögen?  . . . . . . . . 18 4. Artikel: Erkennt der Geist die materiellen Dinge?  . . . . 23 5. Artikel: Kann unser Geist die materiellen Dinge als ­Einzeldinge erkennen?  . . . . . . . . . . . . . . 28 6. Artikel: Empfängt der menschliche Geist von den ­wahrnehmbaren Dingen Erkenntnisse?  . . . . . 32 7. Artikel: Stellt der Geist auf Grund seiner Erkenntnis der ­materiellen Dinge ein Abbild der Dreifaltigkeit dar?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 8. Artikel: Erkennt der Geist vom Wesen her oder durch ­irgendeinen Inhalt sich selbst?  . . . . . . . . . . 48 9. Artikel: Erkennt unser Geist vom Wesen her Haltungen der Seele?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 10. Artikel: Kann ein Mensch wissen, daß er die Liebe zu Gott hat?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 11. Artikel: Kann der Geist noch auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen?  . . . . . . . . 78 12. Artikel: Hat der menschliche Geist von Natur aus Kenntnis von der Existenz Gottes?  . . . . . . . 88 13. Artikel: Ist die Dreifaltigkeit der Personen durch die ­natürliche Vernunft erkennbar?  . . . . . . . . . 96

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Inhalt

XI. Über den Lehrer 1. Artikel: Kann ein Mensch lehren und Lehrer genannt werden oder allein Gott?  . . . . . . . . . . . . . 103 2. Artikel: Kann jemand Lehrer seiner selbst genannt werden? 119 3. Artikel: Kann ein Mensch von einem Engel belehrt werden?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4. Artikel: Ist Lehren eine Tätigkeit des aktiven oder des ­kontemplativen Lebens?  . . . . . . . . . . . . . 136

XII. Über die Prophetie 1. Artikel: Handelt es sich bei der Prophetie um einen Habitus (dauerhafte Eigenschaft) oder einen Akt (einzelnen Vollzug)?  . . . . . . . . . . . . 144 2. Artikel: Hat die Prophetie Schlußfolgerungen zum ­Gegenstand, die wissenschaftlich gewonnen werden können?  . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Artikel: Ist die Prophetie etwas Natürliches?  . . . . . . . 160 4. Artikel: Bedarf es, um Prophet zu sein, einer natürlichen ­Disposition?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 5. Artikel: Muß der Prophet moralisch integer sein?  . . . . 180 6. Artikel: Sehen die Propheten im Spiegel der Ewigkeit?  . 185 7. Artikel: Werden bei der prophetischen Offenbarung dem Geist des Propheten durch das Wirken Gottes neue Erkenntnisbilder eingeprägt oder nur ein ­geistiges Licht gegeben?  . . . . . . . . . . . . . 195 8. Artikel: Geschieht jede prophetische Offenbarung durch ­Vermittlung eines Engels?  . . . . . . . . . . . . 202 9. Artikel: Wird ein Prophet immer den Sinnen entrückt, wenn er vom Geist der Prophetie angerührt wird? 205 10. Artikel: Ist es angemessen, die Prophetie in diese drei Arten zu unterteilen: Prophetie der Vorherbestim­ mung, des Vorherwissens und der Androhung?  211

Inhalt

11. Artikel: Ist in der Prophetie unwandelbare Wahrheit zu ­finden?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Artikel: Ist diejenige prophetische Erkenntnis, die auf einer rein geistigen Schau beruht, von höherem Rang als diejenige, bei der sich eine geistige Schau mit e­ iner Schau in der Vorstellungskraft verbindet?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Artikel: Lassen sich die Grade der Prophetie anhand der (jeweiligen) Schau in der Vorstellungskraft ­unterscheiden?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Artikel: Hat Mose alle anderen Propheten überragt?  . .

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XIII. Vom Raptus 1. Artikel: Was ist ein Raptus?  . . . . . . . . . . . . . . . 2. Artikel: Schaute Paulus im Raptus die Wesenheit Gottes? . 3. Artikel: Ist es möglich, daß der Intellekt eines Menschen im Pilgerstand zur Schau des göttlichen Wesens ­erhoben wird, ohne daß er dabei den Sinnen entrückt wird?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Artikel: Wie tiefgreifend muß die Entrückung sein, damit der Intellekt des Menschen Gott in seiner ­Wesenheit schauen kann?  . . . . . . . . . . . . 5. Artikel: Was wußte der Apostel Paulus in Bezug auf seinen Raptus, und was wußte er nicht?  . . . .

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NACHWORTE Zur Quaestion 10 von David Marshall (†)  . . . . . . . . . . . 285 Zur Quaestion 11 von Brigitte Berges  . . . . . . . . . . . . . 295 Zu den Quaestionen 12 und 13 von Marianne Schlosser  . . . 326 Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Bibliographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

THOMAS VON AQUIN

Über die Wahrheit

X. ÜBER DEN GEIST

1. Ist der Geist, insofern er für ein Abbild der Dreifaltigkeit ge­ halten werden kann, das Wesen der Seele? 2. Ist das Gedächtnis im Geist? 3. Unterscheiden sich Gedächtnis und Intellekt voneinander wie zwei Vermögen? 4. Erkennt der Geist die materiellen Dinge? 5. Kann unser Geist die materiellen Dinge als Einzeldinge er­ kennen? 6. Empfängt der menschliche Geist von den wahrnehmbaren Dingen Erkenntnisse? 7. Stellt der Geist auf Grund seiner Erkenntnis der materiellen Dinge ein Abbild der Dreifaltigkeit dar? 8. Erkennt der Geist vom Wesen her oder durch irgendeinen In­ halt sich selbst? 9. Erkennt unser Geist vom Wesen her Haltungen der Seele? 10. Kann ein Mensch wissen, daß er die Liebe zu Gott hat? 11. Kann der Geist noch auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen? 12. Hat der menschliche Geist von Natur aus Kenntnis von der Existenz Gottes? 13. Ist die Dreifaltigkeit der Personen durch die natürliche Ver­ nunft erkennbar? 1. Artik el Gefragt wird nach dem Geist, insofern er Abbild der Dreifaltigkeit ist. Die erste Frage lautet: Macht der Geist, insofern er für ein Ab­ bild der Dreifaltigkeit gehalten wird, das Wesen der Seele oder nur eines ihrer Vermögen aus?1 Folgende Gründe sprechen dafür, daß der Geist das Wesen selbst der Seele ausmacht: 1  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  19, a.  1; q.  93, a.  7.

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Quaestio · 10

1. Augustinus sagt im 9. Buch Über die Dreieinigkeit: »Aus­ drücke wie ›Geist‹ und ›Geistseele‹ drücken keine Relation aus, son­ dern Wesenhaftes«2, was nur auf das Wesen der Seele bezogen sein kann. Also ist der Geist das Wesen selbst der Seele. 2.  Vermögen der Seele, die jeweils andersgeartet sind, können nur im Wesen vereinigt werden. Aber das Begehrende und das Er­ kennende sind solche andersgeartete Vermögen der Seele. Denn im 1. Buch Über die Seele3 werden alle Vermögen der Seele auf fünf Grundvermögen zurückgeführt, nämlich das Vegetative, das Sensi­ tive, das Begehrende, das örtlich Bewegende und das Erkennende. Da nun der Geist sowohl das Erkennende wie auch das Begehrende um­ faßt – Augustinus ordnet nämlich Intellekt und Wille dem Geist zu – scheint der Geist kein Vermögen der Seele, sondern ihr Wesen zu sein. 3.  Augustinus sagt im 11. Buch Über den Gottesstaat: »Da wir, insofern wir sind, zu Gottes Ebenbild hin sind, wissen wir von unse­ rem Sein, und lieben beides, sowohl das Wissen wie auch das Sein.«4 Aber im 9. Buch Über die Dreieinigkeit 5 sieht er in der Einheit von Geist, Wissen und Liebe unsere Ebenbildlichkeit zum dreifaltigen Gott. Da nun Lieben Akt der Liebe und Erkennen Akt des Wissens ist, muß Sein Akt des Geistes sein. Und da Sein der Akt des Wesens ist, muß der Geist das Wesen selbst der Seele sein. 4.  Der Geist ist von der Definition her das, was die Menschen mit den Engeln gemeinsam haben. Aber das Wesen eines Engels ist sein Geist. Darum bezeichnet Dionysius die Engel häufig als göttliche oder erkennende Geister. Demnach wäre auch unser Geist das We­ sen selbst unserer Seele. 5. Augustinus sagt im 10. Buch Über die Dreieinigkeit: »Ge­ dächtnis, Einsicht und Wille sind ein Geist, ein Wesen, ein Leben.«6 Demnach gehört Geist ebenso zum Leben wie zum Wesen der Seele. 6.  Nichts Zufälliges kann Grund einer wesentlichen Unterschei­ dung sein. Da aber der Mensch sich darin von den Tieren unterschei­ 2  Augustinus, De trin. IX, 2, 2 (PL 42, 962; CCSL 50, 295). 3  Aristoteles, De an. I, 14; 411 a 26. 4  Augustinus, De civ. Dei XI, 26 (PL 41, 339; CCSL 48, 345). 5  Augustinus, De trin. IX, 2, 2 (PL 42, 972; CCSL 50, 295). 6  Augustinus, De trin. X, 11, 18 (PL 42, 983; CCSL 50, 330).

1. Artikel

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det, daß er Geist hat, wird der Geist nichts Zufälliges sein. Nun ist aber ein Vermögen der Seele laut Avicenna7 eine ihrer Eigenschaf­ ten, also etwas Zufälliges. Daher ist der Geist kein Vermögen der Seele, sondern deren Wesen selbst. 7.  Aus einem einzigen Vermögen gehen nicht Tätigkeiten hervor, die sich der Art nach voneinander unterscheiden. Aber nach Augu­ stinus gehen Tätigkeiten aus dem Geist hervor, die sich der Art nach voneinander unterscheiden, und zwar das Erinnern, das Einsehen und das Wollen. Also ist der Geist kein Vermögen der Seele, son­ dern ihr Wesen selbst. 8.  Ein Vermögen kann nicht Subjekt eines anderen sein. Aber den Geist stellen wir uns als ein Subjekt des Bildes vor, das drei Vermögen hat; also ist der Geist kein Vermögen der Seele, sondern ihr Wesen selbst. 9. Kein Vermögen umfaßt mehrere andere Vermögen in sich selbst; aber der Geist umfaßt sowohl Einsicht wie auch Wille. Also ist er kein Vermögen, sondern Wesen. Dagegen spricht: 1. Die Seele läßt keine anderen Unterteilungen zu außer zwi­ schen den verschiedenen Vermögen. Aber der Geist ist gewisserma­ ßen Teil der höheren Seele, wie Augustinus in Über die Dreieinigkeit8 sagt. Also ist der Geist ein Vermögen der Seele. 2.  Alle Vermögen der Seele haben Teil an ihrem Wesen, weil alle in ihr wurzeln. Aber nicht alle diese Vermögen der Seele haben Teil am Geist, denn er ist getrennt von dem wahrnehmenden Vermögen. Also ist der Geist nicht das Wesen selbst der Seele. 3.  Im Wesen der Seele ist kein höchster und tiefster Grad zu er­ kennen, wohl aber im Geist, denn Augustinus teilt den Geist in die obere und untere Vernunft ein. Also ist der Geist ein Vermögen der Seele, nicht ihr Wesen. 4.  Die Seele ist vom Wesen her Quelle des Lebens. Aber der Geist ist Quelle nicht des Lebens, sondern des Erkennens. Also ist der Geist nicht das Wesen der Seele, sondern eines ihrer Vermögen. 7  Avicenna, De an. V, 7 (fol. 27rb C; ed. S. Van Riet, 168 ff.). 8  Augustinus, De trin. XII, 3, 3 (PL 42, 999; CCSL 50, 358).

Quaestio · 10

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5.  Das Subjekt wird nicht von einer Eigenschaft ausgesagt. Aber von Gedächtnis, Einsicht und Willen, die im Wesen der Seele wie in einem Subjekt sind, wird die Eigenschaft Geist ausgesagt. Also ist der Geist nicht das Wesen der Seele. 6.  Augustinus sagt in Über die Dreieinigkeit9, nicht alles, son­ dern nur einiges in der Seele mache sie zu Gottes Ebenbild. Die Ebenbildlichkeit geht nämlich auf den Geist zurück. Demnach be­ zeichnet ›Geist‹ nicht die Seele als Ganzes, sondern nur einen Teil von ihr. 7.  Das lateinische Wort ›mens‹ (›Geist‹) scheint mit ›memini‹ (›sich erinnern‹) verwandt zu sein. Aber ›memoria‹ (›Gedächtnis‹) bezeich­ net ein Vermögen der Seele und nicht ihr Wesen. Also gilt dasselbe für ›mens‹ (›Geist‹). Antwort: Das lateinische Wort ›mens‹ (›Geist‹) ist mit ›mensura‹ (›Maß‹) verwandt. Nun wird im 10. Buch der Metaphysik10 des Aristoteles dargetan, daß Dinge jeglicher Art an ihrem kleinsten und ersten Prinzip gemessen werden. Und so werden auch ›Geist‹ und ›Intel­ lekt‹ in Bezug auf die Seele gebraucht. Denn nur der Intellekt er­ hält Kenntnisse von den Dingen, indem er sie sozusagen an ihren Prinzipien mißt. Wird aber ›Intellekt‹ auf Grund einer Tätigkeit ge­ braucht, so bezeichnet es ein Vermögen der Seele. Denn eine Kraft oder ein Vermögen hat eine Mittelstelle inne zwischen dem Wesen und seiner Tätigkeit, wie Dionysius in Über die himmlische Hierarchie lehrt11. Da uns aber die Wesen der Dinge unbekannt, ihre Kräfte aber an ihrem Verhalten zu erkennen sind, gebrauchen wir häufig Benennungen von Kräften oder Vermögen, um diese Wesen zu bezeichnen. Da uns aber die Dinge nur durch das sie Auszeich­ nende bekannt werden, wird ein Wesen durch das es auszeichnende Vermögen bezeichnet. Bei allen Vermögen impliziert das MehrKönnen das Weniger-Können, nicht umgekehrt. Wer z. B. tausend 9  Augustinus, De trin. XII, 4, 4 (PL 42, 1000; CCSL 50, 358). 10  Aristoteles, Metaph. X, 2; 1052 b 31–33. 11  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 11, 2 (PG 3, 284 D; Dion. II,

930).

1. Artikel

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Pfund tragen kann, kann auch hundert Pfund tragen, nicht umge­ kehrt, worauf Aristoteles im 1. Buch Über den Himmel12 hingewie­ sen hat. Soll also eine Sache durch ihre Kraft bezeichnet werden, so durch den höchsten Grad ihres Vermögens. Aber die Seele der Pflanzen hat nur den tiefsten Grad unter den Vermögen der Seele, die Lebenskraft, und von dieser her wird sie als eine nährende oder vegetative Seele benannt. Die Seele eines Tieres hat ein Vermögen höherer Stufe, nämlich die der sinnlichen Wahrnehmung, daher wird die tierische Seele sensitiv oder manchmal auch die der Sin­ neswahrnehmung genannt. Aber die menschliche Seele erreicht die höchste Stufe unter den seelischen Vermögen, von der aus sie als intellektive Seele oder Seele des Intellekts bezeichnet wird. Diese höchste Stufe wird auch Geist genannt, weil nämlich ein geistiges Vermögen dieser Seele entspringt und sie vor den Seelen aller ande­ ren Lebewesen auszeichnet. Es ist also klar, daß ›Geist‹ das zum Ausdruck bringt, was unter den Vermögen unserer Seele am höchsten steht. Da das Gottesbild in uns auf das Höchste in uns zurückgeht, gehört es nur insofern zum Wesen der Seele, als diese geistig ist, d. h., insofern als der Geist das höchste Vermögen der Seele darstellt. So bezeichnet ›Geist‹ das­ jenige in uns, in dem das Gottesbild ist, nämlich ein Vermögen der Seele, und nicht sein Wesen. Wird jedoch an dem Ausdruck ›We­ sen der Seele‹ festgehalten, so kann dies nur insofern gelten, als der menschlichen Seele ein geistiges Vermögen entspringt. Zu 1.  Es wird nicht behauptet, daß ›Geist‹ in dem Sinne das We­ sen bezeichnet, in dem das Wesen von seinem Vermögen getrennt und ihm gegenübergestellt wird, sondern so, daß das absolute We­ sen von dem getrennt wird, was relativ gesagt wird, und ihm gegen­ übersteht. In diesem Sinne ist der Geist von seiner Selbsterkennt­ nis getrennt, denn diese Kenntnis ist eine Relation, in der der Geist zu sich selbst steht, während der Geist selbst der vorauszusetzende absolute Term ist. – Hier kann auch darauf hingewiesen werden, daß Augustinus unter ›Geist‹ manchmal das Wesen der Seele und manchmal eines ihrer Vermögen versteht. 12  Aristoteles, De caelo I, 11; 281 a 7–14.

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Quaestio · 10

Zu 2.  Die Vermögen der Seele unterscheiden sich begrifflich von­ einander, und zwar auf zweifache Weise: einmal von seiten des Ob­ jekts und einmal von seiten des Subjekts, d. h. von seiten der Art des Verhaltens, was auf dasselbe hinausläuft. Von seiten des Objekts zerfallen sie in die fünf oben aufgezählten Vermögen der Seele. Sol­ len sie hingegen von seiten des Subjekts betrachtet werden, so ist ein Vermögen der Seele entweder vegetativ, sensitiv oder intellek­ tiv. Denn aktiv kann sich die Seele auf dreifache Weise zu den kör­ perlichen Dingen verhalten: erstens so, daß sie sich in der Art kör­ perlicher Tätigkeit verhält, deren Prinzip das vegetative Vermögen ist. Das Wirken dieses Vermögens, wie alles körperliche Tun, wird durch aktive und passive Qualitäten angeregt. Zweitens ist es mög­ lich, daß das Verhalten der Seele nicht eigentlich auf das Körperli­ che, sondern lediglich auf die Bedingungen des Körperlichen bezo­ gen ist, wie dies im sensitiven Vermögen tatsächlich erfolgt. Denn in der Wahrnehmung werden nur Inhalte aufgenommen, die, ohne selbst körperlich zu sein, die Bedingungen des Körperlichen aufwei­ sen. Und drittens kann sich die Seele auch so verhalten, daß sie über das Körperliche und sogar über die Bedingungen des Körperlichen hinausgeht. So verhält sich der intellektive Teil der Seele. Aus diesen Einteilungen der Vermögen der Seele ergibt sich folgendes: Werden zwei Vermögen miteinander verglichen, so können sie auf dasselbe oder auf Verschiedenes zurückgeführt werden. Wenn z. B. das sinn­ liche und das geistige Begehren gemäß ihrer objektiven Bezogen­ heit betrachtet werden, so lassen sie sich auf dasselbe zurückführen, denn das Objekt beider ist etwas Gutes. Wenn sie aber im Hinblick auf die Art des Verhaltens betrachtet werden, so werden sie auf Ver­ schiedenes zurückgeführt, denn das niedere Begehren ist auf das sensitive Vermögen und das höhere Begehren auf das intellektive Vermögen zurückzuführen. Denn wie die sinnliche Wahrnehmung auf ihr Objekt unter materiellen Bedingungen – d. h. im Hier und Jetzt – bezogen ist, so bewegt sich auch das sinnliche Begehren auf sein Objekt zu, nämlich auf ein partikuläres Gut. Dagegen zielt das geistige Begehren auf sein Objekt gemäß der Art, in der es durch den Geist erkannt wird. So wird der Wille nach der Art seines Ver­ haltens auf das geistige Vermögen zurückgeführt. Nun hängt die Art des Verhaltens mit der Beschaffenheit des Handelnden zusam­

1. Artikel

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men, denn je vollkommener der Handelnde, desto vollkommener auch sein Verhalten. Wenn also diese geistigen Vermögen in der Art betrachtet werden, in der sie aus dem Wesen der Seele hervorgehen, das sozusagen ihr Subjekt ist, so ist festzustellen, daß sich der Wille gänzlich nach dem Intellekt richtet. Dies gilt nicht für die niederen Vermögen, nämlich das Begehren und die Aggression. So kann der Geist sowohl den Intellekt wie auch den Willen umfassen, ohne das Wesen der Seele zu sein. Denn der Ausdruck ›Geist‹ bezeichnet all diejenigen Vermögen der Seele, die das Körperliche und die Bedin­ gungen des Körperlichen übersteigen. Zu 3.  Das Bild der Dreifaltigkeit im Menschen wird schon durch Augustinus, aber auch durch andere Heilige, verschieden gedeutet. Diese verschiedenen Deutungen müssen nicht miteinander überein­ stimmen, wie bei Augustinus ersichtlich, der einmal in der Dreiheit von Geist, Wissen und Liebe eine Ebenbildlichkeit Gottes sieht, aber später in Gedächtnis, Einsicht und Wille wieder eine Ebenbildlich­ keit findet. Obwohl in diesen zwei Zuweisungen Wille und Liebe einander entsprechen, auch Wissen und Einsicht, stimmen Geist und Gedächtnis jedoch nicht überein, denn ›Geist‹ umfaßt alle drei der ersten Zuweisung. Ähnlich weicht auch eine weitere Dreiheit Augustins, auf die der Einwand hinweist, von den zweien ab, die hier angeführt werden. Aus dem Umstand, daß das Lieben der Liebe und das Erkennen der Erkenntnis entspricht, folgt nicht zwangsläufig, daß das Sein dem Geist entspricht, als wäre das Sein die eigentliche Tätigkeit des Geistes als Geist. Zu 4.  Von einem Engel wird zwar gesagt, er sei Geist, aber nicht so, als sei der Geist oder der Intellekt selbst das Wesen des Engels, zumal ›Geist‹ und ›Intellekt‹ ein Vermögen unter anderen bezeich­ nen; sondern der Engel ist deswegen Geist, weil er von allen Ver­ mögen der Seele nur dasjenige hat, was durch ›Geist‹ umfaßt wird. Er ist also als Ganzes nur Geist. Unserer Seele hingegen sind auch andere Vermögen hinzugefügt, die nicht durch ›Geist‹ umfaßt sind, sondern vom Leib herrühren, nämlich das vegetative und das sen­ sitive Vermögen. Daher kann nicht gesagt werden, die menschliche Seele sei Geist, was auf den Engel zutrifft. Zu 5.  Leben ist etwas dem Sein Hinzugefügtes, wie Erkennen dem Leben. Aber die Ebenbildlichkeit Gottes kann nur in einem Ge­

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schöpf gefunden werden, das von der Bestimmung her die höchste Vollendung erreicht hat, die für ein erschaffenes Wesen möglich ist. In Wesen aber, denen, wie den Steinen, nur das Sein zukommt, oder denen, wie den Pflanzen und den Tieren, nur das Sein und das Le­ ben zukommen, ist von der Ebenbildlichkeit nichts oder nur wenig zu finden. Um vollkommen ebenbildlich zu sein, muß das Geschöpf sowohl sein wie auch leben wie auch erkennen. Denn darin allein entspricht es seiner Bestimmung nach den wesentlichen Attributen Gottes. Weil nun in der Deutung der Ebenbildlichkeit des Augusti­ nus der Geist die Stelle des göttlichen Wesens innehat und weil diese drei: Gedächtnis, Einsicht und Wille, die Stelle der drei göttlichen Personen innehaben, schreibt Augustinus dem Geist alles zu, was im Geschöpf zur Ebenbildlichkeit erforderlich ist, indem er sagt: »Ge­ dächtnis, Einsicht und Wille sind ein Leben, ein Geist, ein Wesen.« Daraus folgt aber nicht, daß Geist und Leben auf dasselbe in der Seele zurückgehen wie das Wesen, denn Sein, Leben und Erkennen sind in uns nicht identisch miteinander wie in Gott. Ferner wird nur in­ sofern gesagt, diese drei seien ein Wesen, als sie aus dem einen We­ sen des Geistes hervorgehen, und sie seien nur insofern ein Leben, als sie zu einer Bestimmung des Lebens gehören, und sie seien nur insofern ein Geist, als sie wie die Teile eines Ganzen unter einem Geist erfaßt sind, wie Gesicht und Gehör in der einen sensitiven Seele. Zu 6. Aristoteles sagt im 8. Buch der Metaphysik13, daß uns die wesentlichen Unterschiede der Dinge unbekannt sind; daß wir manchmal, um zu Definitionen zu gelangen, an Stelle von wesent­ lichen Unterschieden Zufälligkeiten heranziehen, die das Wesen auszeichnen und als deren Quelle oder Ursache erkennbar machen. Daher ist ›das Sensitive‹ als Wesensauszeichnung des Tierischen nicht als Benennung eines Vermögens, sondern als Wesensbezeich­ nung derjenigen Seele zu verstehen, die Quelle eines solchen Ver­ mögens ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Ausdruck ›mit Vernunft bzw. Geist begabt‹. Zu 7.  Wie ›sensitiver Teil der Seele‹ kein besonderes Vermögen neben einzelnen Vermögen bezeichnet, die von der Seele umfaßt 13  Vgl. Aristoteles, Metaph. VIII, 2; 1042 b 25 (entsprechend dem Kom­ mentar des Averroes).

2. Artikel

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werden, sondern eine Art Gesamtvermögen, das die einzelnen als Teile umfaßt, so bezeichnet auch ›Geist‹ kein bestimmtes Vermögen neben Gedächtnis, Einsicht und Wille, sondern ein Gesamtvermö­ gen, das diese drei umfaßt, wie das Vermögen, ein Haus zu bauen, das Vermögen Steine zu bearbeiten, Wände zu errichten usw. Zu 8.  ›Geist‹ bezeichnet ein Gesamtvermögen, das sich zu Intel­ lekt und Willen verhält wie ein Ganzes zu seinen Teilen, aber nicht wie ein Subjekt zu seinen Vermögen. Soll aber ›Geist‹ das Wesen einer Seele bezeichnen, aus der ein solches Gesamtvermögen auf natürliche Weise hervorgeht, dann bezeichnet es das Subjekt der Vermögen. Zu 9.  Ein besonderes Vermögen umfaßt keine anderen, aber ein allgemeines Vermögen kann mehrere Teile umfassen, wie ein Kör­ perteil mehrere organische Teile umfassen kann, z. B. die Hand die verschiedenen Finger. 2. Artik el Die zweite Frage lautet: Ist das Gedächtnis im Geist?14 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Augustinus weist im 13. Buch Über die Dreieinigkeit 15 darauf hin, daß das, was wir mit den Tieren gemeinsam haben, nicht zum Geist gehört. Aber Gedächtnis haben wir mit den Tieren gemeinsam, wie aus dem 10. Buch der Bekenntnisse16 des Augustinus hervorgeht. Also ist das Gedächtnis nicht im Geist. 2.  Aristoteles sagt im 1. Kapitel Über Gedächtnis und Erinnerung 17, Gedächtnis bezöge sich nicht auf Inhalte des Intellekts, son­ dern auf solche der sinnlichen Wahrnehmung. Da nun der Geist das­ selbe wie der Intellekt ist, wie aus dem Gesagten hervorgeht, scheint Gedächtnis nicht im Geist zu sein. 3.  Der Intellekt liegt mit allen seinen Inhalten jenseits von Hier und Jetzt. Nicht aber das Gedächtnis, das immer auf eine bestimmte 14  Paralleltexte: Sent. I, d.  3, q.  4, a.  1; Sum. theol. I, q.  79, a.  6. 15  Richtig: Augustinus, De trin. XII, 2, 2 (PL 42, 999; CCSL 50, 357). 16  Augustinus, Conf. X, 25, 36 (PL 32, 794; CCSL 27, 174). 17  Aristoteles, De mem. et remin. 1; 450 a 13–14.

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Dimension der Zeit, nämlich auf die Vergangenheit, bezogen ist. Ge­ dächtnis, sagt Cicero18, ist immer auf Vergangenes bezogen. Also gehört Gedächtnis nicht zum Geist bzw. zum Intellekt. 4.  Da manches im Gedächtnis enthalten ist, dessen wir uns nicht bewußt sind, bedeutet Gedächtnis immer einen Unterschied zwi­ schen dem, von dem wir ein zuständliches Wissen haben, und dem, dessen wir uns bewußt sind. Aber dieser Unterschied ist nicht im Intellekt, sondern im Sinnlichen. Hier tritt er nämlich deswegen auf, weil sich die sinnliche Wahrnehmung eines körperlichen Organs bedient und weil uns nicht alles bewußt wird, was im körperlichen Organ enthalten ist. Da sich aber der Intellekt keines körperlichen Organs bedient, wird in ihm nur das behalten, dessen er sich bewußt ist. So kann er nur bewußt erkennen. Also ist Gedächtnis nicht im Intellekt bzw. im Geist. 5.  Erst dann wird von einer Seele gesprochen, wenn sie etwas be­ wahrt. Da aber alle unsere Erkenntnisse auf Sinneswahrnehmungen zurückgehen, hat die Seele, ehe sie von diesen Inhalte aufgenommen hat, die sie bewahrt, die Ebenbildlichkeit Gottes noch nicht. Da nun Gedächtnis ein Teil dieser Ebenbildlichkeit ist, scheint es nicht im Geist zu sein. 6.  Der Geist ist als Ebenbild Gottes auf Gott hin ausgerichtet. Aber dies ist das Gedächtnis nicht, das nur dem Zeitlichen gilt, wäh­ rend Gott gänzlich über der Zeit steht. Also ist Gedächtnis nicht im Geist. 7.  Wäre ferner das Gedächtnis ein Teil des Geistes, so könnten sich im Geist selbst geistige Inhalte finden, wie im Geist des Engels. Nun kann aber ein Engel dadurch Erkenntnisse gewinnen, daß er sich Inhalten zukehrt, die er in sich selbst enthält. So könnte auch der menschliche Geist Erkenntnisse gewinnen, indem er sich den in sich selbst enthaltenen Inhalten zukehrt, die nicht Inhalte des Vor­ stellungsvermögens wären, was offenkundig falsch ist. Denn was auch immer ein Mensch an Wissen besitzen mag, organische Schä­ den der Erinnerungs- bzw. Vorstellungskraft können verhindern, daß es ins Bewußtsein tritt. Dies wäre nicht der Fall, wenn sich der 18  Cicero, De inventione II, c.  53, n.  160 (ed. Th. Nüßlein, Düsseldorf / Zürich 1998, 320).

2. Artikel

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Geist seines Wissens bewußt werden könnte, ohne sich jenen Ver­ mögen zukehren zu müssen, die auf körperliche Organe angewiesen sind. Also ist Gedächtnis nicht im Geist. Dagegen spricht: 1.  Aristoteles sagt im 3. Buch Über die Seele19: »Die Seele ist der Ort der geistigen Inhalte, zwar nicht die ganze Seele, aber ihr geisti­ ger Teil«. Nun ist es aber Sache des Ortes, das in ihm Enthaltene zu bewahren. Da also geistige Inhalte im Gedächtnis bewahrt werden, scheint das Gedächtnis im Intellekt zu sein. 2.  Das, was durch das Vergehen der Zeit unbeeinflußt bleibt, ist an keine besondere Zeit gebunden. Aber Gedächtnis im strengen Sinne des Wortes bleibt durch das Vergehen der Zeit unbeeinflußt. Im 14. Buch Über die Dreieinigkeit 20 sagt dies auch Augustinus, der sich auf Worte Vergils beruft, in denen der Dichter ausdrücklich von Gedächtnis und Vergessenheit spricht. Festzuhalten ist, daß das Gedächtnis an keine besondere Zeit gebunden ist, sondern mit allen Zeiten. Also gehört Gedächtnis zum Intellekt. 3.  Gedächtnis ist im eigentlichen Sinne des Wortes auf Vergan­ genes bezogen. Aber der Intellekt ist nicht nur auf Gegenwärtiges, sondern auch auf Vergangenes bezogen, denn er bildet Aussagen auf Grund der Einsicht, daß diese für alle Zeiten gelten, nämlich daß Menschen waren, sein werden oder jetzt sind, wie aus dem 3. Buch Über die Seele21 hervorgeht. So läßt sich Gedächtnis im strengen Sinne des Wortes dem Geist zuordnen. 4.  Wie Gedächtnis auf Vergangenes, so ist nach Cicero Vorsehung auf Zukünftiges bezogen. Aber Vorsehung gehört strenggenommen zum intellektiven Teil der Seele; aus dem gleichen Grund also auch das Gedächtnis. Antwort: Nach dem üblichen Sprachgebrauch ist Gedächtnis unser Wis­ sen um Vergangenes. Aber Vergangenes als vergangen oder Gegen­ 19  Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 27–28. 20  Augustinus, De trin. XIV, 11, 14 (PL 42, 1047; CCSL 50A, 442). 21  Aristoteles, De an. III, 6; 430 a 31–61.

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wärtiges als gegenwärtig zu erkennen ist Sache des gleichen Ver­ mögens, nämlich der Sinneswahrnehmung. Der Intellekt erkennt das Einzelding nicht als Dies, sondern nur dadurch, daß er es unter ­einen Begriff bringt, insofern er es z. B. als Mensch oder als Weißes oder gar als Partikuläres erkennt, aber nicht insofern es eben dieser Mensch oder dieses Partikuläre ist. Ebenso erkennt der Intellekt auch Gegenwart und Vergangenheit, nämlich als Begriffe und nicht als diese Gegenwart oder diese Vergangenheit. Da nun Gedächtnis im strengen Sinne des Wortes sich auf dieses Jetzt bezieht, das eben vergangen ist, steht fest, daß Gedächtnis strenggenommen nicht dem intellektiven Teil der Seele angehört, sondern ausschließlich der Sinneswahrnehmung. Da aber der Intellekt nicht nur erkennbare Inhalte erkennt, son­ dern auch die Tatsache, daß er sie erkennt, kann auch die Bedeu­ tung von ›Gedächtnis‹ so erweitert werden, daß sie auch diejenige Erkenntnis einschließt, wodurch jetzt ein Objekt erkannt wird, das schon früher erkannt worden war, insofern als jemand weiß, daß er diese Kenntnis früher gehabt hat, auch wenn das Objekt selbst nicht wie oben als etwas Vergangenes erkannt wird. In diesem Sinne kann jede schon vorhandene Erkenntnis als Gedächtnis bezeichnet wer­ den. Dabei ist aber zweierlei zu beachten: Es kann nämlich der Fall eintreten, in dem die Betrachtung der gewonnenen Erkenntnis nicht unterbrochen wird, sondern kontinuierlich bleibt; es kann auch vor­ kommen, daß die Betrachtung unterbrochen wird. Im letzteren Fall wird der Vergangenheitscharakter erhöht. So wird gesagt, daß wir das im Gedächtnis haben, von dem wir ein zuständliches Wissen hatten, ohne daran zu denken. In dieser Hinsicht ist das Gedächtnis im intellektiven Teil unserer Seele. Und auf diese Weise scheint auch Augustinus Gedächtnis aufgefaßt zu haben, der es als Teil der Eben­ bildlichkeit verstand. Er legt nämlich alles, was bleibend in unserem Geist ist, aber woran wir gerade nicht denken, ins Gedächtnis. Zur Frage, wie die Seele auf Dauer Kenntnisse beinhalten kann, derer sie sich nur ausnahmsweise bewußt wird, gibt es mehrere Theorien: Avicenna lehrt nämlich im 6. Buch Über die Naturdinge22, daß dies nicht angehe. Er behauptet, daß gewisse Inhalte im intellektiven Teil 22  Avicenna, De an. V, 6 (ed. S. Van Riet, II, 145 f.).

2. Artikel

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der Seele erhalten bleiben, solange sie uns bewußt sind, daß aber Inhalte, deren wir uns nicht bewußt sind, nur im sensitiven Teil der Seele erhalten werden können, sei es im Vorstellungsvermögen – eine Schatzkammer von Inhalten, die durch die Wahrnehmung zu­ stande kamen – sei es im Gedächtnis – im Falle solcher Inhalte, die eben nicht durch die Wahrnehmung zustande kamen. Im passiven Intellekt bliebe aber ein Inhalt so lange, wie man an ihn denkt; so­ bald dies aufhört, höre er auf, im passiven Intellekt zu sein. Entsteht der Wunsch, einen geistigen Inhalt wieder zu betrachten, so muß dieser aus dem aktiven Intellekt wieder in den passiven Intellekt fließen. Ein Mensch, der einen solchen Inhalt, den er früher erkannt hatte, wieder betrachten will, ist deswegen nicht gezwungen, ihn von Grund auf wieder neu zu erlernen bzw. zu entdecken, weil im passiven Intellekt eine gewisse Geschicklichkeit geblieben ist, durch welche er sich leichter als zuvor dem aktiven Intellekt zukehrt, um die geistigen Inhalte zu empfangen, die aus diesem hervorfließen. Und diese Geschicklichkeit in unserem passiven Intellekt ist unser Wissen. Nach dieser Lehre bestünde Gedächtnis im Geist nicht in der Form des Festhaltens erkennbarer Inhalte, sondern in der Form einer erworbenen Geschicklichkeit, schon erkannte Inhalte wieder­ zuerkennen. Rational scheint diese Lehre aus zwei Gründen unbefriedigend zu sein: Erstens müssen die Inhalte, die im passiven Intellekt erhalten werden, stabiler sein als die der Wahrnehmung, denn der passive In­ tellekt ist naturgemäß stabiler als die Wahrnehmung. Darum kön­ nen Inhalte eher in ihm erhalten bleiben als in der Wahrnehmung. Zweitens, weil sich der aktive Intellekt zum Fluß geistiger, zu den Wissenschaften gehörender Inhalte gleichmäßig verhält. Blieben also im passiven Intellekt keine Inhalte erhalten, sondern nur eine Geschicklichkeit, sich dem aktiven Intellekt zuzukehren, so gälte diese Geschicklichkeit gleichermaßen allem Erkennbaren. Und ein Mensch, der sich in eine besondere Wissenschaft vertieft hatte, wäre mit dieser nicht vertrauter als mit allen anderen. Übrigens scheint diese Lehre der des Aristoteles im 3. Buch Über die Seele23 ausdrück­ lich zu widersprechen; dieser nämlich lobt seine Vorgänger, weil 23  Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 27–28.

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sie lehrten, der intellektive Teil der Seele sei der Ort der geistigen Inhalte. Daher sagen andere, geistige Inhalte bleiben auch dann im passi­ ven Intellekt erhalten, wenn an sie nicht mehr gedacht wird, und in deren Anordnung bestehe der Besitz des Wissens. Demnach wäre die Kraft, mit der unser Geist solche Inhalte zu behalten vermag, auch wenn sie uns nicht mehr bewußt sind, eben als Gedächtnis zu bezeichnen, was der eigentlichen Bedeutung des Wortes wesentlich näherkommt. Zu 1.  Es ist also darauf hinzuweisen, daß in dem Gedächtnis, das wir mit den Tieren gemeinsam haben, Zeichen partikulärer Dinge bewahrt werden. Dieses Gedächtnis ist nicht im Geist, sondern nur dasjenige, in dem wir geistige Inhalte bewahren. Zu 2.  Das Gedächtnis, von dem der Philosoph hier spricht, ist auf Vergangenes bezogen, das in Bezug auf dieses Jetzt eben als dieses vergangen ist; solches Gedächtnis ist nicht im Geist. Zu 3.  Dies gilt auch für den dritten Einwand. Zu 4.  Das bewußte Erfassen und Behalten im passiven Intellekt unterscheiden sich nicht deswegen voneinander, weil der betref­ fende Inhalt irgendwie körperlich in ihm ist, denn das ist er nur geistig. Das ist aber nicht so zu verstehen, als würde das bewußte Erfassen des Inhalts immer statthaben; der Inhalt wird nur dann bewußt, wenn der passive Intellekt auf vollendete Weise zu jenem Inhalt wird. Manchmal allerdings geschieht dies auf unvollendete Weise, und zwar gewissermaßen halbwegs zwischen dem bloß Mög­ lichen und dem vollkommen Verwirklichten, und dies kann als das zuständliches Wissen bezeichnet werden. Durch den Willen jedoch, der nach Anselm24 das bewirkende Prinzip aller Kräfte ist, kann dieses zuständliche Wissen in vollkommene Verwirklichung über­ führt werden.

24  Pseudo-Anselm, De similitudinibus (= De humanis moribus per si­ militudines), cap. 2 (PL 159, 605 C; ed. Schmitt  /  Southern, 39); sinngemäß eher: De concordia praescientiae et praedestinationis et gratia Dei cum li­ bero arbitrio III, 11 (ed. Schmitt, II, 283 f.).

2. Artikel

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Zu 5.  Vornehmlich strebt der Geist dann auf die Ebenbildlichkeit hin, wenn er sich auf Gott und auf sich selbst zubewegt. Darüber hinaus ist er sich selbst präsent, wie auch Gott in ihm präsent ist, ehe er irgendwelche Inhalte der Sinneswahrnehmung aufnehmen kann. Übrigens wird nicht deswegen behauptet, der Geist habe ein Ver­ mögen des sich Erinnerns, weil er tatsächlich etwas behält, sondern deswegen, weil er die Fähigkeit hat, etwas zu behalten. Zu 6.  Daraus wird die Antwort zum sechsten klar. Zu 7.  Kein Vermögen kann irgend etwas erkennen, ohne sich sei­ nem Objekt zuzuwenden, wie z. B. das Gesicht, um etwas erkennen zu können, sich der Farbe zuwenden muß. Nun verhält sich aber das Bild des Vorstellungsvermögens zum passiven Intellekt so wie die wahrnehmbaren Dinge zur Wahrnehmung, wie aus Aristoteles im 3. Buch Über die Seele25 hervorgeht. Daraus folgt, daß der Intellekt, auch wenn er einen geistigen Inhalt vor sich hat, doch niemals etwas an diesem Inhalt betrachten kann, ohne sich dem Bild des Vorstel­ lungsvermögens zuzuwenden. Auf dem irdischen Weg also bedarf unser Intellekt der Bilder, die er bewußt betrachten kann, um das zuständliche Wissen zu erwerben, ebenso wie er deren auch nach­ her bedürfen wird. Anders verhält es sich bei den Engeln, denn das Objekt ihres Intellekts ist kein Bild. Beantwortung der Gegenargumente: 1.  Aus dem angeführten Zitat kann nicht geschlossen werden, daß das Gedächtnis im Geist ist, außer mit der oben angegebenen Einschränkung, nicht aber im eigentlichen Sinne. 2.  Die Aussage des Augustinus ist dahingehend zu verstehen, daß Gedächtnis auch auf gegenwärtig existierende Gegenstände bezogen sein kann. Jedoch kann von Gedächtnis nie die Rede sein, außer in Bezug auf Vergangenes, und sei es, daß es sich nur um vergange­ nes Erkennen handelte. Auch in diesem Sinne läßt sich behaupten, jemand hätte sich selbst vergessen oder sich an sich selbst erinnert, nämlich so, daß er eine vergangene Erkenntnis von sich selbst ent­ weder festhält oder auch nicht.

25  Aristoteles, De an. III, 12; 431 a 14–15.

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3.  Insofern als der Intellekt zeitliche Unterschiede auf Grund all­ gemeiner Begriffe erkennt, kann er Aussagen bilden, die auf jedwe­ den zeitlichen Unterschied bezogen sind. 4.  Vorsehung ist nur insofern im Intellekt, als dieser über ­einige allgemeine die Zukunft betreffende Grundsätze verfügt. Ihre An­ wendung auf Einzelfälle muß allerdings durch eine partikulare De­ duktion vermittelt werden, die zwischen den allgemeingültigen bewe­genden Grundsatz und die sich daraus ergebende Bewegung der Einzeldinge fällt. Dies geht auch aus Aristoteles im 3. Buch Über die Seele26 hervor. 3. Artik el Die dritte Frage lautet: Unterscheidet sich das Gedächtnis vom In­ tellekt, wie ein Vermögen sich von einem anderen unterscheidet?27 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Jedem Vermögen entspricht ein spezifisches Verhalten. Aber das Verhalten des passiven Intellekts und des Gedächtnisses – ge­ setzt, dieses sei im Geist enthalten – ist dasselbe, nämlich das Be­ wahren geistiger Inhalte. Dieses Bewahren schreibt nämlich Augu­ stinus28 dem Gedächtnis zu, Aristoteles29 dem passiven Intellekt. Also unterscheidet sich das Gedächtnis vom Intellekt nicht wie ein Vermögen von einem anderen. 2.  Das Aufnehmen von Inhalten, die nicht auf eine besondere Zeit bezogen sind, ist das Auszeichnende des Intellekts, der vom Hier und Jetzt immer abstrahiert. Aber die Bezogenheit auf eine beson­ dere Zeit betrifft das Gedächtnis nicht, denn nach Augustinus im 14. Buch Über die Dreieinigkeit30 verhält sich das Gedächtnis indif­ ferent zu Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Also läßt sich das Gedächtnis vom Intellekt nicht unterscheiden.

26  Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 16–21. 27  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  79, a.  7. 28  Augustinus, De trin. XIV, 7, 10 (PL 42, 1043; CCSL 50A, 434). 29  Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 27–28. 30  Augustinus, De trin. XIV, 11, 14 (PL 42, 1047; CCSL 50A, 442).

3. Artikel

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3.  ›Intellekt‹ hat nach Augustinus im 14. Buch Über die Dreieinigkeit31 eine zweifache Bedeutung: Einerseits bezeichnet dieser Ausdruck das Vermögen, womit wir das erkennen, was uns bewußt ist, d. h., woran wir denken; andererseits bezeichnet er das Vermö­ gen, mit dem wir Erkenntnisse besitzen, an die wir nicht denken. Die erste Bedeutung ist die einer tatsächlichen Tätigkeit, d. h. kein Vermögen, sondern das spezifische Verhalten, zu dem uns ein Ver­ mögen befähigt. Nach dieser Bedeutung unterscheidet sich Intellekt von Gedächtnis nicht wie ein Vermögen von einem anderen. Nach der zweiten Bedeutung, wonach wir Erkenntnisse auch dann haben, wenn wir nicht an sie denken, unterscheidet sich Gedächtnis von In­ tellekt nicht, denn das Gedächtnis besitzt eben solche Erkenntnisse. Dies geht auch aus folgendem Satz des Augustinus a. a. O. hervor: »Wenn wir uns dem inneren Gedächtnis des Geistes zuwenden, mit dem er an sich selber denkt, und dem inneren Intellekt, mit dem er in sich selber Einsicht hat, und dem inneren Willen, mit dem er sich selber liebt, dann wird es den Anschein haben, als käme das Bild der Dreifaltigkeit dem Gedächtnis allein zu, wo diese drei immer, ob bewußt oder unbewußt, gleichzeitig sind.« Also unterscheidet sich Intellekt von Gedächtnis keineswegs wie ein Vermögen von einem anderen. 4.  Wenn behauptet wird, der Intellekt sei das Vermögen, kraft dessen die Seele bewußt denken kann, und er sei daher auch das Ver­ mögen, wodurch die Seele nur dann Erkenntnisse hat, wenn sie tat­ sächlich denkt, dann wird der Intellekt vom Gedächtnis unterschie­ den wie ein Vermögen von einem anderen. – Dagegen gehört es zum gleichen Vermögen, eine Haltung zu haben und sie zu aktivieren. Aber erkennen, ohne zu denken, bedeutet das Erkennen lediglich zu haben, und Erkanntes zu denken bedeutet das Erkennen zu aktivie­ ren. Also gehören erkennen, ohne zu denken, und Erkanntes zu den­ ken zum gleichen Vermögen; daher ist der Intellekt vom Gedächtnis nicht zu unterscheiden wie ein Vermögen von einem anderen. 5.  Im intellektiven Teil der Seele findet sich kein anderes Ver­ mögen als das erkennende und das bewegende bzw. das affektive.

31  Augustinus, De trin. XIV, 7, 10 (PL 42, 1043; CCSL 50A, 434).

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Affektiv oder bewegend ist aber der Wille, erkennend der Intellekt. Also ist das Gedächtnis kein anderes Vermögen als der Intellekt. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im 14. Buch Über die Dreieinigkeit32, die Seele sei deswegen auf das Ebenbild Gottes ausgerichtet, weil sie zum Erkennen und Schauen Gottes Vernunft und Intellekt aktivie­ ren könne. Aber die Seele kann nur schauen, weil sie dazu das Ver­ mögen hat. Also ergibt sich die Ebenbildlichkeit Gottes in der Seele aus ihren Vermögen. Aber diese Ebenbildlichkeit Gottes in der Seele ergibt sich aus den drei Vermögen der Seele: Gedächtnis, Intellekt und Wille. Also sind diese drei Vermögen verschieden. 2.  Wenn diese hier erwähnten drei nicht Vermögen wären, so müßte eines von ihnen Akt oder Verhalten sein. Aber ein Akt ist nicht immer in der Seele, denn nicht immer denkt sie oder will sie. Also wären diese drei nicht immer in der Seele, und damit wäre die Seele nicht immer Ebenbild Gottes, was gegen das Denken des Augu­stinus wäre. 3.  Unter den erwähnten dreien ist eine gewisse Gleichheit fest­ zustellen, welche der Gleichheit der göttlichen Personen entspricht. Aber zwischen Akt, Zustand und Vermögen gibt es keine Gleichheit, denn ›Vermögen‹ ist auf mehr als nur eine Haltung bezogen, und ›Haltung‹ bezieht sich auf mehr als nur einen Akt. Zu einem Ver­ mögen gehören nämlich verschiedene Haltungen, und jede Haltung ruft mehrere Akte hervor. Daher kann nicht eines der drei eine Hal­ tung sein, und ein anderes ein Akt. Antwort: Das Bild der Dreifaltigkeit in der Seele läßt sich auf zweifache Weise deuten: nämlich nach vollkommener oder unvollkommener Entsprechung. Indem die Seele sich erinnert, bewußt erkennt und bewußt will, gilt die Entsprechung als vollkommen, und zwar des­ wegen, weil auch in jener ungeschaffenen Dreifaltigkeit das Wort in der Dreiheit der Personen in der Mitte steht und weil das Wort be­ wußtes Denken voraussetzt. Demgemäß sieht Augustinus ein Bild 32  Augustinus, De trin. XIV, 8, 11 (PL 42, 1044; CCSL 50A, 435 f.).

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vollkommener Entsprechung in der Dreiheit von Gedächtnis, Intel­ lekt und Wille. Gedächtnis ist nämlich mit zuständlichem Wissen verbunden, Intellekt mit bewußtem Denken, das aus jenem Wissen hervorgeht, und Wille mit der bewußten Bewegung eines Willens, die aus dem bewußten Denken entsteht. Und dies geht mit Deut­ lichkeit aus dem hervor, was er im 14. Buch Über die Dreieinigkeit33 sagt: »… weil dort (d. h. im menschlichen Geist) das Wort nicht ohne das Denken sein kann; alles nämlich, was wir sagen, denken wir in jenem inneren Wort, das in keiner Sprache der menschlichen Kultur zu hören ist; noch deutlicher wird jenes Ebenbild in diesen dreien erkannt: Gedächtnis, Intellekt und Wille. Und diesen Intellekt nenne ich das, wodurch wir als Denkende einsehen, und diesen Willen das, was diesen Gezeugten mit seinem Erzeuger verbindet.« Das Bild der Dreifaltigkeit in der Seele in unvollkommener Ent­ sprechung entsteht dann, wenn einer Person ein Vermögen und ei­ ner anderen ein Zustand entspricht. So sieht Augustinus im 9. Buch Über die Dreieinigkeit ein Bild der Dreifaltigkeit auch in dieser Dreiheit: Geist, Kenntnis und Liebe.34 Hierbei bezeichnet ›Geist‹ ein Vermögen, ›Kenntnis‹ und ›Liebe‹ jedoch Haltungen des Vermögens. Statt Kenntnis hätte er auch von zuständlichem Wissen sprechen können, denn beide sind als Haltungen aufzufassen, wie aus dem hervorgeht, was er im 14. Buch Über die Dreieinigkeit35 schreibt: »Ob wir mit Fug behaupten können, dieser Gelehrter sei mit seinem Fach vertraut, obwohl er im Augenblick nichts davon versteht, weil er an anderes denkt? Kennt er sich etwa in der Geometrie aus, weil er jetzt an sie denkt? Dieser Satz ist genauso absurd, wie er aus­ sieht.« Nach dieser Deutung kommen Kenntnis und Liebe, wenn sie als Haltungen verstanden werden, eigentlich nur dem Gedächtnis zu, wie auch aus der im Einwand angeführten Textstelle Augustins hervorgeht. Doch weil Akte in Vermögen ebenso wie Folgen in Ur­ sachen wurzeln, kann auch das Bild der Dreifaltigkeit in vollkom­ mener Entsprechung, das auf Gedächtnis, bewußter Erkenntnis und bewußtem Willen beruht, ursprünglich in drei Vermögen zu finden 33  Augustinus, De trin. XIV, 7, 9 (PL 42, 1043 f.; CCSL 50A, 434 f.). 34  Augustinus, De trin. IX, 12, 18 (PL 42, 972; CCSL 50, 310). 35  Augustinus, De trin. XIV, 7, 9 (PL 42, 1043; CCSL 50A, 433).

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sein, gemäß denen die Seele sich zu erinnern, bewußt zu erkennen und zu wollen vermag, wie aus den angeführten Worten des Augu­ stinus hervorgeht. Und so gründet das Bild der Dreifaltigkeit in der Seele in den Vermögen, jedoch nicht so, als könnte das Gedächtnis ein anderes Vermögen des Geistes neben dem Intellekt sein. Dies läßt sich fol­ gendermaßen erklären: Vermögen werden nämlich nicht durch die Verschiedenheit ihrer Objekte verschieden, es sei denn, die Verschie­ denheit der Objekte sei auf Ursachen zurückzuführen, die von Na­ tur aus Objekte verschiedener Vermögen sind. Z. B. sind ›heiß‹ und ›kalt‹ im Hinblick auf das Farbige Zufälligkeiten; als solche können sie das Sehvermögen nicht teilen. Es bleibt dasselbe Vermögen, ob es das heiße Farbige oder das kalte, süße oder bittere Farbige sieht. Nun kann der Geist bzw. der Intellekt das Vergangene als solches zwar irgendwie erkennen, doch weil er sich zur Erkenntnis des Ge­ genwärtigen, Vergangenen oder Zukünftigen indifferent verhält, ist der Unter­schied zwischen einem Gegenwärtigen und einem Ver­ gangenen eine Zufälligkeit in Bezug auf das Erkennbare als solches. Obwohl das Gedächtnis irgendwie im Geist sein mag, so kann es trotzdem nicht als ein besonderes Vermögen an sich bestehen, unab­ hängig von anderen, wie Philosophen verschiedene Vermögen ver­ stehen. Danach kann Gedächtnis nur im sensitiven Teil der Seele sein, der sich in die Gegenwart als Gegenwart bringt. Wenn es in die Vergangenheit gebracht werden soll, so bedarf es dazu einer höheren (geistigen) Kraft als der bloßen Wahrnehmung. Und dennoch – ob­ wohl das Gedächtnis kein Vermögen für sich ist, unabhängig vom Intellekt (sollte der Intellekt überhaupt für ein Vermögen gehalten werden), zeigt eine Betrachtung der Vermögen, daß es eine Dreifal­ tigkeit in der Seele gibt. Denn das eine Vermögen, nämlich der In­ tellekt, hat ein wesentliches Verhältnis zu zweierlei, nämlich zum unbewußten Festhalten des zuständlichen Wissens und zur bewuß­ ten Betrachtung davon. Auch Augustinus unterscheidet dadurch die niedere von der höheren Vernunft, daß die eine Vernunft ein we­ sentliches Verhältnis zu zweierlei hat. Zu 1.  Obwohl das Gedächtnis, insofern es geistig ist, kein für sich bestehendes Vermögen unabhängig vom passiven Intellekt ist, be­

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steht trotzdem ein Unterschied zwischen dem Gedächtnis und dem passiven Intellekt, und zwar auf Grund des Verhältnisses zu zwei­ erlei, wie aus dem Gesagten hervorgehen dürfte. Zu 2–5. Ähnliches gilt für die nächsten vier Einwände. Beantwortung der Gegenargumente: Zu 1.  Augustinus spricht in der angeführten Stelle nicht von dem Ebenbild, das sich mit vollkommener Entsprechung in der Seele fin­ det. Diese vollkommene Entsprechung entsteht nämlich erst dann, wenn die Seele durch bewußte Einsicht in die Dreifaltigkeit dieser entspricht. Zu 2.  Irgendein Ebenbild der Dreifaltigkeit ist immer in der Seele, aber nicht immer mit vollkommener Entsprechung. Zu 3.  Im Verhältnis zum gleichen Objekt kann Gleichheit unter Vermögen, Haltung und Akt bestehen. Demnach ist das Bild der Dreifaltigkeit insofern in der Seele, als sie unterwegs zu Gott ist. Aber selbst nach dem alltäglichen Sprachgebrauch besteht eine ge­ wisse Gleichheit unter Vermögen, Haltung und Akt, nicht etwa we­ gen deren natürlichen Beschaffenheiten – denn Verhalten, Haltung und Vermögen haben auf jeweils andere Weise ihr Sein –, sondern wegen des gemeinsamen Verhältnisses zum Akt, der eine quantita­ tive Betrachtung aller drei ermöglicht. Akt und Haltung sind auch nicht als Einheiten der Zahl nach zu denken, sondern sie können auch als gleichwertige Begriffe betrachtet werden.

4. Artik el Die 4. Frage lautet: Erkennt der Geist die materiellen Dinge?36 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Der Geist erkennt nur durch die Kenntnis des Intellekts. Nun aber lautet die Glosse des Petrus Lombardus zu 2 Kor. 12, 2 wie folgt: »Die geistige Schau zeichnet sich dadurch aus, daß er diejeni­ gen Dinge enthält, die keine Bilder haben, die sich von den Dingen

36  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  84, a.  1.

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zahlenmäßig unterscheiden«.37 Da nun die materiellen Dinge nicht in der Seele sein können durch sich selbst, sondern nur durch »ihnen ähnliche und von ihnen unterschiedene Bilder«, scheint der Geist die materiellen Dinge nicht zu erkennen. 2.  Augustinus sagt im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis: »Im Geist werden nur solche Dinge erkannt, die weder körperlich noch körperähnlich sind.«38 Nun sind aber die materiellen Dinge sowohl körperlich als auch körperähnlich. Also werden sie durch den Geist nicht erkannt. 3.  Das, was der Geist bzw. der Intellekt erkennen soll, ist die Was­ heit der Dinge. Denn der Gegenstand des Intellekts ist eben »Was etwas ist«, wie es im 3. Buch Über die Seele39 heißt. Aber das Was der materiellen Dinge ist nicht ihre Körperlichkeit, sonst müßte a­ lles, was ein Was hat, körperlich sein. Also erkennt der Geist die mate­ riellen Dinge nicht. 4.  Die Erkenntnis des Geistes zielt auf die Form der Dinge, die Grund ihrer Erkennbarkeit ist. Aber die erkennbaren Formen, die im Geist sind, sind gänzlich ohne Materie. Also kann der Geist durch die Form die materiellen Dinge nicht erkennen. 5.  Erkennen ist ein Prozeß der Angleichung. Aber zwischen dem Geist und den materiellen Dingen kann keine Angleichung stattfin­ den, denn Ähnlichkeit entsteht durch gemeinsame Eigenschaften, während die Eigenschaften der materiellen Dinge körperliche Zufäl­ ligkeiten sind, die nicht im Geist sein können. Also kann der Geist die materiellen Dinge nicht erkennen. 6.  Der Geist kann nur durch Abstrahieren von der Materie und von den Bedingungen der Materialität erkennen; aber die materi­ ellen oder natürlichen Dinge können nicht einmal im Denken von der Materie getrennt werden, denn die Materie gehört zu deren De­ finition. Also können die materiellen Dinge durch den Geist nicht erkannt werden.

37  Petrus Lombardus, Glossa (PL 192, 80 D); entnommen aus: Augusti­ nus, De Gen. ad litt. XII, 6 (PL 34, 458; CSEL 28/1, 387). 38  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 24, 51 (PL 34, 474; CSEL 28/1, 416). 39  Aristoteles, De an. III, 6; 430 b 28.

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Dagegen spricht: 1.  Alles, was zur Wissenschaft der Natur gehört, wird durch den Geist erkannt. Aber die Wissenschaft der Natur gilt den materiellen Dingen. Also werden diese durch den Geist erkannt. 2.  Aristoteles sagt im 1. Buch der Nikomachischen Ethik40: »Jeder beurteilt das, was er kennt, gut und hat darüber das beste Urteil«. Doch werden durch den Geist, wie Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis41 sagt, »diese niederen Dinge beurteilt«. Also werden diese niederen materiellen Dinge durch den Geist er­ kannt. 3.  Wir erkennen mit der Wahrnehmung nur materielle Dinge. Aber die geistige Erkenntnis entsteht aus der Wahrnehmung. Also erkennt der Geist auch die materiellen Dinge. Antwort: Jede Erkenntnis entsteht gemäß einer Form, welche im Erkennen­ den das Prinzip des Erkennens ist. Aber eine solche Form läßt sich in zwei Hinsichten betrachten: einerseits gemäß dem Sein, das sie im Erkennenden hat, andererseits gemäß dem Verhältnis zu dem, des­ sen Ähnlichkeit sie ist. Gemäß ersterem läßt sie den Erkennenden bewußt erkennen, aber gemäß letzterem bestimmt sie die Erkennt­ nis zu dem betreffenden erkennbaren Objekt. Und daher wird die Art, in der etwas erkannt wird, durch die Bedingungen des Erken­ nenden bestimmt, der die Form gemäß seiner Art aufnimmt. Das erkannte Ding wird nicht durch die Art des Erkennenden bestimmt oder gar durch die Art, in der die Form als Prinzip des Erkennens ihr Sein im Erkennenden hat. Darum besteht kein Grund, warum die materiellen Dinge durch Formen, die im Geist immateriell exi­ stieren, nicht erkannt würden. Dies geschieht aber im menschlichen Geist, der die Formen von den Dingen her annimmt, anders als im göttlichen oder im engli­ schen Geist, der von den Dingen her keine Formen empfängt. Denn in einem Geist, der das Wissen von den Dingen her erhält, existieren die Formen in der Seele nur durch ein gewisses Agieren der Dinge. 40  Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 b 27–28. 41  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 24, 50 (PL 34, 474; CSEL 28/1, 416).

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Ferner wird jedes Agieren durch die Form bestimmt. So antworten die Formen in unserem Geist in erster Linie auf die Dinge, die in der Welt existieren, und zwar im Hinblick auf deren Formen, von denen es zwei Sorten gibt: die einen, wie Linie, Fläche usw., eignen sich keine Materie zu; die anderen, nämlich die Formen der natür­ lichen Körper, eignen sich Materie in der Weise zu, daß sie ihr ihre jeweilige Wesensform aufdrücken. Durch die Erkenntnis derjenigen Formen, die sich keine Materie zueignen, entsteht keine Erkenntnis materieller Dinge, aber durch die Erkenntnis der natürlichen For­ men, die sich Materie zueignen, entsteht eine gewisse Erkenntnis sogar der Materie selbst, und zwar gemäß dem Verhältnis, in dem sie zu ihrer jeweiligen Form steht. Deswegen sagt Aristoteles im 1. Buch der Physik42, daß die Ur-Materie durch Analogie erkennbar sei. Durch die Ähnlichkeit der jeweiligen Form also werden die ma­ teriellen Dinge selbst erkannt. Ein Mensch, der mit dem Begriff des Konkaven vertraut ist, ist allein aus diesem Grund in der Lage, eine Stupsnase zu erkennen. Aber die Formen der Dinge existieren im Geist Gottes; aus ihnen fließt das Sein der Dinge, welches zugleich Sein der Materie und Sein ihrer Form ist. Daher sind die Formen im Geist Gottes unmit­ telbar auf Materie und Form bezogen, nicht auf die eine durch die andere. Das gleiche gilt für die Formen im Geist der Engel, die den Formen des göttlichen Geistes ähneln, außer daß sie nicht Ursachen der Dinge sind. So hat unser Geist von den materiellen Dingen eine immaterielle Erkenntnis, während der göttliche und der englische Geist jene Dinge noch immaterieller und doch vollkommener er­ kennen. Zu 1.  Jenes Zitat läßt sich verschieden erklären: Es kann erstens auf alles bezogen werden, was unter die geistige Schau fällt. Danach ist das Zitat dahingehend zu verstehen, daß das geistige Erblicken nur solchen Dingen gilt, »die keine den Dingen ähnlichen Bilder haben, die sich von ihnen zahlenmäßig unterscheiden«, und zwar nicht so, als wäre dies von den Bildern des Vorstellungsvermögens zu verstehen, durch deren Vermittlung die Dinge mit der geistigen 42  Vgl. Aristoteles, Phys. I, 7; 191 a 8–11.

4. Artikel

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Schau gesehen werden, sondern so, daß das, was in der geistigen Schau erkannt wird, eben keine Bilder von den Dingen, sondern die Dinge selbst sind. Dies trifft weder auf das körperliche, d. h. sensi­ tive Erblicken noch auf das innere Erblicken des Vorstellungsver­ mögens zu. Die Gegenstände des Vorstellungsvermögens und der Wahrnehmung sind nämlich Zufälligkeiten, aus denen eine Gestalt oder ein Bild entsteht, während der Gegenstand des Intellekts eben das Wesen des Dinges selbst ist. Trotzdem erkennt der Intellekt die­ ses Wesen durch eine Ähnlichkeit, wobei allerdings die Ähnlichkeit eine bloß vermittelnde Rolle spielt und kein primäres Objekt der Erkenntnis ist. – Das Zitat kann zweitens auf das geistige Erblicken bezo­gen werden, insofern dieses den Blick der Wahrnehmung und des Vorstellungsvermögens übersteigt. Die Glosse gilt einem Wort des Augustinus, der drei Arten des Sehens unterscheiden will, indem er dem jeweils höheren Sehen das als Wesensmerkmal zuschreibt, worin dieser den jeweils niederen übersteigt. Wir denken, sagt er, mit dem inneren Blick, wenn wir durch Bilder in Abwesenheit des Erblickten denken, was wir auch mit der Wahrnehmung hätten er­ blicken können, wenn jenes gegenwärtig gewesen wäre. Da aber das Vorstellungsvermögen eben dadurch die Wahrnehmung übersteigt, daß es Abwesendes erblicken kann, sieht Augustinus darin das Aus­ zeichnende des Vorstellungsvermögens. Ähnlich übersteigt die gei­ stige Schau auch dadurch das Erblicken des Vorstellungsvermögens und der Wahrnehmung, daß sie bis zu den rein abstrakten Inhal­ ten reicht, worin Augustinus dann das Auszeichnende des Geistigen sieht. Dennoch kann der Geist auch materielle Dinge erkennen, die durch ihre Ähnlichkeiten faßbar werden. Daher sagt Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis43, daß wir durch unseren Geist »sowohl jene niederen Dinge differenzieren können wie auch diejenigen Dinge gewahren, die weder selbst Körper sind noch ir­ gendwelche körperähnlichen Formen aufweisen.« Zu 2.  Hierdurch wird auch deutlich, was zum zweiten Einwand zu sagen ist. Zu 3.  ›Körperlich‹ ist von ›Körper‹ abgeleitet. Insofern der Begriff eines Körpers eine Menge bezeichnet, gehört er zur Kategorie des 43  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 24, 50 (PL 34, 474; CSEL 28/1, 416).

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›Wieviel?‹. Und so kann die Washeit eines natürlichen Dinges nicht in seinem Körperlich-Sein bestehen, sondern dieses kommt dem Ding als etwas Zufälliges hinzu, nämlich als seine Dreidimensio­ nalität. Hingegen, insofern der Begriff eines Körpers zur Kategorie des ›Was?‹ gehört, bezeichnet ›Körperlich-Sein‹ das Wesen eines na­ türlichen Dinges. Daraus würde aber nicht folgen, daß jede Washeit ein Körper ist, es sei denn, jemand wollte behaupten, das KörperlichSein käme dem Was-Sein als solchem zu. Zu 4.  Obwohl im Geist nur immaterielle Formen sind, können darunter auch Ähnlichkeiten zu materiellen Dingen sein. Denn eine Ähnlichkeit und das, wovon sie eine Ähnlichkeit ist, müssen nicht das gleiche Sein haben, sondern es genügt, wenn sie der Gestalt nach miteinander übereinstimmen, wie die Gestalt eines Menschen in ­einer goldenen Statue der eines Menschen gleicht, der in Fleisch und Blut existiert. Zu 5.  Obwohl körperliche Eigenschaften nicht im Geist sein kön­ nen, so können in ihm doch Ähnlichkeiten zu körperlichen Eigen­ schaften sein, gemäß welchen sich der Geist den körperlichen Din­ gen angleicht. Zu 6.  Der Intellekt erkennt durch Abstrahieren von dem Beson­ deren in der Materie und von ihren Bedingungen, also z. B. von diesem Fleisch und diesem Blut, das heißt aber nicht, daß er von der Materie als solcher abstrahieren muß. So kann er eine natürliche Form betrachten, die mit Fleisch und Blut verbunden ist, aber nicht mit diesem Fleisch und diesem Blut.

5. Artik el Die 5. Frage lautet: Kann unser Geist materielle Dinge als Einzel­ dinge erkennen?44 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Das Einzelding verdankt sein Sein als Einzelnes der Materie; so sind diejenigen Dinge, von denen man sagt, sie seien natürlich, definitionsgemäß mit Materie verbunden. Aber der Geist, obzwar 44  Paralleltexte: De ver., q.  2, a.  6 (ed. Leon. XXII, 65–67); Sum. theol. I, q.  86, a.  1; Quodlib. XII, q.  8 (ed. Leon. XXV/2, 408–409).

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immateriell, kann die natürlichen Dinge erkennen. Also kann er auch Einzeldinge erkennen. 2. Keiner urteilt und verfügt richtig über Dinge, die er nicht kennt. Aber der Weise urteilt und verfügt richtig über Einzeldinge, z. B. seine Familie und seine Angelegenheiten. Also erkennen wir Einzeldinge mit dem Geist. 3.  Keiner versteht eine Behauptung, ohne deren Terme zu ver­ stehen. Aber der Geist formt die Behauptung, »Sokrates ist ein Mensch«; eine solche Behauptung kann nämlich durch das sensitive Vermögen nicht geformt werden, denn dieses kann den Menschen als Universales nicht erfassen. Also kennt der Geist Einzeldinge. 4.  Keiner kann eine Handlung anordnen, ohne deren Ziel zu ken­ nen. Aber der Geist, bzw. die Vernunft, ordnet Handlungen der Be­ gierde und des Zornes an, wie aus dem 1. Buch der Nikomachischen Ethik45 hervorgeht. Da nun deren Ziele Einzeldinge sind, erkennt der Geist Einzeldinge. 5.  Boethius sagt, »Alles, wozu ein niederes Vermögen befähigt, dazu befähigt auch das höhere Vermögen«46; aber die sensitiven Ver­ mögen, die im Verhältnis zum Geist niedere sind, erkennen die Ein­ zeldinge. Um so mehr kann der Geist die Einzeldinge erkennen. 6.  Es gilt: Je höher der Geist, desto universaler seine Erkenntnis, wie aus Dionysius’ 12. Kapitel Über die himmlische Hierarchie47 hervorgeht. Aber der Geist eines Engels ist höher als der eines Men­ schen, und doch haben die Engel Kenntnis der Einzeldinge. Um so mehr der menschliche Geist. Dagegen spricht: »Im Erkennen liegt das Universale, im Wahrnehmen das Ein­ zelne«, wie Boethius48 sagt. 45  Aristoteles, Eth. Nic. I, 20; 1102 b 30–31. 46  Boethius, Philos. consol. V, pr. 4 (PL 63, 849 B; CCSL 94, 97); die

Ed. Leon. verweist auf die Quelle bei Adamus Pulchrae Mulieris, Liber de intelligentiis, 38, 3 (ed. C. Baeumker, 46). 47  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 12, 2 (PG 3, 292 C; Dion. II, 936). 48  Boethius, In Porphyrii Isagogen, ed. sec. I (PL 64, 85 D); dieses bei vielen scholastischen Magistri angeführte Adagium findet sich bei Boe­ thius nicht wörtlich (Ed. Leon.).

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Antwort: Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Geist des Menschen und der des Engels auf unterschiedliche Weise erkennen. Denn insofern als sich die Erkenntnis des Menschen auf die materiellen Dinge be­ zieht, gilt sie in erster Linie deren Form und erst in zweiter Linie der Materie gemäß ihrer Beziehung zur Form. Da jede Form an sich etwas Universales ist, kann sich aus der Beziehung der Materie zur Form nur eine universale Kenntnis der Materie ergeben. Und so betrachtet, ist die Materie kein Prinzip der Individuation, sondern nur insofern sie als Materie des Einzeldinges, d. h. als diese Mate­ rie betrachtet wird, die mit ihren genau bestimmten Abmessun­ gen existiert. Nur dadurch nämlich wird eine Form individuiert. So sagt Aristoteles im 7. Buch der Metaphysik49, daß die Teile des Menschen Form und Materie sind, beide universal gedacht, wäh­ rend die Teile des Sokrates eben diese Form und diese Materie sind. Daraus wird deutlich, daß unser Geist das Einzelwesen nicht direkt erkennen kann. Direkt wird von uns das Einzelwesen nur über die Sinneswahrnehmung erkannt, welche von den Dingen die Formen in einem körperlichen Sinnesorgan aufnimmt. Da sie mit genau bestimmten Abmessungen empfangen werden, führen sie zur Er­ kenntnis der singulären Materie. Denn wie die universale Form zur Erkenntnis universaler Materie führt, so führt auch die individuelle Form zur Erkenntnis dieser Materie, welche Prinzip der Individua­ tion ist. Dennoch aber vermengt sich der Geist akzidentell mit den Einzelwesen insofern, als er durch die sensitiven Kräfte fortgesetzt wird, die nur auf Einzeldinge bezogenen sind. Und dieses Fortsetzen hat zwei Seiten: Einmal nämlich enden die Bewegungen der sinnli­ chen Wahrnehmung im Geistigen, wie auch der Abglanz der sinn­ lich wahrnehmbaren Dinge in der Seele endet. Und so erkennt der Geist das Einzelwesen durch eine gewisse Reflexion, in der er sich bei der Erkenntnis seines Objekts – das eine universale Form ist – zur Erkenntnis des eigenen Aktes zurückwendet, und dann zum Inhalt, welche die Quelle jenes Aktes ist, und dann weiter zum Bild, aus dem heraus der Inhalt abstrahiert wurde. So gelangt der Geist schließlich zu einer gewissen Erkenntnis des Einzelwesens. – Ande­ 49  Aristoteles, Metaph. VII, 10; 1035 b 27–30.

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rerseits geht jeder Impuls, der sich von der Seele zu den Dingen be­ wegt, vom Geist aus und wird, da er über die niederen Kräfte regiert, über den sensitiven Teil der Seele geleitet, um sich dann mit den Ein­ zeldingen zu vermengen, was durch Vermittlung der partikulären Vernunft erfolgt. Diese nennt man das denkende Vermögen des sen­ sitiven Teiles der Seele, das aus Benennungen oder Umschreibungen von Einzeldingen Behauptungen und Verneinungen bildet und ein bestimmtes leibliches Organ, nämlich das mediale Kämmerchen im Gehirn, besitzt. Denn ein allgemeines Urteil, das der Geist über zu vollbringende Handlungen fällt, könnte unmöglich auf den Einzel­ fall angewendet werden, wenn es kein mediales Vermögen gäbe, das die Einzeldinge wahrnehmen kann. Daraus kann dann ein prakti­ scher Syllogismus entstehen mit universalgültigem Obersatz, der vom Geist herrührt, einem auf das Einzelwesen bezogenen Unter­ satz, der eine Erkenntnis der partikulären Vernunft darstellt, und einem Schlußsatz, der die Wahl einer einzelnen Handlung enthält. Dies geht aus dem 3. Buch Über die Seele50 hervor. Da aber der Geist eines Engels die materiellen Dinge durch For­ men erkennt, die unmittelbar auf Materie und Form bezogen sind, erkennt er durch unmittelbare Anschauung nicht nur die allgemeine, sondern auch die singuläre Materie; ähnlich auch der Geist Gottes. Zu 1.  Die Erkenntnis, mit der die Materie gemäß ihrer Analogie zur Form erkannt wird, reicht für die Erkenntnis eines natürlichen Dinges, nicht aber für die Erkenntnis eines Einzelwesens, wie aus dem Gesagten hervorgeht. Zu 2.  Das Verfügen eines Weisen über die Einzeldinge geschieht zwar durch den Geist, aber nur über die Vermittlung einer denken­ den Kraft, die mit den Benennungen für die Einzeldinge umzugehen weiß, wie aus dem Gesagten hervorgeht. Zu 3.  Hier wird vorausgesetzt, daß der Geist eine Aussage bilden kann, die aus einem universalen und einem singulären Term besteht, wobei er den singulären Term durch eine gewisse Reflexion erkennt, wie dargetan wurde.

50  Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 16–21.

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Zu 4.  Der Intellekt bzw. die Vernunft erkennt das Ziel nur als Universal-Abstraktes, dem er die von ihm angeordneten Handlun­ gen von Begierde und Zorn zuordnet. Aber, wie gesagt, diese univer­ sale Erkenntnis wendet er auf den Einzelfall nur über Vermittlung der denkenden Kraft an. Zu 5.  Es ist zwar richtig, daß das höhere Vermögen das niedere Vermögen einschließt, aber manchmal ist das höhere Vermögen an­ ders oder höher geartet. So kann der Intellekt alles erkennen, was die Wahrnehmung erkennt, aber er tut dies auf höherer Ebene, denn die Kenntnis der Wahrnehmung bezieht sich auf materielle Anord­ nungen und auf äußere Zufälligkeiten, während der Intellekt zum inneren Wesen der Art vordringt, das in den Individuen selbst ist. Zu 6.  Die Erkenntnis des englischen Geistes ist universaler als die des menschlichen Geistes, denn sie umfaßt mehr und ist auf keine Vermittlung angewiesen. Darüber hinaus ist der englische Geist wirksamer in der Erkenntnis der Einzelwesen als der menschliche Geist, wie aus dem Gesagten hervorgeht.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Empfängt der menschliche Geist von sinn­ lich wahrnehmbaren Dingen Kenntnis?51 Die scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Wesen, die keine Materie gemeinsam haben, können sich nicht aktiv und passiv zueinander verhalten, wie aus Boethius in Über die zwei Naturen52 und aus Aristoteles im 1. Buch Über Werden und Vergehen53 hervorgeht. Aber unser Geist hat mit den sinnlich wahr­ nehmbaren Dingen keine Materie gemeinsam. Daher können die wahrnehmbaren Dinge auf unseren Geist nicht wirken, also auch nicht so wirken, daß sie in unserem Geist irgendeine Kenntnis be­ wirken. 51  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  84, a.  6; Quodlib. VIII, q.  2, a.  1 (ed. Leon. XXV/1, 55–57); Comp. theol. I, 81, 82 u. 83 (ed. Leon. XLII, 107–108). 52  Boethius, Contra Eut. et Nest. 6 (PL 64, 1349 D; ed. M. Elsässer, 96). 53  Aristoteles, De gen. et corr. I, 7; 324 a 34.

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2.  Der Gegenstand des Intellekts ist ein Was, worauf im 3. Buch Über die Seele54 hingewiesen wird. Aber die Washeit eines Dinges wird durch kein Sinnesorgan wahrgenommen. Also erhält der Geist seine Erkenntnisse nicht von der Sinneswahrnehmung. 3.  Augustinus sagt im 10. Buch der Bekenntnisse55, wo er die Frage behandelt, wie wir zur Erkenntnis geistiger Inhalte gelangen: »Sie waren dort« (die geistigen Inhalte in unserem Geist) »auch, be­ vor ich sie gelernt hatte, sie waren aber nicht im Gedächtnis«. Dem­ nach scheint es, daß wir die geistigen Inhalte im Geist nicht durch die Wahrnehmung gewinnen. 4. Die Seele kann nur Bekanntes lieben, wie Augustinus im 10. Buch Über die Dreieinigkeit56 darlegt. Aber bevor jemand eine Wissenschaft erlernt hat, liebt er sie, was daraus zu ersehen ist, daß er sich um sie mit großem Eifer bemüht. Also war jene Wissenschaft in seinem Wissen schon irgendwie präsent, lange bevor er sie erlernt hatte. So scheint der Geist seine Kenntnisse nicht von den wahr­ nehmbaren Dingen zu erhalten. 5.  Augustinus sagt im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis57: »Das Bild eines Körpers im Geist hat nicht der Körper bewirkt, son­ dern der Geist selber bewirkt es in sich selbst, und zwar mit einer er­ staunlichen Geschwindigkeit, welche unbeschreiblich weit entfernt ist von der trägen Langsamkeit eines Körpers. Also scheint der Geist seine Inhalte nicht den Wahrnehmungen zu verdanken, sondern sie in sich selbst zu bilden. 6.  Augustinus sagt im 12. Buch Über die Dreieinigkeit58, daß un­ ser Geist »über die körperlichen Dinge gemäß nicht-körperlichen und immerwährenden Prinzipien urteilt«. Dieser Art sind aber die Prinzipien nicht, die durch die Wahrnehmung gewonnen werden. Also scheint der menschliche Geist seine Erkenntnisse nicht von den wahrnehmbaren Dingen zu erhalten.

54  Aristoteles, De an. III, 6; 430 b 28. 55  Augustinus, Conf. X, 10, 17 (PL 32, 786; CCSL 27, 164). 56  Augustinus, De trin. X, 1, 1 (PL 42, 971; CCSL 50, 311). 57  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 16, 33 (PL 34, 467; CSEL 28/1, 402). 58  Augustinus, De trin. XII, 2, 2 (PL 42, 999; CCSL 50, 357).

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7.  Wenn der Geist seine Kenntnisse von den wahrnehmbaren Din­ gen her erhielte, so müßten die Inhalte, die aus der Wahrnehmung entstehen, den passiven Intellekt verändern, was aber nicht möglich ist. Denn gesetzt, daß ein Inhalt nur als Bild im Vorstellungsver­ mögen besteht, so ist er noch nicht der Wirklichkeit, sondern nur der Möglichkeit nach etwas geistig Erkennbares. Der passive Intel­ lekt kann aber nur durch etwas veränderbar sein, was der Wirklich­ keit nach erkennbar ist – wie auch das Gesicht nur durch etwas zu verändern ist, was der Wirklichkeit nach sichtbar ist. Aber der pas­ sive Intellekt ist auch nicht durch einen Inhalt zu verändern, der im aktiven Intellekt existiert, denn dieser ist keinem Inhalt gegenüber aufnahmefähig, da er sich sonst durch nichts vom passiven Intellekt unterscheiden würde. Auch durch einen Inhalt im passiven Intellekt selbst könnte dieser nicht zu verändern sein, denn eine Form, die in einem Subjekt inhäriert, verändert das Subjekt nicht, sondern sie ruht gewissermaßen in ihm. Aber ein geistiger Inhalt kann auch nicht in sich selbst existieren, denn Inhalte sind keine Substanzen, sondern gehören in die Kategorie der Akzidenzien, wie Avicenna in seiner Metaphysik59 ausführt. Also ist es nicht möglich, daß unser Geist von den wahrnehmbaren Dingen her sein Wissen erhält. 8.  Das Aktive steht höher als das Passive, wie Augustinus im 12.  Buch Über den Wortlaut der Genesis60 und Aristoteles im 3. Buch Über die Seele61 lehren. Nun steht aber der Empfangende zu dem, von dem her er empfängt, praktisch wie das Passive zum Ak­ tiven. Da aber der Geist um vieles höher steht als die wahrnehmba­ ren Dinge und als die Sinnesorgane selbst, kann er von ihnen seine Erkenntnisse nicht empfangen. 9.  Aristoteles sagt im 7. Buch der Physik62: »Ruhend wird die Seele wissend und klug«. Aber von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen kann die Seele nur dadurch Wissen empfangen, daß sie von ihnen irgendwie verändert wird. Daher kann die Seele kein Wissen von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen empfangen. 59  Avicenna, Philos. prima III, 8 (ed. S. Van Riet, 162). 60  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 16 (PL 34, 467; CSEL 28/1, 402). 61  Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 18–19. 62  Aristoteles, Phys. VII, 3; 247 b 9–11.

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Dagegen spricht: 1.  Es gilt das Prinzip, das von Aristoteles vertreten und durch die Erfahrung bestätigt wird: Wem ein Sinnesorgan fehlt, dem fehlt eine Art Wissen – wie dem Blinden das Wissen um die Farben fehlt. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn die Seele aus einer anderen Quelle als durch die Sinnesorgane ihr Wissen empfinge. Sie bezieht also ihr Wissen von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen her, und zwar durch die Sinnesorgane. 2.  Unser ganzes Wissen besteht ursprünglich in der Erkenntnis erster unbeweisbarer Prinzipien. Das Wissen um diese entsteht aber in uns aus der Wahrnehmung, wie aus dem hervorgeht, was am Ende der Zweiten Analytiken63 ausgeführt wird. Also entsteht unser ganzes Wissen aus der Wahrnehmung. 3.  Die Natur macht nichts umsonst, weder mehr noch weniger als notwendig. Aber umsonst wären der Seele die Sinnesorgane zuge­ ordnet, wenn sie von ihnen kein Wissen über die Dinge empfinge. Also bezieht unser Geist sein Wissen von den sinnlich wahrnehm­ baren Dingen. Antwort: Zu dieser Frage gab es in der Antike zahlreiche Meinungen. ­Einige behaupteten, unser ganzes Wissen entstehe aus einer äuße­ ren Quelle, die von der Materie getrennt ist. Diese Lehrmeinung wurde in zwei Schulen vertreten: Die Platoniker lehrten erstens, die Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge seien, da von der Ma­ terie getrennt, geistig erkennbar, und zwar nicht der Möglichkeit, sondern der Wirklichkeit nach; zweitens, die individuellen Dinge der Natur entstünden durch Teilnahme der sinnlich wahrnehmba­ ren Materie an diesen Formen; und drittens, der menschliche Geist gelange durch Teilnahme an den Formen zu Wissen. So lehrten sie, daß diese Formen Quelle sowohl des Entstehens wie auch des Wis­ sens seien, wie Aristoteles im 1. Buch der Metaphysik64 referiert. Aber die platonische Lehre wurde durch Aristoteles hinreichend wi­ derlegt. Er zeigte nämlich, daß die Formen der natürlichen Dinge 63  Aristoteles, Anal. post. II, 19; 100 a 3–9. 64  Vgl. Aristoteles, Metaph. I, 15; 991 a 9–14.

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nur in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen selbst zu denken seien, und weiterhin, daß die natürlichen Formen ohne allgemein konzi­ pierte Materie nicht denkbar seien, wie der Stupsnasige nicht denk­ bar ist ohne Nase. Daher vertrat die andere Schule nicht die Lehre von den getrenn­ ten Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, sondern sie behaup­ tete, daß es rein geistige Wesen gebe, d. h. getrennte Substanzen, die sie Intelligenzen und wir Engel nennen. Diesen verdankten wir unser ganzes Wissen. Von daher lehrt Avicenna: Wie die sinnlich wahrnehmbare Materie nur durch das Einwirken eines intelligent Handelnden eine sinnlich wahrnehmbare Form erhält, so gelange auch der menschliche Geist nur durch den Einfluß einer aktiven In­ telligenz zu geistig erkennbaren Formen, wobei die Intelligenz kein Teil der Seele, sondern eine getrennte Substanz sei. Darüber hinaus bedürfe die Seele der Sinne, welche die Seele anregen und zum Wis­ sen bereiten, wie niedere Einflüsse die Materie zur Aufnahme einer Form von der aktiven Intelligenz her vorbereiten. Aber auch diese Lehrmeinung ist unbefriedigend. Denn wenn sie richtig wäre, so stünde die Erkenntnis des menschlichen Geistes in keiner notwen­ digen Abhängigkeit von der Sinneswahrnehmung. Das Mangelhafte dieser Position tritt durch zwei Überlegungen deutlich zutage: Er­ stens, der Verlust eines Sinnesorganes ist unmittelbar mit dem Ver­ lust des spezifischen Wissens verbunden, und zweitens, unser Geist kann nur dann sein erlerntes Wissen bewußt betrachten, wenn er durch sein Vorstellungsvermögen ein Bild gestaltet, was bedeutet, daß eine organische Verletzung des Vorstellungsvermögens diese Betrachtung verhindern kann. Die oben erwähnte Position hebt im übrigen die nächstliegenden Prinzipien der Dinge auf, wenn alles Niedere seine sinnlich und geistig erkennbaren Formen unmittelbar aus einer getrennten Substanz erhält. Andere vertraten die Meinung, die Quelle unseres ganzen Wis­ sens sei in uns selbst. Dies wurde wiederum von zwei Schulen ver­ treten. Die einen glaubten, die menschliche Seele enthalte in sich das gesamte Wissen von allem, daß aber dieses Wissen durch die Verbindung mit dem Leib verdunkelt wurde. Sie lehrten darum, daß wir die Sinnesorgane und das Lernen benötigen, um die Hindernisse des Wissens so gut wie möglich zu beheben, wobei Lernen nichts

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anderes sei als Erinnern. Ihnen schien evident, daß wir durch das Hören und Sehen an Inhalte erinnert werden, die wir früher kann­ ten. Diese Position befriedigt nicht. Gesetzt nämlich, daß die Ver­ bindung der Seele mit dem Leib natürlich ist, dann kann sie unser natürliches Wissen nicht behindern. Darüber hinaus, wenn diese Position richtig wäre, so bliebe unerklärt, warum wir durch den Ver­ lust eines Sinnesorganes auch den gesamten entsprechenden Wis­ sensbereich verlieren müssen. Diese Position verträgt sich auch gut mit der Lehre, die Seelen würden vor den Leibern erschaffen und erst später mit ihnen vereinigt. Denn daraus ergäbe sich, die Zusam­ mensetzung von Leib und Seele wäre nichts Natürliches, sondern sie käme zu der Seele von außen her hinzu. Diese Meinung wird sowohl durch unseren Glauben wie auch durch die Lehren der Phi­ losophen abgelehnt. Andere behaupteten, die Seele selbst sei Ursache ihres Wissens. Sie lehrten nämlich, die Seele empfange ihr Wissen nicht von den wahrnehmbaren Dingen, so als würden durch deren Agieren ir­ gendwelche Ähnlichkeiten von ihnen in die Seele gelangen, son­ dern die Seele selbst bilde in sich diese Ähnlichkeiten zu den Din­ gen aus, um deren Präsenz in sich zu bewirken. Aber auch diese Position befriedigt nicht ganz. Denn nur in Entsprechung mit dem schon Wirklichen wird etwas bewirkt. Wenn also die Seele in sich Ähnlichkeiten zu den Dingen formt, so müßte sie diese Ähnlich­ keiten der Wirklichkeit nach schon in sich beinhalten, so daß diese Meinung mit der oben behandelten letztlich zusammenfällt, wonach alles Wissen über die Wirklichkeit von Natur aus in der Seele sei. Rationaler als alle diese Positionen ist die des Aristoteles, der das Wissen unseres Geistes teils auf eine innere, teils auf eine äußere Quelle zurückführt, d. h. nicht nur auf eine solche, die unabhängig von der Materie ist, sondern auch auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Wird nämlich unser Geist mit den wahrnehmbaren Dingen verglichen, die außerhalb der Seele existieren, so findet sich, daß sich der Geist auf zweifache Weise zu ihnen verhält: der Erkenntnis nach nämlich als das Wirkliche zum bloß Möglichen, insofern als die Dinge, die außerhalb der Seele existieren, nur der Möglichkeit nach erkannt sind, der Geist dagegen in Wirklichkeit. Dies ist der Grund, warum ein aktiver Intellekt in der Seele angenommen wird,

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der das bloß Erkennbare zum Erkannten macht. Dem Sein nach ver­ halten sich die Inhalte im Geist zu den Dingen umgekehrt als das bloß Mögliche zum Wirklichen, insofern als die genau bestimmten Formen der Dinge in unserem Geist bloße Möglichkeiten sind, die Dinge außerhalb des Geistes dagegen deren tatsächliche Verwirkli­ chungen darstellen. Dies ist der Grund, warum ein passiver Intellekt in der Seele angenommen wird, der die Inhalte empfängt, die aus den wahrnehmbaren Dingen abstrahiert werden, um im Licht des aktiven Intellekts dann bewußt erkannt zu werden, ein Licht, das der Geist letztlich transzendenten Substanzen verdankt, vornehm­ lich Gott. Es läßt sich also sagen, daß unser Geist sein Wissen von den wahrnehmbaren Dingen erhält; es läßt sich aber ebenfalls sagen, daß die Seele in sich selbst Ähnlichkeiten der Dinge formt, inso­ fern als die erkennbaren Formen, die von den wahrgenommenen Dingen abstrahiert wurden, im Licht des aktiven Intellekts erkannt und im passiven Intellekt empfangen werden. So ist uns im Licht des aktiven Intellekts gewissermaßen alles Wissen schon ursprünglich eingegeben, und zwar mittels universaler Begriffe, die durch die­ ses Licht augenblicklich erkannt werden und durch welche wir, wie durch universale Prinzipien, über alles andere urteilen und Vor­ kenntnis haben. Demnach hat auch jener Standpunkt seine Berech­ tigung, wonach wir von allem, was wir lernen, schon vorher Kennt­ nis hatten. Zu 1.  Die wahrnehmbaren Formen bzw. die Formen, die aus den wahrnehmbaren Dingen abstrahiert wurden, können auf unseren Geist nur insofern wirken, als sie durch das Licht des aktiven Intel­ lekts immateriell werden; so gleichen sie sich gewissermaßen dem Sein des passiven Intellekts an, auf den sie dann wirken. Zu 2.  Die Wirkung einer höheren und die einer niederen Kraft auf dasselbe Objekt sind nicht vergleichbar, denn die der höheren Kraft ist erhabener. So hat die Erkenntnis der Wahrnehmung durch eine Form, die von den Dingen empfangen wird, nicht die gleiche Wirksamkeit wie die des Intellekts. Durch die Form wird die Wahr­ nehmung in die Erkenntnis von äußeren Zufälligkeiten absorbiert, während der Intellekt zur nackten Washeit der Sache vordringt, die

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er von allem Materiellen trennt. Wird also behauptet, daß die Er­ kenntnis des Geistes auf die der Wahrnehmung zurückzuführen sei, so wird damit keineswegs gesagt, daß die Wahrnehmung schon alles beinhaltet, was der Geist erkennt. Dieser nämlich wird auf Grund dessen, was die Wahrnehmung erkennt, weitergeführt, ähnlich wie die geistige Erkenntnis wahrnehmbarer Dinge zur Erkenntnis gei­ stiger Dinge im Göttlichen hinführt. Zu 3.  Das Wort des Augustinus ist auf diejenige Vorkenntnis bezogen, durch die die Einzeldinge in universalen Prinzipien vor­ erkannt werden. So ist das Erlernte schon vor dem Erlernen in un­ serer Seele. Zu 4.  Ein Mensch kann, bevor er ein bestimmtes Wissen erwirbt, es insofern schon lieben, als er es auf Grund einer gewissen allge­ meinen Kenntnis schon besitzt, sei es, daß er dessen Nützlichkeit erkennt oder sieht, oder sonst irgendwie. Zu 5.  Aus diesem Argument wäre zu entnehmen, daß die Seele sich selbst bilde, weil die Formen, die durch das Wirken des aktiven Intellekts geistig erkennbar wurden, den passiven Intellekt bilden, wie schon gesagt wurde. Dasselbe wäre auch daraus zu erschließen, daß das Vorstellungsvermögen die Formen verschiedener wahrnehm­ barer Wesen bilden kann, wie hauptsächlich dann deutlich wird, wenn wir uns Dinge vorstellen, die wir nicht wahrgenommen haben. Zu 6.  Die ersten Prinzipien, deren Kenntnis uns eingeboren ist, stellen eine gewisse Ähnlichkeit zur ungeschaffenen Wahrheit dar. Insofern als wir auf deren Grund über alles andere urteilen, läßt sich behaupten, daß wir über die Dinge kraft unveränderlicher Ver­ nunftgründe, d. h. auf Grund der ungeschaffenen Wahrheit, urtei­ len. Was Augustinus an dieser Stelle65 sagt, ist auf die »höhere Ver­ nunft« bezogen, die sich der Schau ewiger Wahrheiten hingibt. Die Tätigkeit dieser Vernunft, obzwar der Würde nach an erster Stelle, ist jedoch zeitlich später, denn: »Sie erblicken das Unsichtbare Gottes, das sie durch seine Werke erkannt haben.«66 Zu 7.  In der Aufnahme, in der der passive Intellekt die Inhalte der Dinge aus den Bildern erhält, verhalten sich die Bilder wie Werk­ 65  Augustinus, De trin. XII, 7, 12 (PL 42, 1005; CCSL 50A, 367). 66  Röm. 1, 20.

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zeuge oder wie sekundäre Ursachen, der aktive Intellekt dagegen wie die primäre oder die Hauptursache. Daher entspricht die Wir­ kung im passiven Intellekt den Bedingungen beider, und nicht nur des einen allein. Und daher empfängt der passive Intellekt die For­ men als bewußt Erkanntes durch die Kraft des aktiven Intellekts, aber auch als Ähnlichkeiten bestimmter Dinge aus der Erkenntnis der Bilder. So sind die bewußt erkannten Formen keine an sich exi­ stierenden Dinge, weder im Vorstellungsvermögen noch im aktiven Intellekt; das sind sie ausschließlich im passiven Intellekt. Zu 8.  Obwohl der passive Intellekt an sich erhabener als das Vor­ stellungsvermögen ist, kann dieses in bestimmter Hinsicht dennoch das Erhabenere sein, insofern nämlich als das Vorgestellte die ver­ wirklichte Ähnlichkeit mit einem solchen Wesen ist, das dem passi­ ven Intellekt nur potenziell zukommen kann. So kann das Vorstel­ lungsvermögen gewissermaßen auf den passiven Intellekt einwir­ ken, und zwar kraft des Lichts des aktiven Intellekts, wie auch eine Farbe auf das Sehvermögen kraft des materiellen Lichts einwirken kann. Zu 9.  Die Ruhe, in der das Wissen vollendet wird, schließt zwar die Veränderungen durch die leiblichen Leidenschaften aus, nicht aber diejenige Veränderung und Passivität, von denen gemeinhin die Rede ist, wenn gesagt wird, daß sich jede Aufnahme als passi­ ves Verhalten und Verändert-Werden bezeichnen läßt. So sagt Ari­ stoteles im 3. Buch Über die Seele67: »Erkennen ist gewissermaßen passiv.« 7. Artik el Die siebte Frage lautet: Spiegelt der Geist im Erkennen materieller Dinge die Dreifaltigkeit wider oder nur im Erkennen des Ewigen?68 Im Folgenden Überlegungen, die dafür sprechen, daß das Wider­ spiegeln der Dreifaltigkeit nicht auf das Erkennen des Ewigen be­ schränkt ist:

67  Aristoteles, De an. III, 4; 429 b 24–25. 68  Paralleltexte: Sent. I, d.  3, q.  4, a.  4; Sum. theol. I, q.  93, a.  8.

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1.  Augustinus sagt im 12. Buch Über die Dreieinigkeit69: »Wenn wir die Dreifaltigkeit in der Seele suchen, so suchen wir sie in der ganzen Seele. Wir trennen nicht unsere Überlegungen über Zeit­ liches von der Schau des Ewigen«. Aber nur insofern der Geist die Dreifaltigkeit widerspiegelt, ist er Ebenbild Gottes. Also ist der Geist Ebenbild Gottes nicht nur, indem er sich zur Schau des Ewigen hin­ kehrt, sondern auch, indem er sich praktischen Angelegenheiten hingibt. 2.  Die Seele weist insofern ein Bild der Dreifaltigkeit auf, als in ihr die Gleichheit der Personen und deren Ursprung abgebildet ist. Aber die Gleichheit der Personen wird im Geist eher abgebildet, in­ sofern er Zeitliches, als insofern er das Ewige erkennt, denn das Ewige übersteigt den Geist um Unendliches, während der Geist das Zeitliche nur um Endliches übersteigt. Auch wird in der Erkenntnis des Zeitlichen der Ursprung der Personen genauso abgebildet wie in der Erkenntnis des Ewigen, denn die Erkenntnis geht aus dem Geist hervor und richtet sich auf beide hin; und aus der Erkenntnis geht die Liebe hervor. Also ist das Bild der Dreifaltigkeit im Geist in der Erkenntnis sowohl des Ewigen wie auch des Zeitlichen. 3.  Ähnlichkeit besteht im Vermögen des Liebens, Ebenbildlichkeit jedoch in dem des Erkennens, worauf Petrus Lombardus im 2. Buch der Sentenzen70 hinweist. Aber unser Geist erkennt das Materielle vor dem Ewigen – denn erst über den Weg des Materiellen gelangt er zum Ewigen – und vollkommener als das Ewige, denn das Mate­ rielle erfaßt er erschöpfend, das Ewige aber nicht. Also widerspiegelt der Geist die Dreifaltigkeit im Vergleich eher mit dem Materiellen als mit dem Ewigen. 4.  Das Bild der Dreifaltigkeit wird gewissermaßen auf Grund der geistigen Vermögen erkennbar, wie oben gesagt. Aber ein Vermö­ gen verhält sich auf gleiche Weise zu allen Objekten, auf welche hin es bestimmt ist. Also weist der Geist hinsichtlich aller Objekte das Ebenbild Gottes auf. 5.  Etwas wird vollkommener gesehen, wenn es direkt, als wenn es nur in einer Ähnlichkeit gesehen wird. Während sich nun die Seele 69  Augustinus, De trin. XII, 4, 4 (PL 42, 1000; CCSL 50, 358). 70  Petrus Lombardus, Sent. II, d.  16, c.  3 (ed. Coll. S. Bon., I, 408).

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selbst direkt sieht, sieht sie Gott, solange sie auf dem irdischen Weg ist, nur in Ähnlichkeiten. Also erkennt sich die Seele selbst voll­ kommener, als sie Gott erkennt. Daher ist das Bild der Dreifaltigkeit in der Seele eher in der Erkenntnis ihrer selbst zu finden als in der Erkenntnis Gottes; denn nach Augustinus71 ist das Bild der Dreifal­ tigkeit in uns dort zu finden, wo unsere Natur im höchsten Grade zur Vollendung gelangt. 6.  Dadurch widerspiegelt unser Geist die Gleichheit der Personen, daß sich Gedächtnis, Einsicht und Wille wechselseitig umfassen, wie aus Augustinus72 im 10. Buch Über die Dreieinigkeit hervorgeht. Aber jene gegenseitige Umfassung kann nur dann die Gleichheit der Personen widerspiegeln, wenn sie auch hinsichtlich aller Objekte jener drei Vermögen besteht. Also widerspiegeln die Vermögen des Geistes das Bild der Dreifaltigkeit auf Grund aller ihrer Objekte. 7.  Wie die Ebenbildlichkeit im Vermögen des Erkennens ist, so auch die Gottesliebe im Vermögen des Liebens. Da aber die Gottes­ liebe nicht nur Gott, sondern auch dem Nächsten gilt, ist sie zwei­ fach zu denken: als Liebe zu Gott und zum Nächsten. Entsprechend ist auch die Ebenbildlichkeit im Geist, insofern er Erkenntnis hat von Gott und auch von der Schöpfung. 8.  Die geistigen Vermögen, in denen die Ebenbildlichkeit besteht, werden durch gewisse Haltungen vollendet; dank diesen wird, wie man sagt, die verlorene Ebenbildlichkeit wiederhergestellt und voll­ endet. Aber die Vermögen des Geistes bedürfen keiner eingeübten Haltungen, die sie für das Ewige etwa vorbereiten, sondern nur sol­ cher, die sie für das Zeitliche rüsten, denn die Vermögen der Seele werden durch jene Haltungen geregelt. Im Ewigen aber kann es keine Irrtümer geben, und darum sind Regeln nur im Zeitlichen er­ forderlich. So hängt die Ebenbildlichkeit im Geist mit der Erkennt­ nis eher des Zeitlichen als des Ewigen zusammen. 9.  Die Ebenbildlichkeit unseres Geistes widerspiegelt die unge­ schaffene Dreifaltigkeit vornehmlich durch Konsubstantialität und Gleichheit. Aber diese beiden finden sich auch im sensitiven Vermö­ gen, denn das Wahrnehmbare und das Sinnesorgan sind im Augen­ 71  Augustinus, De trin. XIV, 8, 11 (PL 42, 1044; CCSL 50A, 436). 72  Augustinus, De trin. X, 11, 18 (PL 42, 983; CCSL 50, 330 f.).

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blick der Wahrnehmung vereinigt; und die Sinneserscheinung wird im Sinnesorgan nur auf Grund seiner spezifischen Aufnahmefähig­ keit empfangen. Also findet sich auch im sensitiven Vermögen ein Bild der Dreifaltigkeit, um so mehr im Geist wegen seiner Kenntnis des Zeitlichen. 10.  Metaphorische Ausdrücke gehen auf Ähnlichkeiten zurück, denn, wie Aristoteles73 sagt: »Alles Übertragene fußt auf Ähn­ lichkeit«. Aber bei manchen wahrnehmbaren Geschöpfen liegt der metaphorische Vergleich mit dem Göttlichen näher sogar als beim menschlichen Geist – auf das Beispiel der Sonnenstrahlen weist Dio­ nysius im 4. Kapitel Über die göttlichen Namen74 hin. Also läßt sich sagen, es gibt Wahrnehmbares, das eher das Göttliche widerspiegelt als sogar der Geist. So scheint auch nahe zu liegen, daß der Geist eine Gottesebenbildlichkeit darstellt, indem er Zeitliches erkennt. 11.  Boethius sagt in Über die Dreieinigkeit 75, daß die in der Ma­ terie enthaltenen Formen Bilder immaterieller Prinzipien sind. Nun sind aber solche Formen sinnlich wahrnehmbar. Also sind die sinn­ lich wahrnehmbaren Formen Bilder Gottes. Deswegen scheint der Geist, indem er solche Formen erkennt, Ebenbild Gottes zu sein. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im 15. Buch Über die Dreieinigkeit 76, daß die Dreifaltigkeit im niederen Wissen, »… obwohl zum inneren Menschen gehörend, noch nicht als Bild Gottes zu bezeichnen oder dafür zu halten sei«. Aber das niedere Wissen entsteht dann, wenn der Geist Zeitliches betrachtet; dadurch nämlich wird dieses Wis­ sen von der Weisheit des Ewigen unterschieden. Also ist das Bild der Dreifaltigkeit im Geist, indem er Zeitliches erkennt, nicht zu gewahren. 2.  Die Anordnung der Ebenbildlichkeit soll in der Seele den drei göttlichen Personen entsprechen. Aber der Geist, indem er das Zeit­ liche erkennt, weist diese Ordnung der Personen nicht auf. Denn in 73  Aristoteles, Top. VI, 2; 140 a 10–11. 74  Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 4 (PG 3, 697 B; Dion. I, 161). 75  Boethius, De trin. 2 (PL 64, 1250 D; ed. M. Elsässer, 10). 76  Augustinus, De trin. XV, 3, 5 (PL 42, 1060; CCSL 50A, 467).

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der Erkenntnis des Zeitlichen geht die Einsicht nicht aus dem Ge­ dächtnis wie der Sohn aus dem Vater hervor, sondern umgekehrt das Gedächtnis aus der Einsicht, denn das Gedächtnis enthält die Dinge, die wir früher eingesehen haben. Das Bild im Geist besteht also nicht, wenn er Zeitliches erkennt. 3.  Augustinus sagt im 12. Buch Über die Dreieinigkeit 77: »Wird diese Einteilung (sc. des Geistes, in Schau des Ewigen und Handeln im Zeitlichen) gemacht, so ist allein in dem, was zur Schau des Ewi­ gen gehört, sowohl eine Dreifaltigkeit wie auch ein Bild Gottes zu gewahren; wird der Geist aber zum Handeln im Zeitlichen abge­ lenkt, so wird er zwar irgendeine Dreifaltigkeit aufweisen, aber kein Bild Gottes«. So folgt dasselbe wie oben. 4.  Das Bild der Dreifaltigkeit existiert in der Seele immer, aber nicht die Kenntnis des Zeitlichen, die erworben werden muß. Daher findet sich das Bild der Dreifaltigkeit in der Seele nicht, wenn sie Zeitliches erkennt. Antwort: Die Ähnlichkeit macht zwar den Charakter eines Bildes aus, aber nicht irgendeine Ähnlichkeit, sondern nur eine solche, durch die etwas in seiner Wesensart am ausdrücklichsten verbildlicht wird. Daher werden die Bilder der Dinge eher an ihren Gestalten erkannt, welche die eigentlichen Zeichen ihrer Art sind, als an ihren Farben oder sonstigen Zufälligkeiten. In unserer Seele ist in jeder Form ihres Wissens, ob geistig oder sinnlich, eine Ähnlichkeit zur Drei­ faltigkeit, wie aus Augustinus im elften Kapitel Über die Dreieinigkeit hervorgeht78. Was aber das Bild Gottes betrifft, so ist dieses nur in jenem geistigen Wissen zu gewahren, in dem unser Geist eine ausdrückliche Ähnlichkeit mit Gott aufweist. Wird die geistige Er­ kenntnis nach ihren Objekten eingeteilt, so erscheint sie dreifach: diejenige, durch welche wir Gott erkennen, durch welche wir uns selbst erkennen und durch welche wir das Zeitliche erkennen. In der letzteren Erkenntnis ist keine ausdrückliche Ähnlichkeit zur unge­ 77  Augustinus, De trin. XII, 4, 4 (PL 42, 1000; CCSL 50, 358). 78  Augustinus, De trin. XI, 2, 2–5, 10 (PL 42, 985–992; CCSL 50, 334–

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schaffenen Dreifaltigkeit zu ersehen. Denn während jede Ähnlich­ keit entweder auf Gleichförmigkeit oder auf Analogie beruht, liegt hier weder die eine noch die andere vor: Gleichförmigkeit deswegen nicht, weil die materiellen Dinge Gott noch unähnlicher sind als un­ ser Geist, so daß der Geist durch sein Wissen um sie um nichts got­ tähnlicher wird; und Analogie ebenfalls nicht, weil etwas Zeitliches, was die Kenntnis um sich auf die Seele bzw. auf den bewußten In­ tellekt aufdrückt, nicht vom gleichen Wesen ist wie der Geist selbst, sondern dem Geist als etwas Äußeres gegenübersteht, was mit einer Verbildlichung der Mitwesenheit der ungeschaffenen Dreifaltigkeit nichts zu tun haben kann. Dafür aber gibt es in der zweiten Form der Erkenntnis, nämlich der Selbsterkenntnis unseres Geistes, eine analoge Verbildlichung der ungeschaffenen Dreifaltigkeit, insofern als der Geist, indem er sich selbst erkennt, sein eigenes Wort zeugt und aus beiden – Geist und Wort – die Liebe hervorgeht, ähnlich wie der Vater sich selbst aussprechend sein Wort von Ewigkeit her zeugt und aus beiden – Vater und Wort – der Heilige Geist hervorgeht. Aber in der dritten Form der Erkenntnis, derjenigen nämlich, durch welche der Geist Gott erkennt, wird er selbst mit Gott gleichförmig, wie sich alles Erkennende dem Erkannten angleichen muß. Die Ähnlichkeit der Gleichförmigkeit ist größer als die der Ana­ logie. Gesichtssinn und Farbe sind gleichförmig und daher ähnli­ cher als Gesichtssinn und Intellekt, die sich nur analog ähneln, d. h. nur insofern, als in beiden die Beziehung zum jeweiligen Objekt ähnlich ist. Daher ist die Ähnlichkeit zur Dreifaltigkeit, die darin gründet, daß der Geist Gott erkennt, ausdrücklicher als diejenige, die auf der Selbsterkenntnis des Geistes beruht. Streng genom­ men ist das Bild der Dreifaltigkeit in erster Linie und hauptsäch­ lich Folge der Gotteskenntnis und nur in zweiter Linie oder gewis­ sermaßen Folge der Selbsterkenntnis, und zwar am ehesten dann, wenn sich der Geist als Ebenbild Gottes betrachtet. Denn so bleibt die Betrachtungsweise nicht in sich geschlossen, sondern sie er­ weitert sich bis auf Gott hin. Aber in der Betrachtung des Zeitli­ chen gibt es kein Bild, sondern nur eine gewisse Ähnlichkeit zur Dreifaltigkeit, die wie eine Spur der Dreifaltigkeit zu denken wäre, vergleichbar mit der Ähnlichkeit, die Augustinus in den sensitiven Vermögen gewahrt.

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Zu 1.  Der menschliche Geist, wenn er sich einer zeitlichen Tä­ tigkeit hingibt, weist zweifellos eine Dreifaltigkeit auf; nur ist jene Dreifaltigkeit nicht als Bild der ungeschaffenen Dreifaltigkeit zu be­ zeichnen, wie aus den an gleicher Stelle hinzugefügten Bemerkun­ gen des Augustinus hervorgeht. Zu 2.  Die Gleichheit der göttlichen Personen wird eher durch die Erkenntnis des Ewigen als des Zeitlichen verbildlicht; denn Gleich­ heit besteht nicht zwischen einem Objekt und einem Vermögen, sondern eher zwischen zwei Vermögen. Ferner ist die Ungleichheit zwischen unserem Geist und Gott zwar größer als die zwischen un­ serem Geist und einem zeitlichen Ding, aber die Gleichheit zwi­ schen unserer Erinnerung, bewußter Erkenntnis und Liebe ist grö­ ßer, wenn diese drei auf Gott, als wenn sie auf Zeitliches bezogen sind. Denn Gott ist schon an sich erkennbar und der Liebe würdig, und er wird von jedem Menschen in dem Grad erkannt und geliebt, in dem er dessen Geist gegenwärtig ist, wobei die Gegenwärtigkeit Gottes im Geist eines Menschen eigentlich nichts anderes ist als die Erinnerung an ihn. So gleicht sich die bewußte Gotteserkennt­ nis der Erinnerung an Gott an, wie sich auch die Liebe zu Gott der Erkenntnis angleicht. Aber die materiellen Dinge sind nicht an sich erkennbar und der Liebe würdig, und daher weist der Geist im Hin­ blick auf jene keine solche Gleichheit auf. Auch ist die Entstehungs­ folge nicht dieselbe. Denn die materiellen Dinge werden dadurch unserer Er­inne­rung gegenwärtig, daß sie vorher erkannt wurden, so daß Erinnerung aus bewußter Erkenntnis entsteht und nicht um­ gekehrt. Aber im erschaffenen Geist ist die Entstehungsfolge der Gottes­erkenntnis eben die umgekehrte, da diese die Gegenwärtig­ keit Gottes in der Erinnerung voraussetzt, wodurch der Geist das Licht erhält, das ihm die Erkenntnis ermöglicht. Zu 3.  Obwohl die Erkenntnis, die wir von den materiellen Din­ gen haben, zeitlich früher ist als die Erkenntnis, die wir von Gott haben, hat diese die höhere Würde. Der Einwand, daß unsere Er­ kenntnis der materiellen Dinge vollkommener als die ist, die wir von Gott haben, fällt dagegen nicht ins Gewicht, denn die schwache Erkenntnis, die wir von Gott haben, übersteigt alle anderen, die wir von der Schöpfung haben können. Denn die Würde einer Erkennt­ nis hängt von der Würde des Erkannten ab, wie aus dem Anfang des

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1. Buches Über die Seele79 hervorgeht. Deswegen stellt Aristoteles im 11. Buch Über die Teile der Tiere80 das bescheidene Wissen, das wir vom Himmlischen haben, über alles Wissen, das wir von den niederen Wesen haben. Zu 4.  Obwohl ein Vermögen auf alle seine Objekte bezogen ist, bemißt sich seine Kraft an seinen äußersten Möglichkeiten, wie aus dem 1. Buch Über den Himmel81 hervorgeht. Zu dem also, worin die höchste Vollendung der Vermögen des Geistes besteht, nämlich, Ebenbild Gottes zu sein, gelangen sie durch ihre Beziehung zu Gott, ihrem erhabensten Objekt. Zu 5.  Obwohl der menschliche Geist Gott weniger erkennt als sich selbst, ist seine Gotteskenntnis erhabener und daher gottähnli­ cher, wie schon gesagt wurde, und daher ist durch diese Erkenntnis die Ebenbildlichkeit des Geistes größer. Zu 6.  Obwohl Gleichheit zur Ebenbildlichkeit unseres Geistes gehört, so läßt Gleichheit allein nicht sofort auf Ebenbildlichkeit ­Gottes schließen. Darum ist das Argument nicht schlüssig. Zu 7.  Obwohl die Gottesliebe, welche die Ebenbildlichkeit ver­ vollkommnet, auch dem Nächsten gilt, gilt sie ihm nicht so, als wäre er ihr vornehmlichstes Objekt. Das kann nur Gott sein. Im Nächsten liebt sie nur Gott. Zu 8. Die Vermögen der Ebenbildlichkeit werden auch darin durch Haltungen vollendet, daß diese, nämlich Glaube, Hoffnung, Liebe, Weisheit und andere dergleichen, den Weg zu Gott bereiten. Denn obwohl es in den ewigen Dingen selbst keinen Irrtum gibt, kann unser Intellekt trotzdem in der Bemühung um ihre Erkennt­ nis irren. Für uns ist diese Erkenntnis nämlich nicht ihretwegen, sondern unseretwegen schwierig, wie im 2. Buch der Metaphysik82 ausgeführt wird. Zu 9.  Zwischen dem Wahrnehmbaren und der Wahrnehmung besteht deswegen keine Konsubstantialität, weil das Wahrnehmbare dem Wesen der Wahrnehmung fremd ist. Es besteht auch deswegen 79  Aristoteles, De an. I, 1; 402 a 1–3. 80  Aristoteles, De part. animal. I, 5; 644 b 31. 81  Aristoteles, De caelo I, 11; 281 a 14–15. 82  Aristoteles, Metaph. II, 1; 993 b 7–11.

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keine Gleichheit, weil es Fälle gibt, in denen nicht soviel sichtbar zu sein scheint, wie tatsächlich sichtbar ist. Zu 10.  Es gibt vernunftlose Geschöpfe, die auf Grund einer ge­ wissen Ähnlichkeit viel eher mit Gott zu vergleichen sind als sogar die mit Vernunft begabten. Eine solche Ähnlichkeit stellt die Wirk­ samkeit der Sonnenstrahlen dar, durch welche alles Niedere ver­ ursacht und erneuert wird und die daher mit der alles verursachen­ den göttlichen Güte zu vergleichen sind, worauf Dionysius83 hin­ weist. Dennoch hat das mit Vernunft begabte Geschöpf auf Grund der ihm innewohnenden Eigenschaften mehr Ähnlichkeit mit Gott als irgendein vernunftloses Wesen. Der Umstand, daß die Meta­ phorik häufiger Eigenschaften dieser vernunftlosen Geschöpfe auf Gott überträgt, erklärt sich durch die Unähnlichkeit, wie Dionysius im 2. Kapitel von Über die himmlische Hierarchie84 sagt. Und dies geschieht deswegen häufiger, weil dadurch jede Gefahr eines be­ stimmten Irrtums gebannt wird: Würden nämlich Eigenschaften höherer Geschöpfe auf das Göttliche übertragen, so könnte das nur metaphorisch Gemeinte direkt verstanden werden, was im Falle von niederen Geschöpfen keinem einfallen würde. Zu 11.  Boethius hält die materiellen Formen zwar für Bilder, aber nicht für Bilder Gottes, sondern für Bilder der immateriellen For­ men, d. h. der ideellen Gedanken, die im göttlichen Geist existieren und aus denen die materiellen Formen in perfekter Ähnlichkeit ent­ stehen. 8. Artik el Die achte Frage lautet: Erkennt der Geist sich selbst vom Wesen her oder durch irgendeinen Inhalt?85 Im folgenden Überlegungen, die für das letztere sprechen:

83  Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 4 (PG 3, 697 C; Dion. I, 162). 84  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 2, 3 (PG 3, 141 B; Dion. II, 762). 85  Paralleltexte: ScG III, 46; Sum theol. I, q.  87, a.  1; In De an. III, 6

(ed. Leon. XLV/1, 214–217).

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1.  Aristoteles sagt im 2. Buch Über die Seele86: »Unser Geist er­ kennt nichts ohne Bild«. Aber vom Wesen der Seele gibt es keinerlei Bild. Also kann unser Geist sich selbst nur durch irgendeinen ande­ ren aus Bildern abstrahierten Inhalt erkennen. 2.  Alles, was vom Wesen her erscheint, wird mit größter Sicher­ heit und ohne Irrtum erkannt. Aber über den menschlichen Geist gab es viele Irrtümer, denn die einen sagten, er sei Luft, die anderen, er sei Feuer; diesbezüglich wurde überhaupt viel Unsinniges gedacht. Also wird der Geist nicht vom Wesen her erkannt. 3.  Aber es wurde gesagt, der Geist wisse vom Wesen her, daß er ist, er irre nur dann, wenn er fragt, was er ist. – Dagegen ist ein­ zuwenden: Etwas vom Wesen her wissen heißt, von ihm zu wissen, was es ist; denn das Wesen einer Sache ist dasselbe wie seine Was­ heit. Sollte also die Seele vom Wesen her sich selbst erkennen, so wüßte jeder unfehlbar von seiner Seele, was sie ist, was offenkundig nicht der Fall ist. 4.  Unsere Seele ist eine Form, die mit Materie verbunden ist. Aber jede solche Form wird durch Abstrahieren eines Inhalts von der Ma­ terie und von den Bedingungen der Materie erkannt. Also wird die Seele durch einen abstrahierten Inhalt erkannt. 5.  Das Erkennen ist kein Akt der Seele allein, sondern eines aus Leib und Seele zusammengesetzten Wesens, wie Aristoteles im 1. Buch Über die Seele87 sagt. Aber jeder solche Akt kommt Leib und Seele gemeinsam zu. Also hat der Leib immer einen bestimm­ ten Anteil an jedem Akt des Erkennens. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn der Geist vom Wesen her sich selbst erkennen könnte ohne irgendeinen aus der sinnlichen Wahrnehmung abstrahierten Inhalt. Also erkennt der Geist sich selbst nicht vom Wesen her. 6.  Aristoteles sagt im 3. Buch Über die Seele88, daß der Intellekt sich selbst in der Weise erkennt, wie er auch anderes erkennt. Aber alles andere, was er erkennt, erkennt er nicht vom Wesen her, son­ dern durch Inhalte. Also erkennt die Seele auch sich selbst nicht vom Wesen her. 86  Aristoteles, De an. III, 7; 431 a 16–17. 87  Aristoteles, De an. I, 4; 408 b 13–15. 88  Aristoteles, De an. III, 4; 430 a 2–3.

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7.  Vermögen werden an ihrem spezifischen Verhalten und dieses an seinen Objekten erkannt. Aber das Wesen der Seele kann nur an ihren Vermögen erkannt werden, denn es ist eben diese vermögende Kraft, die eine Sache erkennbar macht. Also kann die Seele ihr We­ sen nur an ihrem Verhalten und an dessen Objekten erkennen. Auf letztere aber kann sie nur über Inhalte schließen. 8.  Wie die Wahrnehmung zum Wahrnehmbaren, so verhält sich auch der Intellekt zum geistig Erkennbaren. Aber zwischen der Wahrnehmung und dem Wahrnehmbaren muß ein gewisser Ab­ stand sein, und dies hat zur Folge, daß z. B. das Auge sich selbst nicht sehen kann. Also setzt auch die geistige Erkenntnis einen gewissen Abstand voraus, so daß der Intellekt sich selbst niemals vom Wesen her erkennen kann. 9.  Aristoteles bemüht sich in den Zweiten Analytiken89 um den Nachweis, daß Prämissen und Schlußsatz in einem logischen Argu­ ment nicht austauschbar sind, denn sonst müßte etwas von Natur aus erkannt werden, d. h., logisch früher und besser erkannt werden als es selbst, was unmöglich ist. Sollte sich also der Geist vom Wesen her erkennen, so wären das Erkennende und das, wodurch erkannt wird, identisch. Und daraus würde dieselbe Unmöglichkeit folgen, nämlich, daß etwas früher und besser erkannt wird als es selbst. 10.  Dionysius sagt im 7. Kapitel Über die göttlichen Namen90, daß die Seele in einer gewissen kreisförmigen Bewegung die Wahr­ heit der existierenden Dinge erkenne. Kreisförmig deswegen, weil sie von etwas ausgeht, um in dasselbe zurückzukehren. So scheint die Seele von sich selbst auszugehen, um dann, nachdem sie äußere Dinge erkannt hat, in die Selbsterkenntnis zurückzukehren. Dem­ nach erkenne sie sich selbst nicht vom Wesen her. 11.  Bleibt die Ursache, bleibt auch ihre Wirkung. Hätte also der Geist die Erkenntnis von sich selbst so vom Wesen her, daß er sich deswegen erkennt, weil ihm sein Wesen gegenwärtig ist, dann hätte er immer die Selbsterkenntnis, denn sein Wesen ist ihm immer ge­ genwärtig. Da es nun unmöglich ist, mehrere Inhalte gleichzeitig zu erkennen, hätte er keine anderen Erkenntnisse. 89  Aristoteles, Anal. post. I, 3; 72 b 23. 90  Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (PG 3, 868 B; Dion. I, 390).

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12.  Das Spätere hat eine größere Komplexität als das Frühere. Nun ist aber das Erkennen später als das Sein. Daher ist im Erkennen des Geistes eine größere Komplexität als in dessen Sein. Aber in der Seele ist das, was sie ist, nicht dasselbe wie das, wodurch sie ist; und daher ist in ihr auch nicht dasselbe das, was sie erkennt, und das, wo­ durch sie erkennt. Also erkennt sich der Geist nicht vom Wesen her. 13.  Die Form und das Geformte können nicht in gleicher Hinsicht identisch sein. Aber der Intellekt, als Vermögen der Seele, ist gewis­ sermaßen eine Form des eigenen Wesens. Also kann das Wesen der Seele nicht Form des Intellekts sein, denn die Form des Intellekts ist das, wodurch etwas erkannt wird. Also erkennt sich der Geist nicht vom Wesen her. 14. Die Seele ist eine an sich bestehende Substanz. Aber die geistig erkennbaren Formen haben keinen eigenen Bestand, sonst würde das Wissen, das aus diesen Formen besteht, nicht zu den Ak­ zidenzien gehören. Also kann das Wesen der Seele keine geistig er­ kennbare Form sein, durch die der Geist sich selbst erkennt. 15.  Während sich Handlungen und Bewegungen nach ihren Zie­ len gruppieren lassen, werden geistig erkennbare Formen der glei­ chen Art eben gemäß der Art erkannt. Aber die Seele Petri ist von der gleichen Art wie die Seele Pauli. Also erkennt die Seele Petri sich selbst auf die gleiche Weise, wie sie auch die Seele Pauli erkennt. Aber die Seele Pauli erkennt sie nicht von ihrem Wesen her, denn dieses ist ihr nicht gegenwärtig. Also erkennt sie auch sich selbst nicht von ihrem Wesen her. 16.  Die Form ist einfacher als das, was durch sie geformt wird. Aber der Geist kann nicht einfacher sein als er selbst. Also wird er nicht durch sich selbst geformt. Da er nun durch das geformt wird, was er kennt, erkennt er sich selbst nicht durch sich selbst. Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt im 9. Buch Über die Dreieinigkeit91: »Der Geist erkennt sich selbst durch sich selbst, denn er ist nicht kör­ perlich. Würde er sich selbst nicht erkennen, könnte er sich nicht lieben.« 91  Augustinus, De trin. IX, 3, 3 (PL 42, 963; CCSL 50, 296).

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2.  Die Glosse92 sagt zu 2 Kor. 12, 2: »Ich kenne einen Menschen …« usw. »Mit dieser geistig zu nennenden Schau werden Dinge erkannt, die weder Körper sind noch irgendwelche körperähnlichen Formen enthalten, wie der Geist und jede Regung der Seele.« Aber, wie in derselben Glosse gesagt wird: »Die geistige Schau zeichnet sich da­ durch aus, daß sie diejenigen Dinge enthält, die keine Bilder haben, die sich von den Dingen zahlenmäßig unterscheiden«. Demnach er­ kennt der Geist sich selbst nicht durch etwas, was von ihm selbst zahlenmäßig unterschieden ist. 3.  Im 3. Buch Über die Seele93 wird gesagt: »In dem, was ohne Materie existiert, ist das Erkannte dasselbe wie das, wodurch es erkannt wird«. Da aber der Geist etwas Immaterielles ist, wird er durch das eigene Wesen erkannt. 4.  Alles, was dem Intellekt als Erkennbares gegenwärtig ist, wird durch den Intellekt erkannt. Aber das Wesen der Seele ist dem Intel­ lekt gegenwärtig, und zwar in der Art eines Erkennbaren. Denn es ist ihm durch seine Wahrheit gegenwärtig, wobei Wahrheit Grund des Erkannt-Werdens ist wie Güte Grund des Geliebt-Werdens. Also erkennt sich der Geist durch das eigene Wesen. 5.  Der Inhalt, durch den etwas erkannt wird, ist einfacher als das durch ihn Erkannte. Aber die Seele hat kein Bild, das einfacher als sie selbst ist und von ihr abstrahiert werden könnte. Also erkennt sich die Seele nicht durch irgendeinen Inhalt, sondern vom Wesen her. 6.  Alles Wissen entsteht dadurch, daß der Wissende dem Gewuß­ ten angeglichen wird. Aber nichts kann der Seele so angeglichen sein wie das eigene Wesen. Also erkennt sie sich selbst durch nichts anderes als durch das eigene Wesen. 7.  Das, was andere Dinge erkennbar macht, kann nur durch sich selbst erkannt werden. Aber die Seele ist für die materiellen Dinge Grund der Erkennbarkeit; denn diese sind nur insofern erkennbar, als wir sie erkennbar machen, wie Averroes in seinem Kommentar

92  Petrus Lombardus, Glossa, PL 192, 80 D; entnommen aus: Augusti­ nus, De Gen. ad litt. XII, 6, 15 (PL 34, 458; CSEL 28/1, 387). 93  Aristoteles, De an. III, 4; 430 a 3–4.

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zum 2. Buch der Metaphysik94 sagt. Also wird die Seele nur durch sich selbst erkannt. 8.  Das Wissen von der Seele hat nach Aristoteles im 1. Buch Über die Seele95 die höchste Gewißheit. Aber das, was mehr Gewißheit hat, wird nicht durch etwas erkannt, was weniger Gewißheit hat. Also geht das Wissen von der Seele nur auf sich selbst zurück. 9.  Jeder Inhalt, mittels dessen unsere Seele erkennt, wird von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen abstrahiert. Aber es gibt nichts Wahrnehmbares, von dem die Seele die eigene Washeit abstrahie­ ren könnte. Also erkennt sich die Seele nicht durch irgendeine Ähn­ lichkeit. 10.  Wie das materielle Licht alles Körperliche tatsächlich sichtbar macht, so macht das Licht der Seele alle materiellen Dinge tatsäch­ lich erkennbar, wie aus dem 3. Buch Über die Seele96 hervorgeht. Aber das materielle Licht selbst wird nicht durch etwas gesehen, was ihm ähnlich ist, sondern nur durch sich selbst. So wird auch die Seele durch das eigene Wesen erkannt, nicht durch irgendeine Ähn­ lichkeit. 11.  Der Philosoph weist im 3. Buch Über die Seele97 darauf hin, daß der aktive Intellekt nicht einmal erkennt und einmal nicht, sondern immer erkennt. Nun kann aber nur er selbst das sein, was er immer erkennt. Und es wäre nicht möglich, daß er sich immer erkennt, wenn er sich durch irgendeinen aus der Wahrnehmung abstra­hierten Inhalt erkennen würde, denn vor dem Abstrahieren könnte er sich dann nicht selbst erkennen. Also erkennt sich unser Geist vom Wesen her. Antwort: Die Frage, ob etwas vom Wesen her erkannt wird, kann verschie­ den verstanden werden, und zwar einmal so, daß der Ausdruck ›We­ sen‹ auf das Erkannte bezogen wird. – So sagen wir, daß etwas in dem Sinne vom Wesen her erkannt wird, daß sein Wesen erkannt 94  Averroes, In Metaph. II, comm. 1 (VIII, 29 B). 95  Aristoteles, De an. I, 1; 402 a 2. 96  Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 15. 97  Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 22.

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wird, bzw. daß es nicht vom Wesen her erkannt wird, wenn nicht sein Wesen, sondern nur Zufälliges und Äußerliches wahrgenom­ men wird – und einmal so, daß ›Wesen‹ auf den Erkennenden bezo­ gen wird, und so sagen wir, daß etwas vom Wesen her erkannt wird, weil unser Wesen das ist, wodurch es erkannt wird. In diesem letzte­ ren Sinne fragen wir, ob die Seele sich selbst vom Wesen her erkenne. Der Klarheit wegen ist vorweg darauf hinzuweisen, daß ein Mensch von seiner Seele eine zweifache Erkenntnis haben kann, wie Augustinus im 9. Buch Über die Dreieinigkeit98 sagt, nämlich eine Erkenntnis, in der die Seele des Individuums sich selbst als eigene Seele erkennt, und eine andere, in der die Seele das erfaßt, was al­ len menschlichen Seelen gemeinsam ist. Durch letztere Erkenntnis, die unterschiedslos auf jede Seele zutrifft, wird die allgemeine Na­ tur der Seele erfaßt, während sich die Erkenntnis, die ein Mensch von seiner Seele als eigene haben mag, an dem Sein mißt, das die Seele in eben diesem Individuum hat. Dadurch wird erkannt, daß die Seele existiert, wie z. B. wenn ein Mensch gewahrt, daß er eine Seele hat, während durch die andere Erkenntnis klar wird, was eine Seele ist und wie sie sich von ihren Akzidenzien unterscheidet. Im Hinblick auf die Erkenntnis, die wir von der eigenen Seele haben mögen, ist die bloße Zustandserkenntnis von der bewußten Erkenntnis zu unterscheiden. Was diese letztere angeht, d. h. die Er­ kenntnis, die darin besteht, daß jemand bewußt gewahrt, daß er eine Seele hat, behaupte ich, daß hier eine Seele durch ihre eigenen Akte erkannt wird. Das Individuum begreift, daß es eine Seele hat und daß es lebt und existiert, weil es gewahrt, daß es wahrnimmt, Ein­ sicht hat und andere Handlungen eines geistigen Lebens vollbringt. Daher sagt der Philosoph im 9. Buch der Nikomachischen Ethik99: »Wir nehmen wahr, daß wir wahrnehmen, und wir erkennen, daß wir erkennen; und weil wir dies gewahren, erkennen wir, daß wir sind.« Aber keiner wird sich bewußt, daß er erkennt, ohne daß er etwas erkennt; die Erkenntnis, daß wir erkennen, setzt voraus, daß wir etwas erkennen. So gelangt die Seele dadurch zur bewußten Er­ kenntnis von der eigenen Existenz, daß sie erkennt oder wahrnimmt. 98  Augustinus, De trin. IX, 6, 9 (PL 42, 965 f.; CCSL 50, 301). 99  Aristoteles, Eth. Nic. IX, 9; 1170 a 31–33.

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Was die Zustandserkenntnis angeht, behaupte ich, die Seele er­ kennt sich so vom Wesen her, daß sie dadurch allein, daß ihr ihr Wesen gegenwärtig ist, die Möglichkeit hat, zur bewußten Selbst­ erkennt­nis zu gelangen. Jemand, der über ein bestimmtes Zustands­ wissen verfügt, hat allein durch das Vorhandensein dieses Wissens die Möglichkeit, alles bewußt zu erkennen, was in diesem Wissen enthalten ist. Aber damit die Seele zu der Erkenntnis gelangt, daß sie existiert, und sich dessen bewußt wird, was in ihr vor sich geht, ist kein erworbenes Zustandswissen erforderlich. Dazu genügt das bloße Wesen der Seele, das dem Geist gegenwärtig ist. Denn aus diesem Wesen gehen die Akte hervor, in denen der Geist sich selbst erkennt. Wird aber von demjenigen Wissen der Seele gesprochen, in dem der menschliche Geist durch eine allgemeine oder artspezifische Er­ kenntnis definiert wird, ist wieder eine Unterscheidung zu treffen, denn die Entstehung des Wissens schließt zwei Momente ein: Es muß zuerst eine Erfahrung geben und dann über das Erfahrene ge­ urteilt werden. Daher kann das auf die Natur der Seele bezogene Wissen im Hinblick sowohl auf das Erfahren wie auch auf das Ur­ teilen betrachtet werden. Was das Erfahren betrifft, behaupte ich, daß wir die allgemeine Natur der Seele durch die Inhalte erkennen, die wir aus der Wahrnehmung abstrahieren. Denn im Bereich des begrifflich Erkennbaren nimmt unsere Seele eine Endstellung ein, die sie mit dem Urstoff im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren vergleichbar macht, worauf Averroes in seinem Kommentar zum 3. Buch Über die Seele100 hinweist. Wie nämlich der Urstoff die Mög­ lichkeit hat, alle wahrnehmbaren Formen anzunehmen, so auch un­ ser passiver Intellekt alle begrifflich faßbaren Inhalte. Wie also der Urstoff in der Ordnung des Wahrnehmbaren, so verhält sich auch unser passiver Intellekt in der Ordnung des geistig Erkennbaren als reine Möglichkeit. Wie die Materie erst durch die hinzukommende Form wahrnehmbar wird, so wird auch der passive Intellekt erst durch einen hinzukommenden Inhalt erkennbar. Daher kann sich unser Geist nicht dadurch selbst erkennen, daß er sich unmittelbar 100  Averroes, In De an. III, comm. 5 u. 17 (ed. F. S. Crawford, 387 f.; 436 f.).

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erfährt, sondern dazu muß aus dem, was er erfährt, etwas Zusätz­ liches hinzukommen. Auch der Begriff des Urstoffes ist nur so zu denken, daß er das ist, was Formen aufnehmen kann. Dies wird ersichtlich aus der Art, in der die Philosophen die Natur der Seele untersuchten. Weil die menschliche Seele nämlich die universalen Naturen der Dinge erkennt, lehrten sie, daß der Inhalt, wodurch wir erkennen, etwas Immaterielles sei, da er sonst etwas Individu­ iertes wäre und entsprechend unfähig, uns eine Erkenntnis des Uni­ versalen zu vermitteln. Und weil der erkennbare Inhalt etwas Im­ materielles sei, lehrten sie, der Intellekt sei eine Sache, die von der Materie nicht abhängig sei, und von dort aus fuhren sie fort, auch die anderen auf Erkenntnis bezogenen Eigenschaften der Geistseele abzuleiten. In etwa diesem Sinne sagt Aristoteles im 3. Buch Über die Seele101, daß der Intellekt »ein Erkennbares sei wie jedes an­ dere«. Und dazu sagt Averroes in seinem Kommentar102: »Der In­ tellekt wird durch sein Abbild erfaßt, genau wie alles andere, was erkennbar ist«, wobei das genannte Abbild nichts anderes ist als ein erkennbarer Inhalt. Aber im Intellekt ist dieser Inhalt ein bewußt Erkanntes, im Unterschied zu allem anderen, wo er nur der Mög­ lichkeit nach erkannt wird. Wird nun unsere Erkenntnis von der allgemeinen Natur der Seele im Hinblick auf das Urteil betrachtet, mit dem wir festlegen, die Seele sei so, wie wir vorhin gesehen haben, so wird eine Erkenntnis der Seele dadurch angestrebt, daß »wir die unerschütterliche Wahr­ heit schauen, aus der heraus wir, soweit es uns gelingt, streng de­ finieren, nicht wie der Geist eines jeglichen Menschen ist, sondern wie er nach unveränderlichen Maßstäben sein soll«, wie Augustinus im 9. Buch Über die Dreieinigkeit 103 sagt. Aber diese unerschütterli­ che Wahrheit schauen wir in der unserem Geist eingeprägten Ähn­ lichkeit mit ihr, insofern uns gewisse Prinzipien, die wir auf natür­ liche Weise erkennen, unmittelbar einleuchten, in deren Licht wir alles andere untersuchen und beurteilen.

101  Aristoteles, De an. III, 4; 430 a 2–3. 102  Averroes, In De an. III, comm. 15 (ed. F. S. Crawford, 434). 103  Augustinus, De trin. IX, 6, 9 (PL 42, 966; CCSL 50, 301).

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Daraus ergibt sich, daß unser Geist sich selbst erkennt in gewis­ ser Weise durch das eigene Wesen, wie Augustinus sagt, in gewisser Weise aber auch durch ein Abbild oder einen Inhalt, wie Aristoteles und Averroes sagen, aber auch in gewisser Weise, indem wir die un­ erschütterliche Wahrheit schauen, wie wiederum Augustinus sagt. Und so ist den Argumenten beider Denker zu antworten. Zu 1.  Weil die Inhalte der in der Außenwelt erkennbaren Dinge dem Intellekt nicht eingeboren sind, kann er von diesen Dingen nur dadurch Erkenntnis erwerben, daß er aus den Bildern des Vorstel­ lungsvermögens einen Inhalt abstrahiert. Da aber das eigene Wesen ihm sehr wohl eingeboren ist, braucht er die Erkenntnis von ihm nicht aus Bildern des Vorstellungsvermögens zu erwerben, wie er auch nicht die Erkenntnis vom Wesen der Materie aus einem na­ türlich Wirkenden erwirbt, sondern nur von deren äußerer Gestalt, die sich zur natürlichen Materie verhält wie eine geistig erkennbare Form zur wahrnehmbaren Materie. Darauf weist Averroes in sei­ nem Kommentar zum 3. Buch Über die Seele104 hin. Daher hat der Geist, auch ohne von Bildern abstrahieren zu müssen, ein Zustands­ wissen von sich selbst, wodurch er sich selbst erkennen kann. Zu 2.  Niemand irrte jemals darin, daß er von seinem eigenen Le­ ben nicht wußte, denn dies gehört zur Erkenntnis, wodurch e­ inem Menschen als Einzelwesen das bewußt wird, was in der eigenen Seele vor sich geht. Wegen eben dieser Erkenntnis wurde oben ge­ sagt, daß die Seele von ihrem Wesen her eine Zustandserkenntnis von sich selbst besitzt. Was die Erkenntnis der Natur der eigenen Seele betrifft, haben sich allerdings viele geirrt. Dieser Teil des Ein­ wandes ist berechtigt. Zu 3.  Aus dem eben Ausgeführten geht auch die Antwort zum dritten Einwand hervor. Zu 4.  Obwohl die Seele mit der Materie als deren Form verbun­ den wird, so wird sie der Materie doch nicht so untertan, daß sie selbst zu einem materiellen Ding würde. Darum kann sie durch Ab­ strahieren von der Materie nicht aktiv und bewußt erkennbar wer­ den, sondern nur der Möglichkeit nach. 104  Averroes, In De an. III, comm. 18 (ed. F. S. Crawford, 438 f.).

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Zu 5.  Dieser Einwand handelt von dem bewußten Wissen um die eigene Existenz, zu der die Seele, wie gesagt, nur dadurch gelangen kann, daß sie ihre Akte und deren Objekte gewahrt. Zu 6.  Jenes Wort des Philosophen ist auf den Umstand bezogen, daß der Intellekt von sich selbst erkennt, was er ist, nicht aber auf jenes Zustandswissen, wodurch er erkennt, daß er ist. Zu 7.  Ähnliches gilt für den siebten Einwand. Zu 8.  Die Wahrnehmung erfolgt durch Agieren des Wahrgenom­ menen auf das Sinnesorgan, was nur an einem Ort geschehen kann, zu dem ein bestimmter Abstand erforderlich ist. Aber das Verhalten des Intellekts ist nicht auf einen bestimmten Ort eingegrenzt; daher ist der Vergleich nicht angebracht. Zu 9.  Es wird in zweifachem Sinne gesagt, daß etwas durch an­ deres erkannt wird. Erstens kann aus der Erkenntnis von etwas auf die des anderen geschlossen werden; so wird gesagt, daß Schlußsätze durch Prämissen erkannt werden. Auf diese Art kann nichts durch sich selbst erkannt werden. Im zweiten Sinne kann etwas so durch etwas anderes erkannt werden, daß es in dem anderen enthalten ist. In diesem Fall muß das Erkannte nicht in einer anderen Erkennt­ nis enthalten sein als das, wodurch es erkannt wird. So kann etwas durch sich selbst erkannt werden, wie auch Gott sich selbst durch sich selbst erkennt. Daher kann sich auch die Seele selbst durch ihr Wesen erkennen. Zu 10.  In der Tat ist im Erkenntnisvorgang der Seele eine kreis­ förmige Bewegung festzustellen, wenn die Vernunft nach der Wahr­ heit existierender Dinge fragt. Dionysius spricht davon, um zu zei­ gen, inwiefern die Erkenntnis unserer Seele mangelhafter als die der Engel ist. Diese kreisförmige Bewegung liegt aber darin, daß die Vernunft auf dem Weg des Entdeckens aus Prämissen zu Schlußsät­ zen gelangt, um dann auf dem Weg des Urteilens die Schlußsätze auf die Prämissen zurückzuführen. Aber dies alles hat mit der Frage der Selbsterkenntnis nichts zu tun. Zu 11.  Etwas, wovon wir durch einen Inhalt im passiven Intellekt ein Zustandswissen haben, müssen wir nicht immer bewußt erken­ nen. Ähnlich muß auch der Geist sich selbst nicht immer bewußt er­ kennen, denn diese Erkenntnis ist für uns ein Zustandswissen, weil dem Intellekt das Wesen des Geistes immer gegenwärtig ist.

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Zu 12.  Das, wodurch etwas erkannt wird, und das, was erkannt wird, verhalten sich zueinander nicht wie das, wodurch etwas ist, und das, was ist: Denn Sein ist der Akt des Seienden; aber Erkennen ist nicht der Akt dessen, was erkannt wird, sondern des Erkennen­ den. Daher vergleicht sich das, wodurch etwas erkannt wird, mit dem Erkennenden, wie das, wodurch etwas ist, mit dem, was ist. Wie also in der Seele das, wodurch sie ist, und das, was sie ist, ver­ schieden sind, so ist auch das, wodurch sie erkennt, d. h. das geistige Vermögen als Quelle des erkennenden Aktes, von ihrem Wesen ver­ schieden. Das bedeutet aber nicht, daß der Inhalt, durch den etwas erkannt wird, etwas anderes sein muß als das Erkannte. Zu 13.  Da das geistige Vermögen im Hinblick auf den Akt des Existierens die Form der Seele selbst ist, hat es in der Seele sein Sein, wie eine Eigenschaft in einem Subjekt. Im Hinblick auf den Akt des Erkennens kann aber das geistige Vermögen umgekehrt selbst Sub­ jekt sein, welches durch die Form der Seele bestimmt wird. Zu 14.  Die permanente Zustandserkenntnis, durch die die Seele von sich selbst weiß, ist nicht als Akzidens zu betrachten; dies ist nur der aktive Übergang zur bewußten Selbsterkenntnis. Daher sagt auch Augustinus im 9. Buch Über die Dreieinigkeit 105, daß die Selbsterkenntnis der Seele substantiell dem Denken gegenwärtig ist. Zu 15. Dieser Einwand beruht auf derjenigen Erkenntnis der Seele, nach welcher die Seele gemäß der artspezifischen Natur er­ kannt wird, die alle Seelen gemeinsam haben. Zu 16.  Obwohl der Geist sich selbst erkennt, kann er nicht die Form des Geistes sein, weil nichts die eigene Form sein kann. Doch verhält er sich insofern in der Art einer Form, als der Akt, wodurch er sich selbst erkennt, in ihm selbst sein Ziel erreicht. So braucht er nicht einfacher als er selbst zu sein, außer möglicherweise wegen der Bedingungen unseres Verstandes. Wir nämlich denken uns das Erkannte als etwas Einfacheres als der erkennende Geist, den das Erkannte vollendet.

105  Augustinus, De trin. IX, 4, 7 (PL 42, 964; CCSL 50, 299).

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Beantwortung der Gegeneinwände: Zu 1.  Augustinus will sagen, daß der Geist sich selbst insofern durch sich selbst erkennt, als er durch sich selbst die Möglichkeit hat, sich aktiv zu äußern und dadurch sich selbst bewußt zu werden, in­ dem er gewahrt, daß er existiert. So verhält er sich zu sich selbst wie ein Inhalt, der festgehalten im Geist dem Geist die Möglichkeit ver­ leiht, das Wesen, von dem der Inhalt herrührt, zu betrachten. Aber die Natur des Geistes selbst kann der Geist nur aus der Betrachtung seines Objektes erkennen, wie schon gesagt wurde. Zu 2.  Das Wort der Glosse »… die geistige Schau beinhaltet sol­ che Dinge … usw.«106 ist eher auf das Objekt der Erkenntnis bezo­ gen als auf die erkennenden Vermögen. Dies geht aus einer Betrach­ tung dessen hervor, was Lombardus über die verschiedenen Arten des Sehens sagt. In derselben Glosse wird nämlich die Behauptung aufgestellt, daß Körper durch das körperliche Sehen erfaßt wer­ den wie auch Ähnlichkeiten der Körper durch das seelische Sehen, d. h. durch Vorstellungen, daß aber in der geistigen Schau das gese­ hen wird, was weder körperlich noch dem Körperlichen ähnlich ist. Wenn dies auf die Vermögen bezogen wäre, so gäbe es keinen Unter­ schied zwischen dem körperlichen Sehvermögen und dem seelischen Vorstellungsvermögen, denn auch das körperliche Sehen geschieht durch eine Ähnlichkeit des gesehenen Körpers. Es ist nämlich nicht der Stein selbst im Auge, sondern eine Ähnlichkeit des Steins. Das Unterscheidende dieser zwei Vermögen liegt darin, daß das körper­ liche Sehen sein Ziel im gesehenen Körper selbst erreicht, das Sehen des Vorstellungsvermögens hingegen in einem Bild des Körpers, das sein absolutes Objekt ist. Kehren wir uns nun dem Satz des Lombar­ dus107 wieder zu: »Die geistige Schau gilt solchen Dingen, die keine Ähnlichkeiten haben, die von den Dingen selbst unterschieden sind«. Daraus ist nicht zu entnehmen, die geistige Schau habe mit Inhalten nichts zu tun, die von den geistig erkannten Dingen unterschieden sind, sondern nur, daß diese geistige Schau im Wesen des Erkann­ 106  Petrus Lombardus, Glossa super II Cor. 12, 2 (PL 192, 80 B–C); ent­ nommen aus: Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 6, 15 (PL 34, 474; CSEL 28/1, 387). 107  Vgl. Anm. 104.

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ten selbst ihr Ziel erreicht, nicht in irgendeiner Ähnlichkeit. Mit dem körperlichen Sehen nämlich wird der Körper selbst gesehen, und zwar nicht so, als würde irgendeine Ähnlichkeit eines Körpers gesehen, sondern so, daß durch eine Ähnlichkeit der Körper selbst gesehen wird. Ähnlich wird in der Schau des Geistes das Wesen des Erkannten selbst erfaßt, ohne daß irgendeine Ähnlichkeit des Er­ kannten gesehen wird, obwohl durch eine Ähnlichkeit manchmal jenes Wesen gesehen werden mag. Dies zeigt die Erfahrung; wollen wir nämlich die Seele erkennen, so erdichten wir uns kein Bild der Seele, das wir dann anschauen, wie dies im Sehen des Vorstellungs­ vermögens geschieht, sondern wir betrachten das Wesen der Seele selbst, was aber nicht ausschließt, daß jene Sicht auch durch einen Inhalt stattfinden könnte. Zu 3.  Dieses Wort des Aristoteles gilt für einen Intellekt, der gänz­ lich von der Materie getrennt ist, wie Averroes in seinem Kommen­ tar zur gleichen Stelle erklärt. Es gilt also für den Geist eines Engels, nicht eines Menschen. Sonst würde folgen, daß das spekulative Wis­ sen dasselbe sei wie das Gewußte. Die Unmöglichkeit dieser Position wird von dem Kommentator an der gleichen Stelle nachgewiesen. Zu 4.  Die Seele ist sich selbst gegenwärtig wie etwas geistig Er­ kennbares, d. h. so, daß sie erkennbar ist, aber nicht, daß sie durch sich selbst erkannt wird, sondern, wie gesagt wurde, nur durch ihr Objekt. Zu 5.  Die Seele wird nicht durch einen Inhalt erkannt, den sie selbst abstrahiert hat, sondern durch den Inhalt ihres Objektes, der ihr auch zur Form wird, insofern als sie jenes bewußt erkennt. Also gilt die Schlußfolgerung nicht. Zu 6.  Obwohl unsere Seele sich selbst möglichst ähnlich ist, kann sie trotzdem nicht Quelle der Selbsterkenntnis sein, als wäre sie ein geistig erkennbarer Inhalt. Denn unser Intellekt verhält sich zum geistig Erkennbaren ähnlich wie der Urstoff zum Wahrnehmbaren. Der Urstoff, wie aus dem Kommentar des Averroes zum 3. Buch Über die Seele108 hervorgeht, kann sich nicht wahrnehmbar machen. Zu 7.  Unsere Seele ist zwar Grund der Erkennbarkeit anderer Dinge, aber nicht wie ein Mittel des Erkannt-Werdens, sondern nur 108  Averroes, In De an. III, comm. 5 u. 17 (ed. F. S. Crawford, 387 f.; 436 f.).

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insofern, als die materiellen Dinge durch einen Akt der Seele geistig erkennbar gemacht werden. Zu 8.  Unser Wissen von der Seele hat nach diesem Argument die höchste Gewißheit, weil ein jeder in sich die Erfahrung macht, daß er eine Seele hat und daß die Handlungen der Seele in ihm sind. Doch ist am allerschwierigsten zu wissen, was die Seele sei. Darum fügt Aristoteles zu der angeführten Stelle hinzu, daß es »überhaupt zu den schwierigsten Dingen gehört, in dieser Frage zu verläßlichen Ergebnissen zu gelangen«.109 Zu 9.  Die Seele wird nicht durch einen Inhalt erkannt, der von den wahrnehmbaren Dingen abstrahiert ist, denn sonst wäre jener Inhalt eine Ähnlichkeit der Seele. Sie wird vielmehr dadurch er­ kannt, daß sie die Natur eines Inhalts betrachtet, der vom Wahr­ nehmbaren abstrahiert ist, und dadurch die Natur der Seele ent­ deckt als das, was solche Inhalte aufnimmt. Analog wird die Materie durch die Form erkannt. Zu 10.  Das körperliche Licht wird an sich nicht gesehen, außer insofern, als es dem Sichtbaren zum Grund der Sichtbarkeit wird und zur Form, die dem Sichtbaren das tatsächlich sichtbare Sein gibt. Aber das Licht selbst der Sonne wird von uns nur durch jene Ähn­ lichkeit gesehen, die in unserem Gesichtssinn existiert. Denn nicht die Form des Steines ist in unserem Auge, sondern dessen Ähnlich­ keit, und so kann auch die Form selbst des Sonnenlichts nicht im Auge sein. In vergleichbarer Weise wird von uns auch das Licht des aktiven Intellekts an sich selbst insofern erkannt, als es der Grund ist, warum auch geistig erkennbare Inhalte bewußt erkannt werden. Zu 11.  Jenes Wort des Aristoteles läßt sich auf zweifache Weise auslegen, je nach der Auffassung vom aktiven Intellekt. Einige Den­ ker nämlich haben die Ansicht vertreten, daß der aktive Intellekt et­ was rein Geistiges sei, daß er auf jeden einzelnen Intellekt wirke und daß er demgemäß immer aktiv erkenne wie alles, was rein geistig ist. Andere behaupten, der aktive Intellekt sei ein Vermögen der Seele, das zwar nicht einmal erkennt und einmal nicht, aber nur deswegen, weil das einmal Erkennen und einmal nicht eine Folge des passiven Intellekts ist. Denn der Akt, wodurch ein Mensch erkennt, entsteht 109  Aristoteles, De an. I, 1; 402 a 10–11.

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aus der Zusammenwirkung von aktivem und passivem Intellekt. Der aktive Intellekt nämlich empfängt nichts von außen; sondern dies ist das Kennzeichnende des passiven Intellekts. Von dem also, was zur Betrachtung eines Inhalts erforderlich ist, fehlt seitens des aktiven Intellekts nichts; läge es nur an ihm, so würden wir immer erkennen. Das Fehlende ist nur auf der Seite des passiven Intellekts, dessen Ergänzung von Inhalten abhängt, die aus der Wahrnehmung abstrahiert werden. 9. Artik el Die neunte Frage lautet: Erkennt unser Geist seelische Haltungen von seinem Wesen her oder durch irgendeine Ähnlichkeit?110 Es scheint, daß er sie durch sein Wesen erkennt, denn: 1.  Zu 2 Kor. 12, 2, »Ich kenne einen Menschen …«, enthält die Glosse111 Folgendes: »Die Liebe erscheint uns nicht in einer Weise, wenn sie gegenwärtig ist in der Form, durch welche sie ist, und in einer anderen, wenn sie abwesend in einem bloßen ihr ähnlichen Bild ist; sondern insofern, als sie durch den Geist erkannt werden kann, wird sie durch den einen besser, durch den anderen weniger gut erkannt.« Also wird die Liebe durch ihr Wesen und nicht durch eine Ähnlichkeit erkannt, und dasselbe gilt für jede andere Haltung der Seele. 2.  Augustinus sagt im 10. Buch Über die Dreieinigkeit 112: »Denn was könnte der Erkenntnis so gegenwärtig sein wie das, was dem Geist gegenwärtig ist?« Aber Haltungen der Seele sind dem Geist vom Wesen her gegenwärtig. Also werden sie vom Wesen her durch den Geist erkannt. 3.  »Stets nämlich trifft dasjenige, aufgrund dessen ein jedes zu­ trifft, jenem gegenüber in höherem Grade zu.«113 Aber die Haltun­ 110  Paralleltexte: Sent. III, d.  23, q.  1, a 2; Quodlib. VIII, q.  2, a.  2 (ed. Leon. XXV/1, 57–60); Sum. theol. I, q.  87, a.  2. 111  Petrus Lombardus, Glossa, PL 192, 81 A); entnommen aus: Augu­ stinus, De Gen. ad litt. XII, 6, 15 (PL 34, 474; CSEL 28/1, 387). 112  Augustinus, De trin. X, 7, 10 (PL 42, 979; CCSL 50, 323). 113  Aristoteles, Anal, post. I, 2; 72 a 29–30 [Übers. W. Detel].

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gen des Geistes sind der Grund, warum alles, was die Haltungen miteinschließen, erkannt wird. Vor allem anderen daher werden diese Haltungen von ihrem Wesen her durch den Geist erkannt. 4.  Alles, was der Geist durch eine Ähnlichkeit erkennt, war zu­ vor in der Wahrnehmung. Da aber die Haltungen des Geistes nie in der Wahrnehmung waren, erkennt sie der Geist nicht durch eine Ähnlichkeit. 5.  Je näher etwas dem Geist steht, desto besser wird es durch den Geist erkannt. Aber eine Haltung steht dem erkennenden Vermö­ gen des Geistes näher als ein Akt, und der Akt näher als sein Objekt. Also erkennt der Geist die Haltung besser als den Akt oder dessen Objekt, und so erkennt er die Haltung von deren Wesen her und nicht durch ihren Akt oder dessen Objekt. 6.  Augustinus sagt im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis114, daß der Geist und das Erlernte mit einer Erkenntnis gleicher Art erfaßt werden. Aber der Geist wird vom Wesen her durch den Geist erkannt. Also wird auch das Erlernte durch sein Wesen er­ kannt, und dasselbe gilt für die anderen Haltungen des Geistes. 7.  Wie sich das Gute zu den Gefühlen verhält, so auch das Wahre zum Intellekt. Aber das Gute bewegt die Gefühle nicht durch irgen­ deine Ähnlichkeit; also erkennt auch der Intellekt das Wahre nicht durch eine Ähnlichkeit. Also wird alles, was der Intellekt erkennt, durch dessen Wesen, nicht durch eine Ähnlichkeit erkannt. 8.  Augustinus sagt im 13. Buch Über die Dreieinigkeit 115: »Nicht so wird der Glaube von demjenigen gesehen, der ihn im Herzen hat« – nämlich wie die Seele eines anderen Menschen aus den Bewegun­ gen seines Körpers in Erscheinung tritt –, »sondern es erfaßt ihn ein absolut sicheres Wissen, und das Gewissen ruft es aus«. Nun muß aber der Glaube, den das Gewissen ausruft, dem Gewissen gegen­ wärtig sein. So wird der Glaube durch den Geist insofern erkannt, als er vom Wesen her dem Geist eben gegenwärtig ist. 9.  Eine Form stimmt am meisten mit dem überein, dessen Form sie ist. Da aber die Haltungen des Geistes gewissermaßen Formen des Geistes sind, stimmen sie am meisten mit ihm überein. Also 114  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 7, 18 (PL 34, 459; CSEL 28/1, 389). 115  Augustinus, De trin. XIII, 1, 3 (PL 42, 1014; CCSL 50A, 383).

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werden sie unmittelbar von ihrem Wesen her durch den Geist er­ kannt. 10.  Der Intellekt erkennt zwar den in ihm existierenden erkenn­ baren Inhalt, aber nicht durch einen anderen Inhalt, sondern von seinem Wesen her, denn sonst gäbe es einen unendlichen Regreß. Aber die Inhalte, die vom Wesen her durch den Intellekt erkannt werden, verleihen ihm seine Form. Da nun der Intellekt auch durch Haltungen seine Form erhält, werden auch diese von ihrem Wesen her erkannt. 11.  Wird eine Haltung durch den Geist erkannt, so nur durch die Schau des Intellekts, die aber nur für etwas gelten kann, was vom Wesen her erkannt wird. Also werden geistige Haltungen vom We­ sen her durch den Geist erkannt. Dagegen spricht: 1.  Augustinus sagt im 10. Buch der Bekenntnisse116: »Siehe die zahllosen Felder und Grotten und Höhlen meines Gedächtnisses, die von allerlei Art unzählbarer Dinge erfüllt sind: Dort sind Bilder von Körpern, das Gelernte ist gegenwärtig und auch die geistigen Gefühle sind dort in welchen Vorstellungen auch immer, denn sie bleiben auch dann im Gedächtnis, wenn sie den Geist nicht mehr be­ wegen«. Daraus scheint hervorzugehen, daß die geistigen Gefühle nicht vom Wesen her, sondern durch irgendwelche Vorstellungen erkannt werden. Dasselbe gilt für die Tugenden, d. h. für die Hal­ tungen, die diesen Gefühlen Gestalt verleihen. 2.  Augustinus sagt im 11. Buch Vom Gottesstaat 117: »Höher als diese körperlichen Sinne steht ein anderer Sinn, nämlich der des inneren Menschen, mit dem wir das Gerechte und das Ungerechte wahrnehmen, das Gerechte durch einen geistigen Inhalt, das Unge­ rechte durch das Fehlen eines solchen«. Dabei nennt er das Gerechte und das Ungerechte Haltungen, und zwar tugendhafte bzw. laster­ hafte. Also werden die Haltungen der Seele durch Inhalte, nicht durch deren Wesen erkannt.

116  Augustinus, Conf. X, 17, 26 (PL 32, 790; CCSL 27, 168). 117  Augustinus, De civ. Dei XI, 27 (CCSL 41, 341; CCSL 48, 347).

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3.  Der Intellekt erkennt nur das durch sein Wesen, was ihm ge­ genwärtig ist. Aber die Haltungen der Tugenden sind nicht dem In­ tellekt, sondern den Gefühlen gegenwärtig. Also werden die Tugen­ den vom Intellekt nicht durch ihr Wesen erkannt. 4.  Die Schau des Intellekts, da höherstehend als das Sehen des Leibes, hat die größere Unterscheidungskraft. Aber schon im kör­ perlichen Sehen ist die Erscheinung, durch welche etwas gesehen wird, immer etwas anderes als das von ihr gesehene Objekt. Also werden auch die Haltungen, die in der geistigen Schau gesehen wer­ den, durch den Intellekt nicht auf Grund ihres Wesens erkannt, son­ dern durch einen Inhalt. 5.  Es wird nur das begehrt, was erkannt wird, wie Augustinus in Über die Dreieinigkeit 118 gezeigt hat. Nun werden aber Haltungen der Seele auch von Menschen begehrt, die sie nicht haben. Dennoch werden sie von diesen Menschen erkannt. Sie werden aber nicht durch ihr Wesen erkannt, denn sie sind diesen Menschen nicht ge­ genwärtig. Also werden sie durch einen Inhalt erkannt. 6.  Hugo von St. Viktor119 unterscheidet im Menschen drei ver­ schiedene Augen, nämlich das Auge der Vernunft, das der Einsicht und das des Fleisches. Mit dem Auge der Einsicht, sagt er, wird Gott geschaut; dieses Auge sei nach der Sünde zerstört worden. Mit dem fleischlichen Auge nehmen wir die körperlichen Dinge wahr, und dieses Auge sei nach der Sünde intakt geblieben. Mit dem Auge der Vernunft schließlich werden geistig erkennbare Geschöpfe er­ kannt, und dieses Auge sei nach der Sünde getrübt; geistig erkenn­ bare Dinge erkennen wir zwar, aber nur teilweise. So die Lehre. Nun aber werden Dinge, die wir nur teilweise sehen, nicht durch ihr We­ sen erkannt. Da also die Haltungen des Geistes geistig erkennbar sind, erkennt sie der Geist nicht durch ihr Wesen. 7.  Gott ist auf Grund seines Wesens dem Geist viel eher gegen­ wärtig als eine Haltung, denn er ist im innersten Kern aller Dinge. Doch hat die Gegenwärtigkeit Gottes in unserem Geist nicht zur Folge, daß der Geist Gott durch sein Wesen schaut. Also werden 118  Augustinus, De trin. X, 1, 1 (PL 42, 971; CCSL 50, 311). 119  Hugo von St. Viktor, De sacramentis I, 10, 2 (PL 176, 329 C; ed. R.

Berndt, Münster 2008, 225).

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auch Haltungen in ihrem Wesen vom Geist nicht geschaut, obwohl sie ihm gegenwärtig sind. 8.  Der Intellekt ist das Vermögen der Erkenntnis. Soll er aber et­ was auch bewußt erkennen, so muß ihn etwas zu dieser Erkenntnis bewegen. Aber eine Haltung, insofern dem Geist gegenwärtig, ist vom Wesen her nicht imstande, den Übergang vom geistigen Kön­ nen zum geistigen Akt zu bewirken, sonst müßte sie immer bewußt erkannt sein. Also ist das Wesen der Haltungen nicht das, wodurch sie erkannt werden. Antwort: Wie die Seele auf zweierlei Weise erkannt wird, so auch ihre Hal­ tungen: Einmal erkennt jemand, ob ihm eine Haltung gegenwärtig ist, und einmal erkennt er, um was für eine Haltung es sich handelt. Aber diese zwei Erkenntnisarten verhalten sich zu den Haltungen der Seele anders als zur Seele selbst. Denn die Erkenntnis, wodurch jemand weiß, ob er eine bestimmte Haltung hat oder nicht, setzt die Erkenntnis voraus, durch welche er weiß, um was für eine Haltung es sich handelt. Ich kann nämlich nicht wissen, ob ich die Haltung der Keuschheit habe, ohne zu wissen, was Keuschheit ist. In Bezug auf die Seele selbst verhält sich die Sache umgekehrt: Denn viele wissen, daß sie eine Seele haben, ohne zu wissen, was die Seele ist. Diese Verschiedenheit erklärt sich wie folgt: Erst durch die Hand­ lungen, die nur auf die Seele und ihre Haltungen zurückzuführen sind, wissen wir, daß wir eine Seele mit bestimmten Haltungen überhaupt haben. Ferner ist eine bestimmte Art Handlung auf eine bestimmte Haltung zurückzuführen. Wird also eine bestimmte Haltung an der aus ihr entspringenden Handlungsart erkannt, so wird das Was der Haltung erkannt; wenn ich z. B. weiß, daß ich mich durch die Keuschheit unzulässiger sexueller Vergnügungen enthalte, dann weiß ich von der Keuschheit, was sie ist. Aber die Handlungen entspringen nicht dem Wesen der Seele, sondern ihren Vermögen. Werden also Handlungen der Seele wahrgenommen, so wird erkannt, daß in jener irgendein Grund solcher Handlungen sein muß, wie z. B. das Vermögen, sich zu bewegen oder sinnlich wahrzunehmen; damit ist aber die Natur der Seele noch nicht er­ kannt.

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Wird von den Haltungen insofern gesprochen, als wir von ihnen wissen, was sie sind, so ist eine zweifache Erkenntnisart festzustel­ len, nämlich Erfassen und Urteilen. Das Erfassen ist eine auf Hand­ lungen und deren Objekte bezogene Erkenntnis, in der das Wesen des Erkannten nicht eingesehen wird. Die Kraft eines Vermögens der Seele nämlich ist auf ein bestimmtes Objekt gerichtet; seine Handlung zielt in erster Linie und hauptsächlich auf dieses Objekt. Auf das, wodurch die Seele auf dieses Objekt gerichtet ist, kann sie sich nur durch eine gewisse Rückwendung richten. Z. B. sehen wir, weil das Gesicht primär auf Farbe gerichtet ist, aber auf den Akt des Sehens kann es sich nur durch eine gewisse Rückwendung richten, in der es nicht nur die Farbe sieht, sondern auch, daß es sieht. Aber diese Rückwendung, die im Falle der Wahrnehmung unvollständig bleibt, wird vollständig im Falle des Intellekts, der sich mit einer totalen Umkehr zum Erkennen des eigenen Wesens hinkehrt. So­ lange wir auf dem irdischen Weg sind, verhält sich unser Intellekt zu den Gestalten des Vorstellungsvermögens ähnlich wie das Gesicht zur Farbe, zwar, wie es im 3. Buch Über die Seele120 heißt, nicht so, als würde er jene Gestalten so erkennen wie das Gesicht die Farbe, sondern so, daß der Intellekt das erkennt, von dem die Bilder eben nur Bilder sind. Daher ist die Handlung unseres Intellekts anfangs darauf gerichtet, was durch die Gestalten des Vorstellungsvermö­ gens zu erfassen ist. Dann kehrt er sich zur Erkenntnis des eigenen Aktes hin und erst danach zu den Inhalten, Haltungen, Vermögen und schließlich zum Wesen des eigenen Geistes. Diese alle verhalten sich zum Intellekt nicht wie primäre Objekte, sondern sie sind das, wodurch er zu seinem Objekt getragen wird. Das Urteil erfolgt immer mit Rücksicht auf ein Kriterium, das bei Haltungen das Ziel ist. Von diesem haben wir auf dreierlei Art Kenntnis. Bei mancher Haltung wird sie durch die Wahrnehmung gewonnen, ob Gesicht oder Gehör, wie wenn wir sehen oder von anderen hören, worin die Nützlichkeit z. B. der Grammatik oder der Medizin liegt. Manchmal ist die Erkenntnis eingeboren; dies sieht man am ehesten in den Tugenden, deren Ziele durch die natürli­ che Vernunft aufgezeigt werden. Und manchmal kann die Erkennt­ 120  Aristoteles, De an. III, 12; 431 a 14–15.

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nis nur göttlich eingegeben sein, wie im Falle von Glauben oder Hoffnung oder ähnlichen Haltungen. Da uns auch die natürliche Erkenntnis im Grunde durch göttliche Erleuchtung zuteil wird, sind wir in beiden Fällen auf die ungeschaffene Wahrheit angewiesen. So entsteht in uns das Urteil, das unsere Erkenntnis von der Na­ tur ­einer Haltung vervollständigt, entweder aus der Wahrnehmung oder aus der ungeschaffenen Wahrheit. Die Erkenntnis, die uns sagt, ob wir Haltungen des Geistes in uns haben oder nicht, ist entweder eine Zustandserkenntnis oder eine bewußte Erkenntnis. Bewußt erkennen wir aus Akten, deren Hal­ tungen wir in uns spüren, daß wir diese Haltungen haben. Daher sagt der Philosoph im 2. Buch der Nikomachischen Ethik121: »Den Genuß, der sich aus einer Handlung ergibt, müssen wir für ein Zei­ chen einer Haltung nehmen«. Was die Zustandserkenntnis angeht, werden die Haltungen des Geistes durch sich selbst erkannt. Eine Zustandserkenntnis von etwas ist nämlich nichts anderes als die Möglichkeit, ihren Inhalt bewußt zu erkennen. Allein dadurch, daß Haltungen vom Wesen her im Geist sind, kann der Geist insofern zur bewußten Erkenntnis von ihnen fortschreiten, als sie ihm die Möglichkeit bieten, sich zu den Akten hinzuwenden, in denen die Haltungen bewußt erkannt werden. Zum Unterschied zwischen der Zustands- und der bewußten Erkenntnis verhalten sich die Haltun­ gen des erkennenden und des affektiven Teils des Geistes jeweils anders: Auf eine Haltung des erkennenden Teils geht nicht nur der Akt zurück, an dem die Haltung erkannt wird, sondern auch die Erkenntnis, durch die erkannt wird, daß jene bewußte Erkenntnis selbst aus einer erkennenden Haltung hervorgeht. Dagegen geht auf eine Haltung des affektiven Teils zwar eine Handlung zurück, an der die Haltung erkannt werden kann, aber nicht die Erkenntnis, wodurch die Haltung erkannt wird. So wird klar, daß aus einer Hal­ tung des erkennenden Teils, die vom Wesen her im Geist existiert, die eigene Selbsterkenntnis unmittelbar hervorgeht, während aus einer Haltung des affektiven Teils keine Erkenntnis, sondern nur Er­ kennbares hervorgeht. So sagt Augustinus im 10. Buch der Bekennt-

121  Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1104 b 3–5.

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nisse122, daß die Künste durch ihre Gegenwärtigkeit, die Affekte der Seele hingegen durch Vorstellungen erkannt werden. Zu 1.  Das Wort jener Glosse ist auf den Gegenstand, nicht auf das Wodurch der Erkenntnis bezogen. Erkennen wir die Liebe, so betrachten wir das Wesen der Liebe selbst, nicht eine bloße Ähn­ lichkeit wie in der Sicht des Vorstellungsvermögens. Zu 2.  Es wird deswegen behauptet, der Geist erkenne nichts bes­ ser als das, was in ihm ist, weil er von sich aus nicht die Möglichkeit haben muß, zur Erkenntnis dessen zu gelangen, was außer ihm ist, wohl aber über Mittel verfügt, sich dessen bewußt zu werden, was in ihm ist, obwohl dies auch durch anderes zu erkennen sein kann. Zu 3.  Eine Haltung kann nicht der Grund sein, warum anderes erkannt wird, in dem Sinne, daß die Erkenntnis von A mit der Er­ kenntnis von B gegeben ist, wie die Erkenntnis der Prämissen eines Arguments zu der des Schlußsatzes führt. Vielmehr wird die Seele durch die Haltung nur in die Lage versetzt, etwas zu erkennen. Die Haltung ist also keine eindeutige Ursache einer Erkenntnis, wie eine Erkenntnis die andere verursacht, sondern sie ist eher eine zweideu­ tige Ursache zu nennen, weil die gleiche Benennung für Ursache und Folge eigentlich nicht angezeigt ist. Wir sagen, die Farbe Weiß macht weiß. Strenggenommen aber ist die Farbe selbst nicht weiß, sondern sie ist das, wodurch etwas weiß wird. Ähnlich ist eine Hal­ tung als solche nicht in dem Sinne Ursache der Erkenntnis, daß mit ihr die Erkenntnis gegeben wäre, sondern eher so, daß mit ihr et­ was gegeben ist, wodurch die Erkenntnis entstehen kann. Deswegen braucht die Haltung nicht besser erkannt zu sein als das, was durch sie erkannt wird. Zu 4.  Die Seele erkennt eine Haltung nicht durch einen von der Wahrnehmung abstrahierten Inhalt, sondern durch die Formen der Objekte, die durch die Haltung erkannt werden. Allein dadurch, daß die Objekte erkannt werden, wird auch die Haltung erkannt, und zwar als Quelle der Objekterkenntnis. Zu 5.  Obwohl die Haltung dem Vermögen näher steht als dessen Akt, so steht doch der Akt dem Objekt näher, das definitionsgemäß 122  Augustinus, Conf. X, 17, 26 (PL 32, 790; CCSL 27, 168).

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das Erkannte darstellt. Nun aber ist das Vermögen definitionsge­ mäß Quelle der Erkenntnis. Und daher, während der Akt früher als die Haltung erkannt wird, geht die Erkenntnis eher auf die Haltung zurück. Zu 6.  Das Erlernte ist eine Haltung des intellektiven Teils der Seele. Im Hinblick auf das Zustandswissen wird das Erlernte auf die gleiche Weise wie der Geist durch den erkannt, der es hat, d. h. da­ durch, daß es ihm gegenwärtig ist. Zu 7.  Die Bewegung, d. h. das Verhalten des erkennenden Teils, wird im Geist selbst vervollständigt. Deswegen muß im Geist eine Ähnlichkeit des zu erkennenden Objekts sein, vor allem dann, wenn jenes Objekt nicht vom Wesen her mit dem Geist als Gegenstand der Erkenntnis verbunden ist. Aber die Bewegung, d. h. das Verhalten des affektiven Teils, geht von der Seele aus und endet bei der Sache. Daher muß im affektiven Teil keine ihm Form verleihende Ähnlich­ keit der Sache sein wie im Intellekt. Zu 8.  Der Glaube ist eine Haltung des intellektiven Teils. Allein dadurch, daß er dem Geist gegenwärtig ist, kehrt er ihn zu dem Akt des Intellekts hin, in dem er selbst sichtbar wird. Mit den Haltungen im affektiven Teil verhält es sich anders. Zu 9.  Die Haltungen des Geistes weisen die größtmögliche Ver­ hältnismäßigkeit zu ihm auf, wie die Form zum Subjekt oder die Vollendung zu dem, was der Vollendung fähig ist – nicht aber wie das Objekt zum Vermögen. Zu 10.  Der Intellekt erkennt den erkennbaren Inhalt nicht auf Grund seines Wesens, auch nicht durch irgendeinen Inhalt des In­ halts, sondern dadurch, daß er, wie gesagt, das Objekt, aus dem der Inhalt hervorgegangen ist, durch eine Art Rückwendung erkennt. Zu 11.  Die Erwiderung ist in dem zu sehen, was zum vorigen Einwand gesagt wurde. Beantwortung der Gegeneinwände: Zu 1.  Augustinus unterscheidet im angeführten Zitat drei Arten des Erkennens: Die erste ist darauf bezogen, was außerhalb der Seele ist, von dem wir nur durch in uns entstehende Bilder oder Ähn­ lichkeiten Kenntnis haben können. Die zweite Art gilt dem, was im intellektiven Teil des Geistes ist, von dem Augustinus sagt, daß es

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durch seine Gegenwärtigkeit erkannt wird, da wir erst daraus zum Akt des Erkennens fortschreiten. In diesem Akt werden die Prin­ zipien des Erkennens erfaßt. In diesem Sinne ist zu verstehen, daß alles Erlernte durch seine Gegenwärtigkeit erkannt wird. Die dritte Art gilt dem, was im affektiven Teil ist und dessen Erkennbarkeit nicht auf den Intellekt, sondern auf die Gefühle zurückgeht. Dies al­ les wird nicht durch seine Gegenwärtigkeit erkannt – denn nur den Gefühlen ist es gegenwärtig –, sondern nur durch die Vorstellung oder den Begriff, der im Intellekt die Erkennbarkeit der affektiven Inhalte unmittelbar bedingt. Trotzdem ist auch die Gegenwärtigkeit der Haltungen im affektiven Teil der Seele ein indirekter Grund der eigenen Erkennbarkeit; denn durch diese Haltungen werden die Ta­ ten hervorgerufen, an denen der Intellekt die Haltungen erkennt. In dieser Hinsicht kann gesagt werden, daß sie gewissermaßen durch ihre Gegenwärtigkeit erkannt werden. Zu 2.  Der geistige Inhalt, durch welchen die Gerechtigkeit er­ kannt wird, ist nichts anderes als die Definition selbst der Gerech­ tigkeit, an deren Mangel die Ungerechtigkeit zu erkennen ist. Aber dieser Inhalt bzw. diese Definition wird nicht von der Gerechtig­ keit abstrahiert, sondern ist der spezifische Unterschied, der ihr Sein selbst ausmacht. Zu 3.  Das Erkennen ist strenggenommen nicht Sache des Intel­ lekts, sondern der Seele durch den Intellekt, ähnlich wie auch das Erwärmen nicht Sache der Wärme ist, sondern des Feuers durch die Wärme. Auch sind die zwei Teile der Seele, der intellektive und der affektive, nicht so zu denken, als hätten sie getrennte Sitze in der Seele, so wie das Sehen und Hören, die in verschiedenen Or­ ganen ihren jeweiligen Sitz haben, sondern alles im affektiven Teil ist auch dem erkennenden Teil gegenwärtig. Daher wendet sich die Seele durch den Intellekt zurück, nicht nur, um den Akt des Intellekts, sondern auch, um den des Affekts zu erkennen, wie sie sich auch durch den Affekt rückwendet, nicht nur, um den Akt des Affekts, sondern auch, um den des Intellekts zu begehren und zu lieben. Zu 4.  Diejenige Unterscheidungsfähigkeit, die zur Vollendung der Erkenntnis gehört, ist nicht die Fähigkeit, Erkanntes vom Erken­ nenden zu unterscheiden, denn sonst wäre die Erkenntnis, wodurch

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Gott die eigene Erkenntnis erkennt, im höchsten Grade unvollendet. Vielmehr ist sie die Fähigkeit, Erkanntes vom Nicht-Erkannten zu unterscheiden. Zu 5.  Die Haltungen des Geistes werden auch von solchen Men­ schen erkannt, die sie nicht haben, und zwar nicht durch eine Er­ kenntnis, die das erfaßt, was in der eigenen Seele ist, sondern die erkennt, was sie sind oder daß sie in anderen sind. Dies erfolgt nicht auf Grund von Gegenwärtigkeit, sondern auf andere Weise, wie be­ reits ausgeführt. Zu 6.  Es wird mit Recht behauptet, das Auge der Vernunft sei im Hinblick auf die geistig erkennbaren Geschöpfe getrübt. Denn die bewußten Vernunfterkenntnisse sind auf sinnliche Wahrnehmun­ gen angewiesen, während das geistig Erkennbare wesentlich höher steht als das sinnlich Wahrnehmbare. Zum Erkennen des Geistigen ist das Auge der Vernunft also unzureichend. Trotzdem können In­ halte der Vernunft zu Handlungen führen, in denen sie, wie gesagt, erkannt werden. Zu 7.  Obwohl Gott unserem Geist gegenwärtiger ist als alle Hal­ tungen, so können wir doch aus allem, von dem wir ein natürliches Wissen haben, das Wesen Gottes nicht so klar erkennen wie das Wesen dieser Haltungen, denn sie stehen in einer genauen Verhält­ nismäßigkeit zu ihren Objekten und zu den Handlungen, die auf die Haltungen unmittelbar zurückgehen. Diese Verhältnismäßigkeit läßt sich von Gott nicht aussagen. Zu 8.  Die Gegenwärtigkeit einer Haltung im Geist hat zwar nicht zur unmittelbaren Folge, daß der Geist ein bewußtes Wissen von der Haltung haben muß. Aber dennoch wird der Geist durch eine Hal­ tung vervollständigt, aus der heraus eine Handlung hervorgerufen werden kann, an der die Haltung zu erkennen ist.

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10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Kann jemand wissen, daß er Gott liebt?123 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Das, was vom Wesen her gesehen wird, wird mit größter Si­ cherheit wahrgenommen. Nach Augustinus124 aber wird die Liebe des Menschen zu Gott durch den Liebenden von deren Wesen her erkannt. Also wird derjenige, der die Liebe zu Gott hat, auch wissen, daß er sie hat. 2.  Vor allem Handlungen, die aus der Liebe zu Gott entspringen, sind es, die Freude verursachen. Aber die Haltungen der morali­ schen Tugenden werden an der Freude erkannt, die sie durch tu­ gendhafte Handlungen verursachen, wie Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik125 deutlich macht. Also wird auch die Liebe zu Gott durch den erkannt, der sie hat. 3.  Augustinus sagt im 8. Buch Über die Dreieinigkeit 126: »Wer seinen Bruder liebt, kennt die Liebe besser als den Bruder, den er liebt.« Wer aber den Bruder liebt, weiß mit größter Gewißheit, daß der Bruder existiert. Also weiß der Mensch mit größter Gewißheit, daß die Liebe, mit der er Gott liebt, in ihm ist. 4.  Die Neigung der Liebe zu Gott ist stärker als die irgendeiner anderen Tugend. Aber von den anderen Tugenden weiß ein Mensch mit großer Gewißheit, daß er sie hat, und zwar deswegen, weil er zu deren Handlungen neigt. Einem Menschen, der z. B. die Tugend der Gerechtigkeit hat, fiele eine Tat der Ungerechtigkeit schwer, eine Tat der Gerechtigkeit hingegen leicht, worauf Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik127 hinweist, und eine solche Leichtigkeit kann jeder in sich selbst merken. Also kann auch jeder merken, daß er die Liebe zu Gott hat. 5.  Aristoteles sagt im 2. Buch der Zweiten Analytiken128, es sei 123  Paralleltexte: Sent. I, d.  27, q.  1, a.  4; Sent. III, d.  23, q.  1, a.  2; Super 2 Cor., cap. 12, lect. 1; Sum theol. I-II, q.  112, a.  5. 124  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 24, 50 (PL 34, 474; CSEL 28/1, 416). 125  Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1104 b 3. 126  Augustinus, De trin. VIII, 8, 12 (PL 42, 957; CCSL 50, 286). 127  Aristoteles, Eth. Nic. V, 15; 1137 a 17. 128  Aristoteles, Anal. post. II, 19; 99 b 25–26.

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unmöglich, daß wir erhabene Haltungen haben, ohne es zu wissen. Nun ist aber die Liebe zu Gott die erhabenste Haltung. Also ließe sich nicht sagen, jemand habe die Liebe zu Gott und wisse nicht, daß er sie hat. 6.  Die Gnade ist ein geistiges Licht. Aber Menschen, die ein Licht überströmt, werden es mit Sicherheit merken. Also werden diejeni­ gen, denen die Gnade zuteil wird, dies mit Sicherheit wissen. Und das gleiche gilt für die Liebe zu Gott, die jeder hat, der in der Gnade steht. 7.  Nach Augustinus im Buch Über die Dreifaltigkeit 129 kann kei­ ner etwas Unbekanntes lieben. Nun kann aber ein Mensch die Liebe zu Gott in sich lieben; also kann er wissen, daß er die Liebe zu Gott hat. 8.  »Die Salbung lehrt euch alles, was zum Heil notwendig ist«.130 Aber zum Heil ist die Liebe zu Gott notwendig. Also weiß jeder, der die Liebe zu Gott hat, daß er sie hat. 9.  Aristoteles sagt im 2. Buch der Nikomachischen Ethik131: »Man weiß mit größerer Sicherheit von seiner Tugend als von dem, was man erlernt hat«. Aber jemand, der über Erlerntes verfügt, weiß es, und dasselbe gilt von einer Tugend. Hat er also die Liebe zu Gott, dann weiß er es auch, denn diese ist die größte Tugend. Dagegen spricht: 1.  In Pred. 9, 1 steht: »Niemand weiß, ob er der Liebe oder des Hasses würdig ist«. Aber ein Mensch, der die Liebe zu Gott hat, ist der Liebe Gottes würdig, denn in Spr. 8, 17 heißt es: »Die mich lie­ ben, liebe ich«. Also weiß niemand, daß er die Liebe zu Gott hat. 2.  Keiner kann mit Sicherheit wissen, wann Gott kommen wird, um in ihm zu wohnen; denn im Buch Hiob 9, 11 heißt es: »Wenn er zu mir gekommen sein wird, werde ich ihn nicht sehen.« Aber durch die Liebe zu Gott wohnt Gott im Menschen, wie es in 1 Joh. 4, 16 heißt: »Der in der Liebe zu Gott bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm«; also kann keiner mit Sicherheit wissen, daß er die Liebe zu Gott hat. 129  Augustinus, De trin. X, 1, 1 (PL 42, 971; CCSL 50, 311). 130  1 Joh. 2, 27. 131  Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1106 b 14.

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Antwort: Ein Mensch, der die Liebe zu Gott hat, kann auf Grund einiger Anzeichen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er sie hat, z. B. wenn er sich zu geistigen Werken bereit sieht oder Böses wirksam verabscheut oder anderes, was die Liebe zu Gott im Menschen bewirkt. Aber mit Sicherheit kann er nur durch göttli­ che Offenbarung wissen, daß er die Liebe zu Gott hat. Der Grund hierfür liegt in dem, was im vorigen Artikel festgestellt wurde: Das Wissen, wodurch jemand erkennt, daß er eine geistige Haltung hat, setzt ein anderes Wissen voraus, nämlich das, wodurch er von jener Haltung weiß, was sie ist. Aber das Kriterium, über das Was einer Haltung zu urteilen, kann nur das klar erfaßte Ziel sein, dem die Haltung zugeordnet ist. Nun ist aber das unmittelbare Objekt und Ziel der Liebe zu Gott eben Gott selbst, das höchste Gut, mit dem uns die Liebe verbindet; und dies ist ein Ziel, das wir nicht fassen können. Daher kann keiner aus der Regung der Liebe, die er in sich spürt, wissen, ob sie ausreichend ist, ihn so mit Gott zu vereinigen, daß sie dem Begriff der Liebe zu Gott gerecht wird. Zu 1.  Die Liebe zu Gott wird insofern vom Wesen her erkannt, als sie vom Wesen her Ursprung einer Handlung der Liebe ist, in der beide, Ursprung und Handlung, erkannt werden; daher ist sie vom Wesen her Ursprung auch des Wissens um sich, jedoch nicht direkt. Daraus folgt aber nicht, daß die Liebe zu Gott mit Sicherheit erkannt wird, denn jene Regung, die wir in uns spüren – insofern sie etwas Wahrnehmbares ist – kann wegen der Ähnlichkeit zwischen der kreatürlichen Liebe und der Liebe zu Gott, die nur von Gott ge­ schenkt wird, keine zuverlässige Bekundung sein. Zu 2.  Die erlebte Freude, die uns aus der Liebe zu Gott zufließt, kann auch aus einer gelernten Haltung herrühren; daher ist jene Freude kein ausreichender Beweis für die Liebe zu Gott, denn aus Anzeichen, die sich verschieden deuten lassen, läßt sich nichts mit Sicherheit erschließen. Zu 3.  Der Geist kann zwar eine sichere Erkenntnis von der Liebe haben, die ein Mensch für seinen Bruder hegt, aber er kann kein si­ cheres Wissen haben, daß diese Liebe im Grunde auch zugleich die Liebe zu Gott ist.

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Zu 4.  Obwohl die Neigung, durch die uns die Liebe zu Gott zum Handeln drängt, diese Liebe gewissermaßen erkennbar macht, so reicht sie trotzdem nicht aus, daß wir diese Liebe zu Gott als solche eindeutig erkennen können; denn keiner kann wissen, daß er eine bestimmte Haltung hat, ohne zu wissen, was genau das Objekt oder das Ziel jener Haltung ist, durch welches allein sie beurteilt werden kann. Und dieses Wissen ist in der Liebe zu Gott nicht gegeben. Zu 5.  Aristoteles sagt über die vollendeten Haltungen des intel­ lektiven Teils der Seele, daß sie ihrem Träger nicht verborgen bleiben könnten, sondern daß er von ihrer Vollendung sogar Gewißheit habe. Daher wisse jeder Wissende, daß er weiß, »wobei zum Wissen drei­ erlei gehört: erstens die Kenntnis des Grundes, warum etwas der Fall ist; zweitens die Kenntnis des Umstandes, daß der erkannte Grund Grund eben dieser Tatsache ist; und drittens die Kenntnis des weite­ ren Umstandes, daß der genannte Grund diese Tatsache notwendig macht«.132 Ähnlich weiß ein Mensch, der die Haltung der Grundprin­ zipien der Erkenntnis besitzt, daß er diese Haltung hat. Aber die Liebe zu Gott wird nicht vollendet durch das sichere Wissen von ihr, son­ dern durch die Stärke der Gefühle; Ähnlichkeit besteht hier also nicht. Zu 6.  Die Ähnlichkeit im Metaphorischen muß nicht vollständig sein. Es wird nicht deswegen von Licht statt Gnade gesprochen, weil die Gnade für das geistige Sehen etwas so evident Notwendiges ist wie das physikalische Licht für das körperliche Sehen, sondern vor­ nehmlich deswegen, weil die Gnade Quelle des geistigen Lebens ist, wie das Licht der Himmelskörper gewissermaßen den Ursprung des Lebens in den niederen Körpern bedingt, worauf Dionysius hinweist. Der Metapher liegen aber auch andere Ähnlichkeiten zugrunde. Zu 7.  Der Ausdruck ›die Liebe zu Gott haben‹ kann auf verschie­ denen Sprachstufen stehen: einmal als Aussage und einmal als no­ minaler Ausdruck. Es kann nämlich von jemand ausgesagt werden, er habe die Liebe zu Gott, und auch über den Ausdruck selbst bzw. seine Bedeutung kann etwas ausgesagt werden. Nun bezieht sich der affektive Teil der Seele nicht auf Behauptungen und Verneinungen, er geht vielmehr ganz in das Verhalten zu den wirklichen Dingen auf, insofern sie ihm begehrens- oder hassenswert erscheinen. Aber 132  Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 b 9–12.

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in der Aussage ›Ich will die Liebe zu Gott haben‹ hat der Ausdruck ›die Liebe zu Gott haben‹ die Funktion eines Nomens. Es ist, als würde gesagt: ›Das, was ich will, ist die Liebe zu Gott haben‹. Und es besteht kein Grund, warum ich dies nicht wissen könnte. Denn auch dann, wenn ich die Liebe zu Gott nicht habe, kann ich wissen, was es bedeutet, sie zu haben. So kann auch jemand sie haben wollen, der sie nicht hat. Daraus folgt aber nicht, daß ein Mensch in dem Sinne von sich selbst wissen kann, daß er die Liebe zu Gott hat, daß er die Wahrheit der Aussage weiß. Zu 8.  Zum Heil ist zwar notwendig, daß der Mensch die Liebe zu Gott hat, aber nicht, daß er es weiß. Im Gegenteil ist es eher förder­ lich, daß er es nicht weiß, denn so bleiben Anstrengung und Demut besser erhalten. Das angeführte Zitat »Die Salbung lehrt euch alles, was zum Heil notwendig ist«, beschränkt sich auf das, was zum Heil notwendig ist. Zu 9.  Die Sicherheit, welche die Tugend vor allen Künsten aus­ zeichnet, ist keine Sicherheit im Wissen, sondern im verstärkten Drang zu einem einheitlichen Ziel. Denn die Tugend drängt, wie Cicero133 sagt, wie ein wachsendes Wesen zu einem einheitlichen Ziel, ein wachsendes Wesen aber drängt noch sicherer und direkter als eine Kunst. In diesem Sinne wird gesagt, die Tugend sei sicherer als die Kunst, nicht weil jemand bei einer Tugend mit größerer Si­ cherheit erkennt, daß er sie hat, als bei einer Kunst.

11. Artik el Die elfte Frage lautet: Kann der Geist noch auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen?134 Im Folgenden Überlegungen, die dafür sprechen: 1.  Gott sagt in Numeri 12, 8 von Moses: »Von Mund zu Mund rede ich mit ihm, und offen, nicht in dunklen Rätseln schaut er 133  Cicero, De inventione II, 53, 159. 134  Paralleltexte: ScG III, 47; Sent. IV, d.  49, q.  2, a.  7; Lect. super Ioh.,

cap. 1, lect. 11; Super 2 Cor., cap. 12, lect. 1; In Boet. De trin., q.  6, a.  3 (ed. Leon. L, 166–168); Sum. theol. I, q.  12, a.  11; II-II, q.  180, a.  5.

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Gott«. Aber offen schauen bedeutet, Gott durch sein Wesen sehen – ohne dunkle Rätsel. Da nun Moses noch auf dem irdischen Weg war, scheint es möglich, Gott noch im Irdischen durch sein Wesen zu schauen. 2.  Zu Ex. 33, 20: »Kein Mensch wird leben, der mich sieht«, sagt die Glosse Gregors Folgendes: »Von einigen Menschen, die zwar im Fleisch noch leben, aber durch ihre Tugend eine unvergleichliche Schärfe der geistigen Schau erlangt haben, kann die Klarheit des ewigen Gottes gesehen werden.«135 Aber die Klarheit Gottes ist sein Wesen, wie in derselben Glosse ausgeführt wird. Also ist es möglich, daß ein in diesem sterblichen Fleisch noch lebender Mensch Gott durch sein Wesen schaut. 3.  Christus hatte einen Intellekt von der gleichen Natur wie der unsrige. Aber das Irdische hat seinen Intellekt nicht daran gehin­ dert, Gott durch sein Wesen zu schauen. Also können auch wir im Irdischen dasselbe tun. 4.  Gott wird noch auf dem irdischen Weg durch die Schau des Intellekts erkannt; daher heißt es in Röm. 1, 20: »In den sichtbaren Werken der Schöpfung wird Gottes unsichtbares Wesen geschaut«. Aber durch die Schau des Intellekts werden die Dinge in ihrem We­ sen gesehen, wie Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis136 ausführt; also kann unser Geist noch auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen. 5.  Aristoteles sagt im 3. Buch Über die Seele137: »Unsere Seele ist in gewisser Hinsicht alles, denn die Wahrnehmung ist alles Wahr­ nehmbare und der Geist ist alles geistig Erfaßbare«. Aber das, was vor allem anderen geistig faßbar ist, ist das Wesen Gottes. Also kann unser Intellekt auch auf dem irdischen Weg, von dem allein Aristo­ teles gesprochen hat, Gott durch sein Wesen schauen, wie auch un­ sere Wahrnehmung alles Wahrnehmbare wahrnehmen kann. 6. Wie in Gott unermeßliche Güte ist, so auch unermeßliche Wahrheit. Aber die göttliche Güte, obzwar unermeßlich, kann von 135  Glossa ordinaria, entnommen aus: Gregor der Große, Moralia in Iob XVIII, 89 (PL 76, 93 A; CCSL 143A, 952). 136  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 6, 15 (PL 34, 458; CSEL 28/1, 386). 137  Aristoteles, De an. III, 8; 431 b 21–23.

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uns im Irdischen unmittelbar geliebt werden. Also kann auch die Wahrheit seines Wesens im Irdischen unmittelbar geschaut werden. 7.  Unser Intellekt ist dazu geschaffen, Gott zu schauen. Sollte ihm dies auf dem irdischen Weg nicht möglich sein, so kann das nur an einer Trübung liegen, die zwei Gründe hat: Schuld und Krea­ türlichkeit. Die Trübung durch die Schuld bestand nicht im Zustand der Unschuld, und auch jetzt sind die Heiligen von ihr befreit, vgl. 2 Kor. 3, 18: »Wir aber mit unverschleiertem Gesicht die Herrlichkeit des Herrn schauend, usw. …«. Aber die Trübung durch die Kreatür­ lichkeit kann, wie es scheint, die Schau des göttlichen Wesens nicht hindern, denn Gott steht zu unserem Geist in einem intimeren Ver­ hältnis als irgendeine Kreatur. Schon auf dem irdischen Weg also kann unser Geist Gott durch sein Wesen schauen. 8.  Das, was in einem anderen enthalten ist, hat Teil an der Art dieses anderen. Aber Gott ist von seinem Wesen her in unserem Geist. Da nun die Art unseres Geistes die der reinen Erkenntnis­ fähig­keit ist, scheint das Wesen Gottes in unserem Geist als Er­ kennbares zu sein; also auch im Irdischen erkennt unser Geist Gott durch sein Wesen. 9.  Cassiodorus sagt138: »Das Heile des menschlichen Geistes er­ kennt jene unzugängliche Herrlichkeit.« Aber unser Geist wird durch die Gnade heil. Also kann ein Mensch, der in der Gnade steht, auch auf dem irdischen Weg das Wesen Gottes, die unzugängliche Herrlichkeit, schauen. 10.  Wie das Sein, das von allem ausgesagt wird, an erster Stelle steht im Hinblick auf Allgemeinheit, so ist auch das Sein, wodurch alles verursacht wird, nämlich Gott, an erster Stelle in der Ordnung der Ursächlichkeit. Aber das Sein, das im Hinblick auf Allgemein­ heit an erster Stelle steht, ist auch im Irdischen der erste Begriff un­ seres Intellekts. Also können wir auch im Irdischen das Sein, das in der Ordnung der Ursächlichkeit an erster Stelle steht, unmittelbar durch sein Wesen erkennen. 11.  Zum Schauen ist dreierlei erforderlich: ein Schauendes, ein Geschautes und eine Intention. Aber alle drei finden sich in unse­ rem Geist im Hinblick auf das Wesen Gottes: Denn das Schauende 138  Cassiodor, De an. 3 (PL 70, 1288 B; CCSL 96, 545).

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ist unser Geist selbst, der dazu geschaffen ist, das Wesen Gottes zu schauen; das Geschaute ist das Wesen Gottes, das unserem Geist ge­ genwärtig ist; und auch die Intention fehlt nicht, denn immer, wenn sich unser Geist einem Geschöpf zukehrt, kehrt er sich auch zu Gott hin, denn das Geschöpf ist gottähnlich. Also kann unser Geist auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen. 12.  Augustinus sagt im 12. Buch der Bekenntnisse139: »Sehen wir beide, daß das wahr ist, was du sagst, und auch das, was ich sage, so frage ich, wo sehen wir das? Ich nämlich auf keinen Fall in Dir, und Du auf keinen Fall in mir, sondern wir sehen es beide in der unver­ änderlichen Wahrheit selbst, die höher ist als unser Geist.« Aber die unveränderliche Wahrheit ist das Wesen Gottes, in dem nichts ge­ sehen werden kann, ohne daß das Wesen selbst geschaut wird. Also schauen wir schon auf dem irdischen Weg das Wesen Gottes, in dem wir alles Wahre schauen, was wir sehen können. 13.  Wahrheit ist als solche erkennbar; also ist die höchste Wahr­ heit im höchsten Grad erkennbar. Dies ist aber das Wesen Gottes. Also können wir schon im Irdischen das Wesen Gottes als das im höchsten Grad Erkennbare erkennen. 14. Zu Genesis 32, 31: »Ich habe den Herrn gesehen, von Ange­ sicht zu Angesicht«, sagt eine Glosse140 Folgendes: »Das Angesicht Gottes ist die Form, in welcher der Sohn es nicht für vermessen hielt, Gott gleich zu sein.« Aber jene Form ist das Wesen Gottes. Also hat Jakob schon auf dem irdischen Weg Gott durch sein We­ sen geschaut. Dagegen spricht: 1.  Paulus schreibt in 1 Tim. 6, 16: »Er wohnt in dem unzugängli­ chen Licht, das kein Mensch sieht oder sehen kann«. 2.  Zu Ex. 33, 20, »Kein Mensch wird leben, der mich sieht«, sagt die Glosse Gregors: »Von Menschen, die in diesem Fleisch leben, konnte Gott durch begrenzt umschriebene Bilder gesehen werden, und er konnte nicht gesehen werden durch das grenzenlose Licht

139  Augustinus, Conf. XII, 25, 35 (PL 32, 840; CCSL 27, 235). 140  Augustinus, De trin. II, 17, 28 (PL 42, 863; CCSL 50, 117).

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der Ewigkeit.«141 Aber dieses Licht ist das Wesen Gottes; also kann keiner, der in diesem Fleisch lebt, Gott durch sein Wesen schauen. 3.  Obwohl wir, wie Bernhard142 sagt, auf dem irdischen Weg Gott als Ganzes lieben können, können wir ihn nicht als Ganzes erken­ nen. Nun aber würden wir Gott als Ganzes erkennen, wenn wir ihn durch sein Wesen schauen könnten. Also können wir Gott auf dem irdischen Weg nicht durch sein Wesen schauen. 4.  Unser Geist erkennt kontinuierlich und auch zeitlich, wie Ari­ stoteles im 3. Buch Über die Seele143 sagt. Aber das Wesen Gottes übersteigt jedwedes Kontinuum und jedwede Zeit. Also kann unser Geist auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen nicht schauen. 5.  Das Wesen Gottes steht weiter ab von seiner Gnadengabe als das Sein eines Geschöpfes von seinem Verhalten. Aber manchmal, wenn ein Mensch durch die Gabe der Einsicht oder der Weisheit Gott schaut, trennt sich die Seele von der leiblichen Wahrnehmung, die zum Verhalten gehört. Also müßte sie sich von dem leiblichen Sein trennen, wenn sie Gott durch sein Wesen sähe. Aber dies kann nicht sein, solange der Mensch im Irdischen lebt. Also kann keiner auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen. Antwort: Das Verhalten eines Menschen kann zwei verschiedene Formen annehmen: einmal kann der Ursprung des Verhaltens im Menschen selbst liegen, wie dies in allen natürlichen Handlungen der Fall ist; und einmal kann der Ursprung des Verhaltens oder des Werdens in etwas Externem liegt, wie z. B. in Bewegungen, die durch einen Stoß in Gang gebracht werden. In die Kategorie des letzteren wären auch Wunder einzuordnen wie die Heilung eines Blinden oder die Auf­ erweckung eines Toten, die nur durch Gott bewirkt werden können. Auf die erste Weise kann unser Geist Gott auf dem irdischen Weg nicht schauen. Denn im natürlichen Erkennen schaut unser Geist 141  Glossa ordinaria, entnommen aus: Gregor der Große, Moralia in Iob XVIII, 54 (PL 76, 92 D; CCSL 143A, 951). 142  Pseudo-Bernhard v. Clairvaux (= Wilhelm v. St. Thierry), Liber de contemplando Deo, 17 (PL 184, 376 C). 143  Aristoteles, De an. III, 11; 430 a 31.

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auf Bilder des Vorstellungsvermögens wie auf Objekte, von denen er, wie im 3. Buch Über die Seele144 gesagt wird, die geistig erkennbaren Inhalte erhält. Also erkennt er alles, was er auf dem irdischen Weg überhaupt erkennt, durch solche von den Bildern des Vorstellungs­ vermögens abstrahierten Inhalte. Kein solcher Inhalt reicht aus, um das Wesen Gottes oder das Wesen irgendeiner anderen getrennten Substanz zu vermitteln. Denn die Washeiten der wahrnehmbaren Dinge, deren Ähnlichkeiten geistig erkennbare und von den Bildern des Vorstellungsvermögens abstrahierte Inhalte sind, unterscheiden sich schon vom Begriff her von den Wesen der immateriellen Ge­ schöpfe, und vom Wesen Gottes noch weit mehr. Daher kann unser Geist auf Grund der ihm natürlichen Art des Erkennens, mit der wir auf dem irdischen Weg betraut sind, weder Gott noch die Engel durch das Wesen schauen. Jedoch können die Engel durch ihr We­ sen geschaut werden, und zwar durch geistig erkennbare Inhalte, die aus ihrem Wesen hervorgehen. Dies gilt aber nicht für das Wesen Gottes, das jede Gattung übersteigt und ihr dermaßen fremd ge­ genübersteht, daß es durch keinen erschaffenen Inhalt vermittelt werden kann. Deswegen wäre es erforderlich, sollte Gott durch sein Wesen geschaut werden, daß das Wesen durch keinen erschaffenen Inhalt gesehen, sondern selbst zur geistig erkennbaren Form des schauenden Geistes würde. Dies könnte aber nur dann geschehen, wenn der erschaffene Geist durch das Licht der Herrlichkeit dazu disponiert würde. Indem aber der Geist, der durch die Spende des eingegossenen Lichts vorbereitet wird, Gott durch sein Wesen sieht, erlangt er am Ziel des Weges die Herrlichkeit. Und somit ist er nicht mehr auf dem irdischen Weg. Wie aber die niederen Körper der göttlichen Allmacht unterwor­ fen sind, so auch der erschaffene Geist. Wie also Gott Körper zu Wirkungen führen kann, zu denen sie keineswegs disponiert sind – wie er z. B. Petrus hat auf Wasser gehen lassen, ohne ihm vorher die Gabe der Leichtigkeit verliehen zu haben –, so kann er auch einen Geist noch auf dem irdischen Weg dazu führen, mit dem göttlichen Wesen so vereinigt zu sein, wie er ihn auch in der himmlischen Hei­ mat mit sich vereinigen wird, ohne daß er ihn vorher durch Eingie­ 144  Aristoteles, De an. III, 7; 431 a 14–15.

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ßen des Lichts der Herrlichkeit dazu disponiert hätte. Geschieht dies, so muß der Geist von derjenigen Erkenntnisart Abstand nehmen, in der er von Bildern des Vorstellungsvermögens abstrahiert, wie der vergängliche Leib, dem durch ein Wunder die Qualität der Leichtig­ keit verliehen wurde, vom Verhalten der Schwere. Diejenigen also, die auf diese begnadete Weise Gott durch sein Wesen schauen dür­ fen, müssen den Bereich der Wahrnehmung verlassen, damit sich die ganze Seele zur Gottesschau versammelt. So wird gesagt, sie seien ergriffen, d. h. durch die Gewalt eines höheren Wesens dem enthoben, was ihrer Natur entsprochen hätte. Im natürlichen Verlauf des Menschlichen also kann keiner auf dem irdischen Weg Gott durch sein Wesen schauen. Wenn dies auf übernatürliche Weise einigen Menschen zugestanden wird, obwohl sich ihre Seele noch nicht ganz vom sterblichen Leib getrennt hat, so sind diese Menschen auch nicht mehr ganz im Irdischen, denn ihnen fehlt die sinnliche Wahrnehmung des irdischen Weges. Zu 1.  Nach Augustinus Über den Wortlaut der Genesis145 und An Paulina über die Gottesschau146wird mit diesem Wort gezeigt, daß Moses in einer gewissen Ergriffenheit Gott durch sein Wesen geschaut hatte; dasselbe wird in 2 Kor. 12, 2 über Paulus gesagt. Hierin gleichen sich der Gesetzgeber der Juden und der Lehrer der Heiden. Zu 2.  Gregor der Große spricht von solchen Menschen, die durch die Tiefe ihrer Kontemplation so emporwachsen, daß sie das We­ sen Gottes in Ergriffenheit schauen; dann fügt er hinzu: »Der die Weisheit sieht, die Gott ist, ist diesem Leben gänzlich abgestorben.« Zu 3.  Das Einzigartige Christi besteht darin, daß er zur Glück­ selig­keit wanderte und sich ihrer zugleich erfreute, was ihm deswe­ gen zuteil wurde, weil er Gott und Mensch war. Deswegen nämlich, weil er Mensch war, stand ihm alles zu Gebote, was zur mensch­ lichen Natur gehört, und weil er Gott war, wurde jede Kraft von Seele und Leib nach seinem Willen aktiviert. Aber weder konnte ein 145  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 27–28 (PL 34, 477–478; CSEL 28/1, 420–423). 146  Augustinus, Ep. 147, 13 (PL 33, 610).

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Schmerz des Leibes die Schau des Geistes hindern noch die Freude des Geistes die Schmerzen des Leibes lindern; und so hat sein In­ tellekt, erleuchtet durch das Licht der Herrlichkeit, Gott durch sein Wesen geschaut, aber so, daß die Herrlichkeit auf die Leiblichkeit nicht übertragen wurde. In diesem Sinne war er zugleich auf dem Weg und am Ziel. Von anderen Menschen läßt sich dasselbe nicht sagen; bei uns fällt notwendig aus den höheren Vermögen etwas auf die niederen zurück und die höheren Kräfte werden durch die hefti­ gen Leidenschaften der niederen zerrüttet. Zu 4.  Gott wird durch die geistige Schau des Menschen auf dem irdischen Weg nicht so erkannt, daß der Mensch von Gott weiß, was er ist, sondern nur, was er nicht ist. Sein Wesen erkennen wir durch die Einsicht, daß er über alles andere gestellt ist, obwohl diese Er­ kenntnis durch gewisse Ähnlichkeiten entsteht. Das zitierte Wort des Augustinus bezieht sich auf das, was erkannt wird, nicht auf das, wodurch erkannt wird, wie aus den früheren Artikeln hervorgeht. Zu 5.  Unser Geist kann auch auf dem irdischen Weg das göttliche Wesen irgendwie erkennen, aber nicht so, daß er von ihm wissen könnte, was es ist, sondern nur, was es nicht ist. Zu 6.  Wir könnten Gott auch dann unmittelbar lieben, wenn wir nichts anderes vorher geliebt hätten, obwohl wir auch manchmal aus der Liebe zu sichtbaren Dingen zum Unsichtbaren emporgeris­ sen werden können. Aber auf dem irdischen Weg können wir Gott nicht unmittelbar erkennen, ohne etwas anderes vorher erkannt zu haben. Dieser Unterschied läßt sich wie folgt erklären. Das Gefühl folgt dem Intellekt, so daß der Akt des Gefühls dort beginnt, wo der des Intellekts aufhört. Nun geht aber der Intellekt von Wirkungen aus, um zu Ursachen zu gelangen, bis er endlich eine gewisse Er­ kenntnis Gottes selbst erreicht, in der er von Gott weiß, was er nicht ist. So wird nachfolgend das Gefühl zu dem geführt, was ihm der Intellekt zeigt, ohne daß es alle Zwischenstufen, die der Intellekt durchschritten hat, wiederholen muß. Zu 7.  Unser Intellekt ist zwar für die Gottesschau geschaffen, aber nicht so, als wäre ihm die Fähigkeit gegeben, Gott kraft der eigenen Natur zu schauen, sondern nur durch das ihm gnadenhaft einge­ gossene Licht der Herrlichkeit. Der Intellekt könnte also selbst dann Gott durch sein Wesen nicht schauen, wenn er von jeder Trübung

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befreit wäre, es sei denn, er würde durch das Licht der Herrlichkeit erleuchtet. Ohne die Herrlichkeit ist die Gottesschau nicht möglich. Zu 8.  Unser Geist besitzt nicht nur die ihn auszeichnende Er­ kennbarkeit, sondern auch das Sein, das er mit anderen Wesen ge­ meinsam hat. Obwohl Gott in ihm ist, ist er dies nicht nur als in­ nere Form der Intelligenz, sondern auch als Ursache der Existenz wie in den anderen Geschöpfen. Obwohl er allen Geschöpfen das Sein gibt, so gibt er doch jedem einzelnen das eigene Maß an Sein. Und so gilt auch hier, daß er durch sein Wesen, seine Gegenwär­ tigkeit und seine Macht in allem ist, und zwar verschiedenartig in den verschiedenen Geschöpfen und in jedem Einzelnen gemäß dem eigenen Maß. Zu 9.  Das geistige Heil ist ein zweifaches: Durch das eine wird der Geist von seiner Schuld durch die Gnade des Glaubens geheilt, und dies hat zur Folge, daß ihm jene unzugängliche Herrlichkeit »wie in einem Spiegel und in einem dunklen Wort« sichtbar wird. Durch das andere Heil, die Herrlichkeit, wird er von jeder Schuld und Pein und von jedem Elend geheilt. Und dieses Heil bewirkt, daß Gott »von Angesicht zu Angesicht« gesehen wird. Zwischen diesen zwei Ebe­ nen der Gottesschau wird in 1 Kor. 13, 12 unterschieden: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel …, dann aber von Angesicht zu Angesicht.« Zu 10.  Jenes Sein, das im Hinblick auf Allgemeinheit an erster Stelle steht, da es mit dem Wesen eines jeden Seienden identisch ist, überschreitet niemals dessen Maß und wird daher in dessen Er­ kenntnis selbst erkannt. Aber das Sein, das in der Ordnung der Ur­ sächlichkeit an erster Stelle steht, da es zu jedem anderen Seienden jenseits jeder Verhältnismäßigkeit steht, kann durch die Erkenntnis von keinem anderen Seienden adäquat erfaßt werden. Auf dem irdi­ schen Weg also, wo unsere Erkenntnisse auf Inhalte zurückgehen, die wir von den Bildern des Vorstellungsvermögens abstrahieren, erkennen wir zwar das allgemeine Sein adäquat, nicht aber das un­ geschaffene Sein. Zu 11.  Obwohl das Wesen Gottes unserem Geist gegenwärtig ist, ist es, solange er noch nicht durch das Licht der Herrlichkeit voll­ endet ist, nicht so mit ihm verbunden wie eine geistig erkennbare Form. Ehe ihn dieses Licht erleuchtet, hat der Geist selbst nämlich nicht die Fähigkeit, Gott durch sein Wesen zu schauen. Denn es feh­

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len sowohl die Fähigkeit des Sehenden wie auch die Gegenwärtigkeit des zu Sehenden. Auch die Intention ist nicht immer gegeben; denn obwohl in jedem Geschöpf irgendeine Ähnlichkeit zum Schöpfer vorliegt, ist diese nicht immer der Brennpunkt, wenn wir uns einem Geschöpf zuwenden. So muß unsere Intention nicht immer auf Gott gerichtet sein. Zu 12.  Zur Stelle in Ps. 11, 2, »Weniger sind die Wahrheiten ge­ worden …«, sagt die Glosse147 Folgendes: Von der einen ungeschaf­ fenen Wahrheit »werden auf den menschlichen Geist viele Wahr­ heiten aufgedrückt, wie von einem einzigen Gesicht viele Ähn­ lichkeiten in verschiedenen Spiegeln (oder in einem gebrochenen Spiegel) zurückgeworfen werden«. Daß wir also in der ungeschaf­ fenen Wahrheit etwas erkennen, läßt sich insofern sagen, als es uns durch ihre Ähnlichkeit, die unser Geist zurückwirft, gelingt, über etwas zu urteilen, so wie wir auf Grund von evidenten Prämissen über die Wahrheit von Schlußsätzen urteilen können. Also muß die ungeschaffene Wahrheit selbst in ihrem Wesen von uns nicht ge­ schaut werden. Zu 13.  Die an sich höchste Wahrheit ist auch höchst erkennbar. Daß sie für uns weniger erkennbar ist, liegt an uns, wie aus dem 2. Buch der Metaphysik148 des Aristoteles hervorgeht. Zu 14.  Es gibt zu dem angeführten Zitat zwei verschiedene Glos­ sen, denn es kann sich auch um eine vermeintliche Gottesschau han­ deln. In diesem Sinne sagt die Interlineare Glosse: »›Ich habe den Herrn gesehen, von Angesicht zu Angesicht‹ heißt nicht, daß Gott gesehen werden kann, sondern daß Moses eine Gestalt sah, in der Gott zu ihm gesprochen hat«.149 Dagegen spricht die Glosse Gregors von einer geistigen Vision, in der die Heiligen die göttliche Wahr­ heit kontemplativ schauen, nicht wissend zwar, was sie ist, sondern vielmehr, was sie nicht ist. Daher sagt er zur oben angeführten Text­ stelle: »Nur indem er die Wahrheit spürt, erkennt er, daß er die Wahrheit selbst nicht erkennt, wie sie ist, von der er sich nach je­ 147  Petrus Lombardus, Glossa super Ps. 11, 2 (PL 191, 155 A); entnom­ men aus: Augustinus, Enarr. in Ps. XI, 2 (PL 36, 138; CCSL 38, 82). 148  Aristoteles, Metaph. II, 1; 993 b 7–11. 149  Glossa interlinearis super Gen. 32, 30.

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der Annäherung noch genausoweit entfernt wähnt wie zuvor; denn hätte er sie nicht irgendwie erblickt, so hätte er von seiner Unfähig­ keit, sie zu schauen, nicht gewußt«. Und wenig später fügt er noch hinzu: »Dieser Anblick ist nicht fest und dauerhaft; er ist vielmehr eine durch Kontemplation entstandene Nachahmung der Schau und wird das Angesicht Gottes genannt. Denn weil wir jemanden an seinem Angesicht erkennen, nennen wir die Erkenntnis Gottes sein Angesicht«. 12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Ist die Existenz Gottes schon an sich dem menschlichen Geist evident, vergleichbar logischen Axiomen, die der Geist nicht für falsch halten kann?150 Im Folgenden Überlegun­ gen, die dafür sprechen: 1.  Für den Geist sind solche Prinzipien evident, deren Kenntnis uns eingeboren ist. Nun aber ist das »Wissen um die Existenz Gottes allen Menschen von Geburt eingegeben«, wie Johannes von Damas­ kus sagt. Also ist die Existenz Gottes evident. 2.  Wie Anselm151 sagt, ist ein Größeres als Gott nicht denkbar. Aber etwas, von dem wir nicht denken können, daß es nicht existiert, ist größer als alles, von dem wir dies denken können. Also können wir von Gott nicht denken, daß er nicht existiert. 3.  Gott ist die Wahrheit selbst. Aber niemand kann denken, daß es die Wahrheit nicht gibt; denn aus der Behauptung, daß es die Wahrheit nicht gibt, folgt, daß es sie geben muß. Denn gibt es sie nicht, dann ist wahr, daß es sie nicht gibt. Also kann nicht gedacht werden, daß Gott nicht existiert. 4.  Gott ist seine eigene Existenz. Aber es läßt sich nicht denken, daß etwas von sich selbst nicht prädiziert wird, z. B. daß ein Mensch kein Mensch sei. Also kann nicht gedacht werden, daß Gott nicht existiert. 150  Paralleltexte: Sent. I, d.  3, q.  1, a.  2; ScG I, 10–11; Sum. theol. I, q.  2, a.  1; De pot. q.  7, a.  2, ad 11; In Boet. De trin. q.  1, a.  3, ad 6 (ed. Leon. L, 88). 151   A nselm von Canterbury, Proslogion 3 (Opera omnia, ed. F. S. Schmitt, I, 102 f.).

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5.  Alle begehren, wie Boethius152 sagt, das höchste Gut. Aber das höchste Gut kann nur Gott sein. Also begehren alle Gott. Aber das, was nicht erkannt wird, wird nicht begehrt. Also ist die Existenz Gottes die gemeinsame Voraussetzung von allen. Also kann nicht gedacht werden, daß Gott nicht existiert. 6. Die erste Wahrheit überragt alle erschaffenen Wahrheiten. Aber es gibt erschaffene Wahrheiten, die dermaßen evident sind, daß sie nicht für falsch gehalten werden können, wie z. B. die Aus­ sage, Behauptung und Verneinung desselben können nicht zugleich wahr sein. Um so weniger kann gedacht werden, die ungeschaffene Wahrheit existiere nicht. Diese ist aber Gott. 7.  Das Sein Gottes ist in höherem Grade wahr als das der mensch­ lichen Seele. Nun aber kann die Seele nicht denken, sie existiere nicht. Also kann um so weniger gedacht werden, Gott existiere nicht. 8.  Für alles, was ist, gilt, daß schon lange, bevor es entstanden war, bereits wahr war, daß es entstehen würde. Nun gehört zu dem, was ist, auch die Wahrheit. Also war es wahr, bevor sie entstanden ist, daß sie sein würde. Aber dies war durch die Wahrheit wahr. Also kann nicht gedacht werden, daß die Wahrheit nicht immer war. Aber Gott ist die Wahrheit. Also kann nicht gedacht werden, daß Gott nicht ist oder daß er nicht immer war. 9.  Doch wurde behauptet, dieses Argument beachte nicht den Un­ terschied zwischen einer einfachen und einer bloß hypothetischen Aussage. Denn die Aussage, daß die Wahrheit, bevor sie war, sein würde, ist nicht einfach, sondern nur hypothetisch. Daher ist der Schlußsatz ›Die Wahrheit ist‹ nicht berechtigt; denn er ist einfach. – Dagegen läßt sich alles, was nur hypothetisch wahr ist, auf etwas zu­ rückführen, was einfach wahr ist, wie alles Unvollendete auf etwas Vollendetes. War also die Aussage, daß die Wahrheit sein würde, nur hypothetisch wahr, dann muß es das einfach Wahre gegeben haben, und so war die Aussage »Die Wahrheit ist« einfach wahr. 10.  »Der ist« ist der eigentliche Name Gottes, wie es in Ex. 3, 14 heißt. Aber es kann nicht gedacht werden, daß ein Seiendes nicht ist. Also kann nicht gedacht werden, daß Gott nicht ist.

152  Boethius, Philos. consol. III, pr. 2 (PL 63, 724; CCSL 94, 38).

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Dagegen spricht: 1.  das Wort des Psalms: »Der Narr hat in seinem Herzen gesagt, ›Gott gibt es nicht‹«.153 2. Doch es wurde behauptet, das Sein Gottes sei für das Zu­ standswissen des Intellekts evident, nicht aber für das bewußte Denken. – Dagegen kann die innere Vernunft nicht das Gegenteil von dem denken, was im eingeborenen Zustandswissen enthalten ist, wie z. B. die Axiome der Logik. Wenn also das Gegenteil von ›Gott existiert‹ bewußt gedacht werden kann, dann wird die Exi­ stenz Gottes nicht zu den eingeborenen Evidenzen des Zustands­ wissens gehören. 3.  Uns ist die Wahrheit von evidenten Aussagen bekannt; sie läßt sich nicht ableiten wie die Existenz von Ursachen aus Verursachtem. Vielmehr leuchtet eine evidente Aussage unmittelbar ein, sobald sie vernommen wird, wie aus dem 1. Buch der Zweiten Analytiken154 hervorgeht. Aber in Röm. 1, 20 heißt es: »Gottes unsichtbares We­ sen wird ersehen aus der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken«. Demnach erkennen wir die Existenz Gottes nur aus einer Betrachtung dessen, was er bewirkt hat. Also ist die Exi­ stenz Gottes keine evidente Wahrheit. 4.  Nur dann kann erkannt werden, ob etwas existiert, wenn fest­ steht, was es ist. Aber unter irdischen Bedingungen können wir nicht wissen, was Gott ist. Daher ist uns seine Existenz nicht be­ kannt, geschweige denn evident. 5.  Die Existenz Gottes ist ein Glaubensartikel, d. h., sie wird uns durch die Glaubenslehre dargelegt, obwohl die Vernunft dagegen spricht. Aber die Vernunft ist nicht gegen das Evidente. Also ist die Existenz Gottes keine evidente Erkenntnis. 6.  Dem Menschen ist nichts sicherer als sein Glauben, wie Augu­ stinus155 sagt. Trotzdem können wir über Inhalte des Glaubens Zwei­ fel bekommen, also auch über alles andere. So kann gedacht werden, daß Gott nicht existiert.

153  Ps. 13, 1. 154  Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 7; 72 b 23–25. 155  Augustinus, De trin. XIII, 1, 2 (PL 42, 1014; CCSL 50A, 382).

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7.  Das Wissen um Gott gehört zur Weisheit, die unter den Men­ schen nicht gleichmäßig verteilt ist. Da also die Existenz Gottes nicht allen Menschen bekannt ist, kann sie nicht evident sein. 8.  Augustinus sagt in Über die Dreieinigkeit 156: »Das höchste Gut wird nur von solchen Menschen gewahrt, deren Geist vollkommen gereinigt ist«. Aber nicht alle Menschen haben einen vollkommen gereinigten Geist. Also gewahren nicht alle Menschen das höchste Gut, d. h., nicht alle Menschen wissen, daß Gott existiert. 9.  Wenn die Vernunft zwischen zweierlei unterscheidet, so läßt sich das eine unabhängig vom anderen denken, so wie wir z. B. Gott denken können, ohne daran zu denken, daß er gut ist. Darauf hat Boethius in Wie Substanzen gut sein können157 hingewiesen. Nun aber unterscheidet die Vernunft in Gott das Wesen und die Existenz. Darum kann das Wesen Gottes gedacht werden, ohne daß gedacht werden muß, daß Gott existiert. So ergibt sich dasselbe wie oben. 10.  In Gott ist Sein und Gerecht-Sein dasselbe. Aber Menschen, die sagen, Gott hätte an Bösem Gefallen, vertreten damit die Ansicht, Gott sei nicht gerecht. Also können Menschen auch die ­Ansicht ver­ treten, Gott existiere nicht. Daß Gott existiert, ist also nicht evident. Antwort: Zu dieser Frage gibt es drei verschiedene Lehrmeinungen: Mai­ monides158 erzählt von Menschen, die behaupten, die Existenz Got­ tes sei weder evident noch irgendwie beweisbar, sondern nur als Glaubensartikel aufrechtzuhalten; sie seien zu dieser Ansicht ge­ kommen, da die Gründe, die oft für Gottesbeweise angeführt wer­ den, zu schwach seien. Andere, wie Avicenna,159 waren der Auffas­ sung, die Existenz Gottes sei zwar nicht evident, wohl aber durch die Vernunft beweisbar. Noch andere, wie Anselm, dachten, die Exi­ stenz Gottes sei insofern evident, als kein Mensch in seinem inner­ sten Herzen denken könne, Gott existiere nicht. Allerdings räumt er ein, daß es Menschen gibt, die nach außen hin diese Position ver­ 156  Augustinus, De trin. I, 2, 4 (PL 42, 822; CCSL 50, 31). 157  Boethius, De hebdomadibus (ed. M. Elsässer, 38). 158  Maimonides, Dax neutrorum, I, 74 (ed. A. Weiß, 358  ff.). 159  Avicenna, Philos. prima I, 1 (ed. S. Van Riet, 5).

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fechten und sogar zu ihren Worten innerlich stehen. Die erste die­ ser drei Positionen scheint offenkundig falsch zu sein; denn es ver­ hält sich so, daß die Wahrheit der Existenz Gottes auf Grund unwi­ derlegbarer Argumente sogar von den Philosophen behauptet wird, auch wenn es Menschen gibt, die diese auf Grund unzureichender Überlegungen zu beweisen suchen. Die beiden anderen Positionen sind jeweils in bestimmter Hinsicht wahr. Eine Aussage kann auf zweifache Weise evident sein, nämlich an sich und für uns. Daß Gott existiert, ist an sich evident; für uns ist es aber nicht evident. Daher kann uns diese Wahrheit nur auf Grund von solchen Beweisen gezeigt werden, die ihre Prämissen Bewirktem entnehmen. Dies kann wie folgt klar gemacht werden: Eine Aussage ist dann an sich evident, wenn ihr Prädikat zum be­ grifflichen Inhalt des Subjekts gehört. Sie ist dann für uns evident, wenn der begriffliche Inhalt des Subjekts, in dem das Prädikat ent­ halten ist, uns bekannt ist. In diesem Fall kann das Subjekt nicht gedacht werden, ohne daß klar wird, daß das Prädikat in ihm ent­ halten ist. Darum gibt es Aussagen, die allen Menschen evident sind, solche nämlich, deren Subjekte begrifflich allen Menschen bekannt sind, wie z. B., daß das Ganze immer größer als der Teil ist. Denn jeder weiß, was ein Ganzes und was ein Teil ist. Es gibt auch an sich evidente Aussagen, deren Wahrheit nur den Weisen zugäng­ lich ist, dem einfachen Volk aber nicht. Deswegen schreibt Boethius in Wie Substanzen gut sein können160: »Von zweierlei Art sind die allgemein bekannten Lehrsätze: die einen sind allen Menschen ver­ ständlich, wie z. B. »Wird Gleiches von Gleichem genommen, …« usw.; die anderen sind nur den Gebildeten zugänglich, wie z. B., daß unkörperliche Wesen keinen Ort haben. Solche Sätze leuchten zwar den Gebildeten ein, aber den meisten Menschen nicht«.161 Das Be­ wußtsein nämlich des einfachen Volkes kann die Schranken des Vorstellungsvermögens nicht übersteigen, um zu dem Begriff eines unkörperlichen Wesens zu gelangen. Ferner ist die Existenz im be­ grifflichen Inhalt von keinem Geschöpf enthalten, denn die Existenz eines Geschöpfes ist etwas anderes als seine Washeit. Daher kann 160  Boethius, De hebdomadibus (ed. M. Elsässer, 34–36). 161  Boethius, De hebdomadibus (ed. M. Elsässer, 34–36).

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die Behauptung der Existenz im Falle eines Geschöpfes nicht als an sich evident bezeichnet werden. Aber die Existenz Gottes ist im begrifflichen Inhalt seiner Washeit enthalten, denn in ihm fällt das, was er ist, mit seiner Existenz zusammen, wie Boethius sagt. Daher fällt auch die Frage, ob er ist, mit der Frage, was er ist, zusammen, worauf Avicenna hinweist. So ist die Existenz Gottes an sich evident. Weil wir aber über die Washeit Gottes nichts wissen, ist seine Exi­ stenz für uns nicht evident, sondern sie bedarf des Beweises. Wenn wir aber in der himmlischen Heimat sein Wesen schauen werden, wird uns die Existenz Gottes ungleich klarer sein als jetzt das Prin­ zip, daß Behauptung und Verneinung nicht zugleich wahr sind. Da nun beide Positionen, die von Avicenna und von Anselm, in bestimmter Hinsicht wahr sind, ist auf die Argumente beider zu antworten. Zu 1.  Uns ist etwas eingeboren, mit dem wir zur Erkenntnis von der Existenz Gottes gelangen können; in diesem Sinne läßt sich sa­ gen, das Wissen um die Existenz Gottes sei allen Menschen von Geburt an eingegeben. Zu 2.  Dieses Argument wäre schlüssig, wenn es an Gott selbst läge, daß uns sein Dasein nicht unmittelbar einleuchtet. Dies ist aber vielmehr uns zuzuschreiben, deren Erkenntnis auch der evidente­ sten Dinge mangelhaft ist. Der Umstand, daß wir denken können, Gott existiere nicht, schließt aber keineswegs aus, daß kein Größeres als Gott gedacht werden kann. Zu 3.  Wahrheit gründet auf Sein. Wie es evident ist, daß das Sein allen Seienden gemeinsam ist, so auch, daß es die Wahrheit gibt. Es ist uns aber nicht evident, daß es ein erstes Seiendes gibt, das Ursa­ che aller anderen ist, jedenfalls bis wir dies durch den Glauben er­ halten bzw. es uns bewiesen wird. Daher ist auch nicht evident, daß jede andere Wahrheit auf eine erste Wahrheit zurückgeht. Also folgt nicht, daß die Existenz Gottes evident ist. Zu 4.  Dieses Argument wäre schlüssig, wenn uns evident wäre, daß die Gottheit selbst das Sein Gottes ist. Daß uns dies jetzt nicht evident ist, geht darauf zurück, daß wir jetzt Gott nicht durch sein Wesen schauen. Zu jener Evidenz bedürfen wir entweder eines Be­ weises oder des Glaubens.

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Zu 5.  Das höchste Gut wird auf zweifache Weise begehrt: ein­ mal durch sein Wesen – und auf diese Weise begehrt nicht alles das höchste Gut; und einmal in seiner Ähnlichkeit – und so begehrt alles das höchste Gut, denn nur wegen ihrer Ähnlichkeit zum höchsten Gut werden die Dinge begehrt. Daraus kann also nicht geschlossen werden, daß die Existenz Gottes, vom Wesen her das höchste Gut, evident ist. Zu 6. Obwohl die ungeschaffene Wahrheit jede geschaffene Wahrheit übersteigt, so hindert doch nichts, daß wir die geschaf­ fene Wahrheit besser kennen als die ungeschaffene Wahrheit. Denn nach dem Philosophen162 erkennen wir die an sich nicht evidenten Wahrheiten besser als die an sich evidenten. Zu 7.  Auf zweifache Weise können wir denken, daß etwas nicht existiert: Einerseits können Subjekt und Prädikat zugleich betrach­ tet werden; auf diese Weise kann jemand ohne weiteres den Gedan­ ken der eigenen Nicht-Existenz fassen, wie er auch daran denken kann, daß er einmal nicht existiert hat. Auf diese Weise kann aber nicht gedacht werden, etwas sei das Ganze und zugleich weniger als ein Teil, denn der eine Gedanke schließt den anderen aus. Anderer­ seits kann er den Gedanken der Nicht-Existenz so fassen, daß er ihm zustimmt, und auf diese Weise kann keiner den Gedanken haben, er existiere nicht; denn indem er etwas denkt, erkennt er, daß er ist. Zu 8.  In Bezug auf das, was jetzt ist, muß nicht früher wahr gewe­ sen sein, daß es sein würde, es sei denn, man nimmt an, etwas habe zu dem Zeitpunkt existiert, an dem über das jetzt Seiende gesagt wurde, es würde sein. Wird hingegen durch eine unmögliche Hypo­ these angenommen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts exi­ stiert habe, dann wäre, formal gesprochen, nichts wahr. Das Mate­ rielle der Wahrheit ist nämlich nicht nur das Sein, sondern auch das Nicht-Sein; denn sowohl über das Sein wie auch über das Nicht-Sein kann Wahres ausgesagt werden. Es folgt also nicht, daß es damals die Wahrheit gab; denn diese gab es nur materiell, d. h. hypothetisch. Zu 9.  Daß sich alles hypothetisch Wahre auf einfach Wahres re­ duzieren läßt, ist notwendigerweise der Fall, vorausgesetzt, daß es die Wahrheit gibt – sonst nicht. 162  Aristoteles, Phys. I, 1; 184 a 16.

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Zu 10.  ›Der ist‹ ist zwar der Name Gottes, aber dies ist für uns nicht evident; daher folgt der Schlußsatz nicht. Beantwortung der Gegenargumente: Zu 1.  Anselm will in seinem Proslogion den Satz »Der Narr hat in seinem Herzen gesagt: ›Gott gibt es nicht‹«163 so deuten, daß der Narr diese Worte zwar dachte, nicht aber, daß er das Gesagte in sei­ ner innersten Vernunft denken konnte. Zu 2.  In Bezug auf das Zustandswissen wie auch auf das bewußte Wissen ist die Aussage »Gott existiert« sowohl evident wie auch nicht evident. Zu 3.  Der Umstand, daß wir von der Existenz Gottes nur durch seine Werke wissen können, geht auf einen Mangel in unserer Er­ kenntnisfähigkeit zurück. Dies schließt nicht aus, daß es sich um eine Wahrheit handelt, die an sich evident ist. Zu 4.  Damit wir wissen, daß etwas existiert, müssen wir nicht wissen, wie es definiert wird; es genügt vielmehr, wenn wir wissen, was mit dem Namen bezeichnet wird. Zu 5.  Die Existenz Gottes ist nicht unter den Glaubensartikeln zu finden, weil sie diesen allen zugrunde liegt. Es gibt allerdings Glaubensartikel, die die Existenz Gottes mitenthalten, z. B. daß Gott in der Dreiheit der Personen ein Wesen hat oder andere derartige. Zu 6.  Alles, was zum Glauben gehört, wird mit der größten Ge­ wißheit erkannt, insofern als ›Gewißheit‹ feste Anbindung bedeu­ tet, denn mit größerer Festigkeit als an das, was er glaubt, ist der Gläubige an nichts gebunden; nicht aber insofern, als mit ›Gewiß­ heit‹ gemeint ist, daß der Intellekt im Erkannten zur Ruhe kommt. Der Gläubige erteilt nämlich den geglaubten Inhalten nicht deswe­ gen seine Zustimmung, weil sein Intellekt auf Grund irgendwelcher Prinzipien in den Glaubensartikeln Ruhe gefunden hätte, sondern weil der Wille den Intellekt zu jenen Inhalten hinwendet, damit er ihnen seine gläubige Zustimmung erteilt. Daher kommt es, daß der Gläubige an Glaubensartikeln zweifeln kann. Zu 7.  Die Weisheit besteht nicht allein darin, daß die Existenz Gottes erkannt wird, sondern darüber hinaus darin, daß wir, über 163  Anselm von Canterbury, Proslogion 4 (ed. F. S. Schmitt, I, 103 f.).

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Gott nachforschend, uns der Erkenntnis dessen nähern, was er ist. Auf dem irdischen Weg ist dies allerdings nur insofern möglich, als wir von Gott wissen können, was er nicht ist. Derjenige nämlich, der etwas so erkennt, daß er es von allen anderen Dingen unter­ scheidet, nähert sich der Erkenntnis dessen, was es ist. Und von die­ ser Erkenntnis spricht das von Augustinus im folgenden Einwand angeführte Zitat. Zu 8.  Daraus folgt die Antwort zum achten Einwand. Zu 9.  Sind Dinge begrifflich voneinander unterschieden, so daß sie getrennt gedacht werden können, so folgt nicht immer, daß sie als voneinander getrennt existierend gedacht werden können. Wir können nämlich an Gott denken, ohne an seine Güte zu denken; aber wir können nicht denken, daß Gott existiert und seine Güte nicht. Aus dem Umstand also, daß in Gott das, was er ist, und daß er ist, im Denken verschieden sind, folgt nicht, daß Gott als nicht existierend gedacht werden kann. Zu 10.  Nicht nur in den Werken seiner Gerechtigkeit wird Gott erkannt, sondern auch in anderen seiner Werke. Aber daraus, daß er nicht als Gerechter erkannt wird, folgt nicht, daß er überhaupt nicht erkannt wird. Es ist auch nicht möglich, daß kein einziges seiner Werke erkannt wird, denn zu ihnen gehört ihr gemeinsames Sein, das nicht unerkannt sein kann.

13. Artik el Die dreizehnte Frage lautet: Kann die Dreiheit der Personen kraft der natürlichen Vernunft erkannt werden?164 Im folgenden Über­ legungen, die dafür sprechen: 1.  Zu Röm.1, 20, »Sie schauen Gottes unsichtbares Wesen und seine ewige Kraft und Gottheit, die sie durch seine Werke erkannt haben«, lautet die Glosse wie folgt: ›Gottes unsichtbares Wesen‹ ist auf die Person des Vaters, ›seine ewige Kraft‹ auf die des Sohnes und ›seine Gottheit‹ auf die des Heiligen Geistes bezogen. So könnten 164  Paralleltexte: Sent. I, d.  3, q.  1, a.  4; Sum. theol. I, q.  32, a.  1; In Boet. De trin., q.  1, a.  4 (ed. Leon. L, 88–91).

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wir kraft unserer natürlichen Vernunft aus der Erkenntnis der Ge­ schöpfe zu der der Dreifaltigkeit gelangen. 2.  Durch eine natürliche Schlußfolgerung kann erkannt werden, daß in Gott die Vollendung der Kraft ist, auf die jede andere Kraft zurückzuführen ist. Also muß ihm die primäre Kraft zuerkannt werden, die eine zeugende Kraft sein muß. Dies also können wir mit der natürlichen Vernunft erkennen. Aber aus der Erkenntnis, daß im Göttlichen eine zeugende Kraft ist, folgt mit Notwendigkeit eine Unterscheidung von Personen. Also können wir auch dies mit der natürlichen Vernunft erkennen. – Der Beweis, daß die zeugende Kraft die primäre ist, lautet wie folgt: Die Ordnung der Kräfte wi­ derspiegelt sich in der ihrer Akte. Aber unter allen Akten ist der erste das Erkennen, denn es läßt sich zeigen, daß derjenige der Pri­ märe ist, der durch den Intellekt handelt, und daß bei ihm das Er­ kennen nach dem objektiven Maß des zu Erkennenden früher ist als das Wollen und Tun. Also ist die intellektive Kraft primär unter den Kräften. Aber eine intellektive Kraft ist eine zeugende, denn der Erkennende zeugt in sich selbst das Wissen. Also ist die zeugende Kraft die primäre unter allen Kräften. 3.  Alles Mehrdeutige läßt sich auf Eindeutiges zurückführen, wie jede Mehrzahl auf eine Einheit zurückzuführen ist. Aber das Her­ vorgehen der Geschöpfe aus Gott ist insofern mehrdeutig, als die Geschöpfe weder Namen noch Begriff mit Gott gemeinsam haben. Daraus ist kraft der natürlichen Vernunft zu schließen, daß in Gott ein eindeutiges Hervorgehen präexistiert, wodurch Gott aus Gott hervorgeht, und daher, daß es im Göttlichen eine Unterschiedenheit von Personen gibt. 4.  Eine Glosse165 sagt zur Offenbarung, daß es niemals eine Lehre gegeben hat, die über die Person des Vaters irrte; wohl aber gab es eine solche, die den größten Irrtum, den es über die Person des Va­ ters geben kann, in der Auffassung sah, der Vater hätte keinen Sohn. Also hat sogar eine philosophische Schule, die Gott nur kraft der natürlichen Vernunft erkannt hat, die Lehre vertreten, daß es im Göttlichen sowohl Vater wie auch Sohn geben muß.

165  Glossa ordinaria Super Apoc. I, 4.

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5.  Boethius sagt in Über die Arithmetik166, daß jeder Ungleich­ heit eine Gleichheit vorausgehe. Da aber zwischen Schöpfer und Geschöpf Ungleichheit herrscht, ist zu schließen, daß dieser Un­ gleichheit eine Gleichheit in Gott vorausgehen muß. Nun kann aber nur dort von Gleichheit gesprochen werden, wo Verschiedenheit ist, denn nichts steht zu sich selbst im Verhältnis der Gleichheit oder Ähnlichkeit, worauf Hilarius167 hinweist. Also muß die natürliche Vernunft eine Unterschiedenheit von Personen in Gott anerkennen. 6.  Die natürliche Vernunft gelangt zu der Erkenntnis, daß in Gott die höchste Freundlichkeit sein muß. Aber »Ohne Freund kann der Freundliche nichts Erfreuliches genießen«, nach dem Wort des Boe­ thius.168 Also kann die natürliche Vernunft erkennen, daß in Gott verschiedene Personen sein müssen, deren Gemeinschaft darin be­ steht, daß sie freundlich Erfreuliches genießen. 7.  Die natürliche Vernunft gelangt zur Erkenntnis des Schöpfers auf Grund der Ähnlichkeit des Erschaffenen. Aber die Ähnlichkeit zum Schöpfer im Geschöpf betrifft nicht nur die wesentlichen At­ tribute Gottes, sondern auch das Eigene der Personen. Also können wir mit der natürlichen Vernunft zum Eigenen der göttlichen Per­ sonen gelangen. 8.  Die Philosophen verdanken ihr Wissen um Gott ausschließlich der natürlichen Vernunft. Nun sind aber einige Philosophen zur Er­ kenntnis der Dreifaltigkeit gelangt. Daher schreibt z. B. Aristoteles in Über den Himmel169: »… und in dieser Zahl (er spricht von der Zahl drei) haben wir uns zur Verherrlichung des Schöpfers gewen­ det«. Also usw. 9.  Augustinus berichtet im 10. Buch Vom Gottesstaat 170, daß der Philosoph Porphyrius die Lehre vertrat, es gäbe einen Gott, den Va­ ter, und einen von ihm gezeugten Sohn. Und in den Bekenntnissen171 sagt er, er hätte in gewissen Büchern Platons eben die Ge­ 166  Boethius, De arithmetica I, 32 (PL 63, 1110 C). 167  Hilarius von Poitiers, De trin. III, 23 (PL 10, 92 B; CCSL 62, 96). 168  In Wahrheit aus Seneca, Ep. 6, 4. 169  Aristoteles, De caelo I, 1; 268 a 14–15. 170  Augustinus, De civ. Dei X, 23 (PL 41, 300; CCSL 47, 296). 171  Augustinus, Conf. VII, 8, 12 (PL 32, 740; CCSL 27, 101).

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danken gefunden, die im Prolog des Johannesevangeliums stehen, nämlich »Am Anfang war das Wort …« usw. bis »… und das Wort ist Fleisch geworden«. In diesen Worten wird die Unterschieden­ heit der Personen in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht. Also kann der Mensch durch seine natürliche Vernunft zur Erkenntnis der Dreifaltigkeit gelangen. 10.  Die Philosophen haben gemäß ihrer natürlichen Vernunft eingeräumt, daß Gott sprechen könne. Aber im Göttlichen folgt auf das Sprechen das Aussenden des Wortes und damit die Unter­ schiedenheit der Personen. Also kann die Dreifaltigkeit der Personen durch die natürliche Vernunft erkannt werden. Dagegen spricht: 1.  Paulus sagt in Hebr. 11, 1: »Der Glaube ist die Grundlage der Hoffnung, der Beweis für das Unsichtbare«. Nun wird aber mit der natürlichen Vernunft das Sichtbare erkannt; da die Dreifaltigkeit der Personen zu den Glaubensartikeln gehört, scheint es, daß sie mit der natürlichen Vernunft nicht erkannt werden kann. 2.  Ferner sagt Gregor172: »Der Glaube, den die Vernunft durch Erfahrung bestätigt, hat kein Verdienst«. Nun besteht aber das Ver­ dienst unseres Glaubens hauptsächlich in der Lehre von der Dreifal­ tigkeit. Also kann diese nicht durch die natürliche Vernunft e­ rkannt werden. Antwort: Die Dreifaltigkeit der Personen wird auf zweifache Weise erkannt: einmal durch das jeweils Eigene, wodurch die Personen voneinander unterschieden werden – die Dreifaltigkeit Gottes wird in Wahrheit erkannt, wenn die Personen erkannt werden –, und einmal durch die Attribute, die den Personen jeweils zugeeignet werden, wie z. B. die Macht dem Vater, die Weisheit dem Sohn und die Güte dem Heili­ gen Geist. Durch diese Zuweisungen wird jedoch die Dreifaltigkeit nur uneigentlich erkannt, denn Macht, Weisheit und Güte blieben auch dann in unserer Gottesvorstellung zentral, wenn wir von der 172  Gregor der Große, Homiliae in Evangelia II, 26, 1 (PL 76, 1197 C; CCSL 141, 218).

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Dreifaltigkeit absähen. Diese Attribute werden den verschiedenen göttlichen Personen deswegen zugeeignet, weil sie dem jeweils Eige­ nen in gewisser Weise ähnlich sind. Diese den drei Personen zugeeigneten Attribute kann die natür­ liche Vernunft erkennen, aber keinesfalls das, was die drei Personen jeweils auszeichnet, und zwar aus folgendem Grund: Ein Schaffender kann nicht zu Taten schreiten, für die seine Werkzeuge nicht hin­ reichen; z. B. kann ein Schmied nicht zum Bau eines Hauses schrei­ ten, denn dazu sind seine Werkzeuge nicht geeignet. Nun sind aber die höchsten Prinzipien des logischen Beweises gewissermaßen die Werkzeuge des aktiven Intellekts in uns, in dessen Licht unsere na­ türliche Vernunft tätig wird; darauf weist Averroes in seinem Kom­ mentar zum 3. Buch Über die Seele173 hin. Deswegen kann unsere natürliche Vernunft nicht zur Erkenntnis von Inhalten gelangen, für die diese Prinzipien nicht hinreichen. Ferner hat unsere Erkenntnis dieser höchsten Prinzipien ihren Ursprung in der Wahrnehmung, worauf Aristoteles im 2. Buch der Zweiten Analytiken174 hinweist. Aber ausgehend von den Wahrnehmungen können wir auf dem Weg, der von Folgen zu Ursachen führt, nicht zur Erkenntnis dessen gelan­ gen, was die jeweiligen göttlichen Personen auszeichnet, denn ­alles, was in Gott den Charakter einer Ursache hat, gehört zum göttlichen Wesen, da Gott durch sein Wesen Ursache aller Dinge ist. Dabei sind die auszeichnenden Prinzipien der jeweiligen Personen immer Rela­ tionen, wodurch die Personen nicht auf Geschöpfe, sondern aufein­ ander bezogen sind. Daher können wir kraft der natürlichen Ver­ nunft zum jeweils Eigenen der göttlichen Personen nicht gelangen. Zu 1.  Jene Glosse geht von dem aus, was den Personen als Attri­ but zugewiesen wird, nicht von dem, was ihr Eigenstes ist. Zu 2.  Kraft der natürlichen Vernunft kann zwar mit ausreichen­ der Sicherheit festgelegt werden, daß das intellektive Vermögen un­ ter den Vermögen an erster Stelle steht, aber nicht, daß es ein zeu­ gendes Vermögen ist. Da nämlich der Erkennende, das Erkennen und das Erkannte in Gott identisch sind, zwingt uns die natürliche 173  Averroes, In De an. III, comm. 36 (ed. F. S. Crawford, 497). 174  Aristoteles, Anal. post. II, 19; 100 a 7–9.

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Vernunft nicht zu der Schlußfolgerung, daß Gott im Erkennen et­ was zeugt, was von ihm unterschieden ist. Zu 3.  Es ist richtig, daß jede Vielheit eine Einheit zur Voraus­ setzung hat, wie auch jede Mehrdeutigkeit etwas Eindeutiges. Was aber das Zeugen betrifft, setzt das Mehrdeutige nicht immer das Eindeutige voraus, sondern gemäß der natürlichen Vernunft verhält es sich eher umgekehrt: Eine mehrdeutige Ursache ist Ursache einer Art, d. h., sie bewirkt die Art als Ganzes. Dagegen ist eine eindeutige Ursache niemals Ursache einer ganzen Art, sondern nur von diesem oder jenem Individuum dieser Art. Sollte eine eindeutige Ursache eine ganze Art bewirken, dann müßte sie auch sich selbst verursacht haben, was unmöglich ist. Darum gilt das Argument nicht. Zu 4.  Die erwähnte Glosse bezieht sich auf häretische Sekten, die sich von der Kirche trennten. Darunter waren also keine Schulen heidnischer Philosophen. Zu 5.  Wir können unabhängig von der Unterschiedenheit der Personen von Gleichheit im Göttlichen sprechen, denn wir sagen, daß die Güte Gottes seiner Weisheit gleich ist, oder auch, daß bezüg­ lich der Gleichheit zweierlei in Betracht zu ziehen ist, nämlich Ur­ sache und Träger. Die Ursache der Gleichheit ist die Einheit, wie die der Ungleichheit eine andere Zahl ist. Deswegen setzt die Ungleich­ heit die Gleichheit voraus, wie die anderen Zahlen die Eins. Aber die Träger der Gleichheit sind immer eine Vielheit, und die Träger der Ungleichheit setzen diese nicht voraus, sonst müßte jeder Eins eine Zwei vorausgehen, da in der Zwei die erste Gleichheit liegt, wobei zwischen der Eins und der Zwei Ungleichheit besteht. Zu 6.  Jenes Wort des Boethius ist auf solche Wesen bezogen, die nicht in sich die Vollendung des Guten haben, sondern jeweils der Hilfe eines anderen bedürfen, so daß ihre Freundlichkeit nicht ohne einen anderen vollendet werden kann. Aber Gott hat in sich die Fülle des Guten, so daß der Genuß des Erfreulichen eines anderen nicht bedarf. Zu 7.  Obwohl unter erschaffenen Personen Ähnlichkeiten auch in den sie jeweils auszeichnenden Merkmalen möglich sind, ist dar­ aus nicht zu schließen, daß es sich im Göttlichen ebenso verhält. Denn die Verschiedenheiten, die es bei den Geschöpfen gibt, sind in Gott aufgehoben.

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Zu 8.  Es lag nicht in der Absicht des Aristoteles, die Zahl Drei in Gott finden zu wollen. Vielmehr wollte er die Perfektion dieser Zahl unter Hinweis auf antike Opfer und Gebete aufzeigen, die sich im­ mer an die Zahl Drei hielten. Zu 9.  Die Worte jener Philosophen sind darauf bezogen, was den drei göttlichen Personen zugewiesen wird, nicht auf das jeweils ­Eigene. Zu 10.  Ein Philosoph würde niemals auf Grund der natürlichen Vernunft einräumen, daß Gott in dem Sinne spricht, daß Sprechen eine Unterschiedenheit von Personen implizierte, sondern lediglich in dem Sinne, daß es als Wesentliches ausgesagt wird.

XI. ÜBER DEN LEHRER

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Kann ein Mensch lehren und Lehrer genannt werden oder allein Gott? 2. Kann jemand Lehrer seiner selbst genannt werden? 3. Kann ein Mensch von einem Engel belehrt werden? 4. Ist Lehren eine Tätigkeit des aktiven oder des kontemplativen Lebens? 1. Artik el Die Frage handelt vom Lehrer. Die erste Frage lautet: Kann ein Mensch lehren und Lehrer ge­ nannt werden oder allein Gott?1 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Allein Gott lehrt und darf Lehrer genannt werden. Mt. 23, 8 steht: »Einer ist euer Meister« und zuvor heißt es: »Laßt euch nicht Rabbi nennen«, was die Glosse2 so kommentiert: »damit ihr nicht Menschen göttliche Ehre erweist oder euch anmaßt, was Gottes ist«. Also scheint Lehrersein und Lehren allein Sache Gottes zu sein. 2.  Wenn ein Mensch lehrt, dann nur durch irgendwelche Zei­ chen; denn auch dann, wenn er durch die Dinge selbst etwas zu lehren scheint, z. B. wenn einer auf die Frage, was »gehen« bedeutet, einfach geht3, ist dies nur dann ein hinlängliches Mittel zum Leh­ ren, wenn irgendein Zeichen beigefügt ist, wie Augustinus in sei­ 1  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  117, a.  1; Sent. II, d.  9, a.  2, ad 4; d.  28, a.  5, ad 3. 2  Glossa interlin., aus Pseudo-Johannes Chrysostomus, Opus imper­ fectum in Matth. hom. 43 (PG 56, 880); vgl. Thomas, Catena super Mat­ thaeum, zur Stelle. 3  Das Beispiel stammt aus Augustinus, De magistro, c.  9, 28 (CCSL 29, 187 f.), wo als Beispiele für »teaching by doing« auch reden, sitzen und liegen genannt werden.

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nem Buch Über den Lehrer4 nachweist, und zwar deswegen, weil in demselben Sachverhalt mehrere Komponenten zusammenkommen, und deshalb weiß man nicht, auf welche Komponente des Sachver­ halts sich die Vorführung bezieht, ob auf dessen Substanz oder auf irgend etwas, was daran akzidentell ist. Aber durch Zeichen kann man nicht zur Erkenntnis der Dinge kommen, da die Erkenntnis der Dinge höherrangig ist als die Erkenntnis der Zeichen, da letz­ tere auf die Erkenntnis der Dinge als ihr Ziel hingeordnet ist. Die Wirkung hat aber keinen höheren Rang als die Ursache; also kann keiner ­einem anderen irgendeine Sacherkenntnis vermitteln, und somit kann er ihn auch nicht lehren. 3.  Wenn jemandem Zeichen irgendwelcher Dinge durch einen Menschen vorgelegt werden, dann kennt der Adressat entweder die Dinge, auf die die Zeichen sich beziehen, oder er kennt sie nicht. Wenn er nun die betreffenden Dinge kennt, wird er über sie nicht belehrt. Wenn er sie dagegen nicht kennt, können aber wegen der Unwissenheit bezüglich der Dinge auch die Bedeutungen der Zei­ chen nicht erkannt werden. Weil er nämlich dieses Ding, das ein Stein ist, nicht kennt, kann er nicht wissen, was dieses Wort »Stein« bedeutet. Wenn nun aber die Bedeutung der Zeichen nicht bekannt ist, kann durch Zeichen keiner etwas hinzulernen. Sollte also ein Mensch zur Belehrung nichts anderes tun als Zeichen vorzulegen, dann scheint ein Mensch von einem anderen Menschen nicht be­ lehrt werden zu können. 4.  Lehren heißt nichts anderes, als in einem anderen auf irgend­ eine Weise Wissen zu verursachen. Aber das Subjekt des Wissens ist der Verstand, die sinnenfälligen Zeichen aber, durch die der Mensch einzig und allein lehren zu können scheint, gelangen nicht bis zum Bereich des Verstandes, sondern verbleiben im Sinnesvermögen. Also kann ein Mensch von einem anderen nicht belehrt werden. 5.  Wenn das Wissen in dem einen Menschen von einem anderen verursacht wird, dann war es entweder im Lernenden schon vorhan­ den oder nicht. Wenn es nicht in ihm war und es im Menschen von einem anderen verursacht wird, dann erschafft also der eine Mensch 4  Augustinus, De magistro, c.  3, 6 (CCSL 29, 164 f.); c.  10, 29 u. 31 (CCSL 29, 163 ff. u. 188 ff.).

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in einem anderen das Wissen, was unmöglich ist. Wenn es aber zu­ vor schon vorhanden war, dann war es entweder voll verwirklicht – so kann es aber nicht verursacht werden, weil das, was ist, nicht wird –, oder es war in ihm keimhaft angelegt: Keimhafte Anfangs­ gründe können aber durch keine geschaffene Kraft in die Wirklich­ keit übergeführt werden, sondern sie werden allein von Gott der Na­ tur eingepflanzt, wie Augustinus in seinem Kommentar Über den Wortlaut der Genesis5 sagt. Also bleibt nur übrig, daß ein Mensch auf keine Weise einen anderen lehren kann. 6.  Wissen ist sozusagen eine akzidentelle Bestimmung. Ein Akzi­ dens wechselt aber nicht den Träger. Da also die Lehre anscheinend nichts anderes ist als eine Wissensübertragung vom Lehrer auf den Schüler, kann folglich kein Mensch einen anderen lehren. 7.  Zu Röm. 10, 17: »Der Glaube kommt vom Hören«, merkt die Glosse6 an: »Mag auch Gott im Inneren lehren, sagt der Verkündi­ ger die Botschaft doch von außen an.« Das Wissen wird aber von innen im Geist verursacht, nicht aber von außen in der Sinneswahr­ nehmung. Also wird der Mensch allein von Gott belehrt, nicht von ­einem anderen Menschen. 8.  Augustinus sagt im Buch Über den Lehrer 7: »Gott allein, der die Wahrheit auf Erden lehrt, hat das Lehramt im Himmel inne. Ein anderer Mensch verhält sich zum Lehramt so wie der Bauer zum Baum«. Der Bauer ist aber nicht der Schöpfer des Baums, sondern sein Pfleger; also kann man auch den Menschen nicht einen Lehrer des Wissens nennen, sondern allenfalls einen zum Wissen dispo­ nierenden Faktor. 9.  Wenn der Mensch ein wahrer Lehrer ist, muß er die Wahrheit lehren. Aber jeder, der die Wahrheit lehrt, erleuchtet den Geist, da die Wahrheit das Licht des Geistes ist; also wird der Mensch den Geist erleuchten, wenn er lehrt. Aber das ist falsch, da es nach Joh.  1, 9 Gott ist, »der jeden Menschen, der in diese Welt kommt, erleuch­ 5  Augustinus, De Gen. ad litt. VI, 10 u. 14 (CSEL 28/1, 182 f. u. 189); IX, 17 (CSEL 28/1, 290 ff.). 6  Glossa ordin., ibid. Petrus Lombardus, Collectanea in epist. Pauli, ad locum (PL 191, 1479). 7  Augustinus, De magistro, c.  14, 46 (CCSL 29, 202 f.).

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tet«. Also kann der Mensch einen anderen nicht wahrhaft etwas lehren. 10.  Wenn ein Mensch einen anderen etwas lehrt, muß er ihn von einem der Möglichkeit nach Wissenden zu einem wirklich Wis­ senden machen. Also muß dessen Wissen von der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergeführt werden. Was aber von der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergeführt wird, erfährt notwendig eine Verän­ derung. Also wird das Wissen oder die Weisheit eine Veränderung erfahren. Das widerspricht aber der Äußerung von Augustinus im Buch 83 Fragen8, daß »die Weisheit, die zum Menschen hinzukommt, nicht selbst verändert wird, sondern den Menschen verändert«. 11.  Wissen ist anscheinend nichts anderes als die Eintragung der Dinge in die Seele, da ja Wissen die Angleichung des Wissenden an das Gewußte bedeutet; aber ein Mensch kann in die Seele eines an­ deren keine Nachbildungen der Dinge eintragen; demnach wäre er nämlich innerlich in diesem tätig, was allein Sache Gottes ist. Also kann ein Mensch einen anderen nicht lehren. 12. Boethius sagt im Buch Trost der Philosophie9, daß durch die Lehre der Geist des Menschen zum Wissen lediglich angeregt wird. Wer aber den Verstand zum Wissen anregt, macht diesen da­ mit nicht schon wissend, so wie ja auch derjenige, der einen zum körperlichen Sehen anregt, diesen nicht sehend macht. Also macht ein Mensch den anderen nicht wissend, und so kann man nicht im eigent­lichen Sinne sagen, daß er ihn etwas lehrt. 13.  Zum Wissen ist Gewißheit der Erkenntnis erforderlich, sonst handelt es sich nicht um Wissen, sondern um Meinung oder Leicht­ gläubigkeit, wie Augustinus im Buch Über den Lehrer 10 sagt. Aber kein Mensch kann durch die sinnlichen Zeichen, die er vorlegt, in einem anderen Gewißheit erzeugen. Was nämlich in den Sinnen ist, weicht eher vom Richtigen ab als das, was im Verstand ist. Gewiß­ heit entsteht aber immer durch dasjenige, das dem Richtigen näher kommt. Also kann der Mensch einen andern nicht lehren. 8  Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q.  73 (CCSL 44A, 210). 9  Boethius, Philos. consol. V, pr.  5 (CCSL 94, 99). 10  Augustinus, De magistro, c.  12, 39–40 (CCSL 29, 196–199).

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14.  Zum Wissen sind nur das Licht des Verstandes und das Er­ kenntnisbild (species) erforderlich. Aber keines von beidem kann in einem Menschen von einem anderen verursacht werden, da sonst der Mensch etwas erschaffen müßte; denn derartige einfachen For­ men können anscheinend nur durch Schöpfung hervorgebracht wer­ den. Also kann ein Mensch in einem anderen kein Wissen verursa­ chen und folglich auch nicht lehren. 15.  Nur Gott allein kann den Geist des Menschen formen, wie Augustinus11 sagt. Wissen ist aber eine bestimmte Form des Geistes. Also verursacht allein Gott in der Seele das Wissen. 16.  Wie die Schuld im Geiste ist, so auch die Unwissenheit. Aber allein Gott reinigt den Geist von der Schuld: »Ich bin der, der deine Bosheiten um meinetwillen tilgt« (Jes. 43, 25). Also reinigt allein Gott den Geist von der Unwissenheit, und somit lehrt er allein. 17. Da Wissen eine Erkenntnis mit Gewißheitscharakter ist, nimmt einer von demjenigen das Wissen an, durch dessen Sprechen er Gewißheit erlangt. Gewißheit erlangt er aber nicht schon aus der bloßen Tatsache, daß er einen Menschen sprechen hört, sonst müßte ihm alles, was ihm von einem Menschen gesagt wird, als gewiß fest­ stehen. Gewißheit erlangt er aber nur dadurch, daß er im Inneren die Wahrheit sprechen hört; diese befragt er auch hinsichtlich des­ sen, was er von einem Menschen hört, um Gewißheit zu bekommen. Also lehrt nicht der Mensch, sondern die Wahrheit, die im Inneren spricht, also Gott. 18.  Keiner lernt durch das Sprechen eines anderen das hinzu, was er auch vor dieser Ansprache auf Befragen hin geantwortet hätte. Aber bevor der Lehrer zum Schüler spricht, würde dieser auf Be­ fragen Rede und Antwort stehen über die Themen, die der Lehrer ihm vorlegt. Er würde nämlich durch das Sprechen des Lehrers nur dann belehrt werden, wenn er erkennen würde, daß die Sache sich so verhält, wie der Lehrer sie darbietet. Also wird ein Mensch nicht durch das Sprechen eines anderen Menschen belehrt.

11  Augustinus, De Gen. ad litt. III, 20 (CSEL 28/1, 87); De lib. arb. II, 17, 45 (CCSL 29, 269 f.); De diversis quaestionibus 83, q.  51, 4 (CCSL 44A, 81).

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Dagegen spricht: 1.  In 2 Tim. 1, 11 heißt es: »Dafür [für das Evangelium] bin ich eingesetzt als Verkünder und Lehrer der Völker«. Also kann der Mensch sowohl Lehrer sein als auch heißen. 2.  In 2 Tim. 3, 14 steht: »Du aber bleibe bei dem, was du gelernt und wovon du dich überzeugt hast.« Die Glosse12 kommentiert: »Von mir als von einem wahrhaften Lehrer.« Somit folgt dasselbe wie zuvor. 3.  In Mt. 23, 8 wird zugleich gesagt: »Einer ist euer Meister« und »Einer ist euer Vater«. Aber die Tatsache, daß Gott der Vater aller ist, schließt nicht aus, daß auch ein Mensch wahrhaft Vater genannt werden kann. Also wird dadurch auch nicht ausgeschlossen, daß ein Mensch wahrhaft Lehrer genannt werden kann. 4.  Über die Stelle Röm. 10, 1513: »Wie lieblich sind auf den Bergen [die Füße der Freudenboten] (Zitat Jes. 52,7)« sagt die Glosse14: »Die Füße sind diejenigen, die die Kirche erleuchten.« Es ist aber von den Aposteln die Rede. Da also das Erleuchten eine Tätigkeit des Lehrers ist, sind die Menschen anscheinend zum Lehren fähig. 5.  Wie es im Buch IV der Meteorologica15 heißt, ist »ein jedes dann vollendet, wenn es etwas ihm Ähnliches erzeugen kann«. Wis­ sen ist aber eine bestimmte vollendete Erkenntnis. Also kann ein Mensch, der Wissen hat, einen anderen lehren. 6.  Augustinus sagt in seinem Genesiskommentar Gegen die Manichäer 16: Wie die Erde, die vor dem Sündenfall von einer Quelle bewässert wurde, nach dem Sündenfall jedoch den Niederschlag aus den Wolken nötig hatte, so wurde der menschliche Geist, der durch 12  Glossa Petri Lombardi, ibid. (PL 192, col. 378 A). 13  Vulgata: Röm. 10, 15: Quam speciosi pedes evangelizantium bona;

Jesaja 52, 7: Quam pulchri super montes pedes annuntiantis, praedicantis pacem, annuntiantis bonum, praedicantis salutem, dicentis Sion: »Regnavit Deus tuus!«; EÜ: »Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Heil verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König.« 14  Glossa interlin. et Glossa Petri Lombardi super Rom. 10, 15 (PL 191, col. 1477 D). 15  Aristoteles, Meteor. IV, 3; 380 a 12. 16  Augustinus, De Gen. contra Manichaeos II, 3–5 (CSEL 91, 120–124).

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die Erde symbolisiert wird, vor dem Sündenfall durch die Quelle der Wahrheit fruchtbar gemacht; nach dem Sündenfall aber hat er die Lehre anderer nötig gleichsam als Niederschlag aus den Wolken. Also wird wenigstens nach dem Sündenfall der Mensch vom Men­ schen gelehrt. Antwort: Bei drei Problemkreisen17 stößt man auf dieselbe Meinungsver­ schiedenheit, nämlich (1) bei der Überführung von Wesensformen ins Sein, (2) beim Erwerb von Tugenden und (3) beim Erwerb wis­ senschaftlicher Kenntnisse. Eine Gruppe von Denkern sagte näm­ lich, alle Formen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge stammten von einer Wirkkraft von außerhalb, nämlich von einer [von der Ma­ terie] getrennten Substanz oder Form, die bei ihnen »Formgeber« oder »tätige Intelligenz« heißt. Ferner seien alle untergeordneten natürlichen Wirkkräfte nur dazu da, die Materie auf die Aufnahme der Form vorzubereiten. In gleichem Sinne äußert sich auch Avi­ cenna18 in seiner Metaphysik: »Die Ursache des moralischen Habi­ tus ist nicht unser Handeln, sondern das Handeln hält nur dessen Gegenteil fern und richtet uns auf jenen Habitus aus, so daß er uns von der die Seelen der Menschen vervollkommnenden Substanz her zufällt, nämlich von der tätigen Intelligenz oder einer ihr ähnlichen Substanz.« Dementsprechend behaupten diese Denker auch, daß Wissen in uns nur durch eine getrennte Wirkkraft hervorgebracht wird. Deshalb behauptet Avicenna in Buch VI De naturalibus (De anima)19, daß die intelligiblen Erkenntnisformen von einer tätigen Intelligenz aus in unseren Geist einströmen. Eine andere Gruppe von Denkern vertrat jedoch die entgegenge­ setzte Lehrmeinung, nämlich daß alle diese Bestimmungen in den Dingen schon angelegt seien und keine Ursache von außen hätten, sondern durch äußere Einwirkung lediglich zum Vorschein gebracht

17  Vgl. Sum. theol. I-II, q.  63, a.  1. Auch hier stellt Thomas die drei Problemkreise als Ausformungen desselben Grundproblems dar. 18  Avicenna, Philosophia prima IX, 2 (Avicenna latinus II, 456 ff.). 19  Avicenna, De anima V, 5 (Avicenna latinus II, 126 ff.).

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würden. Gewisse Leute20 behaupteten nämlich, daß alle natürlichen Formen in der Materie schon wirklich waren – wenn auch verbor­ gen – und daß die natürliche Wirkkraft nur die Funktion hat, sie aus dem Verborgenen ans Licht zu bringen. Dementsprechend waren auch einige21 der Ansicht, alle Habitus von Tugenden seien uns von Natur aus eingegeben, aber durch die Ausübung von Werken wür­ den Hemmnisse beseitigt, wodurch besagte Habitus gleichsam ver­ deckt werden, so wie durch Abschleifen der Rost entfernt wird und dadurch der Glanz des Eisens offen zutage tritt.22 Dementsprechend sagten auch einige23, das Wissen von allem sei der Seele miterschaf­ fen und durch dergleichen wie Lehre und äußere Hilfsmittel für das Wissen werde die Seele nur zur Erinnerung oder Betrachtung der entsprechenden Gegenstände gebracht, die sie früher gewußt hat. Daher sagen sie, Hinzulernen sei nichts anderes als Sich-Erinnern. Beide Meinungen entbehren aber jeder vernünftigen Grundlage. Die erste Meinung schließt nämlich die naheliegenden Ursachen aus, indem sie alle Wirkungen, die in den untergeordneten Dingen vor­ kommen, allein den ersten Ursachen zuweist. Dadurch wird aber der Ordnung des Universums Abbruch getan, das durch Anordnung und Verknüpfung von Ursachen strukturiert ist, indem die Erste Ursache aus dem Übermaß ihrer Gutheit den anderen Dingen nicht nur das Sein, sondern auch das Ursache-Sein verleiht. Auch die zweite Meinung läuft gewissermaßen auf dieselbe Unge­ reimtheit hinaus. Die Hemmnisse beseitigende Wirkkraft ist ja nur eine Wirkkraft per accidens, wie es im 8. Buch der Physik24 heißt: 20  Anaxagoras (vgl. Aristoteles, Phys. I, 9; 187 a 26); Thomas, De virt. in communi, a.  8: (Anaxagoras) posuit omnia esse in omnibus, ut ex omnibus omnia generari possent. 21  Ioh. Damascenus, Expositio fidei orthodoxae III, c.  14 (PG 94, 1045 A; ed. E. M. Buytaert, 226); vgl. Thomas, Sent. III, d.  33, q.  1, a.  2, qc.  1, sol.  1. ed. 22  Zur Rostmetapher vgl. Plotin, Enneade IV, 7, 10 (Über die Unsterb­ lichkeit der Seele): Wenn die Seele ihres wahren Wesens innewird, er­ kennt sie ihre nicht von außen kommende Schönheit, die verglichen wird mit Standbildern aus Gold, die durch die Zeit mit Rost befleckt sind. 23  Opinio Platonicorum; vgl. supra, q.  10, a.  6; Sum. theol. I, q.  117, a.  1 c. 24  Aristoteles, Phys. VIII, 4; 255 b 24–29.

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Wenn nun die untergeordneten Wirkkräfte nur die Funktion haben, die Formen, die Habitus der Tugenden und der wissenschaftlichen Kenntnisse aus dem Verborgenen zum Vorschein zu bringen, in­ dem sie die Hemmnisse beseitigen, durch die diese verdeckt wurden, werden folglich alle untergeordneten Wirkkräfte nur per accidens wirken. Und daher ist nach der Lehre des Aristoteles in allen oben ge­ nannten Punkten ein mittlerer Weg zwischen diesen beiden Positio­ nen einzuschlagen, denn die Formen der Naturdinge sind allerdings schon vorher in der Materie vorhanden, aber nicht in Wirklichkeit, wie die eine Gruppe sagte, sondern nur der Möglichkeit nach. Von ihr werden sie durch die nächstliegende äußere Wirkkraft in die Wirklichkeit übergeführt, und nicht allein durch die erste Wirk­ kraft, wie die andere Lehrmeinung behauptete. Dementsprechend sind nach der Aussage von Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik25 die Habitus der Tugenden schon vor ihrer vollen Ent­ faltung in uns vorhanden, nämlich in Form von bestimmten natür­ lichen Neigungen, die gewissermaßen Anfangsgründe der Tugen­ den sind. Später werden sie aber durch Ausübung von Werken zur gebührenden vollen Entfaltung gebracht. Entsprechendes ist auch vom Wissenserwerb zu sagen, nämlich daß in uns sozusagen Keime der wissenschaftlichen Kenntnisse schon angelegt sind, und zwar in Form erster Verstandesbegriffe, die sofort im Lichte des tätigen Verstandes mittels der von den sinnenfälligen Dingen abstrahierten Erkenntnisbilder erkannt werden; das können sowohl Urteile sein, wie z. B. Axiome, als auch einfache Begriffe, wie etwa der Begriff ›Seiendes‹, ›Eines‹ und dergleichen, die der Verstand sofort erfaßt. In diesen allgemeinen Prinzipien ist aber alles Folgende gewisser­ maßen keimhaft eingeschlossen. Wenn der Geist also von diesen allgemeinen Erkenntnissen aus dahin geführt wird, daß er in Wirk­ lichkeit Besonderes erkennt, das zuvor schon im Allgemeinen und gleichsam der Möglichkeit nach erkannt wurde, dann sagt man, daß jemand Wissen erwirbt. Gleichwohl muß man wissen, daß im Bereich der Naturdinge auf zweierlei Weise etwas der Möglichkeit nach im voraus vorhanden 25  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 13; 1144 b 4.

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ist. Zum einen in einer vollständigen aktiven Potenz, dann näm­ lich, wenn das innere Prinzip hinreicht, den Zustand der vollen­ deten Wirklichkeit herbeizuführen. So ist es offensichtlich bei der Heilung: Da wird nämlich der Kranke aufgrund der dem Kranken innewohnenden natürlichen Kraft zur Gesundheit geführt. Zum anderen in einer passiven Potenz, wenn nämlich das innere Prin­ zip nicht hinreicht, die Verwirklichung herbeizuführen. So verhält es sich offensichtlich, wenn aus Luft Feuer wird. Diese Verände­ rung konnte nicht durch eine in der Luft schon vorher vorhandene Kraft verursacht werden. Wenn also etwas in vollkommener aktiver Potenz schon vorhanden ist, dann wirkt die von außen kommende Wirkkraft nur, indem sie die innere Wirkkraft unterstützt und ihr zu den Mitteln verhilft, wodurch sie in die Wirklichkeit übergehen kann. So ist etwa der Arzt bei der Heilung nur der Gehilfe der Na­ tur, die in erster Linie am Werk ist, indem er die Natur stärkt und ihr Arzneimittel beigibt, derer sich die Natur als Werkzeuge zur Heilung bedient. Wenn aber etwas nur in passiver Potenz schon vorher vorhan­ den ist, dann ist es die äußere Wirkkraft, die in erster Linie von der Möglichkeit zur Wirklichkeit überführt; so wie das Feuer aus der Luft, die der Möglichkeit nach Feuer ist, wirklich Feuer macht. Das Wissen existiert also im Lernenden in nicht rein passiver P ­ otenz, sondern in aktiver, sonst könnte der Mensch nicht durch sich selbst Wissen erwerben. So wie also einer auf zweifache Weise gesund ge­ macht wird, einmal durch das Wirken der Natur allein, zum ande­ ren von der Natur mit medizinischer Beihilfe, so gibt es auch zwei Weisen des Wissenserwerbs: 1., wenn die natürliche Vernunft durch sich selbst zur Erkenntnis von Unbekanntem gelangt, und diese Weise heißt »Finden«. 2., wenn der natürlichen Vernunft jemand von außen nachhilft, und diese Weise heißt »Lehren«. Bei dem aber, was von Natur und durch Kunst geschieht, wirkt die Kunst auf dieselbe Weise und durch dieselben Mittel wie die Natur. Wie nämlich die Natur bei einem, der aufgrund von Kälte leidet, die Gesundheit durch Erwärmung herbeiführen würde, so auch der Arzt; deshalb heißt es, die Kunst ahme die Natur nach.26 26  Ars imitatur naturam: Aristoteles, Phys. II, 4; 194 a 21.

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Ähnlich verhält es sich auch beim Wissenserwerb, weil der Lehrende auf dieselbe Weise einen anderen zum Wissen von Unbekanntem hinführt, wie einer durch das Finden sich selbst zur Erkenntnis des Unbekannten hinführt. Das Vorgehen der Vernunft, die durch das Finden zur Erkenntnis des Unbekannten gelangt, ist aber folgendes: Sie wendet allgemeine selbstevidente Prinzipien auf bestimmte Inhalte an und schreitet von dort zu besonderen Schlußfolgerungen fort und von diesen zu weiteren. Daher sagt man, einer lehre den anderen, insofern er eben diese Denkschritte, die er in sich durch die natürliche Vernunft macht, dem anderen durch Zeichen darlegt. So gelangt die natürli­ che Vernunft des Schülers durch derartige ihm vorgelegte Zeichen gleichsam durch Werkzeuge zur Erkenntnis von Unbekanntem. So wie man also vom Arzt sagt, er verursache die Gesundheit im Kran­ ken, während die Natur am Werk ist, so sagt man auch, ein Mensch verursache Wissen in einem anderen durch das Wirken von des­ sen natürlicher Vernunft, und das heißt lehren. Deshalb sagt man, ein Mensch lehre einen anderen und sei dessen Lehrer. Und in die­ sem Sinne sagt der Philosoph im 1. Buch der Zweiten Analytiken27: »Beweis ist ein Schlußverfahren, das Wissen bewirkt.« Wenn aber ­jemand einem anderen Gedanken vorlegt, die in den selbstevidenten Prinzipien nicht eingeschlossen sind oder deren Eingeschlossensein nicht deutlich gemacht wird, wird er in ihm nicht Wissen, sondern allenfalls Meinung oder Glauben zustande bringen, wobei freilich auch dies in gewisser Weise durch die eingeborenen Prinzipien ver­ ursacht wird. Denn eben von diesen selbstevidenten Prinzipien her bedenkt er [der Lernende], daß das, was aus ihnen notwendig folgt, als gewiß festzuhalten, was aber diesen widerspricht, ganz und gar zurückzuweisen sei; anderem aber kann er Zustimmung gewähren oder auch nicht gewähren. Das Licht aber einer derartigen Vernunft, in dem solche Prinzipien uns bekannt sind, ist uns von Gott einge­ geben, gleichsam als ein in uns widerscheinendes Bild und Gleichnis der ungeschaffenen Wahrheit. Wenn daher jede menschliche Lehre nur kraft jenes Lichtes Erfolg haben kann, steht fest, daß Gott allein es ist, der von innen und in erster Linie lehrt, so wie die Natur von 27  Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 b 17–18.

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innen und in erster Linie heilt. Nichtsdestoweniger sagt man in der eben besprochenen Weise vom Menschen, daß er sowohl heilt als auch lehrt, und das im eigentlichen Sinne. Zu 1.  Zum ersten Einwand ist also folgendes zu sagen: Damit die Vorschrift des Herrn, die Jünger sollten sich nicht Meister nen­ nen lassen, nicht als absolut geltendes Verbot mißverstanden werden kann, legt die Glosse aus, wie dieses Verbot denn zu verstehen ist. Verboten ist uns nämlich, einen Menschen auf solche Weise Lehr­ meister zu nennen, daß wir ihm die hauptsächliche Lehrerschaft, die Gott zukommt, zuschreiben, als ob wir unsere Hoffnung auf Men­ schenweisheit setzten, anstatt lieber über das, was wir von ­einem Menschen hören, die göttliche Wahrheit zu befragen, die in uns spricht durch die Einprägung ihres Gleichnisses, durch das wir über alles urteilen können. Zu 2.  Erkenntnis der Dinge wird in uns nicht durch die Erkennt­ nis der Zeichen bewirkt, sondern durch die Erkenntnis anderer, ge­ wisserer Dinge, nämlich der Prinzipien, die uns durch irgendwelche Zeichen vorgelegt und auf solche Inhalte angewandt werden, die uns zuvor an und für sich28 (simpliciter) unbekannt waren, wenn sie auch, wie gesagt, in gewisser Hinsicht bekannt waren; die Erkennt­ nis der Prinzipien bewirkt in uns nämlich das Wissen der Schluß­ folgerungen, nicht die Erkenntnis der Zeichen. Zu 3.  Das, worüber wir durch Zeichen unterrichtet werden, ken­ nen wir freilich in gewisser Hinsicht, und in anderer Hinsicht ist 28  Vgl. Sum. theol. III, q.  50, a.  3: Thomas unterscheidet zwei Bedeu­ tungen von simpliciter. Einmal heißt simpliciter soviel wie »absolut«, also ohne eine den Geltungsbereich einschränkende Hinzufügung (nullo addito). Die zweite Bedeutung ist »ganz und gar oder gänzlich« (omnino vel totaliter), d. h. »in jeder Hinsicht«. Im ersten Sinn kann etwas zugleich simpliciter der Fall sein, in gewisser Hinsicht (secundum quid) aber nicht. In der zweiten Bedeutung ist dies nicht möglich: Es wäre dann etwas zu­ gleich in jeder Hinsicht der Fall und nicht in jeder Hinsicht der Fall. Vgl. dazu Klaus Obenauer: Thomas von Aquin. Quaestio disputata de unione Verbi incarnati (»Über die Union des fleischgewordenen Wortes«). Über­ setzung, ausführlicher wissenschaftlicher Kommentar und theologischtheologiegeschichtliche Reflexion. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S.  174.

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es uns unbekannt. Wenn wir etwa darüber belehrt werden, was ein Mensch ist, müssen wir schon vorher etwas über ihn wissen, näm­ lich den Begriff »Lebewesen« oder »Substanz« oder wenigstens eben »Seiendes«, ein Begriff, der uns nicht unbekannt sein kann; und ähnlich verhält es sich, wenn wir über irgendein Schlußverfahren belehrt werden: Man muß schon vorher von der Bestimmung und dem Subjekt [im Syllogismus] wissen, was sie sind29, wobei auch die Prinzipien, durch die die Schlußfolgerung gelehrt wird, schon vorher bekannt sein müssen. »Denn alles Lernen erfolgt aus schon vorhandenem Wissen«, wie es am Anfang der Zweiten Analytiken 30 heißt. Deshalb ist die Argumentation nicht schlüssig. Zu 4.  Aus den sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die im Sinnes­ vermögen aufgenommen werden, entnimmt der Verstand die inten­ tionalen Gehalte, die er benutzt, um in sich selbst Wissen zu erzeu­ gen. Denn die nächstliegende Wirkursache des Wissens sind nicht die Zeichen, sondern – wie gesagt – die diskursive Vernunft, die von den Prinzipien zu den Schlußfolgerungen schreitet. Zu 5.  In der Person, die belehrt wird, war das Wissen schon vor­ her vorhanden, freilich nicht in vollendeter Verwirklichung, son­ dern gleichsam in keimhaften Anfangsgründen (rationes seminales), ­insofern die allgemeinen Begriffe, deren Kenntnis uns naturhaft eingegeben ist, gewissermaßen die Keime aller darauffolgenden er­ kannten Inhalte sind. Zwar können die keimhaften Anfangsgründe durch eine geschaffene Kraft nicht in dem Sinne in die Wirklich­ keit überführt werden, daß diese selbst durch irgendeine geschaf­ fene Kraft gleichsam eingegossen würden, aber das, was in ihnen ursprunghaft und virtuell31 enthalten ist, kann durch die Tätigkeit einer geschaffenen Kraft in die Wirklichkeit überführt werden. Zu 6.  Man sagt nicht, der Lehrende übertrage das Wissen auf den Schüler, als ob jenes numerisch identische Wissen, das im Lehrer 29  Vgl. Thomas v. Aquin, In Anal. post. I, 2 (ed. R. M. Spiazzi, nr. 2 u. 3; ed. Leon. I*/2, 10 f.): man muß die Definition des Subjekts und des Prädi­ kats in der conclusio kennen. 30  Aristoteles, Anal. post. I, 1, 71 a 1. 31  originaliter et virtualiter: Vgl. Sum. theol. I, q.  79, a.  2: Auf diese Weise ist alles Seiende in Gott als der Ersten Ursache enthalten.

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ist, im Schüler entstünde, sondern man spricht von Wissenstransfer, weil durch das Lehren im Schüler ein Wissen entsteht, das dem Wis­ sen gleicht, das im Lehrer ist. Dieses Wissen wurde – wie gesagt – von der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt. Zu 7.  Wie man vom Arzt sagt, er mache gesund, obwohl er doch nur von außen wirkt, während die Natur allein im Inneren wirkt, so sagt man auch vom Menschen, er lehre die Wahrheit, obwohl er sie nur von außen kundtut, während Gott im Inneren lehrt. Zu 8.  Augustinus erbringt in seinem Buch Über den Lehrer den Nachweis, daß Gott allein lehrt, nicht in der Absicht auszuschließen, daß der Mensch von außen lehrt, sondern er will damit sagen, daß allein Gott selbst im Inneren lehrt. Zu 9.  Der Mensch kann wirklich und wahrhaft Lehrer genannt werden und ein die Wahrheit Lehrender, ja auch ein den Geist Er­ leuchtender, nicht in dem Sinne, daß er das Licht der Vernunft ein­ gösse, sondern in dem Sinne, daß er das Licht der Vernunft durch das, was er außen vorlegt, unterstützt bei der Vervollkommnung des Wissens. In diesem Sinne heißt es Eph. 3, 8: »Mir aber als dem Geringsten der Heiligen ist diese Gnadengabe zuteil geworden, alle zu erleuchten« usw. Zu 10.  Es gibt eine zweifache Weisheit, nämlich die geschaffene und die ungeschaffene. Beide, sagt man, werden dem Menschen eingegossen, und durch ihre Eingießung wird der Mensch verän­ dert, indem er Fortschritte zum Besseren macht. Die ungeschaf­ fene Weisheit ist aber auf keine Weise veränderlich, die geschaffene wird jedoch in uns akzidentell, nicht an sich verändert. Man kann sie nämlich zweifach betrachten: einmal in Hinsicht auf die ewigen Dinge, auf die sie sich bezieht, und so ist sie ganz und gar unver­ änderlich, zum anderen dem Sein nach, das sie in ihrem Träger hat, und so wird sie akzidentell verändert, wenn der Träger verändert wird von einem, der potentiell Weisheit hat, zu einem, der sie wirk­ lich hat: Denn die intelligiblen Formen, aus denen die Weisheit be­ steht, sind sowohl Nachbildungen der Dinge als auch Formen, die den Verstand vervollkommnen. Zu 11.  Die intelligiblen Formen, aus denen sich das durch Lehre aufgenommene Wissen zusammensetzt, werden im Schüler einge­ tragen, und zwar unmittelbar durch den tätigen Verstand, aber mit­

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telbar durch den, der lehrt. Der Lehrer legt nämlich Zeichen der intelligiblen Dinge vor, aus denen der tätige Verstand intentionale Gehalte entgegennimmt und diese im möglichen Verstand einträgt: Deshalb verhalten sich eben diese Worte des Lehrers, sei es als ge­ hörte oder als in Schriftform gesehene, so zur Verursachung des Wissens im Verstand wie die Dinge außerhalb der Seele, weil der tä­ tige Verstand aus beiden die intentionalen Gehalte entgegennimmt. Gleichwohl haben die Worte des Lehrers ein engeres Verhältnis zur Verursachung des Wissens als die außerhalb der Seele existierenden sinnlich wahrnehmbaren Dinge, insofern sie schon Zeichen inten­ tionaler Gehalte sind. Zu 12.  Zwischen dem Verstand und dem körperlichen Gesichts­ sinn besteht keine durchgängige Ähnlichkeit: Der körperliche Ge­ sichtssinn ist nämlich kein kombinierendes Vermögen, so daß es von einigen seiner Gegenstände zu andern gelangte, sondern alle seine Gegenstände sind für ihn sichtbar, sobald er sich ihnen zuwen­ det. Wer Sehvermögen besitzt, verhält sich deshalb so zur Wahr­ nehmung aller sichtbaren Dinge wie derjenige, der den Habitus des Wissens hat, zur aktuellen Betrachtung der Dinge, die er habituell weiß. Deshalb braucht der Sehende nicht von einem andern zum Sehen angeregt zu werden, außer insofern sein Blick durch einen andern auf etwas bestimmtes Sichtbares gelenkt wird, z. B. durch einen Fingerzeig oder etwas dergleichen. Da das Erkenntnisvermö­ gen eine kombinierende Kraft ist, geht es von einem zum anderen über. Deshalb verhält es sich nicht in gleicher Weise zur Betrachtung aller intelligiblen Inhalte, sondern manche sieht es sofort, und das sind die selbstevidenten, in denen implizit gewisse andere enthalten sind. Diese kann es nur erkennen durch das Geschäft der Vernunft, indem es das, was in den Prinzipien implizit enthalten ist, entfaltet. Bevor das Erkenntnisvermögen den Habitus des Wissens hat, ist es im Hinblick auf die Erkenntnis letztgenannter Inhalte nicht nur in akzidenteller Möglichkeit, sondern sogar in wesentlicher Möglich­ keit. Er bedarf nämlich einer Bewegursache, die es durch Lehren in die Wirklichkeit überführt, wie es im 8. Buch der Physik32 heißt. 32  Aristoteles, Phys. VIII, 8; 255 a 33 ff. Die wesentliche Möglichkeit (potentia essentialis) ist die Möglichkeit zum actus primus, die akzi­

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­ iner solchen Bewegursache bedarf derjenige nicht, der schon etwas E habituell weiß. Der Lehrer regt also den Verstand an, das zu wis­ sen, was er lehrt, wie eine wesentliche Bewegursache, die von der Möglichkeit zur Wirklichkeit überführt. Dagegen regt derjenige, der ­einem körperlichen Sehvermögen ein bestimmtes Ding zeigt, dieses an wie ein akzidenteller Beweger, so wie auch jemand, der den Ha­ bitus des Wissens hat, von jemandem zur (aktuellen) Betrachtung angeregt werden kann. Zu 13.  Die Gewißheit des Wissens entspringt gänzlich aus der Gewißheit der Prinzipien. Dann nämlich werden Schlußfolgerun­ gen mit Gewißheit gewußt, wenn sie in ihre Prinzipien aufgelöst werden. Und deshalb stammt die Tatsache, daß etwas mit Gewiß­ heit gewußt wird, aus dem göttlicherseits unserem Inneren einge­ gebenen Licht der Vernunft, in dem Gott in uns spricht. Diese Ge­ wißheit stammt hingegen von einem äußerlich lehrenden Menschen nur insofern, als er, uns belehrend, die Schlußfolgerungen in ihre Prinzipien auflöst. Daraus würden wir freilich keine Gewißheit des Wissens schöpfen, wohnte uns nicht die Gewißheit der Prinzipien inne, in die die Schlußfolgerungen aufgelöst werden. Zu 14.  Der von außen lehrende Mensch flößt nicht das Erkennt­ nislicht ein, sondern ist in gewisser Weise Ursache eines Erkennt­ nisbildes (species intelligibilis), insofern er uns bestimmte Zeichen intentionaler Gehalte vorlegt, die unser Verstand von diesen Zeichen empfängt und sie in sich selbst birgt. Zu 15.  Wenn man sagt: »Nichts kann den Geist formen außer Gott«, ist damit seine letzte Form gemeint, ohne die er als unge­ formt erachtet wird, egal wie viele andere Formen er sonst auch ha­ ben möge. Das ist aber jene Form, durch die er zum göttlichen Wort hingewendet wird und ihm anhängt. Durch sie allein heißt die ver­ dentelle Möglichkeit (potentia accidentalis) die Möglichkeit zum actus secundus. Dementsprechend ist eine wesentliche Bewegursache (motor essen­t ialis) diejenige, die einen Menschen, der noch kein Wissen hat, zum Habitus des Wissens führt. Eine akzidentelle Bewegursache (motor accidentalis) ist dann eine, die jemanden, der den Habitus des Wissens schon hat, aber im Moment keinen Gebrauch davon macht, tatsächlich zum Nachdenken bringt.

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nünftige Natur eine geformte, wie aus des Augustinus’ Kommentar Über den Wortlaut der Genesis33 ersichtlich ist. Zu 16.  Die Schuld liegt im affektiven Seelenbereich, auf den al­ lein Gott prägend einwirken kann, wie unten im folgenden Artikel deutlich werden wird. Die Unwissenheit aber liegt im Verstand, auf den auch eine geschaffene Kraft prägend einwirken kann. So prägt der tätige Verstand die geistigen Erkenntnisbilder in den mögli­ chen Verstand ein, vermittels dessen – wie gesagt – aus den sinnlich wahrnehmbaren Dingen und der Lehre eines Menschen in unserer Seele Wissen verursacht wird. Zu 17.  Gewißheit des Wissens hat jemand, wie gesagt, allein von Gott, der uns das Licht der Vernunft eingegeben hat, durch das wir die Prinzipien erkennen, aus denen die Gewißheit des Wissens ent­ springt. Und dennoch wird Wissen in uns – wie gesagt – in gewisser Weise auch von einem Menschen verursacht. Zu 18.  Ein Schüler würde, wenn man ihn vor dem Lehrervortrag fragt, zwar über die Prinzipien Auskunft geben, durch die er gelehrt wird, nicht aber über die Schlußfolgerungen, die jemand ihn lehrt. Deshalb lernt er vom Lehrer nicht die Prinzipien, sondern nur die Schlußfolgerungen. 2. Artik el Die zweite Frage lautet: Kann jemand Lehrer seiner selbst genannt werden? Dies scheint der Fall zu sein, (1) weil das Wirken eher der Hauptursache als der Instrumental­ ursache zugeschrieben werden muß. Aber gleichsam die Hauptur­ sache des verursachten Wissens in uns ist der tätige Verstand, der Mensch aber, der von außen lehrt, ist sozusagen die Instrumental­ ursache, indem er dem tätigen Verstand die Hilfsmittel bereitstellt, mit denen dieser zum Wissen hinleitet. Also lehrt der tätige Ver­ stand eher, als der Mensch es von außen tut. Wenn also jemand, der von außen lehrt, wegen des äußeren Vortrags Lehrer seines Hörers

33  Augustinus, De Gen. ad litt. III, 20 (CSEL 28/1, 86 f.).

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genannt wird, so muß in viel höherem Grade jener Hörer wegen des Lichtes der tätigen Vernunft Lehrer seiner selbst genannt werden. 2.  Jeder lernt nur insofern etwas dazu, als er zur Gewißheit der Erkenntnis gelangt; aber die Gewißheit der Erkenntnis wohnt uns durch die im Lichte des tätigen Verstandes von Natur aus bekannten Prinzipien inne. Also kommt das Lehren vornehmlich dem tätigen Verstand zu, und so folgt dasselbe wie zuvor. 3.  Lehren kommt in eigentlicherem Sinne Gott zu als dem Men­ schen, weshalb es Mt. 23, 8 heißt: »Einer ist euer Lehrer«. Aber Gott lehrt uns, insofern er uns das Licht der Vernunft mitgibt, in dem wir über alles urteilen können. Also muß jenem Licht vornehmlich die Lehrtätigkeit zugeschrieben werden, und so folgt dasselbe wie zuvor. 4.  Etwas durch eigenes Finden zu wissen, ist vollkommener, als es von einem anderen zu lernen, wie im 1. Buch der Nikomachischen Ethik 34 deutlich wird. Wenn also schon von jener Weise des Wis­ senserwerbs her, bei der jemand Wissen von einem anderen hinzu­ lernt, die Bezeichnung »Lehrer« gewonnen wird, so daß einer des anderen Lehrer ist, muß mit viel mehr Recht von der Weise der Wis­ sensaneignung auf dem Weg eigenen Findens her die Bezeichnung »Lehrer« dahingehend verstanden werden, daß einer Lehrer seiner selbst genannt wird. 5.  Wie jemand von einem anderen und von sich selbst zur Tugend angeleitet wird, so wird einer an das Wissen sowohl von sich selbst durch Finden als auch von einem anderen durch Hinzulernen hin­ geleitet. Aber von jenen, die zu Werken der Tugend ohne äußeren Regel- oder Gesetzgeber gelangen, heißt es in Röm 2, 14, sie seien sich selbst Gesetz: »Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie sich selbst Gesetz.« Somit muß man auch von jenem, der Wissen durch sich selbst erwirbt, sagen, er sei sich selbst Lehrer. 6.  Der Lehrer ist, wie gesagt, Ursache des Wissens, wie der Arzt Ursache der Gesundheit ist. Aber der Arzt heilt sich selbst, also kann einer auch sich selbst lehren.

34  Aristoteles, Eth. Nic. I, 4; 1095 b 10.

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Dagegen spricht: 1.  Der Philosoph sagt im 8. Buch der Physik 35, es sei unmöglich, daß ein Lehrender lernt, weil es notwendig so ist, daß der Lehrende das Wissen besitzt, der Lernende es dagegen nicht besitzt. Also kann es nicht sein, daß einer sich selbst lehrt oder sein eigener Lehrer ge­ nannt werden kann. 2.  Das Lehramt bringt eine Beziehung der Überordnung mit sich, so wie es bei einem Herrn der Fall ist. Aber derartige Beziehun­ gen können bei niemandem in Bezug auf sich selbst vorhanden sein. Niemand ist nämlich Vater oder Herr seiner selbst; also kann auch niemand Lehrer seiner selbst genannt werden. Antwort: Ohne Zweifel kann jemand durch das ihm eingegebene Licht der Vernunft ohne den Beistand äußerer Belehrung zur Kenntnis vieler unbekannter Dinge gelangen, wie es bei einem jeden klar ist, der durch eigenes Finden Wissen erwirbt. Und so ist jemand in gewisser Weise sich selbst Ursache des Wissens; dennoch kann man deswe­ gen nicht in eigentlichem Sinne von ihm sagen, er sei Lehrer seiner selbst oder er unterrichte sich selbst. Wir finden nämlich zwei Arten von Wirkprinzipien in den Natur­ dingen, wie nach Aristoteles im 7. Buch der Metaphysik 36 deutlich wird: Es gibt nämlich eine Wirkkraft, die in sich schon das Ganze enthält, was in der Wirkung durch sie verursacht wird, und zwar entweder in derselben Weise, wie es bei univoken Wirkkräften der Fall ist, oder sogar in ausgezeichneterer Weise, wie es bei den äqui­ voken Wirkkräften der Fall ist. Es gibt aber auch gewisse Wirkkräfte, in denen von den Wirkungen, die sie hervorbringen, nur ein Teil zu­ vor schon vorhanden ist. So verursacht z. B. Bewegung Gesundheit oder eine warme Medizin, in der man die Wärme entweder wirk­ lich (actualiter) oder dem Vermögen nach (virtualiter)37 vorfindet. 35  Aristoteles, Phys. VIII, 9; 257 a 12. 36  Aristoteles, Met. VII, 9; 1034 a 21. 37  Actualiter ist die Wärme als akzidentelle Form, z. B. im Feuer, das

in der Lage ist, potentiell Warmes wie etwa kaltes Wasser zu erwärmen. Wärme wäre dann sowohl in der Ursache als auch in der Wirkung tatsäch­

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Wärme ist aber nicht die ganze Gesundheit, sondern nur ein Teil der Gesundheit. In den erstgenannten Wirkprinzipien ist also der voll­ kommene Sinngehalt der Wirkursächlichkeit realisiert, nicht aber in den Wirkkräften der zweiten Art, weil etwas insofern wirkt, als es wirklich ist. Deshalb wird etwas kein vollkommen Wirkendes sein, wenn es nur zum Teil in Wirklichkeit ist hinsichtlich der Wirkung, die herbeigeführt werden soll. ›Lehre‹ besagt aber die vollkommene Wirkursächlichkeit des Wis­ sens im Unterrichtenden bzw. im Lehrer; deshalb muß jener, der unterrichtet bzw. Lehrer ist, das Wissen, das er im anderen bewirkt, explizit und vollkommen besitzen, so wie es im Lernenden durch das Lehren erworben wird. Wenn aber jemandem Wissen durch ein inneres Prinzip zu eigen wird, hat jenes, was Wirkursache des Wissens ist, das zu erwerbende Wissen nur zum Teil, nämlich hin­ sichtlich der keimhaften Anfangsgründe des Wissens, die die allge­ meinen Prinzipien sind. Und deshalb kann man aus einer derarti­ gen Kausalität die Bezeichnung Lehrer nicht in eigentlichem Sinne herleiten. Zu 1.  Obwohl der tätige Verstand in bestimmter Hinsicht die grundlegendere Ursache ist als der von außen lehrende Mensch, ist das Wissen in ihm dennoch nicht schon vollständig vorhanden wie in dem Lehrenden; deshalb ist die Argumentation nicht schlüssig. lich als Eigenschaft vorhanden. In virtueller Form kann die Wärme aber auch in einem aktiven Prinzip enthalten sein, das nicht selber warm ist, aber dennoch Wärme in einem anderen verursachen kann. Wärme wäre in dieser Art von Ursache nicht als aktualisierter Bestandteil ihres We­ sens, sondern als Vermögen (virtus), eben diese Wirkung des Erwärmens herbeizuführen. Auf das medizinische Beispiel angewendet, könnte man sagen: Eine Medizin, die aktuell warm ist und dadurch den zu heilenden Körper erwärmt, könnte ein heißer Tee sein. Eine dem Vermögen nach warme Medizin, die dieselbe Wirkung erzielt, ohne daß sie aktuell über die Eigenschaft »Wärme« verfügte, wäre dann etwa ein (vielleicht sogar gekühlter) Kräuterschnaps. Die Wirkung muß immer »irgendwie« in der Ursache vorhanden gewesen sein. Nach diesem Modell des virtuellen Ent­ haltenseins wird in der neuplatonischen Tradition auch die Präexistenz des Seienden im Ersten gedacht.

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Zu 2.  Darauf ist ähnlich zu antworten wie auf das erste Argu­ ment. Zu 3.  Gott kennt explizit alles, worüber ein Mensch durch ihn belehrt wird, weshalb man ihm den Begriff »Lehrer« mit vollem Recht zusprechen kann: Anders verhält es sich aber mit dem tätigen Verstand aus dem schon genannten Grund. Zu 4.  Zwar ist beim Wissenserwerb der Weg eigenen Findens von seiten des Wissen Aufnehmenden vollkommener, insofern sich darin eine größere wissenschaftliche Begabung abzeichnet; betrach­ tet man aber die Sache von seiten des Wissensverursachers, ist der Weg über die Lehre die vollkommenere Weise des Wissenserwerbes, weil der Lehrende, der explizit das ganze Wissen beherrscht, be­ quemer zum Wissen anleiten kann als jemand dies dadurch, daß er die Prinzipien des Wissens in einer gewissen Allgemeinheit schon kennt, von selbst vermöchte. Zu 5.  Im Bereich des Praktischen verhält sich das Gesetz so wie das Prinzip im Bereich des Theoretischen, nicht aber so wie ein Leh­ rer. Deshalb folgt daraus, daß jemand sich selbst Gesetz ist, nicht, daß er sich selbst Lehrer sein kann. Zu 6.  Der Arzt heilt, insofern er die Gesundheit nicht in Wirk­ lichkeit, sondern in Gestalt von Kenntnis der Heilkunst im vor­ hinein besitzt, aber der Lehrer lehrt, insofern er das Wissen in Wirklichkeit hat. Deshalb kann jener, der die Gesundheit nicht in Wirklichkeit hat, eben weil er die Gesundheit in Gestalt von Kennt­ nis der Heilkunst hat, in sich selbst Gesundheit verursachen. Es kann aber nicht sein, daß jemand in Wirklichkeit Wissen hat und es zugleich nicht hat, so daß er somit von sich selbst gelehrt wer­ den könnte.

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3. Artik el Die dritte Frage lautet: Kann ein Mensch von einem Engel belehrt werden?38 Dies scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1.  Wenn ein Engel lehrt, lehrt er entweder im Innern oder von außen. Im Innern kann er aber nicht lehren, weil das allein Sache Gottes ist, wie Augustinus39 sagt; und von außen anscheinend auch nicht, weil »von außen lehren« gleichbedeutend ist mit »durch be­ stimmte sinnlich wahrnehmbare Zeichen lehren«, wie Augustinus im Buch Über den Lehrer40 sagt. Durch solche sinnlich wahrnehm­ baren Zeichen lehren Engel uns aber nur dann, wenn sie etwa sinn­ lich in Erscheinung treten; also belehren uns Engel nur dann, wenn sie etwa sinnlich in Erscheinung treten, und das ereignet sich außer­ halb des normalen Weltlaufs, gleichsam durch ein Wunder. 2.  Aber er [der Respondens]41 sagte, daß die Engel uns in gewis­ ser Weise von außen lehren, insofern sie auf unsere Vorstellungs­ kraft42 prägend einwirken. – Aber dagegen ist einzuwenden: Ein der Vorstellungskraft eingeprägtes Wahrnehmungsbild reicht nicht für eine wirkliche Vorstellung aus, wenn keine Aufmerksamkeit da ist, wie durch Augustinus im Buch Über die Trinität43 deutlich wird. Aufmerksamkeit kann der Engel in uns aber nicht herbeiführen, da 38  Paralleltexte: Sum. theol. I, q.  111, a.  1; De malo, q.  16, a.  12; Quodl. IX, q.  4, a.  5. 39  Augustinus, De magistro, c.  14, 46 (CCSL 29, 202). 40  Augustinus, De magistro, c.  10, 29 (CCSL 29, 188). 41  Dem Respondens fiel in der Disputation die Aufgabe zu, auf die Ar­ gumente des Opponens zu antworten. 42  Vgl. Sum. theol. I, q.  78, a.  4: Ad harum autem formarum (sensibilium) retentionem aut conservationem ordinatur phantasia, sive imaginatio, quae idem sunt: est enim phantasia sive imaginatio quasi thesaurus quidam formarum per sensum acceptarum (»Auf das Behalten und Aufbewahren dieser sinnlichen Formen ist die Phantasie oder Ein­ bildungskraft, was dasselbe ist, hingeordnet. Die Phantasie oder Einbil­ dungskraft ist nämlich gleichsam so etwas wie eine Fundgrube der durch die Sinneswahrnehmung aufgenommenen Formen« [Übers. B. B.]). 43  Augustinus, De trin. XI, 4 (CCSL 50, 342 ff.).

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Aufmerksamkeit ein Willensakt ist, und auf den Willen kann nur Gott direkt einwirken. Also kann ein Engel uns noch nicht einmal durch Einwirken auf unsere Vorstellungskraft lehren, weil wir ver­ mittels der Vorstellungskraft nur belehrt werden können, wenn wir uns wirklich etwas vorstellen. 3.  Wenn wir von Engeln ohne sinnliches Inerscheinungtreten ge­ lehrt werden, kann das nur geschehen, insofern sie den Verstand erleuchten. Den Verstand erleuchten können sie aber anscheinend nicht, weil sie weder das natürliche Licht übermitteln, das allein von Gott her ist, da es mit dem Geist miterschaffen wurde, noch auch das Licht der Gnade, die allein Gott eingießt. Also können Engel uns ohne sinnliches Inerscheinungtreten nicht lehren. 4.  Wann immer einer von einem anderen belehrt wird, muß der Dazulernende Einblick in die Gedanken des Lehrenden haben, da­ mit im Geist des Schülers ein Prozeß zum Wissen hin in eben der Weise in Gang kommt, wie im Geist des Lehrers ein Prozeß abläuft, der vom Wissen seinen Ausgang nimmt. Der Mensch kann aber die Gedanken eines Engels nicht sehen. Er sieht sie nämlich nicht, wie sie in sich selbst sind – das geht ja auch bei den Gedanken eines an­ deren Menschen nicht –, ja er sieht sie sogar noch viel weniger, weil sie ihm ferner stehen. Und andererseits sieht er ihre Gedanken auch nicht in sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, es sei denn, die Engel treten etwa sinnlich in Erscheinung, wovon jetzt nicht die Rede ist. Anderweitig können uns die Engel also nicht lehren. 5.  Jenem kommt das Lehren zu, der »jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt«, wie in der Glosse44 zu Mt. 23, 8 deutlich wird: »Einer ist euer Lehrer, Christus«. Aber das steht keinem En­ gel zu, sondern allein dem ungeschaffenen Licht, wie sich aus Joh. 1, 9 ergibt. 6.  Wer immer einen anderen lehrt, leitet ihn zur Wahrheit hin und verursacht so in seiner Seele Wahrheit. Aber allein Gott verhält sich als Wirkursache gegenüber der Wahrheit. Denn da die Wahr­ heit intelligibles Licht und eine einfache Form ist, tritt sie nicht nach und nach ins Sein und kann somit nur durch Schöpfung hervor­ gebracht werden, was allein Gott zusteht. Da also, wie Johannes Da­ 44  Glossa ordinaria, ibid.

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mascenus45 sagt, die Engel keine Schöpfer sind, können sie selbst anscheinend nicht lehren. 7.  Eine unvergängliche Erleuchtung kann nur von einem unver­ gänglichen Licht46 herrühren, da, wenn das Licht weg ist, der Licht­ empfänger nicht mehr erleuchtet wird.47 Aber beim Lehren ist eine gewisse unvergängliche Erleuchtung erforderlich, weil das Wissen es mit dem Notwendigen zu tun hat, was immer währt. Also geht das Lehren nur aus einem unvergänglichen Licht hervor. Von die­ ser Art ist aber das Engelslicht nicht, da ihr Licht verginge, würde es nicht von Gott erhalten. Also kann ein Engel nicht lehren. 8.  In Joh. 1, 38 heißt es, zwei von den Schülern des Johannes, die Jesus folgten, hätten ihm auf seine Frage »Was sucht ihr?« geant­ wortet: »Rabbi – das heißt übersetzt Lehrer –, wo wohnst du?«. Dazu sagt die Glosse48: »Durch diese Benennung bekunden sie ihren Glau­ ben«, und die andere Glosse49 sagt: »Er befragt sie nicht aus Unwis­ senheit, sondern damit sie durch ihre Antwort einen Lohn haben, auch weil sie ihm, der nach dem Was fragt – und das meint eine Sa­ che –, nicht mit einer Sache, sondern mit einer Person antworten.« Aus all diesen Stellen ergibt sich Folgendes: Sie bekennen in jener Antwort, daß er eine bestimmte Person ist, und durch dieses Be­ kenntnis bekunden sie ihren Glauben und erwerben sich damit Ver­ 45  Johannes Damascenus, De fide orthodoxa II, 3 (PG 94, 873 B; ed. E. M. Buytaert, 74). 46  Lumen indeficiens (unvergängliches Licht) wird von Augustinus im Anschluß an Sir. 24, 6a, wo die Weisheit sich rühmt, das Licht erschaffen zu haben (Vulgata: ego feci in caelis, ut orietur lux indeficiens), in den Confessiones als Gottesprädikat gebraucht (z. B. Conf. XIII, 10, 11; CCSL 27, 247). 47  Thomas denkt Beleuchtung als Aufnahme der Licht-Form durch ein Subjekt. Dabei unterscheidet er zwei Arten, wie etwa das Licht der Sonne von etwas anderem rezipiert wird, nämlich einmal als eine Form, die im­ manent, bleibend und gewissermaßen konnatural ist. Das ist der Fall bei den Sternen. Anders ist der Lichtempfang dagegen in einem Medium wie der Luft, in der das Sonnenlicht nur als vorübergehende Bestimmung auf­ tritt und wieder verschwindet, wenn die Sonne weg ist. Vgl. De ver., q.  13, a.  12c. 48  Glossa interlinearia, ibid. 49  Glossa ordinaria, ibid.

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dienste. Aber das Verdienst des christlichen Glaubens besteht darin, daß wir bekennen, daß Christus eine göttliche Person ist. Also trifft das Lehrer-Sein allein auf eine göttliche Person zu. 9.  Jeder, der lehrt, muß die Wahrheit ans Licht bringen. Aber da die Wahrheit so etwas wie intelligibles Licht ist, ist sie uns bekann­ ter als ein Engel. Also werden wir durch einen Engel nicht belehrt, da das Bekanntere nicht durch das weniger Bekannte ans Licht ge­ bracht wird. 10.  Augustinus sagt im Buch Über die Trinität50: »Unser Geist wird ohne geschöpfliche Zwischeninstanz unmittelbar von Gott ge­ bildet.« Ein Engel ist aber ein Geschöpf; also fungiert er nicht als Zwischeninstanz zwischen Gott und dem menschlichen Geist bei dessen Bildung, gewissermaßen als einer, der eine höhere Stellung einnimmt als der Geist und eine niedrigere als Gott, und so kann der Mensch durch einen Engel nicht gelehrt werden. 11.  So wie unser affektives Vermögen auf Gott selbst auslangt, so kann auch unser Verstand bis zur Betrachtung seines Wesens gelangen. Aber Gott selbst formt unmittelbar unser affektives Ver­ mögen durch Eingießen der Gnade ohne jede Vermittlung eines En­ gels. Also bildet er auch unseren Verstand durch Lehren ohne jede Vermittlung. 12.  Jede Erkenntnis kommt durch irgendein Erkenntnisbild zu­ stande. Sollte also ein Engel einen Menschen lehren, muß er irgend­ ein Erkenntnisbild in ihm verursachen, durch das er erkennt. Das ist aber nur möglich, entweder indem der Engel ein Erkenntnisbild erschafft, was nach der Meinung des Damasceners51 einem Engel 50  Augustinus, De trin. III, 8, 14 (CCSL 50, 141): Sicut ergo in ipsa vita nostra mentem iustificando formare non potest nisi Deus, praedicare autem extrinsecus Evangelium et homines possunt. Vgl. De diversis quae­ stionibus 83, q.  51, 2 (CCSL 44A, 80: Quare cum homo possit particeps esse sapientiae secundum interiorem hominem, secundum ipsum ita est ad imaginem, ut nulla natura interposita formetur, et ideo nihil sit Deo coniunctius, und q.  51, 4 (CCSL 44A, 81): Sed ad imaginem mentem factam volunt, quae nulla interposita substantia ab ipsa veritate formatur, qui etiam spiritus dicitur. 51  Johannes Damascenus, De fide orthodoxa II, 3 (PG 94, 873; ed. E. M. Buytaert, 74).

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keinesfalls zukommt, oder indem er die [sinnlichen] Erkenntnisbil­ der, die in den Vorstellungsbildern sind, erleuchtet, so daß aus ih­ nen im möglichen Verstand des Menschen geistige Erkenntnisbilder hervorgehen, und das scheint auf die irrige Lehre jener Philosophen hinauszulaufen, die behaupten, der tätige Verstand, dessen Geschäft es ist, die Vorstellungsbilder zu erleuchten, sei eine getrennte Sub­ stanz. Und somit kann ein Engel nicht lehren. 13.  Der Verstand des Engels steht dem Verstand des Menschen ferner als der Verstand des Menschen der menschlichen Einbil­ dungskraft. Die Einbildungskraft kann aber den Inhalt des mensch­ lichen Verstandes nicht aufnehmen. Die Einbildungskraft kann nämlich nur partikulare Formen aufnehmen, und solche enthält der Verstand nicht. Also ist der menschliche Verstand auch nicht auf­ nahmefähig für die Inhalte des Geistes der Engel, und somit kann der Mensch durch einen Engel nicht gelehrt werden. 14.  Das Licht, durch das etwas erleuchtet wird, muß dem Erleuch­ teten adäquat sein, so wie das körperliche Licht den Farben. Aber da das Licht des Engels rein geistiger Natur ist, ist es den Vorstellungs­ bildern nicht adäquat; diese sind ja in gewisser Weise körperlich, da sie in einem körperlichen Organ enthalten sind. Also können die Engel uns nicht lehren, indem sie unsere Vorstellungsbilder erleuch­ ten, wie gesagt wurde. 15.  Alles, was erkannt wird, wird entweder durch sein Wesen er­ kannt oder durch eine Nachbildung (similitudo). Aber die Erkennt­ nis, durch die die Dinge vom menschlichen Geist durch ihr Wesen erkannt werden, kann nicht durch einen Engel verursacht werden, weil sonst die Seelenkräfte und anderes, was in der Seele enthalten ist, von den Engeln selbst eingeprägt werden müßten, da solches durch sein Wesen erkannt wird. Ebensowenig kann durch sie dieje­ nige Erkenntnis der Dinge verursacht werden, die durch ihre Nach­ bildung erkannt werden, da eben diesen Nachbildungen, die im Er­ kennenden sind, die zu erkennenden Dinge näher sind als ein Engel. Auf keine Weise kann also ein Engel für einen Menschen Ursache der Erkenntnis sein, d. h. lehren. 16.  Mag auch der Bauer von außen die Natur zu natürlichen Wir­ kungen anregen, nennt man ihn dennoch nicht Schöpfer, wie durch

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Augustinus’ Über den Wortlaut der Genesis52 deutlich wird. Aus dem gleichen Grund darf man also die Engel nicht Lehrer oder Lehr­ meister nennen, auch wenn sie den Verstand des Menschen zum Wissen anregen. 17.  Da der Engel höher steht als der Mensch, muß, so er denn lehrt, seine Lehre menschliche Lehre überragen. Aber das kann nicht sein, denn der Mensch kann über die Dinge belehren, die im Naturlauf determinierte Ursachen haben. Andere Dinge, wie etwa zukünftige kontingente Ereignisse, können von den Engeln nicht gelehrt wer­ den, da sie selbst aus natürlicher Erkenntnis dieser Dinge unkundig sind, da ja allein Gott über das Wissen von solchen zukünftigen Ereignissen verfügt. Also können Engel die Menschen nicht lehren. Dagegen spricht: 1.  Dionysius sagt im 4. Kapitel der Himmlischen Hierarchie53: »Ich sehe, daß das göttliche Geheimnis von Christi Menschheit die Engel zuerst gelehrt haben, daraufhin ist durch sie die Gnade dieses Wissens auf uns herabgekommen.« 2.  »Was der Rangniedrigere kann, kann auch der Ranghöhere«, und zwar auf viel edlere Weise, wie durch Dionysius in der Himmlischen Hierarchie54 klar ist. Aber der Rang des Menschen ist nied­ riger als der Rang der Engel. Da also schon ein Mensch den anderen lehren kann, kann dies ein Engel um viel mehr. 3.  Das Ordnungsprinzip der göttlichen Weisheit findet sich in den geistigen Substanzen noch vollkommener als in den körperli­ chen. Aber zum Ordnungsprinzip der niedrigeren Körper gehört es, daß die niedrigeren Körper ihre Vollkommenheiten infolge direk­ ter Einwirkung der höheren Körper erlangen. Also gelangen auch die niedrigeren Geistwesen, d. h. die menschlichen, zur Vollendung des Wissens infolge direkter Einwirkung höherer Geistwesen, d. h. der Engel. 4.  Alles, was der Möglichkeit nach ist, kann durch das, was der Wirklichkeit nach ist, in die Wirklichkeit übergeführt werden, und 52  Augustinus, De Gen. ad litt. IX, 15 (CSEL 28/1, 287). 53  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 4, 4 (PG 3, 181 B; Dion. II, 840). 54  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 12, 2 (PG 3, 292; Dion. II, 935).

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das weniger Verwirklichte durch das vollkommener Verwirklichte. Aber der Verstand des Engels ist mehr verwirklicht als der mensch­ liche Verstand. Also kann der menschliche Verstand durch den Ver­ stand des Engels zur Verwirklichung des Wissens gebracht werden, und somit kann ein Engel einen Menschen lehren. 5.  Augustinus sagt im Buch Über die Gabe der Beharrlichkeit55, daß manche die Heilslehre unmittelbar von Gott empfangen, man­ che von einem Engel, manche aber von einem Menschen. Also lehrt nicht nur Gott, sondern auch der Engel und der Mensch. 6.  Die Beleuchtung eines Hauses wird sowohl einer Lichtquelle wie der Sonne als auch dem Öffner der Fensterläden, die dem Licht im Wege stehen, zuerkannt. Aber obwohl allein Gott das Licht der Wahrheit dem Geist eingießt, kann doch ein Engel oder Mensch irgendein Hindernis, das der Aufnahme des Lichtes entgegensteht, entfernen. Also kann nicht nur Gott, sondern auch ein Engel oder Mensch lehren. Antwort: Der Engel ist in Bezug auf den Menschen in zweifacher Weise am Werk. Einmal auf unsere Art, wenn er nämlich dem Menschen sinn­ lich wahrnehmbar erscheint, indem er entweder leibliche Gestalt an­ nimmt oder wie auch immer, und ihn durch sinnlich vernehmbare Sprache unterweist. Und so meinen wir die Frage nach dem Lehren des Engels jetzt nicht, denn auf diese Weise lehrt der Engel nicht anders als ein Mensch. Auf andere Weise ist der Engel in Bezug auf uns auf seine eigene Art am Werk, nämlich unsichtbar, und wie der Mensch von einem Engel auf diese Weise belehrt werden kann, dar­ auf zielt die aktuelle Fragestellung. Man muß also wissen, daß, da der Engel eine mittlere Position zwischen dem Menschen und Gott einnimmt, ihm nach der Natur­ ordnung auch eine mittlere Lehrweise zukommt, die freilich derje­ nigen Gottes unterlegen, derjenigen des Menschen aber überlegen ist. In welchem Sinne dies wahr ist, kann man nur erfassen, wenn man darauf schaut, wie Gott lehrt und wie der Mensch lehrt. Zur 55  Augustinus, De dono perseverantiae, c.  48 [= De praedestinatione sanctorum, II] (CSEL 105, 256).

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Klärung dieser Frage muß man wissen, daß zwischen dem Verstand und dem körperlichen Sehvermögen folgender Unterschied besteht: Dem körperlichen Sehvermögen stehen hinsichtlich des Erkennens alle seine Gegenstände gleich nahe; das Sinnesvermögen ist näm­ lich kein kombinierendes Vermögen, so daß es von einem seiner Gegenstände notwendigerweise zu einem anderen überginge. Aber dem Verstand sind hinsichtlich des Erkennens nicht alle intelligib­ len Gehalte gleich zugänglich, sondern manche kann der Verstand sofort erblicken, manche aber erst im Ausgang von anderen, in die er zuvor Einblick genommen hat. Somit erhält der Mensch also die Kenntnis von Unbekanntem durch zwei Mittel: nämlich durch das Verstandeslicht und durch die ersten selbstevidenten Begriffe, die sich zu jenem Licht, eben dem des tätigen Verstandes, verhalten wie Werkzeuge zum Baumeister. Im Hinblick auf beides ist also Gott in alles überragender Weise Ursache für das Wissen des Menschen, weil er sowohl die Seele selbst mit dem Verstandeslicht ausgezeichnet als auch ihr die Kennt­ nis der ersten Prinzipien eingeprägt hat, die gleichsam die Keimzel­ len56 der Wissenschaften sind, so wie er auch den anderen Naturdin­ gen die keimhaften Gründe zur Hervorbringung aller Wirkungen eingepflanzt hat. Weil der Mensch aber gemäß der Naturordnung jedem anderen Menschen in der Art des Verstandeslichts wesensgleich ist, kann er in keiner Weise für einen anderen Menschen in der Hinsicht als Ursache des Wissens auftreten, daß er das Licht verursachen oder vermehren würde. Aber in der Hinsicht, daß das Wissen von Un­ bekanntem durch selbstevidente Prinzipien verursacht wird, kann er in gewisser Weise für einen anderen Menschen als Ursache des Wissens auftreten, allerdings nicht als einer, der die Kenntnis der Prinzipien vermittelt, sondern indem er das, was implizit und gewis­ sermaßen potentiell in den Prinzipien schon enthalten war, durch bestimmte sinnlich wahrnehmbare Zeichen aktualisiert, die dem äußeren Sinne dargeboten werden, wie oben gesagt.

56  Vgl. Sent. III, d.  35, q.  3, a.  4, expos. textus: Keimzellen des Wissens (seminaria scientiae) im Gegensatz zum vollständigen Habitus.

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Da der Engel aber von Natur aus ein vollendeteres Verstandeslicht hat als der Mensch, kann er in beiden Hinsichten für den Menschen Ursache des Wissens sein, freilich in geringerem Maße als Gott und in höherem Maße als der Mensch. Hinsichtlich des Verstandeslich­ tes kann er – obwohl er es nicht, wie Gott es tut, eingießen kann –, sehr wohl das eingegossene Licht zu vollendeterer Einsicht erstar­ ken lassen. Denn alles, was in einer Gattung unvollendet ist, er­ fährt durch Kontakt mit dem in jener Gattung Vollendeteren eine Verstärkung seiner Leistungsfähigkeit. So sehen wir es auch bei den Körpern, daß der ortsbestimmte Körper durch den ortsbestimmen­ den Körper, der sich zu jenem verhält wie der Akt zur Potenz, ge­ stärkt wird, wie es im 4. Buch der Physik 57 heißt. Auch hinsichtlich der Prinzipien kann der Engel den Menschen belehren, freilich nicht, indem er die Kenntnis eben dieser Prinzi­ pien vermittelt, wie Gott es tut, und auch nicht, indem er die Her­ leitung der Schlüsse aus den Prinzipien unter sinnlich wahrnehm­ baren Zeichen vorführt, wie es der Mensch tut, sondern indem er in der Vorstellungskraft bestimmte Formen bildet, die durch die Er­ regung eines körperlichen Organs58 sich bilden können, wie man das ja von Schlafenden und Geisteskranken kennt, die je nach der Beschaffenheit der zum Kopf aufsteigenden Dämpfe verschiedenen Phantasiegebilden unterliegen. Und auf diese Weise kann es »durch Einmischung eines anderen Geistes vorkommen, daß der Engel das, was er selbst weiß, durch derartige Bilder demjenigen, bei dem er sich einmischt, aufzeigt«, wie Augustinus im 12. Buch seines Kom­ mentars Über den Wortlaut der Genesis59 sagt. Zu 1.  Der Engel, der auf unsichtbare Weise lehrt, tut dies – ver­ glichen mit der Lehre des Menschen, der sie den äußeren Sinnen vorlegt – zwar im Inneren, aber verglichen mit der Lehre Gottes, der durch Eingießung des Lichtes im Innern des Geistes wirkt, wird die Lehre des Engels als eine von außen kommende erachtet.

57  Aristoteles, Phys. IV, 5; 212 b 33–213 a 5. 58  Aristoteles, De insomn., c.  3; 461 a 15. 59  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 12 (CSEL 28/1, 396).

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Zu 2.  Mag auch die Aufmerksamkeit des Willens nicht erzwun­ gen werden können, so kann doch die Aufmerksamkeit des sinnli­ chen Teiles [des Strebevermögens] erzwungen werden; wenn etwa einer gestochen wird, richtet er notwendig seine Aufmerksamkeit auf die Verletzung; und so ist es auch mit allen anderen sinnlichen Vermögen, die sich eines körperlichen Organs bedienen. Und eine solche Aufmerksamkeit reicht für eine Vorstellung. Zu 3.  Der Engel gießt weder das Licht der Gnade noch das Licht der Natur ein, sondern er stärkt, wie gesagt, das von Gott eingegos­ sene Licht der Natur. Zu 4.  Wie es in den Naturdingen ein univokes Wirkprinzip gibt, das die Form auf dieselbe Weise einprägt, wie es sie hat, und ein äquivokes Wirkprinzip, das sie in anderer Weise hat, als es sie ein­ prägt, so ist es gerade auch beim Lehren. Denn der Mensch lehrt einen Menschen gleichsam als univokes Wirkprinzip; deshalb ver­ mittelt er das Wissen einem anderen auf dieselbe Weise, wie er selbst es hat, nämlich indem er die Ursachen in das Verursachte überführt. Deshalb müssen genau die Gedanken des Lehrenden dem Lernenden durch irgendwelche Zeichen offengelegt werden. Der Engel dagegen lehrt gewissermaßen wie ein äquivokes Wirkprinzip; er selbst näm­ lich erkennt in der Weise des [anschauenden] Intellekts, was dem Menschen auf dem Wege der [diskursiven] Vernunft offenbar wird. Deshalb wird der Mensch nicht in der Weise vom Engel belehrt, daß die Gedanken des Engels dem Menschen offengelegt würden, son­ dern so, daß im Menschen seiner eigenen Erkenntnisweise gemäß das Wissen derjenigen Dinge verursacht wird, die der Engel in einer bei weitem anderen Weise erkennt. Zu 5.  Der Herr spricht von jener Lehrweise, die allein Gott zu­ kommt, wie aus der Glosse ebenda hervorgeht, und diese Lehrweise schreiben wir dem Engel nicht zu. Zu 6.  Wer lehrt, verursacht nicht die Wahrheit, sondern er ver­ ursacht die Erkenntnis der Wahrheit im Lernenden: Denn Sätze, die gelehrt werden, sind auch schon wahr, bevor sie gewußt werden, weil die Wahrheit nicht von unserem Wissen abhängig ist, sondern vom Dasein der Dinge. Zu 7.  Mag auch das Wissen, das von uns durch Lehre erworben wird, unvergängliche Dinge zum Gegenstand haben, so kann den­

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noch das Wissen selbst vergehen. Deshalb muß die Erleuchtung in Form von Lehre nicht von einem unvergänglichen Licht ausgehen; selbst wenn sie von einem unvergänglichen Licht ausgeht wie von einem ersten Prinzip, ist dennoch ein geschaffenes vergängliches Licht nicht gänzlich davon ausgeschlossen, sich wie ein mittleres Prinzip verhalten zu können. Zu 8. Bei den Jüngern Christi ist ein gewisser Fortschritt im Glauben zu bemerken, dergestalt daß sie ihn zuerst als einen wei­ sen Menschen und Lehrer verehrten und später auf ihn hörten, als lehrte Gott selber. Deshalb sagt auch eine andere Glosse60 ein wenig weiter unten: »Weil Nathanael erkannte, daß Christus – obgleich ab­ wesend – gesehen hatte, was er selbst an einem anderen Ort getrie­ ben hatte, was ein Anzeichen für Göttlichkeit ist, bekannte er ihn nicht nur als Lehrer, sondern auch als Gottes Sohn.« Zu 9.  Der Engel bringt eine unbekannte Wahrheit nicht dadurch ans Licht, daß er seine eigene Substanz zu erkennen gibt, sondern indem er eine andere, bekanntere Wahrheit vorlegt oder gar das Licht des Verstandes stärkt. Daher ist das Argument nicht schlüssig. Zu 10.  Es ist nicht die Absicht von Augustinus zu bestreiten, daß der Geist des Engels von hervorragenderer Natur ist als der mensch­ liche Geist, sondern er will sagen, daß die Mittelstellung des Engels zwischen Gott und dem menschlichen Geist nicht derart ist, daß der menschliche Geist durch ein Verbundensein mit einem Engel seine letzte Formung erhielte. So haben ja auch einige Denker61 behaup­ tet, daß die äußerste Glückseligkeit des Menschen darin bestehe, daß unser Verstand mit einer Intelligenz verbunden ist, deren Glück­ seligkeit wiederum darin besteht, daß sie mit Gott selbst verbunden ist. Zu 11.  In uns gibt es gewisse Vermögen, die von seiten ­ihres ­Trägers und von seiten ihres Gegenstands einem Zwang ­ausgesetzt sind, wie z. B. die sinnlichen Vermögen, die sowohl durch eine ­Einwirkung auf das Organ62 als auch durch die Stärke des Gegenstan60  Glossa ordinaria super Joh. 1, 49. 61  Vgl. Averroes, In De anima III, comm. 36 (VI1, 174 E ff.; ed. F. S. Craw­

ford, 496  ff.). 62  Vgl. De ver., q.  11, a.  3 c und De pot., q.  6, a.  5 c: Einwirkung auf das

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­ es63 stimuliert werden. Der Verstand aber wird nicht von seiten d des Trägers gezwungen, da er sich keines körperlichen Organs be­ dient, aber er unterliegt einem Zwang von seiten des Gegenstands, weil man durch die Stringenz eines Beweises gezwungen wird, der Schlußfolgerung zuzustimmen. Das Strebevermögen wird aber weder von seiten des Trägers noch von seiten des Gegenstandes gezwun­gen, sondern bewegt sich aus eigenem Antrieb auf dieses oder jenes zu. Deshalb kann auf das affektive Vermögen nur Gott unmittelbar einwirken, der im Inneren wirkt. Aber auf den Verstand kann in gewisser Weise auch ein Mensch oder ein Engel einwirken, indem er ihm Gegenstände vergegenwärtigt, durch die der Verstand [zur Zustimmung] gezwungen wird.64 Zu 12. Der Engel schafft weder Erkenntnisbilder in unserem Geist, noch erleuchtet er unmittelbar die Vorstellungsbilder; aber durch die Verbindung seines Lichts mit dem Licht unseres Verstan­ des kann unser Verstand wirksamer die Vorstellungsbilder erhel­ len. Und wenn er auch unmittelbar die Vorstellungsbilder erhellen würde, so folgte deswegen dennoch nicht, daß die These der schon erwähnten Philosophen wahr wäre. Obwohl es nämlich Aufgabe des tätigen Verstandes ist, die Vorstellungsbilder zu erhellen, könnte man dennoch sagen, daß es nicht Aufgabe von ihm allein ist. Zu 13.  Die Vorstellungskraft kann Inhalte des menschlichen Ver­ standes aufnehmen, aber auf eine andere Weise, und entsprechend kann der menschliche Geist Inhalte des Verstandes des Engels auf­ nehmen, eben auf seine eigene Weise. Aber obwohl der Verstand des Menschen mit der Vorstellungskraft dem Träger nach mehr übereinkommt, insofern sie Potenzen ein und derselben Seele sind,

Organ führt zur Bildung von Vorstellungsbildern in der Einbildungskraft, denen kein wirklicher Gegenstand entspricht. 63  Aristoteles, De an. II, 12; 424 a 28–32: die Übermächtigkeit eines Wahrnehmungsgegenstandes kann sogar zur Zerstörung des Organs füh­ ren. 64  Sobald klar wird, daß bestimmte Sätze einen notwendigen Zusam­ menhang mit den ersten Prinzipien haben, wird der Verstand notwendi­ gerweise zur Zustimmung zu diesen Sätzen bewegt. Vgl. De malo, q.  3, a.  3 c.

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kommt er dennoch mit dem Verstand des Engels der Gattung nach mehr überein, weil beide immaterielle Vermögen sind. Zu 14.  Nichts spricht dagegen, daß es Geistigem adäquat ist, ge­ genüber Körperlichem aktiv zu werden, weil nichts dagegen spricht, daß Untergeordnetes von Übergeordnetem bestimmt wird. Zu 15.  Der Engel ist für den Menschen nicht Ursache hinsicht­ lich jener Erkenntnis, in der er die Dinge durch ihr Wesen erkennt, sondern hinsichtlich jener, in der er durch Nachbildungen erkennt; nicht weil der Engel den Dingen näher wäre als ihre Nachbildungen, sondern insofern er Nachbildungen der Dinge im Geist hervorgehen läßt, entweder indem er die Vorstellungskraft bewegt oder indem er das Licht des Verstandes stärkt. Zu 16.  »Schaffen« besagt Erstursächlichkeit, die allein Gott ge­ bührt, »machen« aber besagt Ursächlichkeit im Allgemeinen, und entsprechend verhält sich Lehren in Bezug auf das Wissen. Und des­ halb wird Gott allein Schöpfer genannt, aber Macher und Lehrer kann sowohl Gott als auch der Engel als auch der Mensch genannt werden. Zu 17.  Auch über die Dinge, die determinierte Ursachen im Na­ turverlauf haben, kann der Engel mehr lehren als der Mensch, wie er auch mehr erkennt. Und er kann auch das, was er lehrt, in einer edleren Weise lehren. Deshalb ist das Argument nicht schlüssig.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Ist Lehren eine Tätigkeit des aktiven oder des kontemplativen Lebens?65 1.  Anscheinend ist es eine Tätigkeit des kontemplativen Lebens, »denn das aktive Leben hört mit der leiblichen Existenz auf«, wie Gregor in seinen Predigten über Ezechiel66 sagt. Aber das Lehren hört mit der leiblichen Existenz nicht auf, weil – wie gesagt – auch 65  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  181, a.  3; Sent. III, d.  35, q.  1, a.  3, qc. 1, ad 3. 66  Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 231).

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Engel lehren, die gar keinen Körper haben. Also gehört das Lehren anscheinend zum kontemplativen Leben. 2.  Wie Gregor in seinen Predigten über Ezechiel sagt, »wird zu­ vor das aktive Leben geführt, um später zum kontemplativen zu kommen«67; aber die Lehre folgt auf die Kontemplation und geht ihr nicht voraus; also gehört das Lehren nicht zum aktiven Leben. 3.  Wie Gregor an derselben Stelle68 sagt: »Während das aktive Le­ ben mit dem Werk beschäftigt ist, sieht es weniger«; aber einer, der lehrt, muß notwendigerweise mehr sehen als einer, der einfach nur betrachtet. Also ist das Lehren mehr eine Sache des kontemplativen als des aktiven Lebens. 4.  Jedes Seiende ist durch dieselbe Form in sich vollendet und Vermittler einer ähnlichen Vollendung an andere.69 So ist z. B. das Feuer durch dieselbe Wärme warm und erwärmend. Aber die Tatsa­ che, daß einer in der Betrachtung der göttlichen Dinge in sich selbst vollendet ist, gehört zum kontemplativen Leben. Also gehört auch die Lehre, die ja Übertragung derselben Vollendung auf einen ande­ ren ist, zum kontemplativen Leben. 5.  Das aktive Leben kreist um zeitliche Angelegenheiten; aber die Lehre kreist vornehmlich um ewige Dinge, denn die Belehrung über jene Dinge ist hervorragender und vollendeter. Also gehört die Lehre nicht zum aktiven, sondern zum kontemplativen Leben. Dagegen spricht: 1.  Gregor sagt in derselben Predigt70: »Aktives Leben heißt, dem Hungernden Brot auszuteilen, den Unwissenden das Wort der Weis­ heit zu lehren.« 67  Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 232). 68  Ebd. 69  De ver., q.  9, a.  4: Eine Form, die in einem Seienden voll verwirklicht

ist, macht dieses Seiende dadurch zu einem in Bezug auf diese Bestim­ mung in sich Vollendeten. Nun ist es diesem Seienden auch möglich, diese Vollendung an anderes weiterzugeben. Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für Formen, die in der Materie verwirklicht sind, etwa Wärme oder Licht, sondern auch für geistige Formen, die anderen mitgeteilt werden können. 70  Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 230).

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2.  Die Werke der Barmherzigkeit gehören zum aktiven Leben. Aber Lehren zählt zu den geistlichen Almosen. Also ist das Lehren eine Sache des aktiven Lebens. Antwort: Das kontemplative und das aktive Leben unterscheiden sich von­ einander hinsichtlich des Zieles und der Materie.71 Materie des ak­ tiven Lebens sind ja die zeitlichen Angelegenheiten, um die die menschliche Tätigkeit kreist. Materie des kontemplativen Lebens sind dagegen die intelligiblen Ideen72 der Dinge, denen der Betrach­ ter sich widmet. Und diese Verschiedenheit der Materie kommt von der Verschiedenheit des Zieles, so wie auch bei allen anderen Angelegenheiten die Materie nach den Erfordernissen des Zieles bestimmt wird: Das Ziel des kontemplativen Lebens ist nämlich der Anblick73 der Wahrheit – insofern wir jetzt vom kontemplati­ 71  Thomas benutzt im Corpus articuli durchgängig das Wort »ma­ teria«, weil seine Argumentation von dem Begriffspaar »Materie« und »Ziel« ausgeht, das in der aristotelischen Physik, genauer in der VierUrsachen-Lehre eine Rolle spielt. Andererseits kann »Materie« auch im Sinne von Gegenstand, Inhalt, Thema, (Lern-)Stoff verwendet werden, was ungefähr dem englischen Ausdruck »subject matter« entspricht. Im ersten Abschnitt ist »materia« hier mit »Materie«, im zweiten Abschnitt mit »Gegenstand« übersetzt. 72  Rerum scibiles rationes: Thomas scheint hier zwei Dionysius-Texte zusammenzuziehen, einmal De caelesti hierarchia, cap. 7, § 2 (divinorum operum scibiles rationes) und De divinis nominibus, cap. 4, § 1 (rerum rationes). 73  Hinter inspectio steht vermutlich der griechische Begriffs epopteia, der im Mittelplatonismus Terminus technicus für die Metaphysik war und aus der Mysteriensprache stammt. Für Origenes ist Epopteia die Wissen­ schaft, deren Gegenstand das Göttliche ist. Er nennt die betrachtende Wis­ senschaft im Prolog des Hohelied-Kommentars »enoptiké« (inspectiva). »Unter dem Titel der Epoptie bzw. der inspectiva und mit der formalen Bestimmung des Origenes, wonach sie die Überschreitung und die Schau des Göttlichen ist, ist die christliche Metaphysik besonders durch Cas­ siodor und Isidor von Sevilla an das Mittelalter vermittelt worden.« Theo Kobusch, Selbstwerdung und Personalität. Spätantike Philosophie und ihr Einfluß auf die Moderne. Tübingen 2018, 256. Vgl. auch Theo Kobusch, Artikel »Metaphysik III«, in: HWPh, Bd.  V, Sp. 1199. Aber auch Boethius

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ven ­Leben handeln –; ich meine den Anblick der ungeschaffenen Wahrheit gemäß der dem Betrachtenden möglichen Weise; sie wird freilich in diesem Leben unvollkommen erblickt, im zukünftigen Leben aber wird sie vollkommen geschaut werden. Deshalb sagt auch Gregor74: »Das kontemplative Leben wird hier begonnen, um in der himmlischen Heimat vollendet zu werden.« Aber das Ziel des aktiven Lebens ist ein Wirken, bei dem man es auf den Nutzen der Nächsten abgesehen hat. Bei der Lehrtätigkeit finden wir aber einen doppelten Gegenstand (materia). Ein Hinweis dafür ist, daß die Lehrtätigkeit auch mit ­einem doppelten Akkusativ verbunden wird: Der eine Gegenstand des Lehrens ist ja die Sache selbst, die gelehrt wird, der andere Ge­ genstand ist aber die Person, der das Wissen vermittelt wird. Mit Rücksicht auf den ersten Gegenstand gehört die Lehrtätigkeit also zum kontemplativen Leben, aber mit Rücksicht auf den zweiten Ge­ genstand gehört sie zum aktiven Leben. Aber von seiten des Zieles findet man, daß die Lehre nur zum aktiven Leben gehört, weil ihr letzter Gegenstand, in dem sie ihr intendiertes Ziel erreicht, Gegen­ stand des aktiven Lebens ist. Deshalb gehört sie mehr zum aktiven als zum kontemplativen Leben, mag sie auch in gewisser Weise zum kontemplativen gehören, wie aus dem Gesagten hervorgeht. Zu 1.  Das aktive Leben hört insofern zusammen mit der leib­ lichen Existenz auf, als es unter Anstrengung ausgeübt wird und es den Schwächen der Nächsten zu Hilfe kommt. Demgemäß sagt Gregor75 an derselben Stelle: »Das aktive Leben ist anstrengend, weil man sich im Schweiße seines Angesichts bei der Arbeit abmüht.« Diese beiden Umstände werden im zukünftigen Leben nicht gege­ ben sein. Nichtsdestoweniger gibt es dennoch ein hierarchisches Tä­ nennt als Ziel der mathematischen Disziplinen des Quadriviums – den Ausdruck führt er an dieser Stelle ein – das Anschauen der Wahrheit, die nur mit den Augen des Geistes erblickt (inspici) werden kann (Boethius, Arithmetica I,1). Vgl. Origenes, In Cant., prol. 3, 3 (SC 375, 130); Cassiodor, Institutiones II, 3, 6; Isidor von Sevilla, Etymologiae II, 24, 11. 74  Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 231). 75  Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 231).

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tigsein bei den himmlischen Geistwesen, wie Dionysius76 sagt, und jenes Tätigsein ist von anderer Art als das aktive Leben, das wir jetzt in diesem Leben führen. Deshalb ist auch jene Lehre, die dort sein wird, eine bei weitem andere als diese Lehre hier. Zu 2.  Gregor77 sagt an derselben Stelle: »So wie eine gute Ord­ nung des Lebens darin besteht, daß man vom aktiven Leben zum kontemplativen strebt, so wendet sich der Geist sehr oft mit Nut­ zen vom kontemplativen zum aktiven zurück, so daß dadurch, daß das kontemplative Leben den Geist entzündet hat, das aktive Le­ ben auf vollkommenere Weise aufrechterhalten wird.« Dennoch ist Folgendes festzuhalten: Das aktive Leben geht dem kontemplativen hinsichtlich jener Tätigkeiten voraus, die in der Materie in keiner Weise mit dem kontemplativen übereinstimmen, aber bezüglich je­ ner Tätigkeiten, die die Materie vom kontemplativen Leben über­ nehmen, folgt das aktive Leben notwendigerweise auf das kontem­ plative. Zu 3.  Das Sehen des Lehrenden ist das Prinzip der Lehre, aber die Lehre selbst besteht mehr in der Übertragung des Wissens über die gesehenen Dinge78 als in ihrem Sehen; deshalb gehört das Sehen des Lehrenden eher zur Kontemplation als zum Handeln. Zu 4.  Jenes Argument beweist, daß das kontemplative Leben das Prinzip der Lehre ist, so wie die Wärme nicht das Erwärmen selbst, sondern das Prinzip des Erwärmens ist; man findet aber, daß das 76  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 3, 1 (PG 3, 164 D; Dion. 785). Hierarchische Tätigkeiten sind nach Dionysius Areopagita Reinigung (purgatio), Erleuchtung (illuminatio) und Vollendung (perfectio) der niedrigeren Engelränge durch die höheren. 77  Gregor der Große, Hom. in Ez. II, 2 (CCSL 142, 232). 78  Im ersten Artikel wird das Transfusionsmodell für das menschliche Lehrer-Schüler-Verhältnis abgelehnt. Die Wortwahl erklärt sich dadurch, daß hier die Sprache des Dionysius Areopagita durchscheint, in der er die Mitteilung der geschauten Mysterien an die jeweils nächsttiefere Ebene in der Engelshierarchie beschreibt. Vgl. Sent. I, d.  9, q.  1, a.  2: oportet ut actio hierarchica in transfusione scientiae consistat, unde dicit Dionysius, quod purgatio, illuminatio et perfectio est divinae scientiae assumptio. Wir haben es mit der neuplatonischen Bildersprache des Überfließens und Ausstrahlens einer Quelle zu tun.

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kontemplative Leben das Prinzip des aktiven ist, insofern es dieses lenkt, so wie umgekehrt das aktive Leben auf das kontemplative vorbereitet. Zu 5.  Die Lösung ist klar aus dem Gesagten, weil, wie gesagt, im Hinblick auf den ersten Gegenstand die Lehre mit dem kontempla­ tiven Leben übereinkommt.

XII. ÜBER DIE PROPHETIE

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Handelt es sich bei der Prophetie um einen Habitus (dauer­ hafte Eigenschaft) oder einen Akt (einzelnen Vollzug)? 2. Hat die Prophetie Schlußfolgerungen zum Gegenstand, die wissenschaftlich gewonnen werden können? 3. Ist die Prophetie etwas Natürliches? 4. Bedarf es, um Prophet zu sein, einer natürlichen Disposition? 5. Muß der Prophet moralisch integer sein? 6. Sehen die Propheten im Spiegel der Ewigkeit? 7. Werden bei der prophetischen Offenbarung dem Geist des Propheten durch das Wirken Gottes neue Erkenntnisbilder einge­ prägt oder nur ein geistiges Licht gegeben? 8. Geschieht jede prophetische Offenbarung durch Vermittlung eines Engels? 9. Wird ein Prophet immer den Sinnen entrückt, wenn er vom Geist der Prophetie angerührt wird? 10. Ist es angemessen, die Prophetie in diese drei Arten zu unter­ teilen: Prophetie der Vorherbestimmung, des Vorherwissens und der Androhung? 11. Ist in der Prophetie unwandelbare Wahrheit zu finden? 12. Ist diejenige prophetische Erkenntnis, die auf einer rein gei­ stigen Schau beruht, von höherem Rang als diejenige, bei der sich eine geistige Schau mit einer Schau in der Vorstellungskraft verbin­ det? 13. Lassen sich die Grade der Prophetie anhand der (jeweiligen) Schau in der Vorstellungskraft unterscheiden? 14. Hat Mose alle anderen Propheten überragt?

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1. Artik el Die erste Frage lautet: Handelt es sich bei der Prophetie um einen Habitus oder einen Akt?1 Das Thema ist nun die Prophetie. Die erste Frage lautet, ob es sich dabei um einen Habitus oder ­einen Akt handelt. Sie scheint kein Habitus zu sein; denn: 1.  Ein Habitus ist eine Eigenschaft, mittels derer man handelt, wann immer man will, wie Averroes zum 3. Buch Über die Seele2 schreibt. Der Prophet aber kann sich der Prophetie nicht immer dann bedienen, wenn er gerade will, wie sich aus 2 Kön. 3, 15 ergibt: Elischa konnte auf die Frage des Königs keine Antwort geben, erst nachdem er einen Psalmsänger hatte rufen lassen, so daß daraufhin die Hand des Herrn über ihn kam. Also ist die Prophetie kein Habitus. 2.  Jeder, der einen bestimmten Habitus der Erkenntniskraft be­ sitzt, kann alle Gegenstände betrachten, die unter diesen Habitus fallen, ohne dazu jemanden anderen zu brauchen. Wer nämlich an­ geleitet werden muß, etwas geistig zu betrachten, der besitzt den entsprechenden Habitus noch nicht. Doch ein Prophet kann die Gegenstände der Prophetie nicht einfach anschauen, wenn sie ihm nicht einzeln enthüllt werden. Im 2. Buch der Könige (2 Kön. 4, 27) sagte Elischa über die Frau, deren Sohn gestorben war: Ihre Seele ist betrübt, doch der Herr hat mir den Grund verborgen und nicht gezeigt. Also ist die Prophetie kein Habitus der Erkenntniskraft; und sie kann auch kein anderer Habitus sein, weil sich die Prophetie auf das Erkennen bezieht. 3.  Dagegen wurde eingewandt, daß der Prophet doch irgendeines Habitus bedürfe, um das, was ihm von Gott kundgetan werde, zu erkennen. Doch kann man erwidern, daß die Rede Gottes wirkkräf­ tiger ist als jede menschliche Rede. Um durch eine menschliche Rede zur Erkenntnis zu gelangen, daß etwas in der Zukunft geschehen werde, braucht man keinen Habitus. Erst recht braucht man offen­ sichtlich keinen Habitus, um die Offenbarung aufzunehmen, in der Gott zum Propheten spricht. 1  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  171, a.  2; Super 1 Cor., cap. 14, lect. 6. 2  Averroes, In De an. III, comm. 18 (ed. F. S. Crawford, 438).

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4.  Ein bestimmter Habitus genügt, um all das zu erkennen, was zu seinem Bereich gehört. Durch die Gabe der Prophetie wird aber jemand nicht über alle Gegenstände, die prophetisch erkannt oder verkündet werden können, unterrichtet. So schreibt Gregor der Große in der 1. Homilie zu Ezechiel 3 – und er belegt es mit Beispie­ len –, daß »der Geist der Prophetie den Propheten manchmal be­ rührt in Hinsicht auf etwas Gegenwärtiges, nicht aber in Hinsicht auf Zukünftiges, und manchmal, indem er ihn in Hinsicht auf etwas Zukünftiges berührt, nicht aber in Hinsicht auf Gegenwärtiges.« 5. Man könnte einwenden, daß zur Gabe der Prophetie nicht schlechthin alle möglichen Gegenstände der Prophetie gehören, son­ dern nur das, was durch diese Offenbarung enthüllt werden soll. Da­ gegen aber spricht, daß ein wirkender Einfluß nur auf zwei Weisen eingeschränkt werden kann: entweder durch den, vom dem der Ein­ fluß ausgeht, oder durch den, der ihn empfängt. Die Gabe der Pro­ phetie kann aber weder auf die eine noch auf die andere Weise ein­ geschränkt werden, so daß sie sich nicht mehr auf alle Gegenstände der prophetischen Erkenntnis bezöge: nicht durch den Empfänger – denn die menschliche Erkenntniskraft könnte alle Gegenstände der Prophetie aufnehmen –, noch durch den Geber dieser Gabe – denn dieser ist unendlich freigebig. Die Gabe der Prophetie bezieht sich daher auf alle Gegenstände, die zur Prophetie gehören können. 6.  Im Bereich des Strebevermögens wird durch ein einziges Ein­ strömen von Gnade die Seele von aller Schuld befreit. So wird es auch im Bereich der Erkenntniskraft sein: Die Seele wird durch das Einfließen eines einzigen Lichtes der Prophetie von aller Unwissen­ heit über die Gegenstände der Prophetie frei. 7.  Ein durch die Gnade bewirkter Habitus ist vollkommener als ein erworbener. Aber selbst ein erworbener Habitus bezieht sich auf mehrere Akte. Also wird sich die Prophetie, wenn sie doch ein gna­ denhafter Habitus ist, nicht bloß auf die prophetische Erkenntnis eines Gegenstandes beziehen, sondern auf alle. 8.  Wenn sich einzelne Habitus auf einzelne Konklusionen bezie­ hen, dann lassen sich diese Habitus nicht unter einem einzigen Ha­ bitus einer umfassenden Wissenschaft vereinen, außer die Schluß­ 3  Gregor der Große, Homiliae in Hiezechihelem I, 1, 4 (CCSL 142, 7).

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folgerungen haben untereinander eine Verbindung, insofern sie aus den gleichen Prinzipien gewonnen sind. Zufällige Ereignisse in der Zukunft und anderes Derartiges, was zum Bereich der Prophetie gehört, haben aber keine innere Verbindung untereinander, wie sie zwischen den Schlußfolgerungen einer einzigen Wissenschaft be­ steht. Wenn also die Gabe der Prophetie sich nur auf eine einzige Prophezeiung bezieht, dann müßten in einem Propheten genau so viele prophetische Habitus sein, wie er Gegenstände erkennt – wenn die Prophetie ein Habitus ist. 9.  Man könnte aber einwenden: Der Habitus der Prophetie werde einmal eingegossen und beziehe sich auf alles, was prophetisch er­ kannt werden könne, jedoch müßten die Erkenntnisbilder jeweils neu enthüllt und gezeigt werden. Dagegen aber ist zu sagen, daß der Habitus der Prophetie als eingegossener Habitus vollkommener sein muß als eine erworbene Wissenschaft, ebenso das prophetische Licht vollkommener als das natürliche Licht des tätigen Verstandes. Nun sind wir aber bereits kraft des Lichtes des tätigen Verstandes und des hinzukommenden Habitus einer Wissenschaft imstande, mit Hilfe der Vorstellungskraft so viele Erkenntnisbilder zu for­ men, wie notwendig sind, um die Gegenstände, die zu diesem Habi­ tus gehören, auch tatsächlich betrachten zu können. Also kann das erst recht ein Prophet, wenn er den entsprechenden Habitus besitzt, auch ohne daß ihm die Erkenntnisbilder jeweils neu gezeigt werden müßten. 10.  In der Glossa zum Beginn des Psalters heißt es: »Prophetie ist eine göttliche Eingebung, welche Ereignisse mit unwandelbarer Wahrheit verkündet«4. »Eingebung« bzw. »Einhauchung« bezeich­ net aber keinen Habitus, sondern einen Akt. 11.  »Schauen« bedeutet in gewissem Sinn, etwas zu erleiden, wie Aristoteles sagt; das heißt, eine Schau ist ein Erleiden. Nun ist aber die Prophetie gewissermaßen eine Schau, wie sich aus einer Stelle im 1. Buch Samuel (1 Sam. 9, 9) ergibt: »Wer jetzt Prophet genannt wird, hieß früher ›Seher‹«. Es ist also die Prophetie kein Habitus, sondern eher ein Erleiden. 4  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef. (PL 191, 58 B), aus Cassiodor, Praef. in Ps. 1, praef. 1 (CCSL 97, 7).

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12.  Nach den Worten des Aristoteles ist ein Habitus eine Eigen­ schaft, die sich nur schwer verändern oder entfernen läßt. Das Ge­ genteil scheint bei der Prophetie der Fall zu sein; denn sie haftet nicht immer am Propheten, sondern nur für eine gewisse Zeit. Darum heißt es in der Glossa zu jenem Wort des Propheten Amos: »Ich bin kein Prophet« (Am. 7,14): »Der Geist schenkt den Prophe­ ten die Prophetie nicht fortwährend, sondern von Zeit zu Zeit; und dann werden sie zu Recht Propheten genannt, wenn sie erleuchtet werden.« Und Gregor der Große schreibt in der 1. Homilie über Ezechiel5: »Zuweilen ist der Geist der Prophetie nicht mit den Prophe­ ten, auch steht er ihrem Geist nicht immer zur Verfügung, so daß sie zu solchen Zeiten erkennen, daß sie ihn, wenn sie ihn haben, als Geschenk haben.« Dagegen spricht: 1.  Wie Aristoteles im 3. Buch der Ethik6 schreibt, »gibt es in der Seele dreierlei: Vermögen (potentia), Habitus und Erleiden (passio)«. Die Prophetie ist aber kein Vermögen der Seele, denn sonst wären alle Menschen Propheten, weil die Vermögen der Seele alle Men­ schen haben. Sie ist aber auch kein Erleiden, denn ein Erleiden fin­ det nur im sinnenhaften Bereich der Seele statt, wie Aristoteles im 7. Buch der Physik 7 schreibt. 2.  Alles, was erkannt wird, wird mittels eines Habitus erkannt. Der Prophet nun erkennt das, was er verkündet, und zwar nicht aufgrund eines natürlichen oder erworbenen Habitus. Es bleibt also nur, daß er es aufgrund eines eingegossenen Habitus erkennt, den wir »Prophetie« nennen. 3.  Wenn die Prophetie kein Habitus sein soll, dann nur deswegen, weil der Prophet nicht alle möglichen Gegenstände der Prophetie schauen kann, ohne daß er etwas Neues empfängt. Die Prophetie kann jedoch trotzdem ein Habitus sein; denn auch jemand, der den allgemeinen Habitus der Ersten Prinzipien besitzt, ist nicht einfach 5  Gregor der Große, Homiliae in Hiezechihelem I, 1, 15 (CCSL 142, 12). 6  Aristoteles, Eth. Nic. II, 4; 1105 b 20. Dieses Aristoteles-Zitat ist auch

Hugo von St. Cher und dem Anonymus Assisiensis bekannt. 7  Aristoteles, Phys. VII, 3; 248 b 27, Aristoteles Latinus VII/1.2, 268.

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dadurch auch schon in der Lage, die spezifischen Schlußfolgerungen einer bestimmten Wissenschaft zu sehen, außer es kommt der Habi­ tus jener speziellen Wissenschaft hinzu. Es besteht also kein Grund, warum die Prophetie nicht ein allgemeiner Habitus sein kann, die Erkenntnis der einzelnen Gegenstände der Prophetie jedoch jeweils eine neue Enthüllung erfordert. 4.  Auch der Glaube ist gewissermaßen ein Habitus, der alle Glau­ bensgegenstände umfaßt. Und doch hat derjenige, der diesen Habi­ tus des Glaubens hat, nicht sofort auch die klar umgrenzte Erkennt­ nis der einzelnen Inhalte. Er bedarf vielmehr der Unterweisung, um zur Erkenntnis der einzelnen unterschiedenen Glaubensartikel zu gelangen. Selbst wenn die Prophetie ein Habitus ist, bedürfte es den­ noch einer Offenbarung Gottes, gleichsam einer Anrede, damit der Prophet die einzelnen Gegenstände der Prophetie erkennt. Antwort: Wie es in der Glossa zum Beginn des Psalters heißt, »wird die Prophetie eine Schau (visio) genannt, der Prophet aber ein Seher (videns)« (1 Sam. 9, 9); die Stelle wurde bereits zitiert. Man kann aber nicht jede Art von Schau als Prophetie bezeichnen, sondern nur eine Schau von Dingen, die weit weg von der gewöhnlichen Er­ kenntnis liegen. Daher sagt man von jemanden, er sei Prophet, nicht bloß, weil er von etwas spricht, was weit entfernt liegt (procul fans), sondern auch, weil er etwas weit Entferntes schaut, was ihm sichtbar gemacht wird (videns, a phanos), also in einer Erscheinung (apparitio). Da aber alles, was offenbar wird, mittels eines bestimmten Lich­ tes offenbar wird – was man auch einem Wort des Apostels Paulus entnehmen kann (Eph. 5, 13) –, müssen Dinge, die die gewöhnliche Erkenntnis des Menschen übersteigen, durch ein höheres Licht of­ fenbar gemacht werden, wenn sie ihm denn offenbar werden sollen. Dieses Licht heißt das Licht der Prophetie; wenn jemand dieses emp­ fängt, wird er zum Propheten. Man muß jedoch wissen, daß etwas von einem Empfänger auf zwei Weisen aufgenommen werden kann: einmal wie eine Form, die dann ihren Sitz im Subjekt hat, das andere Mal in der Art e­ ines Erleidens. Beispielsweise ist Blässe bei jemandem, der von Natur aus oder aufgrund eines einschneidenden Ereignisses diese Gesichts­

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farbe dauernd hat, gleichsam eine Eigenschaft oder Qualität; bei je­ mandem, der aufgrund einer plötzlichen Furcht bleich wird, ist es ein Erleiden. Ähnlich verhält es sich mit dem körperlichen Licht der Sterne, das in ihnen eine Eigenschaft beziehungsweise eine blei­ bende Form ist, während das Licht der Luft eine Art Erleiden ist; denn die Luft kann das Licht nicht halten, sondern sie empfängt es, wenn ein leuchtender Körper da ist. Auch im menschlichen Intellekt gibt es eine Art Licht, vergleich­ bar einer Qualität oder bleibenden Form: das mit dem Wesen des tä­ tigen Intellekts gegebene Licht, aufgrund dessen unsere Seele »gei­ stig« – intellektual – genannt wird. Auf diese Weise kann jedoch das Licht der Prophetie nicht im Propheten sein. Jeder nämlich, der etwas durch das Licht des Intellekts erkennt, das ja gleichsam mit seinem Wesen verbunden und in ihm als Form da ist, muß davon eine feste Erkenntnis haben; das kann aber nur der Fall sein, wenn er das, was er erkennt, in dem Grund schaut, in dem es erkannt wer­ den kann. Solange die erkannten Dinge nicht auf ihre Prinzipien zurückgeführt werden, fehlt der Erkenntnis die innere Einheit. Der Erkennende nimmt die zu erkennenden Dinge gewissermaßen nur aufgrund einer Wahrscheinlichkeit auf, als etwas, was von anderen gesagt wird, weswegen er es nötig hat, über die einzelnen Dinge von woanders her Belehrung zu empfangen. Ein Beispiel: Wenn je­ mand nicht in der Lage ist, die Schlußfolgerungen der Geometrie aus ihren Prinzipien abzuleiten, besitzt er den Habitus der Geome­ trie nicht, sondern alles, was er von den Schlußfolgerungen weiß, übernähme er wie jemand, der einem Lehrer etwas glaubt, und er bedürfte der Belehrung über die einzelnen Schlußfolgerungen. Er könnte nämlich nicht aus dem einen Satz mit Sicherheit einen an­ deren folgern, solange die Zurückführung auf die Prinzipien nicht vollzogen wird. Das Prinzip aber, in dem die nicht notwendigen Ereignisse der Zukunft und anderes, was die natürliche Erkenntnis übersteigt – und das ist der Gegenstand der Prophetie –, erkannt werden können, ist Gott selbst. Da aber die Propheten die Wesenheit Gottes nicht schauen, können sie unmöglich den Gegenstand ihrer prophetischen Schau in einem Licht schauen, das ihnen gleichsam wie eine habitu­ elle Form anhaftet. Sie müssen vielmehr über die einzelnen Gegen­

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stände jeweils eigens unterrichtet werden. Es kann also das Licht der Prophetie kein Habitus sein; eher ist es in der Seele des Propheten auf die Art des Erleidens – so wie das Licht der Sonne in der Luft ist. Wie das Licht nur in der Luft bleibt, wenn die Sonne strahlt, so bleibt das Licht der Prophetie nur so lange im Geist des Propheten, als er aktual die Eingebung Gottes empfängt. Daher sprechen die heiligen Kirchenväter und Theologen von der Prophetie so, als sei sie ein Erleiden: Sie sprechen von einer »Einhauchung« (inspiratio) oder einer »Berührung des Herzens« durch den Heiligen Geist und ähnlichem. Offenkundig ist also die Prophetie, im Hinblick auf das prophetische Licht, kein Habitus. Man muß allerdings auch noch etwas anderes in Betracht ziehen. Im Bereich der Körperdinge geschieht es, daß etwas aufgrund e­ ines Erleidens auch weiterhin geneigt bleibt (habilis), ähnliches wieder zu erleiden, wenn das Erleiden bereits vergangen ist.8 Zum Beispiel wird einmal erwärmtes Wasser nach der Abkühlung leichter wie­ der warm, und ein Mensch, der oftmals Traurigkeit durchlitten hat, neigt leichter dazu, wieder traurig zu werden. Ebenso bleibt ein Geist, der vom göttlichen Hauch berührt worden ist, auch da­ nach gewissermaßen geneigt, diesen Hauch wieder zu empfangen. So bleibt auch die Seele nach einem innigen Gebet in innigerer Ver­ faßtheit zurück. Darum schreibt Augustinus in dem Buch Über das Gebet zu Gott9: »Damit unser Geist, der durch die vielen Besorgun­ gen und Geschäfte lau zu werden begann, nicht völlig auskühlt und verlöscht, wenn er gar nicht mehr angefacht wird, rufen wir uns zu bestimmten Stunden zum Gebet.« Ähnlich bleibt der Geist des Propheten, nachdem er einmal oder mehrmals den Anhauch Gottes erfahren hat, auch wenn die aktuale Inspiration vorbei ist, geneig­ ter, sie erneut aufzunehmen. Und diese Geneigtheit kann man auch »Habitus der Prophetie« nennen. In diesem Sinn spricht Avicenna im 6. Buch der Naturphilosophie10 davon, daß die einzelnen Wis­ senschaften als Habitus nichts anderes sind als Geneigtheiten unse­ 8  Im Folgenden wird habilis  /  habilitas übersetzt als: geneigt, dispo­ niert, befähigt, empfänglich. 9  Augustinus, Ep. 130, 18 (PL 33, 501; CCSL 31B, 226). 10  Avicenna, De anima V, 6 (ed. S. Van Riet, II, 134–153).

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rer Seele, die Einstrahlung der wirkenden Intelligenz sowie die von ihr ausfließenden Erkenntnisbilder (species) aufzunehmen. Doch in einem strikten Sinn kann man im Fall der Prophetie nicht von ei­ nem Habitus sprechen, sondern nur von einer Geneigtheit oder einer Art Disposition, aufgrund derer jemand auch dann Prophet genannt wird, wenn er gerade nicht die göttliche Inspiration empfängt. Da­ mit aber das Wort »Habitus« nicht zum Streitfall wird, nehmen wir beide Argumentationsstränge, Pro und Contra, auf und antworten auf die jeweils angeführten Gründe. Zu 1.  Die hier verwendete Definition bezieht sich auf den Begriff Habitus im strikten Verständnis. Auf diese Weise kann man die oben genannte »Geneigtheit zur Prophetie« nicht als Habitus be­ zeichnen. Die Geneigtheit unserer Seele, von der wirkenden Intel­ ligenz etwas zu empfangen, könnte jedoch nach Avicenna ebenfalls als Habitus bezeichnet werden, denn seiner Ansicht nach ist dieses Empfangen etwas Natürliches; wer demgemäß diese Geneigtheit hat, in dessen Macht liegt es auch, zu empfangen, wann er will, weil der naturgegebene Einfluß nur eine entsprechend disponierte Materie voraussetzt. Der Einfluß der Prophetie aber hängt einzig und allein vom Willen Gottes ab. Wie intensiv auch die Geneigtheit im Geist des Propheten sein mag, es steht nicht in seiner Macht, sich der Pro­ phetie zu bedienen. Zu 2.  Angenommen, das Licht der Prophetie wäre dem menschli­ chen Geist inne wie ein Habitus des Wissens von den Gegenständen der Prophetie, dann hätte der Prophet keine neue Offenbarung nö­ tig, um alle beliebigen Gegenstände, die der Prophetie unterliegen, zu erkennen. Er braucht aber jeweils eine neue Erleuchtung, weil dieses Licht eben kein Habitus ist. Jedoch hat jene Geneigtheit zur Erkenntnis des Lichtes eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Habitus, denn ohne dieses Licht können die Gegenstände der Prophetie nicht erkannt werden. Zu 3.  Nachdem der Prophet die Rede Gottes in seinem Inneren vernommen hat – diese Rede ist nichts anderes als eine Erleuchtung des Geistes –, bedarf er keines weiteren Habitus, um das innerlich Gehörte aufzunehmen. Doch um die Rede überhaupt zu vernehmen, bedarf es offenbar desto mehr der Mitwirkung einer Geneigtheit, je

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erhabener diese Rede ist und je weiter ihr Verständnis die natur­ gegebenen Kräfte des Menschen übersteigt. Zu 4.  Die Antwort darauf ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Zu 5.  Das einmal eingegossene prophetische Licht bewirkt nicht die Erkenntnis aller Gegenstände, die der Prophetie unterliegen, sondern lediglich derer, zu deren Erkenntnis es gegeben wird. Diese Beschränkung liegt nicht an der mangelnden Kraft dessen, der das Licht gibt, sondern beruht auf der Anordnung seiner Weisheit, die »jedem zuteilt, wie er will« (1 Kor. 12, 11). Zu 6.  Alle Todsünden haben gewissermaßen etwas gemeinsam: eine jede trennt den Menschen von Gott. Daher befreit die Gnade, welche den Menschen mit Gott vereint, von jeder Todsünde, nicht aber von allen läßlichen Sünden, da diese nicht von Gott trennen. Die Inhalte aber, die Gegenstand der Prophetie sein können, haben untereinander keinen Zusammenhang, außer in der Ordnung der göttlichen Weisheit selbst. Wer also die Weisheit Gottes nicht gänz­ lich schaut, der kann durchaus einen Inhalt ohne den anderen sehen. Zu 7.  Ein gnadenhaft eingegossener Habitus ist – hinsichtlich der Art – vollkommener als ein erworbener, das heißt hinsichtlich des Ursprungs und des Zieles, zu dem er gegeben wird; denn dieses ist höherrangig als das Ziel, auf das ein erworbener Habitus hinge­ richtet ist. Betrachtet man die beiden aber hinsichtlich der Art, wie und in welcher Vollkommenheit sie das Subjekt besitzt, dann kann der erworbene Habitus durchaus vollkommener sein. Man sieht das klar am Beispiel des Glaubens: Durch diesen eingegossenen Habi­ tus schauen wir den Inhalt des Glaubens nicht so vollkommen wie die Schlußfolgerungen im Bereich des Wissens aufgrund des er­ worbenen Habitus einer Wissenschaft. Ähnlich verhält es sich mit dem Licht der Prophetie. Obwohl es eingegossen, ist es in uns nicht so vollkommen gegeben (existit) wie die erworbenen Habitus. Das spricht im übrigen für die Vorzüglichkeit der eingegossenen Habi­ tus; sie sind so erhaben, daß die menschlichen Schwachheit sie nicht vollständig zu besitzen vermag. Zu 8.  Dieses Argument wäre schlüssig, wenn das Licht, von dem der Geist des Propheten überflutet wird, ein Habitus wäre, nicht aber, wenn wir nur die Geneigtheit, das Licht aufzunehmen, als Ha­ bitus oder Quasi-Habitus annehmen, da aufgrund dessen jemand

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befähigt sein kann, hinsichtlich irgendeines Gegenstandes erleuch­ tet zu werden. Zu 9.  Wir werden weiter unten davon sprechen, in welcher Weise eine neue Formung von Erkenntnisbildern zur prophetischen Offen­ barung erforderlich ist. Zu 10.  Auch wenn »Einhauchung« keinen Habitus bezeichnet, so läßt sich daraus nicht beweisen, daß die Prophetie keiner sei; denn gewöhnlich werden Habitus ausgehend von ihren Akten definiert. Zu 11. Nach Aristoteles kann man von »Schau« bzw. »Schau­ ung« (visio) in zweifacher Weise sprechen, als Habitus und als Akt; »Schau« kann somit den Vollzug und den Habitus bezeichnen. Zu 12.  Das Licht der Prophetie ist keine »beharrende Qualität«, sondern etwas Vorübergehendes. In diesem Sinn argumentieren die angeführten Gründe. Doch die Geneigtheit, welche zurückbleibt, um die Erleuchtung von neuem aufzunehmen, ist nicht leicht be­ weglich, im Gegenteil: Sie bleibt lange, außer der Prophet verändert sich so tiefgreifend, daß dadurch die Geneigtheit aufgehoben wird. Zu den entgegengesetzten Argumenten: Zu 1.  In jener Einteilung des Aristoteles wird der Akt auf den Habitus zurückgeführt, insofern er von ihm seinen Ausgang nimmt, oder auf ein Erleiden, weil auch das Leiden gewissermaßen ein Akt der Seele ist, wie etwa zürnen oder begehren. Die Prophetie ist nun zwar unter der Hinsicht, daß sie ein Schauen ist, gewissermaßen ein Akt des Geistes, unter der Hinsicht jedoch, daß das Licht sehr schnell und gleichsam als vorübergehendes aufgenommen wird, gleicht sie einem Erleiden, insofern ein Empfangen im Bereich des Erkennens »Erleiden« genannt wird, weil »einsehen« auch gewissermaßen »er­ leiden« ist, wie es im 3. Buch Über die Seele11 heißt. – Man könnte auch antworten, daß Aristoteles’ Einteilung – nimmt man die ein­ zelnen Glieder in ihrem eigentlichen Sinn – nicht alles umfaßt, was in der Seele ist, sondern nur das, was sich auf die Ethik bezieht, um die es ihm hier geht. Das wird auch aus den Beispielen deutlich, mit denen er seine Auffassung an dieser Stelle selbst erklärt.

11  Aristoteles, De an. III, 4; 429 b 24.

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Zu 2.  Nicht alles, was erkannt wird, wird mittels eines Habitus erkannt; das trifft nur für die vollkommene Erkenntnis eines Ge­ genstandes zu. Es gibt bei uns auch unvollkommene Tätigkeiten, die nicht aus einem Habitus hervorgehen. Zu 3.  In den Wissenschaften, welche ein Beweisverfahren kennen, gibt es allgemeine Grundlagen, in denen die speziellen Schlußfolge­ rungen gleich Samen virtuell enthalten sind. Jemand, der den Ha­ bitus dieser allgemeinen Grundlagen besitzt, ist daher nicht unmit­ telbar der speziellen Schlußfolgerungen fähig. Diese nur entfernte Befähigung (potentia remota) muß in Bewegung gesetzt werden, damit sie diesen Akt vollziehen kann. Im Bereich der Gegenstände der prophetischen Erkenntnis aber gibt es keine solche Ordnung, so daß man einige Dinge aus anderen, vorgeordneten, ableiten könnte und derjenige, der den Habitus der vorgeordneten Inhalte hätte, in einer gewissen Undeutlichkeit auch den Habitus der daraus etwa folgenden Inhalte hätte. Daher ist das Argument hinfällig. Zu 4.  Das Erkenntnisvermögen wird durch Prophetie und Glau­ ben auf unterschiedliche Weise vervollkommnet. Die Prophetie ver­ vollkommnet das Erkenntnisvermögen an sich, daher muß der Pro­ phet den Inhalt, auf den diese Vervollkommnung durch die Gabe der Prophetie sich bezieht, klar unterschieden sehen können. Der Glaube dagegen vervollkommnet die Erkenntnis in Beziehung zum Willen bzw. zum Strebevermögen, der Glaubensakt ist nämlich ein Akt des Erkenntnisvermögens, veranlaßt vom Willen (actus intellectus imperati a voluntate); deswegen hat das Erkenntnisvermögen vom Glauben nur die Bereitschaft, dem zuzustimmen, was Gott zu glauben aufträgt. Daher ähnelt der Glaube dem Hören, die Prophetie aber dem Schauen; und es ist keineswegs nötig, daß derjenige, der den Habitus des Glaubens besitzt, klar unterschieden alle Glaubens­ inhalte erkennt. Wohl aber wäre das nötig, wenn jemand den Habi­ tus der Prophetie hätte: Er müßte alle Gegenstände, die zur Prophe­ tie gehören, klar unterschieden erkennen.

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Hat die Prophetie Schlußfolgerungen zum Gegenstand, die (auch) wissenschaftlich gewonnen werden könnten?12 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Prophetie ist eine »Einsprechung, welche den Ausgang der Dinge mit unwandelbarer Wahrheit verkündet«13. Der Ausgang der Dinge bezeichnet die nicht notwendigen Ereignisse der Zukunft (futura contingentia), über die keine Wissenschaft mit Beweisverfah­ ren Schlußfolgerungen vorlegen kann. Was also Gegenstand solcher Schlußfolgerungen ist, kann nicht Gegenstand der Prophetie sein. 2.  Hieronymus schreibt, daß die Prophetie »Zeichen des Vorher­ wissens Gottes« ist.14 Vorherwissen aber bezieht sich auf Zukünf­ tiges. Wenn also das Zukünftige, vor allem die nicht notwendigen Ereignisse, um die es offensichtlich in der Prophetie meistens geht, nicht durch Schlußfolgerungen in anderen Wissenschaften erkannt werden kann, dann kann anscheinend die Prophetie nicht Schluß­ folgerungen zum Gegenstand haben, die durch die Wissenschaften erkannt werden. 3.  Die Natur ist nicht verschwenderisch mit Überflüssigem, läßt es aber am Notwendigen nicht fehlen. Erst recht sollte das bei Gott nicht anders sein, dessen Tun vollkommene Ordnung zeigt. Nun hat der Mensch zur Erkenntnis der Schlußfolgerungen im Bereich der beweisenden Wissenschaften einen anderen Weg als den der Pro­ phetie: die ersten Erkenntnisprinzipien. Es wäre überflüssig, wenn er dergleichen durch die Prophetie erkennen sollte. 12  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  171, a.  3; Super Ps. 50, 8; Super Is. 1, 1; Super Rom., cap. 12, lect. 2 (ed. R. Cai, n.  978); Super 2 Cor., cap. 12, lect. 1 (ed. R. Cai, n.  442). 13  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef (PL 191, 58 B), aus Cassiodor, Expos. Ps., praef. (CCSL 97, 7). Die Definition bei Petrus Lombardus lau­ tet: Est igitur prophetia inspiratio vel revelatio divina, rerum eventus immobili veritate pronuntians, bei Cassiodor: … aspiratio divina, quae eventus rerum aut per facta aut per dicta quorundam immobili veritate pronuntiat. 14  Glossa ord. super Matth. 1, 23, aus Hieronymus (Biblia latina cum glossa ordinaria, Straßburg 1480/81, Reprint Turnhaut 1992, fol. 4).

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4.  Eine unterschiedliche Weise der Entstehung zeigt die Unter­ schiedenheit der Spezies an: Mäuse, die aufgrund von Fortpflan­ zung entstehen, sind nicht von der gleichen Spezies wie Mäuse, die sich aus Fäulnis entwickeln, schreibt Averroes im Kommentar zum 8. Buch der Physik. Wissenschaftliche Schlußfolgerungen ziehen die Menschen naturgemäß aufgrund der ersten Erkenntnisprinzipien. Wenn es nun andere Menschen gäbe, die auf andere Art zu Beweisen und Schlüssen kämen, dann wären sie von anderer Spezies und hie­ ßen nur in uneigentlichem Sinn (aequivoce) Menschen. Das scheint doch absurd. 5.  Der Gegenstand jener Wissenschaften mit Beweisverfahren verhält sich indifferent zu allen Zeiten. Ganz anders die Prophetie: »Zuweilen berührt der Geist das Herz des Propheten im Hinblick auf einen zeitlich gegenwärtigen Gegenstand, nicht aber hinsicht­ lich e­ ines zukünftigen, zuweilen ist es umgekehrt«, schreibt Gregor in den Homilien zu Ezechiel15. Somit haben Prophetie und Wissen­ schaft keine gemeinsamen Gegenstände. 6.  Der Geist des Propheten und der Geist irgendeines anderen Menschen haben nicht das gleiche Verhältnis zu dem, was aufgrund der Prophetie gewußt wird, aber »in allem, was aufgrund ­eines Schlußverfahrens gewußt wird, ist das Urteil des Propheten von keinem anderen Rang als das irgendeiner anderen Person, keiner ist dem anderen vorzuziehen«, schreibt Rabbi Moses.16 Dagegen spricht: Wir glauben den Propheten nur, insofern sie vom Geist der Pro­ phetie angehaucht sind (inspirantur). Jedoch schulden wir auch dem, was in den Büchern der Propheten geschrieben steht, Glauben, selbst wenn es sich dabei um Schlußfolgerungen handelt, die wis­ senschaftlich erhoben werden könnten, etwa: »Der die Erde über den 15  Gregor der Große, Homiliae in Hiezechihelem I, 1, 4 (CCSL 142, 7). 16  Moses Maimonides, Dux neutr. II, 34 (33) (ed. A. Weiß, 229). Die

verbreitetste lateinische Fassung des ›Dux neutrorum‹ oder ›Dux perple­ xorum‹ war aus der hebräischen Vorlage übersetzt; die Kapitelzählung ist um eins verschoben. Lat. Text: Paris 1520 (Neudruck Frankfurt a. M. 1964); deutsch: Führer der Unschlüssigen, übers. und komm. von A. Weiß, Hamburg 1923, ND Hamburg 1972.

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Wassern gegründet hat«17 oder anderes dergleichen. Das heißt doch, daß der Geist der Prophetie die Propheten auch hinsichtlich solcher Gegenstände inspiriert. 2.  Wie die Gabe, Wunder und Zeichen zu tun, dazu befähigt, etwas zu wirken, was die Kraft der Natur übersteigt, so befähigt die Gabe der Prophetie zur Erkenntnis dessen, was die natürliche Erkenntnis übersteigt. Die beiden Verhältnisse sind vergleichbar. Durch die Wundergabe geschehen aber nicht nur Dinge, welche die Natur überhaupt nicht vollbringen kann – etwa Blinden das Augen­ licht geben oder Tote erwecken –, sondern auch Dinge, welche die Natur an sich kann, etwa, daß Fieberkranke gesund werden. Da­ her werden auch mittels der Prophetie nicht nur Dinge erkannt, zu denen die natürliche Erkenntnis niemals vordringen kann, son­ dern auch solche, zu denen sie vordringen könnte; dazu gehören die Schlußfolgerungen der Wissenschaften. Antwort: In allen Dingen, die um eines Zieles willen geschehen, bestimmt sich die Materie entsprechend den Erfordernissen des Zieles, wie sich aus dem 2. Buch der Physik18 ergibt. Aus dem 12. Kapitel des 2. Korintherbriefes (v. 7) geht hervor, daß die Gabe der Prophetie zum Nutzen der Kirche verliehen wird: »Einem jeden wird die Kundgabe des Geistes verliehen zum Nutzen«; dann werden viele Gaben ge­ nannt, unter ihnen die Prophetie. Daher kann jeder Inhalt, dessen Kenntnis für das Heil notwendig sein kann, Gegenstand der Pro­ phetie sein – sei es Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges, sei es Ewiges, Notwendiges oder Zufälliges. Gegenstände jedoch, die sich nicht auf das Heil beziehen können, gehören nicht zum Bereich der Prophetie. Deswegen schreibt Augustinus im 2. Buch Über den Wortlaut der Genesis19: »Obwohl unsere Autoren die Gestalt des Himmels kannten, so wollte Gott durch sie doch nur das kundtun, was dem Heile nützt.« Und im Johannes-Evangelium (16, 13) heißt es: »Wenn der Geist der Wahrheit kommt, wird er euch die ganze 17  Ps. 135, 6 (Vg.). 18  Aristoteles, Phys. II, 9; 200 a 10–15; AL VII/1, 2, 92 f. 19  Augustinus, De Gen. ad litt. II, 9 (CSEL 28/1, 46).

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Wahrheit lehren«, wozu die Glossa hinzufügt: »welche für das Heil notwendig ist«. »Notwendig zum Heil« nenne ich all das, was unab­ dingbar zur Unterweisung im Glauben oder zur Formung der Sitten gehört. Vieles von dem, was in den Wissenschaften bewiesen wird, kann dazu nützlich sein, etwa die Unzerstörbarkeit des Intellekts und all die Eigenschaften des Geschaffenen, deren Betrachtung zur Bewunderung der göttlichen Weisheit und Macht führt. Daher sind auch solche Dinge in der Heiligen Schrift erwähnt. Man muß jedoch wissen, daß die Prophetie als »Erkenntnis von Dingen, die weit entfernt sind«, sich nicht in der gleichen Weise auf alles Vorausgesagte bezieht. Daß Dinge unserer Erkenntnis fern sind, liegt zuweilen an den Dingen selbst, zuweilen liegt es an uns. Ihrem Wesen nach sind die zukünftigen, nicht notwendig eintre­ tenden Ereignisse (futura contingentia) unserer Erkenntnis fern, denn sie haben noch kein wirkliches Sein (ab esse deficiunt): Sie sind selbst nicht, noch sind sie durch ihre Ursachen schon festgelegt. An uns dagegen liegt es, daß manches uns fern ist, wenn die Erkennt­ nis mancher Dinge unserem schwachen Verstand schwerfällt; die Schwierigkeit liegt nicht an den Inhalten, da sie im höchsten Maß erkennbar und vollkommen seiend sind, wie die intelligiblen und ewigen Sachverhalte. Was aber einer Sache an sich eigen ist, ist ihr tiefer und wahrer eigen als etwas, das ihr nur unter einer bestimm­ ten Hinsicht eigen ist. Daher sind die nicht-notwendigen zukünf­ tigen Ereignisse in einem tieferen Sinn »unserer Erkenntnis fern« als alles andere. Sie gehören also in erster Linie zum Bereich der Prophetie, so sehr, daß sie als hauptsächlicher Gegenstandsbereich der Prophetie bezeichnet werden, wenn es in der Definition heißt: »Prophetie ist göttliche Inspiration über den Ausgang der Dinge«20. Davon scheint auch das Wort Prophetie zu stammen, wie Gregor in den Homilien zum Propheten Ezechiel21 schreibt: »Denn Prophetie wird sie deswegen genannt, weil sie Zukünftiges vorhersagt; wenn die Rede sich auf Vergangenes oder Gegenwärtiges bezieht, verliert sie die eigentliche Wortbedeutung.«

20  S. o. Anm. 13. 21  Gregor der Große, Homiliae in Hiezechihelem I, 1, 1 (CCSL 142, 5).

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Was die Gegenstände betrifft, die uns wegen der Schwäche unse­ res Erkenntnisvermögens fern sind, ist eine Unterscheidung zu ma­ chen: Manche Erkenntnis ist uns fern, insofern sie jedes menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt, etwa, daß Gott einer und dreifaltig ist und ähnliches; derartige Erkenntnisse sind nicht durch Schluß­ folgerungen der Wissenschaften zu erlangen. Andere Erkenntnisse jedoch sind fern, insofern sie die Erkenntnis dieses oder jenes Men­ schen übersteigen, nicht die menschliche Erkenntnis schlechthin: Das sind etwa Erkenntnisse, die Gelehrte aufgrund eines Beweises wissen, Ungelehrte aber allein mit der natürlichen Erkenntnis nicht erlangen, jedoch zuweilen zu diesen Erkenntnissen erhoben wer­ den, weil Gott es ihnen enthüllt. Derartige Inhalte gehören nicht schlechthin zum Bereich der Prophetie; sie können aber Gegenstand der Prophetie sein im Hinblick auf den einen oder anderen bestimm­ ten Menschen [der diese Erkenntnis übernatürlich durch Prophetie empfängt, weil sie ihm nicht anders zuteil werden kann]. So verstan­ den können auch Ergebnisse wissenschaftlichen Beweises unter den Bereich der Prophetie fallen. Zu 1. In der Definition der Prophetie wird der »Ausgang der Dinge« gleichsam als der ureigene Gegenstand der Prophetie be­ zeichnet; damit ist aber nicht gesagt, daß das der ganze Gegen­ standsbereich ist. Zu 2.  Ebenso heißt die Prophetie »Zeichen des Vorherwissens« aufgrund ihres hauptsächlichen Gegenstands. Zu 3. Obwohl die Ergebnisse der Wissenschaften auf andere Weise gewußt werden als mittels der Prophetie, ist es doch nicht überflüssig, daß sie im Licht der Prophetie gezeigt werden; denn mittels des Glaubens hängen wir den Worten der Propheten mit größerer Festigkeit an als wissenschaftlichen Beweisen. Auch offen­ bart sich uns dadurch Gottes Gnade, und sein vollkommenes Wissen zeigt sich. Zu 4.  Ursachen im Bereich der Natur haben festgelegte Wirkun­ gen, weil ihre Kraft endlich und auf eine bestimmte Sache begrenzt ist. Was also von unterschiedlichen Ursachen der Natur auf unter­ schiedliche Weise entsteht, muß von verschiedener Art (species) sein. Die Kraft Gottes aber ist unendlich, und daher kann sie die gleiche

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Art von Wirkungen hervorbringen, wie sie die Natur hervorbringt, ohne die Tätigkeit der Natur. Daher läßt sich nicht folgern, daß Menschen, welche eine göttliche Offenbarung von Dingen erhalten, die auch natürlich gewußt werden können, sich von Menschen, die auf andere Weise erkennen, der Spezies nach unterscheiden. Zu 5.  Zuweilen bezieht sich die Prophetie auf Gegenstände, die je nach der Zeit unterschiedlich sind; zuweilen aber jedoch auf Dinge, die zu allen Zeiten wahr sind. Zu 6.  Rabbi Moses meint nicht, daß Dinge, die durch einen Be­ weis gewußt werden können, einem Propheten nicht mehr geoffen­ bart werden könnten, sondern daß es bei Dingen, die aufgrund eines Beweises gewußt werden, keinen Unterschied macht, ob es darüber eine prophetische Erkenntnis gibt oder nicht.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist die Prophetie etwas Natürliches?22 An­ scheinend ist das der Fall; denn: 1.  Die Erkenntnis eines Menschen im Wachzustand ist kraftvol­ ler, als wenn er schläft. Doch im Schlaf kann es auf natürliche Weise vorkommen, daß Zukünftiges vorhergesehen wird, wie sich an den Weissagungen aufgrund von Träumen erweist.23 Wieviel mehr müs­ sen dann bestimmte Leute im Wachzustand fähig sein, das Künftige vorauszusehen. Das aber ist die Aufgabe der Prophetie, und somit kann jemand natürlicherweise Prophet sein. 2.  Dagegen wurde eingewandt, daß die Erkenntnis des wachen Menschen hinsichtlich des Urteils stärker ist, die des Schlafenden aber hinsichtlich des Aufnehmens. Doch kann dagegengehalten 22  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  172, a.  1. 23  Vgl. Aristoteles, De divinatione per somnum 1; 462 b 12 ff. Thomas

referiert dies Sum. theol. II-II, q.  172, a.  1, arg. 2. Für Aristoteles haben Träume nur rein zufällig divinatorische Bedeutung; sie haben nicht den Zweck, besondere Erkenntnisse über die Zukunft zu enthüllen: Über die Weissagung im Schlaf, in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung 14/III, übers. u. erl. von Ph. van der Eijk, Berlin 1994. Vgl. M. Schlosser, Lucerna, 79–83.

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werden, daß die Erkenntniskraft über eine Sache deswegen zu ur­ teilen vermag, weil sie deren Erkenntnisbild aufgenommen hat. Das Urteilen folgt also dem Aufnehmen. Wo also kraftvoller aufgenom­ men wird, da ist das Urteil vollkommener. Wenn der Schlafende besser aufnehmen kann, dann muß er auch stärker im Urteilen sein. 3.  Das geistige Erkenntnisvermögen wird durch den Schlaf nur akzidentell gebunden, insofern der Intellekt vom Sinnesvermögen abhängt. Das Urteil des Intellekts aber hängt nicht von den Sinnen ab, weil die Erkenntnistätigkeit nur insofern von den Sinnen ab­ hängig ist, als sie von ihnen empfängt. Das Urteil aber findet nach dem Empfangen statt. Also ist das Urteil des Intellekts im Schlaf nicht gebunden und die vorgebrachte Unterscheidung ist ohne jede Bedeutung. 4.  Was einer Sache zukommt, nachdem bzw. weil sie von anderem getrennt wurde, kommt ihr der Natur nach zu: Wenn der Rost vom Eisen abgelöst ist, wird das Eisen glänzend; also gehört dieser Glanz zur Natur des Eisens. Dadurch, daß die Seele von den Körpersin­ nen abgezogen wird, wird ihr die Schau des Zukünftigen eigen, wie Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis24 an vielen Beispielen zeigt. Daher ist die Schau des Zukünftigen anscheinend für die Seele des Menschen etwas Natürliches. 5.  Gregor schreibt im 4. Buch der Dialoge25, die Kraft der Seele sehe zuweilen aufgrund ihrer eigenen Feinheit etwas voraus, zu­ weilen hätten auch Seelen, die binnen kurzem ihren Leib verlassen würden, aufgrund einer Offenbarung die Erkenntnis von Zukünfti­ gem. Was aber die Seele aufgrund ihrer eigenen feinen Beschaffen­ heit erblicken kann, das erblickt sie auf natürliche Weise. 6.  Dagegen wurde eingewandt: Das Zukünftige, das die Seele na­ türlicherweise erkennt, hat festgelegte Ursachen in der Natur; die Prophetie aber hat mit anderen zukünftigen Ereignissen zu tun. – Doch könnte man argumentieren: Was vom freien Willen abhängt, hat keine solche in der Natur festgelegte Ursache; und doch hängen die Gegenstände, welche die Seele aufgrund ihrer feinen Beschaf­ fenheit vorhersieht, ganz vom freien Willen ab. Dies zeigt das von 24  Augustinus, De Gen ad litt. XII, 13, 20 f. (CSEL 28/1, 397 f.; 409–412). 25  Gregor der Große, Dialogi IV, 27, 1 (PL 77, 357 C; SC 265, 86).

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Gregor26 in diesem Zusammenhang angeführte Beispiel: Ein Mann wurde krank, und man traf Anstalten für das Begräbnis in irgend­ einer Kirche. Als nun der Tod nahte, stand er auf, kleidete sich an und kündigte an, er wolle auf der Via Appia zur Kirche des hl. Sixtus gehen. Kurze Zeit später starb er. Weil nun der Weg zu der Kirche, in der er bestattet werden sollte, weit war, »faßten die Leute – ohne daß sie von seiner Äußerung gewußt hätten – plötzlich den Ent­ schluß, mit dem Leichnam auf die Via Appia hinauszugehen, und sie bestatteten ihn in der Kirche des hl. Sixtus.« Gregor fügt hinzu, dies habe jener nur vorhersagen können, weil die feine Beschaffen­ heit und die Kraft der Seele vorhersah, was mit ihrem Leib gesche­ hen würde. 7.  Aus natürlichen Ursachen kann man keine Bedeutsamkeit ab­ leiten für Dinge, die nicht nach den Gesetzmäßigkeiten der Natur geschehen. Doch die Sternkundigen (Astronomen) entnehmen aus der Bewegung der Gestirne Bedeutungen prophetischer Art. Daher ist die Prophetie etwas Natürliches. 8.  Die Philosophen trafen im Bereich der Naturphilosophie nur Feststellungen über das, was auf natürlichem Wege geschehen kann. Nun hat aber Avicenna sich im 6. Buch der Naturphilosophie27 de­ zidiert über die Prophetie geäußert. Dementsprechend ist sie etwas Natürliches. 9.  Zur Prophetie sind nur drei Dinge nötig: Klarheit des Erkennt­ nisvermögens, Vollkommenheit im Bereich der imaginativen Fähig­ keit und eine Macht der Seele über die äußere Materie, so daß sie ihr gehorcht, wie Avicenna im 6. Buch der Naturphilosophie28 schreibt. All das kann natürlicherweise eintreten. 10.  Dagegen wurde eingewandt: Natürlicherweise kann die Er­ kenntnis und die Imagination so vervollkommnet werden, daß sie im natürlichen Bereich Zukünftiges erkennt; aber das ist nicht der Gegenstand der Prophetie. – Aber man kann erwidern: »Natürlich« wird das genannt, was von den niederen (untergeordneten) Ursa­ chen abhängt. Jesaja sah und verkündete voraus, daß Hiskija sterben 26  Gregor der Große, Dialogi IV, 27, 1 (PL 77, 360 A; SC 265, 86). 27  Avicenna, De anima IV, 4 (ed. S. Van Riet, II, 1–67; s. o. Anm. 10). 28  Avicenna, De anima IV, 4 (ed. S. Van Riet, II, 54–67).

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werde (Jes. 38, 1). Er sah dies aufgrund der untergeordneten Ursa­ chen (rationes inferiores29), wie die Glosse zu dieser Stelle schreibt. 11.  Die göttliche Vorsehung gibt den erschaffenen Dingen, was sie zu ihrem Bestand unbedingt brauchen, so daß sie dies in sich be­ sitzen. Im menschlichen Leib gibt es zum Beispiel Glieder, mit denen die Speise aufgenommen und verdaut wird, ohne die das sterbliche Leben nicht erhalten werden kann. Doch kann das Menschenge­ schlecht nicht Bestand haben ohne Gemeinschaft; denn ein Mensch allein ist nicht autark in den lebensnotwendigen Dingen, weswegen das VIII. Buch der Ethik 30 den Menschen als ein »von Natur aus gemeinschaftliches Lebewesen« definiert. Eine Gemeinschaft aber kann keinen Bestand haben ohne Gerechtigkeit, die Richtschnur der Gerechtigkeit aber ist die Prophetie. Deshalb ist es der menschli­ chen Natur mitgegeben, zur Prophetie auch natürlich gelangen zu können. 12. In jeder Gattung findet sich etwas, was die höchste Voll­ endung dieser Gattung ist. Das Vollkommenste in der Gattung des Menschen ist der Prophet; denn er überragt im Hinblick auf das, was im Menschen das Wesentliche ist, nämlich das geistige Erkennen, die andern Menschen.31 13.  Es besteht ein größerer Abstand zwischen den Eigenschaf­ ten Gottes und den Eigenschaften der Geschöpfe als zwischen den Eigen­schaften künftiger Dinge und denen gegenwärtiger. Nun kann aber der Mensch auf natürliche Weise mittels der Eigenschaften der Geschöpfe zur Erkenntnis Gottes gelangen, wie es im Römerbrief 1 (v. 20) heißt: »das Unsichtbare Gottes durch das, was geschaffen ist …«. Daher kann er auch, ausgehend von dem, was jetzt ist, zur Erkenntnis des Künftigen gelangen, und damit natürlicherweise Prophet sein.

29  D. h.: Die »untergeordnete Ursache«, welche unmittelbar zum Tod führt, ist die Krankheit Hiskijas. Die höhere Ursache wäre der Wille Got­ tes. 30  Evtl. spielt Thomas auf Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 14; 1162 a 17 an. 31  Das ist die Auffassung Avicennas: Met. X, 1; 3; 5 (ed. S. Van Riet 523; 536–541; 553). Der Prophet ist fast ein Gott: deus humanus.

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14.  Dagegen wurde eingewandt, daß der Abstand zwischen Gott und dem Geschaffenen zwar in der Ordnung des Seins größer ist, der Abstand der zukünftigen Dinge von den gegenwärtigen jedoch in der Ordnung der Erkenntnis größer ist. – Man kann darauf er­ widern, daß die Prinzipien des Seins und der Erkenntnis dieselben sind, und somit ein größerer Abstand in der Ordnung des Seins auch einen größeren Abstand in der Ordnung der Erkenntnis impliziert. 15.  Augustinus unterscheidet in seiner Schrift Über den freien Willen 32 drei Arten von Gütern: geringe, große und mittlere. Die Prophetie kann man nicht zu den geringen Gütern zählen, denn das wären die Güter des Leibes. Man kann sie auch nicht zu den größ­ ten rechnen; denn darunter fallen die Eigenschaften, aufgrund derer man recht lebt und die niemand mißbrauchen kann,33 was offenbar auf die Prophetie nicht zutrifft. Also bleibt übrig, daß die Prophetie zu den mittleren Gütern gehört: den natürlichen Gütern der Seele. 16.  Boethius schreibt im Buch Über die zwei Naturen 34, eine Be­ deutung von »Natur« sei all das, »was handeln oder erleiden kann«. Damit jemand Prophet sei, ist eine Art geistiges Erleiden erforder­ lich, nämlich das Aufnehmen des Lichtes der Prophetie, von dem oben die Rede war. 17.  Wenn etwas aktiv ist (agens), dann entspricht es seiner Na­ tur, tätig zu sein; ebenso entspricht es der Natur des Passiven, zu erleiden. Es entspricht Gottes Natur, den Menschen den Geist der Prophetie einzugießen; denn Gott ist von Natur aus gut, und dem Guten ist es eigen, sich mitzuteilen. Ebenso entspricht es der Natur des menschlichen Geistes, von Gott zu empfangen; denn er besteht ja nur aus dem, was er von Gott empfängt. Die Prophetie zu emp­ fangen ist also natürlich. 18.  Jeder naturgegebenen passiven Potenz entspricht eine natur­ gegebene aktive Potenz. In der menschlichen Seele gibt es eine na­ 32  Augustinus, De lib. arb. II, 19, 50 (BAC 21, 332 f.); (CSEL 74, 85; CCSL 29, 271). 33  Definition der Tugend: Augustinus, De lib. arb. II, 19, 50 (BAC 21, 332 f.); (CSEL 74, 85; CCSL 29, 271). 34  Boethius, Contra Eutychium et Nestorium, cap. 1 (ed. M. Elsässer, 70).

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türliche Potenz zur Aufnahme des prophetischen Lichtes, also gibt es auch eine natürliche aktive Potenz, wodurch jemand den prophe­ tischen Akt vollziehen kann. 19.  Der Mensch besitzt von Natur aus eine vollkommenere Er­ kenntnis als andere Lebewesen. Nun wissen aber manche Tiere na­ türlicherweise zukünftige Ereignisse voraus, besonders solche, die sie betreffen. So wissen die Ameisen den kommenden Regen im voraus und manche Fische zeigen ein kommendes Unwetter an. So müßte der Mensch auch natürlicherweise vorauswissen können, was ihn betrifft. Dagegen spricht: 1.  Im 2. Petrusbrief (1, 21) steht: »Nicht aus menschlichem Wol­ len wurde zuweilen eine Prophetie ausgesprochen, sondern vom Heiligen Geist inspiriert haben Gottes Heilige gesprochen.« 2. Was von einer äußeren Ursache abhängt, entstammt offen­ bar nicht der Natur eines Dinges. Die Prophetie hängt aber von ­einer äußeren Ursache ab; denn die Propheten lesen »im Spiegel der Ewigkeit«35. 3. Was unserer Natur eigen ist, steht in unserer Verfügungs­ macht. Jedoch »stand es nicht in der Verfügung des Propheten, das Zukünftige vorhersagen zu können«, wie es in der Glossa heißt, zu jener Stelle 2 Petr. 1, 19: »Für uns ist das Wort der Propheten noch sicherer geworden …«36. 4.  Wenn etwas der Natur einer Gattung entspricht, kommt es bei vielen Einzelnen vor. Die Prophetie aber kommt nur bei wenigen vor. Antwort: Auf zweierlei Weise kann etwas »natürlich« heißen: zum einen insofern das wirkende Prinzip die Natur einer Sache selbst ist, etwa daß das Feuer nach oben lodert, zum andern insofern die Natur das Prinzip bestimmter Dispositionen ist, nicht irgendwelcher, sondern derer, die unbedingt notwendig sind für die Vollkommenheit des betreffenden Seienden. So wird die Eingießung der geistigen Seele 35  Vgl. unten a.  6. 36  Glossa ordinaria, IV, 530a.

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»natürlich« genannt, insofern durch die Tätigkeit der Natur der Leib eine Disposition erhält, welche die notwendige Voraussetzung für die Aufnahme der Seele ist. Manche vertraten die Ansicht, daß die Prophetie etwas im ersten Sinn Natürliches sei. Sie argumentierten, »die Seele habe in sich eine gewisse Fähigkeit zur Weissagung«; das erzählt Augustinus im 12. Buch des Kommentars über den Wortlaut der Genesis37. Er selbst weist dies zurück; denn wenn es sich so verhielte, dann hätte es die Seele in freier Verfügung, wann immer sie wollte, die Zukunft vorauszusehen, was ganz offenkundig falsch ist. Außerdem erweist sich die Verkehrtheit dieser Annahme auch an folgendem Sachver­ halt: Die Natur des menschlichen Geistes kann auf natürliche Weise nicht Prinzip einer Erkenntnis sein, zu der er nicht mittels der er­ sten, durch sich selbst bekannten Prinzipien gelangen kann. Diese Erkenntnisprinzipien sind die ersten Werkzeuge des tätigen Intel­ lekts, doch von ihnen ausgehend kann man nicht zur Erkenntnis nicht-notwendiger Ereignisse der Zukunft gelangen – außer viel­ leicht, indem man bestimmte Anzeichen im Bereich des Natürlichen betrachtet, wie etwa ein Arzt die künftige Genesung oder den Tod vorher erkennen kann, oder ein Sternkundiger heitere oder stürmi­ sche Witterung. Eine derartige Kenntnis des Künftigen ist nicht der Weissagung oder der Prophetie zuzuschreiben, sondern eher dem praktischen Erfahrungswissen (ars). Daher vertraten andere die Ansicht, die Prophetie sei natürlich im zweiten Sinn: Die Natur könne einen Menschen zu einer derartigen Disposition gelangen lassen, daß er gar nicht mehr anders könne, als durch die Aktivität einer höheren Ursache die Kenntnis des Zukünf­ tigen aufzunehmen. Diese Ansicht ist richtig, was eine bestimmte Art von Prophetie betrifft, nicht aber, was jene Prophetie betrifft, die von Paulus unter die Gaben des Hl. Geistes gezählt wird.38 Um diese beiden Arten von Prophetie zu unterscheiden, muß man wissen, daß die nicht-notwendigen zukünftigen Dinge zweifach exi­ stieren, bevor sie sind: im Vorherwissen Gottes und in den erschaf­ 37  Augustinus De Gen. ad litt. XII, 13 (CSEL 28/1, 397). 38  1 Kor. 12, 10.

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fenen Ursachen, kraft derer sie in der Zukunft tatsächlich Sein ha­ ben werden. Die beiden Weisen, wie die zukünftigen Dinge sind, bevor sie sind, unterscheiden sich zweifach. Erstens: Alles, was in seinen geschaffenen Ursachen »präexistiert«, präexistiert auch im Vorherwissen Gottes; das gilt aber nicht umgekehrt, weil Gott die Ursachen und Gründe mancher künftiger Dinge bei sich selbst zu­ rückhält und nicht in erschaffene Dinge einsenkt – wie es bei den Wundertaten der Fall ist, die allein aufgrund der Kraft Gottes ge­ schehen, wie Augustinus im Kommentar über den Wortlaut der Genesis39 schreibt. Zweitens: Gewisse zukünftige Ereignisse existie­ ren in den geschaffenen Ursachen bereits vorweg, aber nicht so, daß sie unwandelbar wären; denn die Kraft der betreffenden Ursache, die zwar auf diese Wirkung hingeordnet ist, kann durch irgendein Ereignis gehindert werden. Im Vorherwissen Gottes dagegen ist al­ les Zukünftige unwandelbar; denn Gottes Vorherwissen weiß die zukünftigen Ereignisse nicht nur im Hinblick auf die Ordnung der Ursachen, die zu diesen Ereignissen führen, sondern auch im Hin­ blick auf den tatsächlichen Ausgang. Ein Vorherwissen zukünftiger Dinge kann demnach im mensch­ lichen Geist auf zweifache Weise bewirkt werden: zum einen, inso­ fern das Zukünftige in Gottes Geist bereits ist. Diese Prophetie ist eine Gabe des Hl. Geistes, und sie keine Sache der Natur; denn was durch göttliches Wirken ohne Vermittlung natürlicher Ursachen ge­ schieht, nennt man nicht »natürlich«, sondern »wunderbar«. Ohne Vermittlung natürlicher Ursachen geschieht diese Art der Enthül­ lung zukünftiger Ereignisse, weil nicht enthüllt wird, inwiefern diese Ereignisse in geschaffenen Ursachen begründet liegen, son­ dern wie sie in Gottes Geist sind. Und von dort her strömt die Er­ kenntnis in den Geist des Propheten. Zum andern gibt es ein Vorherwissen kraft geschaffener Ursa­ chen: insofern nämlich die imaginative Fähigkeit des Menschen ir­ gendwelche Bewegungen, die von den Himmelskörpern ausgehen, aufnehmen kann – in den Himmelskörpern gibt es nämlich bereits bestimmte Anzeichen mancher zukünftiger Dinge – und insofern die Vernunft des Menschen, die niedriger steht als die getrennten 39  Augustinus, De Gen. ad litt. VI, 14 (CSEL 28/1, 189).

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Geistwesen, von diesen unterwiesen und zur Erkenntnis mancher Dinge erhoben werden kann.40 Diese natürliche Art von Prophetie unterscheidet sich von der Prophetie, die jetzt unser Thema ist, in dreierlei Hinsicht. Erstens: Die Prophetie, von der wir jetzt sprechen, hat die Erkenntnis der zu­ künftigen Ereignisse direkt von Gott, selbst wenn ein Engel dabei helfen kann, insofern er in der Kraft des Lichtes Gottes selbst han­ delt. Die natürliche Prophetie aber beruht auf der eigenen Tätigkeit von Zweitursachen. Zweitens: Die natürliche Prophetie erstreckt sich nur auf Dinge, welche innerhalb der Natur bestimmte Ursachen ha­ ben; die Prophetie aber, von der wir jetzt sprechen, kann sich ohne Unterschied auf alles Zukünftige beziehen. Drittens: Die natürliche Prophetie hat das Vorauswissen nicht auf völlig unfehlbare Weise, sondern sagt voraus, was in den meisten Fällen eintreten wird. Der Prophetie als Gabe des Hl. Geistes dagegen ist ein unfehlbares Wis­ sen eigen; daher nennt man sie »Anzeichen des Vorherwissens Got­ tes«. Sie sieht die zukünftigen Dinge mit jener Untrüglichkeit, wie sie von Gott vorhergewußt werden. Diese drei Unterschiede kann man in der Definition Cassiodors ausgedrückt finden: Erstens nennt er die Prophetie »göttlich« (divina), zweitens spricht er ganz umfassend vom »Ausgang der Dinge« (rerum eventus) und drittens von »unwandelbarer Verkündigung« (immobili veritate denuntians).41 Unter der Hinsicht, daß die Prophetie auch notwendige Gegen­ stände zum Inhalt haben kann, bleiben die ersten beiden Unter­ schiede in Geltung. Denn in der natürlichen Prophetie erhält der Mensch die Kenntnis jener wißbaren Gegenstände nicht unmittel­ bar von Gott, sondern durch die Vermittlung von Zweitursachen, durch die Tätigkeit der Zweitursachen, die mit ihren natürlichen Kräften wirken. Auch erstreckt sich eine derartige Erkenntnis nicht auf alles Notwendige, sondern nur auf das, was aufgrund der Ersten Prinzipien des Intellekts dem Menschen bekannt werden kann. Wei­ ter reicht die Kraft des tätigen Intellekts nicht, noch wird er natürli­ cherweise zu anderen Gegenständen erhoben. Durch die Prophetie 40  Thomas ist hier sehr vorsichtig: zahlreiche »quaedam« zeigen das an. 41  S. o. Anm. 4 und 13.

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als Gabe Gottes aber wird der Intellekt dazu erhoben, Gegenstände zu erkennen, welche die natürliche Erkenntnis übersteigen, etwa daß Gott einer und dreifaltig ist und ähnliches. Der dritte Unterschied dagegen ist in Bezug auf notwendige In­ halte hinfällig. Beide Arten von Prophetie bewirken nämlich, daß diese Art von Gegenständen in unwandelbarer Gewißheit gewußt werden, so als würden sie aufgrund eines Beweisverfahrens gewußt. Denn durch beide Arten von Prophetie wird der Geist des Men­ schen zu einer Erkenntnis erhoben, die gewissermaßen der Erkennt­ nis der getrennten Substanzen entspricht; diese aber schauen Prin­ zipien wie Schlußfolgerungen in einem einfachen Hinblick (simplici intuitu), ohne das eine aus dem anderen abzuleiten, und in völliger Gewißheit. Beide Arten von Prophetie unterscheiden sich von Träumen und Visionen. Eine bildhafte Erscheinung im Schlaf nennen wir Traum, im Wachzustand – wobei der Mensch jedoch den leiblichen Sinnen entrückt ist – Vision. Im Traum wie in einer einfachen Vision42 wird die Seele von den geschauten Bildern festgehalten, entweder ganz und gar oder teilweise; sie haftet an diesen Sinnenbildern, teilweise oder vollständig, so als wären es wahre Gegenstände. In beiden For­ men der Prophetie dagegen – selbst wenn dabei im Traum oder e­ iner Vision irgendwelche Bilder geschaut werden – wird die Seele des Propheten nicht bei den Bildern festgehalten. Sie erkennt vielmehr aufgrund des Lichtes der Prophetie, daß das, was sie sieht, keine Ge­ genstände sind, sondern Bilder mit einer bestimmten Bedeutung; und sie erkennt diese Bedeutung. Darum heißt es im 10. Kapitel des Buches Daniel (v. 1): »bei einer Vision braucht es Verständnis«. Es ist somit klar, daß die natürliche Prophetie in der Mitte zwi­ schen dem Traum und der göttlichen Prophetie steht. Darum wird der Traum auch als ein »Teil« der natürlichen Prophetie43 oder als 42  Wenn die Vision nur bildhaft ist, ohne daß dem Schauenden die intellektive Erklärung zuteil wird. 43  ideo dicitur quod est una pars prophetiae: Averroes, Paraphrase von De divin. per somn. (Aristotelis Opera cum Averrois Commentariis, Bd. VI/2, 36 D).

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deren »abgeschwächte Form« bezeichnet44, wie ihrerseits die natür­ liche Prophetie gleichsam ein schwaches Abbild der von Gott gege­ benen Prophetie ist. Zu 1.  Wenn es um den Erkenntnisvorgang geht, sind zwei Ele­ mente zu berücksichtigen: die Aufnahme der Erkenntnis und das Urteil über das Aufgenommene. Was das Urteil betrifft, so ist die Erkenntnis im Wachzustand kräftiger als im Schlaf; denn das Urteil des wachen Menschen ist frei, das des schlafenden aber gebunden, wie es im Buch Über Wachen und Schlaf45 heißt. Was das Aufneh­ men betrifft, ist jedoch die Erkenntnis im Schlaf kräftiger; denn während die leiblichen Sinne von äußerer Bewegung Ruhe haben, nimmt der Schlafende innere Eindrücke besser auf, seien es solche, die von den getrennten Substanzen oder die von den Himmelskör­ pern ausgehen. Auf diese Weise kann man verstehen, was im 23. Ka­ pitel des Buches Numeri (24, 4) über Bileam gesagt wird: »der da­ liegt«, das heißt: schlafend, »und so werden seine Augen aufgetan«. Zu 2.  Das Urteil hängt nicht nur von dem aufgenommenen Er­ kenntnisbild ab, sondern davon, daß das zu Beurteilende im Hinblick auf ein Erkenntnisprinzip geprüft wird, beispielsweise urteilen wir über Schlußfolgerungen, indem wir sie auf ihre Prinzipien zurück­ führen. Wenn im Schlaf die äußeren Sinne gebunden sind und ihr Lärmen aufgehört hat, kommen die inneren Kräfte gewissermaßen zur Ruhe und können innere Eindrücke im Intellekt oder in der Ima­ gination, sei es aufgrund der Einstrahlung Gottes oder eines Engels oder aufgrund der Wirkung eines Himmelskörpers oder sonst einer körperlichen Ursache, besser aufnehmen. So kann es einem Schla­ fenden scheinen, er esse Süßes, wenn dünnflüssiger Schleim auf seine Zunge fließt. Weil jedoch unsere Erkenntnis mit den Sinnen anfängt, müssen wir alles, worüber wir urteilen, gewissermaßen auf das Sinnesvermögen als Prinzip zurückführen. Darum schreibt Aristoteles im 3. Buch Über den Himmel46, der vollständige Gegen­ 44  casus: Moses Maimonides, Dux neutr. II, 37 (fol. 63v.); dt. Übers. II, 36 (240). 45  Aristoteles, De somno 1; 454 b 10. 46  Aristoteles, De caelo III, 7; 306 a 14. Thomas zitiert nach der ara­

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stand (complementum) der praktischen Erfahrungswissenschaft oder Kunstfertigkeit und der Natur sei das mit den Sinnen erfaßbare, sichtbare Ding; von ihm aus müssen wir über das andere urteilen. Ähnlich schreibt er im 6. Buch der Ethik47, daß das Sinnesvermögen sich auf etwas Letztes bezieht, ebenso wie die Einsicht in die ersten Prinzipien. »Letzte« Dinge nennt er das, worauf das Urteil die Er­ kenntnis zurückführt. Weil also im Schlaf die Sinne gebunden sind, kann es im Schlaf kein ganz vollkommenes Urteil geben; es läßt sich nicht vermeiden, daß der Mensch in irgendeiner Hinsicht der Täuschung unterliegt, wenn er Traumbilder wie wirkliche Dinge an­ schaut, selbst wenn zuweilen der Schlafende erkennt, daß manches nicht Dinge, sondern Bilder von Dingen sind. Zu 3.  Das Urteil des Intellekts hängt nicht in solcher Weise von den Sinnen ab, daß die Tätigkeit des Intellekts mittels eines äußeren Sinnesorgans ausgeführt würde; jedoch bedarf der Intellekt eines Letzten und Äußersten, auf das die Erkenntnis zurückgeführt wird. Zu 4.  Manche Leute stellten die These auf, daß »die vernünftige Seele in sich die Kraft zu einer Art Weissagung besitze«, wie Augu­ stinus im XII. Buch Über den Wortlaut der Genesis48 berichtet. Er selbst aber weist diese Ansicht zurück; denn wenn es sich so ver­ hielte, dann könnte man jederzeit, wann immer man wollte, die Zu­ kunft vorherwissen – was offensichtlich falsch ist. Jemand, der den Sinnen entrückt ist, sieht nicht deswegen Zukünftiges voraus, weil er die natürliche Befähigung dazu besäße, sondern weil er aufgrund einer derartigen Entrückung fähiger wird, Eindrücke von jenen Ur­ sachen zu empfangen, die eine gewisse Vorauskenntnis des Zukünf­ tigen ermöglichen können. Zu 5.  In dem angeführten Gregor-Zitat ist die »feine Beschaffen­ heit der Seele«, die er als Ursache der Zukunftserkenntnis annimmt, im Sinne jener Fähigkeit der Seele zu verstehen, mit der sie etwas von höheren Substanzen aufnimmt – und zwar nicht nur gemäß der Gnadenordnung, insofern den Heiligen manche Dinge durch Engel bisch-lat. Übersetzung: Aristotelis Opera cum Averrois Commentariis, Bd.  V, 222 G. 47  Aristoteles, Eth. Nic. VI, 9; 1142 a 25. 48  Augustinus, De Gen ad litt. XII, 13 (CSEL 28/1, 397).

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enthüllt werden, sondern auch in der Naturordnung, insofern ein Intellekt niedrigerer Ordnung von seiner Natur her dafür offen ist, von einem höheren Intellekt vervollkommnet zu werden, und inso­ fern der Körper des Menschen dem Einfluß der Gestirne unterliegt. In den Himmelskörpern aber sind manche künftige Ereignisse be­ reits vorbereitet; diese sieht die Seele aufgrund ihrer eigenen feinen Beschaffenheit mittels Bildern, welche die Himmelskörper in die Imagination einprägen. Zu 6.  Obwohl der freie Wille natürlichen Ursachen nicht unter­ worfen ist, so können doch natürliche Ursachen zu den Akten des freien Willens hindernd oder fördernd beitragen. Im angeführten Fall hätte entweder Regen oder unerträgliche Hitze in denen, die zum Begräbnis gingen, solchen Widerwillen wecken können, daß sie den Toten nicht zum festgelegten Platz brachten. Solches hätte man mittels der Gestirne vorhersehen können. Zu 7.  Insofern der menschliche Körper dem Einfluß der Him­ melskörper unterliegt, kann man aus den Bewegungen der Him­ melskörper gewissermaßen eine Bedeutung für die körperliche Disposition ableiten. Da nun eine gewisse Zusammensetzung der Körpersäfte bzw. körperliche Disposition sozusagen die nötige Vor­ aussetzung für die natürliche Prophetie darstellt, ist es nicht ab­ wegig, hinsichtlich der natürlichen Prophetie den Himmelskörpern eine Bedeutung zu geben, nicht aber hinsichtlich der Prophetie als Gabe des Hl. Geistes. Zu 8.  Jene Naturphilosophen, welche Lehrmeinungen über die Prophetie vortrugen, konnten sich nicht mit der übernatürlichen Prophetie befassen, die jetzt unser Thema ist, sondern nur mit der natürlichen. Zu 9.  Von diesen drei Dingen kann eines der menschlichen Seele natürlicherweise nicht eigen sein: eine solche Kraft, daß ihr die äußere Materie untertan wäre. Nicht einmal den Engeln gehorcht die körperliche Materie einfach auf einen Willensakt hin, schreibt Augu­stinus49. In diesem Punkt ist der Ansicht des Avicenna oder anderer Philosophen nicht zuzustimmen. Was die anderen beiden Dinge betrifft, die im Einwand genannt werden, so sind sie, insofern 49  Augustinus, De trin. III, 8, 13 (CCSL 50, 139 f.).

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sie dem Menschen natürlich zukommen können, die Ursache für die natürliche Prophetie, nicht jedoch für diejenige Prophetie, um die es uns jetzt geht. Zu 10.  Durch die natürliche Prophetie können freilich nur Dinge enthüllt werden, die natürlichen Ursachen unterliegen; doch durch die göttliche Prophetie können nicht nur andere Dinge, sondern auch solche erkannt werden. Zu 11.  Insofern die menschliche Gemeinschaft auf das Ziel des ewigen Lebens hingeordnet ist, kann sie nicht anders bewahrt wer­ den als durch die Gerechtigkeit des Glaubens, dessen Grundlage die Prophetie ist, wie es im Buch der Sprichwörter (Spr. 29, 18) heißt: »Wenn die Prophetie fehlt, wird das Volk sich auflösen.« Da die­ ses Ziel jedoch übernatürlich ist, sind auch die auf dieses Ziel ge­ richtete Gerechtigkeit und ebenso die entsprechende Prophetie als ihre Grundlage übernatürlich. Die Gerechtigkeit aber, welche die menschliche Gemeinschaft in Hinblick auf das Gut aller Glieder der Gemeinschaft (bonum civile) leitet, hat eine ausreichende Grund­ lage in den Prinzipien des Naturrechts, welche dem Menschen ein­ gesenkt sind; einer natürlichen Prophetie bedarf es dazu nicht. Zu 12.  Das gehört zum Adel des Menschengeschlechtes, daß es hier eine Vollendung von solchem Rang geben kann, daß sie durch keine andere als eine übernatürliche Ursache bewirkt werden kann. Einer solchen Vollendung sind die nicht-vernünftigen Geschöpfe nicht fähig; darum ist es nicht angebracht, daß die höchste Vollen­ dung im Bereich des Menschen durch die Kraft der Natur erlangt werde, sondern eben nur jene Vollendung, die dem natürlichen Zu­ stand entspricht, nicht die Vollendung, die dem Zustand der Gnade entspricht. Zu 13.  Eine Sache kann in zweierlei Hinsicht erkannt werden: hinsichtlich der Tatsache, daß sie ist, und hinsichtlich dessen, was sie ist. Weil nun die Eigenschaften der erschaffenen Dinge, aus de­ nen wir unsere Erkenntnis gewinnen, von den Eigenschaften Gottes einen riesigen Abstand haben, können wir von Gott nicht erkennen, was er ist. Doch weil die erschaffenen Dinge von ihm abhängen, können wird im Blick auf sie erkennen, daß Gott ist. Nun hängen aber die gegenwärtigen Dinge nicht von den zukünftigen ab, wie­ wohl sie ähnliche Eigenschaften haben, darum können wir vom Ge­

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genwärtigen aus nicht darauf schließen, ob etwas in der Zukunft sein wird. Wir können jedoch wissen, wenn eine Sache zukünftig sein wird, was und wie sie sein wird. Zu 14.  Hinsichtlich der Seinsweise besteht zwischen Gott und dem Geschaffenen ein größerer Unterschied als zwischen einem Ge­ schöpf und einem anderen. Das gilt aber nicht hinsichtlich der Be­ ziehung zwischen dem Ursprung des Seins und demjenigen, der das Sein von diesem Ursprung her bekommen hat. Darum erkennen wir aufgrund der geschaffenen Dinge, daß Gott ist, nicht aber, was er ist. Hinsichtlich der Erkenntnis der nicht notwendigen zukünftigen Dinge aufgrund von Gegenwart oder Vergangenheit verhält es sich umgekehrt. Zu 15.  Die Prophetie ist zu den größten Gütern zu rechnen, weil sie ein Gnadengeschenk ist. Freilich ist sie nicht das unmittelbare Prinzip der richtigen Lebensführung, denn sie ist nicht das unmit­ telbare Prinzip verdienstvollen Handelns; doch ist die gesamte Pro­ phetie auf die rechte Lebensführung hingeordnet. Auch kann je­ mand die Prophetie nicht mißbrauchen, so daß der Mißbrauch im Akt der Prophetie bestünde – wie etwa jemand seine natürlichen Kräfte mißbrauchen kann. Wer nämlich die Prophetie benützt, um Geld zu machen oder die Gunst der Leute zu gewinnen, vollzieht den guten Akt der Prophetie – der darin besteht, Verborgenes zu erkennen und zu verkünden –, der Mißbrauch dieses Gutes aber besteht in einem Akt der Begierde oder eines anderes Lasters. Doch kann jemand die Prophetie auch mißbrauchen, nicht hinsichtlich des ursprünglichen Vollzuges, sondern indem er sie zum Gegenstand macht: wie Menschen auch die Tugenden mißbrauchen können, in­ dem sie sich ihretwegen stolz überheben, obwohl doch die Tugenden zu den größten Gütern zu rechnen sind. Zu 16.  Wir gebrauchen das Wort »natürlich« nicht in einer xbeliebigen Bedeutung, sondern nach der dritten Definition des Boe­ thius: »Natur ist der Ursprung von Bewegung«50 und Ruhe in einem Subjekt, und zwar »vom Wesen, nicht vom Akzidens her«. Andern­

50  Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, cap. 1 (lat.-dt., hg. Elsässer, 1988, 70): natura est motus principium per se non per accidens.

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falls könnte man alles Tun und Erleiden und alle Eigenschaften als »natürlich« bezeichnen. Zu 17.  Für Gott ist es natürlich, seine Gutheit oder sein Gut-Sein mitzuteilen, das heißt, es entspricht seinem Wesen; es heißt nicht, daß eine solche Mitteilung sich aus Notwendigkeit vollzieht, son­ dern sie geschieht aus Gottes Willen gemäß der Ordnung seiner Weisheit, mit der er allen in geordneter Weise zuteilt. Für das Ge­ schöpf ist es natürlich, von Gott Gutheit bzw. Gut-Sein zu emp­ fangen – und zwar nicht jede beliebige, sondern diejenige, die der jeweiligen Natur gebührt: Dem Menschen gebührt die Eigenschaft der Vernunftbegabung, die nicht dem Stein oder dem Esel gebührt. Auch wenn der Mensch eine Vollkommenheit von Gott empfängt, so heißt das nicht, daß es für den Menschen natürlich ist, wenn diese Vollkommenheit das der menschlichen Natur Gebührende übersteigt. Zu 18. In der menschlichen Seele gibt es eine passive Potenz, um das Licht der Prophetie aufzunehmen; das ist keine natürliche »Fähigkeit«, sondern lediglich die Fähigkeit zu gehorchen (potentia oboedientialis), wie die körperliche Natur eine passive Potenz im Hinblick auf geschehende Wunder hat. Einer solchen passiven ­Potenz muß keineswegs eine aktive Potenz korrespondieren. Zu 19.  Die vernunftlosen Tiere haben ein Vorherwissen der zu­ künftigen, sie betreffenden Dinge nur, insofern diese Dinge von der Bewegung des Himmels abhängen. Von ihm wird ihre Vorstellung51 mit einem Eindruck geprägt, so daß sie etwas tun, was die zukünf­ tigen Ereignisse andeutet. Solchermaßen Eindrücke zu empfangen, kommt viel eher bei Tieren vor als bei Menschen; denn Tiere »rea­ gieren mehr, als daß sie agieren«, wie Damascenus sagt.52 Daher fol­ gen sie dem Einfluß der Himmelskörper vollständig, anders als der Mensch, der einen freien Willen hat. Darum sollte man auch nicht sagen, ein Tier wisse die Zukunft voraus, wiewohl man aus seinem Verhalten eine Vorbedeutung ableiten kann; denn das Tier verhält 51  In Analogie zur menschlichen Vorstellungskraft gebraucht Thomas den Terminus imaginatio. 52  Johannes Damascenus, De fide orthodoxa II, 27 (PG 94, 960 D; ed. Buytaert, 153).

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sich nicht deswegen so, weil es das Zukünftige andeuten wollte – wie ein Wesen, das den Sinn seines Verhaltens kennt –, sondern eher aufgrund eines Antriebs seiner Natur.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Bedarf es, um Prophet zu sein, einer natür­ lichen Disposition?53 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Jede Vervollkommnung, welche nur gemäß einer Disposition im Empfänger aufgenommen wird, erfordert eine ganz bestimmte Disposition. Die Prophetie ist eine solche Vervollkommnung. Das erhellt aus Amos (Am. 1, 2), wo die Glossa des Hieronymus zu der Stelle »Der Herr brüllt vom Sion her« sagt: »Natürlich wählen alle, welche einen Sachverhalt mit einem anderen vergleichen wol­ len, ihre Vergleiche aus einem Bereich, in dem sie Erfahrung haben oder in dem sie aufgewachsen sind. So vergleichen zum Beispiel See­ leute ihre Feinde mit einem Sturmwind, einen schweren Schaden mit e­ inem Schiffbruch, Hirten vergleichen den Gegenstand ihrer Furcht mit dem Gebrüll eines Löwen, nennen ihre Gegner Löwen, Bären oder Wölfe. So gebraucht jener Viehhirt das Bild eines brül­ lenden Löwen, wenn er von der Furcht vor Gott spricht.«54 Somit erfordert die Prophetie eine bestimmte Disposition in der mensch­ lichen Natur. 2.  Für die Prophetie bedarf es einer guten Vorstellungskraft; denn häufig geschieht die prophetische Erkenntnis mittels einer Schau in der Vorstellungskraft. Eine gute Vorstellungskraft jedoch setzt eine gute Disposition und ausgeglichene Zusammensetzung55 des betref­ fenden Organs voraus. 53  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  172, a.  3. 54  Glossa ordinaria, aus Hieronymus, Comm. in Amos 1, 2 (PL 25, 993

AB). 55  complexio: in erster Linie ist damit die ausgewogene Zusammenset­ zung, das Zusammenspiel der (vier) Körpersäfte gemeint, die nicht nur für das jeweilige Temperament, sondern für die Gesundheit und Leistungsfä­ higkeit des Körpers verantwortlich sind. Hier wird argumentiert, daß auch bestimmte geistig-seelische Akte mit der Disposition etwa des Gehirns

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3.  Ein Hindernis, das in der Natur liegt, macht sich stärker geltend als eines, das nur gelegentlich bzw. akzidentell auftritt. Es gibt aber akzidentell auftretende Leidenschaften, die die Prophetie hindern, wie Hieronymus im Matthäus-Kommentar schreibt56: »Zu der Zeit, da das eheliche Zusammensein vollzogen wird, wird die Gegenwart des Heiligen Geistes nicht gegeben, auch wenn es sich um einen Pro­ pheten handelt, der die eheliche Pflicht der Zeugung erfüllt.« Der Grund dafür ist nicht, daß der eheliche Akt schuldhaft wäre – er ist ohne Schuld –, sondern weil mit ihm ein leidenschaftliches Begehren verbunden ist. Daraus folgt, daß ein Mangel in der natürlichen Dis­ position ein noch viel stärkeres Hindernis darstellen muß. 4.  Die Natur ist auf die Gnade hin geordnet wie die Gnade auf die Glorie. Wer zur Glorie gelangen soll, muß die Vollendung der Gnade besitzen. Ebenso bedürfen die Prophetie und andere Gnadengaben der Disposition der Natur. 5.  Die prophetische Schau steht höher als die einer erworbenen Wissenschaft. Diese aber erfährt durch eine Indisposition im Be­ reich der natürlichen körperlichen complexio ein Hindernis. Man­ che Menschen sind von ihrer Beschaffenheit her so indisponiert, daß sie kaum oder nie eine Wissenschaft erwerben. Um wieviel mehr muß eine derartige Indisposition die prophetische Schau hindern! 6.  »Was von Gott kommt, hat eine Ordnung«, heißt es im Römer­ brief (Röm. 13, 1). Die Prophetie kommt von Gott, sie wird daher auch in einer Ordnung zugeteilt. Eine Zuteilung, welche die Dispo­ sition des Empfängers außer Acht ließe, wäre nicht geordnet. Dagegen spricht: Eine Gabe, die einzig vom Willensentscheid des Gebers abhängt, erfordert keine Disposition auf Seiten des Empfängers. Von solcher Art ist die Prophetie, wie sich aus 1 Kor. 12, 11 ergibt. Dort werden zusammenhängen, und daher dessen »gute Disposition« erfordern. Der Arzt Avicenna hob dies besonders hervor. 56  Hieronymus wird mit dieser Aussage im ›Decretum‹ zitiert (II, causa 32, q.  2, c.  4; Friedberg I, 1120), auch bei Petrus Lombardus, Sent. IV, dist. 32, c.  3 (ed. coll. S. Bon. II, 455). Die Quelle scheint jedoch Origenes zu sein, Homilien über das Buch Numeri 6, n.  3 (PG 12, 610 C).

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die Prophetie und andere Gaben des Heiligen Geistes aufgezählt und dann hinzugefügt: »Dies alles wirkt ein und derselbe Geist, indem er den Einzelnen zuteilt, wie er will«. Und bei Johannes (Joh. 3, 8) heißt es: »Der Geist weht, wo er will«. 2.  In 1 Kor. 1, 27 schreibt der Apostel: »Was schwach ist in der Welt, hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen, und das, was verächtlich ist, was nichts ist, um das, was etwas ist, zunichte zu machen«. Also erfordern die Gaben des Heiligen Geistes nicht mit Notwendigkeit eine vorausgehende Disposition im Empfänger. 3.  Gregor sagt in einer Pfingstpredigt57: »Der Heilige Geist erfüllt den Zitherspieler und macht ihn zum Psalmsänger, er erfüllt den Viehhirten und Sykomoren-Züchter und macht ihn zum Prophe­ ten«. Die Gabe der Prophetie setzt also keine Disposition oder einen bestimmten Zustand in demjenigen voraus, der die Prophetie emp­ fangen soll; vielmehr hängt diese Gabe allein vom Willen Gottes ab. Antwort: Im Fall der Prophetie sind zwei Dinge in Betracht zu ziehen, er­ stens die Gabe selbst und zweitens die Ausübung der empfangenen Gabe. Die Gabe der Prophetie überragt einfachhin die Möglichkei­ ten des Menschen; sie wird von Gott gegeben, nicht durch die Kraft irgendeiner geschaffenen Ursache – wiewohl die oben genannte na­ türliche Prophetie in uns durch die Kraft eines Geschöpfes vervoll­ kommnet werden kann. Zwischen dem Wirken Gottes und dem des Geschöpfes besteht folgender Unterschied: Gott bringt nicht nur die Form, sondern auch die Materie einer Sache hervor; daher setzt sein Wirken weder Materie noch eine Disposition der Materie voraus, damit die Wirkung zustande kommt. Das heißt jedoch nicht, daß er eine Form ohne Materie oder materiale Disposition hervorbringt, sondern daß er in einem einzigen Akt Materie und Form schaffen kann, oder auch einer noch so indisponierten Materie die Disposi­ tion verleihen kann, welche der Vollkommenheit entspricht, die er ihr eingeben will. Man sieht das etwa an der Auferweckung eines Toten: Ein toter Körper hat keinerlei Disposition, eine Seele aufzu­ 57  Gregor der Große, Homiliae in Evangelia II, 30, 8 (FC 28/2, 570; CCSL 141, 265).

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nehmen; dennoch empfängt der Körper durch einen einzigen gött­ lichen Akt die Seele und die Disposition, sie aufzunehmen. Das Wirken des Geschöpfes dagegen setzt die Materie und de­ ren entsprechende Disposition voraus. Eine geschaffene Kraft kann nicht aus irgend etwas Beliebigem irgend etwas Beliebiges machen. Es ist also klar, daß die natürliche Prophetie als Disposition eine na­ türliche ausgewogene complexio erfordert; diejenige Prophetie je­ doch, welche Gabe des Heiligen Geistes ist, setzt eine solche Dispo­ sition nicht voraus, jedoch erfordert sie, daß zugleich mit der Gabe der Prophetie dem Propheten auch die Disposition seiner Natur mit­ gegeben wird, die der Gabe angemessen ist. Die Ausübung der Prophetie jedoch – und zwar jeder Art von Pro­ phetie – liegt in der Macht des Propheten. So heißt es in 1 Kor 14, 32, der Prophetengeist sei den Propheten unterworfen. Daher kann je­ mand sich selbst an der Ausübung der Prophetie hindern. Zur rech­ ten Ausübung der Prophetiegabe bedarf es notwendigerweise der rechten Disposition; denn die Ausübung wird getragen von der ge­ schöpflichen Kraft des Propheten, die daher auch eine bestimmte Disposition voraussetzt. Zu 1.  Manche Dispositionen haben keine Bedeutung für die Pro­ phetie; sie werden durch das göttliche Wirken im Propheten nicht verändert, sondern die Prophetie äußert sich diesen Dispositionen entsprechend. Es ist für die Prophetie nicht wichtig, in welche Ver­ gleiche bzw. Bilder die prophezeite Sache gekleidet wird. Dispositio­ nen jedoch, die der Prophetie im Wege stehen, werden durch Gottes Kraft vom Propheten weggenommen, und die erforderlichen Dispo­ sitionen werden ihm gegeben. Zu 2.  Zur Prophetie ist eine gute Vorstellungskraft erforderlich. Jedoch ist sie nicht notwendigerweise vorweg vorausgesetzt, denn Gott selbst, der die Gabe der Prophetie eingießt, kann in seiner Macht die complexio des Organs, das für die Vorstellungskraft zu­ ständig ist, verbessern – wie er bewirken kann, daß trübe Augen klar sehen. Zu 3.  Heftige Leidenschaften von dieser Art ziehen die Aufmerk­ samkeit des rationalen Vermögens gänzlich an sich; sie ziehen es folglich von der Betrachtung geistiger Gegenstände ab. Darum hin­

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dern heftige Leidenschaften wie Zorn, Trauer oder Lust die Aus­ übung der Prophetie auch in einer Person, welche die Gabe der Pro­ phetie empfangen hat. Gleichermaßen wäre auch eine mangelhafte natürliche complexio ein Hindernis, würde sie nicht durch die Kraft Gottes gewissermaßen geheilt. Zu 4.  Der vorgebrachte Vergleich stimmt zwar unter der Hinsicht, daß die Gnade zur Natur hinzutritt wie die Glorie zur Gnade. Jedoch sind die beiden Verhältnisse nicht in jeder Hinsicht vergleichbar; denn die Gnade verdient die Glorie, die Natur aber nicht die Gnade. Das gnadenhafte Verdienst ist vorausgesetzt, damit der Mensch die Verherrlichung erlangen kann, aber eine Disposition der Natur ist nicht vorausgesetzt, damit er die Gnade erlangen kann. Zu 5.  Eine erworbene Wissenschaft hat gewissermaßen in uns selbst eine Ursache. Es liegt aber nicht in unserer Macht, die Be­ schaffenheit der seelischen Organe zu verbessern, wie es in der Macht Gottes liegt, der die Gabe der Prophetie eingießt. Zu 6.  Ja, die Gabe der Prophetie wird von Gott nach weisester Ordnung zugeteilt. Dazu gehört eben, daß sie zuweilen Menschen gegeben wird, die dafür völlig ungeeignet scheinen, auf daß diese Gabe der Kraft Gottes zugeschrieben werde, und »nichts, was Fleisch ist, sich rühmen kann vor ihm«, wie es in 1 Kor. 1, 29 heißt.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Muß der Prophet moralisch integer sein?58 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Im Buch der Weisheit (Weish. 7, 27) steht: »Über die Völker hinweg tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten«. Freunde Gottes aber sind doch nur diejenigen, die sitt­ lich gut leben; denn auch bei Joh. 14, 23 heißt es: »Wenn einer mich liebt, wird er meine Gebote halten«. 2.  Die Prophetie ist eine Gabe des Hl. Geistes; dieser aber lebt nicht in einem Sünder: »Der Heilige Geist der Zucht wird vor der Falschheit fliehen«, heißt es in Weish. 1, 5. 58  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  172, a.  4; Super Ioh. 11, lect. 7.

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3.  Dasjenige, was von niemandem, der es besitzt, auf schlechte Weise gebraucht werden kann,59 kann nicht in einem Sünder sein. Die Prophetie aber kann von niemandem auf schlechte Weise ge­ braucht werden. Denn vorausgesetzt, der Akt der Prophetie stammt vom Hl. Geist, dann käme der Akt der Prophetie, falls ihn jemand mißbräuchlich ausübt, aus der Sünde und zugleich vom Hl. Geist – was unmöglich sein kann. 4.  Aristoteles schreibt in dem Werk Über Schlaf und Wachen60: »Wenn die Weissagung durch Träume von Gott stammt, dann ist es unangemessen, wenn sie irgendwelchen Leuten und nicht den be­ sten Menschen zuteil wird.« Es steht fest, daß die Prophetie einzig eine Gabe Gottes ist, darum wäre es unpassend zu sagen, sie würde nicht ausschließlich den besten Menschen gegeben. 5.  Plato sagt, es sei dem Besten eigen, das Beste herbeizuführen.61 Es ist aber angemessener, daß die Prophetie in einem guten Men­ schen sei als in einem schlechten; wenn Gott der Beste schlechthin ist, dann wird er niemals Schlechten diese Gabe zuteilen. 6.  In den Wirkvorgängen der Natur findet sich Ähnlichkeit zum Wirken Gottes. Darum vergleicht Dionysius im 4. Kapitel Über die göttlichen Namen62 die Gutheit Gottes mit dem Strahl der Sonne, wegen der ähnlichen Wirkung. Im Bereich der Natur aber werden manche Vollkommenheiten in höherem Maße denen zuteil, die auch in höherem Maße disponiert sind; so werden Körper, die durchsich­ tiger sind, vollkommener von der Sonne durchstrahlt. Wenn also ein guter Mensch besser disponiert ist für die Prophetie als ein schlech­ ter, dann muß diese Gabe anscheinend viel eher den Guten gege­ ben werden; sie wird aber nicht einmal allen Guten gegeben, daher dürfte sie überhaupt keinem Schlechten gegeben werden. 7.  Die Gnade wird mit dem Ziel verliehen, die Natur zu erhöhen. Die Natur sollte aber in den Guten viel eher erhöht werden als in den Schlechten.

59  Dies ist eine Definition von »Tugend«; vgl. Anm. 33. 60  Aristoteles, De somno 1; 462 b 20. 61  Vgl. Platon, Timaios, 30 a–b. 62  Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (PG 3, 716 B; CD I, 163 f.).

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dagegen spricht: 1.  Bileam wird als Prophet bezeichnet; und er war doch ein schlechter Mensch. 2.  Nach Mt. 7, 22 sprechen die Verdammten: »Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophetisch geredet und Wunder getan?« Das heißt, daß die Prophetie auch in schlechten Menschen sein kann. 3.  Jeder, der die göttliche Liebe nicht hat, ist böse. Die Prophetie kann jedoch in einem Menschen sein, der die Liebe nicht hat, wie es in 1 Kor. 13, 2 heißt: »Wenn ich alle Wissenschaft hätte und alle Geheimnisse wüßte, hätte aber die Liebe nicht …«. Antwort: Die Gutheit bzw. das Gut-Sein des Menschen besteht in der über­ natürlichen Liebe (caritas), durch die der Mensch mit Gott vereint wird. Alles, was ohne diese Liebe sein kann, kommt in guten wie in bösen Menschen vor. Ja, darin erweist sich ganz besonders leuchtend Gottes Gutheit, weil er sich der Guten wie der Bösen bedient, um seinen Plan zu erfüllen; so teilt er freigebig Guten wie Bösen jene Gaben aus, die nicht mit innerer Notwendigkeit von der Liebe ab­ hängen. Die Prophetie ist aus zwei Gründen nicht notwendig mit der Liebe verknüpft: Erstens, weil sie ihren Sitz im Erkenntnisvermögen hat, die Liebe aber im Willen bzw. Strebevermögen. Die Erkenntnis aber geht dem Streben zeitlich voraus, und daher hängen weder die Prophetie noch andere Vervollkommnungen des Erkenntnisvermö­ gens von der Liebe ab. Darum können Glaube, Prophetie, Wissen und alles Derartige in Guten wie in Bösen sein. Zweitens, weil die Prophetie jemandem zum Nutzen der Kirche gegeben wird, nicht im Hinblick auf seine eigene Person. Es kann nun vorkommen, daß jemandes Dienst unter einer bestimmten Hinsicht der Kirche von Nutzen ist, selbst wenn er persönlich kein guter Mensch ist, das heißt kein mit Gott durch die Liebe vereinter Mensch. Daher finden sich die Prophetie, die Gabe des Wunderwirkens, die kirchlichen Dienste und alles Derartige, was zum Nutzen der Kirche beiträgt, zuweilen auch ohne die Liebe, die allein den Menschen gut macht. Man soll jedoch wissen, daß es unter den Sünden, welche den Ver­ lust der gnadenhaften Liebe mit sich bringen, einige gibt, die auch die Prophetie hindern, andere dagegen nicht. Weil die Sünden des

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Fleisches den Geist vom Bereich des Geistigen gänzlich abziehen, wird ein Mensch, der sich diesen Sünden ergibt, gerade dadurch un­ fähig zur Prophetie; denn um die prophetische Enthüllung aufzu­ nehmen, muß die menschliche Seele in höchstem Maße geistig sein. Die Sünden des Geistes dagegen hindern die Geistigkeit der Seele nicht im gleichen Maß. Daher kann jemand, der sich solchen Sünden ergibt, durchaus Prophet sein, nicht aber jemand, der fleischlichen Sünden hingegeben oder in übermäßige weltliche Sorgen verstrickt ist; denn dies zieht den Geist von seiner Geistigkeit herab. Daher schreibt Rabbi Moses Maimonides, es sei Anzeichen für einen fal­ schen Propheten, wenn er in die Lust und die Sorgen der Welt ver­ strickt sei.63 Dies entspricht auch der Stelle im Matthäus-Evangelium, Mt. 7, 15: »Hütet euch vor den falschen Propheten«, und etwas später: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen«. Darunter sind die offenkundigen Früchte zu verstehen, wie die Glossa sagt; und dies sind besonders die Sünden des Fleisches, denn die Sünden des Geistes sind im Inneren des Menschen verborgen. Zu 1.  Die Weisheit tritt in die Seele des Menschen auf zwei Wei­ sen ein. In der einen Weise nimmt Gottes Weisheit selbst des Men­ schen Seele zur Wohnung, sie heiligt den Menschen und macht ihn zu Gottes Freund. In der anderen Weise gibt sie nur ihre Wirkung; und das schließt nicht notwendig ein, daß der Mensch geheiligt oder Gottes Freund wird. Auf diese zweite Weise tritt die Weisheit in den Geist der schlechten Menschen, die sie zu Propheten macht. Zu 2.  Obwohl die Prophetie Gabe des Hl. Geistes ist, so wird den­ noch mit dieser Gabe nicht auch schon der Hl. Geist selbst gegeben. Er wird einzig in Verbindung mit der Gabe der Liebe gegeben.64 63  Moses Maimonides, Dux neutr. II, 41 (fol. 66v.); dt. Übers. II, 40 (266). 64  Die prägnante Unterscheidung, daß alle Gnadengaben »vom Hl. Geist«, aber nicht alle »zusammen mit dem Hl. Geist« gegeben werden – dessen Einwohnung immer mit der übernatürlichen Liebe und dem Gnadenstand verbunden ist – scheint auf Philipp den Kanzler zurückzugehen: Summa de bono: De bono gratie in homine: De gratia gratis data, scilicet de prophetia (ed. N. Wicki, Bern 1985, 489). Eine große Rolle spielt sie bei

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Zu 3. Die Prophetie kann nicht schlecht ausgeübt werden in dem Sinn, daß der Akt der Prophetie65, der aus dieser Gabe stammt, schlecht sei. Wenn aber jemand den Akt der Prophetie auf ein Übel hinordnet, dann ist zwar der Akt immer noch gut und vom Hl. Geist, doch die Ausrichtung des Aktes auf ein verkehrtes Ziel kommt nicht vom Hl. Geist, sondern stammt vom bösen, verdrehten Willen des Menschen. Zu 4.  Aristoteles will sagen, daß das, was von Gott her gegeben wird, vom Willen des Gebers abhängt; und dieser kann nicht un­ vernünftig sein. Wenn also das Vorauswissen der Zukunft durch Träume von Gott eingegeben wäre, dann müßte sich dabei auch eine vernünftige Unterscheidung feststellen lassen. Nun kann man aber keine solche Unterscheidung feststellen, weil solche Weissagung im Traum bei ganz beliebigen Leuten vorkommt; darum muß offenbar die Weissagung im Traum auf die Natur (nicht auf Gott) zurück­ gehen. Bei der Gabe der Prophetie dagegen finden wir sehr wohl eine Un­ terscheidung vor; denn die Gabe wird nicht allen zuteil, selbst wenn sie so oder so disponiert sind, sondern nur denjenigen, die Gottes Wille erwählt. Diese sind zwar möglicherweise nicht schlechthin gut oder schlechthin die besten, was ihre Person in sich betrifft, sie sind jedoch gut in Hinsicht auf die prophetische Aufgabe, die sie nach dem Urteil der göttlichen Weisheit erfüllen sollen und können. Zu 5.  Gerade darin erweist sich Gott als vollkommen gut, daß er sich nicht nur der Guten, sondern auch der Schlechten zu bedienen weiß. Daher tut es der höchsten Gutheit keinerlei Eintrag, wenn sie das gute Amt der Prophetie durch schlechte Propheten ausüben läßt. Zu 6.  Nicht jeder gute Mensch ist geeigneter zum Propheten als jeder Sünder. Denn manche Menschen, die die göttliche Liebe nicht haben, verfügen über einen Geist, der geeignet ist, Geistiges aufzu­ nehmen, weil sie frei sind von irdischen und fleischlichen Dingen, und von ihrer Veranlagung her einen klaren Verstand besitzen. An­ dere dagegen besitzen die übernatürliche Liebe, sind aber in irdische Bonaventura: I Sent., dist. 46, dub. 8 (Opera omnia I 836b); dist. 18, q.  1 (323b–324a); IV Sent., dist. 18, p. 2, dub. 3 (IV 496). 65  D. h. die prophetische Erkenntnis und Verkündigung.

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Geschäfte verwickelt, beschäftigt mit der Zeugung und Erziehung von leiblichen Kindern, oder haben keinen von Natur aus hellen und scharfen Verstand. Wegen dieser oder ähnlicher Umstände wird die Gabe der Prophetie manchen schlechten Menschen zuteil, während sie manchen guten verweigert wird. Zu 7.  Durch die Gnade der Prophetie wird zwar die Natur des Menschen erhöht, aber nicht direkt im Hinblick auf die Verherrli­ chung des Menschen selbst, sondern zum Nutzen anderer. In den guten Menschen ist die Natur durch die heiligmachende Gnade mehr mit dem Ziel erhöht, die Verherrlichung zu erlangen.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Sehen die Propheten im Spiegel der Ewig­ keit?66 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1.  Dafür spricht die Auslegung jener Stelle Jes. 38, 1: »Bestelle dein Haus etc.«, durch die Glossa 67: »Die Propheten lesen in jenem Buch, welches das Vorherwissen Gottes ist, worin alles geschrieben ist.« Das Buch des Vorherwissens Gottes ist offenbar nichts anderes als der Spiegel der Ewigkeit, in dem von Ewigkeit alle Formen der Dinge widerleuchten. 2.  Es wurde eingewandt, daß dieses »Lesen im Buch des Vorher­ wissens« oder »Schauen im Spiegel der Ewigkeit« nicht so zu verste­ hen sei, als schauten sie den Spiegel oder das Buch als Gegenstand, sondern so, daß ihre Erkenntnis von diesem Buch oder Spiegel der Prophetie abgeleitet, bewirkt sei. – Doch darauf kann man erwidern: Mit der Aussage, der Prophet schaue im Spiegel der Ewigkeit oder lese im Buch des göttlichen Vorherwissens, wird dem Propheten eine privilegierte Erkenntnis zugesprochen. Die Aussage, eine Er­ kenntnis sei vom ewigen Spiegel oder vom Buch des Vorherwissens abgeleitet, besagt dagegen keine Besonderheit der Erkenntnis; denn jede menschliche Erkenntnis ist von da her abgeleitet, wie Dionysius

66  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  173, a.  1; Super Is., cap. 1; cap. 6. 67  Glossa ord. (III, 59).

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im 7. Kapitel Über die Göttlichen Namen68 schreibt. Daß die Prophe­ ten im Spiegel der Ewigkeit schauen, soll also nicht besagen, daß sie von ihm her ihre Erkenntnis ableiten, sondern daß sie, indem sie in ihn schauen, anderes erkennen. 3.  Nichts kann woanders gesehen werden als dort, wo es ist. Die nicht notwendigen zukünftigen Ereignisse existieren in unwandel­ barer Wahrheit – und so werden sie von den Propheten gesehen – nur im Vorherwissen Gottes. Nur dort können sie von den Prophe­ ten geschaut werden. 4. Es wurde eingewandt, die nicht notwendigen zukünftigen Dinge seien zwar ursprünglich und erstrangig im Vorherwissen Gottes, sie würden aber von dort her durch eine Art Erkenntnisbil­ der in den menschlichen Geist abgeleitet, wo sie der Prophet dann schaue. – Doch dagegen kann man erwidern: Alles, was von einem Subjekt aufgenommen wird, ist im Empfänger so, wie es dessen Fä­ higkeit zum Empfangen entspricht, nicht in seiner (des Gegenstan­ des) eigenen Seinsweise. Der Geist des Propheten aber ist wandel­ bar; darum können nicht-notwendige zukünftige Dinge im Geist des Propheten nicht in der Weise der Unwandelbarkeit aufgenom­ men werden. 5. Ein Gegenstand, der einzig dem Erkennen Gottes eigen ist, kann nirgendwo anders als in Gott erkannt werden. Die Zukunft zu kennen, ist Gott eigen, wie es bei Jes. 41, 23 heißt: »Verkündet doch, was kommen wird, dann werden wir sagen: Ihr seid Götter!« 6.  Avicenna sagt, daß der menschliche Geist zuweilen so weit erhoben werde, daß er in Verbindung mit der Sphäre des Vorher­ wissens trete.69 Die höchste Erhebung des menschlichen Geistes ge­ schieht in der prophetischen Erkenntnis, also scheint es, daß hier diese Verbindung mit der Sphäre des Vorherwissens stattfindet, so daß der Prophet die Zukunft im Vorherwissen Gottes schaut. 68  Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (PG 3, 868 B; Dion. 390; CD I, 195–197). 69  Der lat. Text der kritischen Ausgabe hat zweimal: »saeculo praescientiarum«; die ebenfalls angeführte Variante »speculo praescientiarum« wäre plausibler, wenn man nicht dem Grundsatz der lectio difficilior fol­ gen will. Die These Avicennas findet sich bei Algazel, Metaph. II, tr. 5, 9 (ed. Muckle, 196); vgl. Avicenna, Met. IX, 7 (ed. S. Van Riet, 511).

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7.  Die Philosophen sagen, das Ziel des Menschen bestehe darin, daß sich sein Geist mit einer höheren Welt verbinde, der Welt der intelligiblen Substanzen. Es wäre jedoch ganz unangemessen, wenn der Mensch dieses sein Ziel nicht erreichte. Also geschieht es zuwei­ len, daß der Mensch zu einer solchen Verbindung mit den geistigen Substanzen gelangt; deren höchste aber ist die göttliche Wesenheit, in der alles widerleuchtet. Somit gelangt der Prophet, der unter al­ len Menschen den am höchsten erhobenen Geist besitzt, zu einer Verbindung mit der göttlichen Wesenheit, die anscheinend mit dem Spiegel der Ewigkeit identisch ist. 8.  Nehmen wir zwei Spiegel an, von denen der eine weiter oben, der andere weiter unten ist, und daß von dem höheren einige Bilder in den niedrigeren gespiegelt werden. Schaut nun jemand in dem niedrigeren Spiegel diese Bilder, dann würde man nicht sagen, daß er sie im höheren Spiegel sieht, obwohl seine Erkenntnis von diesem höheren Spiegel her abgeleitet ist. Vom Geist Gottes her spiegeln sich die Erkenntnisbilder zukünftiger Dinge im Geist des Prophe­ ten, wie von einem höheren Spiegel etwas in einem niedrigeren wi­ derstrahlt. Man darf daher nicht sagen, daß der Prophet im Geiste Gottes schaue, nur weil er in seinem eigenen Geist Erkenntnisbil­ der von Gott her empfangen hat, sondern man muß sagen, daß er in seinem eigenen Geist schaut. Der menschliche Geist aber ist kein ewiger Spiegel, sondern ein zeitlicher. Wenn also die Propheten nur in ihrem eigenen Geist schauen, wie gerade dargetan wurde, dann schauen sie eben nicht im ewigen Spiegel. 9.  Es wurde eingewendet: Man sagt nicht nur, jemand schaue in einem durch die Sonne beleuchteten Gegenstand, sondern er schaue in der Sonne selbst, insofern er durch das Licht der Sonne schaut. – Darauf kann man erwidern, daß in der Sonne nicht die Abbilder der sichtbaren Dinge widerleuchten, was ja gerade zur Definition des Spiegels gehört. Darum bedeutet »Schauen in der Sonne« anschei­ nend etwas anderes als »Schauen im Spiegel«. 10.  Die Schau Gottes, in der er als Gegenstand der Seligkeit ge­ schaut wird, ist von höherem Rang als eine Schau, in der die Urbilder der Dinge geschaut werden; denn jene Schau macht selig, diese nicht. Zur Schau Gottes als Gegenstand der Seligkeit kann der Mensch mittels einer besonderen Erhöhung erhoben werden, sogar im Pil­

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gerstand dieses Lebens: wenn nämlich sein Geist von aller Sinnes­ tätigkeit gelöst wird, wie es im sogenannten Raptus geschieht. Also könnte der Geist des Propheten, mittels einer geringeren Erhöhung ohne Raptus, bis zur Schau der göttlichen Wesenheit, insofern sie Urbild aller Dinge ist, erhoben werden. 11.  Es besteht ein größerer Abstand zwischen der Wesenheit Got­ tes in sich betrachtet und der Wesenheit Gottes als Urbild einer an­ deren Sache als zwischen der Wesenheit als Urbild einer Sache und als Urbild einer anderen; denn Gott hat von allem Geschaffenen einen größeren Abstand als eine geschaffene Sache von einer an­ deren. Es kann aber jemand Gott schauen als Urbild eines einzigen Geschöpfes, ohne daß er ihn zugleich als Urbild eines anderen se­ hen müßte; denn sonst würden alle, die Gott schauen, alles erken­ nen. Daher kann jemand Gott schauen, insofern er Urbild mancher Dinge ist, ohne daß derjenige dabei Gottes Wesenheit selbst schauen würde. Folglich können auch Menschen, die Gott seinem Wesen nach nicht schauen, doch die Schau im Spiegel der Ewigkeit haben. 12.  Augustinus schreibt im 6. Buch Über die Dreifaltigkeit 70, daß der Geist mancher Menschen so sehr erhoben wird, daß sie auf dem höchsten Gipfel aller Dinge die unwandelbaren Gründe erblicken. Der Geist der Propheten aber ist sicherlich am höchsten erhoben; also haben sie die prophetische Schau »am Gipfel der Dinge«, das heißt der göttlichen Wesenheit. 13.  Ein Urteil über einen Gegenstand setzt einen Maßstab vor­ aus, der dem Gegenstand übergeordnet ist. Das erläutert Augusti­ nus im Buch Über die wahre Religion71. Der Gegenstand, worüber die Propheten urteilen, ist die unwandelbare Wahrheit von Dingen. Sie können darüber nicht mittels eines zeitlichen oder wandelba­ ren Maßstabs urteilen, sondern einzig mittels der unwandelbaren Wahrheit, die Gott selbst ist. Dagegen spricht: 1.  Zu jener Stelle Lk. 10, 24: »Ich sage euch, viele Propheten und Könige …«, sagt die Glossa: »Propheten und Gerechte sahen die 70  Eigentlich Augustinus, De trin. IV, XVII, 22 (CCSL 50, 189). 71  Augustinus, De vera rel. 31, 56 (PL 34, 147; CCSL32, 224).

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Herrlichkeit Gottes von weitem, durch einen Spiegel im Rätsel«. Eine Schau im ewigen Vorherwissen Gottes ist keine Schau im Rät­ sel. Also schauten die Propheten nicht im Vorherwissen Gottes, das man Spiegel der Ewigkeit nennt. 2.  Gregor der Große schreibt in der 2. Homilie der 2. Buches der Homilien über Ezechiel 72: »Solange man in diesem sterblichen Leibe lebt, kann niemand durch die Kraft der Kontemplation so weit kom­ men, daß er die Augen des Geistes an dem unumgrenzten Licht­ strahl selbst festmachen kann. Der allmächtige Gott wird nicht jetzt schon in seiner Klarheit geschaut, doch die Seele erblickt73 etwas, was niedriger ist als diese Klarheit, was sie aber erquickt, so daß sie weiter voranschreiten und später zur Schau Gottes in seiner Herr­ lichkeit gelangen kann. Als der Prophet Jesaja bekannte, er habe ›Gott sitzen gesehen‹ (Jes. 6,1), fügte er sogleich hinzu: ›Und das, was unter ihm war, erfüllte den Tempel‹; denn wenn der Geist in der Kontemplation fortgeschritten ist, betrachtet er nicht nur, was Gott selbst ist, sondern was unter ihm ist.« Daraus ergibt sich, daß Jesaja und die übrigen Propheten nicht im ewigen Spiegel schauten. 3.  Kein schlechter Mensch kann die Schau im ewigen Spiegel ha­ ben, wie Jes. 26, 10 – in einer anderen Textfassung – sagt: »Der Gott­ lose soll ausgetilgt werden, damit er die Herrlichkeit Gottes nicht schaut.« Es gibt aber schlechte Leute, die Propheten sind. 4.  Propheten haben eine genaue und klare Kenntnis von den Din­ gen, die sie in der Prophetie schauen. Der ewige Spiegel aber ist gänzlich einförmig; darum scheint er als Mittel ungeeignet, um in ihm eine deutlich unterschiedene Kenntnis mehrerer einzelner Dinge zu gewinnen. 5.  In einem Spiegel, der mit dem Gesichtssinn verbunden ist, kann man nichts sehen; der Spiegel muß vielmehr einen Abstand haben. 72  Gregor der Große, Homiliae in Hiezechihelem II, 2, n.  14 (CCSL 142,

234). 73  speculatur: Das Wort läßt zum einen an eine Schau im Spiegel (speculum) denken, zum andern an das Ausschauhalten einer Person, die auf einem erhöhten Ausguck (specula) sitzt. Letztere Bedeutung, welche die Vorläufigkeit der Erkenntnis im Pilgerstand zum Ausdruck bringt, ist für Gregors geistliche Theologie sehr wichtig.

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Der ewige Spiegel ist aber mit dem Geist des Propheten verbunden, da Gott in allen Dingen durch seine Wesenheit gegenwärtig ist. Antwort: Einen Spiegel im eigentlichen Sinn des Wortes gibt es nur im Be­ reich der materiellen Dinge. Im geistigen Bereich spricht man von einem Spiegel im übertra­ genen Sinn: Man gebraucht ihn aufgrund einer Ähnlichkeit als Bild. Im geistigen Bereich nennt man »Spiegel« etwas, worin anderes ver­ gegenwärtigt wird, so wie im materiellen Spiegel die Gestalten sicht­ barer Dinge erscheinen. In diesem Sinn nennen manche den Geist Gottes, in dem jedes Dinges Grund74 widerleuchtet, eine Art Spiegel, »Spiegel der Ewig­ keit« aber, weil der Geist Gottes ewig ist, also dieser Spiegel Ewigkeit besitzt. Sie sagen, daß dieser Spiegel auf zwei Weisen gesehen wer­ den könne. Entweder er werde seinem Wesen nach geschaut75, das heißt als Gegenstand, der beseligt, und nur die Seligen schauen ihn so – sei es in der seligen Schau schlechthin, sei es in einer Schau un­ ter bestimmten Bedingungen, wie im Raptus. Oder der Geist Gottes werde als Spiegel geschaut; auf diese Weise, so sagen die Vertreter dieser Theorie, werde der Spiegel der Ewigkeit von den Engeln ge­ schaut, bevor sie ihre Glückseligkeit erlangten, und von den Pro­ pheten. Diese Ansicht scheint aber aus zwei Gründen nicht vernunftge­ mäß. Erstens sind die Erkenntnisbilder der Dinge, wie sie im Geist Gottes widerleuchten, der Sache nach nicht unterschieden von der göttlichen Wesenheit; die einzelnen Erkenntnisbilder, Spezies oder Gründe der Dinge unterscheiden sich dort nur im Hinblick auf ihre Bezogenheit auf jeweils verschiedene geschaffene Wirklichkeiten. Gottes Wesenheit und die in ihr widerleuchtenden Erkenntnisbil­ 74  rationes rerum omnium: Seins- und Erkenntnisgrund jedes Dings. 75   per essentiam: das heißt, Gottes Geist selbst wird als »Gegenstand«,

direkt, geschaut. Dies kann wiederum auf zwei Weisen geschehen: in der unverlierbaren seligen Schau des Himmels (visio beata), oder in einer vor­ übergehenden besonderen Entrückung, dem »Raptus«, der einen Grenz­ zustand zwischen Leben und Tod darstellt, nach dem der Mensch jedoch in den Pilgerstand zurückkehrt.

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der zu erkennen, bedeutet nichts anderes, als Gottes Wesenheit in sich und in Bezogenheit auf anderes zu erkennen. Man erkennt aber etwas zuerst in sich, und dann erst dessen Beziehung zu anderem. Daher setzt jene Schau Gottes als des Urbildes der Dinge die Schau Gottes in sich voraus, das heißt: die Schau seiner Wesenheit, wel­ che der seligmachende Gegenstand ist. Unmöglich kann also jemand Gott als Urbild der Dinge sehen, ohne daß er ihn auch als Gegen­ stand der Seligkeit sähe. Zweitens kann das Erkenntnisbild einer Sache in zwei Arten sicht­ bar werden: entweder als Erkenntnisbild, das der Existenz der Sache vorausliegt, oder als Bild, das aus der Sache selbst entspringt. Der Ort, wo die Bilder als den Dingen vorausliegend sichtbar werden, ist nicht eigentlich als »Spiegel«, sondern eher als »Urbild« (exemplar) zu bezeichnen. »Spiegel« aber kann man das nennen, wo die Abbil­ der (similitudines) der Dinge sich zeigen. Da in Gott die Erkennt­ nisbilder als Gründe aller Dinge sind, findet man bei keinem Kir­ chenvater die Redewendung, Gott sei ein ewiger Spiegel der Dinge, sondern eher umgekehrt: die geschaffenen Dinge seien der Spiegel Gottes, wie es in 1 Kor. 13, 12 heißt: »Jetzt schauen wir durch einen Spiegel und im Rätsel«. So sagt man auch, der Sohn sei der Spiegel Gottes des Vaters, weil die Gestalt der Gottheit vom Vater her emp­ fangen wird, wie es in Weish. 7, 26 heißt: »[Die Weisheit ist] Glanz des ewigen Lichtes und Spiegel der Majestät Gottes ohne Makel«. Wenn also manche Lehrer davon reden, daß die Propheten im Spie­ gel der Ewigkeit schauten, dann ist das nicht so zu verstehen, als schauten sie den ewigen Gott als Spiegel der Dinge. Vielmehr er­ blicken sie etwas Geschaffenes, in dem die Ewigkeit Gottes verge­ genwärtigt ist. »Spiegel der Ewigkeit« ist also nicht so zu verstehen, als sei der Spiegel ewig, sondern so, daß er die Ewigkeit repräsen­ tiert. Gott nämlich ist es eigen, das Zukünftige in aller Gewißheit als gegenwärtig zu erkennen, wie Boethius sagt, denn sein Blick hat das Maß der Ewigkeit, die als ganze gleichzeitig ist (tota simul).76 So liegen vor seinem Blick alle Zeiten und alles, was in ihnen geschieht. 76  Vgl. Boethius, Tract. I (Quomodo trinitas unus Deus ac non tres dii), hg. von M. Elsässer, 18.

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Insofern nun von diesem einfachen Blick Gottes aus in den Geist des Propheten das Wissen über Zukünftiges einstrahlt – mittels des pro­ phetischen Lichtes und der Erkenntnisbilder, in denen der Prophet seine Schau hat –, nennt man jene Erkenntnisbilder in Verbindung mit dem prophetischen Licht77 »Spiegel der Ewigkeit«; denn das ist ein Abbild des Blickes Gottes, mit dem er die Ereignisse der Zukunft gegenwärtig schaut. Man kann also zugestehen, daß die Propheten im Spiegel der Ewigkeit schauen, jedoch nicht in dem Sinn, daß sie den ewigen Spiegel schauen. Das suchte die erste Gruppe der Einwände zu zei­ gen, weswegen wir nun auf diese der Reihe nach antworten müssen. Zu 1.  Man kann sagen, die Propheten läsen im Buch des Vorher­ wissens, insofern dies ein Bild dafür ist, daß im Geist des Propheten aus dem Buch des Vorherwissens Gottes die Kenntnis zukünftiger Ereignisse bewirkt wird, wie durch die Lektüre eines Buches der dort geschriebene Inhalt in den Geist des Lesers eingeht. Das Bild ver­ sagt aber, wenn man es so verstehen wollte, daß der Prophet Gottes Vorherwissen sähe, wie jemand, der ein materielles Buch liest, auch das Buch selbst vor Augen hat. – Man könnte auch sagen: Ebenso wie das Wissen, das im Geist des Propheten bewirkt wird, »Spiegel der Ewigkeit« genannt wer­ den kann, insofern es die Ewigkeit repräsentiert, so kann es auch »Buch des Vorherwissens« genannt werden, weil in diesem Wissen unter bestimmter Hinsicht das Vorherwissen Gottes niedergeschrie­ ben wird. Zu 2.  Zwar leitet sich alle Erkenntnis vom göttlichen Vorherwis­ sen ab, doch repräsentiert keineswegs jede Erkenntnis das göttliche Vorherwissen, so daß aufgrund der Ewigkeit auch das Zukünftige gegenwärtig gesehen wird. Daher kann man nicht jedes Wissen als »Spiegel der Ewigkeit« bezeichnen, sondern nur die hierdurch beson­ ders herausgehobene Erkenntnis der Propheten. Zu 3.  Die Gründe der nichtnotwendigen zukünftigen Ereignisse sind in unwandelbarer Wahrheit ursprünglich nur im Wissen Got­ tes; doch von dort aus fließen sie in den Geist des Propheten. So kann 77  Näheres dazu in a.  7.

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der Prophet aufgrund der Enthüllung, die ihm zuteil wird, das Zu­ künftige als unwandelbar schauen. Zu 4. Unter einer bestimmten Hinsicht folgt eine aufgenom­ mene Form der Art des empfangenden Subjekts, in dem sie ist: Sie ist im Subjekt entweder materiell oder immateriell, einförmig oder vielfältig, so wie es das aufnehmende Subjekt erfordert. Unter einer anderen Hinsicht aber zieht die aufgenommene Form umgekehrt nach ihrer eigenen Art das Subjekt, insofern nämlich Vervollkomm­ nungen, welche ja Formen sind, dem Subjekt mitgeteilt werden. So empfängt das Subjekt durch die Form eine Vervollkommnung oder Veredelung. Auf diese Weise wird der verwesliche Körper durch die Gloriengabe der Unsterblichkeit unsterblich; und ähnlich wird der Geist des Propheten durch den Strahl der unwandelbaren Wahrheit dazu erhoben, Wandelbares unwandelbar zu erkennen. Zu 5.  Weil es Gott allein eigen ist, die Zukunft zu wissen, kann eine Erkenntnis der Zukunft nur von Gott empfangen werden. Es ist jedoch nicht nötig, daß dazu auch Gott selbst gesehen werde. Zu 6. Nach jenem Philosophen (Avicenna) verbindet sich der Geist des Propheten mit der Welt des Vorherwissens bzw. der Intel­ ligenzen, nicht als ob er die Intelligenzen schaute, sondern weil er durch deren Einstrahlung des Vorherwissens teilhaft wird. Zu 7.  Auch nach unserem Glauben besteht das Ziel des mensch­ lichen Lebens darin, daß der Mensch einer höheren Welt verbunden wird; doch dieses Ziel wird erst in der Heimat erreicht, nicht auf dem Pilgerweg. Zu 8.  Obwohl der Spiegel, in dem der Prophet erkennt, zeitlich ist, vergegenwärtigt er dennoch Gottes ewiges Vorherwissen. Darum kann man von einer Schau im Spiegel der Ewigkeit sprechen. Zu 9.  Obwohl man die Sonne nicht als Spiegel der sichtbaren Dinge bezeichnen kann, so können doch die sichtbaren Dinge ge­ wissermaßen Spiegel der Sonne genannt werden, insofern in ihnen die Helle der Sonne widerleuchtet. Auf diese Weise kann auch das im Geist des Propheten bewirkte Wissen als Spiegel der Ewigkeit bezeichnet werden. Zu 10.  Jene Schau, in der Gott als Urbild der Dinge geschaut wird, ist von höherer Vollkommenheit als die Schau Gottes als Gegen­ stand der Seligkeit; denn die eine setzt die andere voraus und erweist

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sie als vollkommener: Vollkommener nämlich schaut jemand eine Ursache, wenn er in ihr auch ihre Wirkungen erblicken kann, als wenn er nur die Wesenheit schaut. Zu 11.  Die Beziehung, mit der sich Gott zu einem bestimmten Geschöpf bezieht, setzt nicht die Beziehung voraus, mit der er sich auf ein anderes bezieht – während die Beziehung, die Gott zum Geschaffenen hat, absolut seine Wesenheit zur Voraussetzung hat. ­Daher ist der Schluß nicht gültig. Zu 12.  Dieser Ausspruch Augustins bezieht sich nicht auf die Schau der Propheten, sondern auf die Gottesschau der Heiligen in der himmlischen Heimat oder auf die Schau derer, welche bereits im Pilgerstand Gott auf diese Weise schauen, wie der Apostel Pau­ lus im Raptus. Zu 13.  Die Propheten haben ein Urteil über die unwandelbare Wahrheit der zukünftigen Dinge, weil sie von der ungeschaffenen Wahrheit erleuchtet werden, nicht weil sie diese schauen. Die Gegenargumente lassen wir gelten, insofern sie zeigen, daß die Propheten nicht den ewigen Gott selbst schauen, obwohl sie im Spie­ gel der Ewigkeit schauen. Die beiden letzten Argumente jedoch enthalten einen falschen Schluß: Obwohl Gott gänzlich einförmig ist, so kann von ihm her doch eine klar unterschiedene Erkenntnis der Dinge gewonnen wer­ den; denn er ist der jeweils eigene Grund eines jeden Dinges. Und ebenso, was die übertragene Verwendung des »Spiegels« betrifft: Der Begriff wird aus dem Bereich des Materiellen auf das Geistige übertragen, aber diese Übertragung betrifft nicht alle Eigenschaf­ ten des körperlichen Spiegels, so daß diese alle im geistigen Bereich gelten müßten. Der Vergleichspunkt ist einzig, daß jeder Spiegel der Vergegenwärtigung dient.

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7. Artik el Die siebte Frage lautet: Werden bei der prophetischen Offenbarung dem Geist des Propheten durch das Wirken Gottes neue Erkenntnis­ bilder eingeprägt oder nur ein geistiges Licht gegeben?78 Es sieht so aus, als werde nur ein Licht gegeben, ohne Erkenntnisbilder; denn: 1.  Es heißt in der Glossa zu 2 Kor. 12, 2, Prophet heiße jemand einzig und allein aufgrund der geistigen Schau, die er habe.79 An der gleichen Stelle wird auch gesagt, die geistige Schau beziehe sich nicht auf die Abbilder von Dingen, sondern auf deren Wesenheit. Somit entstehen bei der prophetischen Schau im Geist des Prophe­ ten keine Erkenntnisbilder. 2.  Der Intellekt abstrahiert von der Materie und den Bedingungen materieller Verwirklichung. Wenn sich daher bei der intellektualen Schau, die den Propheten zum Propheten macht, irgendwelche Ab­ bilder von Dingen einstellen, dann wären diese Bilder nicht mit der Stofflichkeit oder deren Bedingungen vermischt. Also könnte der Prophet durch sie nur Allgemeines, nicht aber das Besondere, Par­ tikuläre, erkennen. 3.  Die Propheten haben in ihrem Geist Bilder von den Dingen, auf die sich auch die prophetische Enthüllung bezieht. Jeremia etwa, der den Brand Jerusalems prophezeite, hatte in seinem Geist das Bild bzw. die Gestalt der Stadt vor Augen, wie er sie aus der Wahr­ 78  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  173, a.  2; Super Is., cap. 1; Super 1 Cor., cap. 14, lect. 1. 79   visio intellectualis: im Unterschied zu visio imaginativa  /  imaginaria oder visio in spiritu. Die Glossa (IV, 352 f.) zitiert hier einen für die Erkenntnistheorie, die Theologie der Prophetie und die mystische Theo­ logie überaus einflußreichen Text aus Augustins Gen. litt. XII, cap. 5; 6; 28; 34 (CSEL 28/1, 385–387; 422 f.; 430–432). Augustinus führt dort (und an anderen Stellen seines Werks) aus, daß der Mensch auf drei Arten er­ kenne bzw. »schaue« (triplex visio): mit den Augen des Körpers, in der Vorstellungskraft, und »rein geistig«. Auch die prophetische Erkenntnis könne sich auf diese drei Arten ereignen. In der mittelalterlichen Theolo­ gie versuchte man genauer zu bestimmen, was eine »rein geistige« Schau sei, bzw. welche »Gegenstände« oder Inhalte einer rein intellektualen Aufnahme entsprechen.

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nehmung kannte, und er hatte das Bild verzehrenden Feuers, das er oftmals gesehen hatte. Wenn nun dem Geist des Propheten andere Bilder der gleichen Gegenstände von Gott eingegeben würden, be­ fänden sich zwei Bilder von einer einzigen Bedeutung im Geist ein und desselben Menschen – was nicht sehr passend ist. 4.  Die Schau, in der man die Wesenheit Gottes sieht, ist kraftvol­ ler als die Schau, in der irgendwelche Erkenntnisbilder von Dingen geschaut werden. Und doch reicht die Gottesschau nicht hin, um Er­ kenntnis über jede beliebige Sache zu gewinnen; denn sonst sähen diejenigen, die Gottes Wesenheit schauen, alles. Also können auch Erkenntnisbilder – selbst wenn sie von Gott eingegeben werden – den Propheten nicht zur Erkenntnis der Sache führen. 5.  Es ist nicht angemessen, daß etwas, was ein Mensch aus eige­ ner Kraft vermag, im Fall des Propheten durch das Wirken Gottes bewerkstelligt wird. Es kann doch jeder Mensch mittels seiner Vor­ stellungskraft, welche die von den Dingen aufgenommenen Bilder kombiniert oder trennt, im Geist Erkenntnisbilder von beliebigen Dingen bilden. Es ist daher nicht angemessen, daß durch Gottes Wirken der Seele des Propheten irgendwelche Bilder von Dingen eingeprägt werden. 6.  Die Natur wirkt auf dem kürzestmöglichen Weg, und noch viel mehr Gott, der in vollkommenerer Ordnung wirkt. Der Weg von den Erkenntnisbildern, die bereits in der Seele des Propheten vor­ handen sind, zur Erkenntnis der Dinge ist kürzer als der Weg über Erkenntnisbilder, die erst neu eingeprägt werden. 7. Eine Glossa aus Hieronymus zu Amos 1, 2 sagt, die Propheten bedienten sich Bilder von Dingen, mit denen sie vertraut sind. Das wäre doch nicht der Fall, wenn ihre Visionen mittels frisch einge­ prägter Erkenntnisbilder geschähen. Folglich werden dem Propheten nicht eigens Erkenntnisbilder eingegeben, sondern nur das Licht der Prophetie. Dagegen spricht: 1.  Der Gesichtssinn wird zur Erkenntnis eines bestimmten sicht­ baren Gegenstands nicht durch das Licht, sondern durch die Ge­ stalt bzw. das Bild dieses Sichtbaren bestimmt. Ebenso empfängt der Intellectus possibilis seine Bestimmung zur Erkenntnis geistiger

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Gegenstände nicht durch das Licht des Intellectus agens, sondern durch die geistigen Erkenntnisbilder. Wenn also die Erkenntnis des Propheten in Richtung auf etwas bestimmt werden soll, was er vor­ her noch nicht erkannt hatte, reicht offensichtlich die Eingießung des Lichtes nicht hin, wenn nicht auch Erkenntnisbilder eingeprägt werden. 2.  Dionysius schreibt im 1. Kapitel Über die himmlische Hierarchie80: »Unmöglich kann der Strahl des göttlichen Lichtes uns über­ strahlen, wenn er nicht in die Verschiedenheit heiliger Schleier ge­ hüllt ist.« Er nennt die Bilder »Schleier«. Also wird dem Propheten das geistige Licht nur zusammen mit gestalthaften Bildern einge­ gossen. 3.  Das eingegossene Licht ist bei allen Propheten von ein und der­ selben Form; aber nicht alle Propheten haben auch ein und dieselbe Erkenntnis, sondern die einen reden prophetisch über die Gegen­ wart, andere über die Vergangenheit, wieder andere über die Zu­ kunft, wie es in der Glossa aus Gregor, zum Anfang des Buches Ezechiel, heißt. Also wird den Propheten nicht nur das Licht einge­ geben, sondern auch manche Erkenntnisbilder, aufgrund derer sich ihre Erkenntnisse unterscheiden. 4.  Die prophetische Offenbarung vollzieht sich in der Art einer inneren Rede Gottes oder eines Engels; das sieht man klar aus den Schriften aller Propheten. Jede Rede aber geschieht mittels irgend­ welcher Zeichen. Also vollzieht sich die prophetische Offenbarung mittels Bildern. 5.  Die Schau in der Einbildungskraft und die intellektuale Schau im Geist sind von höherem Rang als die Schau mit den Augen des Leibes. Wenn nun jemandem auf übernatürliche Weise eine leib­ hafte Schau zuteil wird, dann wird seinen Augen ein neues kör­ perliche Bild gezeigt. Das sieht man etwa im Fall der an die Wand schreibenden Hand, die Belschazzar zu sehen bekam (Dan. 5, 5). Um wieviel mehr müßten dann auch bei der imaginativen oder der gei­ stigen Schau neue Erkenntnisbilder eingeprägt werden!

80  Dionysius Areopagita, De cael. hier. I, 2 (PG 3, 121 B; CD II, 8).

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Antwort: Die Prophetie gehört zu den übernatürlichen Erkenntnisweisen. Zur Erkenntnis aber sind zwei Dinge erfordert: die Aufnahme des erkannten Inhalts (acceptio) und das Urteil über das Aufgenom­ mene (iudicium) – wie wir oben schon erklärt haben.81 Zuweilen nun ist eine Erkenntnis übernatürlich nur im Hinblick auf das Auf­ nehmen, zuweilen nur im Hinblick auf das Urteil, zuweilen im Hin­ blick auf beides. Wenn nur die Aufnahme übernatürlich bewirkt ist, dann heißt jemand deswegen noch nicht Prophet: Der Pharao, der auf übernatürliche Weise das Vorzeichen künftiger Fruchtbarkeit und Dürre unter den Bildern der Rinder und Ähren erhielt, wird nicht Prophet genannt. Wenn aber jemand auf übernatürliche Weise urteilt oder wenn er Urteil und Aufnahme zugleich besitzt, dann heißt er Prophet. Etwas kann auf drei Weisen übernatürlich aufgenommen werden, nämlich auf die drei Weisen der Schau: in einer leibhaften, körper­ lichen Schau, wenn durch göttliches Wirken den Augen des Leibes etwas gezeigt wird – wie die schreibende Hand dem Belschazzar; in einer imaginativen Schau, wenn durch göttliches Wirken den Pro­ pheten Bilder von Dingen gezeigt werden, wie der brodelnde Koch­ topf dem Jeremia, die Pferde und Berge dem Sacharja82; und in einer geistigen Schau, wenn dem Intellekt etwas gezeigt wird, was seine natürlichen Fähigkeiten übersteigt. Da aber der Intellekt des Men­ schen von Natur aus offen ist für alle intelligiblen Erkenntnisbilder körperlicher Gegenstände, handelte es sich um keine übernatürli­ che Aufnahme von Erkenntnis, wenn dem Intellekt intelligible Er­ kenntnisbilder gleich welcher Art eingeprägt würden. Anders bei der körperlichen Schau: Hier ist die Aufnahme übernatürlich, wenn Dinge gesehen werden, die nicht von Natur aus diese Gestalt ha­ ben, sondern nur durch göttliches Wirken dazu da sind, etwas zu zeigen. Ähnlich ist das Aufnehmen im Bereich der imaginativen Schau übernatürlich, wenn die Bilder nicht von den Sinnen her auf­ genommen werden, sondern durch irgendeine Kraft in der Seele 81  Vgl. De ver., q.  12, a.  3, ad 1. 82  Jer. 1, 13; Sach. 6, 1.

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gebildet werden. Der Intellekt aber nimmt nur dann auf übernatür­ liche Weise auf, wenn er die geistigen Substanzen, Gott und die En­ gel, in ihrer Wesenheit sieht; denn dazu kann er aus eigenen Kräf­ ten nicht gelangen. Diese letzte Erkenntnisweise übersteigt jedoch die prophetische Erkenntnis, wie es im Buch Numeri (12, 6) heißt: »Wenn es unter euch einen Propheten des Herrn gibt, spreche ich in Traum und Vision zu ihm. Anders mit meinem Knecht Mose, der offen, nicht in Bildern und Rätseln Gott sieht.« Gott in seiner Wesenheit zu schauen – wie er im Raptus oder von den Seligen des Himmels geschaut wird – oder auch die rein geisti­ gen Substanzen ihrem Wesen nach zu schauen, übersteigt die pro­ phetische Erkenntnisweise. Die erstgenannte übernatürliche Auf­ nahme aber, mittels körperlicher Schau, bleibt unterhalb der prophe­ tischen Erkenntnis; denn sie bedeutet keinen Vorzug des Propheten vor anderen Leuten, da ja eine solche durch göttliches Wirken ge­ formte Gestalt allen zum Sehen dargeboten ist. Die dem Propheten eigentümliche übernatürliche Aufnahme von Erkenntnis geschieht durch die imaginative Schau. Somit hat also jeder Prophet entweder nur das übernatürliche Urteil über Dinge, die von einem anderen gesehen wurden – wie Joseph die Schauungen des Pharao beurtei­ len konnte –, oder empfängt zusammen mit dem Urteil Erkenntnis durch die imaginative Schau. Das übernatürliche Urteil wird dem Propheten entsprechend dem ihm eingegossenen Licht gegeben, wodurch der Intellekt die Kraft zum Urteil erhält. Dafür bedarf es keiner Erkenntnisbilder. Doch hinsichtlich der Aufnahme des Inhalts ist eine neue Formung von Erkenntnisbildern nötig, sei es, daß im Geist des Propheten Spezies entstehen, die vorher nicht da waren – beispielsweise wenn einem Blindgeborenen die Bilder von Farben eingeprägt würden –, sei es, daß bereits existierende Spezies durch göttliches Wirken neu geord­ net und verbunden werden, entsprechend der Bedeutung, die dem Propheten offenbar werden soll. So verstanden, muß die Antwort auf die Frage lauten: Die pro­ phetische Offenbarung vollzieht sich nicht nur im Hinblick auf das eingegossene Licht, sondern auch im Hinblick auf Erkenntnisbilder, manchmal jedoch nur im Hinblick auf das Licht.

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Antwort auf die erste Argumentationsreihe: Zu 1.  Wiewohl nur jemand den Prophetennamen erhält, der die intellektuale Schau hat, so ist doch zur prophetischen Erkenntnis nicht nur die intellektuale Schau zu zählen, sondern auch die ima­ ginative, in der Erkenntnisbilder geformt werden können, die auch Einzeldinge repräsentieren. Zu 2.  Das ist auch die Antwort auf das zweite Argument. Zu 3.  Es brauchen dem Propheten nicht ein weiteres Mal die Er­ kenntnisbilder dessen eingegossen werden, was er sieht, sondern aus den im Schatz der Vorstellungskraft aufbewahrten Bildern fügt sich eine geordnete Verbindung, die dem Inhalt der prophetischen Bot­ schaft entspricht. Zu 4.  Die Wesenheit Gottes, an sich betrachtet, bildet alle Dinge in deutlicherer Weise ab als alle Erkenntnisbilder oder Gestalten. Doch weil der Blick des Schauenden von der gewaltigen Erhabenheit dieses Wesens überwältigt wird, geschieht es, daß jemand, der die Wesenheit schaut, dennoch nicht alles schaut, was sie vergegenwär­ tigt. Die Erkenntnisbilder jedoch, die unserer Vorstellungskraft ein­ geprägt werden, sind unserer Kraft angemessen, so daß wir durch sie zur Erkenntnis der Dinge gelangen. Zu 5.  Wenn jemand aufgrund von Zeichen Wissen erlangt, dann ist die Erkenntnis der Zeichen für ihn der Weg zu den Dingen selbst. Das gleiche gilt umgekehrt: Wenn jemand etwas als Zeichen ge­ braucht, dann ist die Kenntnis der Sache, die er damit bezeichnen will, vorausgesetzt für die Bildung des entsprechenden Zeichens. Je­ mand kann keine passenden Zeichen für eine Sache beibringen, die er nicht kennt. Freilich kann jeder Mensch mit seiner natürlichen Kraft beliebige Bilder formen. Aber daß sie ein passendes Zeichen für ein zukünftiges Ereignis darstellen, das kann kann nur bewirkt werden durch denjenigen, der die Kenntnis der zukünftigen Dinge besitzt. Unter dieser Hinsicht gibt es eine übernatürliche Formung der Vorstellungskraft im Propheten. Zu 6.  Bilder, die bereits in der Vorstellungskraft des Propheten existieren, genügen deswegen allein noch nicht, etwas Zukünftiges zu bedeuten. Sie müssen durch Gottes Wirken umgeformt werden. Zu 7.  Die Bilder, welche in der Vorstellungskraft des Propheten bereits vorhanden sind, gleichen Bestandteilen der imaginativen Vi­

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sion, die dem Propheten zuteil wird; diese wird gewissermaßen aus ihnen zusammengesetzt. Daher kommt es, daß ein Prophet diejeni­ gen Bilder gebraucht, mit denen er umgeht und vertraut ist. Antwort auf die zweite Argumentationsreihe: Weil die prophetische Offenbarung aber, wie gesagt, nicht immer mittels Erkenntnisbildern geschieht, muß nun auch auf die Argu­ mente der Gegenseite geantwortet werden. Zu 1. Wenn einem Propheten nur das übernatürliche Urteil, nämlich aufgrund des geistigen Lichtes, gegeben ist, dann wird zwar seine Erkenntnis dadurch nicht auf einen bestimmten Gegenstand hin ausgerichtet, doch er empfängt diese Ausrichtung entweder durch Erkenntnisbilder, die von anderen Personen geschaut wurden – wie zum Beispiel Joseph mittels der Bilder, die der Pharao schaute – oder durch Bilder, die er selbst auf natürliche Weise empfangen hat. Zu 2.  Der Strahl des göttlichen Lichtes überstrahlt den Prophe­ ten stets gewissermaßen in Bilder gehüllt; das heißt aber nicht, daß immer Bilder eingegeben würden, sondern daß der besagte Strahl sich mit bereits vorhandenen Bildern verbindet. Zu 3.  Die jeweilige Offenbarung an die Propheten unterscheidet sich auch im Hinblick auf das geistige Licht; denn einige nehmen es in vollerem Maße auf als andere. Sie unterscheidet sich auch im Hinblick auf die Bilder, die vorher bereits vorhanden sind, oder vom Propheten, oder einer anderen Person, neu empfangen werden. Zu 4.  Gregor der Große schreibt in den Moralia zum Buch Hiob83: »Gott spricht zu den Engeln, indem er ihren Herzen seine unsicht­ baren Geheimnisse zeigt«. Ähnlich, fügt er hinzu, spricht Gott zu den heiligen Seelen, indem er ihnen Sicherheit einflößt. So bezieht sich die Rede Gottes zu den Propheten, von der in der Hl. Schrift geschrieben ist, nicht nur auf Bilder, die ihnen eingeprägt werden, sondern auch auf das eingegebene Licht, wodurch der Geist des Pro­ pheten über eine bestimmte Sache Sicherheit erlangt. Zu 5.  Weil die Schau im Intellekt und die Schau in der Vorstel­ lungskraft höherrangig sind als die Schau mit den leiblichen Augen, erkennen wir auf die erste und zweite Art nicht nur Gegenwärtiges, 83  Gregor der Große, Moralia in Iob II, VII 9 (CCSL 143, 65).

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sondern auch Abwesendes, während in der körperlichen Schau nur Gegenwärtiges gesehen wird. Darum bleiben in der Vorstellungs­ kraft und im Intellekt die Bilder der Dinge bewahrt, nicht aber im Sinnesvermögen. Damit eine körperliche Schau übernatürlich sei, ist daher immer die Formung neuer körperlicher Gestalten erfor­ derlich. Dies ist für die Übernatürlichkeit im imaginativen oder rein geistigen Bereich nicht erforderlich.

8. Artik el Die achte Frage lautet: Geschieht jede prophetische Offenbarung durch Vermittlung eines Engels?84 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Augustinus schreibt im 6. Buch Über die Dreifaltigkeit85: »Der Geist mancher Menschen wird so hoch erhoben, daß sie die unwan­ delbaren Gründe nicht durch Vermittlung eines Engels, sondern im höchsten Gipfel aller Dinge selbst schauen.« Das scheint am ehesten für die Propheten zuzutreffen. 2.  Die Gaben des Hl. Geistes und die gnadenhaften, eingegosse­ nen Habitus kommen unmittelbar von Gott. Die Prophetie ist aber eine Gabe des Hl. Geistes, wie aus 1 Kor. 12, 10 erhellt, und sie ist auch eine Art eingegossenes Licht. Also kommt sie unmittelbar von Gott ohne Vermittlung eines Engels. 3.  Die Prophetie, welche aus einer geschaffenen Kraft stammt, ist natürliche Prophetie, wie oben gesagt wurde. Ein Engel ist aber auch ein Geschöpf. Also findet jene Prophetie, die nicht naturgegeben, sondern Gabe des Hl. Geistes ist, ihre Vollendung nicht durch die Vermittlung eines Engels. 4.  Die Prophetie erlangt ihre Vollendung hinsichtlich der Eingie­ ßung des Lichtes und der Einprägung der Erkenntnisbilder. Keines von beiden scheint durch einen Engel möglich zu sein; denn dann wäre er der Schöpfer des Lichtes oder der Erkenntnisbilder, die ja nur aus Nichts entstehen können. 84  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  172, a.  2; Super Is., cap. 6. 85  Eigentlich Augustinus, De trin. IV, 17, 22 (CCSL 50, 189).

8. Artikel

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5.  In der Definition der Prophetie heißt es, sie sei eine göttliche Enthüllung oder Einhauchung. Geschähe sie durch einen Engel, so sollte man sie besser »angelische« und nicht »göttliche« Enthüllung nennen. 6.  In Weish. 7, 27 steht, die göttliche Weisheit trete in allen Natio­ nen in heilige Seelen ein und schaffe Freunde Gottes und Propheten. Also wird jemand unmittelbar durch Gott zum Propheten und nicht durch einen Engel. Dagegen spricht: 1.  Mose überragte anscheinend alle Propheten, wie sich aus Num. (12, 6 f.) und Deut. (34, 10) ergibt. Doch Mose erhielt die Offenba­ rung von Gott her durch Vermittlung von Engeln, wie es in Gal.  3, 19 heißt: Das Gesetz sei durch Engel in die Hand des Mittlers gelegt worden. Auch in der Apg. 7, 38 spricht Stephanus über Mose: »Dieser ist es, der bei der Versammlung des Volkes in der Wüste zwischen dem Engel, der auf dem Berg Sinai mit ihm redete, und unseren Vä­ tern stand«. Um wieviel mehr müssen dann die übrigen Propheten ihre Offenbarung durch Vermittlung von Engeln empfangen haben! 2.  Dionysius schreibt im 4. Kap. Über die Himmlische Hierarchie86, unsere glorreichen Väter hätten durch die Vermittlung der himmlischen Kräfte die göttlichen Schauungen erlangt. 3.  Augustinus schreibt in seinem Werk Über die Dreifaltigkeit87, daß alle Erscheinungen, welche die Väter des Alten Testaments ge­ habt hätten, durch den Dienst von Engeln geschehen seien. Antwort: Bei der prophetischen Offenbarung kommen zwei Dinge zusam­ men: die Erleuchtung des Geistes und die Formung von Bildern in der Vorstellungskraft. Das Licht der Prophetie, das den Propheten erleuchtet, hat seinen Ursprung in Gott und geht von ihm aus. Doch wird der menschliche Geist, um es in angemessener Weise aufnehmen zu können, durch das Licht eines Engels gekräftigt und gewissermaßen vorbereitet. 86  Dionysius Areopagita, De cael. hier. IV, 3 (PG 3, 180 C; Dion. 811). 87  Augustinus, De trin. III, 11, 27 (CCSL 50, 158).

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Denn das göttliche Licht ist ganz und gar einfach und seiner Kraft nach allumfassend; es besteht daher kein solches Verhältnis zum Vermögen der menschlichen Seele, daß dieses Licht im Pilgerstand einfach aufgenommen werden könnte. Es muß gewissermaßen ge­ bündelt werden und eine Gestalt bekommen, indem es sich mit dem Licht des Engels verbindet; denn dieses Licht ist bereits begrenzter und dem menschlichen Geist verhältnismäßig angepaßter. Die Formung der Bilder in der Vorstellungskraft dagegen ist in eigentlicher Weise den Engeln zuzuschreiben; denn die ganze kör­ perliche Schöpfung wird durch die geistigen Geschöpfe gelenkt, wie Augustinus im 3. Buch Über die Dreifaltigkeit88 schreibt. Die Vor­ stellungskraft aber bedient sich eines körperlichen Organs, weswe­ gen die Formung von Bildern in der Vorstellungskraft speziell zur Aufgabe der Engel gehört. Zu 1. Wie bereits weiter oben gesagt89, ist diese AugustinusStelle nicht von der prophetischen Schau, sondern von der Schau der himmlischen Heimat oder der des Raptus zu verstehen. Zu 2.  Die Prophetie wird zu den Gaben des Hl. Geistes gerechnet, weil das prophetische Licht unmittelbar von Gott eingegeben wird. Dennoch tragen die Engel durch ihren Dienst dazu bei, daß das Licht auch angemessen aufgenommen wird. Zu 3.  Was ein Geschöpf durch eigene Kraft wirkt, ist gewisser­ maßen natürlich; doch was ein Geschöpf nicht aus eigener Kraft wirkt, sondern weil es von Gott gewissermaßen wie ein Werkzeug des göttlichen Wirkens bewegt wird, das ist übernatürlich. Daher ist eine Prophetie natürlich, die ihren Ursprung von einem Engel, das heißt von der natürlichen Erkenntnis des Engels, her hat. Eine Pro­ phetie, die ihren Ursprung zwar von einem Engel her hat, welcher jedoch die Offenbarung von Gott empfing, ist übernatürlich. Zu 4.  Ein Engel schafft weder das Licht im Intellekt des Men­ schen noch die Erkenntnisbilder in der Vorstellungskraft. Durch das Wirken der Engel wird jedoch das natürliche Licht im Intellekt des Menschen himmlisch gekräftigt, und in diesem Sinn kann man 88  Vgl. Augustinus, De trin. III, 4, 9 (CCSL 50, 135 f.). 89  Siehe a.  6.

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sagen, der Engel erleuchte den Menschen. Insofern dem Engel die Macht gegeben ist, das Organ der Vorstellungskraft in Bewegung zu setzen, kann er eine imaginative Schau formen, wie es der Pro­ phetie entspricht. Zu 5.  Eine Handlung schreibt man nicht dem Werkzeug zu, son­ dern dem ursprünglich Handelnden. So ist ein Schemel nicht von der Säge hervorgebracht, sondern vom Tischler.90 Ebenso ist auch der Engel nur im Sinne eines Werkzeugs Ursache der prophetischen Of­ fenbarung, insofern er selbst die Offenbarung von Gott her empfan­ gen hat. Daher kann man die Prophetie nicht als angelische, sondern muß sie als göttliche Offenbarung bezeichnen. Zu 6.  Die Weisheit Gottes, die in die Seelen eintritt, bringt man­ che ihrer Wirkungen ohne Vermittlung von Engeln hervor, zum Beispiel die Eingießung der Gnade, durch die jemand Gottes Freund wird. Das hindert aber nicht, daß sie andere Wirkungen unter Ein­ beziehung des Dienstes der Engel hervorbringt. Auf diese Weise »tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Propheten« durch Ver­ mittlung eines Engels.

9. Artik el Die neunte Frage lautet: Wird ein Prophet immer den Sinnen ent­ rückt, wenn er vom Geist der Prophetie angerührt wird?91 Dafür scheint zu sprechen, daß: 1.  in Num. 12, 6 steht: »Wenn einer unter euch Prophet gewor­ den ist, dann spreche ich zu ihm in Traum und Vision.« Die Glossa zum Beginn des Psalters aber erläutert, daß eine Prophetie dann »durch Traum und Vision« geschieht, wenn sie »mittels Ereignis­ sen und Worten geschieht, die nur zu sein scheinen«.92 Wenn aber Worte oder Ereignisse dem Menschen nur gesprochen oder getan zu werden scheinen, sie aber nicht gesprochen werden noch geschehen, dann ist der Mensch den Sinnen entrückt. 90  carpentarius: eigentlich Wagner, Stellmacher. 91  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  173, a.  3. 92  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef. (PL 191, 58 C).

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2.  Wenn eine einzelne Kraft von ihrem Wirken sehr in Anspruch genommen wird, muß sich eine andere von ihrem Wirken zurück­ ziehen. In der prophetischen Schau sind die inneren Kräfte, das sind Intellekt und Vorstellungskraft, in höchstem Maß auf ihr Wirken konzentriert; denn hier erreichen sie den Gipfel dessen, was ihnen im Pilgerstand möglich ist. Also wird der Prophet stets vom Wirken der äußeren Kräfte abgezogen. 3.  Die geistige, intellektuale Schau ist vornehmer als die imagi­ native; diese wiederum überragt die körperliche. Vermischung mit etwas, das weniger wert und würdig ist, beeinträchtigt den Adel des Würdigeren. Daher sind die geistige und die imaginative Schau voll­ kommener, wenn sie sich nicht mit der körperlichen Schau mischen. Da man in der prophetischen Schau zur höchsten Vollkommenheit in diesem Leben gelangt, scheint eine Vermischung mit der körper­ lichen Schau – so daß der Prophet zusammen mit der intellektualen und der imaginativen Schau auch eine Schau mit leiblichen Augen hätte – ausgeschlossen. 4.  Das Sinnesvermögen hat vom Intellekt und der Vorstellungs­ kraft einen größeren Abstand als die niedere Vernunft von der hö­ heren.93 Wenn die höhere Vernunft sich der Betrachtung der ewi­ gen Dinge widmet, wird der Mensch von der Tätigkeit der niederen Vernunft, die sich dem Zeitlichen widmet, abgezogen. Um wieviel mehr wird er dann bei der prophetischen Schau im Intellekt und der Vorstellungskraft vom körperlichen Schauen abgezogen! 5.  Ein und dieselbe Kraft kann nicht mehreren Gegenständen hingegeben sein. Wenn jemand die leiblichen Sinne gebraucht, dann sind Intellekt und Vorstellungskraft auf eben diese Dinge konzen­ triert, die leiblich gesehen werden. Also können sie nicht gleichzeitig auf die Gegenstände konzentriert sein, welche sich unabhängig von den Körpersinnen in der prophetischen Schau zeigen.

93  ratio inferior – superior: Die Vernunft ist ein einziges Vermögen, wird aber je nach ihrem Gegenstandsbereich eingeteilt in die »niedere« und »höhere Vernunft«; das Sinnesvermögen ist dagegen eine von der Vernunft verschiedene Fähigkeit.

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Dagegen spricht: 1.  In 1 Kor. 14, 32 heißt es: »Der Geist der Prophetie ist den Pro­ pheten unterworfen«. Das wäre nicht der Fall, wenn der Prophet den Sinnen entrückt wäre; denn dann wäre er seiner nicht mächtig. 2.  In der prophetischen Schau empfängt man Erkenntnis über be­ stimmte Dinge, und zwar ohne Irrtum. Bei Menschen, welche den Sinnen entrückt sind – entweder weil sie träumen oder auf eine an­ dere Weise –, ist die Erkenntnis mit Irrtum vermengt und ungewiß; denn sie hängen bloßen Bildern von Dingen an, als wären es die Dinge selbst, wie Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis94 feststellt. 3.  Nimmt man das Entrücktsein der Propheten an, dann wird man offenbar dem Irrtum des Montanus nicht entgehen. Er hat be­ hauptet, daß die Propheten wie Besessene gesprochen hätten, ohne zu wissen, was sie sagten. 4.  Die Glosse zum Beginn des Psalters sagt: Zuweilen »geschieht die Prophetie durch Taten und Worte; durch Taten beispielsweise, wenn die Arche Noachs die Kirche bedeutet; durch Worte, wie etwa durch die von den Engeln zu Abraham gesprochenen Worte.«95 Nun steht aber fest, daß weder Noach, als er die Arche baute, noch Abra­ ham, als er mit den Engeln redete und sie bediente, von den Sin­ nen entrückt waren. Also geschieht die Prophetie nicht immer unter Entrückung. Antwort: Zur Prophetie gehören zwei Akte, einer steht am Ursprung, der andere folgt. Der ursprüngliche Akt ist die prophetische Schau, der folgende Akt ist die prophetische Verkündigung. Die Verkündigung geschieht mittels Worten oder auch Handlun­ gen, wie sich aus Jer. 13, 4 ergibt: Der Prophet deponierte seinen Ledergürtel in der Nähe des Flusses, damit er dort verrotten sollte. Ob auf die eine oder die andere Weise: Stets geschieht die Verkündi­ gung durch einen Menschen, der nicht den Sinnen entrückt ist, weil 94  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 25 (CSEL 28/1, 417). 95  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef. (PL 191 58 C), aus Cassiodor,

Expositio Psalmorum, praef., cap. 1 (CCSL 97, 7).

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eine derartige Kundgabe mittels sinnenhafter Zeichen geschieht. Daher muß sich der Prophet, der verkündigen will, seiner Sinne be­ dienen, damit die Verkündigung vollendet wird – andernfalls würde er verkündigen wie einer, der von Sinnen ist. Was jedoch die prophetische Schau angeht, so kommen hier zwei Dinge zusammen, wie bereits dargelegt: das Urteil und der eigent­ liche Empfang des Inhalts. Wenn also ein Prophet von Gott eine Inspiration allein hinsichtlich seines Urteils erhält – so daß dieses übernatürlich ist –, nicht aber hinsichtlich der Aufnahme des In­ halts, dann bedarf es dazu keiner Entrückung von den Sinnen; denn das Urteil des Intellekts ist von Natur aus vollkommener, wenn sich jemand seiner Sinne bedienen kann, als wenn er das nicht tut. Die übernatürliche Aufnahme des Inhalts aber, welche der Eigenart der Prophetie entspricht, geschieht in einer imaginativen Schau. Um den Blick auf diese Schau zu wenden, wird der menschliche Geist (mens) von irgendeinem Geistwesen (a spiritu) entrückt und von den Sin­ nen abgezogen, wie Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis96 schreibt. Der Grund dafür ist folgender: Während der Mensch seine Sinne gebraucht, ist die Vorstellungskraft hauptsäch­ lich mit dem beschäftigt, was sie von den Sinnen empfängt; sie kann ihre hauptsächliche Konzentration nicht auf Gegenstände übertra­ gen, die sie von woanders her empfängt, außer der Mensch wird dem Gebrauch der Sinne entfremdet oder entrückt. Jedesmal also, wenn die Prophetie sich in der Weise der Vision in der Vorstellungskraft ereignet, muß der Prophet den Sinnen entrückt sein. Dieses Entrücktsein kann aber auf zwei Weisen statthaben: ein­ mal ist die Seele selbst der Grund dafür, das andere Mal liegt der Grund in der Natur. Ein natürlicher Grund für Entrückung ist es, wenn die Sinne des Leibes wegen Krankheit ihren Dienst versagen oder Dämpfe beim Schlaf zum Gehirn aufsteigen und den Tastsinn unbeweglich machen. In der Seele hat die Entrückung ihren Grund, wenn der Mensch von den Sinnen entrückt wird, weil er in unge­ wöhnlicher Intensität auf Gegenstände des Geistes oder der Vorstel­ lungskraft konzentriert ist. Niemals kommt bei einem Propheten eine Entrückung von den Sinnen aufgrund von Krankheit vor, wie 96  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 13 (CSEL 28/1, 398).

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sie bei Epileptikern oder Tobsüchtigen der Fall ist. Es kommt nur eine Entrückung aufgrund einer geordneten natürlichen Ursache vor, nämlich durch den Schlaf. Daher geschieht eine prophetische Offenbarung, die auf einer imaginativen Vision beruht, stets entwe­ der im Traum – wenn also die Entrückung durch eine der Ordnung der Natur entsprechende Ursache hervorgerufen ist – oder in einer Vision, wenn die Entrückung ihren Grund in der Seele hat. Es gibt jedoch etwas, worin sich der – sei es im Schlaf oder in der Vision97 – entrückte Prophet von allen anderen Personen unterschei­ det, die den Sinnen entrückt werden: Der Geist des Propheten emp­ fängt eine Erleuchtung über die Dinge, die er in der imaginativen Vision schaut; und dadurch erkennt er, daß es nicht wirkliche Ge­ genstände sind, sondern Bilder von Gegenständen, bezüglich derer er aufgrund des geistigen Lichtes ein sicheres Urteil hat. Daraus ergibt sich: Manchmal geschieht die prophetische Inspi­ ration unter Entrückung von den Sinnen, manchmal nicht. Deswe­ gen müssen wir jetzt auf beide Reihen von Argumenten antworten. Zu 1.  Mit diesen Worten will der Herr die herausragende Stel­ lung des Mose vor allen anderen Propheten hinsichtlich des über­ natürlichen Empfangs der prophetischen Erkenntnis zeigen: Mose wurde auf übernatürliche Weise so hoch erhoben, daß er Gottes We­ senheit schaute, wie sie in sich ist. Was aber die anderen Propheten empfingen, empfingen sie alles nur durch Bilder im Traum oder in einer Vision. Doch das Urteil eines Propheten stützt sich nicht auf die bildhaften Schauungen im Traum oder der Vision; deswegen kann das prophetische Urteil auch ohne jede Entrückung von den Sinnen zustande kommen. Zu 2.  Wenn die innere Kraft der Seele ganz konzentriert ist auf den Gegenstand, den sie sieht, wird sie vom Vollzug des äußeren Schauens abgezogen, vorausgesetzt, die Aufmerksamkeit ist voll­ 97  Hier wird »visio« nicht mehr nur allgemein in der Bedeutung »Schau« verwendet (wie im Text bisher), sondern in der Bedeutung »Vision«: Bil­ der zeigen sich in der Vorstellungskraft, Begleiterscheinung der Vision ist die »Entrücktheit von den Sinnen«. Die Vision im Wachzustand ist dem Traum im Schlaf verwandt.

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kommen in Anspruch genommen. Jedoch kann das Urteil der in­ neren Kraft jeden Grad der Vollkommenheit erreichen, ohne daß es vom äußeren Tun absehen würde. Denn es gehört zur inneren Kraft, über das äußere Tun zu urteilen. Das Urteil hat somit die gleiche Ausrichtung wie die äußere Tätigkeit, und beide behindern sich nicht gegenseitig. Zu 3.  Dieses Argument geht von den intellektualen und imagina­ tiven Schauungen aus und bezieht sich auf den Empfang des Inhalts, nicht aber auf das Urteil. Zu 4.  Die einzelnen Kräfte der Seele behindern sich gegenseitig genau deswegen, weil sie in ein und derselben Wesenheit der Seele gründen. Je näher sich irgendwelche Kräfte der Seele stehen, desto eher werden sie einander behindern, wenn sie sich auf unterschied­ liche Gegenstände richten. Daher ist das Argument nicht schlüssig. Zu 5.  Dieses Argument geht wiederum von dem übernatürlichen Empfang der Prophetie in der geistigen oder imaginativen Kraft aus, es bezieht nicht das Urteil mit ein. Zu den Argumenten der Gegenseite: Zu 1.  Der Apostel Paulus spricht von der prophetischen Verkün­ digung; denn es unterliegt der freien Entscheidung des Propheten, über das ihm Eingegebene zu sprechen oder nicht. Was die Offenba­ rung selbst betrifft, so ist der Prophet dem Geist unterworfen. Denn die Enthüllung ereignet sich nicht nach dem Willen des Propheten, sondern nach dem Willen des offenbarenden Geistes.98 Zu 2.  Es ist auf das Licht der Prophetie zurückzuführen, daß der Geist des Propheten, selbst während einer Entrückung von den Sinnen, ein wahres Urteil über die Gegenstände besitzt, die er im Traum oder in einer Vision sieht. Zu 3.  Montanus irrte in zwei Dingen: Erstens sprach er den Pro­ pheten das geistige Licht ab, aufgrund dessen sie ein wahres Urteil über das Geschaute besitzen; zweitens behauptete er, sie seien auch 98  Vgl. 2 Petr. 1, 21. Inspiratio und revelatio bedeuten im Sprachge­ brauch des Thomas nicht das gleiche; s. dazu P. Synave / P. Benoit, Pro­ phecy and Inspiration. A Commentary on the Summa theologica II-II, Questions 171–178, New York 1961.

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während der prophetischen Rede von den Sinnen entrückt, wie es bei Tobsüchtigen vorkommt oder bei Menschen, die im Schlaf reden. Diese Folgerungen ergeben sich aber nicht aus der oben dargelegten Position. Zu 4.  Daß die Prophetie »durch Worte und Taten« geschehe, be­ zieht sich mehr auf die prophetische Verkündigung als auf die pro­ phetische Schau. 10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Ist es angemessen, die Prophetie in diese drei Arten zu unterteilen: Prophetie der Vorherbestimmung, Pro­ phetie des Vorherwissens, und Drohprophetie?99 Gegen diese Ein­ teilung spricht 1. die Glossa zum Anfang des Psalters.100 Dort wird die Prophetie folgendermaßen eingeteilt: »Eine Art von Prophetie geschieht ge­ mäß des Vorherwissens, die sich notwendigerweise und in jeglicher Hinsicht, auch dem Wortsinn nach, erfüllen muß, beispielsweise: ›Siehe, die Jungfrau wird empfangen‹ (Jes. 7, 14). Eine andere Art von Prophetie vollzieht sich als Androhung, zum Beispiel: ›Noch vierzig Tage, und Ninive wird zerstört‹ (Jona 3, 4). Solche Prophe­ tie erfüllt sich nicht im oberflächlichen Sinn der Worte, sondern nach einer in ihnen verborgenen Bedeutung. – So scheint die dritte Gattung – die »der Vorherbestimmung«, die Hieronymus nennt101, überflüssig zu sein. 2.  Ein Kriterium, das sich notwendigerweise aus jeder Art von Prophetie ergibt, kann nicht als Unterscheidungsmerkmal von Unter­arten dienen. Jede Art von Prophetie beruht auf dem Vorher­ wissen Gottes, wie die Glossa zu Jes. 38, 1 schreibt102: »Die Prophe­ ten lesen im Buch des Vorherwissens«.

99  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  174, a.  1; Super Matth., cap. 1, lect. 5. 100  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef. (PL 191, 59 B), aus Cas­

siodors Psalmenkommentar (CCSL 97, 7). 101  Glossa ord. zu Mt. 1, 22–23 (IV, 7). 102  Glossa ord. zu Mt. 1, 22–23 (IV, 7).

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3.  Das Vorherwissen ist der Vorherbestimmung übergeordnet, da es in deren Definition enthalten ist. Darum kann das Vorherwis­ sen nicht auf gleicher Ebene von der Vorherbestimmung getrennt werden, außer in den Fällen, wo es mehr umfaßt, als die Vorher­ bestimmung umfaßt. Das Vorherwissen überschreitet die Vorher­ bestimmung im Fall der Bösen; denn auf diese bezieht sich Gottes Vorherwissen, nicht aber seine Vorherbestimmung, während sich Vorherwissen und Vorherbestimmung auf die Guten beziehen. Zu sagen, es gebe eine Prophetie gemäß dem Vorherwissen und eine andere gemäß der Vorherbestimmung, heißt nur, es gibt eine Pro­ phetie, die sich auf die Guten, und eine, die sich auf die Bösen be­ zieht. Gut und Böse hängen aber gleichermaßen von unserem freien Willen ab. Daher ist die von Hieronymus genannte Unterscheidung zwischen den beiden Prophetiearten nichtig: Die Prophetie der Vor­ herbestimmung erfüllt sich ohne den Beitrag unseres freien Willens, die Prophetie des Vorherwissens aber in Verbindung mit ihm. 4.  »Vorherbestimmung« bezieht sich nach Augustinus auf Güter des Heils. Doch zu den heilshaften Gütern zählen auch unsere Ver­ dienste, die von unserem freien Willen abhängen. Damit ist auch bei der Prophetie der Vorherbestimmung unser Wille beteiligt, und das heißt: Hieronymus hat keine gute Unterscheidung getroffen. 5.  Bei der Prophetie sind nur drei Aspekte in Betracht zu zie­ hen: Erstens, von wem sie stammt, zweitens, in wem sie sich er­ eignet, drittens, was sie beinhaltet. Es gibt keinen Unterschied im ersten Punkt: Jede Prophetie stammt vom Hl. Geist. Es gibt auch keinen Unterschied im zweiten Punkt: Das Subjekt ist der Geist des Menschen. Der Inhalt der Prophetie aber ist entweder Gutes oder Schlechtes. Das heißt, eine Zweiteilung ist ausreichend. 6.  Hieronymus sagt, daß die Prophetie »Siehe, die Jungfrau wird empfangen« von der Art der Vorherbestimmung sei. Aber zur Er­ füllung dieser Prophetie trug der freie Wille der Jungfrau Maria bei, als sie ihre Zustimmung gab. Somit ist auch dieser Art von Prophe­ tie der freie Wille beigemischt, und es gibt keinen Unterschied zur Prophetie des Vorherwissens. 7.  Jede Aussage über etwas Zukünftiges, von dem man nicht weiß, ob es eintreffen wird, ist entweder falsch oder für denjenigen, der es ankündigt, zumindest zweifelhaft. In einer Drohprophetie wird

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etwas als zukünftig eintretend vorhergesagt, etwa die Zerstörung einer Stadt. Weil diese Ankündigung weder falsch noch zweifelhaft ist – da der Hl. Geist als ihr Urheber weder unwahr noch im Zweifel sein kann –, muß sie sich zumindest in dem Sinn erfüllen, wie sie vom Hl. Geist vorhergewußt ist. Damit fällt der Unterschied zwi­ schen Drohprophetie und Prophetie des Vorherwissens. 8.  Wenn etwas als Drohprophetie vorhergesagt wird, dann ist die Ankündigung entweder unter einer bestimmten Bedingung oder bedingungslos zu verstehen. Ein bedingtes Verständnis aber wider­ spräche doch offenkundig der Definition der Prophetie, welche in ei­ ner Art übernatürlicher Erkenntnis gründet. Zukünftiges aufgrund bestimmter Bedingungen zu erkennen, vermag auch die natürliche Vernunft. Daher müßte eine solche Prophetie ohne Bedingung ver­ standen werden. Entweder die Prophetie ist falsch oder sie trifft ein wie vorhergesagt, und in diesem Fall ist erwiesen, daß sie in Gottes Vorherwissen gründet. Somit braucht man keinen Unterschied zwi­ schen Drohprophetie und Prophetie des Vorherwissens anzunehmen. 9.  Bei Jer. 18, 8 wird eine ähnliche Regel bezüglich der Erfüllung von Drohungen und Verheißungen Gottes genannt: Drohungen werden zurückgenommen, wenn das Volk, gegen das die Drohung ergangen ist, von seinen bösen Taten umkehrt. Und ebenso erfüllt sich die Verheißung nicht, wenn das Volk, dem sie gegeben war, den Weg der Gerechtigkeit verläßt. Wenn man also eine Prophetie der Androhung als Gattung aufführt, dann müßte man ein viertes Glied dazunehmen: die Verheißung. 10.  In Jes. 38, 1 wird in prophetischer Rede zu Hiskija gesagt: »Be­ stelle dein Haus, denn du wirst sterben.« Dabei handelt es sich nicht um eine Prophetie der Vorherbestimmung; denn diese müßte sich ja in allen Punkten erfüllen, auch ohne unseren freien Willen. Es war aber auch keine Prophetie des Vorherwissens; denn daß dieses Ereignis zukünftig sein werde, war nicht Gegenstand des göttlichen Vorherwissen – sonst hätte Gott etwas Falsches vorhergewußt. Und es war auch keine Drohprophetie, weil das Ereignis ohne eine Be­ dingung angekündigt wurde. Also müßte man eine vierte Art von Prophetie annehmen. 11.  Dagegen wurde eingewandt: Das Ereignis sei entsprechend den untergeordneten Ursachen angekündigt worden; und daher sei

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es eine Drohprophetie. – Aber untergeordnete Ursachen für den Tod eines Kranken können dem Menschen aufgrund medizinischer Kenntnisse bekannt sein. Wenn also Jesaja diese Ankündigung nur aufgrund untergeordneter Ursachen ausgesprochen hätte, dann wäre das entweder überhaupt keine prophetische Rede, oder die pro­ phetische Rede würde sich nicht von einer medizinischen Prognose unterscheiden. 12.  Jede Prophetie beruht darauf, daß der Prophet entweder die höheren oder die untergeordneten Ursachen für die vorhergesagte Sache sieht. Wenn man die Prophetie als »bedingt« auffaßt, weil sie im Blick auf irgendwelche Ursachen, nämlich untergeordnete Ursa­ chen, vorgebracht wird, dann könnte man mit gleichem Recht jede Prophetie »bedingt« nennen. Das aber hieße, daß jede Prophetie von der gleichen Art wie die Drohprophetie wäre. 13.  Die Drohprophetie erfüllt sich nach den Worten Cassiodors zwar »nicht dem oberflächlichen Sinn nach, jedoch nach einer ver­ borgenen Bedeutung«. So erfüllte sich die Ankündigung des Jona: »In Ninive wird das Oberste zuunterst gekehrt«103, insofern »zwar die Mauern stehenblieben, die üblen Sitten aber zusammenbrachen«, wie Augustinus im Gottesstaat 104 schreibt. Das gleiche kommt aber auch bei der Prophetie des Vorherwissens und der Vorherbestim­ mung vor, nämlich daß sie sich nicht gemäß dem oberflächlichen Wortsinn, sondern in einem geistigen Sinn erfüllen – etwa Jes. 54, 11: »Ich werde Jerusalem auf Saphire gründen« oder Dan. 2, 34: »der Stein, der sich vom Berg löste, nicht von Menschenhand bewegt«, und das Standbild zerschmetterte, und vieles andere. Daher ist es nicht angebracht, die Drohprophetie von den anderen beiden Arten zu unterscheiden. 14.  Wenn jemandem zukünftige Ereignisse im Bild gezeigt wer­ den, nennt man ihn deswegen noch nicht Prophet, außer er ver­ steht auch, was die Bilder bedeuten. So wird der Pharao, der die Ähren und Rinder sah, nicht als Prophet bezeichnet: »Einsicht näm­ 103  Ninive subvertetur, wörtlich: »Ninive wird umgekehrt« oder »um­ gestürzt«; den Doppelsinn im Lateinischen kann man im Deutschen nicht gut nachahmen. 104  Augustinus, De civ. Dei XXI, 24 (PL 41, 739; CCSL 48, 792).

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lich braucht es in einer Vision«, steht bei Dan. 10, 1. Wer aber die Drohungen Gottes zu überbringen hat, versteht nur das, was der oberflächliche Sinn besagt, er wird nicht hinsichtlich der Bedeu­ tung erleuchtet – was man ganz deutlich an Jona erkennen kann, der die Prophezeiung so verstand, als werde Ninive buchstäblich, in seiner materiellen Beschaffenheit, zerstört. Daß die Stadt nicht zer­ stört, sondern gebessert wurde, schmerzte ihn, weil damit gleichsam die Prophezeiung sich nicht erfüllte. Er hätte aus diesem Grund gar nicht als Prophet bezeichnet werden dürfen, und auch die Drohpro­ phetie dürfte nicht unter die Arten der Prophetie gerechnet werden. Dagegen spricht die Glossa zu Mt. 1, 23: »Siehe, die Jungfrau wird empfan­ gen«, klar von dieser Dreiteilung und erläutert sie.105 Antwort: Die Prophetie leitet sich vom Vorherwissen Gottes ab, wie oben dargelegt wurde. Man muß jedoch verstehen, daß Gottes Vorher­ wissen von anderer Art ist als das Vorherwissen aller anderen Per­ sonen, die Zukünftiges erkennen. Was die Erkenntnis zukünftiger Ereignisse angeht, muß zweierlei in Betracht gezogen werden: zum einen die Ordnung der Ursachen im Hinblick auf zukünftige Ereig­ nisse, zum andern der tatsächliche Ausgang oder die Ausführung dieser Ordnung, das heißt: daß die Wirkungen aus den Ursachen tatsächlich eintreten. Jede geschaffene Kraft, die eine Erkenntnis des Zukünftigen hat, gelangt dazu einzig über die Ordnung der Ursachen. So heißt es, ein Arzt wisse den Tod des Kranken voraus, insofern er die natürlichen Ursachen kennt, die zum Tod führen, oder ein Sternkundiger wisse künftigen Regen oder Stürme voraus. Wenn es sich dabei um Ur­ sachen handelt, deren Wirkungen verhindert werden können, tritt nicht immer ein, was vorhergesagt war. 105  Daß die Glossa hier die einzige »Autorität« der Gegenseite ist, läßt den Rang dieser Quelle für Thomas und die mittelalterliche Theologie er­ kennen: Der Glossa kommt eine Wertschätzung zu, die nicht weit von der Hl. Schrift entfernt ist.

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Gott aber weiß das Zukünftige nicht nur aufgrund der Ordnung der Ursachen, sondern nach dem tatsächlichen Ausgang. Der Grund dafür ist, daß Gottes Blick das Maß der Ewigkeit hat, die alle Zei­ ten in einem einzigen unteilbaren Jetzt umfaßt. Daher schaut er in ­einem einfachen Blick die Ordnung der Ursachen und zugleich, wie diese Ordnung sich verwirklicht oder verhindert wird. Dergleichen ist einem Geschöpf unmöglich, weil sein Blick auf eine bestimmte Zeit festgelegt ist; es erkennt, was sich in dieser Zeit vollzieht. Zu­ künftige Ereignisse in der Zeit »sind«, solange sie zukünftig sind, nur in der Ordnung ihrer Ursachen, und daher können sie von uns nur auf diese Weise vorweg gewußt werden. Weswegen denen, die die Sache recht betrachten, klar wird: Wenn wir von uns sagen, wir wüßten Zukünftiges, dann haben wir eher ein Wissen vom Gegen­ wärtigen als vom Zukünftigen. Die Zukunft wirklich zu wissen, bleibt somit im wahrsten Sinn Eigenschaft Gottes. Manchmal wird die prophetische Offenbarung aus dem Vorher­ wissen Gottes entsprechend der Ordnung der Ursachen abgeleitet, manchmal aber auch entsprechend der tatsächlichen Ausführung oder Erfüllung dieser Ordnung. Wenn der Prophet die Offenbarung nur im Hinblick auf die Ursachenordnung erhält, nennt man die Prophetie Drohprophetie: Denn in diesem Fall wird dem Propheten nur geoffenbart, daß entsprechend der jetzigen Gegebenheiten je­ mand auf dies oder jenes hingeordnet ist. Die Erfüllung der Hinordnung aber kann auf zwei Weisen ge­ schehen: Manchmal allein aufgrund des Wirkens der Kraft Gottes – wie bei der Auferweckung des Lazarus, der Empfängnis Christi und dergleichen –, und unter dieser Hinsicht spricht man von Prophetie der Vorherbestimmung; denn nach den Worten des Damascenus106 bezieht sich die Vorherbestimmung Gottes auf das, was nicht in un­ seren Kräften liegt. Daher nennt man die [Prophetie der] Vorherbe­ stimmung eine Art Vorbereitung Gottes: Jemand bereitet das vor, was er selbst in eigener Person tun will, nicht ein anderer. Manches aber erfüllt sich auch durch die Wirkung anderer Ur­ sachen, sei es solcher der Natur oder des freien Willens. Und unter 106  Johannes Damascenus, De fide orthodoxa II, 30 (ed. E. M. Buytaert,

161).

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dieser Hinsicht fallen sie nicht unter die Vorherbestimmung, wohl aber unter das Vorherwissen. Weil die Prophetie um der Menschen willen gegeben ist, bezieht sich die Prophetie des Vorherwissens hauptsächlich auf Dinge, die durch den freien Willen der Menschen geschehen. Darum übergeht Hieronymus alle anderen geschaffenen Ursachen, und definiert diese Art von Prophetie nur durch die Er­ wähnung des freien Willens. Zu 1.  Die dreigliedrige Unterteilung des Hieronymus läßt sich, wie dargelegt, auf eine zweigliedrige zurückführen; denn die eine Art der Prophetie bezieht sich auf die Ordnung der Ursachen, die andere auf die tatsächliche Verwirklichung dieser Ordnung. Unter dieser Hinsicht ist die Einteilung Cassiodors berechtigt. Hierony­ mus aber unterteilt eines der beiden Glieder nochmals, daher kommt Cassiodor auf zwei, Hieronymus auf drei Glieder. Cassiodor ver­ wendet »Vorherwissen« in einem allgemeinen Sinn, also von allen Ereignissen, seien sie durch eine geschaffene oder ungeschaffene Kraft bewirkt. Hieronymus verwendet den Begriff mit einer ge­ wissen Einschränkung, nämlich nur im Hinblick auf die Ereignisse, welche nicht im eigentlichen Sinn unter die Vorherbestimmung fal­ len, das heißt mit anderen Worten, Ereignisse, die aus geschaffenen Kräften hervorgehen. Zu 2.  Jede Prophetie wurzelt gewissermaßen im Vorherwissen Gottes. Da Gottes Vorherwissen aber sowohl die Kenntnis der Ur­ sachenordnung wie die tatsächlich eintretenden Ereignisse umfaßt, leitet sich die eine Art von dem einen oder dem anderen Bereich her. Das Vorherwissen Gottes wird im eigentlichen Sinn deswegen so ge­ nannt, weil es den tatsächlichen Eintritt des zukünftigen Ereignisses schaut. Die Hinordnung der Ursachen auf den Ausgang ist nämlich bereits jetzt in der Gegenwart gegeben, weswegen man davon eher ein Wissen als ein Vorherwissen hat. Daher bezeichnet man eine Prophetie, welche auf der Ursachenordnung gründet, nicht als »Pro­ phetie des Vorherwissens«, sondern nur diejenige Prophetie, welche sich auf den tatsächlichen Eintritt des Ereignisses bezieht. Zu 3.  Hier werden die beiden Begriffe »Vorherwissen« und »Vor­ herbestimmung« als unterschieden gebraucht, insofern der Bereich des Vorherwissens den der Vorherbestimmung überschreitet. Das

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aber ist nicht nur bei den Bösen der Fall, wenn man den Begriff »Vorherbestimmung« strikt auffaßt, sondern bei allem Guten, das nicht einzig und allein durch die Kraft Gottes gewirkt wird. Daher ist das Argument nicht schlüssig. Zu 4.  Unsere Verdienste stammen sowohl aus der Gnade wie aus unserem freien Willen. Sie unterliegen aber der Vorherbestimmung nur, insofern sie in der Gnade wurzeln, die ja allein von Gott kommt. Das, was von unserem freien Willen kommt, unterliegt daher der Vorherbestimmung nur akzidentell. Zu 5.  Die Prophetie wird hier eingeteilt nach dem Inhalt des Pro­ phezeiten, aber nicht nach »gut« oder »schlecht«; denn solche Unter­ scheidungen sind lediglich akzidentell im Verhältnis zum Zukünfti­ gen, das der Erkenntnisgegenstand der Prophetie ist. Die Einteilung geschieht vielmehr nach dem Gesichtspunkt, ob die Ursachenord­ nung oder deren Ausgang erkannt wird. Zu 6.  Damit Christus empfangen werden konnte, bedurfte es der Zustimmung der Jungfrau Maria, allerdings nicht im Sinne eines Wirkens, sondern der Beseitigung eines Hindernisses: Es wäre ganz ungeziemend, ein solches Geschenk jemandem gegen seinen Willen zu verleihen. Zu 7.  Daß etwas zukünftig komme, kann man nicht nur in dem Sinn sagen, daß es wirklich so sein werde, sondern auch in dem Sinn, daß es in seinen Ursachen so angelegt sei, daß es so sein werde. So sagt der Arzt von jemandem, er werde gesunden oder sterben; und wenn es anders kommt, hat er deswegen nichts Falsches gesagt; denn das Zukünftige »war« zu diesem Zeitpunkt nur in der Ordnung seiner Ursachen, die aber auf ein Hindernis treffen kann. Und zu diesem Zeitpunkt ist das, was zukünftig gewesen war, nicht mehr zukünftig. Daher schreibt Aristoteles im 2. Buch Über Werden und Vergehen107, daß jemand, der jetzt im Begriff ist zu wandern, in der Zukunft nicht mehr einer sein wird, der im Begriff ist zu wandern.

107  Aristoteles, De gen. et corr. II, 11; 337 b 7, AL IX/1, 78: Quod enim verum dicere quia erit, oportet hoc esse quandoque. Quod autem nunc verum dicere, quia futurum est, nihil prohibet non generari; futurus enim utique incedere quis non incedet.

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Dementsprechend ist die Verkündigung einer Drohprophetie weder falsch noch zweifelhaft, auch wenn das Vorhergesagte nicht eintritt. Zu 8.  Wird die Drohprophetie auf die Ordnung der Ursachen be­ zogen – was ihr unmittelbarer Bezugspunkt ist –, dann gibt es in ihr keine Bedingtheit: Es ist nämlich absolut wahr, daß die Ord­ nung der Ursachen auf dieses bestimmte Ereignis ausgerichtet ist. Wird die Drohprophetie aber auf das Ereignis selbst bezogen, worauf sie sich nur indirekt bezieht, dann ist sie unter der Bedingung der Ursachenordnung zu verstehen. Dennoch ist diese Prophetie über­ natürlich; denn aufgrund natürlicher Erkenntnis kann man nicht wissen – auch dann nicht, wenn es einen offensichtlichen Grund gibt, wie etwa die bleibende Ungerechtigkeit –, daß diese Strafe, oder diese Strafe in bestimmter Weise, aufgrund der Gerechtigkeit Got­ tes erfordert ist. Zu 9.  Unter der Drohprophetie ist auch die Verheißung inbegrif­ fen, denn sie haben den gleichen Grund. Dennoch ist das Beispiel der Drohung deutlicher; denn häufiger kommt es vor, daß eine Drohung zurückgenommen wird als eine Verheißung. Gott ist mehr geneigt, Erbarmen zu haben als zu strafen. Zu 10.  Jene Prophetie fällt unter die Drohprophetie; und obwohl die Bedingtheit nicht ausdrücklich genannt wurde, muß man die Ankündigung dennoch unter einer impliziten Bedingtheit verste­ hen: daß die Ordnung der Dinge so bleibe, wie sie gerade sei. Zu 11.  Zu den untergeordneten Ursachen gehören nicht nur die natürlichen Ursachen, die etwa Ärzte vorhersehen können, sondern auch Ursachen, die mit dem Verdienst eines Menschen zu tun ha­ ben – und diese werden nur aufgrund einer Offenbarung Gottes erkannt. Aber auch die natürlichen Ursachen für Heilung oder Tod werden weit vollkommener aufgrund göttlicher Offenbarung erfaßt als durch menschlichen Scharfsinn. Zu 12.  Die höheren Ursachen, das heißt: die Gründe der Dinge im Wissen Gottes, bringen stets ihre Wirkungen hervor, sie versagen niemals, wie die untergeordneten Ursachen. Darum wird der tat­ sächliche Ausgang in den höheren Ursachen absolut sicher erkannt, in den untergeordneten Ursachen jedoch nur bedingt. Zu 13.  Wenngleich im Fall der Prophetie der Vorherbestimmung oder des Vorherwissens mit Hilfe von Bildern eine Wahrheit vor

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Augen gestellt wird, die sich erfüllen soll, so handelt es sich bei den Bildern nicht um den Literalsinn. Der Literalsinn ist vielmehr in der Bedeutung der Bilder zu sehen, wie es bei jeder metaphorischen Rede der Fall ist. Daher findet sich die Wahrheit einer solchen Pro­ phetie keineswegs in den Bildern, sondern einzig in dem, was die Bilder bezeichnen. Bei der Drohprophetie aber ist der Literalsinn der Prophetenworte in den Bildern zu sehen, die für die Dinge ver­ wendet werden, die sich ereignen werden; denn diese Bilder wer­ den nicht einfach als Bilder dargeboten, sondern gewissermaßen als Dinge. Daher gehört das Ereignis, das durch diese Bilder bezeichnet wurde, nicht zum Literalsinn, sondern zum mystischen Sinn. Wenn gesagt wird: »Ninive wird umgekehrt«, dann entspricht die mate­ rielle »Umkehrung« bzw. Zerstörung dem Literalsinn, die Umkeh­ rung als Abkehrung von den verdorbenen Sitten aber dem tropologi­ schen Sinn. Im Literalsinn dieser Prophetie aber ist eine bestimmte Wahrheit enthalten, entsprechend der Ordnung der Ursachen.108 Zu 14.  Im Traum wurden dem Pharao die Ähren und Kühe nicht als Dinge gezeigt, sondern nur als Sinnbilder. Darum verstand der Pharao, der nur die Bilder sah, nichts vom Sinn, und darum war er kein Prophet. Jona aber, dem gesagt worden war: Ninive wird um­ gekehrt, hatte Einsicht zumindest in eine Sache, nämlich daß die Verdienste der Stadt ihre Zerstörung heraufführen würden. Doch die andere Sache, die Bekehrung der Stadt, wußte er wahrscheinlich nicht voraus. Im Hinblick auf das, worin er keine Einsicht hatte, war er kein Prophet. Er und die anderen Propheten, welche Drohungen zu überbringen hatten, wußten jedoch, daß sie nicht eine Prophetie des Vorherwissens, sondern eben eine Drohprophetie verkündigten. Deswegen heißt im letzten Kapitel des Jona-Buches (Jona 4, 2): »Des­ wegen habe ich mich bemüht, nach Tarsus zu fliehen; denn ich weiß, daß du mild und erbarmungsvoll bist.«

108  D. h., hätte sich Ninive nicht bekehrt, dann wäre die durch das sit­ tenlose Verhalten – als inferior causa – begründete Strafe eingetreten und der Wortsinn hätte sich erfüllt.

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11. Artik el Die elfte Frage lautet: Ist in der Prophetie unwandelbare Wahrheit zu finden?109 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Wenn unwandelbare Wahrheit zur Definition der Prophetie gehört, dann gehört sie wesentlich zu ihr. Die nichtnotwendigen Ereignisse der Zukunft, als Gegenstand der Prophetie, sind aber von sich aus nicht unwandelbar, sondern nur in Bezug auf das Vorher­ wissen Gottes, wie Boethius schreibt.110 Daher sollte »unwandelbare Wahrheit« nicht in die Definition der Prophetie aufgenommen wer­ den. 2.  Alles, was sich nur erfüllt, wenn eine bestimmte veränderliche Bedingung gegeben ist, besitzt keine unwandelbare Wahrheit. Es gibt aber eine Art der Prophetie, nämlich die Drohprophetie, die sich nur unter einer derartigen, veränderlichen Bedingung erfüllt – dem Verharren in Gerechtigkeit oder Verkommenheit. Das ergibt sich aus Jer. 18, 8. Also besitzt nicht jede Prophetie unwandelbare Wahrheit. 3. Die Glossa zu Jes. 38, 1 sagt: »Gott enthüllt den Propheten sei­ nen Urteilsspruch, nicht aber seinen Plan«. An der gleichen Stelle wird auch gesagt, der Urteilsspruch sei wandelbar. 4.  Wenn die Prophetie unwandelbare Wahrheit besitzt, dann kann das auf drei Dinge zurückzuführen sein: entweder auf den Prophe­ ten und seine Schau oder auf den geschauten Inhalt oder auf den ewigen Spiegel, von dem die Schau kommt. Der erste Grund schei­ det aus, weil die menschliche Erkenntnis wandelbar ist; der zweite Grund ebenfalls, weil die Sache nicht-notwendig ist. Und auch der Spiegel kann keine unwandelbare Wahrheit verleihen, weil das gött­ liche Vorherwissen den Dingen keine Notwendigkeit auferlegt. 5.  Es wurde eingewandt, daß zwar das Vorherwissen Gottes den Dingen keine Notwendigkeit auferlegt, so daß sie nicht anders kom­ men könnten, daß es aber dennoch nicht anders kommt, als Gott vorhersieht. Auf diese Weise habe die Prophetie unwandelbare Wahrheit; denn »unwandelbar« sei nach Aristoteles etwas, was nicht 109  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  171, a.  6. Mit der Frage ist ge­ meint: Ist der Inhalt (der Prophetie) unwandelbar wahr? 110  Boethius, Philos. consol. V, pr. 6 (PL 63, 861 A; CCSL 94, 103).

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bewegt werden kann oder was sich nur schwer bewegt oder was sich nicht bewegt. – Dagegen aber ist zu sagen: Nimmt man etwas als möglich an, dann folgt nicht etwas Unmögliches. Wenn es mög­ lich ist, daß das Vorhergewußte und Prophezeite auch anders kom­ men kann, und angenommen, es kommt anders, dann würde eben nichts Unmögliches folgen; vielmehr ergibt sich, daß die Prophetie nur eine wandelbare Wahrheit besitzt. 6.  Die Wahrheit eines Satzes folgt dem Sein der Sache; denn »je nachdem, ob eine Sache ist oder nicht, ist die Rede wahr oder falsch«, nach den Worten des Aristoteles.111 Die Gegenstände der Prophetie sind aber nicht notwendig und wandelbar, also besitzt auch die pro­ phetische Verkündigung eine wandelbare Wahrheit. 7.  Man nennt eine Wirkung im Hinblick auf ihre unmittelbare Ursache »notwendig« oder »nicht-notwendig«, nicht im Hinblick auf die Erste Ursache. Obwohl die Erste Ursache unwandelbar ist, sind doch die unmittelbaren Ursachen der Ereignisse, von denen die Pro­ phetie spricht, wandelbar. 8.  Wenn die Prophetie unwandelbare Wahrheit besitzt, dann ist es unmöglich, daß etwas Prophezeites nicht eintritt. Wenn etwas prophezeit wurde, ist es unmöglich, daß es nicht prophezeit worden ist. Wenn also die Prophetie unwandelbare Wahrheit besitzt, dann muß notwendigerweise eintreten, was prophezeit wurde; und damit wären die nicht-notwendigen Dinge der Zukunft kein Gegenstand der Prophetie. Dafür spricht: 1.  In der Glossa zum Anfang des Psalters wird die Prophetie als »göttliche Einhauchung oder Enthüllung« bezeichnet, »die den Aus­ gang der Dinge mit unwandelbarer Wahrheit verkündigt«.112 2.  Die Prophetie ist »Anzeichen des Vorherwissens Gottes«, sagt Hieronymus. Das Vorhergewußte aber ist selber notwendig, inso­ fern es unter das Vorherwissen Gottes fällt. Daher ist auch das in der Prophetie Verkündete notwendig, wenn es solche Dinge zum Gegenstand hat. 111  Aristoteles, Cat. 5; 4 b 8; 12; 14 b 21. 112  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef. (PL 191, 58 B).

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3.  Gott kann etwas Wandelbares auf unwandelbare Weise wissen; denn sein Wissen zieht er nicht aus den Dingen selbst. Ebenso zieht auch der Prophet sein Wissen nicht aus den Dingen. Also beinhaltet die Prophetie unwandelbar Wahres hinsichtlich wandelbarer Dinge. Antwort: Bei der Prophetie sind zwei Dimensionen zu beachten: die in der Prophetie verkündeten Dinge und die Erkenntnis von ihnen. Beides scheint auf unterschiedliche Weise zustande zu kommen. Die pro­ phezeiten Dinge hängen unmittelbar von wandelbaren Ursachen als nächstliegenden Ursachen ab, von der unwandelbaren Ursache aber hängen sie wie von einer entfernten Ursache ab. Umgekehrt bei der prophetischen Erkenntnis: Sie hängt vom Vorherwissen Gottes als direkter Ursache ab, von den prophezeiten Gegenständen aber hängt sie nicht ursächlich ab, sie ist vielmehr nur ihr »Zeichen«113. Jede Wirkung aber, ob notwendig oder kontingent, richtet sich nach der zunächst liegenden Ursache, nicht nach der Ersten Ursache. Daher sind die prophezeiten Dinge wandelbar, die prophetische Erkennt­ nis aber unwandelbar wie das Vorherwissen Gottes, von dem es ab­ geleitet ist wie ein Abbild vom Urbild. Wenn es sich bei derjeni­ gen Wahrheit, die der Intellekt erkannt hat, um eine notwendige Wahrheit handelt, dann folgt daraus, daß auch die Rede, welche das sprachliche Zeichen des Verstandenen ist, eine notwendige Wahr­ heit ausdrückt. Ebenso folgt aus der Tatsache, daß das Vorherwissen Gottes unwandelbar ist, daß die Prophetie, welche ihr sprachlicher Ausdruck ist, unwandelbare Wahrheit enthält. Die Frage, wie Gottes Vorherwissen unwandelbar wahr sein kann, auch wenn es sich auf wandelbare Dinge bezieht, wurde bereits an anderer Stelle behandelt, in der Quaestio Über das Wissen Gottes114, so daß wir darauf nicht noch einmal eingehen müssen. Zu 1.  Es ist durchaus möglich, daß etwas einem Träger lediglich akzidentell zu eigen ist, wenn man diesen für sich betrachtet; daß es ihm aber wesentlich zu eigen ist, wenn noch etwas anderes hinzu­ 113  signum: kann auch »sprachlicher Ausdruck« bedeuten. 114  De ver., q.  2, a.  13.

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kommt. Ein Beispiel: Daß ein Mensch sich bewegt, ist ein Akzidens; insofern ein Mensch aber läuft, ist ihm die Bewegung wesentlich. So ist auch das, was prophetisch angekündigt wird, nicht von sich aus unwandelbar, sondern nur, insofern es prophetisch angekün­ digt ist. Darum hat die Unwandelbarkeit zu Recht ihren Platz in der Definition. Zu 2.  Die Drohprophetie enthält durchaus unwandelbare Wahr­ heit: Sie bezieht sich nämlich nicht auf den Ausgang der Dinge, son­ dern auf die Ordnung der Ursachen, die zu einem bestimmten Aus­ gang führen. Diese Ordnung, die der Prophet verkündet, ist not­ wendig, auch wenn der Ausgang nicht immer eintrifft. Zu 3.  Als »Ratschluß Gottes« wird der ewige Plan Gottes be­ zeichnet, das, was er anordnet und was sich niemals ändert. Daher spricht Gregor davon, daß »Gott niemals seinen Ratschluß ändert«. »Urteilsspruch« aber sagt man hinsichtlich einer Sache, auf die ir­ gendwelche Ursachen hingeordnet sind; denn Urteilssprüche wer­ den vor Gericht aufgrund dessen gefällt, was jemand verdient. In manchen Fällen ist das Ereignis, auf das diese Ursachen hingeord­ net sind, von Gottes Vorsehung seit Ewigkeit geplant: Dann fallen Ratschluß und Urteilsspruch zusammen. In anderen Fällen geht die Ursachenordnung auf etwas, was nicht von Ewigkeit her von Gott geplant ist, und hier beziehen sich Ratschluß und Urteilsspruch auf verschiedene Dinge. Im Bereich des Urteilsspruches, der sich auf un­ tergeordnete Ursachen bezieht, gibt es Wandelbarkeit, auf Seiten des Ratschlusses gibt es nur Unwandelbarkeit. Den Propheten aber wird zuweilen ein Urteilsspruch enthüllt, der zusammenfällt mit dem Ratschluß; und in diesem Fall enthält die Prophetie unwandelbare Wahrheit auch hinsichtlich des tatsächlichen Ausgangs der Dinge. Zuweilen aber wird ein Urteilsspruch enthüllt, der nicht zusammen­ fällt mit dem Ratschluß; und hier besitzt die Prophetie unwandel­ bare Wahrheit nur im Hinblick auf die Ursachenordnung, nicht aber im Hinblick auf den tatsächlichen Ausgang. Zu 4.  Die Unwandelbarkeit der Prophetie kommt vom Ewigen Spiegel. Dieser legt nicht den Dingen Notwendigkeit auf, sondern bewirkt, daß die Prophetie notwendig gilt, auch wenn sie sich auf nicht-notwendige Ereignisse bezieht, so wie es dem Vorherwissen Gottes entspricht.

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Zu 5.  Angenommen, etwas wird entsprechend dem Vorherwis­ sen Gottes prophezeit, dann ist zwar die Sache als solche immer noch in der Möglichkeit, nicht zu sein [d. h., sie wird dadurch nicht in sich notwendig], sie kann aber dennoch nicht anders sein, wenn sie als vorhergewußt verkündigt wird. Wenn man behauptet, sie sei vorhergewußt, dann behauptet man zugleich damit, daß sie so sein wird; denn das Vorherwissen bezieht sich auf das eintretende Ereignis. Zu 6.  Die Wahrheit eines Satzes entspricht der Lage der Dinge, vorausgesetzt, das Wissen dessen, der den Satz ausspricht, ent­ springt aus den Dingen. Genau das ist aber hier nicht der Fall. Zu 7.  Auch wenn die unmittelbare Ursache der prophezeiten Sa­ che wandelbar ist, so ist dennoch die unmittelbare Ursache der Pro­ phetie selbst unwandelbar, wie wir dargelegt haben. Zu 8.  Zu sagen, das Prophezeite ereigne sich nicht, ist genauso zu beurteilen wie zu sagen, das Vorhergewußte ereigne sich nicht. In welchem Sinn man das zugeben bzw. zurückweisen muß, wurde in der Quaestio Über das Wissen Gottes115 erläutert.

12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Ist diejenige prophetische Erkenntnis, die auf einer rein geistigen Schau beruht, von höherem Rang als dieje­ nige, bei der sich die geistige Schau mit der Schau der Vorstellungs­ kraft verbindet?116 Dies scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Jene prophetische Erkenntnis, welche eine geistige, intel­ lektuale Schau zusammen mit einer imaginativen Schau besitzt, schließt ja die rein geistige Schau mit ein. Daher müßte jene Prophe­ tie, welche beide Arten umfaßt, von höherem Rang sein als diejenige, die nur eine Art der Schau besitzt; denn das jeweils Umfassendere übertrifft den mit-umfaßten Teil. 2.  Das geistige Licht ist desto vollkommener, in je größerer Fülle es verliehen wird. Wird es in Fülle gegeben, so fließt es vom Intel­ 115  De ver., q.  2, a.  13. 116  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  174, a.  2.

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lekt in die Vorstellungskraft des Propheten über, um dort eine ima­ ginative Schau hervorzubringen. Somit müßte die Prophetie, wel­ che auch die imaginative Schau besitzt, die rein intellektuale Schau überragen. 3.  Von Johannes dem Täufer wird gesagt (Mt. 11, 9), er sei »Pro­ phet und mehr als ein Prophet«. Das wird deswegen gesagt, weil er Christus nicht nur rein geistig oder in der Vorstellungskraft sah  – wie die übrigen Propheten –, sondern auf ihn leibhaft mit dem Finger zeigte. Also ist die Prophetie, welche auch die körperliche Schau einschließt, die allerhervorragendste, und aus dem gleichen Grund überragt auch die Prophetie, welche die imaginative Vision einschließt, die rein intellektuale prophetische Schau. 4.  Etwas ist umso vollendeter, je umfassender sich in ihm die Ele­ mente finden, welche für die Spezies konstitutiv sind.117 Diese kon­ stituierenden Unterschiede sind im Fall der Prophetie die Schau und die Verkündigung. Jene Prophetie, welche auch die Verkündigung einschließt, ist offensichtlich vollkommener als die, der das fehlt. Verkündigung aber kann es nicht ohne imaginative Schau geben; denn der Verkündiger muß Bilder in seiner Rede zur Verfügung haben. 5.  In der Glossa zu jener Stelle 1 Kor. 14, 2: »Der Geist spricht Geheimnisse«, heißt es: »Derjenige, der nur die Bilder der damit be­ zeichneten Dinge innerlich schaut, ist in geringerem Maß Prophet; in höherem Maß Prophet ist derjenige, dem einzig das geistige Ver­ ständnis gegeben ist; im höchsten Maß Prophet ist, wer mit beidem ausgezeichnet ist.« 6.  Nach Rabbi Moses118 beginnt die Prophetie im Intellekt und vollendet sich in der Vorstellungskraft. Also ist eine Prophetie, wel­ che beides umfaßt, vollkommener. 7.  Die Schwäche des geistigen Lichtes in der Prophetie ist Anzei­ chen ihrer Unvollkommenheit. Auf diese Schwäche ist es anschei­ nend zurückzuführen, wenn die prophetische Schau nicht bis zur Vorstellungskraft herabreicht.

117  differentiae rationem speciei constituentes. 118  Moses Maimonides, Dux neutr. II, 37 (ed. A. Weiß, 245).

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8.  Es bedeutet größere Vollkommenheit, eine Sache für sich ge­ nommen und als Zeichen von etwas anderem zu erkennen als die Sache nur für sich zu erkennen. Aus dem gleichen Grund ist es voll­ kommener, eine Sache auch unter einem Zeichen zu erkennen als sie nur in sich zu erkennen. Dies ist bei derjenige Prophetie der Fall, welche die intellektuale und die imaginative Schau umfaßt: Der Ge­ genstand der Prophetie wird hier nicht nur in sich, sondern auch ­unter Bildern und Zeichen erkannt. 9. Nach Dionysius, Über die Himmlische Hierarchie119, ist es »unmöglich, daß der Strahl des göttlichen Lichtes uns anders auf­ strahle als in der Hülle heiliger Schleier«. Heilige Schleier nennt er die bildhaften Gestalten, worin der reine Strahl des geistigen Lichtes verhüllt ist. Also muß es in jeder Prophetie bildhafte Gestalten ge­ ben, die entweder vom Menschen geformt oder von Gott eingegeben sind. Die von Gott eingegebenen Bilder sind offensichtlich von höhe­ rem Rang als die vom Menschen selbst geformten. Somit ergibt sich, daß offenkundig die höchste Form der Prophetie diejenige ist, in der Gott beides gibt: das geistige Licht und die bildhaften Gestalten. 10. Hieronymus schreibt im Prolog zu den Königsbüchern120, daß ein Unterschied zwischen den Propheten und anderen heiligen Schriftstellern bestehe. Die von ihm als Propheten bezeichneten Personen empfingen aber fast allesamt ihre Offenbarungen unter Bildern und Gestalten; die Mehrzahl derer, welche er unter die »hei­ ligen Schriftsteller« reiht, erhielten ihre Offenbarung ohne Bilder. Damit gebührt der Prophetenname in eigentlicher Weise denjeni­ gen, denen die Offenbarung durch geistige und imaginative Schau zuteil wurde. 11.  Nach Aristoteles, 2. Buch der Metaphysik121, verhält sich un­ ser Intellekt zu den ersten Ursachen der Dinge, die an sich das am meisten Bekannte sind, »wie das Auge des Nachtvogels zum Licht 119  Dionysius Areopagita, De cael. hier. I, 2 (PG 3, 121 B; Dion. II, 733), übers. von Johannes Eriugena; zu den »bildhaften Gestalten« – figurae imaginariae: § 3. 120  Hieronymus, Praef. in libros Samuel et Malachim (PL 28, 599). 121  Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 9 (Aristoteles latinus XXV/2, ed. G. Vuillemin-Diem, Leiden 1976, 36).

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der Sonne«. Das Auge des Nachtvogels kann das Sonnenlicht nur unter einer gewissen Abschattung schauen. Ebenso erkennt unser Geist die göttlichen Dinge nur unter einer Abschattung, das heißt, unter irgendwelchen Bildern. Somit wäre die geistig-intellektuale Schau nicht sicherer als die imaginative; denn beide sind mit Bil­ dern verbunden. Die mit der geistigen Schau verbundene imagina­ tive Schau mindert somit anscheinend deren Vollkommenheit nicht. Also ist die Prophetie, welche beide Schauungen umfaßt, entweder von größerer oder wenigstens von gleicher Vorzüglichkeit. 12.  Der Gegenstand der Vorstellungskraft verhält sich zu ihr wie der Gegenstand des Intellekts zu diesem. Das Vorstellbare wird aber von der Vorstellungskraft nur mittels eines Bildes aufgenommen; das gleiche gilt vom Intelligiblen, wenn es vom Intellekt aufgenom­ men wird. Für die Gegenseite sprechen folgende Argumente: 1.  In der Glossa zum Anfang des Psalters heißt es: »Eine weitere Art der Prophetie übertrifft alle anderen: die Prophetie allein auf­ grund der Einhauchung des Hl. Geistes, ohne Unterstützung durch ein äußeres Mittel – durch ein Ereignis, durch ein Wort, eine Vi­ sion, einen Traum.« Eine Prophetie, mit der eine imaginative Schau verbunden ist, geschieht mit Unterstützung durch eine Vision oder einen Traum. Also ist die Prophetie, welche auf der rein geistigen Schau beruht, von höherer Würde. 2.  Was von jemandem aufgenommen wird, wird entsprechend der Weise des Aufnehmenden aufgenommen. Der Intellekt, der etwas in intellektualer Schau aufnimmt, ist von höherem Adel als die Vor­ stellungskraft, die etwas in bildhafter Schau aufnimmt. 3.  Im Falle einer intellektualen Schau gibt es keine Täuschung; denn wer sich täuscht, hat eben keine Einsicht, wie Augustinus im Buch Über die wahre Religion122 schreibt. Eine bildhafte Schau aber enthält sehr häufig Falsches beigemischt. Im 4. Buch der Metaphysik123 wird sie gewissermaßen als Quelle der Täuschung bezeichnet. 122  Augustinus, De vera rel. 34, 64 (CCSL 32, 229); deutlicher in: De div. quaest. 83, q.  32 (CCSL 44A, 46). 123  Aristoteles, Met. IV, 5; 1010 b 2; AL XXV/2 (Translatio media), 77.

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4.  Wenn eine der seelischen Fähigkeiten von ihrer Tätigkeit abge­ halten wird, wird eine andere stärker. Wenn also die Vorstellungs­ kraft ruht, dann wird die intellektuale Schau um so stärker sein. 5.  Die Seelenkräfte verhalten sich zueinander genau so wie ihre jeweiligen Akte. Ein Intellekt, welcher nicht mit einer Vorstellungs­ kraft verbunden ist, nämlich der Intellekt des Engels, steht höher als der Intellekt, der mit der Vorstellungskraft verbunden ist, nämlich der des Menschen. Also steht auch eine Prophetie, die nur die intel­ lektuale Schau hat, höher. 6.  Für eine Tätigkeit ein Hilfsmittel zu brauchen, zeigt die Un­ vollkommenheit des jeweiligen Handelnden an. In der Glossa zum Anfang des Psalters wurde die imaginative Schau als »unterstüt­ zendes Mittel« bezeichnet. Daher ist die entsprechende Prophetie unvollkommener. 7.  Je entfernter Schatten oder Nebel vom Licht sind, desto klarer ist es. Bildhafte Gestalten aber sind gewissermaßen Nebel, durch die das geistige Licht umschattet wird. Daher heißt es bei Isaak124, die menschliche Vernunft, welche von den Vorstellungsbildern abstra­ hiert, erhebe sich im Schatten des Verstehens. Darum ist die Pro­ phetie, welche das geistige Licht ohne Bilder besitzt, vollkommener. 8.  Der ganze Adel der prophetischen Erkenntnis besteht darin, ein Abbild des göttlichen Vorherwissens zu sein. Ohne bildhafte Schau ist sie aber ein viel deutlicheres Abbild des göttlichen Vorher­ wissens; denn in ihm gibt es keine Bilder. Antwort: Das, was eine Spezies ausmacht, besteht in dem, was die Gattung und die Differenz ausmacht. Deswegen kann man die Würde einer Spezies von diesen zwei Dimensionen her gewichten. Ausgehend von dieser Betrachtung zeigt sich, daß sie sich gegenseitig in be­ stimmter Hinsicht übertreffen. Was die Spezies selbst angeht, so hat jeweils dasjenige die Spezies in vollkommenerer Weise verwirklicht, in dem sich die differentia specifica – jener Unterschied, der die Spezies formal konstituiert – 124  Algazali, Liber de definitionibus (ed. Muckle, Algazel’s Metaphy­ sics: a Medieval Translation, Toronto 1933, 313).

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in vorzüglicherer Weise findet. Einfachhin gesprochen ist zuweilen dasjenige vornehmer, worin das Wesen der Gattung vollkommener gegeben ist, zuweilen das, worin das Wesen der Differenz vollkom­ mener gegeben ist. Da die Differenz, bzw. der artbildende Unter­ schied, das Wesen der Gattung weiter vervollkommnet, bewirkt die Vortrefflichkeit in diesem Bereich, daß etwas schlechthin von höhe­ rem Rang ist. Ein Beispiel: innerhalb der Spezies Mensch, als einem »vernunftbegabten Sinnenwesen«, ist derjenige einfachhin edler, der im Bereich der Vernunft kraftvoller ist, als derjenige, der seine Vor­ züge im Bereich dessen hat, was alle Sinnenwesen besitzen – wie etwa sinnliche Wahrnehmung, Bewegung und dergleichen. Wenn aber der artbildende Unterschied eine Unvollkommenheit mit-bedeutet, dann ist schlechthin dasjenige von höherem Rang, was das Wesen der Gattung vollständiger enthält. Beispielsweise ist das so beim Glauben, der der Definition nach eine »Erkenntnis im Rätsel« (1 Kor. 13, 12) ist, nämlich »von Dingen, die man nicht sieht« (Hebr. 11, 1). Wer also das Wesen der Gattung in reichem Maß ver­ wirklicht, aber im Bereich der den Glauben spezifizierenden Diffe­ renz einen Mangel hat – also ein Gläubiger, der schon zu einer Art Einsicht in die Glaubensgegenstände gelangt ist und sie in gewis­ ser Weise bereits »sieht« –, hat einen vollkommeneren Glauben als derjenige, der weniger erkennt; doch hinsichtlich der Definition des Glaubens hat derjenige in eigentlicherer Weise den Glauben, der gar nichts von dem sieht, was er glaubt. Und ebenso ist es bei der Prophetie. Die Prophetie ist anscheinend eine Erkenntnis, die mit Schatten und Dunkel vermischt ist, wie es in 2 Petr. 1, 19 heißt: »Das Wort der Propheten ist für euch noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten; denn es ist gewissermaßen ein Licht, das an einem finsteren Ort leuchtet.« Auch der Name »Pro-phetie« zeigt dies an; denn das Wort bedeutet »Schau von ferne«125. Dagegen wird das, was man klar erkennt, ge­ wissermaßen aus der Nähe gesehen. 125  Vgl. Thomas, Super Is. 1,1 (ed. Leon. XXVIII, 8 z.  19 f., 36–40): Der »Prophet« wird etymologisch gedeutet als jemand, dem »Entferntes erscheint«, procul phanos bzw. procul videns, oder auch als jemand, der »von fernen Dingen spricht«: procul fans.

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Wenn wir also einen Vergleich anstellen im Hinblick auf den art­ bildenden Unterschied, der die Definition der Prophetie vervollstän­ digt, verwirklicht diejenige Prophetie, welche eine imaginative Vi­ sion bei sich hat, die Definition vollständiger und eigentlicher; denn auf diese Weise wird die Erkenntnis der Wahrheit im Fall der Pro­ phetie umschattet. Wenn wir aber den Vergleich im Hinblick auf das Wesen der Gat­ tung führen, also im Hinblick auf »Erkenntnis« oder Schau, dann müssen wir noch einmal unterscheiden. Jede Erkenntnis erfordert zu ihrer Vollständigkeit zwei Aspekte: die Aufnahme des Inhalts und das Urteil darüber. Das Urteil über den aufgenommenen Inhalt vollzieht sich einzig im Intellekt; die Aufnahme aber geschieht so­ wohl durch den Intellekt wie durch die Vorstellungskraft. Es kommt vor, daß in einer prophetischen Erkenntnis keinerlei übernatürliche Aufnahme von Inhalten stattfindet, sondern ledig­ lich ein übernatürliches Urteil; der Intellekt allein wird erleuchtet, ohne irgendeine imaginative Vision. Wahrscheinlich war die In­ spiration Salomos126 von dieser Art, insofern er über die Sitten der Menschen und die Vorgänge der Natur, die wir natürlicherweise aufnehmen, aufgrund göttlichen Antriebs sicherer urteilte als die übrigen Menschen. Zuweilen aber ist auch die Aufnahme des Inhalts übernatürlich, und dies ebenfalls zweifach: Entweder geschieht die Aufnahme durch die Vorstellungskraft, wenn nämlich durch göttliche Einwir­ kung im Propheten127 innere Bilder geformt werden. Oder sie ge­ schieht vom Intellekt her, wenn die Erkenntnis der Wahrheit ihm in solcher Klarheit eingegossen wird, daß er die Wahrheit nicht mit­ tels der Ähnlichkeit irgendwelcher Bilder aufnimmt, sondern daß er, weil er die Wahrheit erblickt, selbst Bilder formen kann, deren er sich bedient, weil es dem Wesen unseres Intellekts so entspricht. 126  Thomas bezieht sich auf die dem König Salomo zugeschriebenen Weisheitsbücher: die »Sprüche Salomos« (Spr), das Buch Kohelet (Koh) und das Hohelied (Hld). 127  Wörtl.: in spiritu prophetae. Wenn spiritus im Zusammenhang der »dreifachen Schau« (triplex visio) verwendet wird, ist das Wort gleich­ bedeutend mit imaginatio. Es kann daher nicht mit »Geist« übersetzt wer­ den.

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Unmöglich aber ist eine prophetische Erkenntnis, die nur die Auf­ nahme und kein Urteil umfaßte; und darum gibt es auch keine Pro­ phetie, die nur aus einer imaginativen Vision bestünde, ohne die intellektuale. Damit ist auch klar, daß die rein geistige Schau, die nur das Urteil und keine übernatürliche Aufnahme enthält, gegenüber derjenigen, welche Urteil und imaginative Schau verbindet, untergeordnet ist. Jene rein geistige Schau aber, die Urteil und eine übernatürliche geistige Aufnahme verbindet, steht wiederum höher als diese. Und unter dieser Hinsicht ist zuzugestehen, daß die Prophetie aufgrund einer allein geistigen Schau von höherem Rang ist als diejenige, wel­ che mit einer bildhaften Schau verbunden ist. Zu 1.  Obwohl jene Prophetie, die in den beiden Arten der Schau besteht, auch die intellektuale Schau besitzt, schließt sie dennoch nicht diejenige Prophetie mit ein, die allein in der geistigen Schau besteht. Diese besitzt nämlich einen hervorragenderen Grad der geistigen Schau; denn der Empfang des geistigen Lichtes ist in die­ sem Fall hinreichend zur Aufnahme des Inhalts und zum Urteil, während in der erstgenannten Prophetie das Licht nur zum Urteil reicht. Zu 2.  In beiden Fällen fließt das Licht der Prophetie vom Intellekt aus zur Vorstellungskraft, jedoch auf unterschiedliche Weise: Im einen Fall, wo einzig die intellektuale Schau gegeben ist, wird die ganze Fülle der prophetischen Offenbarung im Intellekt empfangen; so, wie es die einsehende Person für gut und richtig befindet, werden in der Vorstellungskraft entsprechende Bilder geformt, weil unser Intellekt so beschaffen ist, daß er zu seiner Tätigkeit der Vorstel­ lungsbilder bedarf. Im anderen Fall wird nicht die ganze Fülle der prophetischen Offenbarung im Intellekt empfangen, sondern nur teilweise, nämlich im Hinblick auf das Urteil, teilweise aber in der Vorstellungskraft, hinsichtlich der Aufnahme des Inhalts. Darum ist die in jener Prophetie, die nur in der intellektualen Schau gründet, eben diese intellektuale Schau in vollerem Maße gegeben. Wird das Licht nur mangelhaft im Intellekt aufgenom­ men, dann kommt es vor, daß die prophetische Erkenntnis gewis­ sermaßen, in einer bestimmten Hinsicht, von der rein geistigen Er­

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kenntnis zu Bildern in der Vorstellungskraft absinkt, wie es auch im Traum geschieht. Zu 3.  Im Falle Johannes des Täufers, der auf Christus mit dem Finger hinwies, geht es nicht um die prophetische Schau – die wir jetzt vergleichend erörtern –, sondern eher um die Verkündigung. Daß er Christus leiblich sah, verlieh Johannes keine prophetische Begabung von neuer Vollkommenheit, sondern war eine Gabe Got­ tes, welche über die Prophetie hinausging. Deswegen steht bei Lk. 10, 24: »Viele Könige und Propheten wollten sehen, was ihr seht …«. Zu 4.  Die Verkündigung durch Worte oder Taten ist beiden Ar­ ten von Prophetie gemeinsam; denn auch diejenige Prophetie, die in rein geistiger Schau gründet, kann in Bildern verkünden, die sie nach Belieben formt. Zu 5.  Jene Stelle aus der Glossa spricht von demjenigen Prophe­ ten, dessen Intellekt nur das Urteil über Dinge besitzt, die von e­ inem anderen aufgenommen worden sind. So hatte Joseph nur das Urteil über das, was der Pharao geschaut hatte; Joseph selbst empfing nicht den Inhalt der zukünftigen Ereignisse. Darum betrifft das Argu­ ment nicht jene rein intellektuale Prophetie, von der wir jetzt spre­ chen. Zu 6.  In diesem Punkt kann man die Ansicht des Rabbi Moses nicht halten: Er nahm an, daß die Prophetie Davids geringeren Rang habe als die des Jesaja oder Jeremia. Die heiligen Kirchenväter aber sagen das Gegenteil. Seine Ansicht enthält jedoch auch etwas Wah­ res, daß nämlich ein Urteil zu seiner Vollständigkeit der Vorlage der zu beurteilenden Gegenstände bedarf. Wenn nur das geistige Licht für das Urteil empfangen wird, bewirkt dieses noch keine be­ stimmte Erkenntnis im Empfänger, bis nicht der Inhalt vor Augen steht, über den zu urteilen ist; dieser Inhalt kann entweder vom Propheten selbst oder von jemand anderem aufgenommen worden sein. In diesem Sinn wird die geistige Schau durch die imaginative vollendet, wie etwas Allgemeines durch etwas Spezielles näher be­ stimmt wird. Zu 7.  Nicht immer ist es auf den schwachen Grad des intellektua­ len Lichtes zurückzuführen, wenn eine Prophetie nur die intellek­ tuale Schau umfaßt. Im Gegenteil: manchmal ist dies der Fall, weil der Intellekt das Licht in höchster Fülle empfängt.

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Zu 8.  Ein Zeichen als solches ist Ursache der Erkenntnis; etwas Bezeichnetes aber ist das, was durch etwas anderes bekannt wird. Etwas wird auf hervorragendere Weise erkannt, wenn es in sich und als Ursache anderer Erkenntnisse erkannt wird, als wenn etwas nur in sich erkannt wird. Ebenso gilt umgekehrt: Etwas, was durch sich selbst erkannt wird und nicht durch Vermittlung von etwas ande­ rem, wird in vorzüglicherer Weise erkannt – wie z. B. die Erkenntnis der Prinzipien im Verhältnis zu den Schlußfolgerungen. Weil es sich hier umgekehrt wie im Fall von Zeichen und Bezeichnetem verhält, ist das Argument nicht schlüssig. Zu 9.  Zwar sind die Bilder, welche durch göttliches Wirken einge­ geben werden, von edlerer Art als diejenigen, die der Mensch selbst formt; aber der Empfang von Erkenntnis im Intellekt aufgrund gött­ lichen Wirkens übertrifft seinerseits den Empfang von Erkenntnis mittels Bilder und Gestalten. Zu 10.  In der hier angeführten Unterscheidung werden speziell jene Personen Propheten genannt, die eine imaginative Schau hat­ ten, und zwar deswegen, weil die Definition der Prophetie bei ihnen vollständiger verwirklicht ist, auch im Hinblick auf die artbildende Differenz.128 »Heilige Schriftsteller« aber werden diejenigen genannt, die einzig geistige Schauungen hatten, sei es nur im Hinblick auf das Urteil, sei es im Hinblick auf Urteil und Empfang des Inhalts. Zu 11.  Obwohl unser Intellekt die göttlichen Dinge mittels einer Art von Ähnlichkeiten oder Abbildern129 erkennt, so sind diese, da immateriell, doch von höherem Rang als die gestalthaften Bilder. Daher ist die geistige Schau von höherem Rang. Zu 12.  Das Wesen einer Sache kann unmöglich Gegenstand der Vorstellungskraft sein, wohl aber ist das Wesen Gegenstand des In­ tellekts. Die Vorstellungskraft bezieht sich nur auf Körperliches, aber sie kann dennoch dieses nur ohne Materie aufnehmen. Das bedeutet, 128  D. h. im Hinblick auf die der Prophetie eigentümliche »Dunkelheit« bzw. das »procul videre« der Propheten. 129  Thomas unterscheidet hier mit Bedacht »similitudines« von »ima­ gines« bzw. »imaginariae similitudines«: Die eine Art von »Bildern« ist »immateriell«, ausschlaggebend ist, dass sie eine »Ähnlichkeit« zu dem haben, was sie versinnbilden. Andere Bilder sind »gestalthaft«.

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daß die Vorstellung von einer Sache nicht ihr Wesen, sondern stets ihr Abbild enthalten muß. Der Intellekt aber nimmt etwas auf im­ materielle Weise auf; hier wird nicht nur Körperliches, sondern auch Unkörperliches erkannt. Daher wird manches von ihm dem Wesen nach, anderes aufgrund eines Ähnlichkeitsbildes erkannt. Die Antwort auf die entgegengesetzten Argumente liegt auf der Hand, weil sie eine falsche Schlußfolgerung ziehen.

13. Artik el Die dreizehnte Frage lautet: Lassen sich die Grade der Prophetie an­ hand der jeweiligen Schau in der Vorstellungskraft unterscheiden?130 Dafür spricht: 1.  Die prophetische Erkenntnis ist von desto höherem Rang, je höherrangig die Aufnahme des Inhalts ist. Zuweilen wird der Inhalt durch eine imaginative Schau aufgenommen. Also kann man auf­ grund dessen die Grade der Prophetie bestimmen. 2.  Je vollkommener das Erkenntnismittel, desto vollkommener die jeweilige Erkenntnis – deswegen ist das »Wissen« vollkomme­ ner als die »Meinung«. Die Bilder in der Vorstellungskraft aber sind das Medium der Erkenntnis in der Prophetie. Wo also die imagi­ native Vision vollkommener ist, da ist auch ein höherer Grad von Prophetie. 3.  Im Bereich der Erkenntnis, die mittels Abbildern geschieht, ist jeweils diejenige Erkenntnis vollkommener, die auf einem ausdrück­ licheren Bild gründet. In der Prophetie sind die Bilder und Figuren die Abbilder der offenbarten Dinge. Wo also eine vollkommenere imaginative Schau gegeben ist, da ist auch ein höherer Grad der Prophetie verwirklicht. 4.  Da das Licht der Prophetie vom Intellekt in die Vorstellungs­ kraft herabsteigt, ist die imaginative Schau um so vollkommener, je vollkommener das Licht im Intellekt des Propheten ist. Verschiedene Grade der imaginativen Schau zeigen also verschiedene Grade der 130  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  174, a.  3.

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geistigen Schau an. Wo aber die geistige Schau vollkommener ist, da ist auch die Prophetie vollkommener. 5.  Es wurde eingewandt, daß Unterschiede innerhalb der imagi­ nativen Vision keine Unterscheidung hinsichtlich der spezifischen Art »Prophetie« bewirken, weswegen sich daraus auch keine Grade der Prophetie ableiten lassen. – Dagegen wurde argumentiert, daß jedes elementare Warme131 von der gleichen Spezies sei und die Ärzte dennoch vier Grade unterscheiden. Eine Unterscheidung von Graden fordert also nicht unbedingt eine Unterscheidung von ­Spezies. 6.  Das »Mehr« oder »Weniger« bringt keinen Unterschied der Spezies mit sich. Auch hinsichtlich der intellektualen Schau unter­ scheidet man nur eine vollkommenere oder weniger vollkommene Aufnahme des Lichtes durch den Propheten. Die Unterschiede in der intellektualen Schau bringen also keinen Unterschied der Spezies mit sich; ebensowenig die Grade, laut der eben zitierten Antwort. Es gäbe also in der Prophetie überhaupt keine Grade, wenn man sie nicht aufgrund der intellektualen oder imaginativen Schau unter­ scheiden würde. Es bleibt also nur übrig, die Grade entsprechend der imaginativen Schau zu unterscheiden. Dagegen spricht: 1.  Nicht die imaginative Schau macht jemanden zum Propheten, sondern einzig die intellektuale. Daher werden die Grade der Pro­ phetie nicht im Hinblick auf die imaginative Schau unterschieden. 2.  Wesentliche Unterschiede innerhalb einer Spezies werden von dem hergeleitet, was sie formal bestimmt. Der formale Aspekt ist in der Prophetie die intellektuale Schau, während die imaginative ge­ wissermaßen den materialen Aspekt bildet. Also unterscheiden sich die Grade der Prophetie entsprechend der intellektualen und nicht entsprechend der imaginativen Schau. 3.  Die imaginativen Visionen variieren selbst im Fall eines einzel­ nen Propheten häufig; denn zuweilen empfängt er die Offenbarung auf diese, ein andermal auf jene Art. 131  Aristoteles, De gen. animal. II, 3; 736 b 29 ff.; AL XVII/2, 54. Vgl. Thomas von Aquin, Sent. II, d.  18, q.  2, a.  3.

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4.  Die Wissenschaft verhält sich zu den gewußten Gegenstän­ den wie die Prophetie zum Gegenstand der Prophetie. Die Wissen­ schaften aber unterscheiden sich nach ihrem Gegenstand, wie es im 3. Buch Über die Seele132 heißt. Daher unterscheidet sich auch die Prophetie nach dem jeweiligen Gegenstand, nicht nach der imagi­ nativen Vision. 5.  Nach der Glossa zum Anfang des Psalters133 besteht die Pro­ phetie »in Worten und Taten, in Traum und Vision«. Das heißt, die Grade der Prophetie müßten genauso hinsichtlich »Worten und Ta­ ten« unterschieden werden wie hinsichtlich der imaginativen Schau, auf die sich »Traum und Vision« beziehen. 6.  Auch Wunder sind zur Prophetie erforderlich: Als Mose von Gott seine Sendung erhielt, bat er um ein Zeichen, Ex. 3, 13. Und in Ps. 73, 9 heißt es: »Zeichen für uns sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da.« Ebensogut wie nach der imaginativen Vision könnte man also die Grade der Prophetie nach den Wunderzeichen unter­ scheiden. Antwort: Wenn für eine Sache zwei Dinge konstitutiv sind, wovon das eine ursprünglicher ist als das andere, kann man einen Vergleich von Graden anstellen hinsichtlich dessen, was ursprünglicher ist, und hinsichtlich dessen, was nachgeordnet ist. Ist das Ursprüngliche in einem außerordentlich hohen Maß verwirklicht, so zeigt es den Rang der Sache schlechthin an. Ist das Nachgeordnete in außeror­ dentlichem Maß verwirklicht, dann zeigt es den Rang der Sache unter einer bestimmten Hinsicht, nicht schlechthin – außer das her­ ausragende Maß des Nachgeordneten ist auch das Zeichen für ein herausragendes Maß im Ursprünglichen. Ein Beispiel: Zum Verdienst eines Menschen tragen zwei Dinge bei: die übernatürliche Liebe als das Ursprüngliche, das äußere Werk als das Nachgeordnete. Spricht man vom Verdienst schlechthin, das heißt im Hinblick auf den wesentlichen Lohn, dann wird dasjenige Verdienst als höher beurteilt, das aus einer größeren Liebe hervor­ 132  Aristoteles, De an. III, 8; 431 b 24–25. 133  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., praef. (PL 191, 58 C).

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geht. Die Größe des Werkes aber macht das Verdienst unter einer bestimmten Hinsicht größer, das heißt im Hinblick auf einen bei­ gegebenen, akzidentellen Lohn, nicht aber schlechthin – außer die Größe des Werkes ist Zeichen für die Größe der Liebe. So sagt G ­ regor der Große134: »Die Liebe zu Gott wirkt Großes, wenn sie da ist.« Da zur Prophetie die intellektuale Schau gleichsam als ursprüng­ liches Konstituens, die imaginative Schau gleichsam als nachgeord­ netes beitragen, ist derjenige Grad der Prophetie schlechthin als her­ vorragender zu beurteilen, bei dem die intellektuale Schau hervorra­ gender ist. Ist die imaginative Schau herausragend, so zeigt sie einen unter bestimmter Hinsicht, nicht schlechthin, herausragenden Grad an – außer, die Vollkommenheit der imaginativen Schau ist Anzei­ chen für die Vollkommenheit der intellektualen. Von Seiten der in­ tellektualen Schau kann man jedoch keine genau bestimmten Grade ableiten; denn die Fülle des geistigen Lichtes wird nur an Zeichen erkennbar. Diese Zeichen also müssen zur Grundlage für die Un­ terscheidung von Graden dienen. Und so können vier Grade unter­ schieden werden. Erstens, nach den Elementen, die zur Prophetie gehören. Die Pro­ phetie umfaßt den Akt der Schau und der Verkündigung. Zur Schau sind wiederum zwei Dinge erforderlich: das Urteil durch den Intel­ lekt und die Aufnahme des Inhalts, die zuweilen über den Intellekt, zuweilen über die Vorstellungskraft stattfindet. Zur Verkündigung sind ebenfalls zwei Dinge notwendig. Das eine betrifft die Person des Verkündigers: eine gewisse Wagemutigkeit, so daß er sich nicht fürchtet, die Wahrheit trotz ihrer Gegner zu sagen. So sprach der Herr zu Ezechiel, Ez. 3, 8: »Ich gab dir ein Angesicht, kraftvoller als ihre Gesichter, und eine Stirn härter als die ihre«, worauf dann folgt: »zittere nicht vor ihnen und fürchte dich nicht vor ihrem Gesicht« (Ez. 3, 9). Das andere betrifft die zu verkündigende Sache: Es bedarf eines Zeichens, das ihre Wahrheit bestätigt. Daher erhielt Mose vom Herrn ein Zeichen, damit ihm geglaubt werde. Weil aber die Verkündigung in der Prophetie nicht das Ursprüng­ liche ist, sondern die Folge, ist der unterste Grad der Prophetie in 134  Gregor der Große, Homiliae in Evangelia II, 30, 2 (FC 28/2, 554; CCSL 141, 257).

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demjenigen verwirklicht, der eine gewisse Kühnheit besitzt, eine Bereitwilligkeit, etwas zu sagen oder zu tun, auch ohne daß ihm eine Offenbarung zuteil wurde. In diesem Sinn können wir einen Grad von Prophetie im Simson annehmen; »Prophetie« wird hier in einem weiten Sinn verstanden, insofern jeder übernatürliche Ein­ fluß sich auf die Prophetie zurückführen läßt.135 Der zweite Grad ist in demjenigen gegeben, der die intellektuale Schau nur hinsichtlich des Urteils besitzt, wie Salomo. Der dritte Grad findet sich in dem­ jenigen, der die intellektuale Schau zusammen mit der imaginativen besitzt, wie Jesaja und Jeremia. Der vierte Grad ist in demjenigen ge­ geben, der die Fülle der intellektualen Schau sowohl hinsichtlich des Urteils wie hinsichtlich des empfangenen Inhalts besitzt, wie David. Zweitens können die Grade der Prophetie unterschieden wer­ den nach der Disposition des Propheten: Insofern die Prophetie im Traum und in einer Vision im Wachzustand gegeben werden kann, wie es in Num. 12, 6 heißt, ist die im Wachen empfangene Prophetie vollkommener als die im Traum; denn zum einen ist im Wachzu­ stand der Intellekt besser imstande zu unterscheiden, zum andern geschieht die Entrückung von den Sinnen nicht auf natürliche Weise (wie im Schlaf), sondern aufgrund der vollkommenen Ausrichtung der inneren Kräfte auf das, was von Gott her gezeigt wird. Drittens kann man Grade unterscheiden, indem man die Art und Weise des Offenbarungsempfangs betrachtet: Je deutlicher der Ge­ genstand der Prophetie bezeichnet wird, desto erhabener ist der Grad der Prophetie. Kein Zeichen vermag eine Sache deutlicher auszu­ drücken als Worte. Daher handelt es sich um einen höheren Grad der Prophetie, wenn Worte vernommen werden, welche die Sache klar bezeichnen – wie etwa im Fall des Samuel, 1 Sam 3, 4 –, als wenn Gestalten gezeigt werden, welche Abbilder für etwas anderes sind, wie der brodelnde Kochtopf, der Jeremia gezeigt wurde (Jer. 1, 13). Daraus läßt sich ganz klar sehen: Das prophetische Licht wird in sei­ ner Kraftfülle besser aufgenommen, wenn der Inhalt der Prophetie in einem ausdrücklicheren Abbild gezeigt wird. Viertens kann man auch Grade unterscheiden hinsichtlich der of­ fenbarenden Person. Ein höherer Grad ist gegeben, wenn derjenige, 135  Die »Richter« galten als »Propheten«.

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der die Worte spricht, gesehen wird, als wenn nur Worte gehört werden. Das gilt für den Traum wie für den Wachzustand. Daran zeigt sich nämlich, daß der Prophet in der Erkenntnis der offenba­ renden Person weiter fortgeschritten ist. Wird der Sprechende ge­ schaut, dann handelt es sich um einen höheren Grad, wenn er wie ein Engel als wenn er wie ein Mensch geschaut wird. Noch höher ist der Grad, wenn er in der Gestalt Gottes geschaut wird136, so wie bei Jesaja (Jes. 6, 1): »Ich sah den Herrn sitzen …«. Da die Prophetie von Gott her zum Engel und vom Engel zum Menschen herabsteigt, erweist sich die Vollkommenheit ihrer Aufnahme daran, wie nahe der Prophet dem ersten Ursprung der Prophetie kommt. Die Argumente, welche zeigen wollen, daß sich die Grade der Pro­ phetie nach der imaginativen Vision einteilen lassen, sind also zu­ zugeben, in dem Sinn, wie wir es eben dargelegt haben. Man kann freilich nicht sagen, daß die Unterscheidung von Graden eine Unter­ scheidung der Spezies erforderlich macht. Auf die Gegengründe antworten wir der Reihe nach: Zu 1.  Die Antwort ergibt sich aus dem eben Dargelegten. Zu 2.  Eine Differenzierung zwischen mehreren Arten muß unter dem Gesichtspunkt der formalen Bestimmung vorgenommen wer­ den. Eine Unterscheidung von Graden innerhalb einer Art aber kann auch aufgrund des materialen Aspekts getroffen werden. So kann man bei einem Sinnenwesen »männlich« und »weiblich« unterschei­ den, Unterschiede, die in der Materie gründen, wie es im 10. Buch der Metaphysik heißt.137 Zu 3.  Da das Licht der Prophetie keine bleibende Eigenschaft im Propheten ist, sondern eine Art vorübergehendes Erleiden, muß der Prophet keineswegs immer im gleichen Grad der Prophetie stehen. 136  Im Deutschen sind die Unterschiede des Lateinischen nicht leicht nachzuahmen: man kann die »species« (Gestalt) eines Menschen oder ­eines Engels – als Geschöpfe – schauen. Species bezeichnet das Aussehen, aber auch das Wesen einer Art, die »Spezies«. Wenn dagegen Gott vom Propheten geschaut wird, dann »in figura Dei«, was weniger als »species« bedeutet. 137  Aristoteles, Met. X, 9; 1058 b 21.

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Im Gegenteil: Manchmal wird ihm die Offenbarung in dem einen, manchmal in einem anderen Grad zuteil. Zu 4. Da zuweilen erhabenere Gegenstände weniger vollkom­ men erkannt werden – etwa, wenn man über göttliche Dinge eine »Meinung«, über geschaffene Wirklichkeiten aber »Wissen« hat –, kann man aus den Inhalten der Prophetie keine Grade ableiten, vor allem auch deswegen nicht, weil dem Propheten die Dinge, die er verkündigen soll, entsprechend der Disposition der Adressaten of­ fenbart werden, um derentwillen die Prophetie gegeben wird. – Man könnte ebenfalls antworten, daß auch aufgrund der Gegenstände Grade unter­schieden werden, daß aber die allzu große Vielfalt der geoffenbarten Gegenstände es unmöglich macht, bestimmte Grade der Prophetie aufgrund dieses Kriteriums zu bestimmen. Das ginge höchstens in allgemeinem Sinn, etwa wenn man sagt: Wenn etwas über Gott geoffenbart wird, dann ist das ein höherer Grad von Pro­ phetie, als wenn etwas über die geschaffene Wirklichkeit geoffen­ bart wird. Zu 5.  Die hier erwähnten »Worte und Taten« beziehen sich nicht auf die prophetische Offenbarung, sondern auf die Verkündigung. Diese geschieht je nach der Disposition der Adressaten. Daher ist das keine Unterscheidungskriterium für die Grade der Prophetie. Zu 6.  Die Gnade, Wunder und Zeichen zu wirken, ist von der Prophetie verschieden, kann aber auf die Prophetie zurückgeführt werden, insofern durch Wunderzeichen die Wahrhaftigkeit des Propheten bestätigt wird. Unter diesem Gesichtspunkt überragt die Wundergabe die Prophetie, ebenso wie eine Wissenschaft, welche einen Warum-Beweis (demonstratio propter quid) führen kann, jene Wissenschaft überragt, welche einen Daß-Beweis (quia) führt. Darum wird die Wundergabe in 1 Kor. 12, 9 vor der Prophetie ge­ nannt. Deswegen hat auch derjenige Prophet den höchsten Rang, der die prophetische Offenbarung und die Gabe der Wunderzeichen hat. Wenn er allerdings Wunder vollbringt, ohne eine prophetische Of­ fenbarung erhalten zu haben, dann ist er deswegen, im Hinblick auf die Prophetie, nicht von höherer Würde, mag er auch, schlechthin betrachtet, von höherer Würde sein. Er wird vielmehr dem unter­ sten Grad der Prophetie zugezählt, wie derjenige, der die Kühnheit zu Taten besitzt.

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14. Artik el Die vierzehnte Frage lautet: Hat Mose alle anderen Propheten über­ ragt?138 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Nach einem Wort Gregors des Großen »nahm mit dem Fort­ schreiten der Zeit die Kenntnis von Gott zu«. Demnach überragten die späteren Propheten Mose. 2. Die Glossa zum Beginn des Psalters sagt über David, er sei in herausragender Weise Prophet. Daher war nicht Mose der heraus­ ragendste. 3.  Durch die Hand des Joschua, der die Sonne und den Mond stillstehen ließ (Jos. 10, 12), geschahen größere Wundertaten als durch Mose, ebenso durch Jesaja, der die Sonne zurückwandern ließ (Jes.  38, 8). Also war Mose nicht der größte der Propheten. 4.  Im Buch Sirach (Sir. 48, 4 f.) wird von Elija gesagt: »Wer kann sich gleich dir rühmen, der du einen Toten auferstehen ließest?« 5. Im Matthäus-Evangelium (Mt. 11, 11) heißt es über Johannes den Täufer: »Unter allen von einer Frau Geborenen erstand kein Größerer als Johannes der Täufer.« Also war auch Mose nicht größer. Dagegen spricht: 1.  Im letzten Kapitel des Buches Deuteronomium (Dt. 34, 10) steht: »Es erstand fernerhin kein Prophet mehr in Israel wie Mose.« 2.  Auch in Num. 12, 6 heißt es: »Wenn einer unter euch Prophet des Herrn wird, dann rede ich im Traum oder in einer Vision zu ihm; nicht ist es so mit Mose, meinem Knecht, der in meinem gan­ zen Haus der treueste ist.« Daraus ergibt sich, daß er den anderen Propheten vorgezogen wird. Antwort: Unter bestimmter Hinsicht können verschiedene Propheten aus verschiedenen Gründen als größer bezeichnet werden; einfachhin aber war der größte von allen Mose. In ihm finden sich alle vier zur Prophetie erforderlichen Elemente in herausragendem Maß.

138  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  174, a.  4.

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Erstens ward ihm die intellektuale Schau in höchstem Maß zuteil, so daß er sogar bis zur Schau des Wesens Gottes erhoben wurde, wie Num. 12, 8 sagt: »Offen, nicht in Bildern und Rätseln sieht er Gott.« Diese seine Gottesschau wurde nicht durch einen Engel vermittelt, wie es bei anderen prophetischen Schauungen der Fall war. Darum heißt es an der gleichen Stelle: »Ich spreche von Mund zu Mund mit ihm.« Das sagt auch ausdrücklich Augustinus im Brief an Paulina Über das Schauen Gottes und im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis139. Zweitens besaß er die imaginative Schau in vollendeter Weise; denn er hatte sie sozusagen, wann er wollte, wie aus Ex. 33, 11 her­ vorgeht: »Der Herr sprach mit ihm von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mensch mit seinem Freund zu reden pflegt.« Daraus wird noch ein weiterer Vorzug seiner imaginativen Schau deutlich: Er hörte nicht nur die Worte der offenbarenden Person, sondern sah sie, und zwar nicht in der Gestalt eines Menschen oder Engels, sondern gleichsam Gott selbst, nicht im Traum, sondern im Wachen. Das liest man von keinem anderen Propheten. Drittens war seine Verkündigung von höchstem Rang. Alle frü­ heren Propheten belehrten ihre Familien in der Art der Weisung, wie sie ein Lehrer dem Schüler gibt (per modum disciplinae). Mose war der erste, der von der Seite des Herrn selbst her sprach: »So spricht der Herr«; und er sprach nicht nur zu einer Familie, sondern zum ganzen Volk. Was er vom Herrn her zu verkündigen hatte, war nicht, daß das Volk auf die Worte eines anderen, früheren Propheten achtgeben solle, wie die späteren Propheten dahin führen wollten, daß es das Gesetz Moses beobachten sollte. Die Verkündigung der 139  Augustinus, Ep. 147, 13 (PL 33, 610; CSEL 44, 285 f.); Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 27 (CSEL 28/1, 422). Jedoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Augustinus hier von Thomas nicht ganz zu Recht als Gewährsmann für seine Ansicht herzugezogen wird; denn Augustinus ist offenbar selbst nicht schlüssig, wie die beiden Schrift-Stellen Ex. 33, 20–23 (»Du kannst mein Angesicht nicht sehen«) und Num.  12, 6–8 (Mose »schaute die Herrlichkeit / die Klarheit des Herrn«), zu vereinen sind. Die Mehrzahl der patristischen und mittelalterlichen Quellen ist in der Frage zurückhaltend bis ablehnend. Es entbehrt nicht der Wahrscheinlichkeit, daß Thomas’ abweichende Ansicht von Moses Maimonides inspiriert ist.

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früheren Propheten war eine Vorbereitung auf das Gesetz Moses, und dieses bildete sozusagen das Fundament für die Verkündigung der folgenden Propheten. Viertens überragte Mose auch in den Dingen, die mit der Ver­ kündigung in Zusammenhang stehen, die übrigen. Was die Wun­ der betrifft, so wirkte er Zeichen, die das ganze Volk bekehren und belehren sollten; andere Propheten wirkten einzelne Zeichen, die auf bestimmte Personen oder bestimmte Aufgaben bezogen waren. Darum heißt es in Deuteronomium, Kap. 34: »Es erstand kein Pro­ phet mehr in Israel wie Mose, den Gott der Herr von Angesicht zu Angesicht kannte.« Auch trugen seine Wunder zur Größe der Offenbarung bei, »in allen Zeichen und schreckenerregenden Wundern, die Gott durch ihn kommen ließ, auf daß er sie wirke im Land Ägypten, vor dem Pharao und all seinen Knechten«, und weiter unten heißt es: »Gro­ ßes und Wunderbares vollbrachte Mose vor ganz Israel« (Dtn. 34, 10–12). Was die Kühnheit angeht, so zeigt sich Mose als der größte: Al­ lein mit einem Stab stieg er nach Ägypten hinab, nicht nur um die Worte Gottes zu verkünden, sondern auch, um Ägypten mit Plagen zu schlagen und das Volk zu befreien. Zu 1.  Das Wort Gregors ist im Hinblick auf das Geheimnis der Menschwerdung zu verstehen. Was dieses Geheimnis betrifft, emp­ fingen einige spätere Propheten eine ausdrücklichere Offenbarung als Mose, nicht aber, was die Erkenntnis Gottes in seiner Göttlich­ keit betrifft; hierin wurde am vollständigsten Mose unterwiesen.140 Zu 2.  David wird als der hervorragendste der Propheten bezeich­ net, weil er am deutlichsten über Christus prophezeite, und zwar ohne bildhafte Schau.141 140  Anspielung auf die Offenbarung des Gottesnamens: Sum qui sum, welcher nach der Überzeugung der Väter und aller mittelalterlichen Theo­ logen die Einzigartigkeit und Absolutheit des göttlichen Seins zum Aus­ druck bringt. 141  D. h., der Psalter, der David zugeschrieben wurde, enthält eine kla­ rere Prophetie über Christus als etwa die Bileam-Prophetie, wo der Mes­

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Zu 3.  Mögen auch die genannten Wunder, was das Geschehnis selbst betrifft, größer als die Wunder des Mose gewesen sein, so übertreffen diese jene doch im Hinblick darauf, wie sie gewirkt wur­ den: Sie geschahen vor dem ganzen Volk, mit dem Ziel, das Volk im neuen Gesetz einzuwurzeln und es zu befreien. Jene anderen Wun­ der aber betrafen nur einzelne Aufgaben. Zu 4.  Die herausragende Stellung des Elija ist vor allem darin zu sehen, daß er vor dem Tod bewahrt wurde. Er überragte auch viele andere Propheten hinsichtlich seiner Kühnheit, da »er sich zeitle­ bens nicht fürchtete vor den Großen«, und hinsichtlich der Größe seiner Wunder, wie sich aus Sir. 38, 13–15 ergibt. Zu 5.  Die Vorrangstellung des Mose ist hinsichtlich der Prophe­ ten des Alten Testaments zu verstehen: Damals war in eigentlichem Sinn das Zeitalter der Prophetie, da das Kommen Christi, auf den alle Prophetie ausgerichtet ist, noch erwartet wurde. Johannes aber gehört zum Neuen Testament; deswegen heißt es Mt. 11, 13: »Ge­ setz und Propheten bis zu Johannes …«. Im Neuen Testament ge­ schieht eine deutlichere Offenbarung, weswegen es in 2 Kor 3, 18 heißt: »Wir aber spiegeln mit enthülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn«. Damit zieht der Apostel sich und die anderen Apostel ausdrücklich dem Mose vor. Doch aus der Tatsache, daß niemand größer war als Johannes der Täufer, folgt nicht, daß niemand als Prophet von höherem Rang ge­ wesen sein könnte. Weil die Prophetie keine Gabe ist, die mit der heiligmachenden Gnade notwendig verbunden ist, kann jemand als Prophet mächtiger sein, der an Verdiensten geringer ist.

sias im Bild des »aufgehenden Sternes« oder des »Szepters in Juda« gese­ hen wird.

XIII. VOM RAPTUS

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Was ist ein Raptus? 2. Schaute Paulus im Raptus die Wesenheit Gottes? 3. Ist es möglich, daß der Intellekt eines Menschen im Pilger­ stand zur Schau des göttlichen Wesens erhoben wird, ohne daß er dabei den Sinnen entrückt wird? 4. Wie tiefgreifend muß die Entrückung sein, damit der Intel­ lekt des Menschen Gott in seiner Wesenheit schauen kann? 5. Was wußte der Apostel Paulus in Bezug auf seinen Raptus, und was wußte er nicht?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Was ist ein Raptus?1 Von den Lehrern wird der Raptus folgendermaßen definiert: »Rap­ tus ist eine Erhöhung aus dem der Natur entsprechenden Zustand in einen der Natur widersprechenden Zustand, und zwar durch die Kraft einer höheren Natur«2. Diese Definition scheint nicht ange­ messen; denn: 1.  Augustinus sagt, die Erkenntniskraft des Menschen erkenne Gott von Natur aus. Wenn nun der Mensch im Raptus zur Erkennt­ nis Gottes erhoben wird, dann wird er nicht zu etwas erhoben, was seiner Natur widerspricht, sondern was ihr entspricht. 2. Der geschaffene Geist steht in tieferer Abhängigkeit vom ungeschaffenen Geist als ein niederer Körper von einem höheren. Daß höhere Körper auf untergeordnete einen Einfluß ausüben, ist für diese natürlich, wie Averroes zum 3. Buch Über den Himmel 1  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  175, a.  1; Super 2 Cor., cap. 12, lect. 1, n.  449. 2  Vgl. Albertus Magnus, Quaestio de raptu (ed. Col. XXV/2, 85–96).

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schreibt.3 Also ist auch die Erhöhung des menschlichen Geistes nur natürlich, selbst wenn sie durch die Kraft einer höheren Natur ge­ schieht. 3.  Über die Stelle Röm. 11, 24: »Wider deine Natur bist du ­einem guten Ölbaum eingepflanzt worden«, heißt es in der Glossa: »Gott als Schöpfer der Natur tut nichts gegen die Natur; denn eben dies ist für ein jedes Wesen seine Natur, was es von ihm empfängt – von ihm, von dem alles Maß und Ordnung der Natur stammen.«4 Die Erhöhung des Raptus geschieht durch Gott, den Schöpfer der menschlichen Natur – also nicht gegen die Natur. 4.  Es wurde eingewandt: »Gegen die Natur« heiße hier »aufgrund göttlichen Wirkens« und nicht nach dem Maß5 des menschlichen Geistes. – Aber dagegen läßt sich Dionysius anführen, der im 8. Kap. Über die göttlichen Namen schreibt: »Gottes Gerechtigkeit wird darin erkannt, daß er allen Dingen nach ihrem Maß und Würde zuteilt.«6 Gott kann nicht etwas im Widerspruch zu seiner Gerech­ tigkeit tun. Also teilt er keinem Wesen etwas zu, was nicht dessen Maß entspricht. 5.  Wenn das Maß eines Menschen in irgendeiner Hinsicht geän­ dert wird, so hebt doch diese Veränderung nicht das Gut des Men­ schen auf; denn Gott ist nicht die Ursache, daß der Mensch schlech­ ter wird, wie Augustinus im Buch Über 83 verschiedene Fragen7 schreibt. Das Gut des Menschen aber besteht darin, gemäß der Ver­ nunft zu leben und mit freiem Willen zu handeln, wie Dionysius, Über die göttlichen Namen, Kap. 48, schreibt. Gewaltanwendung ist dem freien Willen entgegengesetzt und macht das Gut der Vernunft zunichte – deswegen nämlich »macht uns der Zwang traurig, weil er dem freien Willen entgegengesetzt ist«, schreibt Aristoteles im 5. Buch der Metaphysik9. Daher scheint es von Gott her keine ge­ 3  Averroes, In De caelo III, comm. 20 (V, 187 F). 4  Petrus Lombardus, Glossa in Ps., zu Röm. 11 (PL 191, 1488 B). 5  Der entscheidende Begriff in diesem Einwand ist modus – Maß, Art,

Weise. 6  Dionysius Areopagita, De div. nom. VIII, 7 (PG 3, 893 D; Dion. I, 433). 7  Augustinus, De diversis quaestionibus 83, q.  3 (CCSL. 44A, 12). 8  Dionysius Areopagita, Div. nom. IV, 32 (PG 3, 733 A; Dion. I, 309). 9  Aristoteles, Met. V, 5; 1015 a 28.

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waltsame Erhebung des Menschen wider seine Natur zu geben, was offenbar beim Raptus der Fall wäre, wie die Wortbedeutung nahe­ legt und die angeführte Definition zum Ausdruck bringt, wenn sie formuliert: »durch die Kraft einer höheren Natur«. 6.  Nach Aristoteles, im 3. Buch Über die Seele10, fügt das Über­ maß im Bereich der Sinne dem Sinnesvermögen Schaden zu, nicht aber ein Übermaß im Bereich des Erkennbaren dem Intellekt. Da­ her versagt das Sinnesvermögen bei der Erkenntnis herausragender Gegenstände seines Bereichs. Der Intellekt dagegen ist von Natur aus imstande, intelligible Gegenstände von beliebiger Erhabenheit zu erkennen. Wozu auch immer der menschliche Intellekt erhoben würde, es wäre keine Erhöhung wider die Natur. 7.  Augustinus schreibt im Buch Über Geist und Seele11, daß En­ gel und menschliche Seele von ihrer Natur her gleichrangig, aber von ihrer Aufgabe her unterschieden seien. Wenn es also der Natur des Engels nicht widerspricht, das zu schauen, wozu der Mensch im Raptus erhoben wird, dann ist diese Erhöhung auch für den Men­ schen nicht gegen seine Natur. 8.  Nehmen wir an, eine Bewegung ist natürlich und gelangt auch natürlicherweise zu ihrem Ziel, weil ja keine Bewegung unendlich ist. Die Seele des Menschen aber bewegt sich natürlicherweise auf Gott zu, wie sich offenkundig daran zeigt, daß sie nicht ruht, bis sie zu ihm gelangt – wie Augustinus im 1. Buch der Bekenntnisse sagt: »Du hast uns auf Dich hin erschaffen, o Herr, und unruhig ist un­ ser Herz, bis es ruht in dir.«12 Dann ist also die Erhebung, in der der Mensch zu Gott gelangt, nicht wider die Natur. 9.  Doch es wurde eingewandt: Zu Gott erhoben zu werden, sei für den menschlichen Geist, für sich genommen betrachtet, nicht natürlich, sondern nur, wenn es Gott gewähre, das heißt also: eine solche Erhöhung ist nicht schlechthin natürlich. – Aber dagegen ist 10  Aristoteles De an. III, 7; 429 a 29. 11  Thomas bezieht sich auf Pseudo-Augustinus, De spir. et an.; deutli­

cher ist das Gemeinte in De lib. arb. III, 11, 32 (PL 32, 1287; BAC 21, 382; CCSL 29, 294): Animae sunt enim rationales et illis superioribus officio quidem impares sed natura pares …. 12  Augustinus, Conf. I, 1, 1 (PL 32, 661; CCSL 27, 1).

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zu sagen: Keine untergeordnete Natur wirkt oder strebt nach einem Ziel, ohne daß Gott es gewährt (ex praestitutione divina). Deswegen kann man das Wirken der Natur auch als »vernünftiges« Wirken ist bezeichnen; und dennoch reden wir bei den Naturdingen einfach von natürlichen Bewegungen und Tätigkeiten. Wenn es also für den Menschen im Hinblick auf die Gewährung Gottes natürlich ist, zu Gott erhoben zu werden, dann darf man eine solche Erhebung auch einfachhin für natürlich halten. 10.  Die Seele ist an sich, d. h. als geistiges Wesen (spiritus), frü­ her als in der Verbindung mit dem Leib, d. h. als »Seele« im engeren Sinn (anima). Die Tätigkeit der Seele als Geistwesen besteht in der Erkenntnis Gottes und der getrennten Substanzen; ihre Tätigkeit als mit dem Leib verbundene besteht in der Erkenntnis der körperlichen und sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Früher ist also der Seele die Erkenntnis der geistigen als der sinnenhaften Gegenstände gegeben. Wenn die Erkenntnis des Sinnenhaften für sie natürlich ist, dann auch die Erkenntnis des Geistigen und Göttlichen. 11. Die Hinordnung auf das letzte Ziel liegt tiefer in der Na­ tur begründet als die Hinordnung auf ein mittleres Ziel; denn die Hinordnung auf das Mittlere ist nur wegen des Letzten gegeben. Die sinnenhaft erkennbaren Dinge sind gewissermaßen Mittel, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen, Röm. 1, 20: »Das Unsichtbare Gottes wird erblickt durch die Erkenntnis dessen, was erschaffen wurde.« Die Erkenntnis des Sinnenhaften aber ist für den Menschen natür­ lich, also auch die Erkenntnis des Geistigen. 12.  Wenn etwas durch irgendeine natürliche Kraft bewirkt wird, kann man es nicht schlechthin »gegen die Natur« nennen. Manche Dinge, wie Pflanzen oder Steine, haben die natürliche Kraft, den Geist des Menschen von den Sinnen zu lösen, so daß er Wundersa­ mes schaut. Das scheint das Gleiche wie beim Raptus zu sein. Dagegen spricht: 1. Die Glossa sagt zu jener Stelle 2 Kor. 12, 2: »Ich kenne einen Menschen in Christus etc.«: »Weggerafft bedeutet: entgegen der Na­ tur erhoben«.13 Also ist der Raptus eine Erhebung gegen die Natur. 13  Petrus Lombardus, Coll. in ep. Pauli, PL 192, 80 A.

1. Artikel

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Antwort: Ein jedes Ding hat als das, was es ist, seine ihm eigene Tätigkeit – etwa das Feuer oder der Stein. Ebenso hat der Mensch als Mensch eine ihm natürliche Tätigkeit. Bei allen natürlichen Dingen kann das natürliche Wirken auf zwei Weisen verändert werden: Einmal aufgrund eines Mangels im Bereich der eigenen Kraft des Dinges, sei es, daß dieser Mangel durch eine äußere, sei es, daß er durch eine innere Ursache kommt – etwa wenn aufgrund eines Mangels in der formenden Kraft der Same zu einer verunstalteten Frucht wächst. Auf die andere Weise kann das natürliche Wirken verändert werden durch das Wirken Gottes; denn seinem Wirken gehorcht die ganze Natur auf einen Wink hin – das geschieht bei Wundern, wenn die Jungfrau empfängt oder der Blinde das Augenlicht bekommt. So kann auch das dem Menschen als Menschen eigentümliche Wirken auf zwei Weisen verändert werden. Die dem Menschen eigentümliche Tätigkeit ist die Erkenntnis mittels der Vorstellungskraft und der Sinne. Einzig den geistigen Wirklichkeiten anzuhängen, unter Verzicht auf alles Untergeord­ nete, ist nicht die Tätigkeit des Menschen, insofern er Mensch ist, sondern insofern in ihm etwas Göttliches ist, wie es im 10. Buch der Ethik heißt.14 Einzig den mit den Sinnen wahrnehmbaren Dingen anzuhangen, unter Außerachtlassung von Einsicht und Verstand, ist ebenfalls nicht die Tätigkeit des Menschen als solchen, sondern entspricht der Natur, die er mit den vernunftlosen Tieren gemein­ sam hat. Sein der Natur entsprechender Erkenntnismodus ändert sich also dann, wenn er etwas sieht, wobei er von den Sinnen »ab­ gezogen«, von ihnen entrückt ist. Eine derartige Veränderung kann auf einen Mangel in der eigenen Kraft zurückzuführen sein, wie es bei den Wahnsinnigen und anderen Personen der Fall ist, deren Geist gebunden ist. Auf diese Weise von Sinnen zu sein, ist keine Erhöhung des Menschen, sondern viel mehr eine Erniedrigung. Auf eine andere Weise aber kann es zu einer Entrückung von den Sin­ nen kommen aufgrund göttlichen Einwirkens, und das ist wirklich eine Erhöhung: denn das Wirkende gleicht sich das Erleidende an, und so wird der Mensch durch die göttliche Kraft, die ihn überragt, 14  Aristoteles, Eth. Nic. X, 7; 1177 b 27.

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hinweg- und hinaufgezogen in einen Zustand, der höher ist als der natürliche. Die oben zitierte Beschreibung des Raptus, in der er als eine Art Bewegung definiert wird, verweist auf die Gattung: er wird »Erhe­ bung« genannt; auf die Wirkursache verweist der Ausdruck »durch einer höheren Natur Kraft«, auf Anfang und Ende der Bewegung die Bestimmung: »vom Zustand, der der Natur entspricht, in einen Zustand, der der Natur nicht entspricht«. Zu 1.  Man kann Gott auf vielerlei Weise erkennen: durch sein Wesen, durch die sinnenhaften Dinge, auch durch die geistigen Wirkungen. Ebenso ist zu unterscheiden in Bezug auf das, was für den Menschen natürlich ist: Für ein und dieselbe Sache kann, be­ rücksichtigt man jeweils unterschiedliche Zustände, etwas der Na­ tur entsprechen und der Natur entgegen sein. Nach Rabbi Moses15 handelt es sich nicht um dieselbe Natur einer Sache, wenn sie im Werden ist und wenn sie vollendet ist. Für einen ausgewachsenen Menschen ist vollständige Größe und dergleichen natürlich, es wäre aber unnatürlich, wenn ein Kind in voller Größe geboren würde. Man muß daher antworten, daß es für den Geist des Menschen in jedem Zustand natürlich ist, Gott auf irgendeine Weise zu erkennen. Zu Anfang, im Pilgerstand, ist es für ihn natürlich, Gott mittels der sichtbaren Schöpfung zu erkennen. Es ist aber für den Menschen na­ türlich, zur Erkenntnis Gottes, wie er in sich selbst ist, zu gelangen, dann, wenn der Mensch seine Vollendung in der ewigen Heimat erreicht hat. Wenn er also noch im Pilgerstand zu einer Erkenntnis Gottes wie in der Heimat erhoben wird, dann ist das gegen die Na­ tur sein – so, wie wenn ein eben geborenes Kind einen Bart hätte. Zu 2.  Unter Natur kann man zweierlei verstehen: die spezifische Natur einer jeden Sache und die Natur im allgemeinen, also die ge­ samte Ordnung der natürlichen Ursachen. Dementsprechend kann etwas in zweierlei Hinsicht »naturgemäß« oder »naturwidrig« ge­ nannt werden, entweder im Hinblick auf die spezifische Natur der Sache oder auf die Natur im allgemeinen. Zum Beispiel ist Verderb­ nis, Verfall oder Alterung gegen die spezifische Natur, und doch 15  Maimonides, Dux neutr. II, 18 (17) (ed. A. Weiß, 110).

1. Artikel

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entspricht es der allgemeinen Natur, daß alles, was aus Gegensätzen zusammengesetzt ist, auch zerfällt. In der umfassenden Ordnung der Natur aber gilt, daß das Niedrigere vom Höheren bewegt wird; daher ist jede Bewegung einer untergeordneten Natur, die auf den Einfluß einer höheren zurückgeht – sei es im körperlichen oder im geistigen Bereich –, naturgemäß hinsichtlich der allgemeinen Na­ turordnung. Sie ist aber nicht immer naturgemäß hinsichtlich der spezifischen Natur, sondern nur, wenn die Wirkung der höheren Natur auf die untergeordnete zu deren Natur gehört. Somit dürfte deutlich geworden sein, wie man Gottes Wirken auf die Geschöpfe als naturgemäß oder als wider die Natur bezeichnen kann. Zu 3.  Daraus ergibt sich auch die Antwort auf das dritte Argu­ ment. Man könnte auch antworten, daß jene Erhebung wider die Natur sei, insofern sie wider den gewöhnlichen Lauf der Natur ist; so legt die Glossa Röm. 11, 2416 aus. Zu 4.  Obwohl Gott niemals etwas tut, was der Gerechtigkeit wi­ derspricht, so handelt er doch zuweilen außerhalb des Rahmens der Gerechtigkeit. Gegen die Gerechtigkeit ist es, wenn jemandem etwas genommen wird, was ihm geschuldet ist, etwa wenn unter Men­ schen einer dem anderen etwas stiehlt. Wenn er aber aus Freigebig­ keit etwas gibt, was nicht geschuldet ist, dann ist das nicht wider die Gerechtigkeit, sondern außerhalb der Gerechtigkeit. Wenn also Gott den Geist des Menschen bereits im Zustand der Pilgerschaft über sein Maß hinaushebt, dann handelt er nicht wider die Gerechtigkeit, sondern außerhalb ihres Rahmens. Zu 5.  Wenn das Werk eines Menschen den Charakter des Ver­ dienstes haben soll, muß es der Vernunft und dem Willen gemäß getan werden. Das Gut jedoch, das dem Menschen im Raptus zuteil wird, ist nicht von dieser Art. Daher ist es nicht nötig, daß es aus dem Willen des Menschen hervorgeht, es genügt einzig die Kraft Gottes. Man kann hier auch nicht schlechthin von »Gewaltanwen­ dung« sprechen, außer in dem Sinn, daß ein Stein, wenn er nach un­ ten gestoßen wird, eine »gewaltsam« schnellere Bewegung durch­ macht, als sie seiner natürlichen Disposition entspricht. Im eigent­ lichen Sinn nennt man »gewaltsam« etwas, »wozu das erleidende 16  Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 11, 24 (PL 191, 1488 B).

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Subjekt keinerlei Kraft beisteuert«, wie es im 3. Buch der Ethik17 heißt. Zu 6.  Sinnesvermögen und Intellekt haben gemeinsam, daß kei­ nes von beiden einen überragenden Gegenstand, sei er sinnlich oder geistig, vollkommen aufnehmen kann, wenngleich beide etwas von dem Gegenstand erfassen. Der Unterschied besteht darin, daß das Sinnesvermögen durch den Eindruck eines überragenden Gegen­ standes Schaden erleidet, so daß es danach auch geringere Gegen­ stände nicht mehr aufnehmen kann, der Intellekt dagegen, wenn er einen überragenden geistigen Gegenstand aufnimmt, gestärkt her­ vorgeht, so daß er danach geringere Gegenstände besser erkennt. Das angeführte Aristoteles-Zitat paßt also nicht zum Argumenta­ tionszusammenhang. Zu 7. Engel und Mensch sind nicht von Natur gleich zu nen­ nen, außer im Hinblick auf den Zustand der letzten Vollendung, wo die Menschen »sein werden wie die Engel im Himmel«, wie es bei Mt.  22, 30 heißt, oder weil sie beide eine geistige Natur besitzen, die freilich in den Engeln vollkommener ist. Zu 8.  Es ist naturgemäß, zum Zielpunkt einer naturgemäßen Be­ wegung zu gelangen, allerdings nicht zu Beginn oder in der Mitte einer Bewegung, sondern eben am Ende. Daher ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 9.  Diejenigen Tätigkeiten der Naturdinge, die ihnen aufgrund göttlicher Gewährung zukommen, heißen »natürlich«, wenn die Prinzipien dieser Tätigkeiten so in den Dingen grundgelegt sind, daß sie ihre Natur sind. Die Erhebung im Raptus ist damit nicht vergleichbar; denn sie wird dem Menschen nicht auf diese Weise gewährt. Zu 10.  Was in der Absicht der Natur früher ist, ist zuweilen der Zeit nach später verwirklicht – so verhält sich Wirklichkeit zu Mög­ lichkeit, bzw. Akt zu Potenz, in ein und demselben Träger; denn von der Natur her betrachtet ist das Wirklich-Sein früher, obwohl die gleiche Sache der Zeit nach früher in der Möglichkeit als in der Wirklichkeit ist. Ebenso ist die Tätigkeit der Seele als Geistwesen »früher«, betrachtet man die Ausrichtung der Natur; sie ist aber 17  Aristoteles, Eth. Nic. III, 1; 1110 a 1; b 15.

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»später« der Zeit nach. Wenn nun eine bestimmte Tätigkeit zu einer anderen (d. h. ihr nicht entsprechenden) Zeit vollzogen würde, wäre das gegen die Natur. Zu 11.  Die Hinordnung auf ein Mittleres besteht zwar im Hin­ blick auf das Letzte, doch gelangt man natürlicherweise zum Letzten nur über das Mittlere. Wenn man auf andere Weise zum Letzten gelangt, dann ist das eben nicht »natürlich«. Zu 12.  Die Entrückung von den Sinnen aufgrund der Einwirkung natürlicher Dinge läßt sich auf jene Entrückung zurückführen, die im Versagen der eigenen Kraft gründet. Denn es ist nicht die Na­ tur dieser Dinge, daß sie von den Sinnen entrücken; sie tun das nur, indem sie das Sinnesvermögen verblüffen und überwältigen. Solch eine Entrückung ist ganz verschieden von der des Raptus.

2. Artik el Die zweite Frage lautet: Schaute Paulus im Raptus die Wesenheit Gottes?18 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1.  Zu jener Stelle in Eph. 4, 18: »Sie haben einen von Finster­ nis bedeckten Verstand«, schreibt die Glossa19: »Jeder, der erkennt, wird durch ein inneres Licht erleuchtet.« Wenn also der Intellekt zur Gottesschau erhoben wird, muß er durch ein Licht erleuchtet wer­ den, das dieser Schau angepaßt ist. Das kann nur das Licht der Glo­ rie sein, von dem es im Psalm heißt: »In deinem Licht schauen wir das Licht« (Ps. 35, 10). Deshalb kann Gott nur von einem Intellekt geschaut werden, der im Zustand der Seligkeit ist, Paulus aber war beim Raptus nicht im Zustand der Glorie und konnte somit Gott in seiner Wesenheit nicht schauen. 2.  Dagegen wurde eingewandt, daß Paulus für diese Zeit des Rap­ tus doch selig war. – Aber dagegen läßt sich sagen, daß Dauerhaftig­ keit zur Definition der Seligkeit gehört, wie Augustinus im Gottes­

18  Paralleltexte: Sent. IV, d.  49, q.  2, a.  7, ad 5; Sum. theol. II-II, q.  175, a.  3; Super 2 Cor., cap. 12, lect. 1.2. 19  Petrus Lombardus, Glossa in Eph. 4, 18 (PL 192, 203 C).

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staat 20 schreibt. Paulus aber verblieb nicht dauerhaft in diesem Zu­ stand, also war er auch nicht selig. 3.  Die Glorie der Seele strömt auf den Leib über. Der Leib des Apostels aber war nicht verherrlicht. Also war auch sein Geist nicht vom Licht der Glorie überstrahlt, und daher sah er Gott nicht in sei­ ner Wesenheit. 4.  Es wurde eingewandt, Paulus sei in diesem Zustand der Schau Gottes nicht schlechthin selig gewesen, sondern nur unter einer bestimmten Hinsicht. – Dagegen läßt sich sagen: Damit jemand schlechthin selig ist, bedarf er des Aktes der Glorie und der Gabe der Glorie, die das Prinzip dieses Aktes ist. Der Leib des Apostels Petrus beispielsweise wäre einfachhin »verherrlicht«, von der Glo­ rie überkleidet, gewesen, wenn er zusätzlich zu seinem Gang über das Wasser auch das Prinzip dieses Tuns in sich gehabt hätte: die Gloriengabe der »Beweglichkeit«21. Die »Klarheit«, die das Prinzip der Gottesschau als des Aktes der Glorie ist, ist eine Gloriengabe. Wenn also die Seele des Paulus Gott in seiner Wesenheit schaute und von dem Licht überstrahlt war, welches das Prinzip dieser Schau ist, dann war er schlechthin verherrlicht. 5.  Paulus hatte während des Raptus Glaube und Hoffnung. Diese beiden Tugenden können aber nicht mit der Schau Gottes zusam­ men bestehen; denn der Glaube bezieht sich auf »Dinge, die man nicht sieht«, wie Hebr. 11, 1 sagt, und »hofft etwa jemand auf etwas, was er schaut?«, Röm. 8, 24. 6.  Die Liebe, die wir in der ewigen Heimat haben werden, ist nicht mehr das Prinzip des Verdienstes. Paulus aber war im Raptus noch im Zustand des Verdienen-Könnens, denn seine Seele war noch nicht vom vergänglichen Körper gelöst, wie Augustinus im 12. Buch 20  Augustinus, De civ. Dei XI, 11; XIV, 25 (CCSL 48, 332; 449). 21  Es wird Bezug genommen auf Mt. 14, 29. Die Verherrlichung, »Glo­

rie«, des Leibes wurde in vier Eigenschaften gesehen (dotes gloriae): Klar­ heit bzw. Schönheit entsprechend der Seele (claritas), Beweglichkeit, d. h. Freiheit gegenüber dem Raum (agilitas), feine Beschaffenheit (sublimitas), Leidensunfähigkeit (impassibilitas). Die Gloriengaben für die Seele sind drei: die Schau Gottes (visio), der unverlierbare Besitz Gottes als des höchsten Gutes (tentio) und die vollendete Liebe mit Freude (dilectio perfecta / fruitio).

2. Artikel

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Über den Wortlaut der Genesis22 schreibt. Er hatte also noch nicht die Liebe, wie sie der himmlischen Heimat eigen ist. Nun ist aber dort, wo die Schau der Heimat vollkommen gegeben ist, auch die vollendete Liebe gegeben; denn Gott wird in dem Maß geliebt, wie er erkannt wird.23 Somit schaute also Paulus Gott nicht in seiner Wesenheit. 7.  Die Wesenheit Gottes kann nicht geschaut werden ohne Freude, wie Augustinus im 1. Buch Über die Dreifaltigkeit 24 darlegt. Ange­ nommen, Paulus schaute Gott in seiner Wesenheit, dann erfreute er sich an dieser Schau, und wollte nicht davon getrennt werden, noch wollte Gott seinerseits ihn gegen seinen Willen lostrennen; denn Gott, der in höchstem Maße freigebig ist, entzieht von sich aus seine Gaben nicht. Paulus wäre also von diesem Zustand niemals getrennt worden – was nicht stimmt. Also sah er Gott auch nicht in seiner Wesenheit. 8.  Wer ein Gut aufgrund eines Verdienstes besitzt, geht dessen nur durch die Sünde verlustig. Wenn nun die Schau Gottes in sei­ ner Wesenheit gewissermaßen ihre Wurzel im Verdienst des Men­ schen hat, dann kann niemand von dieser Schau getrennt werden, es sei denn, er begeht etwa eine Sünde. Das kann man von Paulus aber nicht behaupten, der doch von sich selbst sagt: »Ich bin gewiß, weder Tod noch Leben wird uns scheiden [von der Liebe Gottes in Christus]« (Röm. 8, 38). Außerdem ist zu fragen, worin der Unterschied besteht zwischen dem sogenannten Raptus bei Paulus, dem Tiefschlaf Adams (Gen. 2, 21), der Entrückung des Evangelisten Johannes, der von sich sagt, er sei »im Geist« entrückt gewesen (Offb. 1, 10), und von der Ekstase des Petrus (Apg. 11, 5).25 22  Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 5 (CSEL 28/1, 385 f.). 23  Gregor der Große, Homiliae in Hiezechihelem II, 9, 10 (PL 76, 1048

C; CCSL 142, 364). 24  Augustinus, De trin. I, 10, 20 (PL 42, 834; CCSL 50, 56). 25  Hier wird deutlich, wie reich differenziert die lateinische Termino­ logie ist: Sopor ist Übersetzung des hebr. Tardemah, das die besondere Art »schweren Schlafes« Adams und Abrahams bezeichnet: Adam, als Eva aus seiner Seite gebildet wurde, Abraham, als er »etwas wie einen glühenden Ofen« zwischen den zum Zeichen des Bundes mit Gott zerteilten Tieren

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Dagegen spricht, was Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis und ebenso im Brief an Paulina Über die Gottesschau schreibt. Das glei­ che kann man in der Glossa zu 2 Kor. 12 lesen: Paulus habe im Rap­ tus das Wesen Gottes geschaut.26 Antwort: Zu dieser Frage vertraten einige27 die Ansicht, daß Paulus im Rap­ tus nicht das Wesen Gottes geschaut habe; er habe vielmehr eine Schau gehabt, die in der Mitte zwischen dem Pilgerstand und der Glorie stehe. Man könne sie vergleichen mit derjenigen Schau, die ein Engel von Natur aus habe: Er sehe aufgrund der natürlichen Er­ kenntnis Gott, zwar nicht in seiner Wesenheit, sondern mittels in­ telligibler Erkenntnisbilder; er könne seine (des Engels) Wesenheit betrachten, die ein geistiges, intelligibles Abbild der ungeschaffenen Wesenheit sei. Dem Buch von den Ursachen28 zufolge »weiß ein geistig erkennendes Wesen, was über ihm ist«, insofern dieses seine Ursache ist. So müsse man also auch die Gottesschau des Paulus im Raptus verstehen: Paulus habe Gott geschaut mittels eines intellek­ tualen Lichtes, das in seinem Geist widerstrahlte. Die Erkenntnis des Pilgerstandes geschehe »im Spiegel und Rätsel« der sinnenhaft wahrnehmbaren Geschöpfe, und sie sei für den Menschen natürlich. »hindurch­fahren« sah. Daß die Umstände der Abfassung des letzten Bu­ ches des Neuen Testaments in diesem Zusammenhang erörtert werden müssen, liegt auf der Hand: »Am Tag des Herrn ward ich im Geist (in spiritu / en pneumati) entrückt, und hörte hinter mir eine Stimme …«. Der Akzent liegt auf dem Wirken des Heiligen Geistes. Die Vision des Petrus wird als excessus mentis bezeichnet – als »Ekstase«, in der jemand »außer sich« ist, das heißt: nicht mehr in sich eingeschlossen und auf die übliche Erkenntnisweise beschränkt. 26  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 28 (CSEL 28/1, 422); Ep. 147, 13 (PL 33, 610); Petrus Lombardus, Glossa in 2 Cor. 12 (PL 192, 80 C): Deum ipsum in se, non in aliqua figura. 27   A lexander von Hales, Quaestiones disputatae ›antequam esset frater‹, q.  68, m.  5, n.  32 (ed. Coll. S. Bonaventurae, Quaracchi 1960, III, 1355 f.); Anonymus Assisiensis 186, ed. J.-P. Torrell, 298 f.; Wilhelm von Auxerre, Summa aurea III, tr. 37, c.  2 (ed. J. Ribaillier III/2, 701 f.). 28  Liber de causis prop. 7 (8); n.  72 (ed. A. Schönfeld, 18).

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Die Erkenntnis der Heimat aber, in der Gott aufgrund seiner Wesen­ heit geschaut wird, sei allein für Gott selbst natürlich. Doch diese Ansicht widerspricht geradewegs den Worten Augu­ stins, der an den bereits genannten Stellen ausdrücklich sagt, Paulus habe im Raptus Gott in seiner Wesenheit geschaut. Auch ist es un­ wahrscheinlich, daß ein Diener des Alten Bundes, der mit den Juden geschlossen war, Gott in seiner Wesenheit geschaut habe, wie es aus Num. 12, 8 hervorgeht: »Mose schaute Gott offen und nicht durch Rätsel und Abbilder«, und einem Diener des Neuen Bundes, dem »Lehrer der Völker« (1 Tim. 11, 7), solle dies nicht gewährt worden sein. Es ist ja gerade Paulus, der so argumentiert: »Wenn schon der Dienst, der zur Verurteilung führte, so herrlich war, wieviel mehr dann der Dienst, der zur Gerechtigkeit führt« (2 Kor. 3, 9). Er war jedoch nicht einfach »selig« wie die Seligen des Himmels, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht, auch wenn sein Geist von einem übernatürlichen Licht überstrahlt wurde, damit er Gott schauen konnte. Am Beispiel des sichtbaren Lichtes kann man dies vielleicht verdeutlichen: In manchen Dingen findet sich das Licht der Sonne gleichsam wie eine bleibende Form, so daß diese Dinge dem Licht konnatural werden: die Sterne, der Karfunkelstein und ähnliches. In anderen Dingen wird das Licht der Sonne nur wie ein vorübergehender Eindruck aufgenommen, etwa in der Luft. Hier wird das Licht nicht zur bleibenden Form, so als sei es der Natur der Luft verbunden, sondern schwindet, wenn die Sonne geht. In ähnli­ cher Weise kann auch das Licht der Glorie dem Geist des Menschen auf zweierlei Weise eingegossen werden: als Form, die sich mit der Natur des Geistes verbindet und bleibenden Charakter hat – dann bewirkt es für den Menschen schlechthin die Seligkeit, auf diese Weise wird es den Seligen des Himmels eingegossen; oder als ein vorübergehendes Erleiden – und auf diese Weise wurde der Geist des Apostels Paulus vom Glorienlicht überstrahlt. Die Bezeichnung »Raptus« besagt ja gerade, daß es plötzlich (raptim) und vorüber­ gehend geschah. Er ging also nicht schlechthin in die Glorie ein, er hatte auch nicht die Gloriengabe für den Leib; denn die Herrlichkeit oder Klarheit wurde für Paulus nicht zu seiner Eigenschaft, und so floß sie auch nicht von der Seele auf den Leib über. Auch blieb er nicht auf Dauer in diesem Zustand.

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Zu 1–4: Somit ist die Antwort auf die ersten Einwände klar. Zu 5.  Wenn die Schau in ihrer Fülle kommt, dann weicht der Glaube zurück. Insofern Paulus Gott in seiner Wesenheit schaute, hatte hier der Glaube (als Akt) keinen Platz. Diese Schau Gottes war aber nur ein Vollzug, sie schloß nicht den Habitus der Glorie ein. Daher war umgekehrt der Habitus des Glaubens, wie auch der Hoffnung, auch im Raptus gegeben. Zu 6.  Paulus befand sich zwar auch damals im Zustand der Be­ währung, doch er erwirkte aktual kein Verdienst; denn er schaute Gott, wie es dem Zustand der Glorie eigen ist, und ebenso vollzog er die Liebe zu Gott, wie es der Glorie entspricht. Manche vertraten die Auffassung, Paulus habe zwar den Akt der Gottesschau gehabt, nicht aber den Akt der Gottesliebe, wie er der Glorie eigen ist. Sie begründeten dies damit, daß nur das Erkenntnisvermögen, der In­ tellekt, den Raptus erfuhr, nicht aber der Wille, der Affekt. Aber das widerspricht ausdrücklich der Stelle 2 Kor. 12, 4: »Er wurde in das Paradies entrückt«, wozu die Glossa erklärt: »das heißt, in jene Ruhe, derer sich die Bürger des himmlischen Jerusalem erfreuen«29. Diese himmlische Freude geschieht aufgrund von Liebe. Zu 7.  Das Licht, das Paulus überstrahlte, gewährte ihm keine blei­ bende Gottesschau, wie oben dargelegt. Zu 8.  Zwar gründet die Gottesschau der Seligen auch in deren Verdiensten, doch wurde sie Paulus nicht als Belohnung für seine Verdienste zuteil. Daher ist das Argument hinfällig. Man sollte jedoch zur Kenntnis nehmen, daß die beiden letzten Argumente ebensosehr darauf hinauslaufen, daß Paulus keine Got­ tesschau dem Wesen nach gehabt habe, als daß er keine Schau ge­ habt habe, die die gewöhnliche Erkenntnisweise überstiege. Zur letzten noch angefügten Frage. Geistig »Außer-sich-Kom­ men« (excessus mentis), »Ekstase« (ecstasis) und »Raptus« werden in der Heiligen Schrift für ein und dieselbe Sache verwendet; sie bezeichnen ein Hinausgehobenwerden über die äußeren, sinnenhaft gegebenen Dinge, auf die unsere Aufmerksamkeit gewöhnlich ge­ richtet ist, hin zu dem, was den Menschen übersteigt. Dies kann sich auf zweierlei Weise ereignen. 29  Petrus Lombardus, Glossa in 2 Cor. 12, 4 (PL 192, 83 A).

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Manchmal bezieht sich dieses Abgezogen-Werden von den äuße­ ren Dingen allein auf die Aufmerksamkeit, die geistige Ausrich­ tung eines Menschen: wenn ein Mensch zwar seine Sinne und die äußeren Dinge gebraucht, aber seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, die göttlichen Dinge zu betrachten und zu lieben. In diesem Sinn ist jeder Mensch, der wirklich ein Betrachtender (con­ templator) und Liebender der göttlichen Dinge ist, geistig »außer sich«, ist »entrückt«, ist »hinauf gerissen«. Daher sagt Dionysius im 4. Buch Über die göttlichen Namen 30: »Die göttliche Liebe bewirkt Ekstase«. Und Gregor schreibt in den Moralia 31 über den Menschen, der wirklich ein Betrachtender ist: »Wer zur Einsicht in die inneren Dinge hingerissen wird, der schließt seine Augen vor den sichtba­ ren Dingen«. Zumeist aber werden diese Ausdrücke – exstasis, raptus, excessus mentis – in dem Sinn gebraucht, daß jemand auch vom tatsächlichen Gebrauch der Sinne oder der sinnenhaft wahrnehmbaren Dinge ab­ gezogen wird, um auf übernatürliche Weise etwas zu sehen. Die übernatürliche Schau geschieht außerhalb der Sinne, im Intellekt und in der Vorstellungskraft. Das wurde bereits in der ProphetieFrage dargelegt. Daher unterscheidet Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis32 eine doppelte Entrückung: In der einen wird der Geist von den Sinnen abgezogen, um eine Schau in der Vorstellungskraft zu erhalten; das geschah an Petrus und dem Evangelisten Johannes, als er das Buch der Offenbarung schrieb, wie Augustinus in diesem Zusammenhang sagt. In der anderen Art der Entrückung wird der Geist von den Sinnen und zugleich der Vorstellungskraft abgezogen, um eine rein geistige Schau zu empfangen. Und auch dies kann wie­ derum zweifach geschehen. Auf die eine Weise erfaßt der Intellekt Gott durch geistige Eingebungen33 – was den Engeln eigen ist –, und 30  Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 13 (PG 3, 712 A; Dion. I, 215). 31  Gregor der Große, Moralia in Iob XXX, 16, 54 (PL 76, 554 B; CCSL

143B, 1528). 32  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 26 (CSEL 28/1, 419 f.). 33  immissiones intelligibiles: »Ein-gebung« ist wörtlich zu nehmen. Die gesamte Passage ist im Deutschen nur schwer adäquat wiederzugeben. Thomas gebraucht die Termini mit Bedacht, um die beiden Weisen der

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solcher Art war der ekstatische Tiefschlaf Adams. In der Glossa zu Gen. 2, 21 steht dazu: »Recht verstanden, wurde diese Entrückung auf Adam gelegt, damit sein Geist des himmlischen Hofes teilhaft werde und eintrete in das Heiligtum Gottes, wo er die Geheimnisse der letzten Zeiten verstehen sollte.«34 Auf die andere Weise schaut der Intellekt Gott durch dessen Wesen. Und solcher Art war der Raptus des Paulus. 3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist es möglich, daß der Intellekt eines Men­ schen im Pilgerstand zur Schau des göttlichen Wesens erhoben wird, ohne daß er dabei den Sinnen entrückt wird?35 Dies scheint möglich zu sein, denn: 1.  Die Natur des Menschen im Pilgerstand und im Zustand nach der Auferstehung ist dieselbe; er würde ja nicht als der Zahl nach derselbe auferstehen, wenn er nicht auch der Spezies nach derselbe wäre. Nach der Auferstehung aber schauen die Heiligen Gott in ih­ rem Geist (mente), ohne daß sie den Sinnen entrückt würden. 2.  Es wurde eingewandt, daß im Pilgerstand der menschliche Leib, der ja der Verweslichkeit unterliegt, den Intellekt beschwert (vgl. Weish 9, 15), so daß er nicht frei zu Gott hinaufschwingen kann, sondern nur, wenn er von den leiblichen Sinnen gelöst wird. Eine Zerstörung oder Auflösung des Leibes wird es aber nach der Auf­ erste­hung nicht mehr geben. – Doch dagegen kann man sagen: Et­ was wird nur von seinem Gegenteil behindert oder beeinträchtigt.36 Die Verweslichkeit des Körpers scheint nicht im Gegensatz zum Akt des Intellekts zu stehen; denn dieser ist kein Akt des Körpers. Also ist die Verweslichkeit des Leibes kein Hindernis für die freie Bewe­ gung des Intellekts zu Gott. ekstatischen intellektualen Schau voneinander abzusetzen: »intellectus intelligit Deum per intelligibiles immissiones, intellectus videt Deum per essentiam.« 34  Glossa ord. aus Augustinus, De Gen. ad litt. IX, 19 (CSEL 28/1, 294). 35  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  175, a.  4. 36  Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. I, 7; 324 a 2.

3. Artikel

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3.  Es steht fest, daß Christus unsere Sterblichkeit und die Straf­ folge der Verderbnis angenommen hat. Sein Intellekt aber erfreute sich fortwährend der Schau Gottes, obwohl er keineswegs immer den äußeren Sinnen entrückt gewesen wäre. Die Sterblichkeit des Leibes ist also nicht die Ursache, daß der Intellekt nicht frei zu Gott aufschwingen könnte, auch ohne die Entrückung von den Sinnen. 4. Nachdem Paulus Gott in seiner Wesenheit geschaut hatte, konnte er sich an das erinnern, was er in der Vision geschaut hatte, sonst hätte er nicht geschrieben, daß er »geheime Worte, die auszu­ sprechen einem Menschen nicht erlaubt sind, gehört« habe (2 Kor. 12, 4). Als er Gott in seiner Wesenheit schaute, muß sich somit etwas in sein Gedächtnis eingeprägt haben. Das Gedächtnis aber gehört zum sinnenhaften Bereich der Seele, wie sich aus Aristoteles’ Buch Über Gedächtnis und Erinnerung 37 ergibt. Wenn also jemand im Pilger­ stand Gott in seiner Wesenheit schaut, wird er nicht gänzlich von den Sinnen entrückt. 5. Die Seelenkräfte, die dem sinnenhaften Bereich zugehören, sind einander näher als die geistigen Seelenkräfte den sinnenhaften. Die Vorstellungskraft, die zu den sinnenhaften Kräften zu rechnen ist, kann in einem Akt beliebige vorstellbare Gegenstände erfassen, ohne Entrückung von den äußeren Sinnen. Also kann auch der In­ tellekt einen Akt der Gottesschau ohne eine Entrückung von den Kräften der Sinne vollziehen. 6.  Was naturgemäß ist, erfordert zu seiner Existenz nichts von dem, was wider die Natur ist. Es ist aber der Natur des menschli­ chen Intellekts gemäß, daß er Gott in seinem Wesen schaue; denn dazu ist er erschaffen. Die Entrückung von den Sinnen aber ist für den Menschen widernatürlich, da die Erkenntnis durch die Sinne für ihn zu seiner Natur gehört. Es scheint also, daß es für die Schau des Wesens Gottes einer Entrückung von den Sinnen nicht bedarf. 7.  Ein »Abgezogenwerden« gibt es nur, wenn Dinge miteinander verbunden sind. Das geistige Erkennen, das Gott zum Gegenstand hat, wie es im Buch Über Geist und Seele heißt38, ist anscheinend 37  Aristoteles, De mem. et remin. 1; 450 a 12–15. 38  Pseudo-Augustinus, De spiritu et anima, cap. 11 (PL 40, 787 f.). Das

»geistige Erkennen«, intelligentia, bezeichnet in dieser Schrift die höchste

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nicht mit den Körpersinnen verbunden, sondern hat den größten Abstand von ihnen. 8.  Paulus wurde doch offenbar gerade deswegen zur Schau Got­ tes erhoben, um Zeuge sein zu können für die Herrlichkeit, die den Heiligen verheißen ist. So sagt jedenfalls Augustinus im 10. Buch Über den Wortlaut der Genesis39: »Warum sollen wir nicht glauben, daß Gott einem so großen Apostel, dem Lehrer der Völker, in der Entrückung bis zu dieser alles übertreffenden Schau zeigen wollte, wie das ewige Leben nach diesem Leben sein wird?« Die Heiligen aber schauen nach diesem Leben, nach der Auferstehung, Gott ohne eine Entrückung von den leiblichen Sinnen. 9.  Selbst inmitten der Todesqualen empfanden die Märtyrer et­ was von der Herrlichkeit Gottes. Sonst hätte der hl. Vinzenz40 nicht gerufen: »Siehe, schon werde ich emporgehoben, über dieser Welt­ zeit stehe ich, deine Fürsten alle, du Gewaltherrscher, verachte ich!« Auch in vielen anderen Berichten über das Martyrium der Heiligen kann man ähnliches lesen. Es steht aber fest, daß diese nicht der Sinne entrückt waren, sonst hätten sie ja den Schmerz nicht gefühlt. Damit also jemand der Herrlichkeit Gottes teilhaftig wird, scheint eine Entrückung von den Sinnen nicht notwendig. 10.  Einer Tätigkeit, die sich auf sinnenhaft gegebene Dinge be­ zieht, steht die praktische Vernunft näher als die theoretische. Es ist jedoch nicht nötig, daß die praktische Vernunft immerfort auf das gerichtet ist, was der Mensch in diesem Bereich tut, wie Avicenna schreibt41. Sonst schiene der beste Zitherspieler der am wenigsten erfahrene; wenn er bei jedem Anschlagen der Saiten seine künstle­ rischen Erwägungen einsetzen müßte, gäbe es allzuviele Pausen und Erkenntnispotenz des Menschen, dem in aufsteigender Reihung folgende Fähigkeiten eigen sind: sensus (Gegenstand: Körperliches), imaginatio (Gegenstand: Bilder von körperlich Seienden), ratio (Gegenstand: Spezies, Wesenheiten der körperlich Seienden), intellectus (Gegenstand: Unkörperliches, geschaffene Geister, Engel), intelligentia (Gegenstand: ungeschaffener Geist, i. e. Gott). Von daher erklärt sich, warum der Einwand behauptet, die intelligentia sei am weitesten von den Sinnen entfernt. 39  Es handelt sich um De Gen. ad litt. XII, 28 (CSEL 28/1, 423). 40  Acta Sanctorum, 22. Januar (ed. Bollandus II, 395 b). 41  Avicenna, Sufficientia I, cap. 14 (f. 22rb I).

3. Artikel

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das Erklingen der Melodie würde verhindert. Noch viel weniger ist die theoretische Vernunft gezwungen, sich mit dem zu beschäftigen, was der Mensch im Bereich der Sinne tut; sie bleibt vielmehr frei, sich von beliebigen geistigen Gegenständen anziehen zu lassen, auch von der Wesenheit Gottes. Die sinnenhaften Kräfte freilich werden von den sinnenhaften Tätigkeiten in Anspruch genommen. 11.  Als Paulus Gott in seiner Wesenheit schaute, besaß er im­ mer noch den Glauben. Zu glauben aber heißt, »durch einen Spiegel und im Rätsel zu schauen« (1 Kor. 13, 12). Demnach hatte Paulus eine Schau in Spiegel und Rätsel, während er Gott seinem Wesen nach schaute. Die Erkenntnis »im Rätsel« ist eine Erkenntnis, die »im Spiegel« geschieht, mittels sinnenhafter Gegenstände. Paulus schaute also Gott in seiner Wesenheit und hatte zugleich einen Blick für den Bereich der sinnenhaften Gegenstände. Dagegen spricht: 1.  Augustinus schreibt im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis42 – die Stelle wurde auch in die Glossa 43 aufgenommen –: »Nie­ mand, der Gott in der Gestalt schaut, die Gott ist, lebt in in diesem sterblichen Leben mit seinen körperlichen Sinnen. Vielmehr ist es so: Niemand wird in diese Schau hineingerissen, wenn er nicht die­ sem Leben gewissermaßen stirbt – sei es, daß er ganz aus dem Leibe auszieht, sei es, daß er derart den Sinnen des Leibes entrückt und von ihnen entfernt wird, daß er ganz zu Recht nicht mehr weiß, ›ob er im Leibe oder außerhalb‹ ist.« 2. Die Glossa 44 über 2 Kor. 5, 13: »Wenn wir im Geiste außer uns sind, dann für Gott«, legt dies so aus: »Ein geistiges Außer-sichSein bedeutet, daß jemand im Geist so zur Einsicht in himmlische Dinge erhoben wird, daß alles, was niedriger ist, seinem Gedächtnis entgleitet. In diesem Zustand waren alle Heiligen, denen die Ge­ heimnisse Gottes enthüllt wurden, welche diese unsere Welt über­ steigen.« Wenn also Gott in seiner Wesenheit geschaut werden soll, 42  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 27 (CSEL 28/1, 422). 43  Petrus Lombardus, Glossa in 2 Cor. 12, 1 (PL 192, 82 AB). 44  Petrus Lombardus, Glossa in 2 Cor. 5, 13 (PL 192, 41 B). Die Formu­

lierung »si mente excedimus« wird aufgegriffen im mentis excessus.

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dann bedarf es der Abwendung von der Betrachtung niedrigerer Dinge, und daher folgerichtig auch vom Gebrauch der Sinne, die sich um die niedrigeren Dinge kümmern. 3.  In einem Psalm (67, 28 Vg.) ist die Rede von »Benjamin, dem jungen Mann in der geistigen Entrückung«. Dazu sagt die Glossa 45: »Benjamin, das ist Paulus, in seiner geistigen Entrückung: das heißt, im Geist den Sinnen des Leibes entfremdet, als er einst bis zum dritten Himmel emporgerissen wurde.« Unter dem »Dritten Him­ mel« ist aber die Schau Gottes in seiner Wesenheit zu verstehen, wie Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis schreibt.46 Eine solche Schau erfordert also die Entrückung von den leiblichen Sinnen. 4.  Die Tätigkeit des Intellekts, der zur Schau der Wesenheit Got­ tes erhoben wird, ist kraftvoller als jede Tätigkeit der Vorstellungs­ kraft. Nun wird zuweilen jemand sogar wegen der leidenschaftli­ chen Kraft seiner Vorstellung von den Körpersinnen abgezogen – wie viel mehr, wenn er zur Schau Gottes erhoben wird. 5.  Bernhard sagt47: »Der göttliche Trost ist empfindlich; er wird nicht gegeben, wenn jemand andere Tröstungen einläßt«. Aus dem gleichen Grund verträgt sich die Schau Gottes nicht mit einer Schau anderer Dinge, und ebensowenig mit dem Gebrauch der Sinne. 6.  Um Gott schauen zu können, bedarf es eines vollkommen rei­ nen Herzens; Mt. 5, 8: »Selig, die reinen Herzens sind«, usf. Das Herz kann auf zweifache Weise unrein werden, durch die Sünde und durch materielle Vorstellungsbilder. Davon spricht Dionysius im 7. Kapitel der Himmlischen Hierarchie48, wenn er sagt: »Man muß sie«, das sind die himmlischen Wesen, »für ganz rein halten, nicht als seien sie befreit von unreinen Makeln und Befleckungen« – womit er die Unreinheit der Sünde anspricht, die ja niemals in den heiligen Engeln gewesen ist –, »noch als würden sie materielle Vor­ stellungsbilder aufnehmen«. Mit letzterem spricht er die Verunrei­ 45  Petrus Lombardus, Glossa in Ps. 67, 28 (PL 191, 615 C). 46  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 28 (CSEL 28/1, 422 f.). 47   Pseudo-Bernardus (= Gottfried von Clairvaux), Declamationes,

n.  66 (PL 184, 472 A). 48  Dionysius Areopagita, De cael. hier. VII, 2 (PG 3, 208 B; Dion. II, 845).

3. Artikel

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nigung durch Sinnenbilder an, wie Hugo von St. Victor erläutert.49 Also muß der Geist, um Gott schauen zu können, nicht nur von den äußeren Sinnen, sondern auch von den inneren Sinnenbildern ent­ fernt werden. 7.  In 1 Kor. 13, 10 heißt es: »Wenn das Vollendete kommt, wird das vergehen, was Stückwerk ist.« Die Schau Gottes in seiner We­ senheit wird hier »das Vollendete« genannt, das Unvollendete aber ist die Schau im Spiegel und Rätsel, die Schau mittels der sinnen­ haften Dinge. Wenn also jemand zur Schau Gottes in seiner Wesen­ heit erhoben wird, wird er von der Schau der sinnenhaft erfaßbaren Dinge abgezogen. Antwort: Wie Augustinus klar sagt, kann ein Mensch, solange er in diesem sterblichen Leib lebt, Gott nicht in seiner Wesenheit schauen, es sei denn, er werde den Sinnen des Leibes entrückt. Zwei Gründe lassen sich dafür anführen. Der erste Grund beruht auf dem, was der Intellekt mit den üb­ rigen Potenzen der Seelen gemeinsam hat. Wir können feststellen, daß für alle Potenzen der Seele gilt: Wenn eine bestimmte Potenz ganz auf ihren Vollzug konzentriert ist, wird eine andere in ihrem Vollzug schwächer oder wird ganz davon abgezogen. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Wenn jemand mit aller Kraft auf die Tä­ tigkeit des Gesichtssinnes konzentriert ist, dann hört er nicht mehr, was gesprochen wird, außer wenn mit einiger Gewalt die Aufmerk­ samkeit des Gehörs angezogen wird. Grund dafür ist, daß eine er­ kennende Potenz zu ihrem Vollzug die Aufmerksamkeit benötigt, wie Augustinus im Buch Über die Dreifaltigkeit dartut.50 Die Auf­ merksamkeit eines einzigen Subjekts kann sich aber nicht zugleich auf vielerlei Dinge richten, es sei denn, die vielen Dinge stünden in einer Hinordnung aufeinander, so daß sie gewissermaßen als Eines gesehen würden. Ebensowenig kann eine Bewegung oder Tätigkeit zwei Zielpunkte haben, die nicht in Hinordnung aufeinander stün­ den. Da nun die Seele, in der alle erkennenden Potenzen wurzeln, 49  Hugo von St. Victor, Expos. in hier. cael. VII (PL 175, 1052 A). 50  Augustinus, De trin. XI, 3 u. 4 (PL 42, 988–990; CCSL 50, 340–343).

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eine einzige ist, ist ein und dieselbe Aufmerksamkeit für alle Voll­ züge der erkennenden Kräfte erforderlich. Wenn daher die Seele mit ganzer Aufmerksamkeit auf den Vollzug einer Potenz gerichtet ist, wird der Mensch vom Vollzug einer anderen Potenz abgezogen. Soll der Intellekt zur Schau des göttlichen Wesens erhoben werden, muß sich die gesamte Aufmerksamkeit in dieser Schau sammeln; denn dies ist der gewaltigste Gegenstand des Erkennens, zu dem der Intellekt nur dann gelangen kann, wenn er sich mit allem, was er irgend vermag, danach ausstreckt. Wenn daher der Geist zur Schau Gottes erhoben wird, wird der Mensch unweigerlich gänzlich den leiblichen Sinnen entrückt. Man kann noch einen zweiten Grund anführen, der auf der spe­ zifischen Eigenart des Intellekts beruht. Man hat Erkenntnis von den Dingen, insofern sie wirklich (in actu) sind, nicht insofern sie möglich sind; so steht es im 9. Buch der Metaphysik 51. Dement­ sprechend hat der Intellekt, als die höchste Form der Erkenntnis, in besonderer Weise das Immaterielle zum Gegenstand, das in höch­ stem Grad wirklich ist. Das geistig Erkennbare ist entweder von sich aus frei von Materie oder es wird durch den Akt des Intellekts der Materie entkleidet. Je freier von Materiellem ein Intellekt ist, desto vollkommener ist er. Daher ist der Intellekt des Menschen, der ma­ terielle Dinge sozusagen berührt, wenn er die sinnenhaften Bilder betrachtet, von denen er dann die geistigen Erkenntnisbilder abzieht, von geringerer Kraft als der Intellekt eines Engels, der immerzu auf völlig immaterielle Formen blickt. Dennoch ist die Reinheit der gei­ stigen Erkenntnis im menschlichen Intellekt nicht völlig verdun­ kelt – anders als bei der Sinneswahrnehmung, die überhaupt nicht über das Materielle hinausgelangen kann –, sondern es verbleibt in ihm etwas von der Reinheit; und insofern bleibt in ihm auch die Be­ fähigung, rein Geistiges zu erblicken. Sollte es also geschehen, daß er zur Schau des zuhöchst Immateriellen, nämlich der göttlichen Wesenheit, erhoben wird – was völlig außerhalb der gewöhnlichen Erkenntnis liegt –, dann muß er wenigstens in diesem Akt gänzlich vom Blick auf Materielles entblößt sein. Da sich die Kräfte der Sinne nur mit Materiellem beschäftigen, kann jemand die Wesenheit Got­ 51  Aristoteles, Met. IX, 10; 1051 a 29.

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tes nicht schauen, ohne gänzlich vom Gebrauch der leiblichen Sinne abgezogen zu sein. Zu 1.  Die Verbindung zwischen der Seele in der Seligkeit und dem Leib nach der Auferstehung ist anders als ihre Verbindung in diesem Leben. Bei der Auferstehung wird der Leib dem Geist ganz untertan sein, so sehr, daß die Eigenschaften der Glorie vom Geist in den Leib überfließen. Darum spricht man von einem geistlichen Leib. Bei der Verbindung von Zweien, von denen das eine vollständige Herrschaft über das andere besitzt, gibt es keine Vermischung; denn das eine der beiden geht völlig in die Verfügungsgewalt des herrschenden über – wie wenn ein Tropfen Wasser in tausend Krüge Wein gegos­ sen würde: Das würde der Reinheit des Weines überhaupt keinen Eintrag tun. Bei der Auferstehung entsteht für den Intellekt keiner­ lei Unreinheit oder Schwächung durch die Verbindung mit dem Leib; daher wird er die göttliche Wesenheit betrachten, ohne daß er den leiblichen Sinnen entrückt werden müßte. In diesem Leben aber ist der Leib dem Geist nicht in dieser Weise unter­tan. Zu 2.  Unser Leib ist deswegen sterblich, weil er als Leib der Seele nicht vollständig untertan ist. Wäre er das, dann flösse aus der Un­ sterblichkeit der Seele auch Unsterblichkeit in den Leib, wie es nach der Auferstehung sein wird. Daher »beschwert der sterbliche Leib den Intellekt«; obwohl er an sich dem Intellekt nicht entgegenarbei­ tet, beeinträchtigt er doch die Reinheit des Intellekts. Zu 3.  Christus war Gott und Mensch. Als solcher hatte er voll­ ständige Verfügungsgewalt über alle Bereiche seiner Seele und über seinen Leib. Johannes von Damaskus sagt52: In der Kraft seiner Gott­ heit ließ er aber zu, daß eine jede Seelenpotenz die ihr eigene Tä­ tigkeit vollziehe – wie es dem Ziel der Erlösung des Menschenge­ schlechtes angemessen war. Es war daher bei Christus nicht notwen­ dig, daß eine Potenz ihren Überfluß auf eine andere hätte übergehen lassen, noch daß eine Potenz aufgrund der Heftigkeit einer ande­ ren von ihrer Tätigkeit losgetrennt worden wäre. Daß Christi Intel­ lekt Gott schaute, erfordert nicht, daß er irgendwie von den leibli­ chen Sinnen entrückt worden wäre. Bei den übrigen Menschen ist 52  Johannes Damascenus, De fide orthodoxa III, 15 (ed. Buytaert, 240).

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es anders; denn hier besteht ein gewisser enger Zusammenhang der Seelen­potenzen, aus dem mit Notwendigkeit folgt, daß die eine auf die andere überfließt oder die eine die andere behindert. Zu 4.  Nachdem Paulus aus der Schau des göttlichen Wesens zu­ rückgekommen war, konnte er sich an das erinnern, was er in die­ ser Schau erkannt hatte, weil in seinem Intellekt Erkenntnisbilder (species) zurückblieben – gleichsam Überbleibsel der vergangenen Vision. Obwohl er das göttliche Wort selbst in seiner Wesenheit schaute und vieles andere in dieser Schau des Wortes erkannte – und somit weder die Schau des Wortes noch das in dieser Schau Erkannte durch Erkenntnisbilder vermittelt war, sondern allein in der Wesenheit des Wortes geschah – so prägten sich doch, grün­ dend im Blick auf das Wort, in das Erkenntnisvermögen Bilder der geschauten Dinge ein; durch sie konnte er später erkennen, was er vorher durch die Wesenheit des Wortes geschaut hatte. Aufgrund dieser geistigen Bilder konnte er sich später an das erinnern, was er vorher geschaut hatte, indem er sie auf einzelne Gehalte des Ge­ dächtnisses oder der Vorstellungskraft anwandte; er konnte sich also auch im Gedächtnis erinnern, insofern dieses eine Fähigkeit des sen­ sitiven Seelenbereichs ist. Man muß daher keineswegs annehmen, daß während des Aktes der Gottesschau selbst sich irgendetwas am sinnenhaften Gedächtnis ereignet habe, sondern daß die Wirkung sich einzig auf den Geist bezog. Zu 5.  Zwar tritt keineswegs durch jeden Akt der Vorstellungs­ kraft eine Entfremdung von den Körper-Sinnen ein, doch sie tritt ein, wenn dieser Akt überwältigend kraftvoll (vehemens) ist. Eben­ sowenig muß durch einen jeden Akt der Erkenntniskraft eine Ent­ fremdung von den Sinnen eintreten, wohl aber, wenn der überwäl­ tigendste Akt vollzogen wird: die Schau Gottes in seiner Wesenheit. Zu 6.  Gewiß entspricht es der Natur des menschlichen Intellekts, einst einmal zur Schau der göttlichen Wesenheit zu gelangen, je­ doch ist es nicht natürlich, diese Schau in diesem Leben zu erlangen. Das wurde oben schon dargelegt. Zu 7.  Unser Erkenntnisvermögen, mit dem wir die göttlichen Dinge erfassen, ist zwar hinsichtlich der Wahrnehmung nicht mit den Sinnen verbunden, jedoch hinsichtlich des Urteils. Daher schreibt Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Gene­

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sis53: »Mittels des Lichtes der Erkenntniskraft werden sowohl die niedrigeren Dinge beurteilt wie auch diejenigen Gegenstände ge­ schaut, die weder Körper sind noch eine Gestalt haben, die Kör­ perlichem gleicht.« Darum heißt es, das Erkenntnisvermögen werde zuweilen von den Sinnen abgezogen: dann, wenn es nicht über die sinnenhaften Dinge urteilt, sondern einzig damit befaßt ist, höhere Gegenstände zu schauen. Zu 8.  Was die Seligkeit der Heiligen ausmacht, ist die Schau der Wesenheit Gottes. Darum sagt Augustinus: »Die Schau ist der ganze Lohn«54. Weil Paulus die Wesenheit Gottes schaute, konnte er der rechte Zeuge für die Seligkeit sein. Er brauchte jedoch deswegen nicht alles in eigener Person erfahren, was die Seligen erfahren, son­ dern es genügte, daß er aus seiner Erfahrung heraus auch Anderes wissen konnte. Er wurde ja nicht entrückt, um selig zu sein, sondern um für die Seligkeit Zeuge zu sein. Zu 9.  Die Märtyrer empfingen inmitten ihrer Qualen etwas von der Glorie Gottes, jedoch nicht in dem Sinne, daß sie diese Herr­ lichkeit gewissermaßen aus der Quelle tranken – wie diejenigen, die Gottes Wesenheit schauen –, sondern daß sie von der Herrlich­ keit besprengt und erfrischt wurden. Daher schreibt Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis55: »Dort, wo Gott in seiner Wesenheit geschaut wird, trinkt man das ewige Leben aus seiner Quelle; von dort her empfängt das menschliche Leben bereits einige Tropfen, damit man in den Prüfungen dieser Zeit beherrscht, tapfer, gerecht und klug lebe.« Zu 10.  Die schauende, theoretische Vernunft ist nicht gezwungen, auf die äußeren Handlungen Acht zu geben, sondern kann sich mit anderem, Intelligiblem, befassen. Doch kann der Akt des schauen­ den Erkennens von solcher Heftigkeit und Intensität sein, daß er gänzlich von der sinnenhaften Tätigkeit loslöst. Zu 11.  Während dieses Aktes der Gottesschau hatte Paulus zwar den Habitus des Glaubens, nicht aber dessen Vollzug. Daher ist das Argument hinfällig. 53  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 24 (CSEL 28/1, 416). 54  Augustinus, De trin. I, 9, 18 (PL 42, 833; CCSL 50, 54). 55  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 26 (CSEL 28/1, 419).

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4. Artik el Die vierte Frage lautet: Wie tiefgreifend muß die Entrückung sein, damit der Intellekt des Menschen Gott in seiner Wesenheit schauen kann?56 Es sieht so aus, als sei eine Suspendierung von derjenigen Einheit gefordert, in der die Seele die Form des Leibes ist; denn: 1.  Die Kräfte der Seele, in denen sie Lebensprinzip ist, sind ja in höherem Maße materiell als die sinnenhafte Empfindung der Seele. Damit das geistige Erkenntnisvermögen Gott in seiner Wesenheit schauen kann, muß eine Entrückung von den Sinnen eintreten, wie oben dargelegt wurde. Also erfordert die Reinheit jener Schau noch viel mehr, daß auch eine Entrückung von den Vollzügen der Seele als Lebensprinzip eintrete. Eine derartige Entrückung aber kann es im Zustand dieses leiblichen Lebens nicht geben, solange die Seele dem Leib als seine Form geeint ist. So sagt Aristoteles, daß »die sinnen­ haften Lebewesen immerzu durch Nahrung aufgebaut werden«57. 2.  Zu jener Stelle in Ex. 33, 20: »Kein Mensch wird mich sehen und am Leben bleiben«, sagt die Glosse aus Augustinus58: »Hier weist er darauf hin, daß Gott, so wie er ist, für dieses Leben, das Leben im sterblichen Fleisch, nicht sichtbar ist. Er kann jedoch in jenem Leben gesehen werden, wo man, um zu leben, diesem Leben absterben muß.« Die Glossa aus Gregor zu der gleichen Stelle sagt59: »Wer die Weisheit schaut, welche Gott ist, stirbt diesem irdischen Leben gänzlich ab.« Sterben aber heißt Trennung der Seele vom Leib, dessen Form sie ist. Daher bedarf es zur Schau Gottes in seinem We­ sen einer gänzlichen Lösung der Seele vom Leib. 3. »Leben heißt für die lebendigen Wesen zu sein«, steht im 2. Buch Über die Seele60. Daß der lebendige Mensch ist, stammt aus der Vereinigung des Leibes und der Seele als seiner Form. Ex. 33, 20 aber heißt es: »Kein Mensch wird mich sehen und am Leben blei­ 56  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  175, a.  5; q.  180, a.  5. 57  Aristoteles, Top. II, 4; 111 b 25. 58  Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum II, q.  154, 5 (PL 34, 649;

CCSL 33, 142). 59  Gregor der Große, Moralia in Iob XVIII, 54, 89 (PL 76, 93 A; CCSL 143A, 952). 60  Aristoteles, De an. II, 4; 415 b 13.

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ben«. Solange also die Seele dem Leib als seine Form geeint ist, kann man Gott in seiner Wesenheit nicht schauen. 4.  Die Einigung der Seele mit dem Leib unter dem Gesichtspunkt der Form ist stärker als die Einigung mit ihm unter dem Gesichts­ punkt, daß sie sein Bewegungsprinzip ist. Aus letzterer Einigung entstammen die Tätigkeiten, welche mittels der Körperorgane aus­ geführt werden. Bereits diese Einigung behindert die Schau der göttlichen Wesenheit, weswegen die Entrückung von den Körper­ sinnen eintreten muß. Noch viel mehr wird die vorausliegende Eini­ gung ein Hindernis bilden. 5.  Eine Potenz wird nicht über den Modus der Wesenheit hinaus erhoben, in der sie wurzelt und aus der sie fließt. Wenn die Wesen­ heit der Seele dem materiellen Leib als Form geeint ist, dann kann unmöglich die Erkenntnis-Potenz dieser Seele zu völlig unkörperli­ chen Gegenständen erhoben werden. 6. Die Verbindung mit dem Leibe bedeutet eine größere Ein­ schränkung für die Reinheit der Seele als die Verbindung mit einem Körperbild. Damit der Geist Gott in seiner Wesenheit schauen kann, bedarf es der Reinigung von allen körperlichen Bildern, die mittels der Vorstellungskraft und der Sinne aufgenommen werden – wie oben gesagt. Um wieviel mehr ist dann eine Trennung vom Körper nötig, damit Gottes Wesenheit geschaut werde! 7.  In 2 Kor. 5, 6 heißt es: »Solange wir in diesem Leibe sind, wan­ dern wir als Pilger fern vom Herrn; wir gehen im Glauben, nicht im Schauen.« Solange die Seele im Leibe ist, kann sie daher Gott in seiner Gestalt nicht schauen. Dagegen spricht: 1. Die Glossa zu jener Stelle Ex. 33, 20: »Kein Mensch wird mich sehen und am Leben bleiben«, sagt mit den Worten Gregors: »Man­ chen Menschen, die noch in diesem Leibe leben, doch an Tugend­ kraft unaussprechlich wachsen, ist es möglich, die Klarheit des ewi­ gen Gottes zu schauen.«61 Die gleiche Glossa sagt, daß die »Klarheit« Gottes Wesenheit sei. Demnach ist es für die Schau der göttlichen 61  Glossa ordinaria, vgl. Gregor der Große, Moralia in Iob XVIII, 54, 89 (PL 76, 93 A; CCSL 143A, 952).

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Wesenheit nicht notwendig, daß die Seele sich gänzlich vom Leibe trenne. 2.  Augustinus schreibt im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis62, es gebe nicht nur eine Entrückung der Seele zur Schau in der Vorstellungskraft, sondern auch zu einer intellektiven Schau; bei dieser werde die Wahrheit selbst klar erblickt, wobei die Entrückung von den Sinnen geringer sei als im Tod, aber größer als im Schlaf. Daraus folgt, daß zur Schau der ungeschaffenen Wahrheit, von der Augustinus hier spricht, keine Trennung der Seele vom Leib – als dessen Form – erforderlich ist. 3.  Das gleiche ergibt sich aus dem Brief, den Augustinus an Pau­ lina Über die Gottesschau schrieb: »Es ist nicht unglaubhaft, daß einigen Heiligen diese außerordentliche Weise der Offenbarung ge­ währt wurde, noch bevor sie so gestorben waren, daß ihr Körper nur noch der Bestattung harrte.«63 Antwort: Die Schau des göttlichen Wesens ist der vollkommenste Akt des Intellekts; dazu ist erforderlich, daß dieser von all dem abgezogen wird, was die Bündelung seiner Energie hindert und umgekehrt von dieser behindert wird. Das kann entweder in der Sache selbst be­ gründet sein oder aber als Begleiterscheinung eintreten. An sich selbst betrachtet, behindern sich das geistig-intellektive Erkennen und die Tätigkeit der Sinne gegenseitig; denn zum einen muß in beiden Tätigkeiten die Absicht anwesend sein, zum andern verbindet sich der Intellekt auf gewisse Weise mit der Sinnestä­ tigkeit, wenn er etwas von den Sinnesbildern her aufnimmt. Wie oben gesagt, verliert auf diese Weise der Intellekt etwas von seiner Reinheit. Im Unterschied dazu erfordert die Vereinigung von Kör­ per und Seele als seiner Form keine Absicht; denn diese Einigung hängt nicht vom Wollen der Seele ab, sondern mehr von der Na­ tur. Ebenso wird durch diese Vereinigung die Reinheit des Intellekts nicht unmittelbar beeinträchtigt; denn die Seele als Form ist dem Leib nicht mittels ihrer Potenzen geeint, sondern durch ihr Wesen: 62  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 26 (CSEL 28/1, 419 f.). 63  Augustinus, Ep. 147, 13 (PL 33, 610).

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Es gibt nichts Mittleres zwischen Form und Materie, wie Aristote­ les im 8. Buch der Metaphysik64 darlegt. Jedoch ist die Seele nicht auf solche Weise mit dem Leib geeint, daß sie gänzlich die Bedin­ gungen des Körpers übernähme – wie es bei anderen, materiellen Formen der Fall ist, welche gleichsam ganz und gar in die Materie eingesenkt sind, so daß keine Kraft oder Tätigkeit von ihnen ausge­ hen kann außer eine materielle. Aus der Wesenheit der Seele aber entspringen nicht nur Kräfte und Fähigkeiten, die gewissermaßen körperlich sind, etwa die Akte der Körperorgane, also die sinnenhaf­ ten und vegetativen Kräfte, sondern auch die intellektiven Kräfte. Diese sind gänzlich unstofflich, immateriell; sie existieren nicht als Akt des Körpers oder eines Teils des Körpers, wie im 3. Buch Über die Seele65 bewiesen wird. Daraus ergibt sich, daß die intellektiven Kräfte aus dem Wesen der Seele nicht in der Hinsicht hervorgehen, daß sie mit dem Leib geeint ist, sondern eher in der Hinsicht, daß die Seele eine gewisse Freiheit vom Leibe bewahrt, ihm also nicht völlig unterworfen ist. Somit reicht die Einheit von Seele und Leib nicht bis zur Tätigkeit des Intellekts hinan, so daß seine Reinheit beeinträchtigt werden könnte. An sich also erfordert keine noch so intensive Tätigkeit des geistigen Erkennens eine Lösung jener Ein­ heit, welche die Seele als Form mit dem Leibe verbindet. Ebenso­ wenig ist eine Lösung von denjenigen Tätigkeiten erforderlich, mit denen die Seele den Leib lebendig erhält (vegetabilis). Diese Tätig­ keiten sind gewissermaßen natürlich, was sich daran zeigt, daß sie durch die aktiven und passiven Qualitäten: warm und kalt, feucht und trocken, vervollständigt werden; daher gehorchen sie auch nicht der Vernunft oder dem Willen, wie im 1. Buch der Nikomachischen Ethik66 dargelegt wird. Damit ist auch klar, daß für diese Tätigkeiten keine Absicht erforderlich ist, also die Absicht nicht von der intel­ lektiven Tätigkeit abgezogen werden muß, um diese Akte zu voll­ ziehen. Ebensowenig vermischt sich die Tätigkeit des Intellekts mit derartigen Tätigkeiten. Zum einen nämlich empfängt der Intellekt nichts aus diesem Bereich; denn diese Kräfte haben nichts mit dem 64  Aristoteles, Met. VIII, 5; 1045 a 23. 65  Aristoteles, De an. III, 7; 429 a 24. 66  Aristoteles, Eth. Nic. I, 20; 1102 b 29.

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Quaestio · 13

Erkennen zu tun. Zum andern bedient sich der Intellekt auch nicht eines körperlichen Instruments, das durch die Tätigkeit der Seele als vegetatives Prinzip aufrechterhalten werden muß, wie es bei den Organen der Sinneskräfte der Fall ist. Die Tätigkeiten der Seele als vegetatives Prinzip tun also der Reinheit des Intellekts keinerlei Ein­ trag. An sich betrachtet behindern sich also die vegetativen Tätig­ keiten und die intellektive Tätigkeit nicht. Es kann jedoch zu einer gegenseitigen Behinderung als Begleit­ erscheinung kommen (per accidens): insofern der Intellekt etwas von den durch die Sinne gewonnenen Bildern (phantasmata) emp­ fängt, diese aber ihren Sitz in den Körperorganen haben, und diese wiederum durch die vegetative Tätigkeit ernährt und erhalten wer­ den. Die Disposition der körperlichen Organe kann also aufgrund dessen variieren und in der Folge auch die Tätigkeit der Sinneskräfte, von denen der Intellekt etwas empfängt. Und so kann es als Begleit­ erscheinung vorkommen, daß die Tätigkeit des Intellekts behindert wird, wie es sich im Schlaf oder nach dem Essen zeigt. Auch das Umgekehrte kann vorkommen, daß nämlich die Tätigkeit des Intel­ lekts die Tätigkeit des vegetativen Seelenvermögens beeinträchtigt, insofern zur Tätigkeit des Intellekts auch die Tätigkeit der Vorstel­ lungskraft erfordert ist. Damit diese wiederum kraftvoll sei, müs­ sen Wärme und Lebensgeister sich konzentrieren, und so kann die Heftigkeit der Kontemplation die Tätigkeit der nutritiven Kraft be­ hindern. Aber dieser Fall tritt nicht ein, wenn das Wesen Gottes ge­ schaut wird; denn diese Art der Kontemplation bedarf der Tätigkeit der Vorstellungskraft nicht. Um Gott in seiner Wesenheit zu schauen, ist also keineswegs eine Trennung von den Akten der vegetativen Seele erforderlich, noch eine Schwächung dieser Akte. Erforderlich ist lediglich eine Tren­ nung von den Akten der Sinnesfähigkeiten. Zu 1.  Gewiß sind die vegetativen Kräfte noch mehr stofflich als die Sinneskräfte; aber gerade dadurch sind sie vom Intellekt auch weiter entfernt und können seine Vollkraft weniger hindern und umgekehrt weniger beeinträchtigt werden. Zu 2.  »Leben« kann in zweierlei Bedeutung verwendet werden: einmal als das Sein des Lebendigen, das sich ergibt aus der Einigung

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der Seele als Form mit dem Leib, das andere Mal als »Vollzug des Lebens«, wie Aristoteles im 2. Buch Über die Seele »leben« mittels »einsehen«, »fühlen« und anderer Tätigkeiten der Seele bestimmt.67 Ähnliches gilt vom Tod als dem Verlust von Leben: Man muß unter­ scheiden, wann er den Verlust jener Einheit zwischen Leib und Seele als dessen Form bedeutet und wann den Verlust der Tätigkeiten des Lebens. Augustinus schreibt daher im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis68: »Diesem Leben stirbt man auf gewisse Weise; ent­ weder indem man ganz aus dem Leibe auszieht oder indem man sich von den Körpersinnen abkehrt und ihnen entfremdet wird.« In diesem Sinn sprechen die angeführten Zitate der Glossa vom Sterben. Das ergibt sich ganz klar aus dem, was die Gregor-Glosse hinzufügt69: »Wer jene Weisheit schaut, die Gott ist, der stirbt die­ sem Leben gänzlich ab, damit er nicht von der Liebe dazu gefesselt zurückgehalten wird.« Zu 3.  Die Antwort darauf ist klar. Zu 4.  Weil die Einigung der Seele mit dem Leib als dessen Form stärker ist, kann weniger leicht eine Lösung davon bewirkt werden. Zu 5.  Dieses Argument wäre schlüssig unter der Voraussetzung, daß die Wesenheit der Seele dem Leibe in einer Weise geeint wäre, daß sie ihm ganz unterworfen wäre. Daß das falsch ist, haben wir dargetan. Zu 6.  Das Bild eines Körpers, das für die Tätigkeit der Vorstel­ lungskraft und des Sinnesvermögens erforderlich ist, ist zwar weni­ ger stofflich als der Körper selbst. Zugleich steht es aber der Tätigkeit des Intellekts näher, und deswegen kann es ihn leichter behindern. Zu 7.  Das Wort des Apostels ist so zu verstehen: »Wir sind im Leibe«, nicht nur insofern die Seele als Form mit dem Leib geeint ist, sondern auch insofern wir uns der leiblichen Sinne bedienen.

67  Aristoteles, De an. II, 3; 413 a 22. 68  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 27 (CSEL 28/1, 422). 69  Gregor der Große, Moralia in Iob XVIII, 54, 88 (PL 76, 93 A; CCSL

143A, 952).

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Quaestio · 13

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Was wußte der Apostel Paulus in Bezug auf seinen Raptus, und was wußte er nicht?70 Anscheinend wußte er, ob seine Seele sich im Leibe befand; denn: 1.  Er selbst wußte das besser als irgendjemand von den später fol­ genden Leuten. Allgemein verbreitet ist die Lehrmeinung, daß die Seele des Paulus zu diesem Zeitpunkt in seinem Leibe war, diesem geeint als Form. Also wußte Paulus dies noch viel genauer. 2.  Paulus wußte, was er im Raptus geschaut und in welcher Art von Schau er es geschaut hatte; denn er sagt ja: »Ich weiß von ­einem Menschen, der bis in den dritten Himmel entrückt wurde.«71 Er wußte also, was jener Himmel war, ob etwas Körperliches oder et­ was Geistiges, und ob er das auf geistige oder leibliche Weise sah. Daraus aber folgt, daß er auch wußte, ob er im Leib oder außerhalb des Leibes diese Schau hatte; denn eine leibliche Schau kann es nur mittels des Leibes geben, eine rein geistige, intellektive Schau aber vollzieht sich stets ohne Leib. 3.  Wie er selbst sagt, kannte er »einen Menschen, der bis zum dritten Himmel entrückt ward«. »Mensch« aber bezeichnet eine Verbindung von Seele und Leib. Also wußte er auch, daß die Seele dem Leibe verbunden war. 4.  Er wußte selbst, daß er den »Raptus« erfuhr; das ergibt sich aus seinen Worten. Von Gestorbenen sagt man nicht, daß sie den Rap­ tus erleiden. Er wußte also selbst, daß er nicht tot war; also wußte er auch, daß seine Seele dem Leibe geeint war. 5.  Im Raptus schaute er Gott auf solche Weise, wie ihn die Heili­ gen des Himmels schauen, nach den Worten Augustins im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis, und ebenso im Brief Über die Gottesschau.72 Die Seelen der Heiligen im Himmel wissen, ob sie im Leibe oder außerhalb des Leibes weilen. Also wußte dies auch Paulus.

70  Paralleltexte: Sum. theol. II-II, q.  175, a.  6. 71  2 Kor. 12, 2. 72  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 28 (CSEL 28/1, 422 f.); Ep. 147, 13

(PL 33, 610; CSEL 44, 285 f.).

5. Artikel

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6. Gregor sagt: »Was schauen denn diejenigen nicht, die Den schauen, der alles schaut?«73 Und das bezieht sich offenbar vor allem auf die Situation der Schauenden selbst. Dazu gehört aber in erster Linie, ob die Seele mit dem Leib geeint ist oder nicht. Dagegen spricht, was in 2 Kor. 12, 2 steht: »Ich weiß von einem Menschen in Chri­ stus, der vor vierzehn Jahren, sei es im Leib oder außerhalb des Lei­ bes, ich weiß es nicht, Gott weiß es, entrückt wurde …«. Antwort: In dieser Frage werden viele Positionen vertreten. Manche verstanden die Worte des Paulus über sein Nicht-Wissen so, als habe er nicht die Verbindung der Seele mit dem Leib im Zu­ stand des Raptus angesprochen, sondern ob der Raptus Seele und Leib zugleich ergriffen habe – so daß Paulus auch dem Leibe nach in den Himmel getragen worden sei, wie man vom Propheten Ha­ bakuk im Buch (14, 35) liest –, oder ob dieser Raptus nur die Seele ergriffen habe – das heißt in Schauungen Gottes, wie es bei Ezechiel (40, 2) heißt: »In göttlichen Schauungen brachte er mich in das Land Israel«. Dieses Verständnis eines gewissen Juden legt Hieronymus im Prolog zum Buch Daniel74 dar, wo er schreibt: »Schließlich habe auch unser Apostel nicht gewagt zu behaupten, er sei im Leibe ent­ rückt worden, sondern gesagt: Ob im Leib oder außerhalb des Leibes, ich weiß es nicht.« Augustinus aber verwirft diese Auffassung im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis75: »Den Worten des Apostels zufolge steht fest: Er wußte, daß er in den dritten Himmel entrückt wor­ den war. Es steht auch fest, daß jener Himmel, in den er entrückt wurde, wirklich ein Himmel und nicht irgendein Bild eines Him­ mels war. Hätte er nämlich seine Aussage so verstanden haben wol­ len: er sei entrückt worden, um in einer Schau der Einbildungskraft ein Bild des Himmels zu sehen, dann hätte er ebenso behaupten 73  Gregor der Große, Dialogi IV, 34, 5 (SC 265, 116). 74  Hieronymus, Praef. in Dan. proph. (PL 28, 1360 A). 75  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 3–5 (CSEL 28/1, 382–386).

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können, er sei im Leibe entrückt worden, das heißt: zum Bild eines Körpers. Er hätte nicht zu unterscheiden brauchen, was er wußte und was er nicht wußte; denn er hätte beides in gleicher Weise ge­ wußt: daß er in den Himmel entrückt wurde und daß er im Leib entrückt wurde, das heißt, zum Bild eines Körpers, wie es im Schlaf geschieht. Er wußte also mit Sicherheit, daß das, wohin er entrückt wurde, wirklich ein Himmel war; er wußte also auch, ob dieser kör­ perlich oder unkörperlich war. Wenn es ein Körper war, dann wurde er leibhaft dahin entrückt, wenn aber etwas Unkörperliches, dann konnte er leibhaft nicht dahin entrückt werden. Es bleibt also üb­ rig, daß der Apostel nicht im Zweifel war, ob jener Raptus leibhaft oder rein geistig war, vielmehr wußte er, daß er nur dem geistigen Erkenntnisvermögen nach in den Himmel entrückt worden war. Er war jedoch im Zweifel, ob während dieser Entrückung seine Seele im Leibe war oder nicht.« Das geben auch andere Autoren zu; doch sie sagen, der Apo­ stel habe dies zwar während des Raptus nicht gewußt, danach aber schon; er habe das aus der vorher erhaltenen Vision als Vermutung schließen können. In der Erfahrung des Raptus sei sein Geist (mens) ganz und gar auf das Göttliche ausgerichtet gewesen, und er habe auch nicht mehr wahrgenommen, ob seine Seele im Leibe war oder nicht. Doch diese Ansicht widerspricht ganz klar den Worten des Apostels selbst. Ebenso, wie er unterschied, was er wußte und was nicht, unterschied er auch Vergangenheit und Gegenwart. Er erzählt gewissermaßen ein vergangenes Ereignis, wenn er von dem »Men­ schen, der vor vierzehn Jahren entrückt wurde«, berichtet, aber das Bekenntnis von dem, was er wisse oder nicht wisse, bezieht sich auf die Gegenwart. Das heißt, daß er auch vierzehn Jahre nach dem Raptus nicht wußte, ob die Entrückung im Leib oder außerhalb ge­ wesen war. Darum sagen wieder andere76, Paulus habe weder während des Raptus noch später gewußt, ob seine Seele auf eine bestimmte Weise im Leib war; sein Nicht-Wissen habe sich nicht auf die Verbindung von Leib und Seele an sich bezogen. Sie vertreten, daß Paulus da­ 76  Alexander von Hales, Quaestiones disputatae ›antequam esset fra­ ter‹, q.  68, m.  1, n.  8 (ed. Coll. S. Bon., Quaracchi 1960, III, 1347 f.).

5. Artikel

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mals und später gewußt habe, daß seine Seele mit dem Leib als seine Form verbunden gewesen sei, habe aber nicht gewußt, ob die Ver­ einigung auch bewirkte, daß die Seele etwas von den Sinnen emp­ fangen konnte. Manche meinen auch, daß sein Nicht-Wissen sich darauf bezog, ob die Kräfte, mit denen die Seele den Leib lebendig erhält und ernährt, am Wirken waren. Aber auch diese Lösung scheint nicht den Worten des Apostels gerecht zu werden; denn er sagt einfach und schlicht, er habe nicht gewußt, ob im Leibe oder außerhalb. Würde er sagen, er wisse nicht, ob auf diese oder jene Weise im Leibe, dann würde dies auch nicht viel zur Sache beitragen, da die Seele ohnehin vom Leibe nicht völ­ lig getrennt war. Daher muß man antworten: Er wußte einfach nicht, ob die Seele mit dem Leib verbunden war oder nicht. Genau diesen Schluß zieht Augustinus im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis77 nach einer langen Erörterung der Frage: »Es bleibt uns also wohl nur, einzuse­ hen, daß Paulus selbst nicht gewußt hat, ob er bei der Entrückung in den dritten Himmel im Leibe war, wie die Seele im Leibe ist, wenn man den Leib ›am Leben‹ nennt – ob im Wachzustand oder im Schlaf oder in einer Ekstase mit Entrückung von der Sinnestätigkeit –, oder ob seine Seele aus dem Leibe heraustrat, so daß der Leib tot dalag, bis die Seele nach der Schau des Geoffenbarten den toten Gliedern wieder zurückgegeben wurde; in diesem Fall wäre er nicht wie ein Schlafender erwacht oder aus der Ekstase zur normalen Sinnestätig­ keit zurückgekehrt, sondern als Gestorbener gänzlich wieder zum Leben gekommen.« Zu 1.  Augustinus schreibt im 12. Buch Über den Wortlaut der Gnesis78: »Ob im Leibe oder außerhalb, darüber ist der Apostel im Ungewissen. Und wenn er es nicht sicher weiß, wer von uns wagte es, hier sicher zu sein?« Augustinus läßt also die Frage unentschie­ den. Wenn spätere Autoren hierin eine Lösung vorschlagen, dann sprechen sie mehr aufgrund von Wahrscheinlichkeit als aus Sicher­ heit. Weil es möglich war, daß die Seele ihrem Leib vereint blieb, als 77  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 5 (CSEL 28/1, 386). 78  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 3 (CSEL 28/1, 383).

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Quaestio · 13

sie den Raptus erfuhr, wie ihn der Apostel beschreibt, ist es wahr­ scheinlicher, daß sie ihm tatsächlich geeint blieb. Zu 2.  Dieses Argument wendet sich gegen das zuerst erwähnte Verständnis der Worte Pauli, nach dem er nicht über die Umstände des Raptus – d. h., ob die Seele mit dem Leib vereint war –, sondern über die Art und Weise der Entrückung im Zweifel gewesen sei – d. h., ob er leiblich oder nur im Geist entrückt worden sei. Zu 3.  Manchmal kann ein Teil des Menschen als Bezeichnung für den ganzen Menschen stehen, das ist die Redefigur der Synekdoche. Vor allem gilt das für die Seele, welche der hervorragendere Teil des Menschen ist. Man könnte das aber auch so verstehen, daß derje­ nige, von dem der Raptus berichtet wird, zum damaligen Zeitpunkt eben kein Mensch gewesen sei, wohl aber vierzehn Jahre später, als der Apostel schrieb: »Ich weiß einen Menschen …«. Jedenfalls sagt er nicht, daß ein Mensch bis zum dritten Himmel entrückt wurde. Zu 4.  Nehmen wir an, daß die Seele des Apostels während die­ ses Zustandes vom Leib getrennt war, so trat diese Trennung jedoch nicht auf natürliche Weise ein, sondern wurde durch Gottes Kraft bewirkt. Zog dieses göttliche Wirken die Seele vom Leib ab, dann nicht, damit sie einfachhin getrennt bleibe, sondern nur für eine bestimmte Zeit. Unter dieser Hinsicht konnte man von »entrückt« sprechen; wenngleich man diesen Ausdruck nicht auf jeden Verstor­ benen anwenden kann. Zu 5.  Auf diesen Einwand kann man mit Augustinus antworten, der im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis schreibt79: Als der Apostel den Sinnen des Leibes entrissen wurde und in den dritten Himmel, das Paradies, entrückt wurde, da fehlte ihm mit Sicher­ heit eines zur vollen und vollendeten Erkenntnis der Dinge, wie sie die Engel haben: daß er nicht wußte, ob er im Leibe oder außerhalb des Leibes war. Dies wird nicht mehr fehlen, wenn wir bei der Auf­ erste­hung der Toten unseren Leib wieder erhalten und dieses Ver­ gängliche sich mit Unvergänglichkeit bekleidet.« Daraus ergibt sich klar, daß die Schau des Paulus der Schau der Seligen in bestimmter Hinsicht ähnlich, aber auch in bestimmter Hinsicht unvollkomme­ ner war. 79  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 36 (CSEL 28/1, 434).

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Zu 6.  Paulus erfuhr den Raptus nicht zu dem Ziel, einfachhin selig zu sein, sondern damit er Zeuge der Seligkeit der Heiligen und Zeuge der göttlichen Geheimnisse sein konnte, die ihm enthüllt wurden. Darum schaute er in der Schau des Wortes nur das, wes­ wegen er entrückt worden war. Er schaute nicht alles, wie die Seli­ gen, vor allem nach der Auferstehung. Dann nämlich wird, nach den eben zitierten Worten Augustins, »alles ganz klar aufleuchten, ohne Fehl, ohne Unwissenheit.«80

80  Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 36 (CSEL 28/1, 434).

NACHWORTE

Zur Quaestion 10 von David Marshall (†) Die historische Leistung des Hl. Thomas besteht darin, die geistige oder wissenschaftliche Haltung zur Natur, die durch die Logik des Aristoteles den Menschen zum ersten Mal eröffnet worden war, auch für Christen zugänglich zu machen, wie dies Mose Maimonides für Juden und Avicenna für Muslime schon getan hatten. Wie Maimo­ nides trat hier auch Thomas in die Fußstapfen des Avicenna, denn der Weg war nicht einfach. Um sein Ziel zu erreichen, mußte Thomas die christliche Theo­ logie des Hl. Augustinus, der sich philosophisch als Platoniker ver­ standen hatte, mit der Weltweisheit des Aristoteles harmonisieren. Dieser hatte sich bekanntlich in vielen Punkten von seinem Meister entfernt, unter anderem gerade in dem Punkt, den Platon mit den heiligen Schriften des Judentums und des Christentums gemeinsam hatte, nämlich der Lehre, daß die Welt von Gott erschaffen wurde. Etwa 700 Jahre nach dem Tod des Aristoteles geboren, scheint Augustinus von ihm nur die Kategorienschrift gelesen zu haben. Im Denken Platons hingegen war er tief verankert. In seiner Ab­ handlung De trinitate, die dicht mit platonischer Philosophie verwo­ ben ist, bemüht er sich, überall in der Natur Spuren des dreieinigen Schöpfers zu finden. Im 10. Buch dieses Werkes wendet er sich der menschlichen Seele zu und stellt die These auf, daß sich memoria, intelligentia und voluntas zueinander so verhalten wie Vater, Sohn und Heiliger Geist. Daß er den Vater als memoria versteht, läßt an die Lehre des Menon denken, daß wir nur das erlernen können, was wir schon wissen, sodaß wir, um Wahres zu erlernen, gut bera­ ten sind, nicht über die Sinnesorgane nach außen zu schauen, son­ dern uns zu erinnern. Daß der Sohn des Vaters sein heiliges Wort ist, könnte eine Theologisierung der Lehre vom Theaetet sein, wo­ nach Sokrates, dem es mit seinem geschickten Fragen oft gelang,

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Nachworte

einen Menschen zum Sprechen zu bringen, eigentlich nur den Be­ ruf seiner Mutter übte, die Hebamme gewesen war; denn das Spre­ chen e­ ines Menschen, der Wahres sagt, sei eine Art Geburt, das ge­ schickte Fragen des Sokrates also Geburtshilfe. Da sich Aristoteles die ewigen Ideen seines Meisters nur als in Materie existierend denken konnte, mußte er die Materie mit der Ewigkeit der Ideen ausstatten, und lehnte konsequenterweise jede Schöpfungslehre ab. Diese Haltung schien ihm auch seine Logik ab­ zuverlangen, denn jeder gültige Syllogismus muß mindestens eine Prämisse mit der Form haben »Alle A sind B« oder »Kein A ist ein B«. Das sind Aussagen, die auf alle A bezogen sind, egal, wann sie existieren – also Gültigkeit beanspruchen über einen zeitlichen Ho­ rizont, der sowohl anfangs- wie auch endlos ist –, und zweitens nach Auffassung des Aristoteles nur Lärm wären, wenn es keine A oder keine B gäbe. So schien ihm die Ewigkeit der Welt die selbstver­ ständliche Voraussetzung jeder universalen Aussage zu sein. Hier macht sich Aristoteles natürlich dessen schuldig, was der modernen Logik als der sogenannte existentielle Fehlschluß bekannt ist. Das soll jetzt erklärt werden. Es ist das Ziel der Logik, die Bedingungen festzulegen, unter ­denen eine Aussage aus anderen Aussagen folgt oder sich ergibt. In der Logik des Aristoteles ist jede Aussage entweder universal oder partikulär und entweder bejahend oder verneinend. So erkennt er Aussagen von vier Typen an, die er mit vokalischen Buchstaben symbolisiert. A = ›Alle A sind B‹ = universal und bejahend. E = ›Keine A sind B‹ = universal und verneinend. I = ›Einige A sind B‹ = partikulär und bejahend. O = ›Einige A sind nicht B‹ = partikulär und verneinend. Von diesen vier Typen verhalten sich die Elemente von zwei Paaren, A-O und E-I, kontradiktorisch zueinander, d. h., die eine ist schlicht die Verneinung der anderen, mit der Folge – da alles entweder der Fall ist oder nicht –, daß die eine wahr, die andere falsch ist. Bis zu diesem Punkt ist zwischen der Logik des Aristoteles und der moder­ nen Logik keine Differenz zu verzeichnen. Ab diesem Punkt setzen die Differenzen ein.

Zu Quaestion 10

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Entweder fallen sie mit dem existentiellen Fehlschluß zusammen, oder sie sind dessen Folgen. Dieser Fehlschluß wird begangen, wenn behauptet wird, eine A-Aussage impliziere die entsprechende I-Aus­ sage, oder eine E-Aussage impliziere die entsprechende O-Aussage. Beides lehrt Aristoteles zu Unrecht, obwohl seine Lehre den Schein der Richtigkeit für sich hat. Wenn gilt, ›Alle A sind B‹, dann scheint auch ›Einige A sind B‹ zu gelten, denn ›einige‹ sage weniger aus als ›alle‹. Oder wenn gilt, ›Kein A ist ein B‹, dann scheint aus demselben Grund auch ›Einige A sind nicht B‹ zu gelten. Obwohl Aristoteles beides lehrte, macht keiner deutlicher als er selbst, warum diese Folgerungen fehlerhaft sind. »Wir sagen dann, alle A sind B«, schreibt er, »wenn gilt, dass es nichts gibt, das ein A, aber kein B wäre, und kein A ist ein B, wenn gilt, dass es nichts gibt, das sowohl ein A wie auch ein B wäre.«1 Aristoteles sagt uns hier, daß eine universale Aussage, ob bejahend oder verneinend, eine Existenzverneinung ist. Die A-Aussage behaupte demnach, »Es exi­ stiert kein A, das nicht ein B wäre«, und die E-Aussage, »Es existiert kein A, das ein B wäre.« Da die zwei partikulären Aussagen, I und O, die jeweils kontradiktorische Verneinungen der universalen Aus­ sagen sind und weil die Verneinung einer Verneinung einfach die Behauptung des Verneinten ist, sind die zwei partikulären Aussagen Existenzbehauptungen. Die neue Tafel ist wie folgt. A = ›Es existiert kein A, das nicht ein B wäre.‹ E = ›Es existiert kein A, das ein B wäre.‹ I = ›Es existiert ein A, das ein B ist.‹ O = ›Es existiert ein A, das kein B ist.‹ Der Umstand, daß die zwei partikulären Aussagen Existenzbehaup­ tungen und die zwei universalen Aussagen deren Verneinungen sind, ist genau im Sinne der modernen Logik und macht deutlich, warum in der strittigen Folgerung Aristoteles Unrecht hatte. Schauen wir zunächst nur den Fall an, in dem er aus der A-Aussage (›Es existiert 1  Aristoteles, Anal. Priora 1; 24 b 28–30: »λέγομεν δὲ τὸ κατὰ παντὸς κατηγορεῖσθαι ὅταν μηδὲν ᾒ λαβεῖν τῶν τοῦ ὑποκειμένου καθ’ οὖ θάτερον οὐ λεχθήσεται· καὶ τὸ κατὰ μηδενὸς ὡσαύτως.« Verweise auf diese Stelle: 25 b 39–40; 26 a 24–25.

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Nachworte

kein A, das nicht ein B wäre‹) folgern wollte, ›Es existiert ein A, das ein B ist‹. Die letztere Aussage ist eine Existenzbehauptung, wo doch die Aussage, aus der sie gefolgert werden soll, keine solche enthält. Hier wäre es nicht unwichtig, den Gedankengang des Aristoteles zu beleuchten. Fragen wir also: »Unter welchen Bedingungen wäre die besagte Folgerung berechtigt?« Die Antwort hierauf ist nicht schwer: Die Folgerung wäre dann berechtigt, wenn feststünde, daß es auf alle Fälle A gibt. Hatte Aristoteles Gründe, dies zu behaupten? Betrachten wir den Fall, in dem es keine A gibt, d. h., in dem A eine pure Möglichkeit ist. Dann ist A eine platonische Idee. Wenn das die gedankliche Verbindung war, sähe es so aus, als wäre der existenti­ elle Fehlschluß bei Aristoteles seinem Programm entwachsen, die ewigen Ideen, die im Denken seines Meisters nur im Himmel sein konnten, auf die Erde herunterzuholen, wo sie existieren können. Nun ist aber die Vorstellung, daß ewige Ideen nur in der Materie existieren können, von der Vorstellung nicht zu trennen, daß auch die Materie ewig sei – oder mindestens anfangs- und endlos in der Zeit –, und diese Überzeugung, wie schon bemerkt, ist der Grund, warum Aristoteles die Schöpfungslehre des Meisters ablehnte. Um sein Programm zu verwirklichen, mußte er den Beweis erstellen, daß die Zeit anfangs- und endlos ist. Für deren Anfangslosigkeit hatte der Biologe ein sehr starkes Argument: Jeder Hund stammt von Hunden, jeder Mensch von Menschen. Es fällt nicht sofort auf, daß mit dieser Banalität – gesetzt, daß sie wahr ist – die Anfangs­ losigkeit der Zeit erwiesen ist. Aber ist sie wirklich wahr? Wenn ja, dann gibt es keinen ersten Menschen und keinen ersten Hund. Mit unseren Erfahrungen stimmt dieses Prinzip vollkommen überein, und Aristoteles hat dessen logische Folgen erkannt. Das war seine Leistung. Seine gesamte philosophische Orientierung leitet sich von dieser Einsicht ab. Sollte die Zeit trotzdem einen Anfang haben, sodaß es doch einen ersten Hund und einen ersten Menschen gibt, dann ist das genannte Prinzip falsch. Dann werden wir sagen müssen, die Geschichte be­ wahrte für Charles Darwin auf, eine wissenschaftliche Erklärung dafür zu liefern, wie der gewaltige Geist des Aristoteles durch die universal menschliche Erfahrung so hoffnungslos in die Irre ge­ führt werden konnte.

Zu Quaestion 10

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Für die Endlosigkeit der Zeit ist der Beweis schwieriger, aber das scheint Aristoteles nicht gemerkt zu haben, denn er hatte schon ein rein logisches Argument, das sowohl die Anfangs- wie auch die Endlosigkeit der Zeit zu beweisen scheint. Nur hängt dieses Argu­ ment von dem existentiellen Fehlschluß ab. Platon hat bemerkt, daß die Zahlen dem Werden nicht unterwor­ fen sind. Die Zahl 7 wird nie zur Zahl 7¼ oder 6¾ werden, sondern sie wird ewig die Zahl bleiben, die sie ist. Dasselbe gilt für Aussa­ gen. Die Aussage »Alle Menschen sind Tiere« ist ewig diejenige AAussage, die sie ist. Da sie wahr ist, ist sie auch ewig wahr. Sollte sich von ihr die I-Aussage »Es existiert ein Mensch, der ein Tier ist« erschließen lassen, so haben wir den Beweis, daß die Spezies der Menschen anfangs- und endlos in der Zeit existiert. Und da der Mensch nicht existieren kann, ohne alles zu haben, was er zur Exi­ stenz braucht, gilt der Beweis auch für die ganze Welt. Das war die Position des Aristoteles. Die Tradition, der Thomas angehörte, blickte mit absoluter Klar­ heit in diese Verhältnisse. Schon Albertus Magnus veröffentlichte eine Schrift mit dem Titel Ob diese Aussage, Jeder Mensch ist ein Tier, auch dann wahr ist, wenn es keine Menschen gibt?2 Die Ant­ wort, die Albertus auf diese Frage gibt, ist entschieden positiv. Zur Begründung weist er darauf hin, daß die besprochene Aussage nicht auf die Frage antwortet, ob es Menschen gibt, sondern auf die Frage, was der Mensch sei. Diese Sprache wäre für Frege und Russell unge­ wöhnlich, denn die Gründe, die bei ihnen zählen, sind rein formal, aber im Endergebnis sind sie mit Albertus vollkommen einverstan­ den: Die besprochene Aussage impliziere nicht, daß es Menschen gibt. Es ist die zentralste These in der Philosophie des Thomas, daß die Frage, was ein Wesen sei, also wie seine Wesenheit oder Essenz (essentia) zu umschreiben sei, vollkommen unabhängig ist von der Frage, ob es existiere. Das bedeutet, daß das Wort essentia bei ihm eine völlig klare Bedeutung bekam, die es bis dahin nie gehabt und für die es nie einen lateinischen Ausdruck gegeben hatte. Das Wort 2  Utrum haec vera sit, Omnis homo animal est, nullo homine exi­ stente? De intellectu et intelligibili, tract. II, cap. III. Opera, ed. Borgnet, t.  XI, p.  494. Zitiert in P. Mandonnet, Siger de Brabant, Louvain 1911, p.  117.

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Nachworte

ist zuerst bei Seneca belegt, der aber behauptet, er hätte es bei Cicero als Latinisierung des griechischen οὐσία gefunden. Sprachlich und etymologisch wäre die Neubildung ein weiterer Grund, das Sprach­ gefühl Ciceros zu bewundern, aber semantisch ist eine οὐσία bei Aristoteles bloß ein Seiendes, eine Substanz, ein Einzelwesen, das entweder ruhen oder in Bewegung kommen kann. Das Wort essentia tritt in den Schriften des Thomas mit einer Häufigkeit auf, die durchaus seiner Wichtigkeit entspricht und zugleich einen auf­ fallenden stilistischen Unterschied zu Aristoteles bedingt. Thomas spricht immer von essentiae, Aristoteles hingegen ist der Begriff unbekannt. In der lateinischen Übersetzung der Werke des Aristote­ les, die Thomas gebrauchte, wurde zwar der aristotelische Ausdruck τὸ τί ἦν εἶναι immer mit essentia übersetzt. Diese Übersetzung ist aber irreführend. In seinem Aufsatz »Das τὸ ἑνὶ εἶναι, τὸ ἀγαϑῷ εἶναι etc. etc. und das τὸ τί ἦν εἶναι bei Aristoteles«3 zeigt Trendelenburg, daß dieser Ausdruck nur auf die forma substantialis bezogen sein kann. Eine thomistische essentia ist bei Aristoteles nirgends zu fin­ den. Nach aristotelischer Lehre setze sich jedes Einzelwesen aus zwei Prinzipien zusammen, nämlich Form und Materie, wobei es die Form mit anderen Einzelwesen gemeinsam hat, die dann zusammen mit ihm eine Art (species) bilden, während die Materie es von jedem anderen Einzelwesen in der Welt unterscheidet und trennt. Dabei konnte bei Aristoteles Materie nicht als abstrakter Begriff aufgefaßt werden. Thomas aber tut dies, mit der Konsequenz, daß für ihn eine gedachte Vereinigung von Form und Materie noch nicht der Ge­ danke eines Einzeldinges ist, sondern lediglich der einer abstrakten Möglichkeit – d. h. dessen Essenz. Zu seiner Verwirklichung fehle jedoch noch die Existenz, die nur durch eine Schöpfungstat zu er­ halten sei. Daß von ewigen Essenzen (essentiae) unabhängig von der Existenzfrage gesprochen werden kann, bedeutet natürlich, daß eine thomistische Essenz im Grunde eine platonische Idee im Geist Gottes ist. Eine Essenz ist immer der Inhalt eines Begriffes, der die Ähnlichkeit zwischen denjenigen Seienden zum Inhalt hat, von de­ 3  Ein Beitrag zur aristotelischen Begriffsbestimmung und zur grie­ chischen Syntax, in: Rheinisches Museum für Philologie, Geschichte und griechische Philosophie 2, 1828, 457–483.

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nen der Begriff ein wahres Prädikat ist. Ganz im Sinne von Thomas sagt Kant: »Die Existenz ist offenbar kein Prädikat.« Die Existenz, sagt Thomas in De ente et essentia, ist das Diversum in diversis, also das Gegenteil einer Ähnlichkeit und daher kein Begriff, son­ dern das, was früher ist als jeder Begriff, nämlich das, wovon Be­ griffe als Prädikate ausgesagt werden. Diese Auffassung der Exi­ stenz, die Augustinus noch völlig unbekannt war, scheint Thomas Avicenna zu verdanken. In der hier angefertigten Übersetzung hat das Wort Geist die Be­ deutung des lateinischen mens, das Thomas als Synonym von intellectus gebraucht. »… nomen mentis … dicitur in anima sicut et nomen intellectus.« (296, 104–105) Hinter diesen beiden Wörtern steht natürlich der aristotelische νοῦς. Nach Thomas hat jedes Sei­ ende der erschaffenen Welt eine ewige Wesenheit (essentia), die uns zwar unbekannt ist (»… rerum essentiae sunt nobis ignotae« 296, 112–113), aber sich uns in charakteristischen Vermögen (facultates, potentiae) zeigt. Im Falle des Menschen können diese Vermögen durch Tugenden (virtutes) zur Vollendung gebracht werden (perfici), aus denen dann schließlich Handlungen (actus) hervorgehen. Den Geist (mens, intellectus) verstehen sowohl Thomas wie auch Aristo­ teles als ein Vermögen der Seele, dessen charakteristische Handlung das Urteil (judicium) ist. Wir haben es hier mit technischen Ausdrücken der Sprache zu tun, die sich Aristoteles für das Fach Psychologie geprägt hatte. Tho­ mas eignete sich diese Fachtermini an und hielt es für seine hohe Pflicht, die christliche Welt mit ihnen vertraut zu machen. Über an­ derthalb Jahrtausende nach seinem Tode herrschte in der gesam­ ten monotheistischen Welt die Vorstellung, gebildet zu sein hieße, Aristoteles zu kennen. Weil Augustinus Platoniker war, kamen die Christen als letzte unter den Einfluß von Aristoteles, aber es waren auch die Christen, die dessen forschenden, bahnbrechenden Geist am weitesten voranbrachten. Weil wir der Führung dieses Geistes folgten, der kompromißlos der Wahrheit verpflichtet war, wissen wir heute, daß in seiner Physik, Biologie, Geologie, Astronomie und Psychologie praktisch nur noch längst Überholtes oder Widerlegtes zu finden ist. Die Wahrheit ist ohne jeden Zweifel ewig, aber der Weg zu ihr hin ist kein leichter.

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Nachworte

Nummer 10 der Quaestiones Disputatae ist dem Geist gewid­ met. Da der Geist nur erkennt und spricht, ist es kaum möglich, das Thema Geist zu behandeln, ohne gleichzeitig das Thema Erkennt­ nislehre mindestens anzugehen. Im Sed contra des sechsten Artikels bringt der Hl. Thomas folgendes Argument: Unser ganzes Wissen besteht ursprünglich in der Erkenntnis er­ ster unbeweisbarer Prinzipien. Das Wissen um diese aber entsteht in uns aus der Wahrnehmung, wie aus dem hervorgeht, was am Ende der Zweiten Analytica ausgeführt wird. Also entsteht unser ganzes Wissen aus der Wahrnehmung.4 In der Sprache der modernen Logik sind die »ersten unbeweis­ baren Prinzipien« die einfachsten Tautologien. Thomas dachte vor allem an den »Satz vom Widerspruch«, der besagt, daß keine Aus­ sage sowohl wahr wie auch falsch sein kann. Er hielt solche Aussa­ gen deswegen für unbeweisbar, weil jeder Beweis deren Wahrheit zur Voraussetzung hat. Betrachten wir den Satz: »Unser ganzes Wissen besteht ursprüng­ lich in der Erkenntnis der ersten unbeweisbaren Prinzipien«. Was heißt »besteht ursprünglich in«? Diese Frage läßt an ein axiomati­ siertes System denken, in dem alle Ableitungsregeln zu den Axio­ men gezählt werden und alle Lehrsätze entwickelt sind. In einem solchen System ist klar, daß die Axiome nicht bewiesen werden kön­ nen, daß aber ein Mensch, der mit ihnen vertraut und daher in der Lage ist, von ihnen Lehrsätze abzuleiten, das ursprüngliche Wissen hat, von dem Thomas hier spricht. Das zugrundeliegende Bild ist das axiomatische System. Zu der Behauptung, daß wir unsere Kenntnis der höchsten Axi­ ome und damit die Gesamtheit unseres Wissens der Sinneswahr­ nehmung verdanken, wie Aristoteles am Ende der Zweiten Analytica behauptet, sind Bedenken anzumelden. Erstens sind die Ausführungen des Aristoteles im 19. Teil der Zweiten Analytica etwas vage. Sein Argument konnte nicht leicht 4  De ver., q.  10, a.  6, s. c. 2: »Praeterea, omnis nostra cognitio originali­ ter consistit in notitia primorum principiorum indemonstrabilium; horum autem cognitio in nobis a sensu oritur, ut patet in fino Posteriorum; ergo scientia nostra omnis a sensu oritur.«

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eine logische Form annehmen, denn es ging eben darum, für die Logik eine aus der Empirie gewonnene Grundlage zu schaffen. So findet das Argument in einer vorlogischen Umrahmung statt. Ari­ stoteles sagt uns, daß einige Wahrnehmungen im Gedächtnis erhal­ ten bleiben und daß es von diesen wiederum einige gebe, an die oft gedacht werde. Diese seien die ersten Universalien, also im Grunde vermutlich die ersten Axiome des Wissens. Es ist natürlich klar, daß ein Mensch, der keine funktionierenden Sinnesorgane hat, nicht lebt und infolgedessen nichts weiß. Insofern kann man sagen, daß unser ganzes Wissen von unseren Sinnes­ wahrnehmungen abhängt. Was unklar bleibt, ist der logische Zu­ sammenhang der ersten Axiome des Wissens mit der Wahrneh­ mung, da jene doch ziemlich abstrakte Prinzipien darstellen müssen. In der von Thomas ausgesprochenen Erkenntnistheorie wird na­ türlich das mathematische Wissen zu wenig berücksichtigt. Aristo­ teles vertrat die Ansicht, die Mathematik befasse sich mit Größe, die als Kategorie des Äußerlichen-Unwesentlichen nicht zur Wissen­ schaftlichkeit gehöre, deren einziges Kriterium die Logik sei. Drei­ hundert Jahre später, als die Frage, ob sich die Erde um die Sonne bewegt, die Menschen in Atem hielt, hatte der Umstand, daß sich Thomas für die aristotelische Erkenntnistheorie ausgesprochen hatte, einen gewissen Einfluß. Andere Bereiche der Astronomie waren involviert. Ein Mensch, der die Laufbahn Jupiters täglich be­ obachtet, wird feststellen, daß der Planet einmal im Jahr seine fast geradlinige Laufbahn zu verlassen beginnt, um nicht mehr wieder einzulenken, bis er eine perfekte Schleife beschrieben hat. Das Phä­ nomen war der antiken Welt bekannt; Aristoteles sprach von dem Epizykel des Jupiters, dem Kreis auf einem Kreis. Um das Phänomen zu erklären, ersann er auch eine Theorie, der eine Weltflüssigkeit mit seltsamen Strömungen zugrunde lag. Diese Theorie, sichtlich ad hoc erfunden und schwach, zeigt, wie unbefriedigend sein An­ satz war. Zwölf Jahre nach seinem Tod wurde Aristarchos von Sa­ mos geboren, der als Pythagoräer eine alternative Theorie ersinnen sollte: das heliozentrische Weltbild. In der Tat entsteht die Schleife Jupiters nur dadurch, daß die Erde, ungleich näher an der Sonne als Jupiter, einen entsprechend kleineren Kreis um die Sonne be­ schreibt, mit der Folge, daß einmal im Jahr die Erde die Richtung

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Nachworte

ihrer Bewegung in Bezug auf Jupiter ändert. Diese Änderung er­ scheint dem irdischen Beobachter, der von der Bewegung des eige­ nen Planeten nichts merkt, als eine Schleife in der Laufbahn Jupiters. Der Hl. Robert Bellarmin, S. J., der im Rufe stand, über eine höhere Bildung zu verfügen als irgendeiner seiner Zeitgenossen, soll die überlegene Eleganz, mit der die galileische Hypothese das Problem der Epizykel Jupiters aus der Welt schuf, offen gestanden haben, aber trotzdem Aristoteliker geblieben sein. Zur Begründung wies er dar­ auf hin, daß die Physik die Aufgabe habe, die empirisch gegebene Welt zu beschreiben, die geozentrisch sei. Dieser Behauptung fehlt es keineswegs an Ernst oder Tiefsinn; ist in dieser Antwort der Geist des Hl. Thomas mit Recht zu vermuten, so zeigt sich noch einmal das Problematische der aristotelischen Erkenntnislehre, in der der Mathematik ungebührend wenig Achtung geschenkt wird. Die ersten unbeweisbaren Prinzipien der Logik, die einfachsten Tautologien, obwohl immer und überall in der Welt wahr, geben uns über die Welt keine Auskunft. Der Umstand, daß es morgen ent­ weder regnen wird oder nicht, sagt uns bekanntlich über das Wet­ ter nichts. Sinneswahrnehmungen hingegen sind fest an bestimmte räumliche und zeitliche Koordinaten gebundene Naturereignisse, in denen uns die Welt über sich selbst Auskunft geben würde, wenn wir nur wüßten, wie sie zu verbalisieren sind. Mit Sicherheit kann uns keine Sinneswahrnehmung oder keine Anzahl von solchen eine Tautologie bekannt machen, bestätigen oder nur suggerieren. Somit ist nicht leicht einzusehen, wie eine Sinneswahrnehmung in irgend­ einem logischen Verhältnis zu einer Tautologie stehen sollte. Zweifellos gehört Thomas zu unseren größten Denkern und wird weiterhin die Jahrhunderte überspannen. Wir Heutigen aber sehen seine Größe vor allem in seiner Metaphysik, in der Aristoteles nur eine bescheidene Rolle spielt. Im innerweltlichen Bereich aber ließ sich Thomas vielleicht zu sehr durch das begeisterte Interesse seines Jahrhunderts an »dem Philosophen« leiten. Allerdings irrte sich Thomas keineswegs, als er sich auf die Schul­ tern des Aristoteles stellte, dem wir immer zwei Dinge verdanken werden: erstens seine Logik, die im Denken von Frege und Russell weiterlebt, und zweitens die sehr wichtige Einsicht, daß auch die Welt ihre Wahrheit hat. Er irrte zwar, als er die Wahrheit der Welt

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unter dem Zeichen ihres Seins zu erfassen suchte. Darin sind wir ihm bis in die jüngere Vergangenheit gefolgt. Seit aber Pierre-Si­ mon Laplace in seinem 1799 erschienenen Traité de mécanique céleste zeigte, daß das Universum ein unstabiles System ist, und auch seit den darauffolgenden Arbeiten von Charles Lyell und Charles Darwin wissen wir, daß Platon und der Hl. Augustinus darin recht hatten, daß die Wahrheit der Welt nur unter dem Zeichen ihres Werdens zu fassen sein kann. Die Welt ist eine Geschichte, deren letzte Kapitel noch ungeschrieben bleiben. Das ist nicht Dichtung, sondern Wissenschaft, die jüngste Frucht einer geistigen Tradition, die in Aristoteles gründet, den wir in der Rezeption des Hl. Thomas kennenlernen konnten. Zu Quaestion 11 von Brigitte Berges Die Stellung der q.  11 im Gesamtkomplex von De veritate Da es ist nicht unbedingt selbstverständlich ist, daß im Rahmen der Disputationen über die Wahrheit das Thema »Lehrer« behan­ delt wird, mag ein kurzer Überblick über den Aufbau dieses Werks angebracht sein. Die Quaestiones 1–20 behandeln das Thema Wahr­ heit für sich genommen, während die restlichen neun Quaestiones den Bezug des Wahren zum Guten herstellen. Nach der in Quae­ stio 1 gegebenen Definition der Wahrheit – verum est adaequatio intellectus et rei – untersucht Thomas die Wahrheit, insofern sie in einem bestimmten Subjekt vorhanden ist, nämlich in Gott (2–7), in den Engeln (8–9) und im Menschen. Insofern sich die Wahrheit im Menschen findet, ist die Frage nach dem menschlichen Geist (mens) als Subjekt der Erkenntnis und nach dessen möglichen Objekten zu stellen (q.  10) und schließlich darauf einzugehen, wie der Mensch Wissen erwirbt. Dies kann zum einen geschehen mit den natürli­ chen Fähigkeiten des Menschen ohne Hilfe von außen, zum anderen aber mit Unterstützung eines Lehrenden. Für die Lehrerrolle kom­ men wiederum Gott, Engel und Menschen in Frage, womit wir bei unserer Quaestio 11 »Über den Lehrer« angekommen wären.

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Nachworte

I.  Lehren des Menschen als Selbsttätigkeit (Artikel 1 und 2) Thomas unterteilt die Frage nach dem Lehrer in vier Artikel, von denen in den letzten Jahrzehnten vor allem der erste besondere Be­ achtung gefunden hat.5 Die genaue Fragestellung dieses Artikels mutet jedoch seltsam an: »Ob ein Mensch lehren und Lehrer ge­ nannt werden kann oder Gott allein.« Es ist zwar durchaus vorstell­ bar, daß jemand die Frage, ob ein Mensch einen anderen wirklich et­ was lehren kann, mit Skepsis beantwortet. Das Lehrerbild schwankt schließlich in der Geschichte beträchtlich: Die Bandbreite reicht vom Nürnberger Trichter, mit dem vorgefertigtes Wissen in den Kopf des Schülers transportiert wird, bis zum Lernbegleiter, der Lern­ möglichkeiten zur Verfügung stellt und den individuellen, aktiven Lernprozeß des Schülers lediglich moderiert. Dieser soll möglichst selbständig – durch Experiment, Recherche, Diskussion – Problem­ lösungen finden. Die zweite Hälfte der Frage aber ist erklärungsbedürftig: »Kann allein Gott Lehrer genannt werden?« Die Rede von Gott als Lehrer wäre in theologischem Kontext an sich nicht verwunderlich. Aber warum soll nur Gott allein Lehrer genannt werden? Um eine Vorstellung von dem Problemhorizont zu gewinnen, in dem Thomas die Frage diskutiert, scheint es hilfreich, wenn wir uns den Argumenten zuwenden, die die These von der alleinigen Leh­ rerschaft Gottes stützen sollen.6

5  Auch in diesem Nachwort wird der erste Artikel den meisten Raum einnehmen, weil hier die grundlegenden Fragen in Bezug auf das Lehren überhaupt und besonders dasjenige des Menschen gestellt werden. Aus den hier gewonnenen Ergebnissen ergibt sich die Lösung der zweiten Frage gewissermaßen von selbst. 6   Ausführlich beschäftigt sich mit dem Objektionenteil Wolfgang Schmidl in: Homo discens. Studien zur pädagogischen Anthropologie bei Thomas von Aquin, Wien 1987, 14–33.

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Argumente für die alleinige Lehrtätigkeit Gottes 1. Ausdrückliche Bibelstellen (Argument 1, 7, 9, 16) Von den 18 Argumenten, die für diese These vorgebracht werden, führen vier als Autorität ein Bibelzitat an. Gleich im ersten Argu­ ment stellt sich der junge Magister in seinem zweiten Jahr als Theo­ logieprofessor in Paris einer großen Herausforderung: »Laßt euch nicht Magister nennen. Einer ist euer Lehrer, Christus.« (Mt.  23, 8) Mit diesem anscheinend unmißverständlichen Verbot scheint die Auseinandersetzung schon entschieden, bevor sie begonnen hat. Lehren wäre hiernach ein Privileg Gottes bzw. Christi und jeder, der sich Magister nennt – und so heißen nun einmal diejenigen, die in den Schulen lehren7 –, würde sich einer Amtsanmaßung schul­ dig machen. Die anderen Bibelzitate benennen weitere Tätigkeiten, die Gott allein zukommen, wie im Innern eines anderen Menschen wirken (arg 7: Röm. 10, 17), oder allenfalls zum Aufgabenprofil der Engel gehören, nämlich den Geist erleuchten (arg. 9: Joh. 1, 9) oder ihn reinigen (arg. 16: Jes. 43, 25). 2. Theologische Argumente platonisch-augustinischer Prägung: Die Frage nach der Art der Kausalität (Argument 5, 8, 11, 15) Das Paradebeispiel für ein Tun, das einzig Gott zukommt, ist die Verursachung der Welt, das Erschaffen aus dem Nichts. Im 5. Argu­ ment (und anderen) wird das Lehren so interpretiert, daß es ein Mo­ ment von Schöpfung enthält, was menschliches Lehren unmöglich macht. Die Argumentation verläuft folgendermaßen: Entweder entsteht Wissen aus purem Nichtwissen, dann liegt ein Fall von Verursachung (causare) vor, die einer Schöpfung aus dem Nichts gleichkäme. Sollte das Wissen dagegen in einer anfänglichen Form schon vorhanden gewesen sein, müßte es noch zur vollen Ge­ stalt entwickelt werden. Thomas führt in diesem Zusammenhang den Begriff der rationes seminales8 (keimhafte Anfangsgründe) in 7  In Phys. VII, 8 (ed. M. Maggiòlo, nr. 947). 8  Cornelius Meyer, Augustinus-Lexikon, vol. 2, Basel 1996–2002, s. v.

creatio, creator, creatura, Sp. 86: »Logoi spermatikoi sind die in den Or­

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Nachworte

die Debatte ein, der in der Schöpfungstheologie des Augustinus eine wichtige Rolle spielt. Damit soll der scheinbare Widerspruch zwi­ schen der Darstellung der Schöpfung als Sechstagewerk in Genesis 1 und der Aussage in Jesus Sirach 18, 1, Gott habe alle Dinge zugleich erschaffen, aufgelöst werden. Gott schafft am Anfang alle Dinge zugleich, aber nicht in ihrer vollendeten Gestalt, sondern in Form von rationes seminales. Aus diesen gehen die lebendigen Dinge zu verschiedenen Zeiten hervor, jedoch können sie nur von Gott ak­ tualisiert werden, da sie die Fortsetzung des Schöpfungsaktes sind. Auch das 8. Argument hebt auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen Schöpfung und anderen Formen des Bewirkens ab. Das Verhältnis zwischen dem menschlichen Lehrer und dem Wissens­ erwerb des Schülers vergleicht Augustinus mit der Beziehung des Bauern zum Baum. Dieser läßt der Pflanze sorgfältige Pflege durch Gießen, Düngen und Beschneiden zuteil werden, aber er hat sie we­ der gemacht, noch ist er Ursache ihrer Blätter und Früchte.9 Ent­ sprechend schafft der Lehrer lediglich gute Bedingungen für das Lernen, indem er etwa Fingerzeige gibt, die Motivation fördert oder Mahnungen ausspricht. Ähnlich wie die schon genannte Bibelstelle Röm. 10, 7 verneint Augustinus auch, daß ein Mensch im Inneren eines anderen Men­ schen tätig sein kann. Unmöglich kann ein Mensch Eintragungen in der Seele eines anderen vornehmen (arg. 11). Was damit gemeint ist, läßt sich vielleicht veranschaulichen mit Science-fiction-Filmen wie »Total Recall« oder »Inception«10. In beiden Filmen wird die Re­ präsentation einer fiktiven Wirklichkeit in das Bewußtsein anderer Menschen implantiert. Schließlich wird auch für menschenunmög­ ganismen vorhandenen logoshaften und damit unkörperlichen Kräfte und Strukturgesetze, kraft derer sich die Vielfalt des Stofflich-Vitalen im Zusammenwirken mit den räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten ent­ faltet.« Die Bedeutung, die Thomas den rationes seminales in seiner eige­ nen Fachsprache gibt, unterscheidet sich erheblich von der augustinischen Auffassung. 9  Vgl. Augustinus, In epistulam Joannis ad Parthos, tr. 5. 10  Total Recall: Drehbuch und Regie v. Paul Verhoeven (USA 1990); Inception: Drehbuch und Regie v. Christopher Nolan (USA 2010), jeweils nach Romanen von Philip K. Dick.

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lich erklärt, den Geist eines anderen Menschen mit einer bestimm­ ten Form zu versehen. 3. Erkenntnistheoretische Argumente a) Das augustinische Zeichenparadox (Arg. 2, 3, 4, 12, 13, 17). – Tho­ mas bezieht sich in den Objektionen mehrmals ausdrücklich auf Augu­stinus, vor allem auf den im Jahre 389 in Thagaste geschrie­ benen Dialog Über den Lehrer, in dem der Autor und sein damals sechzehnjähriger Sohn Adeodatus als Unterredner auftreten. In sei­ nen Retractationes (427) resümiert Augustinus das Resultat seiner sprachphilosophischen Schrift folgendermaßen: »Darin wird erör­ tert, erforscht und gefunden, daß es außer Gott keinen Lehrer gibt, der den Menschen das Wissen lehrt gemäß dem Wort, das auch im Evangelium geschrieben steht: Einer nur ist euer Lehrer, Christus« (Mt. 23, 10).11 Der Lehrer kann nach dieser Auffassung nur sinnlich wahrnehm­ bare Zeichen – seien es Worte, Dinge oder Handlungen – von außen vorlegen, die letztlich nicht die Ursache des Wissenserwerbs durch den Schüler sein können. Zeichen verweisen auf andere Zeichen, sie führen nicht zur Sache selbst. Um Zeichen zu verstehen, muß man die Sache selbst in ihrem intelligiblen Gehalt schon erkannt haben. Der garstige Graben zwi­ schen dem Sinnlichen, Wandelbaren, Zeitlichen und dem Geisti­ gen, Unwandelbaren, Ewigen ist nur von Gott her zu überwinden. Das Zeichenparadox, daß Menschen nur mit Zeichen lehren kön­ nen, aber diese Zeichen das Wissen nicht vermitteln, sondern nur an schon Gewußtes erinnern oder Aufmerksamkeit fordern können, ist nur auflösbar, wenn die Wahrheit im inneren Menschen wohnt 11  Augustinus, Retractationes I, 12 (CCSL, vol. LVII). Obwohl Thomas keine Zeitgenossen zitiert, kann nicht unbemerkt geblieben sein, daß Bo­ naventura, sein franziskanischer Kollege, der im selben Jahr wie er zum Magister ernannt wurde, eben diese augustinische Lehre übernimmt, nach der jedes Wissen, das wirklich diesen Namen verdient, durch göttli­ che Illumination zustande kommt. Vgl. Bonaventuras Universitätspredigt ›Unus est magister noster Christus‹, in: G. Madec, Le Christ maître. Edi­ tion, traduction et commentaire du sermon universitaire ›Unus est magi­ ster noster Christus‹, Paris 1990 (Bibliothèque des textes philosophiques).

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Nachworte

und spricht. Wirkliches Wissen gibt es für Augustinus nur von den unveränderlichen Dingen, deshalb ist der Mensch auf die Anwesen­ heit der ewigen Ideen in ihm angewiesen, deren Ort das Verbum, die subsistierende Wahrheit ist, die mit Christus gleichgesetzt wird. Diesen inneren Lehrer muß man konsultieren, wenn man über ir­ gend etwas Gewißheit erlangen will. Welche Aspekte der augustinischen Depotenzierung der mensch­ lichen Lehrfähigkeit berücksichtigt Thomas in der Quaestio Über den Lehrer? In den Objektionen 2, 3, 4 und 13 wird direkt auf die augustini­ sche Zeichentheorie eingegangen. Gleich am Anfang dieser Thesen­ gruppe wird als Voraussetzung für die Schlüssigkeit dieser Argu­ mente die Annahme formuliert, der Mensch lehre nur durch Zei­ chen (arg. 2). Selbst wenn man einen Sachverhalt szenisch darstellt, bleibt das Verständnis auf zusätzliche zeichenhafte Informationen angewiesen. Das Beispiel, das Thomas von Augustinus übernimmt, ist das Umhergehen (ambulare). Wenn jemand nicht weiß, was das Wort ambulare bedeutet, wird er unsicher sein, welcher Aspekt an der jeweiligen Inszenierung genau gemeint ist: das Gehen an sich oder eine seiner möglichen Bestimmungen wie schnell oder schlep­ pend, schlurfend oder stramm. Hier fällt auch schon das entscheidende Stichwort »Ursache«. Wenn die Erkenntnis der Zeichen Ursache für die Kenntnis der Dinge wäre, dann wäre eine Ursache ontologisch höher eingestuft (potior, bei Aug. 9, 25 carius, potius, melius) als ihre Wirkung, was ein Unding wäre. Ein wesentlicher Teil der Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Lehren wird in der genauen Differenzie­ rung der verschiedenen Formen von Verursachung bestehen. Das Argument 3 spielt auf eine Stelle in De magistro12 an, ohne sie direkt zu benennen oder gar zu zitieren: Um die Bedeutung des Zeichens zu verstehen, muß man die bezeichnete Sache selbst schon kennen. Zeichenverstehen ist nur der Fall einer Anwendung von schon Gewußtem. Eine weitere Schwäche der Zeichen ist, daß sie zum Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren gehören, Subjekt des

12  Augustinus, De magistro, c.  10, 33 (CCSL 29, 192).

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Wissens ist aber der Intellekt, und da haben sinnliche Zeichen kei­ nen Zutritt (arg. 4). Die Argumente 13 und 17 behandeln die Problematik der Ge­ wißheit, die Bedingung für wirkliches Wissen von seiten des Sub­ jekts ist. Den Namen Wissen verdient nur eine mit Gewißheit ver­ bundene Erkenntnis, sonst bliebe es bei bloßer Meinung oder gar Leichtgläubigkeit.13 Sinnliche Zeichen können aber keine Gewißheit hervorrufen, weil sie unzuverlässig sind (arg. 13). Gewißheit ent­ steht auch nicht dadurch, daß man jemanden reden hört; man glaubt schließlich nicht alles, was einem erzählt wird. Gewißheit erhält man nur dadurch, daß man auf die Stimme der ewigen Wahrheit hört, die im Inneren des Menschen spricht (arg. 17).14 b) Die platonische Ideenlehre: Anamnesis (Argument 12, 18). – Deutlich erkennbar ist am Konzept des inneren Lehrers die Inspi­ ration durch die platonische Ideenlehre. Der sinnlichen Wahrneh­ mung bzw. dem Lehrer fällt lediglich die Rolle zu, an die Wahrheit zu erinnern und die Aufmerksamkeit auf das wahrhaft Seiende zu lenken. In diesen Kontext gehört auch das Zitat aus der Consolatio philosophiae des Neuplatonikers Boethius (12), daß durch Lehre der Mensch allenfalls zum Erkennen angeregt wird – die im Inneren schlummernden Ideen werden hierbei geweckt – (V, pr. 5), und das letzte Argument (18), das – ohne Namensnennung – einerseits an die platonische Anamnesislehre, wie sie im Menon (81b–83c) vor­ geführt wird, erinnert, andererseits an eine Passage aus dem augu­ stinischen Dialog Über den Lehrer.15 Wie der Sklave Menon durch 13  Den Status »Meinung« (opinio) oder »Leichtgläubigkeit« (credulitas) schreibt Thomas auch derjenigen Wissensvermittlung zu, die auf blo­ ßer Erfahrung und nicht auf Kenntnis der Ursachen beruht (In Met. I, 1, ed. R. M. Spiazzi, nr. 29). 14  Augustinus, De magistro, c.  11, 38 (CCSL 29, 195 f.): »Über alles aber, was wir erkennen, befragen wir nicht einen Sprechenden, der draußen seine Stimme ertönen läßt, sondern die innerlich über den Geist waltende Wahrheit – durch Wörter vielleicht aufgefordert, sie zu befragen.« 15  Augustinus, De magistro, c.  12, 40 (CCSL 29, 197–199): »Also belehre ich, obgleich ich Wahres sage, nicht einmal den, der Wahres anschaut; er wird nämlich nicht durch meine Wörter belehrt, sondern durch die Sachen

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die Fragen des Sokrates anscheinend selbsttätig ein mathematisches Problem löst, so könnte nach Augustinus der Schüler schon Fragen beantworten, bevor der Lehrer seinen Vortrag begonnen hat.16 4. Philosophische Argumente mit aristotelischem Vokabular (6, 10, 14) In diesen Argumenten arbeitet Thomas mit wesentlichen Elementen aus der Metaphysik, Physik und Seelenlehre des Aristoteles: dem Verhältnis von Substanz und Akzidens, dem Akt-Potenz-Schema und den Termini für die am Erkenntnisprozeß beteiligten Instan­ zen (lumen intelligibile, species). Hier liegt auch der Schlüssel für die von Thomas angestrebte Lösung des Problems. Wissen ist ein Akzidens und ein solches wechselt nicht den Trä­ ger.17 Wenn Lehren eine Art Transfusion18 wäre, bei der das Wissen als solche, die ihm offenkundig sind, weil Gott sie ihm innerlich eröffnet; deshalb könnte er, würde er nach ihnen gefragt, darüber auch Antwort erteilen. Was aber wäre widersinniger als die Annahme, er werde durch mein Sprechen belehrt, da er doch, bevor ich spräche, auf eine Frage hin selbst die Sachen darlegen könnte.« 16  In Sum. theol. I, q.  84, a.  3, arg. 3 stellt Thomas die Beziehung zum ›Menon‹ ausdrücklich her. Der Schüler lernt dann im Gespräch eben hinzu, denn es ist gleichgültig, ob der Lehrer proponendo vel interrogando vorgeht: der Weg führt immer von den allgemeinen Prinzipien zu den Schlußfolgerungen. 17  Die hier und da anzutreffende Übersetzung, ein Akzidens verän­ dere das Subjekt nicht, halte ich für falsch. Thomas erläutert am Beispiel der Wärmeübertragung von einem warmen Körper auf einen kalten (ScG 3,69), wie ein Agens in einem anderen eine ihm ähnliche Eigenschaft er­ zeugt: die Wärme des warmen Körpers geht nicht über (transeat) auf den bisher kalten Körper, sodaß es sich in beiden um die numerisch identische Wärme handelte, sondern die Kraft der Wärme im warmen Körper über­ führt die potentiell vorhandene Wärme im kalten Körper in den Akt. Ein natürliches Agens überträgt (traducens) nicht seine eigene Form auf ein anderes Subjekt, sondern aktualisiert das, was potentiell im anderen vor­ handen war. 18  Man denkt unwillkürlich an die ironische Bemerkung des Sokrates, als sich der Tragödiendichter Agathon beim Symposion neben ihn setzt: »Das wäre wohl eine schöne Sache, lieber Agathon, wenn es mit der Weis­ heit eine solche Bewandtnis hätte, daß sie aus einem Volleren von uns in

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im Lehrer und das im Schüler zutage tretende Wissen numerisch dasselbe wären, würde obiger Grundsatz außer Kraft gesetzt (arg. 6). Die im 10. Argument aufgestellte Behauptung weist voraus auf die Lösung des Problems: Menschliches Lehren bedeutet, einen potenti­ ell Wissenden zu einem aktuell Wissenden zu machen, das impliziert aber Veränderung. Statt in die Zielgerade einzubiegen, fügt Thomas allerdings wiederum ein Augustinuszitat an, das von der Lösung wieder wegführt. Die zitierte Passage aus dem Buch über 83 Fragen steht im Kontext von Überlegungen über die Kategorie des Habitus. Augustinus untersucht, in welcher Weise eine Eigenschaft gehabt werden kann. Dabei wird gefragt, ob die hinzutretende Bestimmung den Träger verändert oder ob sie selbst verändert wird. Vom Wissen bzw. der Weisheit sagt Augustinus an dieser Stelle: »Die zum Men­ schen hinzukommende Weisheit wird nicht selbst verändert, wenn sie dem Menschen zufällt, sondern sie verändert den Menschen, den sie von einem dummen zu einem weisen Menschen macht.«19 Da­ bei bleibt sie selbst »unangetastet und unerschütterlich«20. Unver­ änderlichkeit ist für Augustinus Bedingung für wirkliches Wissen von seiten des Objekts. Diese Bedingung kann durch menschliches Lehren nicht erfüllt werden, da die Aktualisierung eines potentiel­ len Wissens im Schüler eben Veränderung besagt, und zwar nicht nur Veränderung des Schülers, sondern auch des Wissens, wie hier jedenfalls unterstellt wird. Schließlich gehört zu den in aristotelischer Terminologie formu­ lierten Objektionen das Argument 14. Hier verwendet Thomas die Begrifflichkeit seiner eigenen, an Aristoteles orientierten Erkennt­ nistheorie: an der Erkenntnis beteiligt sind nur »lumen intelligibile« (Verstandeslicht) und »species intelligibiles« (geistige Erkenntnisbil­ der). Keines von beiden kann ein Mensch in einem anderen Men­ schen verursachen, weil dies wiederum Schöpfung wäre. den Leereren hinüberflösse, wenn wir miteinander in Berührung kom­ men, gleich wie das Wasser durch einen Wollstreifen aus dem volleren Becher in den leereren hinüberfließt« (Platon, Symposion, 175 d). 19  Augustinus, De diversis quaestionibus 83, q.  73 (CCSL, 44A, 210). [Sicut] sapientia, cum accidit homini non ipsa mutatur, sed hominem mutat, quem de stulto sapientem facit. 20  … ipsa integra et inconcussa manentia.

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Die Sed contra-Argumente 1. Bibelstellen Zwei Zitate aus dem 2. Brief an Timotheus sollen zeigen, daß im Neuen Testament die Bezeichnung Lehrer auch für Menschen ver­ wendet wird. In 2 Tim. 1, 11 nimmt Paulus für sich in Anspruch, Lehrer der Heiden (magister gentium) zu sein. Die Aufforderung in 2 Tim. 3, 14 an Timotheus, bei dem zu bleiben, was er gelernt hat, bezieht Thomas – wie in seinem eigenen Kommentar zu dieser Stelle21 – ebenfalls auf Paulus als einem wahren Lehrer. Die als erster Einwand angeführte Stelle aus dem Matthäusevan­ gelium, wonach sich niemand Lehrer nennen dürfe, wird neutra­ lisiert mit der unmittelbar darauffolgenden Aufforderung, keiner solle sich Vater nennen lassen. Offensichtlich soll damit nicht aus­ geschlossen werden, daß es unter den Menschen Väter gibt. Schließlich spricht auch die Glosse zu Röm. 10, 15 den Aposteln die Fähigkeit zu, erleuchten zu können. 2. Aristoteles Nach der Bibel kommt nun Aristoteles zu Wort: Ein jedes ist dann vollkommen, wenn es ein ihm Ähnliches erzeugen (generare) kann. Was hat diese Einsicht mit dem Lehren zu tun? Thomas erklärt, Wissen (scientia) sei vollkommene Erkenntnis und deshalb könne ein Mensch, der über Wissen verfügt, einen anderen belehren. Im Metaphysik-Kommentar stellt Thomas diese Verbindung von voll­ kommener Aktualisierung einer Form, also hier des Wissens, mit der Kraft der Assimilation von anderem, explizit her: Lehren-Kön­ nen ist ein Zeichen dafür, daß jemand ein Wissender ist.22 Diese Bezugnahme auf diese aristotelische Lehre ist in mehrfa­ cher Hinsicht aufschlußreich. Zum einen wird damit ausgesprochen, um welche Art der Verursachung es beim Lehren geht: nämlich um 21  Thomas begründet die Aufforderung, bei der Lehre des Paulus zu bleiben allerdings damit, daß dieser seinerseits seine Lehre nicht durch einen Menschen erhalten habe, sondern durch den Lehrer des Wissens, der nicht irren kann; vgl. In II Tim. 3, lect. 3 (ed. R. Cai, nr. 120). 22  In Met. I, 1, ed. R. M. Spiazzi, nr. 29.

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das Erzeugen, also weder um ein Herstellen von Artefakten noch um einen Akt der Schöpfung. Zum anderen impliziert das Modell des Erzeugens, daß das Erzeugte numerisch verschieden vom Erzeu­ genden, aber diesem ähnlich ist. Zum dritten war dasjenige, was er­ zeugt wird, weder schlechthin seiend noch schlechthin nichtseiend, sondern ein der Möglichkeit nach Seiendes, das aktualisiert werden kann.23 Schließlich ist damit auch vorausgesetzt, daß der Lehrende aktuell über das zu vermittelnde Wissen verfügen muß, nicht nur potentiell.24 3. Augustinus Das letzte Wort hat allerdings – vielleicht höflichkeitshalber – wieder Augustinus, der an der zitierten Stelle zugesteht, daß der Mensch der Belehrung durch äußere Worte (der Schrift) bedarf, allerdings erst nach dem Sündenfall. Augustinus legt in seinem Genesiskom­ mentar gegen die Manichäer den Satz »Gott hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen« (Gen. 2, 5) allegorisch aus und bezieht ihn auf das Verhältnis des menschlichen Geistes zur göttlichen Wahr­ heit. Im Paradies wurde die Erde von einer Quelle bewässert, nach dem Sündenfall brauchte die Erde den Regen aus den Wolken – im Paradies schöpfte der Mensch unmittelbar aus der Quelle der Wahr­ heit, nach dem Sündenfall bedarf er der Belehrung durch andere (d. h. Propheten und Apostel): Diese von Thomas sicher nicht zufäl­ lig ausgewählte Metapher erinnert an das Leitmotiv der Antritts­ vorlesung (›Rigans montes‹)25, die Thomas gerade ein Jahr zuvor in Paris gehalten hat. Darin erklärt er das Prinzip der Vermittlung, ge­ rade auch des Heilswissens, zu einem von Gott aufgestellten Gesetz.

23  In Post. anal. I, 3. 24  Das Modell der generatio rückt allerdings im weiteren Verlauf der

Lösung gegenüber dem der Heilkunst in den Hintergrund. Vgl. HannsGregor Nissing, Sprache als Akt bei Thomas von Aquin. Leiden  /  Boston 2006, 681. 25  Vgl. Michael Estler, Rigans montes (Ps. 104, 13). Die Antrittsvor­ lesung des Thomas von Aquin in Paris 1256 Stuttgart 2015 [Stuttgarter Biblische Beiträge, 73].

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Nachworte

Die Lösung der Frage Thomas ordnet das auf den ersten Blick marginale Problem des menschlichen Lehrens in einen weiten philosophischen Horizont ein, der das naturphilosophische Problem der Entstehung der sub­ stantiellen Formen, das ethische Problem der Aneignung der Tugen­ den und das erkenntnistheoretische Problem des Erwerbs von Wis­ sen umfaßt.26 In allen drei Bereichen identifiziert er zwei diametral entgegengesetzte Konzeptionen, die den Ursprung der Formen er­ klären sollen: Entweder diese kommen nur von außen, oder sie sind immer schon drinnen. Als Vertreter des extrinsezistischen Lösung nennt er Avicenna, der als Ursache der natürlichen Formen eine abgetrennte geistige Substanz, den dator formarum (Formgeber) angibt.27 Auch die tugendhaften Habitus und die Formen, durch die wir erkennen, kommen uns nach dieser Auffassung von einer außer uns existierenden Intelligenz zu. Auf allen drei Gebieten wird die Rolle der Sekundärursachen auf ein bloßes Vorbereiten zur Auf­ nahme der von außen kommenden Formen reduziert. Bemerkenswert ist, daß Thomas an dieser Überbetonung der Wir­ kung der Primärursache kritisiert, daß dadurch der Ordnung des Universums Abbruch getan wird. Denn gerade die Verknüpfung der Ursache-Wirkung-Kette ist durch ihre Komplexität kunstvoller als eine monokausale Konstruktion. Thomas ist sogar davon überzeugt, daß das Fehlen der Kausaltextur auf ein Unvermögen des Schöp­ fers hinauslaufe.28 Die Ausführung (executio) der Weltregierung ge­ schieht deshalb durch Vermittlung von geschöpflichen Ursachen.29 Die Geschöpfe wären gewissermaßen vergeblich (frustra), wenn sie nicht ihre je eigene Aufgabe hätten, weil sie gerade wegen ihrer Tä­

26  Vgl. Hanns-Gregor Nissing, Sprache als Akt, 676. 27  Zum arabischen Aristotelismus vgl. J. H. J. Schneider: Kommentar

zum Ersten Artikel, in: Thomas von Aquin: Über den Lehrer / De magi­ stro. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von G. Jüssen, G. Krie­ ger, J. H. J. Schneider. Lateinisch-deutsch. Hamburg 1988, 93–101. 28  Sum. theol. I, q.  105, a.  5. 29  Sum. theol. I, q.  103, a.  6.

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tigkeit existieren.30 Gott hat ihnen aber aufgrund seiner überfließen­ den Güte die Würde verliehen, Ursache zu sein.31 Die entgegengesetzte, intrinsezistische Position behauptet dage­ gen, die substantialen Formen der natürlichen Dinge seien schon aktuell in diesen vorhanden und würden durch äußere Ursachen nur offengelegt. Ähnliches gilt von den Tugenden, die durch das menschliche Handeln nur zum Vorschein gebracht werden, und auch vom Wissen, da Lernen nur Wiedererinnerung sei. Letzteres entspricht der platonischen Anamnesislehre. Auch diese der ersten Position entgegengesetzte Lösung läuft auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Depotenzierung der natürlichen Ursachen. Die innerweltli­ chen Ursachen würden dann nur noch per accidens etwas bewirken, indem sie nämlich Hindernisse beseitigen. In eigentlichem Sinne wäre dann also nur die Erstursache eine wirkliche Ursache. Thomas kennzeichnet seine eigene Lösung des Problems als den »mittleren Weg« (via media) zwischen den beiden Extremen. Dabei handelt es sich keineswegs um einen faulen Kompromiß, den man eingeht, weil man keiner Autorität zu nahetreten möchte. Bei der »Mitte« ist eher an die aristotelische Bestimmung der Tugend als Mitte zwischen zuviel und zuwenig zu denken. Der Schlüssel zur Aufhebung des Widerspruchs zwischen Ex­ trinsezismus und Intrinsezismus ist die aristotelische Einteilung des Seienden in Akt und Potenz, die auch für Thomas die ganze Wirklichkeit strukturiert.32 Mit diesem Passepartout in der Hand lassen sich alle drei Probleme – das naturphilosophische, das ethi­ sche und das erkenntnistheoretische –, die es mit dem Auftreten einer neuen Form in einem Subjekt zu tun haben, nach demselben Muster lösen. a)  Die Formen der Naturdinge präexistieren in der Materie zwar nicht aktuell, aber immerhin potentiell. Sie werden durch ein von 30  Sum. theol. I, q.  105, a.  5. 31  Sum. theol. I, q.  22, a.  3. 32  Thomas von Aquin, In Phys. III, 1, ed. M. Maggiòlo, nr. 280 (zu

Aristoteles, Physik III, 1 (200 b 26, 201 a 9–10). Zu Thomas’ Option für die Akt-Potenz-Struktur vgl. Detlef Rohling: Omne scibile est docibile. Eine Untersuchung zu Struktur und Genese des Lehrens und Lernens bei Thomas von Aquin, Münster 2012 [BGPhMA. NF 77].

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Nachworte

außen kommendes Agens verwirklicht, das aber nicht die causa prima ist, sondern eine innerweltliche Zweitursache, die tatsächlich den Namen Ursache verdient. b)  Die Tugenden präexistieren in uns als natürliche Neigungen (inclinationes naturales), die durch Übung von Handlungen zur vollen Entfaltung gebracht werden können. In den natürlichen Nei­ gungen zeigt sich die teleologische Struktur der Wirklichkeit; in den Dingen ist nämlich die Tendenz zur Verwirklichung dessen an­ gelegt, was sie sein können oder sollen. In der Summa theologiae erklärt Thomas, jede natürliche Neigung sei ein Anstoß (impressio) vom ersten Bewegenden, durch den die Dinge quasi aus eigenem Antrieb zu dem Ziel gelangen, auf das sie von Gott ausgerichtet sind.33 c)  Das Wissen präexistiert in uns in Form von gewissen Keim­ gründen (rationes seminales), die im Licht des tätigen Verstandes (intellectus agens) unmittelbar bekannt sind. Dabei handelt es sich um erste Begriffe (wie ›seiend‹, ›eines‹, ›wahr‹) und um Prinzipien, deren Geltung nicht diskursiv, sondern intuitiv bekannt ist (etwa das Widerspruchsprinzip). In diesen ersten Prinzipien des Wissens ist alles menschenmög­ liche Wissen »ursprunghaft und virtuell« (originaliter et virtualiter) enthalten.34 Allerdings ist der menschliche Intellekt zunächst einmal tabula rasa und erwirbt Wissen dadurch, daß er in Kontakt mit der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit tritt. Das Geschäft des tätigen Verstandes ist es nun, aus den von den Sinnen aufge­ nommenen Formen der äußeren Dinge die allgemeinen Begriffe zu abstrahieren, diese Formen dadurch intelligibel zu machen und sie dem möglichen Verstand einzuprägen. Wissen entsteht durch die Anwendung selbstevidenter allgemeiner Prinzipien auf spezifische 33  Sum. theol. I, q.  103, a.  8; Sum. theol. I-II, q.  91, a. 2 findet sich auch das Bild der Einstrahlung göttlichen Lichtes, die aber keine fallweise Er­ leuchtung ist, sondern das Licht der natürlichen Vernunft – sowohl der theoretischen wie der praktischen –, in dem die ersten Prinzipien des je­ weiligen Bereichs »sofort« gesehen werden. 34  De ver., q.  11, a.  1, ad 5; Sum. theol. I, q.  79, a.  2. Eine analoge Weise des In-Seins kommt allem Seienden im göttlichen Intellekt als der prima causa zu.

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Probleme. Wissen im eigentlichen Sinne gibt es nur, wenn es gelingt, Sätze auf die ersten Prinzipien zurückzuführen.35 Mit diesen Instrumenten, die dem tätigen Verstand mit seiner Erschaffung mitgegeben sind, ist der menschliche Verstand in der Lage, seine ihm gemäßen Aufgaben selbsttätig zu erledigen. Er ist nicht auf eine neue Illumination oder das Andocken an einen sepa­ raten Intellekt angewiesen, um Begriffe zu bilden, Urteile zu fäl­ len und Schlußfolgerungen zu ziehen. Thomas hält die Spannung zwischen radikaler ontologischer Abhängigkeit und »Autonomie des Funktionierens«36 aufrecht. Ja, die göttliche Wahrheit spricht in uns, und wir können sie kon­ sultieren, um Wahrheitsansprüche zu prüfen. Aber: Es handelt sich dabei nicht um eine von uns verschiedene Instanz, sondern um das Licht des tätigen Verstandes, und dieses Licht ist das geschaffene Gleichnis der göttlichen Weisheit. Ja, Gott als die causa prima wirkt in jeder Art von Kausalität, aber es besteht gerade kein Konkurrenzverhältnis zu den Zweitursachen. Die menschliche Vernunft ist tatsächlich hinreichende Bedingung für den Erwerb von Wissen. Ja, die Zeichen sind nicht die nächste Ursache des Wissens, aber es ist nicht der göttliche Lehrer in uns, der es erzeugt, sondern die der ratio eigentümliche Tätigkeit, der discursus zwischen Prinzipien und Folgerungen. Ja, Gott lehrt allein im Innern37 und der menschliche Lehrer kann nur von außen mit seinem Wort wirken, das die Ohren des Schü­ lers erreicht. Aber dennoch bewirkt der Lehrer Erkenntnis so, wie der Arzt ge­ sund macht. 35  De ver., q.  14, a.  9. 36  Saint Thomas d’Aquin: Questions disputées sur la vérité. Question

XI: Du maître. Introduction, traduction et notes par Bernadette Jollès, ­Paris 1992, 15. Die Proklamation der Autonomie des menschlichen Ver­ standes ist für Étienne Gilson sogar das größte philosophische Ereignis des ganzen westlichen Mittelalters. Etienne Gilson, Pourquoi Saint Thomas a critiqué Saint Augustin, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 1 (1926/27), 5–127, hier: S.  120. 37  ScG IV, 17: Interius docere proprium opus Dei est.

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Nachworte

Ja, der Schüler kann auf Fragen antworten, bevor er eine Wis­ senschaft gelernt hat, aber Ausgangspunkt seiner Antworten sind weder eingeborene Ideen noch göttliche Illumination, sondern die ersten allgemeinen Prinzipien.38 Ja, Gott allein kann das lumen rationis eingießen und damit er­ leuchten, aber der Mensch kann dieses Licht von außen stärken. Konsequenzen für die Rolle des Lehrers Welche Schlüsse zieht Thomas nun aus seinen erkenntnistheoreti­ schen Überlegungen für die Rolle des Lehrers? Thomas vergleicht das Verhältnis des Lehrers zum Schüler mit demjenigen des Arztes zum Kranken. Nach dem Grundsatz ars imitatur naturam wendet der Arzt beim Heilen dieselben Mittel an, die auch die Natur anwendet. Wenn Gesundheit im richtigen Mi­ schungsverhältnis von Wärme und Kälte besteht, so wird der Arzt Wärme zuführen, wenn die Kälte im kranken Körper überwiegt, und umgekehrt. Auch der Lehrer versucht, denselben Weg, den er bei der Findung des Wissens durchschritten hat, nunmehr zusam­ men mit dem Schüler zurückzulegen. Lehren ist die Nachahmung des natürlichen Erkenntnisprozesses der inventio, in dem – ausge­ hend von bereits Bekanntem – durch schlußfolgerndes Denken der ratio bisher Unbekanntes erkannt wird. Wie ein Kranker auch ohne Arzt wieder gesund werden kann, wenn die natürlichen Heilungskräfte seines Körpers stark genug sind, so kann prinzipiell auch ohne Lehrer etwas Neues gelernt werden, nämlich durch eigenes Finden von Lösungen (inventio). Mit der Hilfe des Lehrers geht dieser Prozeß aber schneller, si­ cherer und zuverlässiger voran, zumal es postlapsarisch viele Wi­ derstände zu überwinden gilt (Faulheit, Müdigkeit, Zeitmangel)39 und auch nicht alle Schüler gleich begabt sind. Arzt und Lehrer leisten der Natur Beihilfe und ihrem Gegenüber einen Dienst, in­

38  ScG II, 83. 39  Sum. theol. II-II, q.  2, a.  4.

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dem sie Hilfsmittel bereitstellen, der Arzt die Medizin, der Lehrer Be­griffe.40 Lehren ist Verursachen von Wissen mittels sprachlicher Zeichen, die vermitteln, was der Lehrer von der Wirklichkeit schon auf den Begriff gebracht hat. Die Worte, die den Schüler von außen errei­ chen und von ihm über die Ohren aufgenommen werden, verhalten sich zu seinem Verstand wie die sinnlich wahrnehmbaren Dinge zum entsprechenden Sinnesorgan. Das Sinnesvermögen wird vom Gegenstand affiziert und »erleidet« etwas von ihm. Aber dieses Er­ leiden ist die Verwirklichung dessen, wozu die Sinne da sind, sie er­ halten dadurch ihre »Erfüllung und Bewahrung« (soteria).41 Im Ge­ gensatz zu den Sinnen ist der Verstand nicht nur rezeptiv, sondern auch produktiv. Den gehörten oder gesehenen Zeichen gegenüber, die den Gedankengang des Lehrers manifestieren, ist der Schüler zunächst einmal ausgesetzt, er »erleidet« in gewisser Weise eine Veränderung, wenn er es denn zulassen will,42 was ja nicht immer der Fall sein wird. Aber er wird nicht mit fremdem Inhalt zuge­ schüttet, sondern dazu angeleitet, selber Begriffe zu bilden, Urteile zu fällen und Schlußfolgerungen nachzuvollziehen. Was ihm im Sprechen des Lehrers begegnet, steht seinem Verstand näher als je­ der sinnliche Gegenstand, denn es ist die Wirklichkeit, wie sie schon einmal durch den Geist eines strukturgebenden Geistes hindurch­ gegangen ist. Es ist der tätige Intellekt des Schülers, der seine eige­ nen Erkenntnisbilder kreiert, die denen des Lehrers ähnlich sind. Er kann selber urteilen, ob die vorgetragenen Gedanken tatsächlich in den allgemeinen Prinzipien eingeschlossen sind und ob die Syllo­ gismen korrekt sind.

40  Sum. theol. II-II, q.  32, a.  2. Thomas spricht hier vom Lehren als Darreichung eines Heilmittels gegen das Unwissen (remedium per doctrinam). 41  Aristoteles, De an. II, 5; 417 b 3. Vgl. dazu Wolfgang Welsch, Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles. München 2012, 196. 42  Sum. theol. I-II, q.  6, a.  5, ad 2: Freiwilligkeit – im Gegensatz zu Gewalt – gibt es sowohl hinsichtlich eines Tuna als auch eines »Leidens«, nämlich wenn jemand den Willen hat, von einem äußeren Prinzip etwas zu rezipieren (cum aliquis vult pati ab alio).

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Nachworte

Der Schüler ist causa principalis des Wissens, der Lehrer stellt die Hilfsmittel und Werkzeuge zur Verfügung, die als Instrumental­ ursachen dienen. Der Lehrer verursacht Wissen nicht naturhaft wie das Feuer, das Holz entflammt, sondern durch die Kunst der Logik, die im Organon des Aristoteles ausgebreitet ist.43 Aber auch nicht so wie ein Architekt das Material derart formt, daß das Haus dem Bauplan in seinem Kopf gleicht. Steine und Holz haben nur eine pas­ sive Potenz, ein Haus zu werden; sie müssen von einer Wirk­ursache in die richtige Form gebracht werden. Der Schüler hat dagegen die aktive Potenz, aus einem Unwissenden zu einem Wissenden zu wer­ den. Der Lehrer leistet dabei den nicht unwichtigen sokratischen Hebammendienst, indem er von dem ausgeht, was der Schüler schon weiß.44 Es geht also nicht um eine Schöpfung aus dem Nichts, son­ dern um das Entfalten dessen, was in den ersten Prinzipien implizit enthalten ist.45 Der Lehrer kann dem Schüler die Arbeit des Verstehens nicht ab­ nehmen; er kann ihn nur dazu inspirieren, die Sinneseindrücke und Begriffe in seiner eigenen Seele so zu ordnen, daß sie für die Erfas­ sung der Wirklichkeit geeignet sind. In der Quaestio 117 der Prima Pars der Summa theologia, in der Thomas das Thema des Lehrers noch einmal abhandelt,46 beschreibt er die Hilfestellungen, die der Lehrer dem Schüler geben kann, mit den beiden Begriffen »manuducere« und »confortare«. Im Wörterbuch von Georges aus dem Jahre 1839 wird manuducere mit »jemandem die Hand reichen, um ihn zu führen« wieder­ gegeben. Als solche »Handreichungen« bietet der Lehrende dem Schüler weniger allgemeine Sätze an, deren Richtigkeit dieser auf­ grund seines Vorwissens beurteilen kann, oder auch Beispiele aus dem Bereich des sinnlich Erfahrbaren. Durch diese Hilfsmittel oder 43  Vgl. ScG II, 75, ed. C. Pera, nr. 14. 44  Sum. theol. I, q.  117, a.  1. 45  De ver., q.  14, a.  11. 46  Sum. theol. I, q.  117, a.  1. Vgl. Mariano Bartoli, Manuducere y con­

fortare: acciones causativas del ciencia en el discipulo según Tomás de Aquino, in: Espíritu 64 (2015), 321–340.

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Instrumente wird der Verstand des Hinzulernenden zur Erkenntnis der unbekannten Wahrheit geleitet. Die andere Art der Hilfestellung besteht in der Stärkung des Ver­ standes des Lernenden. Das ist natürlich nicht im Sinne einer Stei­ gerung der Intelligenz zu verstehen, sondern der Lehrende legt dem Schüler das Verhältnis der Prinzipien zu den Schlußfolgerungen dar, teilt also die Mittelbegriffe mit, worauf der Schüler auch selber kommen könnte, wenn seine Fähigkeit zu systematischem Denken (virtus collativa) ausgeprägter wäre. Da im ganzen Denkprozeß des Menschen das Licht der tätigen Vernunft präsent und wirksam ist, steckt in allen seinen Resultaten gewissermaßen ein Funken dieses Lichts, und somit kann auch dem Schüler »ein Licht aufgehen«, wenn er etwas neu verstanden hat. Die gelungene Interaktion zwischen Lehrendem und ­Lernenden ist schließlich auf beiden Seiten ein Grund zur Freude: für den Schüler, weil sein desiderium naturale nach Wissen erfüllt wird, wenn er etwas Neues lernt,47 für den Lehrer, weil er sich seines eigenen Wissensschatzes bewußt wird, aus dem er anderen etwas mitteilen kann,48 für beide, weil die diskursive, investigative, infe­ rierende Tätig­keit der Ratio dem Menschen eigentümlich und kon­ natural ist.49 Grundsätzlich ist beim Unterricht auf das Vorwissen und die Aufnahmefähigkeit des Schülers Rücksicht zu nehmen. Vorausset­ zung dafür ist, daß der Lehrer über das Fachwissen souverän ver­ fügt und komplexe Zusammenhänge sinnvoll aufteilt (distinguere)50 und dem Schüler nach und nach (paulatim)51 strukturiert vermittelt. Das Prinzip der »didaktischen Reduktion« lag Thomas besonders am Herzen, wie ja auch der Prolog zur Summa theologiae zeigt. Ein guter Lehrer doziert nicht von oben herab über die Köpfe der Ler­ nenden, sondern begibt sich auf Augenhöhe mit ihnen. Diese Kon­ deszendenz ist nicht Herablassung, sondern Fürsorge (providentia), 47  Sum. theol. I-II, q.  32, a.  8, ad 2. 48  Sum. theol. I-II, q.  32, a.  6. 49  Sum. theol. II-II, q.  180, a.  7. Vgl. Sum. theol. I-II, q.  32, a.  8. 50  Sum. theol. I, q.  106, a.  1. 51  Sum. theol. II-II, q.  1, a.  7, ad 2.

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Nachworte

Dienst (ministerium) und ein Werk der Barmherzigkeit, wie Tho­ mas im vierten Artikel dieser Quaestio ausführen wird. Welchem heutigen Lehrerbild würde Thomas entsprechen? Sicher nicht dem Nürnberger Trichter, aber auch nicht dem bloßen Mo­ derator. Der Lehrer, den Thomas sich vorstellt, müßte in der Mitte zwischen diesen Extremen angesiedelt sein. Vielleicht trifft folgende Charakterisierung einigermaßen zu: »Die Perspektive auf den Un­ terricht ist lehrerzentriert. Im Zentrum steht ein Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen.«52 Der Mensch als Autodidakt Im ersten Artikel erwähnt Thomas als eine Selbstverständlichkeit, daß es zwei Weisen des Wissenserwerbs gibt, nämlich Selberfinden (inventio) und Anleitung durch einen Lehrer (doctrina) – eine Al­ ternative, die schon im (pseudo-?) platonischen Dialog Alkibiades53 fraglos hingenommen wird. Der Zweite Artikel wirft dagegen die Frage auf, ob nicht das Selberfinden auch nur ein Sonderfall des Leh­ rens sei, wobei hier eben Lehrender und Lernender identisch wären. Die Antwort beginnt mit einer energischen Klarstellung: Zweifel­ los ist der Mensch dank des ihm eingegebenen Verstandeslichts in der Lage, selbständig Wissen zu generieren. Deshalb kann man mit gewisser Berechtigung sagen, daß der Mensch sich selbst Ursache seines Wissens ist. Die Aussage, der Mensch sei Lehrer seiner selbst, wird dagegen zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Ablehnung stellt Thomas das Problem wieder in einen größeren, naturphilosophischen Zusammenhang, nämlich das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Auf der einen Seite gibt es Ursachen, die das, was sie in einem anderen bewirken, selber ganz besitzen, und zwar entweder in derselben Weise wie das Verursachte (Standardbeispiel: der Mensch zeugt einen Menschen) 52  Ewald Terhart, zitiert von Michael Felten, in: »Smartphone-Pädago­ gik«, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. Mai 2018, Nr.  104, S.  2. 53  Platon, Alkibiades I, 106d: »und du weißt doch wohl nur das, was du entweder von andern gelernt oder selbst gefunden hast?«.

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oder sogar in höherem Maße (Standardbeispiel: die Sonne, der nach Aristoteles bei der Erzeugung von Lebewesen eine entscheidende Rolle zukommt). Von diesen Ursachen unterscheidet Thomas solche, die über die Form, die sie anderem einprägen, nur teilweise verfü­ gen. Als Beispiel dient hier die Wärme, die bei der Heilung eines Kranken zwar eine Rolle spielt, aber nur einen Teil der Gesund­ heit ausmacht. Solche Wirkprinzipien können nicht in vollem Sinne (perfecte) als Ursache gelten. Im Folgenden subsumiert Thomas den Fall des Autodidakten un­ ter die zweite Art der Kausalität. Wer im vollen Sinne der Bedeu­ tung Lehrer sein will, muß über das Wissen explizit, komplett und aktuell verfügen. Beim Selberfinden des Wissens verfügt der For­ schende aber nur implizit, teilweise und potentiell über das neue Wissen, nämlich in Form der im Licht der tätigen Vernunft sofort erkannten ersten Prinzipien. Diese keimhaften Anfangsgründe des Wissens sind ebensowenig aktualisiertes Wissen wie die Nuß der komplette Nußbaum ist. Da etwas nicht zugleich und in derselben Hinsicht realisiert und nicht realisiert sein kann, ist die Definition des Lehrerseins beim Autodidakten nicht erfüllt.

II.  Das Lehren der Engel als Einwirken auf die menschliche Vorstellungskraft (Artikel 3) Dem Oppugnans stehen in diesem Artikel immerhin 17 Argumente zu Gebote, die belegen sollen, daß Engel den Menschen prinzipiell nicht belehren können. Da sie in der Seinsordnung die mittlere Posi­ tion zwischen Gott und den Menschen einnehmen, scheint sich eine doppelte Inkompatibilität zwischen beiden Formen endlicher, gei­ stiger Wesen zu ergeben. Einerseits besitzen Engel nicht das göttli­ che Privileg, im Inneren der Geistseele zu wirken und das Verstan­ deslicht mitsamt der Kenntnis der ersten Prinzipien zu vermitteln, andererseits können sie sich als reine Geistwesen anscheinend dem Menschen auch nicht von außen verständlich machen, jedenfalls wenn man den Fall ausklammert, daß ein Engel eine sichtbare Ge­ stalt annimmt und dann wie ein Mensch sinnlich wahrnehmbare Zeichen zur Belehrung verwendet.

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Nachworte

Thomas betont an dieser Stelle, zur Lösung des Problems müsse man zuerst über die Besonderheit der Erkenntnisweise des Men­ schen Bescheid wissen. Daraus kann man entnehmen, daß die Lehre auf die Verfaßtheit des Lernenden Rücksicht zu nehmen und sich daran anzupassen hat. Thomas greift nun eine Charakterisierung der menschlichen Vernunft (ratio) auf, die wir schon aus dem ersten Artikel kennen. Im Gegensatz zum sinnlichen Sehvermögen ist die Vernunft kein kombinierendes Vermögen (vis collativa), denn sie steht zu allen ihren Gegenständen in Äquidistanz. Damit ist etwa folgendes gemeint: In gewisser Weise sehen wir z. B. ein Haus auf einen Blick als Ganzes, andererseits können wir uns auch seine Teile nacheinander näher anschauen, ohne daß es eine zwingende Re­ gel dafür gäbe, in welcher Reihenfolge dies zu geschehen hat. Die menschliche Vernunft (ratio) dagegen geht von einem zum anderen nach einer Regel über, d. h., die Verknüpfung von Begriffen und Sät­ zen ist nicht beliebig. Im syllogistischen Verfahren, das für Aristoteles Bedingung für wissenschaftliche Erkenntnis (scientia) ist, muß Schritt für Schritt die notwendige Verbindung zwischen den ersten Prinzipien und der zu erklärenden Wirkung dargelegt werden. Entscheidend ist es da­ bei, die entsprechenden Mittelbegriffe zu finden, um so schließlich von Bekanntem zu Unbekanntem, von den ersten Prinzipien zu den Schlüssen und umgekehrt zu gelangen. Die Hilfestellung des menschlichen Lehrers besteht darin, durch sinnlich wahrnehmbare sprachliche Zeichen die Mittelbegriffe der Syllogismen zur Verfügung zu stellen oder Beispiele aus dem Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren zu geben, die zur Veranschaulichung des Lernstoffs dienen. Sowohl beim Verstehen der Begriffe als auch beim Nachvollziehen der Beispiele ist aber eine Seelenkraft aktiv, die zwischen Verstand und Wahrnehmung vermittelt: die Vorstellungs­ kraft (phantasia  / imaginatio). Einerseits ist sie der Speicher für die von den Sinnesorganen gelieferten Formen der wahrgenommenen Dinge, also für die Vorstellungsbilder (phantasmata), die von den sinnlichen Eindrücken zurückbleiben. Andererseits können diese Bilder auch weiterverarbeitet, umgeformt oder neu zusammenge­ stellt werden. Dies kann absichtlich geschehen (secundum imperium rationis), wenn der Verstand sich geeignete phantasmata zurecht­

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legt, weil er etwas Bestimmtes denken will.54 Thomas besteht in aller Klarheit darauf, daß ohne die Hinwendung zu den sinnlichen Vor­ stellungsbildern für den Menschen in diesem Leben keine Erkennt­ nis möglich ist. Selbst bei der Betrachtung von schon Gewußtem ist diese »conversio ad phantasmata« unumgänglich. Unabsichtlich geschieht die Transformation von phantasmata aber auch im Traum, im Rauschzustand oder beim Auftreten von Wahnvorstellungen. Solche phantasmata entstehen – nach der ari­ stotelischen Traumkonzeption – aufgrund von Bewegungen von Dämpfen und Körpersäften, die zum Gehirn aufsteigen. Genau hier sieht Thomas den Ansatzpunkt für das Einwirken der Engel im Inneren des Menschen. Da die phantasia zum sinnlichen Teil der menschlichen Seelenvermögen gehört, kann der Engel sich in die natürlichen Vorgänge einmischen. Nach Thomas gehört es nämlich zu den natürlichen Fähigkeiten der Engel, bei materiel­ len Dingen Ortsbewegung herbeizuführen.55 Somit können sie die physiologischen Vorgänge, die auf der Bewegung von Dämpfen und Körpersäften beruhen, so manipulieren, daß bestimmte phantasmata entstehen.56 Diese können dann in die Begriffsbildung einge­ hen oder Vorstellungen erwecken, die als Exempel dienen können.57 Die Einwirkung der Engel besteht also nicht darin, fertige Formen in die Vorstellungskraft einzuführen, sondern darin, durch geziel­ tes Eingreifen in die Mechanismen der körperlichen Vorgänge die Produktion von Vorstellungsbildern auf natürliche Weise in Gang zu setzen. Somit wirken die Engel im Vergleich zum Menschen tatsächlich von innen, nämlich einmal, indem sie durch ihren »Kontakt« das Licht der Vernunft stärken, zum anderen aber, indem sie in der Ein­ 54  Sum. theol. II-II, q.  173, a.  2. 55  Sum. theol. I, q.  111, a.  4: Ein Engel, der gute ebenso wie der böse,

kann kraft seiner Natur die Einbildungskraft des Menschen bewegen. 56  De pot., q.  6, a.  3, ad 13. 57  Auch die in der Bibel geschilderten Träume und Visionen, die ministerio angelorum gesandt werden, können so »erklärt« werden. So fällt etwa nach De ver., q.  12, a.  8, die Bildung von sinnlichen Erkenntnisfor­ men in der Vorstellungskraft in der Seele eines Propheten in den Aufga­ benbereich der Engel.

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Nachworte

bildungskraft, also in einem Vermögen, das sich eines körperlichen Organs bedient, die Produktion von phantasmata anregen. Aller­ dings ist ihre Tätigkeit als weniger innerlich einzustufen als das Wirken Gottes, der den Verstand mitsamt seinem Licht schafft, in dem die ersten Prinzipien schon eingefaltet sind. Das Eingehen auf die besonderen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis verlangt also den Engeln im Außendienst58 eine besonders gravierende Form von Kondeszendenz ab.

III.  Lehren als Lebensform (Artikel 4) Vita activa und vita contemplativa Bei der Frage, die in diesem Artikel zur Debatte steht, geht Thomas wie selbstverständlich davon aus, daß es zwei Lebensformen gibt, nämlich die aktive und die kontemplative.59 Sie erhalten ihre Be­ zeichnung nach derjenigen Betätigung, der man am liebsten nach­ geht und worin man sein Lebensziel findet.60 Im Sentenzenkommentar nennt Thomas als Ursprung dieser Einteilung einmal die Lehre von den »Bioi« in der Nikomachischen Ethik61 des Aristoteles, zum anderen die »auctoritates sanctorum«. Von den Kirchenvätern, etwa von Origenes, werden die beiden Schwestern aus dem Lukasevangelium, Maria und Martha, allego­ risch gedeutet. Maria, die zu Jesu Füßen sitzt und ihm zuhört, hat den besseren Teil, also das kontemplative Leben gewählt, während Martha, die sich um das leibliche Wohl des Gastes kümmert, als 58  Vgl. Giorgio Agamben: Die Beamten des Himmels. Über Engel, ge­ folgt von der Angelologie des Thomas von Aquin. Aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Andreas Hiepko, Frankfurt a. M./Leip­ zig 2007, 37 ff. 59  Niklaus Largier, Art. Vita activa / vita contemplativa, in: Lexikon des Mittelalters, VIII, 1997, Sp. 1752–1754 (hier 1753). 60  Sent. III, d.  35, q.  1, a.  1; Sent. Ethic. X, 6 (ed. Leon. XLVII/2, 570, 175–176; ed. R. M. Spiazzi, nr. 2036). 61  Aristoteles, Eth. Nic. I, 3.6.13; VI, 1–3; X, 7–9.

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Repräsentantin des aktiven Lebens dargestellt wird (Lk. 10, 38–42). Gregor der Große verteilt in den von Thomas intensiv rezipierten Homilien zum Propheten Ezechiel diese Rollen auch an die beiden Frauen Jakobs, wobei Lea für das aktive Leben und Rachel für das kontemplative Leben steht.62 Zu welcher Lebensform gehört nun die Tätigkeit des Lehrens? Aufbau des Artikels Der Artikel beginnt, wie üblich, mit einer Sammlung von Argu­ menten, die die am Ende abgelehnte These plausibel machen sollen. Auffällig ist, daß vier der fünf Argumente für die Zugehörigkeit des Lehrens zur vita contemplativa sich auf die schon erwähnten Homi­ lien Gregors des Großen berufen. Nur die vierte Bemerkung bezieht sich auf die aristotelische Theorie der Übertragung von Formen, ohne den Philosophen beim Namen zu nennen. Die Gregor-Zitate betreffen die Beschränktheit der vita activa auf die irdisch-leibliche Existenz, die Reihenfolge der beiden Existenzweisen im Lebensab­ lauf, den durch das Abmühen im aktiven Leben geringeren Umfang der geschauten Wahrheiten und schließlich den unterschiedlichen Gegenstandsbereich der beiden Lebensformen. Die beiden Gegenargumente beziehen sich auf die traditionelle Einordnung des Lehrens der Wahrheit unter die sieben Werke der geistlichen Barmherzigkeit. Diese gehören als Wirkungen der Näch­ stenliebe eindeutig zum aktiven Leben. Das Corpus articuli ist deutlich in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil geht es darum, die beiden Lebensweisen zu definieren und von­ einander zu unterscheiden, im zweiten Teil wird untersucht, unter welches der beiden Lebensmodelle das Lehren zu subsumieren ist. Für die Erstellung der Definition der Lebensformen ist der Grund­ satz »die Materie wird nach den Erfordernissen des Zieles bestimmt« 62  Gregorius Magnus, Hom. in Ez. II, 10. Vgl. Gen. 28 f.: »Leas Augen waren matt, aber sie war fruchtbar, Rahel dagegen sah mehr, hatte aber weniger Kinder.« Vgl. Augustinus, Contra Faustum XXII, 52 (CSEL 25/1, 645).

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Nachworte

(materia secundum finis exigentiam determinatur) anzuwenden, der sowohl auf das zweite Buch der aristotelischen Physik als auch auf den Anfang der Zweiten Analytiken verweist. Die Antwort auf die Frage »Was ist x?« muß von der Funktion, dem Ziel oder Zweck des Dinges ausgehen (causa finalis). Aufgrund der Zielbestimmung wird dann gefragt, welches Material zur Errei­ chung dieses Ziels erforderlich ist (causa materialis). So ergibt sich die Antwort auf die Frage, was ein Haus ist, vornehmlich aus seinem Zweck, nämlich: ein Dach, das uns vor Kälte und Hitze schützt (operimentum protegens nos a frigore et aestu).63 Daraus ergibt sich, aus welchem Material es gebaut werden muß, etwa aus Holz und Stei­ nen. Ein anderes aristotelisches Beispiel ist die Definition der Säge. Die Säge ist ein Werkzeug zum spaltenden Zertrennen von festen Gegenständen (Zweck), weshalb die Sägezähne aus Metall und nicht aus Gummi sein müssen.64 Was bedeutet das für die Definition der beiden Lebensformen? Beginnen wir mit der vita activa: Ihr Ziel ist die Handlung, die auf den Nutzen der Nächsten ausgerichtet ist, somit sind die Angelegen­ heiten des Zusammenlebens in dieser Welt (temporalia) »Material« des aktiven Lebens. Ziel des kontemplativen Lebens ist dagegen das »Anschauen der Wahrheit« (inspectio veritatis), das »Material« dazu sind die »in­ telligiblen Ideen der Dinge« (rerum scibiles rationes). Spätestens hier ist klar, daß dieser Artikel nicht nur von der Vermittlung von Schulwissen handelt, sondern von der »sacra doctrina«, also Offen­ barungstheologie oder Glaubenswissen. Es klingt hier ein Thema an, das sich zu einem kurzen »Zwischenspiel im Himmel« verdichtet. Es ist Dionysius Areopagita, der an dieser Stelle den Ton angibt, wobei das vierte Kapitel von De divinis nominibus und das 7. Kapitel von De caelesti hierarchia einschlägig sind. An beiden von Thomas öfter zitierten Stellen ist davon die Rede, daß die höherrangigen Engel die Ideen der Dinge bzw. der göttlichen Werke, die sie selbst empfangen haben, an die Engel des darunter stehenden Ranges weitergeben. Diese Ordnung des Empfangens und Weitergebens ist 63  In Post. anal. I, 4, ed. R. M. Spiazzi, nr.  29. 64  Aristoteles, Phys. II, 15; 200 a 10.

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die Erfüllung des göttlichen Gesetzes, daß nichts in der Welt ohne Vermittlung geschieht. Es gibt mehrere sprachliche Hinweise, daß Thomas die Vermittlung theologischen Wissens in Analogie zu den von Dionysius beschriebenen »hierarchischen Tätigkeiten« der En­ gel sieht, die sich einerseits der Kontemplation der göttlichen Wahr­ heit, andererseits dem Dienst der Mitteilung des Empfangenen an andere widmen. Sie bieten somit ein Beispiel für das Zusammenspiel von theoretischer und praktischer Existenz im Horizont des Lehrens, was ja genau die Fragestellung dieses Artikels betrifft.65 Nachdem Thomas das Ziel des kontemplativen Lebens als das Anschauen der Wahrheit (inspectio veritatis) bestimmt hat, folgt eine für seine Verhältnisse außergewöhnlich überschwengliche Er­ gänzung (»ich meine das Schauen der ungeschaffenen Wahrheit«), die für einen Augenblick erahnen läßt, mit welcher Leidenschaft er seine Rolle als dominikanischer Forscher, Lehrer und Prediger ausgefüllt hat. An dieser Stelle wird spätestens klar, daß Thomas hier die »sacra doctrina«, also die Glaubenswissenschaft meint, de­ ren Prinzipien – anders als bei der Theologie der Philosophen – die Glaubensartikel sind. Es geht um nichts weniger als das letzte Ziel des Menschen, die Schau der göttlichen Wahrheit, deren Vorgeschmack im kontem­ plativen Leben erfahren werden kann. Thomas hätte hier wieder Gregor zitieren können, der in der schon mehrmals herangezoge­ nen Homilie von dem Wunsch des Betrachtenden spricht, sich in den Reigen der himmlischen Geister einzureihen, aber das wäre des Ekstatischen doch zu viel gewesen. Nun bleibt noch die nüchterne Aufgabe, die Tätigkeit des Leh­ rens aufgrund der herausgearbeiteten Kriterien »Ziel« und »Mate­ rie« der entsprechenden Lebensform zuzuordnen. Aus der Beobach­ tung, daß das Verb »docere« (lehren) mit doppeltem Akkusativ kon­ struiert wird – man lehrt jemanden etwas –, arbeitet Thomas das »didaktische Dreieck« von Lehrer, Lehrstoff und Lernendem heraus. Während der Lehrstoff, den der Lehrende erst einmal selber suchen, 65  Dionysius Areopagita, De cael. hier., 3, 1: »Die Hierarchie ist nach meiner Ansicht eine heilige Stufenordnung (taxis  / ordo), Erkenntnis (episteme  / scientia) und Wirksamkeit (energeia  / actio).«

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Nachworte

finden und betrachten muß, zum kontemplativen Leben gehört, ist der Adressat des Lehrens die Person, mit der in einem bestimm­ ten gesellschaftlichen Kontext (z. B. Schule, Universität, Familie) eine Interaktion stattfindet. Als Ziel des aktiven Lebens war ja das Wirken bestimmt worden, das dem Nächsten Nutzen bringt, der im Falle der Wissensvermittlung darin besteht, daß dem Lernenden ein Heilmittel gegen das Gebrechen der Unwissenheit66 zur Verfügung gestellt wird. Die Lehrtätigkeit gehört also wegen des Lehrstoffs, den sich der Lehrende zuerst selbst geistig aneignen muß, zur theoretischen Le­ bensform, wegen der Ausrichtung auf die Person des Schülers, der beim Ausgleichen eines eventuell vorhandenen Wissensdefizits Hil­ festellung erfährt, aber zur Praxis. Damit neigt sich die Waage bei der Beantwortung der Frage, zu welcher Lebensform das Lehren ge­ hört, mehr auf die Seite des praktischen Lebens. Das Verhältnis der beiden Lebensformen Die vita activa geht der vita contemplativa zunächst einmal zeit­ lich voraus, weil der Mensch einerseits seine geistigen Fähigkeiten erst entfalten muß, andererseits das Leben in der Gemeinschaft dem Erwerb von ethischen Haltungen dient, die zur Kontemplation dis­ ponieren, z. B. Beherrschung der Affekte, Selbstdisziplin und See­ lenfrieden.67 Dann aber ist die Betrachtung angenehm, weil sie dem

66  Sum. theol. II-II, q.  32, a.  2: Bei einem Mangel in der theoretischen Vernunft besteht das geistliche Almosen in dem Heilmittel »Lehre« (remedium per doctrinam), bei einem Mangel in der praktischen Vernunft ist Rat vonnöten. 67  Sum. theol. II-II, q.  182, a.  4, s. c. zitiert Gregor den Großen, Hom in Ez. I, 3 (CCSL 142, 232): Activa vita prior est tempore quam contemplativa, quia ex bono opere tenditur ad contemplationem (»Das aktive ist zeitlich früher als das kontemplative, weil die guten Werke die Einsatzpunkte für die Beschauung sind« [Übers. G. Bürke]); De virtutibus, q.  1, a.  12, ad 24: Vita activa, in qua perficiuntur morales, est ut ostium ad contemplativam (»Das aktive Leben, in die sittlichen Tugenden ver­

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Menschen als Vernunftwesen konform ist68 und wie das Spiel das Privileg hat, selbstgenügsam zu sein und keinen äußeren Zweck zu verfolgen.69 Demgegenüber hält das aktive Leben nach Thomas we­ niger Glückspotential bereit, weil es nicht nur mit dem Einen Not­ wendigen, sondern mit Vielem beschäftigt ist70 und von Sorge71 be­ stimmt wird. Der Süße der Betrachtung (dulcedo) steht das mit vie­ len bitteren Erfahrungen (amaritudo) erfüllte Tätigsein des Alltags gegenüber.72 Dennoch ist immer wieder eine Rückwendung zum aktiven Leben erforderlich, um durch die Ausübung der ethischen Tugenden an der Selbstvervollkommnung zu arbeiten und um den Mitmenschen zu Hilfe zu kommen. Den Unwissenden zu belehren, zählt schließlich zu den sieben geistlichen Werken der Barmherzig­ keit.73 Wie der platonische Weise, der aus der Höhle ans Licht ge­ langt ist, wieder zurück zu seinen Mitgefangenen muß, um sie zur Umkehr zu bewegen und zu befreien, so ist auch der Betrachter der Wahrheit aufgerufen, seinen Mitmenschen durch Weitergabe seines Wissens Orientierung zu geben. Der Wechsel zwischen Kontempla­ tion und Aktion ist geradezu konstitutiv für die Haupttätigkeit der Dominikaner: Predigen und Lehren. Die Mitteilungspflicht läßt sich auch dadurch begründen, daß das Gemeinwohl über dem Wohl des Einzelnen steht. Was in der Kontemplation erfahren wird, soll auch fruchtbar werden.74 vollkommnet werden, ist wie die Tür zum betrachtenden Leben« [Übers. W. Rohr]). 68  Sum. theol. II-II, q.  180, a.  7: »Die Betrachtung der Wahrheit ist er­ freulich.« 69  Expositio libri Boethii De hebdomadibus, prooem; Sent. I, d.  2, q.  1, a.  5. 70  Sum. theol. I-II, q.  3, a.  2, ad 4. 71  Sent. III, d.  35, q.  1, a.  1, ad 5. 72  Sent. IV, d.  49, q.  3, a.  5 sc: sed operationes activae vitae sunt multis amaritudinibus respersae. 73  Vgl. dazu: Marianne Schlosser: Docere est actus misericordiae. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zum Ethos des Lehrens, in: Münchner theologische Zeitschrift 50 (1999), 54–74. 74  Vgl. die Antrittsvorlesung Rigans montes: Es sind die Schüler, die für den Fruchtertrag sorgen, indem sie selbst Erkenntnisse hervorbringen. Vgl. auch Meister Eckhart, Predigt 104 (mit Bezug auf Meister Thomas):

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Man könnte nun meinen, die Rückkehr zur Praxis in einer Ge­ meinschaft sei eine reine Nützlichkeitserwägung und eine Zumu­ tung, da sie mit dem Verlust eines angenehmen Zustands einher­ gehe. Dem widerspricht Thomas allerdings eindringlich: »Wenn jemand vom kontemplativen Leben zum aktiven gerufen wird, ge­ schieht dies nicht in der Weise einer Subtraktion, sondern in der Weise einer Addition.«75 Es wäre aber ein Mißverständnis, wenn man dieses Wechseln zwischen den Lebensformen als »nur« additi­ ves Modell ansehen würde,76 denn beide vitae bleiben aufeinander dynamisch und organisch bezogen wie Einatmen und Ausatmen. Für sich betrachtet hält Thomas das kontemplative Leben aller­ dings für besser als das praktische, aber derjenige, der durch Predi­ gen und Lehren das Betrachtete anderen weitergibt – die berühmte Formel: contemplata aliis tradere –, führt das vollkommenere Leben, weil es ein Überströmen der Kontemplation voraussetzt.77 Thomas fügt hier lapidar an: »Deshalb hat Christus dieses Leben gewählt.«78 Es geht hier aber nicht nur um eine ethische Forderung, die von außen an den Betrachtenden herangetragen wird, sondern um ein Prinzip, das Thomas in der Naturphilosophie wie in der Theologie »Denn Gott zielt in der Einheit der Kontemplation auf die Fruchtbarkeit des Tuns. Denn in der Kontemplation dienst du nur dir selbst, aber im Tugendhandeln dienst du vielen.« 75  Sum. theol. II-II, q.  182, a.  1, ad 3. 76  So hält etwa Alois M. Haas die »vita mixta im Sinne Thomas von Aquins« für ein »allzu additives Modell«, bei dem die »irgendwie unver­ bindliche Zusammensetzung keine innere und notwendige Einheit« bil­ det. Alois M. Haas: Die Beurteilung der vita contemplativa und activa in der Dominikanermystik des 14. Jahrhunderts, in: Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd.  III: Die Mystik des deutschen Prediger­ ordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik. München 1995, 120. 77  Sum. theol. III, q.  40, a.  1, ad 2. 78  Auch Paulus wird als Repräsentant dieses Zusammenspiels von vita contemplativa und vita activa genannt. De virtutibus, q.  2, a.  11, ad 6: »die Aufgabe der Kontemplation, um Gott zu dienen in der Sorge für das Heil des Menschen, ist die höchste Form der Liebe. Darin besteht die Vollkom­ menheit des Paulus.«

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am Werk sieht. Jedes natürliche Ding, das eine von ihm angestrebte Form erreicht hat, kommt zunächst darin zur Ruhe, aber das Voll­ endete hat einen Überschuß an Energie: Es hat die natürliche Nei­ gung (inclinatio naturalis), über sich hinauszugehen und die erwor­ bene Form an anderes weiterzugeben.79 In dieser natürlichen Neigung zeigt sich das unumstößliche Grundgesetz der göttlichen Weisheit, daß die Weltregierung, also die Ausführung des in der Vorsehung festgelegten Planes, durch viele Mittelglieder erfolgt. Den Geschöpfen soll die Würde, Ursache zu sein, nicht genommen werden.80 In diesem Gesetz, das bei Diony­ sius Areopagita formuliert wird, ist die Vermittlung eines bestimm­ ten Gutes hierarchisch von oben nach unten gedacht. Was empfan­ gen wird, wird auch neidlos81 weitergegeben, denn es ist das Wesen des Guten, sich mitzuteilen (bonum est communicativum sui).82 In der Weitergabe des Empfangenen vollzieht sich demnach die höchste Form der Nachahmung Gottes, der als Quell der Gutheit 79  Sum. theol. I, q.  19, a.  2: Res naturalis habet naturalem inclinationem respectu proprii boni non solum, ut acquirat ipsum, cum non habet vel ut quiescat in illo, cum habet, sed etiam, ut proprium bonum in alia diffundat, secundum quod possibile est. Michael Estler weist darauf hin, daß Thomas (etwa Sum. theol. II-II, q.  30, a.  4) »dasselbe Bild des Hinströmens für das Wesen der Barmher­ zigkeit und das Wesen des Lehrens verwendet«. »Der Lehrer hat Teil an der Mitteilung von Gottes Weisheit und Barmherzigkeit.« Michael Estler: Thomas von Aquin: Konsequenter Lehrer der Barmherzigkeit. Konkrete Aspekte einer diakonisch-missionarischen Pastoral, in: Jaarboek Thomas Instituut te Utrecht 35 (2016), 93–124 (seit 2019: European Journal for the Study of Thomas Aquinas), S.  100 f. 80  Thomas spricht von der Würde der Kausalität. Vgl. Sum. theol. I, q.  23, a.  8, ad 3. 81  Quod sine fictione didici, sine invidia trado (Weish. 7,13): Sum. theol. III, q.  42, a.  3; Quodl. III, q.  4, a.  1 c. Zur Bedeutung dieses Mottos vgl. Andrea Di Maio: Il concetto di comunicazione. Saggio di lessicografia filosofica e teologica sul tema di »communicare« in Tommaso d’Aquino, Rom 1998, 283 ff. 82  Bonum est diffusivum et communicativum sui: Sum. theol. I, q.  73, a.  3, arg. 2 (mit Berufung auf Dionysius Areopagita); De pot., q.  9, a.  9, s. c.  3; Vgl. Di Maio, 314 ff.

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seine Weisheit auf alles Geschaffene überströmen läßt83: der Mensch wird damit zum Mitarbeiter Gottes84 – und die lehrende Person (magister) zum Minister in der Weltregierung. Zu den Quaestionen 12 und 13 Marianne Schlosser Bereits die Jahre 1220–1235, am Übergang der Früh- zur Hochscho­ lastik, waren eine sehr fruchtbare Zeit für die systematische Erörte­ rung des Prophetiebegriffes. Es galt, die Vielfalt von überkommenen Fragen und Definitionen, wie sie in der Patristik im Zusammenhang mit der Kommentierung der Hl. Schrift und im 12. Jahrhundert in den ersten Sentenzensammlungen erarbeitet worden waren, mit neuen Problemstellungen in Verbindung zu bringen, die sich bei­ spielsweise aus der Rezeption der Schriften von Avicenna und Mo­ ses Maimonides ergaben. Vor Thomas widmeten sich der ProphetieProblematik u. a. Wilhelm von Auxerre im II. Buch seiner Summa aurea (ca. 1215)85, Philipp d. Kanzler in der Summa de bono (1232)86 sowie zahlreiche weitere Theologen in der Gattung der »Quaestio­ nes disputatae«.87 Vor allem eine Quaestio disputata aus der Feder des Hugo von St. Cher, seinerseits beeinflußt von den Traktaten des Philipp Cancellarius und Wilhelm von Auxerre, darf als eine wich­ tige Quelle für Thomas gelten.88

83  ScG II, 2. 84  De ver., q.  9, a.  2 c. 85  Wilhelm von Auxerre, Summa aurea (ed. J. Ribaillier, Grottaferrata

1980–1987; SpicBon XVI–XX): II, tract. VII, cap. 1–4. 86  Philipp Cancellarius, Summa de bono (ed. N. Wicki, Bern 1985; CPMA.O II): De bono gratiae in homine I, q.  1–7. Philipp stellt hier die Prophetie-Gnade als das klarste Beispiel einer gratia gratis data vor (also einer Gnade, die vom Hl. Geist, aber nicht immer mit ihm, d. h. mit der Heiligungsgnade, verbunden ist) – was in den beiden Summen des Tho­ mas wiederkehrt. 87  Vgl. Torrell, Recherches, XI. 88  Torrell, Hugues de St. Cher et Thomas d’Aquin, in: Recherches, 1–18.

Zu den Quaestionen 12 und 13

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In der Hochscholastik, bereits erkennbar bei Hugo von St. Cher und Alexander von Hales89, bekommen die Prophetie-Quästionen neue Dimensionen. Während bisher die Erörterung problematischer Prophetengestalten wie Jona (dessen Prophetie über Ninive nicht in Erfüllung ging) oder Kajaphas (der in böser Gesinnung und ohne sein Wissen über Christus prophezeite) breiten Raum einnahm, rüc­ ken nun erkenntnistheoretische Fragen in den Brennpunkt des In­ teresses. Deutlich wird dies etwa in Alberts Quaestiones disputatae de prophetia (1245–1250)90 und in einer anonym überlieferten Quaestio de prophetia, die kurz nach Alberts Quästionen entstan­ den sein dürfte91 und die früher Bonaventura zugeschrieben wurde. Während von seinem Zeitgenossen Bonaventura nur verstreute Äußerungen zum Thema der Prophetie erhalten sind, kann man bei Thomas von Aquin auf eine Fülle von Texten zurückgreifen. Am ausführlichsten äußert er sich in den Quaestiones disputatae de veritate, sowie in den insgesamt 22 Artikeln der Summa theologiae (II-II, qq.  171–174). Im Vergleich zu De veritate ist die Zielsetzung der Summa theologiae als theologisches Lehrbuch deutlich zu er­ kennen. Außertheologische Fragen spielen eine geringere Rolle, sie werden radikal beschränkt zugunsten von Knappheit und Stringenz. Neben diesen zusammenhängenden Ausführungen finden sich ver­ streute Äußerungen z. B. im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Engel oder der Wunder-Gabe, auch in den Quästionen über Aberglauben und Wahrsagerei, vor allem aber in den zu Unrecht in der Forschung weniger beachteten Schrift-Kommentaren, etwa

89  Alexander von Hales, Quaestiones Antequam esse frater, 3 Bde., Quaracchi 1960 (BFSMA XIX–XXI). 90  Albertus Magnus, Quaestiones, primum pleno numero ed. A. Fries †, manum postremam comiter imponentibus W. Kübel et H. Anzulewicz, Münster 1993 (ed. Col. 25/2). 91  So B. Decker, Die Entwicklung der Lehre von der prophetischen Of­ fenbarung von Wilhelm von Auxerre bis zu Thomas von Aquin, Breslau 1940, 134. Nach der Edition durch J.-P. Torrell, Un ›De prophetia‹ de S.  Bo­ naventure? in: Recherches, 251–317, ist diese Hypothese eher unwahr­ scheinlich. Die Quaestio wird im folgenden als Anonymus Assisiensis – nach der Herkunft der Handschrift, Assisi Bibl. com. 186 – zitiert.

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Nachworte

dem Kommentar zu Jesaja, Ijob, zum 1. Korintherbrief und weite­ ren Paulusbriefen. Artikel 1: Ab den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts gehörte der »Habitus«-Charakter der Prophetie zu den heiß diskutierten Fragen im akademischen Diskurs; signifikant dafür ist, daß die Frage, mit der auch Thomas seine QD eröffnet, in mehreren Traktaten über die Prophetie als Eingangsfrage gestellt wird.92 In der Frage, ob die Prophetiegnade ein »Habitus« sei, spiegelt sich das Problem des Verhältnisses von menschlichem Subjekt und gött­ lichem Gnadenwirken. Wie kann der Prophet wirklich Erkenntnis »haben«, also mehr sein als ein momentanes Sprachrohr, wenn er diese Erkenntnis nicht »zur Verfügung« hat? Von Anfang an hatte die theologische Reflexion betont, daß dem Propheten der Geist nicht nach Wunsch zur Verfügung stehe.93 Andererseits mußte je­ mand, dem die Bezeichnung »Prophet« beigelegt wird, »mehr« sein als jemand, der nur sozusagen zufällig einmal prophetisch redet. Die Propheten des AT waren zumeist für längere Zeit, manche le­ benslang berufen. Solange der Begriff »Habitus« nicht in dem Sinn definiert war, wie ihn Thomas von Aquin gebrauchen würde – nämlich als sozusa­ gen aktive Disposition –, konnte man durchaus die Prophetiegnade als »Habitus« bezeichnen. Der Begriff brachte den Aspekt der Sta­ bilität in der Berufung des Propheten, ebenso wie seine Verantwor­ tung für die empfangene Gabe zum Ausdruck: also das »BerufenSein« zum Propheten. Weil Thomas – im Unterschied zu anderen Entwürfen des 13. Jahrhunderts – die Prophetie entschieden in den Bereich der Erkenntnis verlagert (also nicht des Wollens bzw. der Tugend), ist es ihm unmöglich, Prophetie als Habitus, verstanden 92  Bei Wilhelm von Auxerre, Summa aurea II, tr. VII, 1 [ed. Ribail­ lier, 43, 18 f.]; Hugo von St. Cher, QD de prophetia [= q.  481, ed. Torrell, Recherches, 1–18]; Anonymus De prophetia, Assisi 186 [ed. Torrell, Re­ cherches, 275–317]. S. dazu: H. U. v. Balthasar, Gnadengaben (=Kommen­ tar zur Deutschen Thomas-Ausgabe, Bd.  23), Heidelberg 1954, 296–301; M. Schlosser, Lucerna in caliginoso loco. Aspekte der Prophetiebegriffes in der scholastischen Theologie, Paderborn 2000, 188–193. 93  Vgl. Gregor der Große, Mor. II, 56, 89 (CCSL 143, 112; Hom. in Ez. I, 1, 15 f.; CCSL 142, 12–14; Hom. in Ez. I, 5, 11; CCSL 142, 62).

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als »forma permanens«, zu denken. Denn die Gabe der Prophetie ist nicht eine dauerhafte, grundlegende Befähigung zu den jeweiligen Schlußfolgerungen, wie es eine Wissenschaft ist. Thomas gelingt es jedoch, das Anliegen der gegnerischen Position aufzunehmen, in­ dem er mit dem Begriff der »habilitas« (Geneigtheit, Disponiertheit, Offenheit des Subjekts) eine zwar nicht dauerhafte, aber doch auf Dauer angelegte Berufung und Formung des Propheten anerkennt. Im 2. Artikel geht es um den Inhalt der Prophetie: Was kann Gegenstand einer derartigen göttlich inspirierten Erkenntnis sein? Thomas antwortet: generell alles, was dem menschlichen Wissen für gewöhnlich verborgen ist. Dies können auch Ereignisse der Vergan­ genheit sein – daher gilt die im Buch Genesis erzählte Schöpfungs­ geschichte als Prophetie, die dem Mose zuteil geworden ist – oder auch Ereignisse der Gegenwart, die räumlich entfernt und damit der Wahrnehmung entzogen sind. Zu den dem Menschen verborge­ nen Dingen gehören auch die Geheimnisse des Herzens einer ande­ ren Person. Weder bei den Kirchenvätern noch in der scholastischen Theologie wurde Prophetie ausschließlich als Zukunftsankündi­ gung verstanden, wenngleich die Erkenntnis der nicht-notwendigen zukünftigen Ereignisse (futura contingentia) eine besondere Rolle spielte: Diese Ereignisse, die keiner Notwendigkeit oder Regelmä­ ßigkeit unterliegen, sind der menschlichen Erkenntnis am meisten verborgen, da sie »noch nicht sind«. Sie sind unerkennbar aufgrund ihres Mangels an Sein. Dies unterscheidet die futura contingentia von Geheimnissen, die aufgrund ihrer Seinsfülle nicht erfaßt wer­ den, wie das Wesen Gottes. Darum zählt Thomas das Wesen Gottes nicht zum eigentlichsten Gegenstand der Prophetie94, obwohl sein Konzept in der Summa theologiae vorsieht, daß alle gnadenhaf­ ten Erkenntnisweisen sich in irgendeiner Weise – secundum magis vel minus – der Prophetie zuordnen lassen (Sum. theol. II-II, q.  171, prol., a.  3). Damit ist bereits angedeutet, daß es verschiedene Grade von »Zu­ künftigem« bzw. »Verborgenem« gibt. Nicht alles Zukünftige ist dem Menschen als solchem, prinzipiell, verborgen, und nicht alles 94  So bereits im Sent. III, dist. 3, q.  2, a.  4, qa. 2 I, ad 4 (ed. Vivés IX, 362b).

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Zukunftswissen ist von Gott eingegeben. Manches Verborgene kann durch Wissen, Erfahrung oder besondere Begabung eines Menschen erschlossen werden. Umgekehrt: Weil vieles dem Menschen de facto verborgen ist, was er de iure wissen könnte, kann die Prophetie auch Inhalte mitteilen, die an sich natürlicherweise bekannt wer­ den könnten oder Gegenstand anderer Wissenschaften sind, ohne daß sie deswegen aufhörte, eine »Gabe des Hl. Geistes« zu sein. Die Lösung dieser Frage entspricht Thomas’ Konzept von Offenbarung (Sum. theol. I, q.  1, a.  1): Manche Wahrheit über Gott ist dem Men­ schen schlechthin unzugänglich, daher muß sie geoffenbart werden, um zum Heil gewußt zu werden. Anderes könnten zwar einzelne Menschen, aber nur mit großer Anstrengung und begleitet von der Gefahr des Irrtums erkennen. Damit aber auch diese Wahrheiten möglichst allen Menschen zugänglich seien, werden auch sie durch Offenbarung kundgemacht. Die Frage, für welche Gegenstände gelte, daß einzig und allein göttliche Eingebung sie wißbar werden lasse, spitzte sich im 13. Jh. unter dem Eindruck der Prophetie-Konzeptionen des Avicenna und Moses Maimonides noch einmal zu. Thomas formuliert sie in Art.  3: Ob es eine natürliche Prophetie gebe, bzw. ob die Prophetie nicht überhaupt etwas Natürliches sei. Denn wenn bestimmte, für ge­ wöhnlich verborgene Dinge natürlicherweise erkannt werden kön­ nen, auf welchen Ursachen beruht diese Erkenntnis? Gibt es eine be­ stimmte Begabung, die manchen Menschen Hellsichtigkeit verleiht? In sozusagen abgeschwächter Form präsentiert sich das Problem in der Frage, ob jede prophetische Erkenntnis natürliche Vorausset­ zungen im Propheten habe (Art.  4), sei es hinsichtlich der geistigen Begabung oder der moralischen Integrität (Art.  5). Das Hauptargument für »natürliche Prophetie« lag im Phänomen sich bewahrheitender Träume.95 Aristoteles hatte sich dazu vor al­ lem in den Schriften »De insomniis« und »De divinatione per som­ num« geäußert.96 Seiner Ansicht nach können Wahrträume kaum 95  Schlosser, Lucerna, 73–103. 96  Aristoteles, De insomniis. De divinatione per somnum, übers. und

erl. von Ph. J. van der Eijk, Berlin 1994 (Aristoteles Werke in dt. Überset­ zung 14/III: Parva Naturalia).

Zu den Quaestionen 12 und 13

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als göttliche Inspiration eingeschätzt werden; denn solche Träume werden nicht nur den vernünftigsten und besten Menschen zuteil. Wenn ein Traum mit dem tatsächlichen Ereignis übereinstimmt, dann entweder aufgrund eines Zufalles oder aufgrund fast unmerk­ licher Anzeichen eines Prozesses, der zu dem Ereignis führen wird. Sehr feine Anzeichen können die Vorstellungskraft mancher Perso­ nen (vor allem der sogenannten Melancholiker) beeinflussen, so daß sie wahr-träumen. Obwohl in der Hl. Schrift, vor allem des Alten Testaments, mehr­ fach von zukunftsrelevanten Träumen berichtet wird97, ist die Stel­ lung der meisten Kirchenväter, darunter Augustinus98, Hieronymus und Gregor d.  Gr., ebenso wie die der mittelalterlichen Theologen von überraschender Nüchternheit geprägt. Es mag Träume von pro­ phetischer Relevanz geben, doch bedürfen Träume stets des Ver­ ständnisses, der Interpretation. Die besondere Schärfe der Frage er­ gab sich jedoch erneut durch die Rezeption der Prophetie-Texte des Avicenna und Moses Maimonides.99 In deren Konzeption hat alles, was ist und sich ereignet, seine Gründe im Gesamtzusammenhang des Kosmos, und diese Gründe sind prinzipiell erkennbar. Sie wer­ den tatsächlich von Menschen erkannt, die eine bestimmte hervorra­ gende Disposition aufweisen: einen außerordentlich klaren Intellekt, der zu raschen Schlußfolgerungen fähig ist, und eine ebenso reiche und kraftvolle, d. h.: nicht instabile Imaginationsfähigkeit. Letztere 97  Wobei eine deutlich »traumkritische« Tendenz bereits im AT fest­ zustellen ist: Man ist sich bewußt, daß die Grenze zu abergläubischen Praktiken nur schmal ist (Lev. 19, 26); Träume stehen mitunter sogar in Gegensatz zur wahren Erkenntnis (Dtn. 13, 1–6; Jer. 23, 25–32; 27, 9 f.; 29, 8; Sach. 10, 2; Sir. 34, 1–8). 98  Dulaey, La rêve dans la vie et la pensée de S. Augustin, Paris 1973; dies., Art. Songes – rêves, in: DSp XIV (1990), 1060–1066. 99  Avicenna, Met. X, 1 u. 3: Liber de philosophia prima sive scientia divina V–X (ed. S. van Riet, Louvain  /  Leiden 1980); De anima IV, 2: Liber de Anima seu Sextus de Naturalibus, 2 Bde. (ed. S. van Riet, Louvain  /  Lei­ den 1968/1972). Moses Maimonides, Dux dubitantium aut perplexorum, Paris 1520 (ND Frankfurt 1964). Dt. Übersetzung: A. Weiß 1923/1924 (ND 1972). Deutsche Übersetzung und lateinischer Text (aus dem Hebräischen übersetzt) differieren in der Kapitelzählung.

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Nachworte

wird dabei als nicht unabhängig von der körperlichen Beschaffen­ heit des betreffenden Menschen gesehen. Maimonides vertrat sogar die Auffassung, daß ein Mensch notwendigerweise zum Propheten werde, wenn er diese Eigenschaften besitze. Nicht Gott beruft also einen möglicherweise unvollkommenen Menschen zum Propheten, sondern umgekehrt: Dessen Naturanlage und eigene Entwicklung zu einer moralisch integren Persönlichkeit führen zur Prophetie, außer Gott greift hindernd ein.100 Träume werden von Maimoni­ des als ein minderer Grad der prophetischen Erkenntnis eingestuft. Thomas unterscheidet selbstverständlich zwischen der Prophetie als Gottes Gabe und der »natürlichen Prophetie«. Für letztere über­ nimmt er zwei der Voraussetzungen, welche Avicenna, und in sei­ ner Folge Maimonides, als Disposition genannt hatten: claritas intelligentiae und perfectio virtutis imaginativae101, und folgt ihnen so weit, zu sagen: Vorausgesetzt, diese Disposition sei vollkommen und eine höhere Ursache wirke ein, so folge notwendigerweise die entsprechende »natürlich-prophetische« Erkenntnis. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Thomas diese Auffassung, die später von Wil­ helm de la Mare aus mehreren Gründen scharf angegriffen wurde102, 100  Moses Maimonides, Dux II, 32 (ed. Weiß, 221–225) bzw. 33 (lat. fol. LXII). Selbstverständlich waren diese Äußerungen im zeitgenössischen Judentum keineswegs unumstritten, im Gegenteil: O. Leaman, Moses Maimonides, London / New York 1990, 47; C. Sirat, Les théories des visi­ ons surnaturelles dans la pensée juive du Moyen-âge, Leiden 1969, 147– 151; G. Laras, La dottrina di Maimonide sulla profezia, in: CrST 17 (1996), 335–347, hier 343. – Zu beachten ist, daß Maimonides zwischen Mose und den übrigen Propheten einen fundamentalen Unterschied annimmt. Für ihn gilt anderes als für die übrigen Propheten: Dux II, 36 (lat. fol. LXIII). Diese Kautel läßt offenbar eine gewisse Ambivalenz im Gottes- bzw. Pro­ phetie-Verständnis des Maimonides zu. 101   Die dritte von Avicenna genannte Disposition, die (Wunder-) Macht über körperliche Gegenstände, lehnt Thomas ab. 102  Wilhelm de la Mare, ed. R. Hissette, Trois articles de la seconde rédaction du Correctorium de Guillaume de la Mare, in: RThAM 51 (1984), 230–241, hier 235–238 (q.  2): Wilhelm kritisiert die Verwendung des »Prophetie«-Begriffes in diesem »natürlichen« Sinn als Mißbrauch des Wortes und wendet sich entschieden gegen Auffassung, die Gestirne könnten als »höhere Ursachen« dem Menschen auf natürliche Weise Zu­

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in der Sum. theol. II-II, q.  172, a.  1 und 3 deutlich modifiziert: Die Vorbehalte gegenüber einer natürlichen Wahrsagefähigkeit (vis divinationis) sind dort klarer formuliert; das Gewicht verlagert sich von »Begabung« auf »Erfahrung« – d. h.: alles natürliche Vorher­ wissen-Können ist auf eine besondere Erfahrenheit zurückzufüh­ ren – und der Begriff der prophetia naturalis wird in der Summa theologiae durch naturalis praecognitio ersetzt, weil auf solches Voraus-Erkennen bestimmter Wirkungen der Terminus Prophetie nur uneigentlich angewandt werden kann. Hatte sich Art.  3 mit den Voraussetzungen auf seiten des Erkennt­ nisvermögens befaßt, so widmet sich Art.  4 der moralischen Dispo­ sition für die Prophetie. Ausgehend von der berühmten Stelle 1 Kor. 13,2: »Wenn ich prophetisch redete […], hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts«, hatte Augustinus nüchtern gefolgert: Es könne vor­ kommen, daß bestimmte Gaben des Geistes bei Menschen aufträten, welche die übernatürliche Liebe (caritas) nicht hätten, also nicht im Stand der Gnade seien. Saul, der später verworfen wurde, Bileam und Kajaphas wurden als offenkundige Beispiele genannt. Bei al­ ler Klarheit der Unterscheidung zwischen Gnadengaben für andere (gratia gratis data) und der heiligmachenden Gnade (gratia gratum faciens) hielt sich dennoch ein gewisses Unbehagen über die theore­ tisch-spekulative Trennung von Heiligkeit und Prophetie, vor allem, weil von jeher eines der wichtigsten Kriterien für die Glaubwürdig­ keit eines Propheten seine Lebensführung war. Thomas greift in sei­ ner Antwort die Lösungsvorschläge von Zeitgenossen auf103, wenn er festhält, daß die Prophetie-Gabe ohne die caritas gegeben sein kann: Denn erstens bezieht sich die Prophetie auf das Erkenntnis­ vermögen – nicht auf den Willen –, zweitens wird sie »zum Nutzen der Kirche« gegeben – also nicht in erster Linie, um die Verbindung des Propheten mit Gott zu stärken. Thomas führt die Argumente kunftswissen vermitteln. Dies sei eine Herabwürdigung des freien Wil­ lens. 103  Alexander von Hales, QD Antequam 18, 1, m.  11, n.  90; m.  9, n.  31 f.; Bonaventura, IV Sent., dist. 18, p. 2, dub. 3 (IV 496); I Sent., dist. 46, dub. 8 (I, 836b); Anonymus Assisiensis, q.  1, n.  18; q.  3, n.  35 (ed. Torrell, 280 f., 285); Albertus Magnus, QD de prophetia, a.  2, § 3, ad 1 (64/15 ff.); I Sent., dist. 15, a.  16, ad 5 (ed. Borgnet, 25, 432ab).

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aber auch noch weiter. Es scheint, daß er sich hier wiederum von Maimonides inspirieren ließ: Die übernatürliche Gutheit, welche in der caritas liegt, kann dem Propheten fehlen, nicht aber jegliche Gutheit des Charakters. Bestimmte Laster vertreiben nicht nur die caritas, sondern behindern oder verhindern auch die prophetische Erkenntnis, welche Beweglichkeit des Geistes verlangt. Folglich ist das Kriterium der Lebensführung, sofern Verhaltensweisen sichtbar sind, nicht außer Acht zu lassen. Doch weicht Thomas von Maimo­ nides auch charakteristisch ab. Hatte dieser im Anschluß an Aristo­ teles argumentiert, Gott müsse seine Gaben »der Ordnung entspre­ chend«, d. h., dem am besten Disponierten geben, so antwortet Tho­ mas: Auch die Gabe an einen indisponiert Erscheinenden entspreche der rechten Ordnung, weil dann die Gabe um so mehr der göttlichen Macht und nicht dem menschlichen Verdienst zugeschrieben werde (a. 5, ad 5; a.  4, ad 6). In der Sum. theol (II-II, q.  172, a.  4, ad 4) pariert er mit einem anderen Argument: »Der Beste« für eine Aufgabe ist der dafür Passendste. Dies zu beurteilen liegt aber nicht beim Men­ schen, sondern bei Gott. Gott kann auch natürliche Hindernisse auf Seiten des Berufenen wegnehmen (q.  172, a.  3, ad 3). Die Artikel 6–9, und nochmals 10 und 11, kreisen um die Frage, wie sich die prophetische Erkenntnis vollziehe, welche geistigen Kräfte beteiligt sind, wie sich Inhalt und Verständnis verhalten. Der ganze Themenkomplex wird eröffnet mit der Frage, »ob die Propheten im Spiegel der Ewigkeit schauen«. An dieser für heuti­ gen Sprachgebrauch rätselhaften Formulierung fällt zunächst auf, daß die prophetische Erkenntnis bevorzugt als »Schauen« bezeich­ net wird, also nicht etwa als »Hören« oder »Verkünden« des Wor­ tes Gottes.104 Dem entspricht, daß propheta etymologisch als procul phanos erläutert wird: als »jemand, dem sich etwas Fernes zeigt«, der in die Ferne sieht. Betont wird die Erkenntniskomponente; der Ge­ sichtssinn gilt als der vollkommenste, am meisten geistförmige Sinn, der gewissermaßen in einem Augenblick die Erkenntnis des Gegen­ standes als ganzen gewährt. Wie nun geschieht dieses »Sehen«, in welchem Medium? Albertus Magnus und Thomas bemerken, daß 104  Wobei dieser Aspekt nicht fehlt, vgl. Thomas, In Is. 1, 1 (ed. Leon. 28, 8 Zz. 36–40); Albertus Magnus, Super Ier. 1, 5 (ed. Col. 19, 635 Zz.  18–20)

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der Ausdruck »im Spiegel der Ewigkeit« nicht von den Kirchenvä­ tern stamme, sondern erst in der neueren Theologie aufgekommen sei (magistri moderni). Möglicherweise stammt die Redeweise aus der Rezeption jüdischer Exegeten durch christliche Theologen im 12. Jahrhundert.105 Mit größerer Sicherheit jedoch haben zwei Bibel­ stellen eine Rolle gespielt. Nachdem Paulus vom »Stückwerk« alles menschlichen Erkennens, auch der Prophetie gesprochen hat (1 Kor. 13,9), fährt er fort: »Nun aber schauen wir mittels eines Spiegels« (v.  12). In einem nicht weniger bekannten Text aus dem AT wird Gottes ewige Weisheit als »Spiegel« bezeichnet (Weish. 7,26 f.); diese Weisheit »tritt von Geschlecht zu Geschlecht in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten«. Versteht man nun unter dem »Spiegel der Ewigkeit« die göttliche Weisheit selbst, bzw. Gottes ewige Gedanken, die der Grund für das Geschaffene sind (rationes aeternae), so muß geklärt werden, ob der Prophet damit Gott selbst schaue – was nicht nur Thomas ablehnt.106 Thomas geht jedoch noch weiter, indem er den »Spiegel« von der göttlichen Weisheit unterschieden wissen will. Die Propheten se­ hen »etwas Geschaffenes, in dem die Ewigkeit Gottes selbst verge­ genwärtigt ist«. Der Spiegel der Ewigkeit besteht aus den »Bildern« (species), die er zeigt, zusammen mit dem übernatürlichen Licht, in dem sie geschaut werden. Das heißt: Der Blick des Propheten ist ge­ schaffene Teilhabe am Blick Gottes, der Intellekt des Propheten wird zum Spiegel der Ewigkeit (a. 6, ad 9; ähnlich In Is. 6, 1 [ed. Leon. 28, 49a, Zz. 178–181]). Damit betont Thomas erneut die Begrenztheit 105  H. Merle, Miroir de l’éternité et pierre spéculaire dans les traités sur la prophétie des XIIe et XIIIe siècle, AHDLMA 50 (1992), 7–40, hier 34–36: Der dort gebrauchte Terminus »aspaqlaria« (Schirm, Spiegel) könnte im 4. Jh. aus dem lateinischen »specularia« (Fenster aus Feldspat o. ä.) abge­ leitet worden sein. – Auch Alfarabi (†950) spricht von der prophetischen Kraft als einem »nie rostenden Spiegel«: M. Horten, Texte zu dem Streite zwischen Glauben und Wissen im Islam. Die Lehre vom Propheten und der Offenbarung bei den islamischen Philosophen Farabi, Avicenna und Averroes, Bonn 1913 (Kleine Texte 119), 3. 106  Etwa Philipp Cancellarius, Hugo von St. Cher, Summa Duacen­ sis, Alexander von Hales, Anonymus Assisiensis, Albertus Magnus; dazu Schlosser, Lucerna, 106–110.

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der prophetischen Schau: Nicht nur, daß Gott selbst nicht geschaut wird – anders als bei der Schau der Seligen oder auch beim Raptus –, die einzelnen Propheten schauen auch jeweils nur bestimmte In­ halte; denn sie schauen das Prinzip ihrer Erkenntnis, das Licht Got­ tes, nicht an sich. Würde nämlich das Prinzip erfaßt, dann auch alles, was davon abhängt bzw. darin inbegriffen ist. Wie in Art.  6 gesagt, setzt sich die prophetische Erkenntnis aus zwei Elementen zusammen: dem Inhalt, der aufgenommen wird (acceptio specierum), und dem geistigen Licht, mit dem der Inhalt ver­ standen bzw. beurteilt wird (iudicium). Die bloße Aufnahme ­eines Inhalts, ohne ihn zu verstehen (das stets zitierte Beispiel sind die Träume des Pharaos), ist keine prophetische Erleuchtung. Eine Er­ leuchtung des Verstehens jedoch, selbst wenn sie sich auf Inhalte bezieht, die anderen Personen gezeigt wurden, ist Prophetie (Joseph oder Daniel, die die Träume anderer Personen deuten konnten). Inhalte können auf verschiedene Weise präsentiert werden. Das diesbezüglich einflußreichste Schema geht auf Augustinus zurück, der im 12. Buch Über den Wortlaut der Genesis von einer »drei­ fachen Schau« spricht: Körperliches wird mit den Augen des Lei­ bes wahrgenommen, in der Vorstellungskraft (imaginatio, spiritus) können Bilder von Körperlichem erinnert oder durch verschiedene Ursachen gebildet werden, rein geistige Inhalte werden mit dem Auge des Intellekts erfaßt. Auch wenn der Inhalt der prophetischen Erkenntnis auf jede der drei Weisen vermittelt werden kann, so spielt die »Schau in der Vorstellungskraft« doch die wichtigste Rolle. Gerade Thomas sieht in der Kombination von »Wahrnehmung in der Vorstellungskraft« und »erleuchtetem Urteil« die für den Propheten typische Erkenntnisweise. Dies hängt offenbar mit dem der Prophe­ tie eigentümlichen Gegenstandsbereich zusammen: Ereignisse, die sich in Raum und Zeit abspielen; der Prophet verkündigt die heils­ geschichtlich relevante Zukunft so, wie Gott sie weiß – also eine Kombination zwischen Ewigkeit und Zeit. Nicht ganz schlüssig scheint sich Thomas in Bezug auf die »rein intellektuale Schau« zu sein: Welche Inhalte werden hier empfan­ gen? In Art.  7 bestimmt er als Gegenstand einer solchen Schau die Wesenheit Gottes oder der Engel, in Art.  13 dagegen nennt er als Beispiel für eine intellectualis visio plenissima David. Die gleiche

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Meinung vertritt er in Sum. theol. II-II, q.  173, a.  2. Anders als Mo­ ses Maimonides unterscheidet Thomas zwischen einer genuin intel­ lektualen Offenbarung und einer von vornherein aus bildhaftem In­ halt und geistigem Urteil gemischten. Im ersten Fall wird der Inhalt im Erkenntnisvermögen aufgenommen, unmittelbar darauf bildet der Geist des Propheten selbst die dazu gehörigen Bilder, da sich das menschliche Denken nicht ohne diese Komponente vollzieht. Wenn das geistige Licht sehr stark ist, bewirkt es, daß die angemessenen Bilder geformt werden; ist es schwächer, so können die Bilder »ab­ gleiten«, hinter der Erkenntnis zurückbleiben (a. 12, ad 2). Im zwei­ ten Fall werden die in der Vorstellungskraft des betreffenden Pro­ pheten vorhandenen Bilder durch Gottes Wirken entweder transfor­ miert oder neu geordnet (a. 7, ad 6; ad 3; ad 7), so daß mittels dieser Species ein neuer Inhalt vermittelt wird. Eng mit der Frage der imaginativen Vision verbunden ist das Pro­ blem des geistigen Zustands des Propheten während der Offenba­ rung: Ist für eine imaginative Vision eine Ekstase, eine »Entrückung von den Sinnen« vorausgesetzt? Die christliche Reflexion über den Offenbarungsvorgang sah sich zwei extremen Positionen gegenüber, selbst wenn diese nicht immer im Extrem vertreten wurden. Die eine Position begegnete den mit­ telalterlichen Theologen in der Gestalt der arabischen Philosophie wie der aufgeklärten jüdischen Theologie eines Moses Maimonides: Prophetische Begabung ist eine natürliche Begabung, die der hervor­ ragend disponierte Mensch ausübt, wann er will. Die gegenteilige Position wäre etwa die der heidnischen Antike: Ein Mensch wird von der Gottheit für eine bestimmte Zeit in Besitz genommen; nicht seine Erkenntnis oder sein Bewußtsein sind ausschlaggebend, son­ dern daß er als Werkzeug göttlicher Rede dient. Dieser tranceartige Zustand kann durch bestimmte Mittel vorbereitet werden, während der ekstatischen Rede aber scheint die Selbstverfügung der Person aufgehoben. Prophetie im biblischen Horizont ist dagegen gekennzeichnet durch die Dialektik des Zusammenwirkens von Gott und Mensch. Die Anrede oder das Ergriffen-Werden von der »Hand des Herrn« sind zwar unverfügbar, auch gibt es durchaus außergewöhnliche Zustände des Bewußtseins, doch sind die Propheten des AT unver­

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kennbar eigenständige Persönlichkeiten mit Verantwortung für das anvertraute Wort. Die Tatsache, daß Paulus von den prophetisch be­ gabten Gemeindegliedern fordert, sie sollten der Reihe nach reden, beweist offenkundig, daß er klares Bewußtsein voraussetzt. Die erste theologische Klärung des menschlichen und göttlichen »Anteils« erfolgte anscheinend in der Auseinandersetzung mit dem Montanismus.107 Die Reminiszenzen an diese Bewegung, welche sich selbst als »die Prophetie« bezeichnete, während sie von ihren Geg­ nern »die neue Prophetie« genannt wurde, wirken weit ins Mittel­ alter und sind auch bei Thomas erkennbar. Ekstatische Phänomene spielten offensichtlich bei Montanus und seinen Anhängern eine große Rolle; wenn man den Gegnern glaubt, scheinen solche Eksta­ sen auch direkt herbeigeführt worden zu sein. Prominente Gegner wie Hieronymus und Johannes Chrysostomus erklärten mit aller Deutlichkeit, der von Gott berührte und erleuchtete Mensch werde nicht zum willenlosen Werkzeug degradiert, sondern der Hl. Geist führe das Herz des Menschen zum Verstehen: Wirkliche Propheten sprechen nicht wie Besinnungslose (non sicut furiosi). Diese beiden Voraussetzungen hält auch Thomas fest: zum Pro­ pheten gehört das Licht des Urteils und die verantwortliche Klarheit der Rede. Wie aber steht es mit dem Offenbarungsempfang selbst, gibt es hier einen Ausnahmezustand des Bewußtseins, eine »Ent­ rückung« (alienatio, abstractio a sensibus /  a sensibilibus)? Thomas unterscheidet zunächst grundsätzlich eine Entrücktheit, die zum Zustand geworden ist – ein Mensch, der seine Gedanken ganz bei Gott hat, ist »vom Zeitlichen abgezogen«, auch wenn seine Sinne ganz normal tätig sind – von einer momentanen, aktualen Entrüc­ kung. Diese kann verschiedene Ursachen haben: Natürlicherweise tritt sie im Schlaf ein, aber auch bei großer geistiger Konzentra­ tion; Bewußtlosigkeit aufgrund von Krankheit jedoch entspricht nicht eigent­lich der Natur, sondern läuft dieser zuwider. Daher kann nach Thomas die prophetische Offenbarung durchaus zur Zeit e­ iner 107  M. Wünsche, Der Ausgang der urchristlichen Prophetie in der früh­ katholischen Kirche. Untersuchungen zu den Apostolischen Vätern, den Apologeten, Irenäus von Lyon und dem antimontanistischen Anonymus, Stuttgart 1997; W. H. C. Frend, Art. Montanismus, in: TRE 23, 271–279.

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naturgemäßen Suspendierung der Sinneswahrnehmung eintreten, also im Schlaf oder in der Kontemplation, niemals aber im Zustand der Geisteskrankheit. Eine übernatürliche Entrückung durch das Einwirken göttlicher Macht ist nur notwendig, wenn der Inhalt (acceptio) durch eine Schau in der Vorstellungskraft vermittelt wird. Dazu ist nämlich nach Thomas erforderlich, daß diese sich nicht mit äußeren Eindrücken befaßt, sondern ganz nach innen gezogen ist (a. 9; Sum. theol. II-II, q.  173, a.  3). Das Urteilsvermögen ist dabei nicht aufgehoben, das heißt: Der Prophet weiß, daß er Bilder schaut. Thomas gelingt es damit, den übernatürlichen Charakter der prophetischen Erleuchtung zu wahren, ohne die Eigentätigkeit des menschlichen Geistes aufzuheben. Mit den Artikeln 10 und 11 wird schließlich noch ein weiteres brisantes Problem angeschnitten: die Frage nach der Erfüllung von prophetischen Ankündigungen. Anders gesagt: Wie ist angesichts des Wissens Gottes, an dem der Prophet Teil bekommt, menschli­ che Freiheit noch möglich? Die beiden biblischen Personen, an de­ nen diese Frage stets diskutiert wurde, sind Jona, der Ninive den Unter­gang, und Jesaja, der Hiskija den baldigen Tod prophezeit hatte. Beider Ankündigungen trafen so nicht ein. In beiden Fällen spielt offensichtlich das Reue- (Ninive) bzw. Bittgebet (Hiskija) der Betrof­ fenen eine besondere Rolle. Von den ersten theologisch-systematischen Versuchen der Schule von Laon bis hinein in die Traktate der Hochscholastik wird gerade dem »Jona-Problem« der meiste Raum gewidmet. Wenn die Pro­ phetie aber Teilhabe am Wissen Gottes ist, dann muß sie einen un­ wandelbar wahren Gehalt haben – wie es die Definition Cassiodors verlangte: »immobili veritate denuntians eventus futurorum«. Oder kann sich ein Prophet auch täuschen bzw. das Geschaute unzuläs­ sig interpretieren? Die Grundlage der Diskussion boten vor allem zwei Stellen aus der Glossa. Zum einen wird anläßlich der Kom­ mentierung von Jes. 38,1 mit Gregor dem Großen erklärt, Gott än­ dere möglicherweise seinen Urteilsspruch (sententia), niemals aber seinen Ratschluß (consilium).108 Mit Hilfe dieser Unterscheidung 108  Gregor der Große, Mor. XVI, 10, 14 (CCSL 143A, 806); Glossa zu Jes. 38, 1 (III, 59).

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kann man das Problem einer Lösung zuführen, indem man auf die Begrenztheit der Erkenntnis im Propheten rekurriert. Zum zweiten werden in der Glossa zu Matth. 1,22 verschiedene Arten von Pro­ phetie unterschieden: »der Vorherbestimmung, des Vorherwissens, der Androhung« (prophetia praedestinationis, praescientiae, comminationis). Diese Arten unterscheiden sich nach je verschiedenem Grad menschlicher Mitwirkung am Plan Gottes. Mitte des 13. Jahr­ hunderts, bei Alexander von Hales und Albertus Magnus, ist klar: Eine Droh-Prophetie erfüllt sich nicht unabhängig vom freien Wil­ len des Menschen. Sie spiegelt die Ordnung der Gerechtigkeit, der im Fall von Ninives Lebensstil der Untergang der Stadt entspräche, im Fall der Bekehrung aber nicht. Das gleiche gälte übrigens auch für die Heilsprophetie (prophetia promissionis), insofern ihre Ver­ wirklichung an die menschliche Mitwirkung geknüpft ist. Thomas äußert sich zur Problematik der »unwandelbaren Wahr­ heit in der Prophetie« an mehreren Stellen seines Werkes: kurz im Jesaja-Kommentar (Super Is. 38 [ed. Leon. 28, 162 Zz. 18–40]), sehr ausführlich in De veritate, im Matthäus-Kommentar und in den beiden Summen. Für seine Erörterung holt er weiter aus und unterscheidet zunächst grundsätzlich zwischen der Erkenntnis einer Sache aufgrund des Begründungszusammenhangs, in dem sie steht, und der Erkenntnis der Sache, wie sie in sich selbst ist. Der Mensch kann von sich aus die Zukunft nur erkennen, indem er einen Zusammenhang zwi­ schen ihm bekannten Gegebenheiten und ihren künftigen Wirkun­ gen herstellt, etwa als Astronom oder Mediziner. Gott erkennt die zukünftigen Ereignisse aber in zweifacher Weise, erstens innerhalb ihres Begründungszusammenhanges und zweitens im tatsächlichen Ausgang, den eine Entwicklung nimmt, d. h., er kennt die Sache in sich. Gott erkennt also die zukünftigen kontingenten Ereignisse als kontingente, d. h. als nicht notwendig, und zugleich hat er sie in ih­ rer Tatsächlichkeit, wie sie in der Zeit entschieden sind, erkennend gegenwärtig (praesentialiter). Entsprechend kann die prophetische Erleuchtung, als Teilnahme an der Erkenntnis Gottes, hinsichtlich des einen oder des anderen Aspektes gegeben werden: Der Prophet kann Einsicht in den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen erhalten oder über den tatsächlichen Ausgang der Sache unterrichtet

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werden. Die erste Weise steht der natürlichen Zukunftserkenntnis nahe, doch die Art, wie dieses Wissen erlangt wird, ist übernatür­ lich; es gründet nicht in medizinischer, politischer oder psychologi­ scher Erfahrung. Nach Thomas haben Jona und Jesaja nicht nur die natürlichen Gründe für Tod und Untergang (causae inferiores) er­ kannt – wie Krankheit oder politische Gefahr – sondern den Zusam­ menhang zwischen Sünde und Tod. Diese Ursachenordnung ist aber nicht rein natürlich erkennbar, vor allem nicht im konkreten Fall (a. 10, ad 8; ad 11). Die Droh-Prophetie gehört zu dieser Art der pro­ phetischen Erleuchtung: Der Prophet erkennt, wohin ein Verhalten führt (ordo meritorum), und der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, welcher durch diese Art von Prophetie ausgesagt wird, ist notwendig. Das heißt, daß die Androhung eintritt, ist »wirklich möglich«; sie wird eintreten, wenn sie nicht durch eine andere Ursa­ che verhindert wird. Darum ist eine solche Prophetie »weder falsch noch zweifelhaft, auch wenn nicht eintreffen sollte, was sie ankün­ digt« (a.  10, ad 7; a.  11, ad 2). Die theologischen Ausführungen zum »Raptus« als einer besonde­ ren Form der Entrückung109 haben ihren Anhalt in 2 Kor. 12,2–4. Der Apostel Paulus beschreibt an dieser autobiographisch zu deutenden Stelle seine Erfahrung als »Entrückung in den dritten Himmel«, wo­ bei er nicht wisse, »ob im Leib oder außerhalb des Leibes«. Augu­ stinus widmete in Gen. litt. XII diesem Geschehen ausführliche Überlegungen. Nach seinem Vorbild fanden in den mittelalter­lichen Traktaten die Erörterungen über den Raptus ihren Platz im Anschluß an die Quästionen über die Prophetie. Aus mehreren Gründen steht diese gnadenhafte Erfahrung der Prophetie nahe: auch bei der pro­ phetischen Schau kann es zu einer »Entrückung von den Sinnen« (abstractio a sensibus) kommen; in beiden Fällen wird eine Offen­ barung des göttlichen Lichtes geschenkt, die den Glauben überragt; und beide Erfahrungen benennen einen Ausnahmezustand (passio transiens). Den entscheidenden Unterschied des Raptus zu anderen Formen der Entrückung sah man in der Suspendierung nicht nur 109  Zu der komplizierten Begriffsgeschichte: Balthasar, Gnadengaben, 372–383.

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der äußeren Sinnestätigkeit – wie sie auch bei der imaginativen Vi­ sion vorkommt –, sondern auch des inneren Sinnes bzw. der Vorstel­ lungskraft. Durch das Wirken Gottes wird somit eine rein intellek­ tive Schau ermöglicht, die den gewöhnlichen Zustand des Menschen so sehr überschreitet, daß man von einem Grenzzustand zwischen Leben und Tod sprechen kann. Daher nahm man auch eine vorüber­ gehende Gewährung der Gottesschau an, für die der Tod grundsätz­ lich die Voraussetzung ist (Ex. 33,20: »Kein Mensch wird mich se­ hen und am Leben bleiben«). Die mittelalterlichen Autoren halten diese außergewöhnliche, »gewaltsame Entrückung« (rapi – wegge­ rafft, fortgerissen werden) für ausgesprochen selten. Bonaventura etwa will sie außer bei Paulus nur noch bei Mose, vielleicht bei Dio­ nysios Areopagita vermuten. In der Summa theologiae II-II, q.  175, a.  3, antwortet auch Thomas vorsichtiger als in den QD, man könne »mit mehr Berechtigung (convenientius) sagen, daß Paulus Gott in seiner Wesenheit geschaut habe«, als dies zu verneinen. Die spezielle Thematik des Raptus eröffnete den Raum für grund­ legende Fragen der Gnadenlehre und der Anthropologie: Wie verhal­ ten sich Natur und Gnade, wenn es einerseits der Bestimmung des Menschen entspricht, nur in der Schau Gottes zu seiner Erfüllung zu kommen, andererseits diese Schau im jetzigen Zustand nicht na­ türlich eintritt, sondern sogar an der natürlichen Neigung vorbei (praeter propriam inclinationem: Sum. theol. II-II, q.  175 a.  2), um nicht zu sagen: gegen diese, bewirkt wird (Art.  1)? Wie verhalten sich Pilgerstand und Glorie, der Zustand der Bewährung vor dem Tod und der Zustand der Seligkeit nach dem Tod, wenn es möglich ist, daß die verheißene Gottesschau – die gerade den Unterschied ausmacht – bereits in diesem Leben gegeben werden kann? Wird damit nicht die Bedingung des Glaubens aufgehoben (Art.  2)? Wie verhalten sich im menschlichen Erkennen die Tätigkeit der Sinne und der Vorstellungskraft zur eigentlich geistigen Einsicht (Art.  3), wie verhalten sich Leib und Seele (Art.  4)? In der Übersetzung wird »Raptus« als Spezialausdruck beibehal­ ten, erstens um den Unterschied zu anderen Arten von ekstatischer Erfahrung (ecstasis) nicht zu verwischen, zweitens um den Termi­ nus »Entrückung« eindeutig für die »abstractio (a sensibus)« ver­ wenden zu können.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

a. articulus AL Aristoteles Latinus cap. capitulum CCSL Corpus Christianorum. Series Latina CSEL Corpus sciptorum ecclesiasticorum latinorum d. distinctio De gen. et corr. De generatione et corruptione ed. edidit ep. epistula FC Fontes christiani Eth. Nic. Ethica Nicomachea lect. lectio Met. Metaphysica Phys. Physica PL Patrologia latina praef. praefatio q. quaestio v. versus Thomas von Aquin Sum. theol. Super 1 Cor. Super Rom. Super Eph. Super Is. Super Matth. Super Ps.

Summa theologiae Super Primam Epistolam ad Corinthios lectura Super Epistolam ad Romanos lectura Super Epistolam ad Ephesios lectura Expositio super Isaiam ad litteram (= Lectura in Isaiam) Super Matthaeum Super Psalmos (= Lectura in Psalmos)

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Abkürzungsverzeichnis

Weitere Autoren Aristoteles Aristoteles Latinus De an. De anima De gen. et corr. De generatione et corruptione Averroes Ed.: Aristotelis Opera omnia cum Averrois commentariis, Venedig 1562–1574 (ND: FFM 1962) In De an. Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros De divin. per somn. De divinatione in somno (Bd.  VI/2) Avicenna De anima Met. Augustinus Civ. Dei Conf. De div. qu. 83 De trin. En. ps. Gen. litt. Lib. arb. Ver. rel. Anon. Ass.

De anima seu Sextus de naturalibus Liber de philosophia prima sive scientia divina

Über den Gottesstaat (De civitate Dei) Bekenntnisse (Confessiones) Über 83 verschiedene Fragen (De diversis quae­ stionibus 83) Über die Dreifaltigkeit (De trinitate) Psalmenkommentar (Enarrationes in Psalmos) Über den Wortlaut der Genesis (De Genesi ad lit­ teram) Über den freien Willen (De libero arbitrio) Über die wahre Religion (De vera religione) Anonymus Assisiensis, ed. J.-P. Torrell: Un »De prophetia« de S. Bonaventure? (Assise, Bibl. com. 186). Édition critique, avec introduction et notes, in: ders. Recherches sur la prophétie au moyen âges, Fribourg 1992, 251–317; Text: 275–317.

Abkürzungsverzeichnis

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Boethius A. M. S. Boethius, Die Theologischen Traktate. Übersetzt, eingelei­ tet und mit Anmerkungen versehen von Michael Elsässer, Hamburg (Meiner) 1988 [PhB 597]. Philos. consol. Philosophiae consolatio, ed. L. Bieler, Turnhout (Brepols) 1984 [CCSL 94]. Cassiodor Psalmenkommentar

Expositio Psalmorum

Dionysius Areopagita Edition: C D Corpus Dionysiacum: Cael. hier. Dionysius Areopagita: De coelesti hierarchia, in: Corpus Dionysiacum, II, ed. G. Heil † u. A. M. Rit­ ter, Berlin / New York (de Gruyter) 1991, 6–59 [Pa­ tristische Texte und Studien, 36]. Div. nom. De divinis nominibus, in: Corpus Dionysiacum, I, ed. B. R. Suchla, Berlin / New York (de Gruyter) 1990 [Patristische Texte und Studien, 33]. Glossa Glossa ord.

Glossa ordinaria (Reprint von 1480/81, Bde. I–IV)

Gregor der Große Mor. Moralia in Iob Hom. in Ez. Homiliae in Hiezechielem prophetam Hom in Ev. Homiliae in Evangelia Dial. Dialogi Johannes Damascenus Fid. orth. De fide orthodoxa Petrus Lombardus Glossa in Ps. Glossa in Psalmos

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Abkürzungsverzeichnis

Glossa in Rom., Eph., etc: Collectanea in epistolas Pauli Sent. Sententiae in IV libros distinctae Moses Maimonides Dux neutr. Dux neutrorum (dt.: Führer der Unschlüssigen)

BIBLIOGRAPHIE

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung

Thomas von Aquin ist der Denker des Mittelalters, der die am längsten anhal­ tende Orientierung geboten, die intensivsten historischen Interessen auf sich gezogen und – neben seiner Bedeutung als Kirchenlehrer – für die vielfältig­ sten denkerischen Konzeptionen Pate gestanden hat und dessen Werk daher noch heute auf praktisch allen Feldern philosophischer Problemstellungen An­ regungen zu geben vermag. In den Quaestiones Disputatae, seinem in philosophischer Hinsicht bedeu­ tendsten und »gründlicheren« Werk (Kurt Flasch), geht es Thomas nicht um den Vortrag der eigenen Lehrmeinung, sondern um die möglichst umfassende Disputation (Erörterung) von Sachfragen unter Einbeziehung des Für und Wi­ der vor dem Hintergrund überlieferter Auffassungen nach der Maßgabe der intellektuellen Vernunft. Abgehandelt werden die großen Grundthemen der Metaphysik und Erkenntnislehre: Was ist Wahrheit, was Vermögen und (gött­ liche) Macht, was Tugend, und was ist die Seele? Die universalistische Weite der Gedanken, die Thomas im Zuge der in den einzelnen Quaestiones erörterten Fragestellungen entfaltet, erhebt das Werk zu einem der Grundwerke der philo­sophischen Tradition, das über die Zeiten hinweg seinen provokativen Charakter und seine Bedeutung behält. Daneben sind die Quaestiones Disputatae unter historischem Aspekt von geradezu un­ schätzbarem Wert, da sie Zeugnis ablegen von der mit größter Akribie vor­ genommenen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles, deren Wiederentdeckung und Transformation durch die Denker des Mittelalters – und darunter vor allem Thomas – den Weg bereitete für die Ausbildung der Kultur der auf die Ratio (Vernunft) gegründeten Argumentation in der Philo­ sophie (und in den Wissenschaften) der Neuzeit.

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Regensburger Ausgabe herausgegeben von Rolf Schönberger

band 1–6 Über die Wahrheit (De veritate) band 7–9 Über Gottes Vermögen (De potentia Dei) band 10 Über die Tugenden (De virtutibus) band 11–12 Vom Übel (De malo) band 13 Über die Seele (De anima)